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German Pages 248 Year 2021
Bettina Brandt, Britta Hochkirchen (Hg.) Reinhart Koselleck und das Bild
BiUP General
Bettina Brandt (Dr. phil.), geb. 1968, ist Historikerin an der Universität Bielefeld. Sie lehrt, forscht und publiziert zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mit den Schwerpunkten Politik-, Kultur- und Geschlechtergeschichte sowie historische Bildwissenschaft. 2006 erhielt sie den Dissertationspreis der Bielefelder Universitätsgesellschaft. Britta Hochkirchen (Dr. phil.), geb. 1982, ist akademische Rätin a. Z. am Arbeitsbereich Historische Bildwissenschaft/Kunstgeschichte an der Universität Bielefeld sowie Teilprojektleiterin im Sonderforschungsbereich 1288 »Praktiken des Vergleichens«. Sie forscht zu kuratorischen Praktiken des Vergleichens in Kunstausstellungen, zur französischen Kunst im Zeitalter der Aufklärung und zur Temporalität des Bildes.
Bettina Brandt, Britta Hochkirchen (Hg.)
Reinhart Koselleck und das Bild
Dieser Band entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Bielefelder Sonderforschungsbereichs (SFB) 1288 »Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern«.
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Inhalt Einleitung Reinhart Koselleck und das Bild Bettina Brandt/Britta Hochkirchen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7
Zeitschichten � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 27 Erinnerungsschleusen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 43 Politische Sinnlichkeit � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 59 Zeitschichten im Bildraum Kosellecks Theorie historischer Zeiten im Modell des Bildes und im fotografischen Experiment Bettina Brandt � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 75
Kritik der Sinnlichkeit Reinhart Kosellecks relationaler Bildbegriff Britta Hochkirchen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 113
Fotografische Auseinandersetzungen mit Reinhart Kosellecks Bild-Wissenschaft � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 143 Spuren der Geschichte im Bild Zum Interesse der Kunstgeschichte am politischen Bild in Kosellecks Umfeld Hubert Locher � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 161
Reinhart Koselleck – Geschichtsdenken zwischen Bild und Text Adriana Markantonatos � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 185
Sattel, Schicht, Schwelle, Schleuse Kosellecks paradoxe Sprachbildlichkeit der pluralen Zeiten Helge Jordheim � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 217
Autorinnen und Autoren � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 245
Einleitung Reinhart Koselleck und das Bild Bettina Brandt/Britta Hochkirchen Das Werk des Historikers Reinhart Koselleck (1923–2006) wird anhaltend lebhaft rezipiert. Ob Bild, Raum, Zeit, Erinnerung oder Sinne: Vielen der in den letzten drei Jahrzehnten zu turns erklärten Forschungsansätzen hat Koselleck seit den 1960er Jahren ›vorgegriffen‹.1 Übersetzungen seiner Schriften in mehrere Sprachen haben Untersuchungen zur Begriffsgeschichte und historischen Semantik von Skandinavien bis Asien inspiriert.2 Die 2018 in englischer Übersetzung veröffentlichten Studien zur Historik unter dem Titel Sediments of Time (Zeitschichten) zeugen von einem weitreichenden aktuellen Interesse an ›Zeit‹ als historischem Konzept wie geschichtstheoretischer Kategorie.3 International und interdisziplinär besetzte Tagungen, teils angeregt durch die Erschließung des wissenschaftlichen Nachlasses Kosellecks seit 2008, sondieren die Impulse, aber auch die Grenzen der Konzeptgeschichten und der Zeittheorie Kosellecks im Licht neuer
1 Z u den kulturwissenschaftlichen ›Wenden‹ und den Referenzialität wieder einbeziehenden returns vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006 sowie dies., Cultural Turns, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte 17.06.2019, http://docupedia.de/zg/Bachmann-Medick_cultural_turns_v2_de_2019 [letzter Zugriff: 27.01.2020]. 2 E rnst Müller spricht von einer »Globalisierung der Begriffsgeschichte«, vgl. Ernst Müller, Editorial, in: Forum Interdisziplinäre Begrif fsgeschichte 4 (1/2015), 4 f., hier 5. 3 R einhart Koselleck, Sediments of Time: On Possible Histories, hg. von Sean Franzel und Stefan-Ludwig Hoffmann, Stanford, CA 2018; Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2003 [2000]. Das internationale Interesse belegt auch die englische Neuauflage von Reinhart Koselleck, Futures Past: On the Semantics of Historical Time, New York 2004 [zuerst: MIT Press 1985]. Zu ›Zeit‹ als historischer Kategorie vgl. jüngst Marek Tamm/Laurent Olivier (Hg.), Rethinking Historical Time: New Approaches to Presentism, London/New York/Oxford 2019; Christopher Clark, Von Zeit und Macht. Herrschaf t und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten, München 2018; François Hartog, Regimes of Historicity: Presentism and Experiences of Time, New York 2015; Alexander C. T. Geppert/Till Kössler (Hg.), Obsession der Gegenwart. Zeit im 20. Jahrhundert (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 25), Göttingen 2015; Chris Lorenz/Berber Bevernage (Hg.), Breaking up Time: Negotiating the Borders between Present, Past and Future, Göttingen 2013.
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historischer Fragestellungen.4 Nach den turns lassen sich seine Vorgriffe differenzierter sichten. Gerade das für Kosellecks Werk zentrale Thema der Gleichzeitigkeit heterogener Zeitordnungen und pluraler Standpunkte findet in einer sich als global vernetzt verstehenden Gegenwart verstärkt Aufmerksamkeit.5 Weniger beachtet wird hingegen, dass Kosellecks zeittheoretische Thesen, etwa zu einer zunehmenden »Konvergenz von Ereignis und Nachricht«,6 eng mit wahrnehmungs-, bildund medientheoretischen Überlegungen verbunden sind. Vom »beschleunigte[n] Strich« der schnell lithographierten politischen Karikaturen Honoré Daumiers bis zu den globale Gleichzeitigkeit herstellenden elektronischen Medien beobachtete Koselleck eine Dynamisierung der Zeit mit tiefgreifenden Folgen.7 Wo Ereignis und Bericht gleichzeitig stattfinden, muss politisches Handeln den Ereignissen deutend vorgreifen: »Diese Regel zunehmender Konvergenz von Ereignis und Nachricht darüber zwingt gleichsam automatisch die handelnden Politiker, fiktive Daten zu stapeln und zu kombinieren, um in Nu reaktionsfähig zu werden. Seitdem gewinnen Fiktionen einen ehedem nicht denkbaren Realitätsgehalt. Die Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft verschränken sich in den elektronischen Medien auf eine empirisch kaum mehr überprüfbare Weise«.8 4 Z . B. Session 65 Challenging and Extending Reinhart Koselleck’s Theories of Historical Time im Rahmen des 129. Annual Meetings der American Historical Association (AHA) in New York, 03.01.2015; Reinhart Koselleck und die Begrif fsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Tagung im Deutschen Literaturarchiv Marbach, 14.06.2018–15.06.2018; Bedingungen möglicher Geschichten. Die Vielfalt Reinhart Kosellecks, Tagung im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld, 06.12.2018–08.12.2018; Workshop Presences of the Past. History and Historical Theory from the Perspective of Reinhart Koselleck, École Normale Supérieure Paris, 21.03.2019–22.03.2019; Le present de L’Historik autour de l’œuvre de Reinhart Koselleck, Journées d’etude, EHESS Paris, 13.06.2019– 14.06.2019. 5 V gl. Niklas Olsen, History in the Plural: An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2012; Helge Jordheim, Against Periodization: Koselleck’s Theory of Multiple Temporalities, in: History and Theory 51 (2/2012), 151–171; Vanessa Ogle, The Global Transformation of Time: 1870–1950, Cambridge, MA 2015. 6 R einhart Koselleck, Der Aufbruch in die Moderne oder das Ende des Pferdezeitalters, in: Berthold Tillmann (Hg.), Historikerpreis der Stadt Münster. Die Preisträger und Laudatoren von 1981 bis 2003, Münster 2005, 159–173, hier 170. 7 R einhart Koselleck, Daumier und der Tod, in: Gottfried Boehm/Karlheinz Stierle/Gundolf Winter (Hg.), Modernität und Tradition. Festschrift für Max Imdahl zum 60. Geburtstag, München 1985, 163–178, hier 164. 8 K oselleck, Der Aufbruch in die Moderne, 170. Vgl. auch Reinhart Koselleck/Carsten Dutt, Geschichte(n) und Historik, in: dies., Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013, 45–67, hier 67. In diesem Gespräch bezog Koselleck seine Überlegungen zur Konvergenz von Ereignis
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Diesen Handlungsdruck sah Koselleck nicht nur mit der Schnelligkeit und der Reichweite moderner Medientechnik verbunden, sondern auch mit den sinnlichen Wahrnehmungsbedingungen von Medien: so etwa des Films als eines dominanten Mediums, das die »Freiheit« der Betrachtung einschränke, indem es die Perspektive und die Dauer der Bildsequenzen vorgibt.9 Die kritische Funktion einer Theorie historischer Zeiten, die sich auch der Temporalität von (Bild-)Medien und der sinnlichen Wahrnehmung widmet, gegenüber politischen Handlungsmöglichkeiten und politischen Aussagen wird hier unmittelbar ersichtlich.10 Dass Kosellecks Arbeiten über ein of fenbar nicht nachlassendes, die Geistesund Sozialwissenschaf ten durchquerendes Inspirationspotenzial verfügen, ist auch mit dem Reichtum an neu zu entdeckenden Facetten und thematischen Verbindungen zu begründen, die sich in seinem Denken jedoch als erstaunlich kohärent und kontinuierlich erweisen.11 So mag man Koselleck zwar attestieren, seine »Theorie geschichtlicher Zeitschichten« bilde kein konsistentes, geschlossenes Denksystem.12 Doch formulierte Koselleck Begrif fe wie die ›Zeitund politischer Darstellung und Deutung auf die Bilder des Terroranschlages in New York am 11. September 2001. 9 R einhart Koselleck, Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste, in: Sabine R. Arnold/Christian Fuhrmeister/Dietmar Schiller (Hg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert: Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien/Köln/Weimar 1998, 25–34, hier 27. 10 Z u den politisch folgenreichen Zeitdynamiken kurzfristigen Denkens und zur Rückgewinnung einer longue durée-Perspektive in Politik, Gesellschaft und Ökonomie vgl. Jo Guldi/David Armitage, The History Manifesto, Cambridge, MA 2014, 1: »We live in a moment of accelerating crisis that is characterised by the shortage of long-term thinking«. Vgl. auch Hartog, Regimes of Historicity, XIII–XIX. 11 D er Komplexität und Vielgestaltigkeit des Koselleck’schen Œuvres widmen sich die Beiträge in Jeffrey Andrew Barash/Servanne Jollivet (Hg.), Reinhart Koselleck (Revue Germanique Internationale, 25), Paris 2017. 12 K oselleck selbst schrieb im Vorwort zu dem Band Zeitschichten, der systematische Zusammenhang seiner »Theorie geschichtlicher Zeitschichten« sei die »durchgängig[e] Fragestellung« (Hervorh. d. Vf.), vgl. Reinhart Koselleck, Vorwort, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, 7. An einer systemisch geschlossenen Geschichtsphilosophie war ihm gerade nicht gelegen. Vgl. Stefan-Ludwig Hof fmann/Sean Franzel, Introduction: Translating Koselleck, in: Koselleck, Sediments of Time, IX–XXXI, hier IX. »Unlike his Bielefeld colleagues Niklas Luhmann and HansUlrich Wehler, Koselleck never wanted to become a system builder«, so charakterisiert Kari Palonen Kosellecks Denkweise, vgl. Kari Palonen, Koselleck’s Two Visions of History. Review of Reinhart Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, in: Contributions to the History of Concepts 6 (2/2011), 124–129, hier 125. Insofern ist das »compositum of works«, als das Faustino Oncina Coves Kosellecks Studien zum politischen Totenkult bezeichnet, kennzeichnend für Kosellecks Werk insgesamt; vgl. Faustino Oncina Coves, Historical Semantics and the Iconography of Death in Reinhart Koselleck, in: Forum Interdisziplinäre Begrif fsgeschichte 7 (1/2018), 85–94, hier 85.
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schichten‹ bewusst metaphorisch, genauer: als Kompositionsmetaphern. Sie koppeln Abstrakta wie ›Zeit‹, ›Erfahrung‹ oder ›Erinnerung‹ mit dem sicht- und greif baren Raum: ›Schichten‹, ›Sattel‹, ›Schleusen‹, ›Horizont‹.13 Dies lässt sich als eine kontinuierlich und systematisch von Koselleck angewandte Methode der Öf fnung von Denkspielräumen, die stets neue Zusammenhänge stif ten, verstehen.14 Nicht nur die Beispiele der medientheoretischen und -historischen Überlegungen sowie der Sprachbilder Kosellecks zeigen: Keineswegs eine Facette, sondern eine lange unterschätzte, grundlegende Dimension der Forschung und Theoriebildung Kosellecks stellt seine über Jahrzehnte währende Auseinandersetzung mit Bildern und Bildlichkeit dar. Die vorliegende Publikation rückt die vielfältigen Bildpraktiken Kosellecks in ihr Zentrum. Sie gehen weit über die Forschungen zu den europäischen Kriegerdenkmälern sowie dem politischen Totenkult der Neuzeit hinaus und durchdringen und verbinden die Arbeiten zur Begriffsgeschichte, zur Historik, zur Theorie historischer Zeiten und zur Sinnlichkeit des politischen Raumes.15 Die Übernahme des Bildnachlasses Reinhart Kosellecks durch das Deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg im Jahre 2008 und die aus der Erschließung hervorgegangenen Forschungsarbeiten haben die Relevanz des Themas ›Bild‹ für Kosellecks Denken verdeutlicht und es nachhaltig aus der Nische eines späten und gewissermaßen unerlösten Neben13 A uf diese Weise wird, mit Hans Blumenberg gesprochen, durch die »Verbindungen zur Lebenswelt« ein ständiger »Motivierungsrückhalt aller Theorie« geschaffen. Ähnlich wie Koselleck bewegte sich Blumenberg zur Verdeutlichung der Theorie generierenden, modellgebenden Kraft von Metaphern in einem räumlich-geologischen Metaphernfeld: »Metaphern sind in diesem Sinne Leitfossilien einer archaischen Schicht des Prozesses der theoretischen Neugierde, die nicht deshalb anachronistisch sein muß, weil es zu der Fülle ihrer Stimulationen und Wahrheitserwartungen keinen Rückweg gibt.« Vgl. Hans Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 2001, 193–209, hier 193. 14 E ine Studie zu Kosellecks Sprachbildern fehlt. Vgl. mit wenigen Hinweisen Hoffmann/Franzel, Introduction, XIV, sowie Frank Beck Lassen, ›Metaphorically Speaking‹ – Begriffsgeschichte and Blumenberg’s Metaphorologie, in: Riccardo Pozzo/Marco Sgarbi (Hg.), Eine Typologie der Formen der Begriffsgeschichte, Hamburg 2010, 53–71. Neue Zugänge bietet der Beitrag von Helge Jordheim im vorliegenden Band. 15 Z u den bekannten Denkmalstudien Kosellecks zählen Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität (Poetik und Hermeneutik, 8), München 1979, 255–276; Reinhart Koselleck/Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994; Reinhart Koselleck, Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes. Ein deutsch-französischer Vergleich, Basel 1998; Reinhart Koselleck, Der Unbekannte Soldat als Nationalsymbol im Blick auf Reiterdenkmale, in: Wolfgang Kemp et al. (Hg.), Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 7, Berlin 2003, 137–165.
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projektes, als das Kosellecks Denkmalsstudien lange galten, herausgelöst.16 Allmählich zeichnen sich das Gewicht und die intellektuelle Reichweite der Bildinteressen Kosellecks innerhalb seines Denkens wie auch impulsgebend für aktuelle interdisziplinäre Bildforschungen ab.17 Mit dem Erschließungsprojekt wurden Grundlagen gelegt, sowohl für die wissenschaftliche Nutzung der 30.000 Objekte der Sammlung, die Fotografien, Bildpostkarten, Notizen und Begleitinformationen wie Presseartikel beinhaltet, als auch für die Einsicht, dass Kosellecks Auseinandersetzung mit Bildern einen Stellenwert besitzt, der mit einer illustrativen Verdoppelung von aus Schriftquellen gewonnen Erkenntnissen nichts zu tun hat, sondern Bildern eine geschichtsprägende und historische Erkenntnis generierende Rolle einräumt.18 Das Interesse der Geschichtswissenschaft am Bild hat sich in den vergangenen Jahrzehnten intensiviert. So hat Gerhard Paul den Ansatz der Visual History entwickelt, mit dem er nach dem historischen Erkenntnispotenzial von Bildern fragt. Paul plädiert insbesondere dafür, der »Visualität der Geschichte und der Historizität der Bildmedien« nachzugehen.19 In Abgrenzung zur Historischen Bildkunde sieht das Programm der Visual History dezidiert vor, das »Mehr« zu untersuchen, »das die Beschäftigung mit Bildern gegenüber traditionellen Textquellen auszeichnet«.20
16 V gl. die Webseite des Nachlasses Koselleck im Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, URL: https://www.uni-marburg.de/de/fotomarburg/ nachlass-reinhart-koselleck [letzter Zugriff: 25. Januar 2020]. 17 D as verdeutlicht der Sammelband, der aus einer 2010 im Bildarchiv Foto Marburg veranstalteten Tagung hervorgegangen ist: Hubert Locher/Adriana Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, Berlin/München 2013. Vgl. auch Adriana Markantonatos, Eine Fotohexerei. Einblicke in Reinhart Kosellecks Bildarchiv, in: Heike Gfrereis/Ellen Strittmatter (Hg.), Zettelkästen. Maschinen der Phantasie, Marbach a. N. 2013, 69–73 und dies., Absatteln der ›Sattelzeit‹? Über Reinhart Koselleck, Werner Hofmann und eine kleine kunstgeschichtliche Geschichte der Geschichtlichen Grundbegriffe, in: Forum interdisziplinäre Begrif fsgeschichte 7 (1/2018), 79–84. Eine Verankerung der Bildinteressen Kosellecks in eine Intellectual History mit vielen Querverweisen zwischen Kunstgeschichte, Geschichtsdenken und fotografischer Praxis unternimmt Adriana Markantonatos, Geschichtsdenken zwischen Bild und Text: Reinhart Kosellecks »Suche nach dem (…) Unsichtbaren«, Marburg 2018 (elektronische Hochschulschrift). 18 H ubert Locher, »Politische Ikonologie« und »politische Sinnlichkeit«. Bild-Diskurs und historische Erfahrung nach Reinhart Koselleck, in: ders./Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, 14–31, sowie Hubert Locher, Denken in Bildern. Reinhart Kosellecks Programm Zur politischen Ikonologie, in: ders./Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, 294–303. 19 G erhard Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, in: ders. (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, 7–36, hier 24. 20 Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History, 27 (Hervorhebung im Original).
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Kosellecks Interesse am Bild unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von diesem Ansatz. Zwar steht sein historisches Interesse am Bild im Kontext der geschichtswissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Medium, doch hat er selbst kein abgeschlossenes Programm dazu beigesteuert. Anders als viele seiner Kollegen hat Koselleck jedoch seine Fragen an das Bild und dessen historisches Erkenntnispotenzial theoretisch ref lektiert und mit seiner fotografischen Bildpraxis erprobt. Darüber hinaus steht diese Bildpraxis in Verbindung mit seiner Theoriearbeit an Zeit und Sinnlichkeit. Das heißt, Kosellecks Bildinteresse ist nicht allein auf das im Bild Repräsentierte fokussiert, sondern – das zeigen die Beiträge in diesem Band – bezieht sich immer auch auf das heuristische Potenzial des Bildes für das Denken von Geschichte. Dieses Potenzial schöpft insbesondere aus dem Nicht-Repräsentationalen, wie seine Fotografien zeigen: Unschärfen und Überbelichtungen werden ebenfalls in ihrem Erkenntniswert ernst genommen. Der Aspekt der Nicht-Repräsentationalität berührt die Frage der (Un-)Einheitlichkeit der historischen Zeit. Diese Themen teilte Koselleck mit einem anderen Bild- und Geschichtstheoretiker: Siegfried Kracauer. Die Auseinandersetzung mit säkular-ideologischen Sinnkonstruktionen von Geschichte und die Erfahrung des Zerbrechens von historischem Sinn durch das NS-Regime, dessen Vernichtungskrieg und Massenmord an den Juden besaß für beide, Kracauer und Koselleck, wie für viele Intellektuelle ihrer Zeit zweifellos auch eine existenzielle Dimension.21 Beide setzten sich mit der NS-Propaganda, Koselleck mit dem politischen Totenkult auseinander. Doch spielte insbesondere die Fotografie für Kracauer wie auch für Koselleck eine Rolle, die über die Analyse politischer Beeinf lussung hinausging, als ein heuristisches Medium, das historisches Verstehen dort zu erhellen vermochte, wo das Instrumentarium der Geschichtswissenschaft keine Lösungen bot.22 Beide nahmen 1966 auf der dritten Tagung der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik an einer Diskussionsrunde teil, die Das Ästhetische als Grenzerscheinung der Historie thematisierte. Kracauer stellte hier die These vor, dass die moderne Kunst nicht als ästhetisches Mittel zur Konstruktion einer konsistenten Geschichte dienen könne, da sie »fragmentarisiert, zerstört und […] gerade jene Einheit auf[löst], die der allgemeinen Geschichte als Ziel der Erkenntnis immer noch vorschwebt.«23 Koselleck führte in seinem Beitrag mit Chladenius’ Formulierung der »verjüngten Bilder« die Notwendigkeit der Perspektive und die »Fiktion 21 Z u Kosellecks »historischem Existentialismus« vgl. Jan Eike Dunkhase, Absurde Geschichte. Reinhart Kosellecks historischer Existentialismus, Marbach a. N. 2015. 22 V gl. zur Fotografie als heuristische »Analogie« zur Geschichtsschreibung Siegfried Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen (Werke, 4), hg. von Ingrid Belke, Frankfurt a. M. 2009, 71. 23 V gl. Hans Robert Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen (Poetik und Hermeneutik, 3), München 1968, 559–581, hier 562.
Einleitung
des Faktischen« in der Geschichtsschreibung ein, ohne Kracauers Überlegung speziell zur bildenden Kunst aufzugreifen.24 In seiner fotografischen Praxis nutzte Koselleck jedoch die Möglichkeiten dieses spezifisch fragmentarischen Mediums, um die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« sichtbar zu machen und historische Ganzheitsbehauptungen zu dekonstruieren. Für Kracauer bewahrte das Archiv der Fotografie Phänomene auf, von denen das einst »Gemeinte« abgeglitten war; es forderte zur Erkenntnis über die »Vorläufigkeit aller gegebenen Konfigurationen« und zu neuen Arrangements der »Teile und Ausschnitte zu fremden Gebilden« auf.25 Als Ausschnitt verwies die Fotografie auf die in Gänze nicht fassbare Vielfalt von »Erscheinungen des wirklichen Lebens«, wie Kracauer in seiner Geschichte formulierte.26 Der Fremdheitseffekt von Objekten in neuen Umwelten, die Vorläufigkeit und Unvollständigkeit der ausschnitthaften fotografischen Perspektive und das Neuarrangement von Bildserien spielen, so zeigen die Beiträge in diesem Band, auch in der fotografischen Praxis Kosellecks eine zentrale Rolle. Sie verdeutlicht, dass Koselleck die Erwartung Kracauers, dass historisches Verstehen vom Medium Fotografie gewinnen könnte, teilte.27 Bei aller Eigenheit war Koselleck bildhistorisch prominent vernetzt – sowohl mit Kunsthistorikern als auch mit Historikern. Zu ihnen gehörten Philippe Ariès und Michel Vovelle, die im Rahmen der Mentalitätsgeschichte (des Todes) und der politischen Kulturgeschichte die Bilder wiederentdeckt hatten,28 Kosellecks Bielefelder Kollege Klaus Schreiner, der die Erfahrungen und Lebensbewältigungen 24 V gl. Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste, 579 f. Dass Koselleck und Kracauer über Geschichtsschreibung und Fotografie im Gespräch waren, zeigt ein Quellenhinweis, für den Kracauer Koselleck dankte, vgl. Kracauer, Geschichte, 69, Anm. 40. 25 S iegfried Kracauer, Die Photographie, in: ders., Das Ornament der Masse. Essays [1963], Frankfurt a. M. 2017, 21–39, hier 38 f. (Hervorhebung im Original). 26 Kracauer, Geschichte, 69. 27 Kracauer, Geschichte, 71. 28 V gl. zu den Korrespondenzpartnern Kosellecks: Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg/Carolin Götz (Bearb.), Findbuch: Handschriftlicher Bestand aus dem Bildnachlass von Reinhart Koselleck (aus dem Bielefelder Privathaus von Reinhart Koselleck), [Stand: 2015], online abrufbar unter: https://www.uni-marburg.de/de/fotomarburg/ nachlass-reinhart-koselleck/findbuch_privat.pdf [letzter Zugriff: 02.02.2020] sowie Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg/Christiane Starck (Bearb.), Findbuch: Handschriftlicher Bestand aus dem Bildnachlass von Reinhart Koselleck (aus den Räumen der Bielefelder Universität), [Stand: 2015], online abrufbar unter: https://www.uni-mar burg.de/de/fotomarburg/nachlass-reinhart-koselleck/findbuch_university.pdf [letzter Zugriff: 02.02.2020]. Zu den Bildern in der französischen Mentalitätsgeschichte vgl. Daniela Kneissl, L’historien saisi par l’image: Bildzeugnisse als Forschungsgegenstand in der französischsprachigen Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts, in: Jens Jäger/Martin Knauer (Hg.), Bilder als historische Quellen? Dimension der Debatten um historische Bildforschung, München 2009, 150–199, hier 156–165.
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mittelalterlicher Menschen an Bilddarstellungen erforschte,29 und Maurice Agulhon und Georg Kreis, die sich mit politischen Denkmälern und Symbolen der Moderne befassten.30 Seine Zusammenarbeit mit dem Heidelberger Kunsthistoriker Peter Anselm Riedl, etwa in einem interdisziplinären Seminar zur politischen Ikonographie des Tötens und Sterbens im Sommersemester 1972 am Heidelberger kunsthistorischen Seminar, setzte Koselleck in einer Arbeitsgemeinschaft am Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) und der dort 1976 ausgerichteten Tagung Todesbilder und Totenmale. Politische Ikonologie zwischen Kunst und Politik, an der auch der Bochumer Kunsthistoriker Max Imdahl teilnahm, fort.31 Zu Imdahls Festschrift anlässlich seines 60. Geburtstags hatte Koselleck einen Aufsatz über die politischen Karikaturen Honoré Daumiers beigetragen,32 und Imdahls bildimmanenter Theorie der Ikonik widmete Koselleck 1996 einen Vortrag in Münster mit dem Titel Ikonik und Historik33 – zu einer Zeit, in der er sich als Gastprofessor an Martin Warnkes Forschungsstelle Politische Ikonographie im Hamburger Warburg-Haus 1996/97 ausführlich seinen Forschungen zum politischen Totenkult, zu dem er eine Monographie plante, und den Bildern widmen konnte. Der Einladung Gottfried Boehms folgte Koselleck 1996 zu den Jacob BuckhardtGesprächen auf Castelen, aus der seine Publikation Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes. Ein deutsch-französischer Vergleich (1998) hervorging. Kosellecks Netzwerk belegt, dass sich sein Interesse zwischen diesen bildhistorischen Ansätzen bewegte, zwischen bildimmanenten Zugängen, der Mentalitäts- und politischen Kulturgeschichte, der Geschichte politischer Symbole, der politischen Ikonologie und Ikonographie. In diesem Kontext formte Koselleck seinen 29 V gl. Klaus Schreiner, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München/Wien 1994 und Reinhart Koselleck, Zum Geleit, in: Andrea Löther et al. (Hg.), Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner, München 1996, 9 f. 30 Z ur politischen Ikonographie der ›Nation‹ in Frankreich vgl. die klassischen Arbeiten von Maurice Agulhon, Marianne au combat. L’imagerie et la symbolique républicaines de 1789 à 1880, Paris 1979; ders., Marianne au pouvoir. L’imagerie et la symbolique républicaines de 1880 à 1914, Paris 1989; ders., Les métamorphoses de Marianne. L’imagerie et la symbolique républicaines de 1914 à nos jours, Paris 2001, sowie für die Schweiz: Georg Kreis, Helvetia – im Wandel der Zeiten. Die Geschichte einer nationalen Repräsentationsfigur, Zürich 1991. 31 P rof. [Anselm] Riedl und Prof. [Reinhart] Koselleck, Interdisziplinäres Seminar zur politischen Ikonographie [Typoskript], Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Nachlass Koselleck, Kasten 74, Mappe 74. Die ZiF-Arbeitsgruppe ist verzeichnet in Maria Kastner/Gerhard Sprenger (Hg.), ZiF: 1968–1993. Daten aus 25 Jahren Forschung, Bielefeld 1993, S. 397. 32 Koselleck, Daumier und der Tod. 33 R einhart Koselleck, Ikonik und Historik [unveröffentlichtes Manuskript, 9 Seiten], 1996, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Nachlass Koselleck, Kasten 47, Mappe 322.
Einleitung
spezifischen bildhistorischen Standort weiter aus: Ihm ging es auch um Bilder als historische Gegenstände und Faktoren, insbesondere aber um das Bild als eine Möglichkeit, Geschichte in ihrer zeitlichen und sinnlichen Bedingtheit zu denken. Mit den hier versammelten Beiträgen wird die Bandbreite ausgelotet, in der Bilder und Bildlichkeit das historische Denken Kosellecks durchdringen: von den kunsthistorischen Lektüren, Begriffsverwendungen (Ikonologie, Ikonik) und bildtheoretischen Skizzen Kosellecks über seine Sprachbilder, das Bild als heuristisches Modell bis zu seinen Überlegungen über die politischen Wirkungsweisen von Bildern im historischen Prozess der ›Verzeitlichung‹. Dabei gilt die Aufmerksamkeit insbesondere den eigenhändigen Fotografien Kosellecks als Form der Erzeugung und kritischen Ref lexion historischer Erkenntnis: als visuell-räumlicher, experimenteller und kritischer Modus der Annäherung an komplexe Zeitverhältnisse sowie heterogene Sichtweisen von Geschichte, die nicht-sprachliche Erfahrungsweisen darstellen. Ein Blick in Reinhart Kosellecks kunsthistorischen Buchbestand seiner privaten Bibliothek zeigt, dass er die Autoren und Impulsgeber der kulturwissenschaftlichen und kunsthistorischen Bilddiskussion der 1990er Jahre intensiv, mit Unterstreichungen und Kommentierungen lebhaft markiert, rezipierte.34 Mit Akteuren wie Hans Belting stand er in Brief kontakt, mit Max Imdahl, dessen Ikonik wichtige Impulse für Gottfried Boehms Formulierung der »ikonischen Differenz« und eines iconic turn gab,35 verband ihn ein langjähriger freundschaftlicher Austausch. Nicht nur der politischen Ikonologie, die für seine Denkmalstudien von zentralem Interesse war, sondern auch dem besonderen Verhältnis von Bildern zur Zeit und damit genuin bildlichen Potenzialen galt seine Aufmerksamkeit. Man kann zwischen der Geschichte der politischen »Bildformeln«, deren Kontinuität und Brüchen Martin Warnkes Forschungsstelle Politische Ikonographie im Hamburger Warburg-Haus und das Handbuch der Politischen Ikonographie nachgehen, und der Geschichte politisch-sozialer Begriffe, wie sie die Geschichtlichen Grundbegrif fe untersuchen, Ähnlichkeiten erkennen.36 Auch das Handbuch versammelt 34 Ü ber Kosellecks Bibliothek informiert Reinhard Laube, Zur Bibliothek Reinhart Koselleck, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 3 (4/2009), 97–112. Zu den Autoren in Kosellecks bildwissenschaftlicher Bibliothek gehören etwa Hans Belting, Gottfried Boehm, Horst Bredekamp, Werner Busch, Michael Diers, Georges Duby, Jutta Held, Francis Haskell, Max Imdahl, Ekkehard Kaem merling, George Kubler, Erwin Panofsky, J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, Norbert Schneider, Dietrich Schubert, Martin Warnke – um nur wenige Beispiele zu nennen. Der Bestand ist recherchierbar im Bibliothekskatalog des Deutschen Literaturarchivs Marbach: https://www. dla-marbach.de/katalog/bibliothek/ [letzter Zugriff: 02.02.2020]. 35 G ottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994, 11–38, hier 13. 36 U we Fleckner/Martin Warnke/Hendrik Ziegler, Vorwort, in: dies. (Hg.), Handbuch der politischen Ikonographie, 2 Bde., München 2011, 7–13, hier 11.
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zeitlich übergreifend, von der Antike bis zur Gegenwart, wiederkehrende und neu anverwandelte »Begriffe, Themen und Motive« nun nicht der politischen Sprache, sondern, der Idee des »Bildgedächtnisses«37 Aby Warburgs nahe, einer »politische[n] Visualität«. Wie politisch-soziale Begriffe macht sie handlungsfähig und vermittelt sie politische Strategien, Erwartungen und Deutungen.38 Weit mehr aber als um die gelenkte Repräsentation und Inszenierung, auf denen das Augenmerk der politischen Ikonographie Warnkes lag, ging es Koselleck um die bildimmanenten und ästhetischen Möglichkeiten der Erzeugung wie auch der Kritik von politischen Sinnstiftungen. Bildliche Eigenaktivitäten blieben für Koselleck jedoch an konkrete soziale und damit historisch wandelbare Situationen gebunden, er verfolgte keinen ontologischen Bildbegriff. Von seiner Auseinandersetzung mit Fragen der Historizität von Kunst und Artefakten, der Kunstgeschichtsschreibung und Periodisierung zeugt die Studie The Shape of Time, die der amerikanische Kunsthistoriker George Kubler 1962 publizierte und deren deutsche Übersetzung mit einer Einleitung von Gottfried Boehm aus dem Jahr 1982 sich ebenfalls im Buchbestand von Koselleck befindet.39 Kubler sprach sich in seiner Studie gegen eine chronologische Kunstgeschichtsschreibung aus und begriff Artefakte und Kunstwerke stattdessen als »Lösungsketten« in »formalen Sequenzen«,40 so dass »das gleichzeitige Auftreten alter und neuer Reihen« zu einer Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Formfindungen zu einer Zeit führe.41 Auch Koselleck ref lektierte Bildlichkeit als Simultaneität des Differenten, und doch verstand er die moderne »Emanzipation des Bildes« als ein historisches Produkt.42 Ihn interessierten die Wechselwirkungen zwischen Bildern als sinnlichen Formen der Wahrnehmungsdeutung einerseits und den politisch-sozialen Handlungskonstellationen anderseits, die beide in der Inkongruenz ihrer Zeitrhythmen Wandel vorantrieben. Der Bildpräsenz und den schnell zirkulierenden Medien schrieb er dabei den Status eines Faktors im politisch-sozialen Geschehen zu. Mit seiner Auffassung von Geschichte als sinnlich-wahrnehmungsbasierter ›Erfahrungswissenschaft‹ korrespondierte sein Interesse an der Historizität der Wahrnehmung, und so lässt sich Kosellecks Bildarbeit als eine Einladung zu
37 V gl. Aby Warburg, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten [1920], in: ders., Werke in einem Band, hg. u. kommentiert von Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig, Frankfurt a. M. 2010, 424–491, 484. 38 Fleckner/Warnke/Ziegler, Vorwort, 7, 10. 39 G eorge Kubler, Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, mit einer Einleitung von Gottfried Boehm, Frankfurt a. M. 1982. 40 Kubler, Die Form der Zeit, 71. 41 Kubler, Die Form der Zeit, 100. 42 R einhart Koselleck, Zur pol. Ikonologie [Typoskript, 1963], abgedruckt in Locher, Denken in Bildern, 295.
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einer »Geschichte als Wahrnehmung« verstehen, die er in seinem Band Zeitschichten ankündigte, jedoch nicht mehr ausführen konnte.43 Die eigene Position Kosellecks zu den Bildern, die in den hier versammelten Beiträgen deutlich wird, soll daher auch als Anregung dienen, über die räumlichen und sinnlichen Dimensionen der Geschichte, ihrer Erforschung und Vermittlung neu nachzudenken. Welche Möglichkeiten bieten Bilder für die historische Darstellung und die historische Forschung? Welches Potenzial eröffnen sie für Einsichten in historische, plurale Zeiten und historischen Wandel? Und nicht zuletzt: Was geben Bilder über die Geschichte von Sinnlichkeit und historischer Erkenntnis selbst zu erkennen? In Ansatz und Ergebnissen greift dieser Sammelband auf die durch die Herausgeberinnen kuratierte Ausstellung Reinhart Koselleck und das Bild zurück, die sich 2018 in Bielefeld der bildlichen Dimension von Geschichte und ihrer Erforschung in Kosellecks Werk insbesondere anhand seiner eigenen Fotografien gewidmet hat.44 Von Beginn an wurde die Exposition als Projekt forschenden Ausstellens verstanden. So wurde das Medium Ausstellung ernst genommen in seinem Potenzial, Erkenntnisse durch das Erschaffen von spezifischen »Erfahrungsräumen«45 und dort präsentierten Konstellationen hervorzubringen und sicht- sowie erkennbar zu machen.46 Ausgehend von Kosellecks These, dass »jede geschichtliche Erkenntnis […] standortbedingt« sei,47 fand die Ausstellung gleichzeitig an drei verschiedenen Orten in Bielefeld statt: der Universität Bielefeld, dem Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) und dem Kunstverein Bielefeld. Jeder Ort war biographisch mit dem Wirken Kosellecks in der ostwestfälischen Stadt und ihrer Reformuniversität verbunden. Drei verschiedene erkenntnisleitende Begriffe Kosellecks dienten den jeweiligen Ausstellungsteilen als Leitgedanken: Der metaphorische Charakter der Begriffe ›Zeitschichten‹, ›Politische Sinnlichkeit‹ und ›Erinnerungsschleusen‹ wurde an den drei Orten zudem mit 43 K oselleck, Vorwort, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, 7; Reinhart Koselleck, Zeitschichten, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, 19–26, hier 20. 44 V gl. die Webseite zur Ausstellung: https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/geschichtswissen schaft/forschung/zthf/reinhart-koselleck-bild/ [letzter Zugriff: 25.01.2020]. 45 A uch dieser Begriff stellt eine heuristische Kategorie Kosellecks dar: Reinhart Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 2015, 349–375. 46 » Jede Ausstellung interpretiert somit die Objekte, entwickelt eine spezifische Rhetorik, die sich in der jeweiligen besonderen Realisation eines Zeigegestus artikuliert.« Hubert Locher, Die Kunst des Ausstellens. Anmerkungen zu einem unübersichtlichen Diskurs, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.), Kritische Szenografie. Die Kunstausstellung im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2015, 41–62, hier 45. 47 R einhart Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Reinhart Koselleck/Wolfgang J. Mommsen/Jörn Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaf t, München 1977, 17–46, hier 19.
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Hilfe unterschiedlicher kuratorischer Prinzipien und Zeigegesten präsentiert.48 Besucherinnen und Besucher, die die drei Ausstellungsteile nacheinander besichtigten, konnten auf diese Weise die ›Standortbedingtheit‹ von sinnlicher Erfahrung und nicht zuletzt historischer Erkenntnis körperlich nachvollziehen. So, wie Koselleck in seiner fotografischen Praxis das Objekt – ein Denkmal, eine Pferdedarstellung oder aber eine Wasseruhr – aus unterschiedlichen Positionen und Perspektiven in Serie aufnahm, so bot auch die Ausstellung Reinhart Koselleck und das Bild verschiedene Blickwinkel auf Kosellecks Umgang und Denken mit und in Bildern. Eine thematische Auswahl von über 500 Fotografien aus dem Bildnachlass im Bildarchiv Foto Marburg wurde in der Ausstellung gezeigt, ergänzt um Exponate wie Karikaturen und Skizzen, Bücher sowie Denkmal- und Pferdeminiaturen. Die Ausstellung präsentierte diese Exponate in unterschiedlichen räumlichen Kontexten und Ausgestaltungen: In den Fluren der Abteilung für Geschichtswissenschaft an der Universität Bielefeld waren die Fotografien Kosellecks als Auslegeordnungen unter dem Leitbild ›Zeitschichten‹ auf grauem Fond gehängt. Damit wurden Kosellecks Praktiken im Umgang mit seinen Fotografien, auf deren Ansichtigkeit aber durchaus auch ›Auslegung‹ viele seiner Thesen zur Historik beruhen, nicht nur im Raum erfahrbar, sondern diese Praxis fügte sich gleich einer eigenen ›Zeitschicht‹ in die heutige Betriebsamkeit der geschichtswissenschaftlichen Abteilung ein. Unter dem Leitbild ›Politische Sinnlichkeit‹ wurde im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF), dessen Direktorium Koselleck von 1974 bis 1979 angehört hatte, ein betont sinnlicher Raum geschaffen, in dem die politische Wirksamkeit von Kriegerdenkmalen wie auch Kinderspielzeug in krassen Farben und verschiedenen Größendimensionen erfahrbar wurde. Der Kunstverein Bielefeld, den Koselleck aufgrund seines Kunstinteresses häufig besucht hatte, zeigte unter dem Leitbild ›Erinnerungsschleusen‹ die Fotografien Kosellecks zu Denkmälern und Erinnerungsstätten auf nüchternen, mehransichtigen Paneelen im weißen Ausstellungsraum.49 Die unterschiedlichen kuratorischen Gesten und Displays wurden im Rahmen von interdisziplinären Seminaren der Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld und der Fachhochschule Bielefeld, Fachbereich für Gestaltung, gemeinsam erarbeitet und umgesetzt.50 Die Ausstellung eröffnete über die drei verschiedenen Räume und Präsentationsweisen, aber auch durch die gewählten Konstellationen eine neue Perspektive auf 48 V gl. für diese drei zentralen Begriffe im Werk Kosellecks: Koselleck, Zeitschichten; Koselleck, Politische Sinnlichkeit; Reinhart Koselleck, Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten. Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, 265–284. 49 D er Ausstellungsteil im Kunstverein Bielefeld wurde vom damaligen Leiter Thomas Thiel kuratiert. 50 Das Seminar wurde von Seiten der Fachhochschule Bielefeld von Prof. Axel Grünewald geleitet.
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Kosellecks Interesse am Bild als Gegenstand historischer Erfahrung und Erkenntnis. Im Laufe der dreimonatigen Ausstellungsphase veränderte sich die Ausstellungsansicht. Studierende der Fotografie an der Fachhochschule Bielefeld setzten sich im Rahmen des interdisziplinären Seminars fotografisch mit Kosellecks Bildpraxis, aber auch mit seiner am Bild geschulten Historik auseinander. Es entstanden Arbeiten, die Zeit, Erinnerung und politische Sinnlichkeit selbst zum Thema machten und die medialen Bedingungen dieser Leitgedanken thematisierten. Nach und nach trugen sich die fotografischen Arbeiten der Studierenden in Form von Interventionen in die Ausstellungen an den drei Orten ein: Sie veränderten den Erfahrungsraum, dessen Ansichtigkeit, und machten umso deutlicher, wie sehr die Ausstellung selbst in ihren Zeitschichten zu verstehen war. Die künstlerischen Auseinandersetzungen mit Koselleck trugen sich wie eine Schicht in die Konstellationen des ›Erfahrungsraums‹ ein. Sowohl die Installationsansichten der Ausstellung an allen drei Orten als auch die künstlerischen Interventionen stellen als Bildstrecken die – wiederum bildliche – Ausgangsbasis dieses Bandes dar. Das Projekt des forschenden Ausstellens hat viele Verbindungen und Durchkreuzungen in Kosellecks Schaffen in Hinblick auf seine Arbeit mit und am Bild erkennbar werden lassen. Diese Perspektiven sind in den fünf Beiträgen dieses Bandes festgehalten, die immer wieder Querbezüge zu den Exponaten und Displays der Ausstellung, aber auch untereinander herstellen und dabei die unterschiedlichen Facetten von Kosellecks Interesse und Arbeit am und mit dem Bild ins Zentrum stellen. Die beiden ersten Beiträge widmen sich dem Bild als heuristischem Modell, als historischem Phänomen und als Form der Kritik – das heißt den Bildpotenzialen, die Koselleck annahm und für seine geschichtswissenschaftlichen Arbeiten nutzte. Kosellecks konzeptionelle Denkbewegungen zwischen Bild, Begriff und der Theorie historischer Zeiten thematisiert Bettina Brandt. Dem visuellen Modell ›dichter‹, nicht-linearer historischer Zeit beiseite standen Kosellecks Auseinandersetzung mit politischen Denkmälern als visuellen Artefakten und die sie begleitende eigenhändige Praxis des Fotografierens. Das Fotografieren bot für Kosellecks Historik einen experimentellen Rahmen, mit dem sich das heuristische Instrumentarium zur Annäherung an plurale und historisch mehrschichtige Erfahrungen um die visuell-sinnliche Wahrnehmung erweitern ließ. Anhand der Fotografien Kosellecks zeigt der Beitrag, wie im Modus der pointierten bildlichen Zusammenschau perspektivische Verengungen, Paradoxien und Auslassungen des historischen Diskurses erkennbar werden. Die besondere Rolle des Sehsinns für Kosellecks Bildbegriff und die Historik stellt Britta Hochkirchen heraus. Im Abstand zwischen Subjekt und Objekt der sinnlichen Wahrnehmung lag für Koselleck die Voraussetzung des Sehens und
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kritischen Erkennens. Insofern sprach Koselleck dem Sehsinn kritische Ref lexivität zu: und zwar sowohl in actu der Geschichte als auch ex post als Erkenntnismedium. Sehsinn und Bilder besaßen für Koselleck eine doppelte Wirksamkeit als Mittel der Differenzierung und damit auch der Relationierung. Eine wichtige Rolle, so zeigt der Beitrag, spielen dabei die Praktiken des Vergleichens, die Koselleck im Umgang mit den Bildern einsetzte. Der Beitrag fokussiert dabei die impliziten bildtheoretischen Annahmen, die Kosellecks Verständnis von der kritischen Ref lexivität des Sehsinns und des Bildes zugrunde liegen. Zwei weitere Beiträge kontextualisieren und historisieren die Bildarbeit des Historikers Koselleck. Hubert Locher zeigt am Beispiel des Bildinteresses Kosellecks die Konvergenzbewegung zwischen Kunstgeschichte und Geschichte seit den 1960er Jahren auf. Beide Disziplinen folgten ihrer eigenen Agenda, wobei sich aber an entscheidenden Punkten die Möglichkeit der Verbindung aufdrängte, dort nämlich, wo es um die Untersuchung des Bildes als politischem Ausdrucksträger geht. Adriana Markantonatos fokussiert entlang konkreter Verbindungen in künstlerische und kunsthistorische Kreise, unveröffentlichter Handschriften und einer Relektüre von Kosellecks Schriften die Rolle bildimmanenter Annahmen in der Genese seines Werkes. Dabei stellt sie die Verbindungen zwischen sprachlich-diskursiven und sinnlich-bildlichen Erkenntnis- und Darstellungsweisen des Historikers heraus. Deutlich wird Kosellecks Geschichtsdenken zwischen Bild und Text und seine lebenslange Bildpraxis als theoretische »Suche nach dem (…) Unsichtbaren«, nach geschichtlichen Strukturen und Prozessen, geschichtlicher Zeit und Bewegung. Der Beitrag von Helge Jordheim wendet sich schließlich der Sprachform des Begriffshistorikers Koselleck zu und untersucht die bildhafte Dimension seiner heuristischen Begriffe. Den Stoff zur Konstruktion dieser Sprachbilder hat Kosel leck in der physischen Außenwelt gefunden, in der Welt materieller menschlicher Umgebungen, die auch in seinen Fotografien dokumentiert werden: ›Sattel‹, ›Schicht‹, ›Schwelle‹, ›Schleuse‹. Der Beitrag zeigt, inwiefern eine paradoxe Sprachbildlichkeit entsteht, die sehr zur Dynamik und Lebendigkeit des Werkes von Reinhart Koselleck beiträgt.
Dank Für die finanzielle Unterstützung dieses Bandes danken wir dem SFB 1288 »Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern« an der Universität Bielefeld, der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DGF) gefördert wird. In Hinblick auf die Bereitstellung der Abbildungen und die große Unterstützung in diesem Gesamtprojekt möchten wir uns beim Deutschen Dokumentationszentrum
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für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, namentlich bei Prof. Dr. Hubert Locher, Dr. Sonja Feßel und Annette Otterbach M. A. bedanken. Der Erbengemeinschaft nach Prof. Dr. Reinhart Koselleck danken wir für das große Engagement im Rahmen des Ausstellungs- und Publikationsprojekts. Ein Dank geht auch an Philipp Ottendörfer für die Genehmigung zur Reproduktion der Ausstellungsansichten. Für die redaktionelle Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts gilt unser Dank Greta Darkow und Philipp Flüß. Die Ausstellung wurde an der Abteilung Geschichtswissenschaft in Kooperation mit dem Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, dem Kunstverein Bielefeld, dem Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld, der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS) und dem Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Bielefeld erarbeitet. Ein Dank für die großzügige, auch finanzielle Unterstützung geht an das Rektorat der Universität Bielefeld, die Universitätsgesellschaft Bielefeld, die Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie und das Zentrum für Theorien in der historischen Forschung der Abteilung Geschichtswissenschaft. Bedanken möchten wir uns außerdem bei den studentischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der am Ausstellungsprojekt beteiligten Seminare.
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Einleitung
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Zeitschichten Universität Bielefeld, Abteilung Geschichtswissenschaft, Gebäude X-A2 Laufzeit: 18. April bis 20. Juli 2018 Unter dem Titel »Zeitschichten« versammelte Reinhart Koselleck im Jahr 2000 seine Studien zu einer Theorie historischer Zeiten. Diese räumliche Metapher setzt den Denkrahmen eines pluralen Zeitbegriffs. Er ermöglichte es Koselleck, verallgemeinernden Konzepten wie der ›Geschichte an sich‹, ›Fortschritt‹ und ›Beschleunigung‹ einen besonderen historischen Ort zuzuweisen: Sie sind spezifisch moderne Zeitvorstellungen, die jedoch mit älteren Zeitmodellen koexistieren. Dieser Ausstellungsteil ging der Frage nach, inwiefern sich Kosellecks Überlegungen zu gleichzeitigen, aber in unterschiedlichen Geschwindigkeiten verlaufenden Wandlungsprozessen in seiner fotografischen Praxis ausformten. Präsentiert wurden bevorzugte Gegenstände seiner fotografischen Entdeckungsreisen: Uhren, Fortbewegungsmittel und Denkmäler als Vorgriffe auf das künftig zu Erinnernde, die in einer sich wandelnden Umwelt selbst zu Zeugnissen der Vergänglichkeit werden. In den Fotografien werden Schichtungen, Gegenläufigkeiten und Anachronismen sichtbar, die einfache Verlaufsmodelle von Geschichte kritisch und humorvoll in Frage stellen. Die Anordnung der Flure im Universitätsgebäude X lud dazu ein, Kosellecks Umgangsweisen mit Bildern und dem Fotografieren nachzuvollziehen. Die Vitrinen zeigten mit Kosellecks Bildkästen, Büchern, Typoskripten und Fotoserien seine langjährige Beschäftigung mit Bildtheorien, mit dem Verhältnis von Begriff und Bild sowie den Formen und Botschaften des politischen Totenkultes. Zahllose Herrscher- und Kriegerdenkmäler umrundete er mit der Kamera und zerlegte ihre Monumentalität in Sequenzen unterschiedlicher Perspektiven. Die Bildtafeln der Flure vermittelten eine Studiensituation, indem sie Fotokonvolute nach der Ordnung auslegten, wie sie zuletzt in Kosellecks Bildkästen bestand. Mit seinen Fotografien fing Koselleck immer wieder die mitunter paradoxe Gleichzeitigkeit von historisch scheinbar weit auseinanderliegenden Zeitvorstellungen und Geschwindigkeiten ein. »Um zu wissen, wie neu unsere Neuzeit ist, müssen wir wissen, wieviel Schichten von der überkommenen Geschichte auch in unserer Gegenwart enthalten sind.« (Reinhart Koselleck, Wie neu ist die Neuzeit?, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2003, 239).
Fotografische Dokumentation: Philipp Ottendörfer Ausstellungsgestaltung: Thomas Abel, Christian Andreas, Patrick Fäth, Dorothea Geist, Simon Grunert, Lukas Heibges, Janice Jensen, Alina Medvedeva, Morgane Overath (FH Bielefeld, FB Gestaltung)
Erinnerungsschleusen Kunstverein Bielefeld Laufzeit: 20. April bis 8. Juli 2018 Kurator: Thomas Thiel Die Ausstellung »Erinnerungsschleusen« konzentrierte sich auf die Folgen der beiden Weltkriege und die daraus resultierenden unterschiedlichen Formen und Orte des Erinnerns. Der Titel dieses Ausstellungsbereichs ist Reinhart Kosellecks Vortrag »Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten« (1984) entliehen, der sich mit dem Einf luss der Kriege auf das soziale Bewusstsein und dem politischen Totenkult anhand von Denkmälern beschäftigt. Die Präsentation versammelte zahlreiche Fotografien von Gedenkstätten und Denkmälern in Europa, darunter viele für die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur. Im ersten Raum wurden Monumente und Denkmaltypen vorgestellt, die unterschiedlichen Motivationen und Zeiten entspringen. Sie sind dem Gedenken an verschiedene Personen- und Bevölkerungsgruppen gewidmet. Aus zahlreichen Perspektiven eröffnen die Fotografien den Blick auf die Beziehung von Mahnmal und Identität. Sie thematisieren die Transformation und Inszenierung von Erinnerung abseits der Tatorte – häufig an neu geschaffenen Orten. Zu sehen waren Denkmäler für die Gefallenen beider Weltkriege, für die ermordeten Juden Europas, für zerstörte Synagogen, für verfolgte Homosexuelle, Sinti und Roma. Die exemplarisch ausgewählten Denkmäler und Gegendenkmäler befinden sich in Zentren wie Amsterdam, Berlin oder Hamburg, aber auch im Bayerischen Wald oder im direkten Umfeld der Ausstellung – auf dem Johannisberg in Bielefeld. Im Gegensatz dazu standen im zweiten Raum die Gelände der nationalsozialistischen Vernichtungslager und die Informationsarchitektur von Gedenkstätten im Vordergrund, die am tatsächlichen Ort des Geschehens installiert wurden. Kosellecks Fotografien kartografieren den gesamten Raum: Sie dokumentieren und analysieren die ursprüngliche Struktur der Anlagen, die Kommunikation der Geschehnisse sowie die später hinzugefügten Elemente der Erinnerungskultur. Dem fotografischen Blick von Koselleck folgend, wollte die Auswahl veranschaulichen, was dem Historiker bei seinen persönlichen Erkundungen dieser Erinnerungsschleusen wichtig war: Die Verwandlung von Tätern in ›Opfer‹ in den deutschen Denkmälern nach dem Zweiten Weltkrieg, die räumliche Verortung und Materialisierung von Erinnerung sowie die Undarstellbarkeit der Kriegserfahrung, des Massensterbens und der Vernichtung von Menschen in Konzentrationslagern. Ein Augenmerk lag außerdem auf der Ausgestaltung einiger Erinnerungsorte durch Künstler, deren Formensprache mit den historischen Thesen Kosellecks in einen Dialog tritt. Text: Thomas Thiel
Fotografische Dokumentation: Philipp Ottendörfer
Politische Sinnlichkeit Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF), Universität Bielefeld Laufzeit: 24. April bis 17. Juli 2018 Mit der Formulierung »Politische Sinnlichkeit« bezeichnete Reinhart Koselleck in einem Aufsatz aus dem Jahr 1998 die Vermittlung politischer Ideologien durch alle fünf Sinne. Dem Sehsinn sprach Koselleck eine besondere, nämlich doppelte Qualität zu: Das Auge ist zwar verführbar, es schafft aber auch leibliche Distanz zu den Gegenständen seiner Wahrnehmung. Dieser Ausstellungsteil präsentierte Kosellecks visuelle Erkundung des politischen ›Erfahrungsraumes‹, der über die Sinne in den Körper eindringt: Sein Interesse galt dabei Denkmälern, Reiterstandbildern, Werbung, aber auch trivialen Gegenständen des Alltags wie Spielzeug oder Luxusgütern. An zwei Fotowänden wurde die Verquickung von Außen und Innen vor Augen geführt: Das Politische zeigt sich nicht nur durch Reiterstandbilder oder ein Kinderkarussell im Außenraum, sondern dringt über die Medien in den persönlichen Raum ein. Doch barg der Sehsinn für Koselleck auch das Potenzial der kritischen Distanzierung: Der Standort und die (zeitliche) Perspektive werden in seinen Fotografien stets betont. Erkennbar wird damit eine Verhältnisbestimmung zum Gesehenen, die sich jeweils aus dem Akt der Wahrnehmung, dem Größenverhältnis sowie dem historischen Kontext ergibt. Durch die Mittel der fotografischen Unschärfe, Verzerrung und Überbelichtung verstärken sich die Möglichkeiten der Kritik: Nicht nur das Motiv, sondern ein Bewusstsein für die Medialität und die Wahrnehmung selbst treten ins Bild. Eine besondere Rolle innerhalb der politischen Sinnlichkeit sprach Koselleck dem Pferd zu: Zahlreiche Fotografien von Reiter- und Pferdedenkmälern sowie die Sammlung von Pferdeminiaturen zeugen von Kosellecks intensiver Beschäftigung mit den historischen und sinnlich-ästhetischen Ausformungen des Pferdes. Koselleck erklärte das Pferd sogar zum Epochenmerkmal und sprach von einem Vor-, Nach- und Pferdezeitalter. Das Pferd sei für unterschiedlichste politische Ideologien als Herrschaftssymbol vereinnahmt worden. Die ökonomische und kriegerische Funktion des Pferdes verliert sich in der Moderne, doch dringt das Pferd in trivialisierter Form in den persönlichen Raum der Freizeit ein. Dort entfaltet das einstige Herrschaftssymbol erneut seine politische Wirksamkeit.
Fotografische Dokumentation: Philipp Ottendörfer Ausstellungsgestaltung: Thomas Abel, Christian Andreas, Patrick Fäth, Dorothea Geist, Simon Grunert, Lukas Heibges, Janice Jensen, Alina Medvedeva, Morgane Overath (FH Bielefeld, FB Gestaltung)
Zeitschichten im Bildraum Kosellecks Theorie historischer Zeiten im Modell des Bildes und im fotografischen Experiment Bettina Brandt Abstract Das Bild als simultane Wahrnehmungseinheit diente Reinhart Koselleck als ein Modell, um die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher historischer Zeitbezüge als epistemische Grundfigur seiner Historik zu veranschaulichen. Die Praxis des Fotografierens wiederum ermöglichte es ihm, die Bedingungen historischer Erkenntnis im visuellen Experimentierraum auszuweiten und (selbst-)kritisch zu ref lektieren. Der Beitrag thematisiert zum einen Kosellecks konzeptionelle Denkbewegungen zwischen Bild, Begriff und der Theorie historischer Zeiten. Zum anderen zeigt er, dass die Pointe der Fotografien Kosellecks im Sichtbarwerden von zeitlicher Differenz, Komplexität und Perspektivität liegt. Die Fotografien lassen sich so als visuell evidente, in ihrer eigenen Bedingtheit jedoch stets markierte Gegenthese zu linearen und vermeintlich standortlosen historischen Erzählungen von Identität und Fortschritt verstehen.
In ihrem Aufsatz Thoughts on Photography and the Practice of History beschreibt die Anthropologin und Fotohistorikerin Elizabeth Edwards Fotografien als »think-spaces in the relations between the present and its pasts« und als »scientific experiments«, deren epistemologische Bedeutung für die Verlagerung des geschichtswissenschaftlichen Theorieinteresses von Formen der Narration und Repräsentation hin zu Fragen der Erfahrung und Erinnerung übersehen werde.1 Mit der Frage »What does the existence of photographs ›do‹ to history?« regt sie an, die Auseinandersetzung mit Fotografien zu nutzen, um über die methodischen Grundannahmen des Faches, über die Kategorien des Ereignisses, der zeitlichen Distanz, der Präsenz und der Erfahrung neu nachzudenken. »Photographs change the rhythm of the past, they destabilize what has conventionally been 1 E lizabeth Edwards, Thoughts on Photography and the Practice of History, in: Jennifer Evans/ Paul Betts/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), The Ethics of Seeing: Photography and Twentieth-Century German History, New York 2018, 23–36, hier 25, 27, 32.
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thought of as historically significant.«2 Fotografien durchbrechen, so Edwards, in ihrer Doppelung von zeitlicher Distanz und Präsenz die Vorstellung von linearer Zeit und sie schaffen mit dem Herausheben eines noch so banalen Moments aus dem zeitlichen Kontinuum einen Rahmen der Signifikanz und ein (Mikro-)Ereignis, das die Hierarchien historiographischer Bedeutsamkeitszuschreibungen zu stören vermag.3 In ihren Überlegungen zur Begegnung von Fotoanalyse und Geschichtstheorie verweist Edwards neben Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Paul Ricœur und anderen Vertretern der Geschichts- und Fototheorie auch auf Reinhart Koselleck.4 Das erstaunt insofern nicht, als Koselleck mit seiner Historik und der räumlichen Metapher der »Zeitschichten« einen pluralen Zeitbegriff eingeführt hat, der einen linear gedachten historischen Verlauf mit dem komplexen Modell gleichzeitiger, aber in unterschiedlichen Geschwindigkeiten verlaufender Veränderungsprozesse konfrontiert.5 Dennoch verdient der Rückgriff genauere Aufmerksamkeit. Er zeigt an (ohne dass dies bei Edwards expliziert wird), wie produktiv sich Kosellecks Nachdenken über historische Zeit mit dem Phänomen Bildlichkeit und konkret auch mit der Fotografie verbindet.6 Dass diese Verbindung kein Zufall ist, sondern das historische Denken und die Forschung Kosellecks systematisch durchdringt, soll im Folgenden für seine Konzeption eines mehrschichtigen Zeitbegriffs und seine Fotopraxis als dessen Experimentierfeld gezeigt werden.
1. Die Erkennbarkeit der Zeit im (Bild-)Raum Kosellecks Theorie historischer Zeiten, die er 1972 in seinem Aufsatz Über die Theoriebedürf tigkeit der Geschichtswissenschaf t darlegte und im Jahr 2000 in einzelnen Studien des Sammelbandes Zeitschichten zusammenführte, beruht auf der Grundüberlegung, dass Zeit »nur über Bewegung in bestimmten Raumeinheiten anschaulich zu machen« ist. Wer über Zeit spricht, könne den raumbezogenen Metaphern (›Fortschritt‹) »gar nicht entrinnen«, und diesem »Zwang zur Metaphorik« unterliege auch die Geschichtswissenschaft, deren Kategorien stets
2 Edwards, Thoughts, 31, 25 f. 3 Edwards, Thoughts, 26, 30. 4 E dwards, Thoughts, 26; Edwards bezieht sich auf Kosellecks Aufsatz Time and History in Reinhart Koselleck, The Practice of Conceptual History: Timing History, Spacing Concepts, Stanford 2002, 100–114, in dem er die (moderne) Pluralisierung des historischen Zeitbegrif fs vorstellt. 5 Vgl. Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000. 6 S o auch bei Peter Geimer, Photography as a »Space of Experience«: On the Retrospective Legibility of Historic Photographs, in: The Getty Research Journal 7 (2015), 97–108; zur Af finität Kosellecks zur Fotografie vgl. 101.
Zeitschichten im Bildraum
»an die sinnlichen Substrate der natürlichen Anschauung« rückgebunden seien.7 Unter dieser »anthropologische[n] Prämisse«, dass Zeitbewusstsein und -deutung von der sinnlichen und damit perspektivisch unterschiedlichen Wahrnehmung und Erfahrung im Raum abhängt,8 verstand Koselleck Geschichtswissenschaft als »die Erfahrungswissenschaft schlechthin«.9 Sie sollte das methodische »Dilemma« der Wahrnehmungsnähe ihrer Kategorien fruchtbar machen, indem sie auf der Metaebene nach den wahrnehmungs-, raum- und erfahrungsbezogenen »Bedingungen der Möglichkeit von Geschichten« fragt und ihre Annahmen und Begriffe zum Zweck der methodischen Selbstkontrolle dieser Frage ebenfalls unterzieht.10 Kosellecks Interesse zielte auf die Gleichzeitigkeit einer »Vielfalt geschichtlicher Erfahrung« unterschiedlicher zeitlicher Herkunft und Dauer.11 Das Projekt der Begriffsgeschichte, aus dessen ref lexiver Begleitung die Historik in Teilen hervorging, verstand er als eine Annäherung an diese Vielfalt, die in den Schlüsselbegriffen der politisch-sozialen Sprache eingelagert sei, wenngleich Sprache sie nie zur Gänze erfasse. Bedeutungs- als Erfahrungswandel ließ sich so in der Analyse sukzessiver Situations-»Querschnitt[e]« der Begriffe beobachten, in einer Folge von Momentaufnahmen, anhand derer sich historischer Erfahrungswandel in der nicht mehr oder noch nicht vorhandenen Passförmigkeit zwischen Begriffsbedeutungen und Sachverhalten feststellen lässt.12 7 R einhart Koselleck, Einleitung, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2003, 9–16, hier 9. Reinhart Koselleck, Über die Theoriebedürf tigkeit der Geschichtswissenschaf t, in: ders. Zeitschichten. Studien zur Historik, 298–316, hier 305. Die Erkenntnis generierende Kraf t der Metaphern reflektierte Koselleck auf der Ebene geschichtswissenschaf tlicher Theorie- und Kategorienbildung. Als historischer Untersuchungsgegenstand blieb die Metaphorik der politischen Sprache in den Geschichtlichen Grundbegrif fen ein Desiderat, das, so Koselleck, noch zu erforschen bleibe, das Lexikonprojekt aber »überfordert« hätte. Vgl. Reinhart Koselleck, Vorwort, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegrif fe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, V–VIII, hier VIII. Kosellecks anthropologische Begründung des ›Zwangs zur Metaphorik‹ ist sehr nahe an Hans Blumenbergs Argument eines lebensweltlichen »Motivierungsrückhalt[s] aller Theorie«, vgl. Hans Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schrif ten. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 2001, 193–209, 193. Eine Nähe lässt sich auch zwischen Kosellecks Fotopraxis und Blumenbergs Überlegung zur Metapher als intellektuell produktive »Störung« feststellen; vgl. Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schrif ten, 194. 8 Koselleck, Theoriebedürf tigkeit, 305. 9 R einhart Koselleck, Zeitschichten, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, 19–26, hier 20; Hervorhebung im Original. 10 Koselleck, Theoriebedürf tigkeit, 300, 305. 11 V gl. Reinhart Koselleck, Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begrif fe der Neuzeit, in: Archiv für Begrif fsgeschichte XI (1967), 81–99, hier 86 f. 12 Koselleck, Richtlinien, 89.
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Es war, so soll mit diesem Beitrag verdeutlicht werden, das Bild als simultane Wahrnehmungseinheit des Vielschichtigen, das Koselleck als ein Modell, als »think-space« diente, um die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher historischer Zeitbezüge als epistemische Grundfigur seiner Historik zu veranschaulichen, und es war das Fotografieren, das er als eine experimentelle Praxis nutzte, mit der sich die Bedingungen der Erkennbarkeit von Geschichte ausweiten und (selbst-) kritisch ref lektieren ließen. Im Folgenden werden zunächst Kosellecks Denkbewegungen zwischen Bild und Begriff thematisiert (Kapitel 2 und 3), die im Hinblick auf die historische Zeit eine konzeptionelle und eine historische Dimension besitzen – gemäß der Erkenntnis, »daß formale Dauerkriterien selber nur historisch bedingt sind und nur auf geschichtlich umgrenzbare Phänomene anwendbar bleiben.«13 Kosellecks Auseinandersetzung mit Bildern und Begriffen ist als eine kritische Arbeit an (ebenso wie als Teil) der »Entsubstantialisierung« und damit der »Verzeitlichung« der Kategorien von Wahrnehmung und Erkenntnis zu verstehen.14 Die Charakteristika, mit denen Koselleck den modernen Wandel der Begriffe beschrieb: Abstraktion, Interpretationsbedürftigkeit und Ideologisierbarkeit,15 gewann er mit einem an die Eigenschaften des Bildes angelehnten Begriffsmodell, und zugleich wies er sie als Merkmale von Bildern und Begriffen unter den modernen Bedingungen der Verzeitlichung aus. Gerade im engen Denkbezug von Bild und Sprache ref lektierte Koselleck aber auch früh deren Unterschiede. Von Bildern als Formen visueller, sinnlicher Wahrnehmung erwartete er Zugang zu einer außersprachlichen Dimension der Erfahrung und dem nicht Sagbaren, die er im Rahmen seiner anthropologisch fundierten Geschichtsauffassung annahm.16 Zwar verstand er Erfahrungen als sprachlich geformt und vermittelt, doch gingen sie darin nicht auf; die existenziellen Bedingungen »möglicher Geschichten« und ihrer Erfahrbarkeit seien »auch etwas Eigenständiges«.17 Bilder versprachen, das heuristische Instrumentarium zur Annäherung an eine Pluralität historischer Erfahrungen zu erweitern. Vor die13 Koselleck, Theoriebedürf tigkeit, 301. 14 Koselleck, Theoriebedürf tigkeit, 307. 15 Vgl. Koselleck, Richtlinien, 92 f. 16 Z u Kosellecks Annahme anthropologischer Bedingungen möglicher Geschichten vgl. StefanLudwig Hof fmann, Zur Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen bei Reinhart Koselleck und Hannah Arendt, in: Hans Joas/Peter Vogt (Hg.), Begrif fene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, 171–204. 17 R einhart Koselleck, Historik und Hermeneutik, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, 97–118, Zit. 112. Koselleck formulierte die Begrif fsgeschichte als eine Annäherung an Erfahrungen; deren »sprachliche Erfassung« unterschied er analytisch von »Vorgänge[n], die außerhalb der Sprachbewegung liegen«, vgl. Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner/ Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegrif fe, Bd. 1, Stuttgart 1972, XIII–XXVII, hier XXIV.
Zeitschichten im Bildraum
sem Hintergrund widmet sich der letzte Teil (Kapitel 4) Kosellecks eigenhändigen Fotografien. Die Fotografie mit ihren zeitlichen Paradoxien, in der Gegenwart der Aufnahme eine Vergangenheit her- und auf Dauer zu stellen, deren künftige Betrachtung mit dem dann ebenfalls vergangenen Blick der Aufnahmezeit sowohl konvergiert als auch davon abweicht, bot für Kosellecks Historik einen experimentellen Rahmen. Sie ermöglichte es, perspektivische Verengungen und Auslassungen historischer Diskurse, wie sie durch die Logiken von Linearität und Teleologie sowie vermeintlich standortlose Periodisierungen und SignifikanzZuschreibungen entstehen können, im Modus der Zusammenschau, in Form des fotografischen Blicks ebenso wie in Form des (Neu-)Arrangierens von Bilderserien, erkennbar zu machen.
2. Bildpräsenz als Begriffsmodell Kosellecks Opus magnum, die Herausgabe der Geschichtlichen Grundbegrif fe und die begriffsgeschichtliche Forschung, hat paradoxerweise die systematische Affinität seines Denkens zu Bildern und Bildlichkeit verdeckt.18 Gewiss, die Studien zu den Kriegerdenkmälern und dem politischen Totenkult in Europa sind heute bekannt. Jedoch sind sie, abgesehen von wenigen, inhaltlich gewichtigen Beiträgen aus den Jahren 1979 (Kriegerdenkmale als Identitätsstif tungen der Überlebenden) und 1985 (Daumier und der Tod), mehrheitlich seit den 1990er Jahren erschienen und wahrgenommen worden, als sich der Abschluss des Lexikons abzeichnete und sich nun auch die Geschichtswissenschaft für Fragen der Erinnerungskultur und eine historische Bildwissenschaft zu interessieren begann.19 Kosellecks Jahrzehnte vor dem iconic turn beginnende Auseinandersetzung mit Bildtheorie und die Dimension seiner Foto- sowie Sammlungspraxis rund um das Denkmal-
18 S o konstatieren Ernst Müller und Falko Schmieder, die politische Ikonologie stehe »rezeptionsgeschichtlich im Schatten der Begrif fsgeschichte«, vgl. Ernst Müller/Falko Schmieder, Begrif fsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Frankfurt a. M. 2016, 328. 19 V gl. Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstif tungen der Überlebenden, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979, 255–276; Reinhart Koselleck, Daumier und der Tod, in: Gottfried Boehm/Karlheinz Stierle/Gundolf Winter (Hg.), Modernität und Tradition. Festschrif t für Max Imdahl zum 60. Geburtstag, München 1985, 163–178; Reinhart Koselleck/Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994; Reinhart Koselleck, Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes. Ein deutsch-französischer Vergleich, Basel 1998; Reinhart Koselleck, Der Unbekannte Soldat als Nationalsymbol im Blick auf Reiterdenkmale, in: Wolfgang Kemp et al. (Hg.), Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 7, Berlin 2003, 137–166; Reinhart Koselleck, Vier Minuten für die Ewigkeit. Das Totenreich vermessen – fünf Fragen an das Holocaust-Denkmal, in: Ute Heimrod/Günter Schlusche/Horst Seferens (Hg.), Der Denkmalstreit – Das Denkmal?, Berlin 1999, 599–601.
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thema zeigten sich erst mit der Erschließung des wissenschaftlichen Nachlasses ab dem Jahre 2008, vorgenommen durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach und, für den Bildnachlass Kosellecks, das Deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg.20 Über 30.000 Objekte sind in Reinhart Kosellecks Bildnachlass verzeichnet, darunter tausende eigenhändiger Fotografien aus vier Jahrzehnten – Denkmale, Erinnerungsorte, Historiengemälde, Chronometer, Pferde und Personal aus Mythos und Geschichte zeigend – sowie Bildpostkarten, Notizen, Informationsmaterial und Presseartikel, die Koselleck in Karteikästen und Mappen topographisch und nach Sachbegriffen, die ihn beschäf tigten, geordnet hatte: etwa »Politica-Temporalia«, »Zeit«, »Kriegerdenkmal«, »Reiter«, »Antike Mythologie«, »Christliche Ikonologie«, »Dynasten«, »Konzentrationslager«.21 Anhand eines aus dem Nachlass erstmals veröffentlichten Typoskripts mit dem Titel Zur pol.[itischen] Ikonologie, datiert auf das Jahr 1963, hat Hubert Locher verdeutlicht, wie früh Koselleck Bildern eine »geschichtsprägende Dimension, die in schriftlichen Quellen nicht überliefert wird und nicht überlieferbar ist«, zuerkannte und damit Postulate der historischen Bildwissenschaft der 1990er Jahre vorwegnahm.22 Während Locher als zentrales Interesse des Historikers Koselleck die bildspezifischen Möglichkeiten, politische Erfahrungen zu verkörpern und zu prägen, herausgestellt hat, ist Adriana Markantonatos Kosellecks Fotopraxis als einer forschenden »Erfahrung« rund um Denkmäler sowie den kunsthistorischen Lektüren Kosellecks nachgegangen. Sie plädiert für eine »Aufmerksamkeitsverschiebung«, die ein »genuines Bilddenken« Kosellecks sichtbar werden lässt.23 Die 20 E inen maßgeblichen Anteil an der Erschließung hat Adriana Markantonatos, aus deren profunder Kenntnis des Bildnachlasses ihre Dissertation hervorgegangen ist: Adriana Markantonatos, Geschichtsdenken zwischen Bild und Text: Reinhart Kosellecks »Suche nach dem (…) Unsichtbaren«, Marburg 2018 (elektronische Hochschulschrif t). Erste Ergebnisse aus dem Erschließungs- und Forschungsprojekt sowie Anschlüsse an aktuelle Bildforschungen bieten die Beiträge in Hubert Locher/Adriana Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, Berlin/München 2013. 21 Z um Bildnachlass vgl. Adriana Markantonatos, Eine Fotohexerei. Einblicke in Reinhart Kosellecks Bildarchiv, in: Heike Gfrereis/Ellen Strittmatter (Hg.), Zettelkästen. Maschinen der Phantasie, Marbach a. N. 2013, 69–73. 22 H ubert Locher, »Politische Ikonologie« und »politische Sinnlichkeit«. Bild-Diskurs und historische Erfahrung nach Reinhart Koselleck, in: ders./Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, 14–31, hier 25. 23 V gl. Adriana Markantonatos, Er-fahrungen. Eine Sichtung von Reinhart Kosellecks Bildnachlass aus kulturwissenschaf tlicher Perspektive, in: Locher/Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, 32–53, hier 39; dies., Absatteln der ›Sattelzeit‹? Über Reinhart Koselleck, Werner Hofmann und eine kleine kunstgeschichtliche Geschichte der Geschichtlichen Grundbegrif fe, in: Forum interdisziplinäre Begrif fsgeschichte 7 (1/2018), 79–84; Markantonatos, Geschichtsdenken, 3.
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folgenden Überlegungen untermauern diesen Blickwechsel, indem sie den Modellcharakter des Bildes für Kosellecks Konzeption der Begriffsgeschichte und einer Theorie geschichtlicher Zeiten zu verdeutlichen suchen. In Bildnachlass findet sich eine Postkarte, datiert auf den 19. August 1959, die einen Literaturhinweis des Heidelberger Freundes Gert Kalow übermittelt: Koselleck könne ihn vielleicht für seine »politische Ikonologie gebrauchen«. Es handelt sich um den Verweis auf das Buch La Propagande, nouvelle force politique von Jacques Driencourt, publiziert in Paris 1950, das den Einf luss der Propaganda auf die öffentliche Meinung in modernen Gesellschaften und in totalitären politischen Systemen thematisiert.24 Die Karte zeugt davon, dass sich Koselleck spätestens seit dem Jahr, in dem sein aus der Dissertation hervorgegangenes Buch Kritik und Krise (1959) erschien, mit der Wirkmacht der Bilder in der modernen politischen Öffentlichkeit auseinandersetzte und in Verwendung des von Erwin Panofsky geprägten Begriffs der Ikonologie auf die bildspezifischen Möglichkeiten, politische Inhalte zu vermitteln, abzielte. Was er unter bildspezifisch verstand, legte Koselleck in besagtem Typoskript Zur pol[itischen] Ikonologie dar.25 In der Bezugsetzung von Bild und Sprache gewann er eine bildtheoretische Position, die das Bild an den Anfang des Denkens und der Sprache setzt. Beide besäßen eine bildhafte Dimension, auch wenn die Sprache von der Erfahrung zu abstrahieren vermöge: »[E]ine bildhafte Schicht bleibt unserer Sprache immer immanent.«26 Daneben findet sich die handschriftliche Notiz »Raum anschaulich für Zeit«, ein Verweis auf das notwendig bildhafte Sprechen über Zeit, das Koselleck seinem Essay über die Theoriebedürf tigkeit der Geschichtswissenschaf t (1972) wie später auch den Studien der Zeitschichten (2000) zugrunde legte. Im Unterschied zur Sprache jedoch sei dem Bild eine »Verdoppelung« eigen, »vergangen und wieder präsent zu sein«.27 Im Bild fallen verschiedene Zeitebenen in eins. Dieser Präsenzeffekt der Bilder erhält für Koselleck im historischen Prozess der Moderne eine besondere Wendung: Während die vormodernen (allegorischen) Spottbilder noch auf ein Übersetzen in Sprache angelegt gewesen seien, nutze die »moderne politische Ikonenwelt« die schnelle und dauerhafte Einprägsamkeit des Bildes, um die »sprachlose Phantasie« durch das Auge zu steuern und, wie gleich zweimal formuliert wird, »wortlos zu betrügen«. In Anlehnung an die 24 E ine Rezension von G. E. Lavau findet sich in der Revue française de science politique 1 (3/1951), 393–397. 25 V gl. Reinhart Koselleck, Zur pol. Ikonologie, abgebildet in Hubert Locher, Denken in Bildern. Reinhart Kosellecks Programm Zur politischen Ikonologie, in: ders./Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, 294–303, hier 295 (Abb. 1). 26 Koselleck, Zur pol. Ikonologie. 27 Koselleck, Zur pol. Ikonologie.
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Thesen Arnold Gehlens über den Anschaulichkeitsverlust der modernen (abstrakten) Kunst und deren Kommentarbedürftigkeit, formuliert in dessen 1960 publizierten Buch Zeit-Bilder, nahm Koselleck für die Moderne eine »Emanzipation des Bildes vom Wort« an, die die Chancen des politisch manipulativen Umgangs mit der Bildpräsenz steigere, da die »Kontrolle der Aussprechbarkeit« fehle.28 In der Möglichkeit, mit der »Verdoppelung des Bildes« die Verschiebungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart auszublenden, steckt die Chance des ›Betrugs‹: den Präsenzeffekt der Bilder für eine im Wahrnehmungsvorgang naturalisierte und verleiblichte Beglaubigung ideologischer Botschaften zu nutzen. Die Bilder des »Führers«, des »Helden« oder »Kämpfers« blieben dem »Jungen«, so ref lektierte Koselleck die eigene Seherfahrung während des Nationalsozialismus, bis in ein Alter haften, in dem man es »längst besser wissen könnte […].«29 Das Typoskript ist auf dasselbe Jahr datiert, in dem Koselleck nicht nur der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik beitrat, die später (1966) mit Siegfried Kracauer über Ästhetik und Geschichtsschreibung diskutieren sollte,30 sondern in dem er auch die Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begrif fe der Neuzeit verfasste, eine theoretisch-konzeptionelle Grundlegung für das Projekt der Geschichtlichen Grundbegrif fe, die 1967 im Archiv für Begrif fsgeschichte publiziert wurde. Die Nähe der Richtlinien zum Typoskript über die politische Ikonologie zeigt sich sowohl in systematischer Hinsicht als auch in der Hypothese eines in der Moderne zunehmenden Abstraktionsgrades politisch-sozialer Begriffe. Koselleck konzipierte den Begriff als eine Größe, die im semantischen System der Sprache eine dem Bild ähnliche Präsenzfunktion einnimmt. Der rekurren28 K oselleck, Zur pol. Ikonologie. Dass sich Koselleck eingehend mit Gehlens Buch befasste, zeigt das handschrif tliche Register, das Koselleck in seinem Exemplar der Zeit-Bilder angelegt hatte und in dem er die für sein Projekt einer politischen Ikonologie relevanten Stichworte notierte, darunter »Polit. Ikonologie«, »Staatssymbole« sowie »Wochenschau + Vorläufer«. Ich danke Felicitas Koselleck für eine Kopie und Transkription des Registers. 29 Koselleck, Zur pol. Ikonologie. 30 V gl. Kosellecks Teilnahme am ersten Kolloquium der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik in Gießen 1963: Hans Robert Jauß (Hg.), Nachahmung und Illusion (Poetik und Hermeneutik, 1), München 1964. Zur Begegnung Kosellecks und Siegfried Kracauers 1966 beim Tref fen zum Thema »Die nicht mehr schönen Künste« vgl. Till van Rahden, Lumpen sammeln. Mit Siegfried Kracauer im Dickicht des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrif t 307 (2/2018), 319–340, hier 329. Zur Diskussion über das Thema »Das Ästhetische als Grenzerscheinung der Historie«, an der Kracauer und Koselleck beteiligt waren und zu der sie Vorlagen eingereicht hatten, vgl. Hans Robert Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen (Poetik und Hermeneutik, 3), München 1968, 559–581. Kracauers Überlegung, die Fotografie biete eine Chance, historische Erkenntnis dort, wo der Historiker mit dem Verstehen ringe, »mit einem Mal sichtbar zu machen«, trif f t sich mit Kosellecks Fotopraxis. Vgl. Siegfried Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen (Werke, 4), hg. von Ingrid Belke, Frankfurt a. M. 2009, 71.
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te Wortkörper eines zumal langfristig gebräuchlichen politisch-sozialen Begriffs lässt sich mit Koselleck als eine Beobachtungseinheit verstehen, anhand derer sich, so das Vorhaben des Lexikonprojektes, der Bedeutungs- als Erfahrungswandel von der alten zur »modernen Welt« erfassen lässt.31 Während der Wortkörper des Begriffs durch seine Wiederholbarkeit Kontinuität vermittelt, reichere sich seine »Bedeutungsfülle« im relationalen Gefüge von Wörtern sowie Begriffsgruppen historisch an, und verschiebe sich das Gefüge zu »neuartigen Zuordnungen« und Bedeutungen.32 Der Begriff verkörpert die Gleichzeitigkeit des zeitlich Heterogenen. In Absetzung vom »exakt« definierbaren Wort beschrieb Koselleck ihn als mehrdeutigen, interpretationsbedürftigen semantischen »Komplex«, der eine Vielfalt von Bedeutungen und »geschichtlicher Erfahrung« bündele. Die Bezeichnungen des Begriffs als »Konzentrat«, als »Beziehungssystem«, als Bündelung einer »Bedeutungsfülle« und die Rede von »Überlappungen«, »Bedeutungsüberhängen« oder »Verschiebungen« rufen die formalen Eigenschaften des Bildes als eines simultan wahrnehmbaren und syntaktisch dichten Gefüges auf.33 Wie sich ein Begrif f mit der Zeit durch das Terrain des »politischen oder sozialen Lebens« zwischen »Randzonen« und Zentrum bewegte, war eine leitende Frageperspektive des Lexikons, die den Historiker in eine räumliche Beobachtungsposition versetzte.34 Der Begriff tritt in Kosellecks Konzeption als ein Anschauungsrahmen auf, der zu einer bestimmten Situation, im »synchronischen Querschnitt«, eine semantische Konfiguration sichtbar macht.35 In der diachronen Staf felung solcher Querschnitte innerhalb des begriff lichen Anschauungsrahmens erschließt sich teleskopartig eine »zeitliche Tiefengliederung«, die über die Einzelsituation hinaus- und zurückreicht und »Schichten« von Bedeutungen unterschiedlicher Zeiten gleichzeitig erkennbar werden lässt.36 Der Begriff ermöglichte es, »geschichtliche Bewegung«, so Kosellecks deutlich von Linearität und Teleologie abrückende
31 Vgl. Koselleck, Richtlinien, 81. 32 Koselleck, Richtlinien, 86, 90. 33 K oselleck, Richtlinien, 86, 90. Über verschiedene bildsemiotische Ansätze von Nelson Goodman bis Umberto Eco, die jedoch darin übereinstimmen, Bilder als syntaktisch dichte, nichtdisjunkte Zeichen zu beschreiben, die keinem begrenzten Zeichenrepertoire zugehörig und nicht nach eindeutig festgelegten Regeln zu kombinieren sind (wie die Sprache), informiert Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart/Weimar 2000, 471–486. 34 Koselleck, Richtlinien, 89. 35 Koselleck, Richtlinien, 89. 36 K oselleck, Richtlinien, 89 und Reinhart Koselleck, Begrif fsgeschichte und Sozialgeschichte [1972], in: ders., Vergangene Zukunf t. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1995, 107–129; zur Verwendung des Begrif fs der semantischen »Schichten« vgl. 125.
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Formulierung, »als ganzen Vorgang zu erfassen.«37 Zwischen situativen Ereignissen und historisch mehrschichtigen Begriffen werden Differenzen erkennbar, wenn ältere Bedeutungen eine Situation nicht mehr begreif bar machen oder eine Situation noch nicht zu ihrem Begriff gefunden hat: So »bezeugt jeder Begriff immer zugleich mehr oder weniger als den konkreten Fall oder die konkrete Lage, auf die er sich – immer auch – bezieht.«38 Aus dieser Spannung zwischen einer ›realgeschichtlichen‹ Situation und den drei stets vorhandenen Zeitdimensionen des Begriffs als dessen semantischem Potenzial, seiner Wiederholbarkeit, seiner verfehlten Wiederholung und seinen »erfahrungsstiftende[n] Potenzen«, ergibt sich ein dynamisches Modell historischen Wandels, das lineare Chronologie und einfache Kausalbeziehungen hinter sich lässt.39
3. Bildpräsenz und Verzeitlichung: Zwischen Funktionalisierung und kritischem Potenzial Beschrieb Koselleck den zeitlich mehrschichtigen Begriff im Modell des Bildes, so formulierte er auch eine historische Hypothese zum modernen Begriffswandel, die zur Annahme einer verstärkten Manipulierbarkeit der Bilder in der Moderne parallel läuft. Den Übergang in die moderne Welt verstand Koselleck als einen Erfahrungswandel, den er durch ein Auseinanderdriften von »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« gekennzeichnet sah.40 In den Richtlinien ging er von der Vermutung einer Entfremdungserfahrung aus, die er mit einem zweifachen Verlust der Allgemeinverbindlichkeit und der erfahrungsgesättigten Anschaulichkeit der Begriffe verband: »Die moderne Lebensorganisation ist eben nicht mehr in toto anschaulich zu begreifen«.41 Die zunehmende Pluralisierung, Politisierung und Ideologisierung der politisch-sozialen Sprache habe während der Französischen Revolution zu ihrer »zuvor vielleicht nicht mögliche[n] Manipulier-
37 K oselleck, Richtlinien, 90. Zu Kosellecks Modell vielschichtiger historischer Zeit vgl. Helge Jordheim, Against Periodization: Koselleck’s Theory of Multiple Temporalities, in: History and Theory 51 (2/2012), 151–171 mit einer Formulierung, die den Begrif f als Beobachtungseinheit genau triff t: »In the key concepts the diachronic succession of meanings is arranged synchronically«, 170. 38 R einhart Koselleck, Vorwort [Geschichtliche Grundbegrif fe, Bd. 7], VII. Ähnlich schon Koselleck, Begrif fsgeschichte und Sozialgeschichte, 125 f. 39 K oselleck, Einleitung [Geschichtliche Grundbegrif fe, Bd. 1], XXI und ders., Vorwort [Geschichtliche Grundbegrif fe, Bd. 7], VII. 40 V gl. Reinhart Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien [1976], in: ders., Vergangene Zukunf t, 349–375. 41 Koselleck, Richtlinien, 93.
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barkeit« geführt.42 Den »Wechsel der Ereignisse oder Wandel der Sozialstrukturen« konnten Begriffe nurmehr »auf dem Wege zunehmender Abstraktion« einholen. Begriffe würden damit auch zu Vorgriffen, zu »modellbezogenen Figuren«, die »Horizonte möglicher Erfahrbarkeit« setzen, und damit verstärkt zu Faktoren historischen Wandels.43 Indem Koselleck den Begriffen für die Moderne, angestoßen durch die Französische Revolution, den Status einer abstrakten Figur und die Eigenschaft der Modellhaftigkeit zuschrieb, beschrieb er zugleich den figurativbildhaften Charakter seines eigenen heuristischen Begriffsmodells und situierte es historisch. Bilder und Begriffe vollzogen in Kosellecks Überlegungen die gleiche historische Bewegung von der konkreten Anschaulichkeit hin zur Abstraktion. Beide öffneten mit der Abstraktion einen Horizont für das Neue, gewannen erfahrungsstiftendes Potenzial und ließen sich zunehmend divergent füllen. Die politische Manipulierbarkeit von Bildern wie von Begriffen betrachtete Koselleck als Effekt und Faktor der sich pluralisierenden Zugriffe auf beide Systeme, die im selben Zuge eine stärkere Eigendynamik entwickelten, Wandel auch auf der Ereignisebene beschleunigt voranzutreiben. Die mit der Geschichtsphilosophie der Auf klärung möglich werdende Ideologisierung des politischen Raumes hatte Koselleck bereits in Kritik und Krise beschäftigt, und die Auseinandersetzung mit deren politischen wie geschichtstheoretischen Konsequenzen lässt sich kontinuierlich in seinem Werk auffinden, ausgelotet an den Beispielen des politischen Bild- und Sprachgebrauchs.44 Eine dem modernen Begriffswandel analoge historische Ausprägung des politischen Bildgebrauchs formulierte Koselleck in einem Typoskript zum Thema Bild und Begrif f.45 Das Typoskript ist undatiert, lässt sich jedoch inhaltlich zwei Zusammenhängen zuordnen: zum einen den Überlegungen zur Verzeitlichung der Geschichte in seinen Arbeiten Historia Magistra Vitae (1967) und Vergangene Zukunf t der frühen Neuzeit (1968), zum anderen einem »interdisziplinären Seminar zur politischen Ikonographie« im Kunsthistorischen Institut der Universität Heidelberg, das er im Sommersemester 1972 zusammen mit dem Kunsthistoriker Peter Anselm Riedl veranstaltete und in dessen Kontext Koselleck das Typoskript
42 Koselleck, Richtlinien, 92, Hervorhebung im Original. 43 Koselleck, Richtlinien, 92 f., Hervorhebung im Original. 44 V gl. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt [1959], Frankfurt a. M. 1992, 1–9, 138 f. zur Öf fentlichkeit der Aufklärer als »Ideologie«. 45 V gl. Reinhart Koselleck, Bild und Begrif f [undatiertes Typoskript], Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Nachlass Koselleck, Kasten 40, Mappe 246.
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verfasst haben könnte.46 In diesem Seminar sollte es, der Ankündigung zufolge, am Beispiel der Themen »Töten und Sterben« darum gehen, »den Wandel sozialer und politischer Erfahrung am Wandel der Bildwelt vom Spätmittelalter bis zum zwanzigsten Jahrhundert durch diachrone Vergleiche sichtbar zu machen.« Während das Seminar den Versuch unternahm, »die Veränderungen der Erfahrung mittels bildimmanenter Kriterien aufzuhellen«, war Koselleck in seiner Skizze zu Bild und Begrif f jedoch zunächst an einer historischen Einordnung der bildimmanenten Möglichkeiten von Sinnerzeugung gelegen. Hier formulierte er idealtypisch zwei unterschiedliche Referenzlogiken zwischen Bild und außerbildlicher Realität, mit denen er eine vormoderne, durch die Analogie bestimmte Bildlogik von einer modernen, durch Differenz gekennzeichneten Logik unterschied. So seien die allegorischen Darstellungen der frühneuzeitlichen Flugblätter mit ihren begrenzt kombinierbaren und immer wieder applizierbaren Bedeutungen Teil einer Welt, in der Einzelgeschichten als exemplarisch und daher als wiederholbar galten. Sie entsprachen der »exemplarischen Historie«, die, wie Koselleck in seiner Studie Historia Magistra Vitae darlegte, im 18. Jahrhundert vom Kollektivsingular »der Geschichte« und von einem »denaturalisiert[en]« und verzeitlichten Geschichtsverständnis abgelöst wurde. ›Denaturalisierung‹ und ›Verzeitlichung‹ sind dabei als idealtypische Vorgänge eines historischen Wandels der Zeitdeutung aufzufassen, der durch die Geschichtsphilosophie der Auf klärung hervorgebracht wurde und im Sinne einer self-fulfillig prophecy eine realitätsprägende politische Eigendynamik entfaltete. Keineswegs jedoch nahm Koselleck an, dass sich die Vielfalt der Erfahrbarkeiten mit diesem Anspruch modernen Geschichtsdenkens deckte; wie an den Beispielen der Denkmalstudien und der fotografischen Praxis zu zeigen ist, fasste er, basierend auf seiner anthropologischen Prämisse, die sinnlichen und natürlichen Wahrnehmungsbedingungen als einen Faktor mit eigenen Zeitlichkeiten auf, die sich in die jeweiligen Zeitregime nicht einfach homogen einfügten, sondern für Reibung, ›Verwerfungen‹ und Wandel freisetzende Dynamik sorgen konnten. Im idealtypischen Modell modernen Geschichtsdenkens stand dem Verlust »wiederholbare[r] Exemplarität« eine offene und darum als planbar aufgefasste Zukunft gegenüber, und in der »Produzierbarkeit« der Geschichte, die aus dem – nun als einmalig und abgeschlossen betrachteten – Erfahrungsraum der Vergangenheit unumkehrbar in eine gestaltbare und umkämpfte Zukunft freigesetzt wurde, sah Koselleck das Signum modernen Erfahrungswandels.47 Ähnlich 46 V gl. Prof. [Peter Anselm] Riedl und Prof. [Reinhart] Koselleck, Interdisziplinäres Seminar zur politischen Ikonographie [Typoskript], Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Nachlass Koselleck, Kasten 74, Mappe 74. 47 R einhart Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte [1967], in: ders., Vergangene Zukunf t, 38–66, hier 51, 57, 62.
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argumentierte er in seiner Analyse des Gemäldes Alexanderschlacht von Albrecht Altdorfer, die seine Studie Vergangene Zukunf t der frühen Neuzeit einrahmte. Kosellecks Bildinterpretation zielte auf den Gedanken ab, dass der Anachronismus in dem 1528/29 entstandenen Historiengemälde, das die antike Schlacht bei Issos (333 v. Chr.) mit Kämpfenden in Rüstungen und Kleidung des 16. Jahrhunderts darstellte, erst einem Betrachter im Horizont eines modernen Geschichtsbewusstseins – in der Betrachtung Friedrich Schlegels – ersichtlich wurde. Altdorfers Gegenwart um 1600 und die Historie der Alexanderschlacht hingegen seien »von einem gemeinsamen geschichtlichen Horizont umschlossen« gewesen.48 Unter den Bedingungen einer als einmalig und irreversibel aufgefassten historischen Zeit hingegen stehe, so führte Koselleck den Gedankengang im Typoskript zu Bild und Begrif f weiter, die Relation zwischen Bild und Geschehen unter dem Authentifizierungsgebot der »Eindeutigkeit und Einmaligkeit«. Nicht die allegorische Wiederholbarkeit, sondern die »Unverwechselbarkeit des Dargestellten« bürge in der Moderne für die Glaubwürdigkeit der Bilder. Als Bildformen und Medien, denen mit der Einmaligkeit zugleich die moderne Idee von Geschichtlichkeit eingeschrieben ist, nennt Koselleck die realistische Malerei, die Karikatur und die Fotografie. Der Moment des modernen historischen Bewusstseins ist auch der Moment der Paradoxie des ereignisnahen Bildes: Es macht die Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart dauerhaft sichtbar. Hier setzte für Koselleck die neuartige, durch Abstraktion gekennzeichnete Bildpolitik der Moderne ein. In dem Maße, wie für die Beglaubigung der Bilder die allegorische Wiederholbarkeit nicht mehr griff und stattdessen die Nähe zum einmaligen Geschehen, das symbolische Auf den Punkt-Bringen der Situation das Bild autorisierte, nahmen Bilder, im politischen Raum zumal, für Koselleck eine dem »Schlagwort« analoge Form und Funktion an. Als abstrakte Symbole (genannt werden »Hammer und Sichel, Sterne, Hakenkreuz, festgelegte Gesten im Ritual von Parteien«) ordneten sie die »politische Bildwelt« nun funktional zu Interessengruppen. Eine Etappe in diesem historischen Wandlungsprozess stellten für Koselleck die Karikaturen Honoré Daumiers auf das politisch motivierte Töten dar, über 48 R einhart Koselleck, Vergangene Zukunf t der frühen Neuzeit [1968], in: ders., Vergangene Zukunf t, 17–37, hier 18. Kosellecks Argumentation ist nahe an einem Gedankengang Erwin Panofskys in dessen Aufsatz Iconography and Iconology, den Koselleck gekannt haben dürf te; die spätere Ausgabe des Buches Meaning in the Visual Arts, in dem der Aufsatz zuerst 1955 veröf fentlicht wurde, befindet sich im Nachlass Kosellecks. Bei Panofsky hieß es, die Antike sei für den mittelalterlichen Menschen zu gegenwärtig gewesen, um aus einer (eben modernen) historischen Distanz betrachtet zu werden: »But no mediaeval man could see the civilization of antiquity as a phenomenon complete in itself, yet belonging to the past and historically detached from the contemporary world – as a cultural cosmos to be investigated […].« Erwin Panofsky, Iconography and Iconology: An Introduction to the Study of Renaissance Art, in: ders., Meaning in the Visual Arts: Papers in and on Art History, New York 1955, 26–54, hier 51.
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die er 1985 einen Aufsatz zur Festschrift für Max Imdahl beitrug.49 In der Gleichzeitigkeit allegorischer, auf wiederholbare Sinnaussagen bezogener Bildzeichen und ereignisnaher, empirischer Bildelemente verortete Koselleck die Kritik der Karikaturen Daumiers: Die tradierten Symbole, die den Tod in eine vorgegebene transzendente Ordnung einbetteten, und die Aktualität eines einmaligen Tötungshandelns stießen aufeinander und entlarvten sich gegenseitig, in der Überkommenheit der Symbole ebenso wie in der nicht mehr legitimierbaren Brutalität des Tötens. Die kritische Operation der Karikatur analysierte Koselleck als ein widersprüchliches Zusammenspiel verschiedener historischer Zeitordnungen, das im Bildrahmen, anders als in der Sprache, »ineinandergeblendet« und somit gleichzeitig wahrnehmbar wurde.50 Der Präsenzeffekt der Bilder erweist sich als ambivalent: er kann eine Störung von Kontinuität und Identität ebenso bewirken, wie er zu deren politisch motivierter Konstruktion genutzt werden kann. Seit Beginn der 1970er Jahre griffen Kosellecks Studien zu Bild, Begriff und historischen Zeiten verstärkt ineinander. 1972 erschien der erste Band der Geschichtlichen Grundbegrif fe mit einer konzeptionellen Einleitung Kosellecks, in der er wie in den Richtlinien die Modellhaftigkeit der Begriffe betonte, »deren Evidenz parteigebunden« bleibe – eine Parallele zu Kosellecks These des »Schlagwort«Charakters der modernen politischen Bildwelt.51 Weiter erschienen der Aufsatz zur Theoriebedürf tigkeit der Geschichtswissenschaf t, der die an sinnliche Anschauung gebundenen, räumlich-bildlichen Voraussetzungen historischer Kategorien herausstellte, sowie der Aufsatz Begrif fsgeschichte und Sozialgeschichte, der eine »Identität von sprachlich artikuliertem Zeitgeist und Ereigniszusammenhang« mit der spannungsvollen, im Modell bildlicher Simultaneität gewonnenen Figur einer »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« durchtrennte.52 Parallel dazu widmete sich Koselleck dem Thema des politischen Totenkultes nicht nur in der Lehre, sondern auch in einem Projekt über Kriegerdenkmäler im deutsch-französischen Vergleich. Vorbereitet wurde es durch eine Arbeitsgemeinschaft am Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung und eine 1976 dort ausgerichtete Tagung über Todesbilder und Totenmale. Politische Ikonologie zwischen Kunst und Politik, aus der die 1979 publizierte Studie Kriegerdenkmale als Identitätsstif tungen der Überlebenden hervorging.53 Abbildungen von deutschen und französischen Gefallenendenkmälern für die Kriege zwischen 1813 und 1945 sowie von Mahnmalen für NS-Konzentrationslager zeugten nun in publizierter Form von Kosellecks Bild49 Koselleck, Daumier und der Tod. 50 Koselleck, Daumier und der Tod, 166, 175. 51 Koselleck, Einleitung [Geschichtliche Grundbegrif fe, Bd. 1], XVIII. 52 Koselleck, Begrif fsgeschichte und Sozialgeschichte, 121, 125. 53 M aria Kastner/Gerhard Sprenger (Hg.), ZiF: 1968–1993. Daten aus 25 Jahren Forschung, Bielefeld 1993, 397; Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstif tungen, 255.
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archiv und davon, dass die eigene Fotopraxis stets auch der wissenschaftlichen Dokumentation und dem Zeigen diente; eine reiche Bildernte präsentierte Koselleck dann 1998 in seiner Veröffentlichung Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes, die überwiegend eigenhändige Fotografien von Denkmälern abbildet. Im Gegenstand der Kriegerdenkmäler wurde das Zusammenspiel der Themen Bild, Begriff und historische Zeiten in einem anschaulichen Bezugsrahmen analysierbar. Als Vorgriffe auf das künftig zu Erinnernde, die in einer sich wandelnden Umwelt ihrerseits rasch zu Zeugnissen der Vergangenheit werden, stellten Denkmäler zum einen eine ideale Beobachtungseinheit für die Mehrschichtigkeit historischer Zeiten dar. Zum anderen ließen sich Denkmäler als visuelle Formen der Erfahrungsdeutung oder konkreter: als kulturell geformte, sinnlich wahrnehmbare Verkörperungen von Erfahrung verstehen und boten damit Zugang zu einem nichtsprachlichen Bereich von Erfahrung, in dem Koselleck stets die Grenzen der begriffsgeschichtlichen Methode sah. Begriffe näherten sich Geschehen und Erfahrungen an, die »außerhalb der Sprachbewegung liegen«; diese gingen nicht in dem auf, was jeweils sagbar war.54 Das galt insbesondere für die Erfahrung des gewaltsamen Todes im Krieg, auf die die Kriegerdenkmäler der Moderne eine für das seit der Französischen Revolution neue politische Kollektiv der ›Nation‹ sinnstiftende Antwort zu geben beanspruchten. »Es gibt geschichtliche Vorgänge, die sich jeder sprachlichen Kompensation oder Ausdeutung entziehen« – diese Antwort setzte Koselleck aus der eigenen Erfahrung des Zweiten Weltkrieges den politischen Sinnstiftungen des gewaltsamen Todes entgegen, und dies galt auch den mit Denkmälern intendierten Identifikationen.55 Den Sinnstiftungsanspruch der modernen politischen Denkmäler dekonstruierte Koselleck, indem er sie als »Identitätsstiftungen der Überlebenden« beschrieb, als politisch-legitimatorische Identifikation des Kriegstodes der Bürger-Soldaten mit der Zukunft der »politischen Handlungseinheit« (der Nation oder des Staates), für die der Tod reklamiert wurde.56 Dieser politischen Identifikation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft widersprach Koselleck mit den »Verwerfungen«, die aus »verschiedenen Zeitrhythmen« der an der Sinnstiftung des Denkmals beteiligten Ebenen resultierten. Die visuellen Formen, die sprachlich unterstützte politische Botschaft und die »politische Sinnlichkeit« der Betrachter, ihre Wahrnehmungsmuster, wandel54 Koselleck, Einleitung [Geschichtliche Grundbegrif fe, Bd. 1], XXIV. 55 Koselleck, Historik und Hermeneutik, 117. 56 V gl. Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstif tungen, 257: »So liegt in der Dif ferenz zwischen dem vergangenen Tod, der erinnert wird, und dem optischen Deutungsangebot, das ein Kriegerdenkmal leistet, ein doppelter Identifikationsvorgang beschlossen. Die Toten sollen für dieselbe Sache eingestanden sein, wofür die überlebenden Denkmalsstif ter einstehen wollen.«
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ten sich nicht synchron.57 Das Denkmal allein, ohne eine bewusste Institutionalisierung des politischen Gedenkens, könne die ihm eingeschriebene Botschaft für spätere Betrachter, die nicht mehr zur Generation der Stifter gehörten, nicht fixieren. Ikonographische Form, Wahrnehmungsweise und politisch-ikonologische Deutung drifteten auseinander: »Daher zerrinnen die Identitäten, die ein Denkmal evozieren soll: teils weil sich die sinnliche Empfangsbereitschaft der angebotenen Formensprache entzieht, – teils weil die einmal gestalteten Formen eine andere Sprache zu sprechen beginnen als ihnen anfangs eingestiftet war. Denkmäler haben, wie alle Kunstwerke, ein Überschußpotential, das sich dem Stiftungszweck entzieht.« 58 Im Widerspruch zur Funktion der Denkmäler, im Vorgriff auf das künftig zu Erinnernde eine überzeitliche Identität des politischen Kollektivs zu sichern, verf lüchtige sich mit der Zeit die »intendierte Identität«: »Denkmäler, auf Dauer eingestellt, bezeugen mehr als alles andere Vergänglichkeit«.59 Das Denkmal bot Koselleck einen anschaulichen Gegenstand zur Entwicklung seiner Theorie unterschiedlicher, spannungsvoll koexistierender historischer Zeitrhythmen, die er in den Studien zu dem im Jahre 2000 publizierten Band Zeitschichten als Verschränkung von »Einmaligkeit« und »Wiederholungsstrukturen« verschiedener Geschwindigkeiten systematischer darlegte.60 Es gab Koselleck aber auch die Möglichkeit, über die »Verdoppelung des Bildes: vergangen und wieder präsent zu sein«, die ihn im Typoskript zur politischen Ikonologie beschäftigt hatte, erneut nachzudenken. Denn mit dem Verblassen der politischen Botschaft trat in Kosellecks Beobachtung die ästhetische Präsenz des Denkmals in den Vordergrund der Wahrnehmung. Die ästhetischen, »auf die sinnliche Empfangsbereitschaft der Betrachter bezogenen Aussagemöglichkeiten überdauern die politischen Identifikationsangebote, die sie stiften sollten.«61 Die visuelle Form der Denkmäler, häufig dem antiken und christlichen Formenarsenal entnommen und damit weit frühere Bedeutungen einschließend als die politischen Botschaften
57 K oselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstif tungen, 274. Zu den verschiedenen Zeitrhythmen von Ereignis, Strukturen und ästhetischen Präsentationen des Todes bei Koselleck vgl. auch Faustino Oncina Coves, Historical Semantics and the Iconography of Death in Reinhart Koselleck, in: Forum Interdisziplinäre Begrif fsgeschichte 7 (1/2018), 85–94, 94. 58 Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstif tungen, 274. 59 Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstif tungen, 257. 60 E twa in den Aufsätzen Zeitschichten, Wie neu ist die Neuzeit? und Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten. Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, alle in: Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, 19–26, 225–239 und 265–284. 61 Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstif tungen, 275.
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der Nationaldenkmäler, ließ sich »nicht restlos ideologisier[en]«, sondern verwies schließlich zurück auf alte Symbole des Totengedenkens.62 Mit Blick auf die das Massentöten des Zweiten Weltkrieges und den Holocaust thematisierenden Mahnmale, für die die deutsche Vernichtungspolitik eine Form der politisch-identifikatorischen Sinnstiftung, schon gar der eines heroischen Opfers, unmöglich gemacht hatte, und die stattdessen mit bildlichen Mitteln Fragen nach dem gewaltsam verursachten Verschwinden aufwarfen, verband Koselleck die Hoffnung, dass es gerade die bildende Kunst sei, die »versinnlichen [kann], was nicht mehr sagbar ist.«63 Im Unterschied zu seinen frühen Überlegungen fasste Koselleck die politischen Möglichkeiten und Effekte der Bildpräsenz nun differenzierter auf. Sie galt ihm nicht mehr nur als ein Einfallstor für Manipulation, sondern auch als ein Türöffner für die Störung politischer Identifikationen und als Widerstand.64 Als »Akte einer Widerstandshaltung« und »rettende Kraft« interpretierte er bereits in seiner Studie Terror und Traum jene Traumbilder von Überlebenden der NS-Konzentrationslager, die »handlungsleer von Licht und Farben durchströmt waren« und den Bezug zu einer wirklichkeitsnahen Zeitordnung hinter sich gelassen hatten.65 Damit formulierte Koselleck keineswegs einen essentialistischen Bildbegriff. Das kritische Potenzial und die Widerständigkeit der Bilder koppelte er vielmehr mit der Störung der linearen Zeitordnung und der damit verbundenen Identifikationen, denen er die Denkfiguren des Bruches, der Paradoxie, der Differenz, des Kontrastes entgegensetzte. Die Begründung einer Eigenwirksamkeit der Bilder durch die simultane Wahrnehmbarkeit des zeitlich Differenten verband Koselleck mit dem Bochumer Kunsthistoriker Max Imdahl, mit dem er in freundschaftlichem und intellektuellem Austausch stand. In seiner Ikonik ging es Imdahl um ein Sehen der Formrelationen und -gegensätze im Bild, das über ein wiedererkennendes, repräsentationales Sehen hinausging und eine »Erkenntnis« ermöglichte, die »ausschließlich dem Medium des Bildes zugehört«.66 In seinen Studien zu Giottos Arenafresken machte Imdahl dies insbesondere an der Eigenschaft der Bilder fest, Zeit im Raum darzustellen und damit die lineare Zeitordnung in eine 62 K oselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstif tungen, 275 sowie ders., Einleitung, in: ders./Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult, 9–20, hier 13. 63 K oselleck, Einleitung [Der politische Totenkult], 20. Vgl. auch Koselleck, Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten, 265–207. 64 D azu auch Bettina Brandt, Politische Sinnstif tung in Geschlechterbildern, in: Locher/Mark antonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, 240–259, hier 242–246. 65 R einhart Koselleck, Terror und Traum. Methodologische Anmerkungen zu Zeiterfahrungen im Dritten Reich, in: ders, Vergangene Zukunf t, 278–299, hier 291 f. Der Text basiert auf einem Vortrag aus dem Jahre 1971. 66 M ax Imdahl, Giotto. Zur Frage der ikonischen Sinnstruktur, in: ders., Reflexion – Theorie – Methode (Gesammelte Schrif ten, 3), hg. von Gottfried Boehm, Frankfurt a. M. 1996, 424–463, hier 453.
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»simultan überschaubare Ganzheitsstruktur« zu transformieren: In der Anschauungswirklichkeit der Bilder werde eine komplexe Zeitstruktur geschaffen, die nur im Bild erkennbar werde und die vermittels der sukzessiv verfahrenden Sprache nicht erfahrbar sei.67 In einem in Kosellecks Bildnachlass überlieferten Manuskript mit dem Titel Ikonik und Historik, verfasst 1996 für einen Vortrag in Münster, beschrieb Koselleck Imdahls Ikonik als eine Theorie, die nach den Strukturen einer »sich selbst konstituierenden Bildlichkeit« fragt.68 Die Voraussetzungen der Ikonik verortete Koselleck dabei in der Moderne, indem die Frage nach der sprachlich nicht einholbaren Sinnkonstituierung allein durch die bildlichen Relationen von Form und Farbe erst mit der gegenstandslosen Kunst aufgeworfen worden sei. Dieser zu einem historisch einmaligen Zeitpunkt gewonnenen Einsicht stehe aber die Wiederholbarkeit, d. h. die nicht allein auf die Moderne begrenzte Anwendbarkeit der Theorie der Ikonik beiseite, die eine neue Sichtweise auf die Kunstgeschichte insgesamt erlaube – Koselleck applizierte gewissermaßen seine Theorie der Historik auf die Ikonik.69 Koselleck erkannte, dass die Ikonik Imdahls mehr leistete, »als nur die Formalstrukturen der Linearität und der Farbgebung zu analysieren. Sie zeigt, wie eine Vielfalt und Heterogenität in dem Bild – aber auch in einer Skulptur – zugleich aufscheint […]«, so dass eine »nur bildlich vermittelbare komplexe Zusammenschau« möglich werde.70 Die Ikonik verdeutliche die grundsätzlich sinnliche Erscheinungsweise der bildenden Kunst, aus der ihre »eigenen Regelhaftigkeiten« hervorgingen.71 Diese sinnliche Erscheinung deutete Koselleck nun nicht ontologisch, sondern interpretierte sie als historisch wandelbar, wobei der »Veränderungsdruck« durch eine immanente Dynamik der sich in der Moderne zunehmend auf sich selbst beziehenden Bildwelt entstehe.72 Die bildspezifischen Möglichkeiten der (sei es manipulierenden, sei es kritischen) Sinnerzeugung resultierten aus einem historischen, jedoch an die Bedingungen des Sehsinns gekoppelten Modus, zeitliche Differenz simultan erfahrbar zu machen. In seinem 1998 publizierten Aufsatz Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste widmete sich Koselleck dem Sehsinn genauer. Weit mehr als
67 Imdahl, Giotto, 448, 452. 68 R einhart Koselleck, Ikonik und Historik [unveröf fentlichtes Manuskript, 9 Seiten], 1996, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Nachlass Koselleck, Kasten 47, Mappe 322, 2. 69 Ä hnlich, wenngleich kritischer, hatte Koselleck die Hermeneutik mit der Historik überwölbt, wenn er gegenüber Hans-Georg Gadamer betonte, die Bedingungen möglicher Geschichten lägen dem (sprachlichen) Verstehen voraus. Vgl. Koselleck, Historik und Hermeneutik, 116 f. 70 Koselleck, Ikonik und Historik, 5, Hervorhebung im Original. 71 Koselleck, Ikonik und Historik, 6. 72 Koselleck, Ikonik und Historik, 8 f.
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die Verführbarkeit, die er in seinem Typoskript zur politischen Ikonologie hervorgehoben hatte, betonte er hier die »Freiheit« des Auges mit dem Argument, die anthropologische Voraussetzung für das Sehen bestehe in der Distanz. Die »leibliche Differenz zwischen Kunstwerk und Betrachter« sei konstitutiv für die Bilderfahrung.73 »Das wortlose Bild, eindrucksvoll senkt es sich in die Augen, um hinter den Lidern ein eigenes Dasein zu entfalten«, hieß es im Typoskript aus dem Jahre 1963.74 Diesem Eindringen der Bilder in den Körper stand 1998 eine andere Seherfahrung gegenüber: »Die Erfahrung dieser Bildwelt [Kunst, Plastik, Architektur, Anm. d. Vf.] ist nicht direkt integrierbar in den Körper, sie erschließt sich nur durch Bewegung, durch Inblicknahme, durch Einstellung auf nah oder fern, durch umherschauen, herumgehen und überschauen.«75 Hatte Koselleck seine fotografische Praxis nicht eigens in schriftlicher Form theoretisch dargelegt, so liest sich diese Passage wie eine Ref lexion seiner fotografischen Erkundungen in den Nah- wie Ferneinstellungen auf die ihn interessierenden Objekte. Geschichte werde, so betonte Koselleck gerne mit Rekurs auf Chladenius’ »Sehepunkt«, durch die bewusste Einnahme von Standorten und Perspektiven erschließbar.76 In ihrer Perspektivität und Vielfalt divergierender Erfahrungen sah Koselleck den Überschuss der Geschichte, »die mehr in sich birgt, als Identifikationsangebote einzwängen können.«77 Entsprechend sollte die historische Forschung mit dem Wissen ausgestattet sein, »welche Perspektiven man hervorrufen muss, um Erkenntnis zu steigern oder Erkenntnis überhaupt zu gewinnen […].«78 In seinen Denkmalstudien formulierte Koselleck die These, dass sich das visuelle Artefakt Denkmal nie gänzlich seiner Indienstnahme zur politischen Steuerung kollektiver Erinnerung und Identität fügte. Die historischen Zeitrhythmen des ästhetischen Formenarsenals und die sinnlichen Wahrnehmungsbedin73 R einhart Koselleck, Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste, in: Sabine R. Arnold/Christian Fuhrmeister/Dietmar Schiller (Hg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien/Köln/Weimar 1998, 25–34, 26 f. 74 Koselleck, Zur pol. Ikonologie. 75 K oselleck, Politische Sinnlichkeit, 26. »There’s nothing wrong with standing back and thinking. To paraphrase several sages: ›Nobody can think and hit someone at the same time.‹« Mit diesen Worten begegnete Susan Sontag dem Vorwurf gegenüber der Kriegsfotografie, ihr distanzierter Blick auf das Leiden der Opfer von Gewalttaten verflache die Empathie. Auch Sontag fasste Distanz als das Merkmal des Sehens und des Denkens auf; vgl. Susan Sontag, Regarding the Pain of Others, New York 2003, 105 f. 76 R einhart Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders., Vergangene Zukunf t, 176–207, zu Chladenius 184–187. 77 R einhart Koselleck im Gespräch mit Carsten Dutt, Geschichte(n) und Historik, in: dies., Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013, 45–67, hier 65. 78 Koselleck/Dutt, Geschichte(n) und Historik, 64.
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gungen des Bildes ermöglichten, ineinander komplex verschränkt, eine perspektivische Vielfalt, die auch Spielräume für unkontrollierbare, individuelle Ansichten und Erinnerungen bereithält. Genau dies lotete Koselleck mit seiner Fotokamera aus. Mit Blick auf Denkmäler und Erinnerungsorte war sie ein Instrument der visuellen Anamnese und Analyse von Erinnerungsprozessen zwischen kollektiver Sinnfixierung und individueller Seherfahrung. In welcher Weise Kosellecks fotografische Praxis darüber hinaus einen empirisch-experimentellen Beitrag zur Ref lexion der ›Zeitschichten‹ leistete, soll im Folgenden genauer betrachtet werden.
4. Die fotografische Erforschung der Zeitschichten Reinhart Kosellecks Fotografien waren gleichermaßen empirische Basis und methodisches Experiment zur Erforschung der Mehrschichtigkeit historischer Zeit und der Sinnlichkeit des politischen Raumes in der Moderne. In seiner Bildsammlung finden sich Aufnahmen zahlloser Herrscher- und Kriegerdenkmäler und von Holocaustmahnmalen, die Koselleck in Deutschland, Europa und den USA aufgesucht hatte. Darüber hinaus fing Koselleck Uhren und Fahrzeuge, Motive der religiösen und politischen Ikonographie (Reiter, Heiliger Georg, Pferde) und nicht zuletzt die mit den kulturellen Formen von Zeitmessung und -deutung interagierende Natur fotografisch ein. Die Fotografien dienten insofern auch der Dokumentation und der Präsentation für Vorträge und Publikationen. Das Fotografieren war allerdings weit mehr als das. Wie die Bilder zeigen, erprobte Koselleck vermittels der Kamera verschiedenste Perspektiven und ein Hin-Sehen, das von einem alltäglichen und repräsentationalen Sehen abrückte. Die zwischen Auge und Welt tretende Kamera erfordert einen Standpunkt und eine bewusste »Einstellung«,79 sie hebt den Blick aus dem in das raum-zeitliche Kontinuum integrierte Sehen heraus, sie zwingt zu einem Sichtausschnitt und einer Perspektive, in der der Fotografierende ebenso präsent ist wie eine Fülle von Details, die dem f lüchtigen Blick meist entgeht und erst im Bild erkennbar wird. Der Moment des Auslösens hält daher mehrere Zeitebenen fest, die zum Zeitpunkt der Aufnahme und den Zeitpunkten der späteren Betrachtung spannungsvoll konvergieren und genau darin in ihrer Differenz erkennbar werden.80 Eine solche Verdichtung bietet etwa die 1977 in Rom entstandene Fotografie eines Straßenschildes mit der Aufschrift »Via del Progresso« (Abb. 1). Koselleck hatte den Begriff des »Fortschritts«, den er als zentralen Begriff neuzeitlichen Geschichtsdenkens vielfach analysiert und dem er mit Christian Meier einen Ar79 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 26. 80 Z ur paradoxen Zeiterfahrung der Fotografie vgl. Peter Geimer, Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg 2009, 112–138.
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tikel in den Geschichtlichen Grundbegrif fen gewidmet hatte, im öffentlichen Raum gesichtet und mit dem Foto dauerhaft wieder in seine räumliche Herkunft versetzt.81
Abb. 1: Reinhart Koselleck (Fotograf), Inschrif t an einem Haus – Via del Progresso, Rom, 23. Juni 1977, 1 Fotografie, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg.
Die nach oben sich verjüngende Perspektive der Hauswand unterstreicht geradezu die mit dem Begriff verbundene Semantik der Verbesserung und Höherentwicklung. Die Verwitterung der Wand und ein rechts freiliegendes Stromkabel zeugen indes von der Zeitlichkeit der Neuerungen, die der Fortschrittsbegriff als Anspruch immer aufs Neue produziert. Auch die drei Verkehrsschilder links im Bild korrespondieren mit der Fortschrittssemantik: Ein Hinweisschild auf Fußgänger, deren Bewegung einen horizontalen Vektor nach links in das Bild einzieht, übersetzt »Fortschritt« visuell in ein Gehen, gebietet aber auch dem Autoverkehr Vorsicht, während zwei weitere Schilder ein dauerhaftes Parkverbot anzeigen und zur Weiterfahrt zwingen. Bewegung und Dauer, unterschiedliche Geschwindigkeiten der Fortbewegung und konkurrierende vertikale und horizontale Richtungsvektoren überlagern sich im Bild. Was pointiert sichtbar wird: Der »Fortschritt« ist von Geboten und Verboten umstellt. Während der Fortschrittsbegriff nach 1800 als geschichtsphilosophischer und politischer Perspektivbegriff in Ver81 R einhart Koselleck/Christian Meier, Fortschritt, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegrif fe, Bd. 2, Stuttgart 1975, 351–423.
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bindung mit dem Begriff der »Freiheit« legitimiert wurde, zieht der fotografische Bildraum ihn mit Verregelung semantisch zusammen – ein passendes Paradox für die mit dem Begriff gekoppelte Aufforderung zu politischer Planung. Ob Koselleck dies als Fotograf im Blick hatte, lässt sich nur vermuten; möglicherweise hatten die beiden beschrifteten Schilder seine Aufmerksamkeit gefunden, die mit den Worten »Progresso« und »Permanente« in eine Opposition treten. Sicher lässt sich sagen, dass das Bild mehr als das Einzelereignis beinhaltet, das Koselleck zu zeigen beabsichtigte. Die Koexistenz unterschiedlicher Zeitordnungen: historisch, technisch, natürlich oder religiös bemessener und gedeuteter Zeit, findet sich in Kosellecks Fotografien immer wieder. Ein Beispiel geben zwei Aufnahmen vom September 2002 mit Ansichten der Pfarrkirche St. Vitus in Heidelberg-Handschuhsheim (Abb. 2 a, b).
Abb. 2 a, b: Reinhart Koselleck (Fotograf), Sonnenuhr an der Pfarrkirche St. Vitus in HeidelbergHandschuhsheim, September 2002, 2 von 4 Fotografien, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg.
Während die vertikale Aufnahme aus der Distanz einen romanischen Kirchturm einfängt, scheint es die Absicht der Nahaufnahme im Querformat zu sein, sich einem Neben- und Übereinander verschiedener Zeitebenen an der Seitenwand des Kirchenschiffes genauer zu widmen. So stellt das Ziffernblatt der Sonnenuhr einen seit der Antike mit natürlichen Gegebenheiten arbeitenden instrumentellen Zeitmesser dar. Das über der Uhr wachsende Efeu hingegen fungiert, wie auch der Strauch am rechten unteren Bildrand, als natürlicher Indikator der Jahreszeit, verweist aber zugleich symbolisch auf die Ewigkeit. Zwei Epitaphe am unteren Bildrand stehen für eine christlich-transzendent begründete Kultur des Totengedenkens, und das Fenster mit gotischen Stilelementen macht die verschiedenen Bauphasen und historischen Schichten der Kirche ansichtig. Eine weitere Zeitschicht kommt durch das Stromkabel neben dem Fallrohr links ins Bild. Hier wird
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deutlich, dass es Koselleck nicht um eine historisch repräsentative Wiedergabe mittelalterlicher Kirchenbauten ging, die durch den Anachronismus des Kabels gestört worden wäre. Auch die leicht diagonale Aufnahmeperspektive zeugt weniger vom Bestreben, eine Idealansicht zu zeigen, als vielmehr den perspektivischen Standort des Fotografierenden im Bild sichtbar zu belassen. Ins Auge fällt wie in zahlreichen Aufnahmen Kosellecks die Natur, hier in Form des farbkräftigen Efeus, das auch formalästhetisch die Rundungen der Sonnenuhr aufnimmt und zeigerartig die Stunden abtastet. Das Phänomen einer natural bedingten Wiederholungsstruktur überlagert technisch hervorgebrachte Zeitrhythmen und lässt sich als eine Antithese zur Figur der modernen Denaturalisierung von Zeit verstehen. Das Aufeinandertreffen vormoderner und moderner Zeitregime thematisieren auch zwei Konvolute mit je zwei Aufnahmen des Grabmonuments für den Münsteraner Fürstbischof Friedrich Christian von Plettenberg (1644–1706) (Abb. 3 a, b und Abb. 4 a, b). In diesem nach 1707 fertiggestellten Epitaph verbinden sich die allegorischen Formen christlich-transzendenter Todesdeutung mit einer großen Uhr über der sterblichen, seiner Mitra entkleideten Figur des Bischofs.
Abb. 3 a, b: Reinhart Koselleck (Fotograf), Grabmal des Fürstbischofs Friedrich Christian von Plettenberg im Dom, Münster, 09.03.1978, 2 Fotografien, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg.
Im Kosmos allegorischer Wiederholbarkeit mag die Uhr die Vergänglichkeit irdischer Zeitläufte repräsentieren, doch steht sie zugleich für die säkulare Funktion der Zeitmessung, die die Uhr in der Moderne zum Symbol für Zeitverknappung
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und Beschleunigung werden lässt. Koselleck hatte die Bildpaare im Abstand von zwei Jahren, 1978 und 1980, aus ähnlichen Blickwinkeln, aber zu verschiedenen Uhrzeiten fotografiert. Der moderne Wert der Einmaligkeit und Aktualität hat sich vermittels der Uhr, die Zeit der Aufnahme anzeigend, in das Bild eingetragen. Umgekehrt hat auch der Fotograf Koselleck einen Kommentar in einer der Aufnahmen hinterlassen (Abb. 4 b): Im Modus der Unschärfe, der einen bewusst nicht-repräsentationalen und vielmehr medial vermittelten Blick herausstellt, fügte Koselleck mit der verwischten Ansicht eine Interpretation hinzu, die sich in seiner Studie zu den Karikaturen Daumiers wiederfindet: Der Tod selbst entzieht sich der auf Erfahrung beruhenden Darstellbarkeit.82
Abb. 4 a, b: Reinhart Koselleck (Fotograf), Grabmal des Fürstbischofs Friedrich Christian von Plettenberg im Dom, Münster, 12. März 1980, 2 Fotografien, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg.
Den vergeblichen Bemühungen des politischen Denkmalkultes um Entzeitlichung war Koselleck in vielen Aufnahmeserien auf der Spur, in denen er die Monumentalität von Denkmälern in Sequenzen unterschiedlicher Blickwinkel zerlegte und damit deren Machtanspruch dezentrierte. Ein Umkreisen aus unterschiedlichen Distanzen gibt ein Konvolut von fünf Fotografien des Darmstädter Bismarckdenkmals wieder (Abb. 5 a–e). 82 K oselleck, Daumier und der Tod, 163. Die Unschärfe in Kosellecks Fotografien thematisiert Jörg Probst, Unschärfe in der Bildsammlung Reinhart Kosellecks, in: Locher/Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, 70–83.
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Abb. 5 a–e: Reinhart Koselleck (Fotograf), Bismarckdenkmal mit Ritterrelief, Darmstadt [um 2000], 5 Fotografien, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg.
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Die Lichtverhältnisse zeigen, dass Koselleck das Denkmal zu verschiedenen Tageszeiten besichtigt hatte. In der Zeitspanne, die Koselleck für die abendliche Umrundung benötigte, hatte es eine Taube auf der Pickelhaube des Denkmalhelden ausgehalten. Die Taube ist ein schon klassischer Topos für die Banalisierung der Herrschaftsvertikale des Denkmals, und weitergeführt wird er in Kosellecks Foto in Form der Stromkabel, die sich zwischen den Reichsgründer und seine Apotheose schieben, den natürlichen Hoheitsraum der Vögel bequem möblierend. Weitere Zeitebenen werden durch ein »C & A«-Werbeschild und ein Graffito auf dem Ritterrelief angezeigt, eine bildliche Überformung, die Koselleck eigens dokumentierte. Die Umwelt der Leuchtreklamen und eines Mülleimers, die auf die kurzfristigen Zeitrhythmen des Konsums hinweisen, wie auch die Anzeichen der materiellen Verwitterung des Denkmals lassen die Verewigungsgeste zum Anachronismus werden. Was in Kosellecks Fotografien zum Ereignis wird, sind die Ref lexion und die humorvolle Zuspitzung in Hinblick auf simultan divergierende Geschwindigkeiten, aber auch auf Kontinuitäten, die in der Diachronie erkennbar werden. Zwischen 1976 und 2001 entstandene Fotoserien zeigen, dass Koselleck über die Jahre wiederholt die Reiterdenkmäler der preußischen Monarchen Friedrich Wilhelm IV., Wilhelm I., Friedrich III. und Friedrich II. auf der Kölner Hohenzollernbrücke fotografiert hatte, sowohl selbst fahrend, aus dem Zug, als auch zu Fuß sich den Standbildern nähernd; so etwa in der Serie, deren Aufnahmedatum am 20. Dezember 1997 durch die Digitalanzeige in das Bild eingetragen ist (Abb. 6 a–e). Eine Situation, auf die es Koselleck immer wieder absah, ist die Konfrontation der Reiterdenkmäler mit den vorbeifahrenden Zügen, bis sie zur Deckung kommen (Abb. 6 a–c). Im Kabelgewirr der Stromleitungen und neben den massiven eisernen Brückenbögen erscheinen die Reiter eher als Don Quijote ähnliche Randfiguren der technischen Moderne. Bereits zur Fertigstellung der Brücke im Jahre 1911 besaß die monumentale Verewigung der preußischen Monarchen und Kaiser eine einrahmende Funktion für die technische Mobilität. In den ersten Bildern der Serie (Abb. 6 a und c) wird das (von Louis Tuaillon 1910 geschaffene) Reiterdenkmal für Kaiser Friedrich III. von einem Zug eingeholt. Im sich verringernden Abstand wird das starre Denkmal gleichsam in Bewegung versetzt, es gerät durch den Zug in den Sog der Verzeitlichung. Die auch ästhetisch dominierende Horizontale der Schienen, Stromleitungen und Züge vermittelt die f lächendeckende Durchdringung des Raumes, gegen die sich die auf Hierarchie und Transzendenz verweisende Vertikale des Denkmals kaum behaupten kann. Als die wahre Kathedrale im Zeitalter des Fortschritts nimmt sich die Eisenkonstruktion der Brücke aus (Abb. 6 d). Abb. 6 b zeigt den Moment des Überholtwerdens des Reiterdenkmals für Wilhelm I. (Friedrich Drake, 1867) und bringt darin die Überholtheit der Monumente visuell auf den Punkt. Doch es gibt ein weiteres Geschehen, das in den Fotografien erkennbar wird: Das Pferd wird aus seiner Symbolfunktion, poli-
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Abb. 6 a–e: Reinhart Koselleck (Fotograf), Reiterdenkmäler für Friedrich Wilhelm IV, Wilhelm I, Friedrich III und Wilhelm II an der Hohenzollernbrücke, Köln, 20. Dezember 1997, 5 von 28 Fotografien, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg.
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tische Herrschaft anzuzeigen, heraus- und wieder in seine Funktion als Fortbewegungsmittel zurückversetzt.83 Erst die Ansichten, die die Reiterdenkmäler in der Nah- und Untersicht de-kontextualisieren, vermitteln noch den Herrschaftsund Transzendenzappell der Monumente (Abb. 6 e). Den diachronen Vergleich und den Blick auf Wiederholungsstrukturen erlauben auch die Konvolute mit Fotografien von politischen Denkmälern und Gebäuden in Berlin, die Koselleck vor und nach dem Mauerfall fotografiert hatte. Ein auf die späten 1970er Jahre zu datierendes Konvolut von Schwarzweiss-Aufnahmen zeigt neben dem Kreuzbergdenkmal und den weißen Kreuzen zum Gedenken an die an der Mauer Getöteten mehrfach Fotografien vom Brandenburger Tor und dem Sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten (Abb. 7 a–f).
83 Z um »Ende des Pferdezeitalters« durch die moderne Verkehrs- und Nachrichtentechnik vgl. Reinhart Koselleck, Der Aufbruch in die Moderne oder das Ende des Pferdezeitalters, in: Berthold Tillmann (Hg.), Historikerpreis der Stadt Münster. Die Preisträger und Laudatoren von 1981 bis 2003, Münster 2005, 159–173.
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Abb. 7 a–f: Reinhart Koselleck (Fotograf), Nationaldenkmal, Siegessäule, Berliner Mauer und weitere Fotografien, Berlin-Mitte [um 1980], 6 von 21 Fotografien, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg.
Augenfällig werden in den Fotografien die weiträumigen Absperrungen, sei es, dass sie eine politische Sperrzone anzeigen, oder sei es, dass sie als Geländer die Wegführung für Besucher leisten. Einen ähnlichen Blickwinkel auf das Sowjetische Ehrenmal wählte Koselleck in einer Fotografie aus dem Jahre 2003 (Abb. 8).
Abb. 8: Reinhart Koselleck (Fotograf), Blick auf den Reichstag mit Sowjetischem Ehrenmal im Vordergrund, Berlin-Mitte, März 2003, 1 Fotografie, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg.
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Im diachronen Vergleich wird deutlich, dass der Fotograf nun näher an das Monument herantreten konnte. Auch andere Signale des Wandels sind wahrnehmbar: Der Reichstag ist mit Glaskuppel versehen, und die von Lew Kerbel geschaffene Figur des Rotarmisten ist nicht mehr die überragende Gestalt in einer Umgebung, die, einst in Sektoren der Alliierten getrennt, in Kosellecks Fotografie nahe zusammengerückt ist. Gleichwohl bleiben Begrenzungen auch im vereinten Berlin das kontinuierliche Bildthema – nun in Form eines Bauzaunes. Die Analogie zwischen politisch bedingter Absperrung im Kalten Krieg und Bauabsperrung in einer Stadt unter Konstruktion findet sich auch im Vergleich zu einem Konvolut mit Fotografien des Brandenburger Tores aus dem Jahre 2002 (Abb. 9 a–d).
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Abb. 9 a–d: Reinhart Koselleck (Fotograf), Verhülltes Brandenburger Tor während Bauarbeiten, Berlin, Februar 2002, 4 Fotografien, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg.
Hier bilden Bauzaun, lagerndes Baumaterial und auf Touristen wartende Taxis erneut eine Horizontale, die den Zugang zum Denkmal verwehrt. Die Sicht auf das in Sanierung befindliche Brandenburger Tor verdeckt allerdings eine mit der Ansicht des Tores bedruckte Plane, die für die fantastisch grenzenlosen Möglichkeiten des Internets wirbt, mit einem Klick eine Säule des Tores verschieben zu können: »Im Internet ist alles möglich« – mit diesem Slogan wird ein allumfassender Möglichkeitsraum beansprucht (Abb. 9 d). Virtueller Raum und materiel-
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ler Raum kollidieren in einem Blick, Entgrenzungsfantasie und reale Begrenzungen kommentieren sich gegenseitig und regen zum Nachdenken an. Eine letzte, doch zentrale Zeitschicht sei genannt, die den Fotoserien Kosellecks inhärent ist und die man in Anlehnung an Georges Didi-Hubermans Auseinandersetzung mit Walter Benjamin und Harun Farocki als eine Zeit »der Exegese und der Anamnese« bezeichnen kann.84 Die Konvolute der Fotoserien geben nicht mehr das empirische Nacheinander der Aufnahmemomente wieder, sondern eine Folge, die aus dem immer erneuten Auslegen und Umsortieren der einzelnen Fotografien resultierte. So treten die Fotografien Kosellecks aus der linearen Chronologie ihrer eigenen Entstehung heraus und ergeben in Form der Deund Remontage eine »exponierte Zeit«, die eine neue Erkennbarkeit historischer Zeiten ermöglicht.85
5. Zusammenfassung In Kosellecks Auseinandersetzung mit den Bedingungen möglicher Geschichten spielte der Erfahrung stiftende Raum und ganz konkret der Bildraum eine grundlegende erkenntnisgenerierende Rolle. Das betraf gerade auch die Sprache, der Koselleck zwar ein die räumlich-bildliche Wahrnehmung transzendierendes Vermögen zuschrieb, deren sinnliche Voraussetzungen er jedoch stets annahm. Wenn er die Sprache als den »Hermeneut aller Sinne« bezeichnete, dann unter der Prämisse, dass sie an die »naturale Vorgegebenheit« der Sinne rückgebunden sei.86 Der Hermeneut ist mit der sinnlichen Wahrnehmung nicht identisch, und aus dieser Denkfigur der Nicht-Identität gehen die Reibungen und Inkonsistenzen hervor, die in Kosellecks anthropologischer Geschichtsauffassung für Dynamik und Wandel sorgen und die er jedem Anspruch darauf, historische wie politische Homogenität und Totalität dar- und herzustellen, entgegensetzte. Den Teilmengen und Verschiebungen zwischen dem, was jeweils durch Begriffe fassbar werden konnte, und dem, was sich ereignete und erfahren wurde, suchte sich die Begriffsgeschichte anzunähern, und Kosellecks originelle Konzeption bestand darin, mit einem Begriffsmodell zu arbeiten, das der Bildpräsenz analog Zeit- und Erfahrungsdeutung nicht linear, sondern komplex und simultan vorstellbar macht. Verstand Koselleck das Denken von Zeit grundsätzlich als raum- und bildbezogen, so fragte er zugleich historisch nach dem politischen 84 G eorges Didi-Huberman, Remontagen der erlittenen Zeit. Das Auge der Geschichte II, Paderborn 2014, 168. 85 D idi-Huberman, Remontagen, 168. Vgl. auch ders., Wenn die Bilder Position beziehen. Das Auge der Geschichte I, München 2011, 156. 86 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 31.
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Bildgebrauch unter den Bedingungen des verzeitlichenden Denkens der Moderne. Hier besaß die Bildpräsenz für Koselleck zwei Seiten: Sie kann die Sinne manipulieren, konstruierte Kontinuitäten und Identitäten zu beglaubigen, und sie kann kritisches Potenzial besitzen, indem sie, mehrere Zeitebenen akkumulierend, Widersprüche sichtbar macht, die sich homogenisierenden Erzählungen und Vereinnahmungen widersetzen. Für Koselleck boten Bilder die Chance, den Zugang zur Vielfalt historischer Erfahrungen zu erweitern und einen (selbst-)kritischen Blick auf historische Erkenntnis zu werfen. Dies zeigte sich über Jahrzehnte in seiner fotografischen Praxis, die es ermöglichte, zeitliche Linearität und Homogenität zu stören und das paradoxe Ineinsfallen von natürlich, religiös, historisch und technisch gedeuteter Zeit sowie verschiedener Geschwindigkeiten sichtbar zu machen. Im visuell sich ereignenden Zeitparadox lag für Koselleck eine Pointe des Erkennens: Auf einen Blick konterkariert es Erzählungen von linearem Fortschritt, die Naturbeherrschung behaupten, und macht es teleologische Auslassungen historischer wie perspektivischer Differenz sichtbar, auf denen die Erzählungen einer Identität politischer Kollektive beruhen. Dass diese visuelle Evidenz ihrerseits instrumentalisierbar ist, war Koselleck nur zu bewusst. Ihr begegnete er mit Fotografien, die in Perspektive und Ausschnitt unfertig, imperfekt sind und sich somit selbst als historisch und medial situierte Sichtweisen thematisieren.
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Abbildungsnachweis Abb. 1–9: © Bildarchiv Foto Marburg/Foto: Reinhart Koselleck. Mit freundlicher Genehmigung der Erbengemeinschaft Reinhart Koselleck.
Kritik der Sinnlichkeit Reinhart Kosellecks relationaler Bildbegriff Britta Hochkirchen Abstract Der Beitrag thematisiert die besondere Rolle des Sehsinns und des Bildes als kritisches Erkenntnisinstrument innerhalb Reinhart Kosellecks Historik. Anhand verschiedener Beispiele aus Kosellecks Untersuchungen stehen insbesondere seine impliziten, bildtheoretischen Annahmen sowie sein Umgang mit dem Bild, etwa seine Praktiken des Vergleichens, im Zentrum. Dabei werden die von Koselleck hervorgehobenen Charakteristika des Sehsinns und des Bildes in ihrer doppelten Wirksamkeit aufgezeigt, nämlich als Mittel der Differenzierung und damit auch der Relationierung.
1. »Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste« Von Koselleck allein als Begriffshistoriker zu sprechen, greift zu kurz. Ihn als einen in Theorie und Praxis am Bild Interessierten zu beschreiben, vermag immer noch nicht die Tragweite zu erfassen, die die Beschäftigung mit dem Visuellen und dem Sehsinn im Rahmen seines wissenschaftlichen Denkens für ihn einnahm.1 Will man biografisch argumentieren, lässt sich feststellen, dass seine wissenschaftlichen Interessen von der Beschäftigung mit dem Bild durchzogen waren: Seine Projekte zum politischen Totenkult, aber auch sein Forschungsinteresse an Pferd und Reiter sind auf die Visualität ausgerichtet und basieren selbst auf der visuellen Wahrnehmung. In seinem im Jahr 2000 veröf fentlichten Aufsatzkompendium Zeitschichten: Studien zur Historik kündigte Koselleck nicht von ungefähr an, seine Schriften zur Sinnlichkeit und Ikonologie im Sinne »historiographische[r] Studien zur Geschichte als Wahrnehmung« in einem eigenständigen Band zusammenfassen zu wollen – doch dazu kam es leider 1 V gl. für die grundlegende Auseinandersetzung mit Kosellecks Position in den »theoretischen Zwischenräumen« (134), insbesondere in Hinblick auf seine Arbeit mit und am Bild Adriana Markantonatos, Geschichtsdenken zwischen Bild und Text: Reinhart Kosellecks »Suche nach dem (…) Unsichtbaren«, Marburg 2018 (elektronische Hochschulschrif t).
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nicht mehr.2 Wie bereits von Hubert Locher eindrücklich dargelegt wurde, rahmen zwei wichtige Texte zum Bild und zum Sehsinn Kosellecks wissenschaftliche Karriere:3 So findet sich in seinem Nachlass das unveröffentlichte Typoskript Zur pol. Ikonologie, das auf das Jahr 1963 datiert ist, eine Zeit, in der Koselleck seine Habilitation verfasste.4 Fast zehn Jahre nach seiner aktiven Zeit als Hochschullehrer schrieb Koselleck dann ausgehend von einer Einladung zu einer Tagung 1996 am Warburg-Haus, wo er auch als Gastprofessor residierte, den Aufsatz Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste.5 Anhand dieser beiden Texte wird eine eklatante Veränderung im Denken Kosellecks augenfällig, die das Bild und den Sehsinn betrif ft: Kosellecks Verständnis vom Bild wandelt sich, von einem, das das Bild als Instrument der Manipulation versteht,6 hin zu einer Auffassung vom Bild – und vor allem auch vom Sehsinn – als kritisches Erkenntnisinstrument. Spätestens in seinem Aufsatz Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste, der 1998 von Sabine R. Arnold, Christian Fuhrmeister und Dietmar Schiller im Sammelband Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert: Zur Sinnlichkeit der Macht herausgegeben wurde, zeigt sich, inwiefern sich Kosellecks Verständnis des Bildes sowie des Sehsinns von einem politischen Verführungs- und Manipulationsinstrument zu einem Werkzeug der Kritik und der Distanznahme verändert hat.7 Mit der For2 R einhart Koselleck, Vorwort, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, 4. Aufl. Frankfurt a. M. 2015, hier 7. Von diesem Vorhaben Kosellecks berichtet auch Carsten Dutt, Nachwort, in: Reinhart Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. von Carsten Dutt, Frankfurt a. M. 2014, 365–372, hier 367. 3 H ubert Locher, »Politische Ikonologie« und »politische Sinnlichkeit«. Bild-Diskurs und historische Erfahrung nach Reinhart Koselleck, in: ders./Adriana Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, Berlin/München 2013, 14–31. 4 D as Typoskript wurde von Hubert Locher in einem Aufsatz veröf fentlicht (S. 295) und grundlegend analysiert: Hubert Locher, Denken in Bildern. Reinhart Kosellecks Programm Zur politischen Ikonologie, in: ders./Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, 294–303. 5 D er Aufsatz ist veröf fentlicht in: Sabine R. Arnold/Christian Fuhrmeister/Dietmar Schiller (Hg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert: Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien/Köln/Weimar 1998, 25– 34. Vgl. für Kosellecks Aufsatz ebenfalls Locher, »Politische Ikonologie«, hier 14. 6 K oselleck beschreibt die manipulative Kraf t des Bildes und des Sehsinns in seinem Typoskript Zur pol. Ikonologie wie folgt: »In Bildern lässt sich schneller denken als in Worten: ja es gibt eine wortlose Ebene des Denkens, das Denken lässt sich von Bild zu Bild gleiten, es springt so schnell wie die Bilder springen, die vor dem Auge auf tauchen: es gibt keine Kontrolle der Aussprechbarkeit. Hier liegt die Einbruchstelle für die moderne politische Ikonenwelt, die die Gesichtsfelder umstellt (Reklame, Plakat, Spruchband: ein Bild bevor es ein Satz ist!, die Darstellung der Prominenz etc.)«. Koselleck, Zur pol. Ikonologie. 7 V gl. zum Entstehungskontext des Aufsatzes, der auf einem Vortrag zur Tagung »Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert« basiert, die 1996 im Warburg-Haus in Hamburg im Kontext des Graduiertenkollegs »Politische Ikonographie« stattfand: Markantonatos, Geschichtsdenken, 251 f f.
Kritik der Sinnlichkeit
mulierung »Politische Sinnlichkeit« bezieht sich Koselleck hier erneut auf die Vermittlung politischer Ideologien, und zwar durch alle fünf Sinne. Die Sinnlichkeit, das heißt das Zusammenwirken aller Sinne, so konstatiert Koselleck, führe zu einer Vergemeinschaftung, indem sie subtil den Boden für gemeinsame ideologische Prägung bereitet und einen »Erfahrungsraum ein[]grenzt«:8 »Die fünf Sinne habitualisieren dann Einstellungen, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen, die zugunsten gemeinsamer Aktionsfähigkeit nicht tangiert, geschweige denn überschritten werden dürfen.«9 Die Sinne wirken nach Koselleck »zwischenmenschlich«, also sozial, und sind immer schon an die Sprache rückgekoppelt.10 Mehr noch werde, so Kosellecks These in diesem Aufsatz, über die Sinne die Außenwelt verleiblicht, das Äußere werde quasi inkorporiert: »Die Künste und ihre Korrelate in der Sinnenwelt evozieren vom Auge über das Ohr und über Geschmack und Geruch bis hin zum Tastsinn eine zunehmende Körpernähe oder gesteigerte Leiblichkeit. So läßt sich die Hypothese aufstellen: Je stärker die Künste verleiblicht werden, desto intensiver ist ihre sinnliche Integration.« 11 Der Wirkmacht der solcherart verschränkten fünf Sinne geht Koselleck nach, indem er die einzelnen Sinne heuristisch getrennt in ihren jeweils eigenen Potenzialen untersucht: so auch den Sehsinn, dem Koselleck einen besonderen Stellenwert zuweist.12 Ihm spricht Koselleck eine doppelte Qualität zu: Das Auge sei zwar verführbar, es schaffe aber auch leibliche Distanz zu den Gegenständen der Wahrnehmung.13 Die epistemologische Zuspitzung, die der Sehsinn, und damit zusammenhängend das visuell wahrnehmbare Bild, in Kosellecks Denken erfährt, begründet er in dem Aufsatz Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste anthropologisch anhand der grundlegenden Voraussetzung der fünf Sinne: »Sie bieten die gleichsam naturale Minimalbedingung für jede Art von Erfahrung, wie auch immer 8 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 32. 9 K oselleck, Politische Sinnlichkeit, 32. Koselleck spricht gar vom »kanalisierende[n] Schleusensystem« (33) der Wahrnehmung, das ›andere‹ ideologische Wertungen gar nicht zum Bewusstsein durchdringen ließe. In ähnlicher Weise argumentiert Koselleck für die kanalisierte Erinnerung nach den beiden Weltkriegen mit dem Begrif f der »Erinnerungsschleuse«. Reinhart Koselleck, Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten. Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, 265–284. 10 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 30. 11 K oselleck, Politische Sinnlichkeit, 26. Indem Koselleck an dieser Stelle von den »Künsten und ihre[n] Korrelate[n] in der Sinnenwelt« spricht, bezieht er sich auf einen breiten Bildbegrif f, der nicht nur das Kunstwerk betriff t. 12 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 25. 13 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 26.
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diese religiös oder kulturell, künstlerisch oder eben politisch überformt und gesteuert wird.«14 Allein in dieser Bestimmung lässt Koselleck bereits die Opposition zwischen der anthropologischen Konstanz der Sinne und ihrer historischen, ja kulturellen Wandelbarkeit gegeneinander treten. Koselleck betont ebenfalls gleich zu Beginn des Aufsatzes, dass die fünf Sinne leiblich sind und auf diese Weise körperliche Erfahrungen ermöglichen. Damit überspringen die Sinne die Differenz zwischen innen und außen: Durch die Sinne wird Äußerliches verinnerlicht. Diese körperlichen Erfahrungen, die nur über die Sinne gemacht werden können, sind nach Koselleck nicht selbstref lexiv, sondern sozial und sprachlich unterfangen.15 Sie sind nicht übertragbar. Kosellecks Interesse an Sinnlichkeit und Politik liegt wohl auch in seiner Biografie begründet, zumindest verwies er in Interviews häufig auf seine eigenen sinnlichen Erfahrungen im Leben, die ihn nicht mehr losließen, aber vor allem auch dazu veranlassten, Historiker zu werden: Er bezog sich hierbei auf seine Kriegsgefangenschaft nach 1945 in Auschwitz und die Erkenntnis der Judenvernichtung durch die Deutschen. Koselleck benutzt für die Beschreibung dieser Erfahrung eine Metapher, ein sprachliches Bild: »Es gibt Erfahrungen, sie sich als glühende Lava in den Leib ergießen und dort gerinnen. Unverrückbar lassen sie sich seitdem abrufen, jederzeit und unverändert. […] Der Geruch, der Geschmack, das Geräusch, das Gefühl und das sichtbare Umfeld, alle Sinne, in Lust oder Schmerz, werden wieder wach und bedürfen keiner Gedächtnisarbeit, um wahr zu sein und zu bleiben.« 16 Bereits in dieser Aussage zeigt sich eine immanente Spannung der Sinnlichkeit, ein Kontrast, der Koselleck als Bedingung von Geschichte interessiert: Einerseits sind die Sinne sozial, ja sogar die Grundlage für das soziale Zusammenleben,17 andererseits sind sie in ihrem Ergebnis, den Erfahrungen, doch auch singulär und nicht übertragbar. Koselleck beschreibt deshalb das soziale Zusammenleben – auch in seinen Extremen der Politik und der Liebe – als eine »zwischenmenschliche Herausforderung an die Sinne«.18 14 K oselleck, Politische Sinnlichkeit, 25. Koselleck spricht in der Folge des Aufsatzes dann auch explizit von den Sinnen und ihren »anthropologischen Voraussetzungen und Folgen« (26). Vgl. zu Kosellecks Bezugnahmen auf die historische Anthropologie Markantonatos, Geschichtsdenken, 243 f. 15 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 25 und 30. 16 R einhart Koselleck, Vielerlei Abschied vom Krieg, in: Brigitta Sauzay/Heinz Ludwig Arnold/ Rudolf von Thadden (Hg.), Vom Vergessen vom Gedenken. Erinnerungen und Erwartungen in Europa zum 8. Mai 1945, Göttingen 1995, 19–25, hier 21. 17 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 30. 18 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 30.
Kritik der Sinnlichkeit
In diesem Widerspruch lag für Koselleck die besondere Herausforderung für die Geschichtswissenschaft begründet. So betonte er in verschiedenen Schriften, dass die »Wahrnehmungsgeschichte […] pluralistisch gebrochen [ist]«.19 In Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste konstatiert er, dass »[d]urch die politische Sinnlichkeit […] ein Erfahrungsraum eingegrenzt und abgesteckt [wird]« und erst dadurch »Gemeinsamkeit sichert, um handlungsfähig zu werden und zu bleiben«.20 Andererseits beschreibt er die politische Sinnlichkeit als ein »Schleusensystem«, das sich dadurch auszeichnet, dass es nicht homogen ist, sondern zeitliche Unterschiede produziert.21 Koselleck gibt hierfür das Beispiel der ›Generationsunterschiede‹: Die Jugend mag die Musik der Rolling Stones, die Älteren würden sich durch den Sound dieser Band jedoch nicht angesprochen fühlen.22 Was Koselleck mit diesem Widerspruch – Sozialität vs. Vereinzelung/Separierung durch Sinnlichkeit – hier deutlich werden lässt, ist ein Verständnis von Sinnlichkeit, die historischen Wandel auslöst und bedingt.23 Sinnlichkeit kann damit als eine Grundlage in seiner Historik angesehen werden: Koselleck verstand sie sowohl als Voraussetzung als auch als Analyseinstrument für historischen Wandel und dessen Untersuchung. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden die besondere Rolle des Sehsinns und des Bildes innerhalb von Kosellecks Historik herausgearbeitet werden. Koselleck unterscheidet im Aufsatz Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste zwischen den unterschiedlichen Intensitätsgraden der Inkorporierung der sinnlichen Angebote, die durch die Sinne geleistet wird: Während Hör-, Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn im Akt der Wahrnehmung die sinnlichen Objekte verinnerlichten, sei dem Sehsinn eine genuine körperliche Distanz zum Objekt eigen.24 Gerade um etwas sehen, ja sogar erkennen zu können, sei räumlicher Abstand zwischen Subjekt und Objekt der sinnlichen Wahrnehmung die Voraussetzung. Darin – so die These des vorliegenden Aufsatzes – liegt Kosellecks Begründung, dem Sehsinn kritische Ref lexivität zuzusprechen: und zwar sowohl in actu der Geschichte als auch ex post als Erkenntnismedium. 19 R einhart Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, in: Dutt (Hg.), Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, 9–31, hier 17. Vgl. für diese Grundeinstellung in Kosellecks Historik: Dutt, Nachwort, 366. Niklas Olsen macht an diesem Aspekt eines der Hauptargumente seiner Intellektuellenbiografie fest: Koselleck sei von einem Pluralismus (der Erfahrungen und Standpunkte) ausgegangen, der nicht mit einem Relativismus verwechselt werden solle. Siehe hierfür Niklas Olsen, History in the Plural: An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2012, 5. 20 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 32. 21 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 33. 22 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 32. 23 Vgl. Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 33. 24 Vgl. Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 26.
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Wenn im Folgenden die These verfolgt wird, dass Koselleck den Sehsinn und das Bild als kritisches und ref lexives Instrument im Rahmen seiner Historik verortet, so soll dieser Nachweis in drei Argumentationsschritten erfolgen. In einem ersten Abschnitt wird die Rolle des Sehsinns und des Bildes als kritisches Instrument anhand von verschiedenen Beispielen aus Kosellecks Untersuchungen aufgezeigt, um in der Varianz der ›Nutzung‹ seinen Bildbegriff und die damit einhergehenden Charakteristika der ›Differenz‹ und ›Relationalität‹ herauszustellen, die dem Sehsinn und dem Bild nach Koselleck eigen sind. Im zweiten und dritten Schritt wird es darum gehen, die von Koselleck hervorgehobenen Charakteristika des Sehsinns und des Bildes in ihrer doppelten Wirksamkeit aufzuzeigen, nämlich als Mittel der Differenzierung und damit auch der Relationierung. Dabei werden insbesondere Kosellecks implizite, bildtheoretische Annahmen sowie sein Umgang mit dem Bild, z. B. seine Praktiken des Vergleichens, im Zentrum stehen.
2. Sehsinn und Bild als Gegenstand und Erkenntnisinstrument der Geschichte Der Sehsinn ist ein Distanzsinn, so lautet Kosellecks Prämisse für seine weiteren Einlassungen zur visuellen Sinnlichkeit.25 Distanz ist das entscheidende Kriterium für die besondere Rolle, die Koselleck dem Sehsinn in seinem Aufsatz Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste beimisst. Diese zugesprochene Sonderrolle fußt – anders als noch im Typoskript von 1963 – auf Kosellecks Beobachtung eines doppelten Potenzials dieses Sinns. Der Sehsinn ist verführbar, aber er ist als Distanzsinn – anders als die anderen Sinne – dazu fähig, Abstand zum Objekt der Wahrnehmung zu wahren, ja sogar unterschiedlichste Positionen einnehmen zu lassen und diese zu vergleichen: »Das Auge muß Distanz wahren, um etwas sehen zu können. Ist erst einmal etwas ins Auge gegangen, kann es nichts mehr erkennen. Deshalb bleibt Distanz, eine Differenz zwischen Subjekt und Objekt, die Voraussetzung jener Kunsterfahrung, die sich auf Bilder bezieht oder, vermittelt durch den visualisierten Tastsinn, auf Plastik und Architektur. Die Erfahrung dieser Bildwelt ist nicht direkt integrierbar in den Körper, sie erschließt sich nur durch Bewegung, durch Inblicknahme, durch Einstellung auf nah oder fern, durch umherschauen, herumgehen und überschauen.«26 Der Sehsinn sei folglich der Sinn mit der geringsten Tendenz zur Verleiblichung und damit dem höchsten Potenzial, Kritik zu üben, Abstand einzunehmen, ja 25 Vgl. Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 26. 26 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 26.
Kritik der Sinnlichkeit
Verhältnisse und Relationen zu überschauen. Koselleck betont immer wieder, dass das Auge die wahrgenommenen Objekte nicht im Akt der sinnlichen Wahrnehmung »wahrmach[e]«.27 In dieser Betonung der immanenten Distanz, die dem Sehsinn, aber auch dem Medium Bild eigen ist, wird ein Verständnis von Ref lexion und Kritik deutlich, das Michel Foucault mit Bezug auf die Auf klärung wie folgt beschrieben hat: »eine bestimmte Art zu denken, zu sagen, zu handeln auch, ein bestimmtes Verhältnis zu dem, was existiert, zu dem, was man weiß, zu dem, was man macht […]«.28 Folglich ist es die Verhältnisbestimmung, die Relationierung, die auch Koselleck als Grundlage für Kritik ansieht. Vor diesem Hintergrund versteht und nutzt Koselleck den Sehsinn und das Bild als Instrumente der Erkenntnisgewinnung. Verbunden mit Kosellecks Nachdenken über den Sehsinn war stets seine theoretische wie auch praktische Auseinandersetzung mit dem Medium Bild. Will man Kosellecks Bildbegriff jedoch definieren, steht man vor der Herausforderung, seine verstreuten, aber nie abbrechenden Äußerungen zum Sehsinn und zum Bild sowie seine Bildpraxis miteinander verschränkt nachzuvollziehen. Koselleck vertrat dabei – ohne dies explizit zu machen – in seinen Schriften, aber auch in der Praxis einen breiten Bildbegriff, der die zweidimensionalen Bildmedien wie Fotografie, Karikatur und Malerei ebenso umfasste wie dreidimensionale Kriegerdenkmäler.29 Dabei war er keinesfalls auf Kunst fokussiert, sondern interessierte sich für das Medium Bild oft auch jenseits des Bezugs auf einen (historischen) Kunstbegriff. Seine eigene Bildpraxis im Medium der Fotografie galt ebenfalls nicht – vielleicht im Unterschied zu seiner zeichnerischen Tätigkeit30 – einem künstlerischen Streben, sondern der Auseinandersetzung mit dem Bild als Erkenntnismedium, ja als Herausforderung an den Sehsinn, wie in den folgenden beiden Abschnitten noch gezeigt werden wird. 27 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 27. 28 Michel Foucault, Was ist Kritik?, Berlin 1992, 8 (Hervorh. d. Vf.). 29 D iesen Gattungen der Bildenden Kunst hat sich Koselleck in seinen Schrif ten gewidmet – häufig vermittelt über die fotografische Reproduktion. Auf die Fotografie als Medium geht er in seinen Texten nicht explizit ein. Exemplarisch seien für Kosellecks Verweis auf Gemälde genannt: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunf t der frühen Neuzeit, in: ders. (Hg.), Vergangene Zukunf t. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 9. Aufl. Frankfurt a. M. 2015, 17–37; für den Bezug zur Karikatur: Reinhart Koselleck, Daumier und der Tod, in: Gottfried Boehm/Karlheinz Stierle/Gundolf Winter (Hg.), Modernität und Tradition. Festschrif t für Max Imdahl zum 60. Geburtstag, München 1985, 163–178 und in Hinblick auf Denkmäler: Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstif tungen der Überlebenden, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität (Poetik und Hermeneutik, 8), München 1979, 255–276. 30 K oselleck wollte eine Kunsthochschule besuchen, dazu kam es jedoch nicht. Einige seiner Karikaturen wurden in einem Buch gesammelt herausgegeben, zu dem Max Imdahl ein kurzes Vorwort schrieb: Reinhart Koselleck, Vorbilder – Bilder, Bielefeld 1983.
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Insbesondere Kosellecks Studien zum politischen Totenkult hängen eng mit seinem Nachdenken über politische Sinnlichkeit zusammen. So sprach Koselleck im Rahmen dieser Untersuchungen bereits explizit – und lange vor dem Aufsatz aus den späten 1990ern – von »politischer Sinnlichkeit«.31 Im Rahmen seiner Studien zum politischen Totenkult wog Koselleck immer wieder die Vermittlungsund Ausdruckskraft von Leid zwischen Sprache und visuell rezipierbarem Denkmal ab: »Einen schmalen Ausweg kann nur die bildnerische Kunst öffnen: sie allein kann versinnlichen, was nicht mehr sagbar ist«.32 Das Potenzial der bildnerischen Kunst, Gefühle auszudrücken und zu vermitteln, die die Sprache nicht mehr fassen kann, hat Koselleck auf diese Weise immer wieder hervorgehoben. Dies war auch ein zentrales Motiv in seiner Hinwendung zu einer Form des Bildes, die gänzlich jenseits des materiellen Bildträgers lag: dem Traum. In seinem Aufsatz Terror und Traum widmete sich Koselleck eben jener Bildlichkeit und sprach sich für ihren Quellenwert für die Geschichtswissenschaft aus. Träume, die von Häftlingen der Konzentrationslager niedergeschrieben worden waren, würden die Möglichkeit bieten, die synchronen Erfahrungen des Leids untersuchen zu können.33 Dabei war es gerade auch »das Verhältnis von Fiktion und Faktizität«, das Koselleck am visuellen Bild des Traums interessierte, da dieses Verhältnis – und hier sei erneut auf den Zusammenhang mit der Historik verwiesen – »nach der historischen Darstellung und ihrer Wiedergabe von Wirklichkeit« fragen ließ.34 Kosellecks universales Interesse an Bildlichkeit war aufs Engste mit seinen Erkenntnisinteressen in Hinblick auf die Historik, die Theorie historischer Zeiten und die Begriffsgeschichte verzahnt, das heißt Koselleck zeigte sich an grundlegenden Charakteristika von Bildlichkeit interessiert, um darüber jeweils spezifische Rückschlüsse auf seine geschichtswissenschaftlichen Theorien ziehen zu können. So waren das Bild und der Sehsinn auch mit Bezug auf den historischen Wandel für Koselleck doppelt besetzt: Einerseits waren sie es, die ihn auszulösen vermochten – so seine These im Aufsatz Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste –, andererseits ermöglichten sie als epistemische Instrumente die Erkenntnisse über eben jenen Wandel. Bekannt sind Kosellecks Thesen zum historischen Wandel mit Bezug auf sprachliche Begriffe, hier ging er davon aus, dass der Wandel der Sprache nicht »im Verhältnis 1:1« den Wandel der Geschichte abbilde.35 Ähn31 Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstif tungen, hier 260. 32 R einhart Koselleck Einleitung, in: ders./Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, 9–20, hier 20. 33 V gl. Reinhart Koselleck, Terror und Traum. Methodologische Anmerkungen zu Zeiterfahrungen im Dritten Reich [1989], in: ders., Vergangene Zukunf t, 278–299, hier 297. 34 Koselleck, Terror und Traum, 283. 35 R einhart Koselleck, Wiederholungsstrukturen in Sprache und Geschichte, in: Dutt (Hg.), Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, 96–116, hier 111.
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lich beschrieb Koselleck auch den Wandel der Bildmedien, die den Betrachter zu einer veränderten zeitlichen Rezeption zwangen: »Der Film, zeitlich determiniert, setzt den Betrachter unter einen erhöhten Druck sinnlicher Internalisierung«.36 Dieser Aussage entgegengesetzt konstatiert Koselleck aber auch, dass sich ein Wandel der Sinnlichkeit bzw. des Sehsinns einstellt, der wiederum historischen, politischen Wandel bedingt: »Wenn sich ein Wandel in der Wahrnehmung und Einschätzung bildlicher Gegenstände vollzieht – und das geschieht hier wie in allen Künsten –, dann ist das primär ein Vorgang der Rezeption«.37 Koselleck bleibt folglich unentschieden bzw. widersprüchlich in Hinblick auf die Ursachen für historischen Wandel: Mal spricht er den Bildern das Potenzial zu, die Wahrnehmung zu verändern, mal ist es die veränderte Wahrnehmung, die den Blick auf die Bilder umformt. Ein wichtiges Kriterium, das das Bild dafür prädestiniert, historischen Wandel auszulösen, ist nach Koselleck das allem Bildlichen – und insofern auch der sprachlichen Metapher – inhärente »Überschußpotenzial«, das sich der ursprünglichen Intention des Bilderzeugers »entzieht«.38 Die ideologische Prägung durch das sinnliche Angebot stritt Koselleck damit nicht ab, es gibt kein Entkommen, und dennoch unterstellte er der visuellen Sinnlichkeit sowohl im Ausdruck ihrer Formen als auch in ihrer Rezeption die Möglichkeit eines Wandels, denn »nicht nur die künstlerischen Produkte, sinnenfällig wie sie sind, [haben] ihre Geschichte […], sondern […] auch die Sinnlichkeit selber, aktiv oder rezeptiv, [kann sich] nur geschichtlich, und das heißt nur als veränderlich und veränderbar, artikulieren […]«.39 Damit rückt sein Nachdenken über politische Sinnlichkeit anhand des Bildes in direkten Zusammenhang mit seinen Untersuchungen zu Theorien von Zeitlichkeit und vor allem mit den Bedingungen für mögliche Geschichten, der Historik. Koselleck erwägt nämlich, dass es die unterschiedlichen Temporalitäten der Bilder und der Sinne sind, die Geschichte bedingen: »Der irreversible Zeitdruck, der sowieso schon auf der Rezeptionsfähigkeit der Sinne lastet, ruft dann einen unmittelbar leiblichen Zwang zur Veränderung hervor. Hier stoßen wir auf eine dem menschlichen Leib eingeprägte Endlichkeit, die mit der ekstatisch vorübergehenden Erfüllung einen Wandel evoziert – oder eine ritualisierbare Wiederholung. Wenn das zutrifft, stünden wir vor einer anthropologischen Alternative, die noch nicht hinreichend untersucht ist, die jedenfalls geeignet wäre, geschichtliche – langsame oder schnelle – Veränderungen auf ihre sinnlichen Voraussetzungen hin zu untersuchen.« 40 36 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 27. 37 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 27. 38 Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstif tungen, 274. 39 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 32. 40 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 33.
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Das Bild und der Sehsinn müssen nach Koselleck allerdings – um als Erkenntnismedium im Sinne der Historik zu dienen – aus dem Konglomerat der Sinne, die immer zusammenwirken, isoliert werden. Dazu seien besonders die Künste fähig,41 weshalb er sich mit ihnen auch intensiv beschäftigte – als Gegenstand der Geschichte und als Erkenntnismedium über Geschichte. Um den Sehsinn und das Bild als Erkenntnismedium nutzbar zu machen, wandte Koselleck spezifische Praktiken der Differenzierung und Relationierung an, die seine Bildpraxis, seinen auf historische Erkenntnis zielenden Umgang mit der Bildsammlung, charakterisieren.
3. Externe Differenzen als kritisches Instrument: Bildpraktiken des Vergleichens Kosellecks Bildkästen umfassen rund 30.000 Objekte, darunter befinden sich zum Großteil Fotografien.42 Neben geschenktem Bildmaterial besteht der größte Teil der Sammlung aus von Koselleck selbst aufgenommenen Fotografien. Die Fotografien, die Koselleck von jeweils einem ›Motiv‹ in Serie aufnahm, sortierte er nach topographischen, aber auch thematischen Stichworten in seine Bildkästen ein.43 Das Medium Fotografie, insbesondere seine kleine Handkamera, erlaubte ihm die schnelle ›Aufnahme‹ und vor allem wechselnde ›Einstellung‹ gegenüber dem zu fotografierenden Motiv. Der Sehsinn – so hatte es Koselleck in seinem Aufsatz Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste dargelegt – barg für ihn auch das Potenzial der kritischen Distanzierung: Der Standort und die (zeitliche) Perspektive bleiben in seinen Fotografien stets betont. Erkennbar wird damit eine Verhältnisbestimmung zum Gesehenen, die sich jeweils aus dem Akt der Wahrnehmung, dem Größenverhältnis sowie dem historischen Kontext ergibt. Koselleck hatte im Rahmen seiner Historik immer wieder betont, dass »die geschichtliche Erkenntnis […] standortbedingt und insofern relativ« ist.44 Der Fotoapparat verhalf Koselleck, Distanz zum Gegenstand der Wahrnehmung einzunehmen und die Standortbedingtheit von Wahrnehmung im fotografischen Bild markiert auszustellen. Betrachtet man Kosellecks in Serie aufgenommene Fotogra41 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 30. 42 V gl. für die Zusammenstellung der Bilderkästen: Adriana Markantonatos, Eine Fotohexerei. Einblicke in Reinhart Kosellecks Bildarchiv, in: Heike Gfrereis/Ellen Strittmatter (Hg.), Zettelkästen. Maschinen der Phantasie, Marbach a. N. 2013, 69–73. 43 Vgl. Markantonatos, Eine Fotohexerei, 69. 44 R einhart Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders./Wolfgang J. Mommsen/Jörn Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaf t, München 1977, 17–46, hier 19.
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fien, wie diejenigen, die er im Juni 2001 vom Karl-Marx-Monument in Chemnitz aufnahm (Abb. 1 a–c), so wird augenfällig, welch unterschiedliche Positionen und Perspektiven er wählte, wenn er, das Motiv umkreisend, fotografierte.45
Abb. 1 a–c: Reinhart Koselleck (Fotograf), Karl Marx Denkmal, Chemnitz, Juni 2001, 3 von 6 Fotografien, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg. 45 V gl. für die Besprechung von Kosellecks Fotografien des Karl-Marx-Monuments und vieler anderer seiner Serien in Hinblick auf das Einnehmen eines Standpunkts: Adriana Markantonatos, Er-Fahrungen. Eine Sichtung von Reinhart Kosellecks Bildnachlass aus kulturwissenschaf tlicher Perspektive, in: Locher/Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, 32–53, hier 44.
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Mal ist Karl Marx frontal zu sehen, mal von der Seite. Anstelle einer möglichst klaren und eindeutigen, ja fast schon idealen, Ansichtigkeit des Bildmotivs, zeigen Kosellecks Fotografien – wie etwa diejenigen von Karl Marx – das Motiv immer schon in der markierten ›Einstellung‹ des subjektiven Sehakts. Koselleck setzt die unterschiedlichen Standpunkte und Perspektiven, aus denen heraus er sich dem Bildgegenstand zuwendet, offensiv ins Bild. Es geht folglich gerade nicht darum, seine eigene, subjektive Position des visuellen Wahrnehmens zu verschleiern, sondern diese bleibt in seinen Fotografien ebenso thematisch sichtbar wie der Gegenstand der Wahrnehmung selbst. Kosellecks Fotografien folgen deshalb weniger einer repräsentationalen Logik, in der sie etwas anderes als sich selbst zeigen würden. Vielmehr thematisieren sie visuell selbstref lexiv die Form der Präsentation, indem der Blick des Fotografen, sein Standpunkt und seine Perspektive durch die extreme fotografische Einstellung im Bild sichtbar stehen bleibt. Doch nicht allein der Blick auf das Karl-Marx-Monument, sondern auch die mit ins Bild rückenden Kontexte verändern sich innerhalb der Serie: Mal sieht man den Marx’schen Kopf neben dem Blumenbeet, mal neben der Beschilderung eines Parkhauses und dann eben auch zusammen mit dem Kommunistischen Manifest.46 Marx wird damit im Bild immer wieder neu ins Verhältnis gesetzt – zu unterschiedlichen historischen Zeiten, aber auch zu den verschiedenen Facetten des situativen Kontextes des Monuments. Diese Form der kritischen Relationierung zeigt sich auch in den wechselnden Perspektiven der Fotografien: Am auffälligsten wird dies in der Fotografie, die Karl Marx aus extremer Untersicht zeigt. Hatte Koselleck im Rahmen seiner Historik unter Berufung auf Johann Martin Chladenius stets betont, »daß die einmal vergangene Wirklichkeit durch keine Darstellung mehr eingefangen werden könne[,] vielmehr sei sie nur in verkürzenden Aussagen rekonstruierbar«,47 so hält er mit der Kamera eben jene für seine Historik so zentrale »geschichtliche Perspektive«48 in ihrer Varianz fest. Diese zeigt sich vor allem in der Differenz und Relation zwischen den einzelnen Fotografien der Serie, zwischen den unterschiedlichen Perspektiven, Kontexten und Aufnahmestandpunkten. Apparat und Sehsinn vereint die ihnen zugeschriebene Eigenschaft der ›Distanz‹, die sich auch auf Kosellecks Bildpraktiken auswirkt: Einmal entwickelt, legte Koselleck die Fotografien nebeneinander auf einem Tisch aus, konnte sie also vermeintlich gleichzeitig – in Form des so entstandenen Tableaus – rezipieren. Auf diese Weise vermochte er sich anhand der ausgebreiteten, so diversen fotografischen Bilder, die jedoch ein und dasselbe Objekt zeigen, sinnlich vor Augen 46 V gl. Markantonatos, Geschichtsdenken, 277, mit Blick auf Kosellecks Fotografien des KarlMarx-Monuments 279. 47 Koselleck, Terror und Traum, 280. 48 Koselleck, Terror und Traum, 280.
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zu führen, was er zu einem Grundsatz seiner Historik erhoben hatte: »[D]ie historische Perspektive, die man von seinem jeweiligen Standort aus gewinnt, führt zu verschiedenen zeitlichen Tiefenbestimmungen dessen, was man beschreibt oder erzählt«.49 Man könnte hier im Sinne von Kosellecks These im Aufsatz Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste hinzufügen: und was man durch den Sehsinn wahrnimmt. Mit Hilfe des Sehsinns und des fotografischen Bildes konnte er sich der »pluralistisch gebrochen[en]« Geschichte der Wahrnehmung bewusst werden,50 als Erkenntnisinstrumente ermöglichten sie ihm, kritisch darüber zu ref lektieren. Mehr noch eröffneten ihm der Sehsinn und das fotografische Bild – beide als Distanzmedien verstanden – innerhalb seiner Praktik des Auslegens der Fotografien den Vergleich zwischen den unterschiedlichen Standorten und Perspektiven z. B. auf Karl Marx. Koselleck thematisierte die Praktik des Vergleichens selbst, als er betonte, dass (historische) Erfahrungen zwar »unaustauschbar« seien, sie sich wohl aber vergleichen ließen, »aber nur von außen«.51 Auch hier ist die Distanz, die dem Sehsinn und dem fotografischen Bild nach Koselleck inhärent ist, ein zentrales Charakteristikum, das das Vergleichen überhaupt erst ermöglicht. Die Praxis des Vergleichens benötigt immer Abstand, und zwar buchstäblich körperlichen, da ansonsten nicht mehrere Bilder gleichzeitig wahrgenommen werden können.52 Als Medium der Kritik und Erkenntnis wusste Koselleck den Sehsinn und das fotografische Bild daher immer wieder einzusetzen,53 indem er insbesondere das Ins-Verhältnis-Setzen unterschiedlicher Bilder zueinander und den vergleichenden Blick nutzte. Der ›distanzierte Blick‹, den der Sehsinn und das fotografische Bild ermöglichten, eröffnete Koselleck mithilfe von Praktiken des Vergleichens auch die kritische Ref lexion über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Hinblick auf verschiedene historische Zeiten. So hat ihm der vergleichende Blick, den er mit Bezug auf seine fotografische Bildersammlung einnehmen konnte, die Möglichkeit geboten, zwischen den Bildern Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Ähnlich49 R einhart Koselleck, Die Zeiten der Geschichtsschreibung, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, 287–297, hier 293. 50 Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, 17. 51 Koselleck, Vielerlei Abschied vom Krieg, 23. 52 Z u den körperlichen Voraussetzungen und Vollzügen des Vergleichens siehe Johannes Grave, Vergleichen als Praxis. Vorüberlegungen zu einer praxistheoretisch orientierten Untersuchung von Vergleichen, in: Angelika Epple/Walter Erhart (Hg.), Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, Frankfurt a. M. 2015, 135–159, hier 151. Vgl. zum vergleichenden Sehen auch den folgenden Band: Lena Bader/Martin Gaier/Falk Wolf (Hg.), Vergleichendes Sehen, München 2010. 53 V gl. für das Potenzial der Kritik im Medium Fotografie Michael Diers, Ereignis Bild. Fotografie, Politik und (Be-)Deutung, in: Locher/Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, 136–151, hier 149.
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keiten und Unterschiede verschiedener politischer Zeiten abzuwägen. Erkennbar wird eine Verhältnisbestimmung zum Gesehenen, die sich jeweils aus dem Akt der Wahrnehmung, dem Größenverhältnis sowie dem historischen Kontext ergibt. Im Nebeneinander der fotografischen Bilder einer Serie zeigt sich einmal mehr die Pluralität der Ansichtigkeit des Bildmotivs – etwa des Karl-Marx-Monuments. Der vergleichende Blick ist kein identifizierender, der sich auf ein Bild einlässt. Vielmehr benötigt er ref lexive Distanz zum Gesehenen.54 Kosellecks Fotografien bedingen eine Verhältnissetzung, im Sinne einer Relationierung und Differenzierung zwischen den einzelnen Ansichten, die sich in einer Serie bieten, aber auch zwischen dem Betrachter und den Bildern, indem diese nicht den empathisch-identifizierenden Blick einladen. Ein ähnlicher Befund ergibt sich bei der Betrachtung der fotografischen Serie, die Koselleck von Gerhard Marcks’ Bronzeplastik Der fröhliche Hengst (1963) im Jahre 2003 auf dem Platz vor dem Theater in Aachen aufgenommen hat (Abb. 2 a–d). Die Aufnahmen zeigen erneut, wie Koselleck die Skulptur umkreiste und sie aus unterschiedlichen Perspektiven sowie mit wechselnden Kontexten aufnahm. Auffällig ist eine Aufnahme, die die Pferdeskulptur direkt über einem Auto zeigt.55 Zwei Transportmittel, zwei Geschwindigkeiten treffen so auf einem Bildträger auf engstem Raum zusammen. Koselleck interessierte sich hier gerade im Vergleich zwischen verschiedenen Pferdedarstellungen und Reiterstandbildern unterschiedlicher Epochen für die sinnlichen Ausformungen. So zeugen zahlreiche Fotografien von Reiter- und Pferdedenkmälern sowie seine Sammlung von Pferdeminiaturen von Kosellecks intensiver Beschäftigung mit den historischen und sinnlich-ästhetischen Ausformungen des Pferdes. Dem Pferd sprach Koselleck eine besondere Rolle innerhalb der politischen Sinnlichkeit zu: Koselleck erklärte es zum Epochenmerkmal und sprach in seiner Rede zum Historikerpreis der Stadt Münster im Jahre 2003 von einem Vorpferde-, Pferde- und Nachpferdezeitalter.56 Das Pferd sei von unterschiedlichsten politischen Ideologien als Herr-
54 A uf das reflexive Moment des Vergleichens hat bereits Felix Thürlemann im Rahmen seines Konzepts des ›Hyperimage‹ hingewiesen: »Die dynamische, zwischen Teilen und Ganzem hin und her wechselnde Rezeption hat einen zusätzlichen Ef fekt, den man ›Prinzip der Distanzierung‹ nennen kann«. Felix Thürlemann, Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage, München 2013, 16. 55 I n ähnlicher Weise hat Koselleck im Rahmen seiner Aufnahmen an der Hohenzollernbrücke in Köln die Reiterstandbilder zusammen mit den vorbeifahrenden Zügen – vom Regionalexpress bis zum ICE – fotografiert, so dass das Pferd fast schon auf dem Zug zu schweben scheint. Darauf hat bereits Adriana Markantonatos hingewiesen: Markantonatos, Er-Fahrungen, 41. 56 R einhart Koselleck, Der Aufbruch in die Moderne oder das Ende des Pferdezeitalters, in: Berthold Tillmann (Hg.), Historikerpreis der Stadt Münster. Die Preisträger und Laudatoren von 1981 bis 2003, Münster 2005, 23–39.
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Abb. 2 a–d: Reinhart Koselleck (Fotograf), Plastik – Der fröhliche Hengst (Gerhard Marcks, 1963), Aachen, August 2003, 4 von 12 Fotografien, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg.
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schaftssymbol vereinnahmt worden.57 Diese Kontinuität konnte sich Koselleck vor allem im Vergleich seiner unterschiedlichen Fotografien in der Bildsammlung deutlich vor Augen führen. Jedoch konstatiert Koselleck in seinem Aufsatz auch einen Wandel, denn in der Moderne verliere das Pferd seine ökonomische und kriegerische Funktion.58 Doch dringe das Pferd dafür in trivialisierter Form, aber nicht weniger mächtig in den Freizeitbereich wieder ein. Ein beeindruckendes Zeugnis für Kosellecks Interesse am Vergleich der verschiedenen sinnlichen Ausformungen des Pferdes und des Reiters bietet seine über Jahrzehnte angelegte Sammlung dieses Motivs in Form einer Miniaturfigurensammlung, die so unterschiedliche Objekte wie Stofftiere, Glaskaraffen, Münzen, Weihnachtsdekoration oder chinesische Krieger umfasst (Abb. 3).
Abb. 3: Pferde- und Denkmal-Miniaturen aus Reinhart Kosellecks Sammlung.
Die Sammlung zeigt den Wechsel der Dimensionen, die die Wirksamkeit der politischen Sinnlichkeit ausmacht: Das Politische zeigt sich nicht nur durch Reiterstandbilder im Außenraum, sondern dringt medial vermittelt über Bilder und Kleinplastiken in den persönlichen Raum ein. Als kleines Miniaturpferd findet die politische Sinnlichkeit im alltäglichen Wohnraum ihren Platz, en miniature wird es Teil der persönlichen Umgebung. Von diesem Wandel der politischen Sinnlichkeit des Pferdes und des Reiters – hin zur Trivialisierung – zeugen nicht nur Ko57 Vgl. Koselleck, Der Aufbruch in die Moderne, 161. 58 Vgl. Koselleck, Der Aufbruch in die Moderne, 161.
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sellecks Fotografien, wie etwa diejenigen des Logos von Ferrari (Abb. 4 a, b), sondern auch die vielen Figurinen aus dem Freizeitbereich. Das Pferd als einstiges Herrschaftssymbol kehrt im Freizeitbereich der Moderne als Zeichen von symbolischem wie monetärem Kapital wieder zurück und entfaltet dort seine politische Wirksamkeit.59
Abb. 4 a, b: Reinhart Koselleck (Fotograf), Steigendes Pferd (Ferrari-Logo), Düsseldorf, April 2004, 2 Fotografien, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg.
Der kritische Sehsinn, der diese Kontinuitäten, aber auch den Wandel zu unterscheiden wusste, war dabei auf die Praktiken des Vergleichens angewiesen. Erst auf Basis der Relationierung unterschiedlicher Bilder und Artefakte konnte eine historische Erkenntnis gewonnen werden – die jedoch immer, wie Koselleck betonte, abhängig vom (vergleichenden) Blick des Betrachters blieb. 59 Vgl. Koselleck, Der Aufbruch in die Moderne, 161.
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4. Immanente Differenzen: Kosellecks relationaler Bildbegriff In seinem Aufsatz Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste betont Koselleck, dass er das Potenzial des Bildes, Gegenstand der politischen Geschichte sowie Erkenntnisinstrument über diese zu sein, nicht darin begründet sieht, dass es in einer einfachen Abbildhaftigkeit und Referenzialität von Geschichte aufgeht. Koselleck zielt folglich nicht darauf ab, die politische Dimension des Bildes allein daraus abzuleiten, ›was‹ es zeigt, wie es seit den 1980er Jahren Martin Warnke mit der Methode der politischen Ikonographie vorschlug.60 Stattdessen argumentiert Koselleck dafür, das Bild in seiner bildimmanenten Logik ernst zu nehmen und diese in den Deutungszusammenhang mit dem geistesgeschichtlichen Kontext zu setzen. Ein solcher Fokus auf das Bild als Erkenntnismedium von Geschichte impliziert, neben der Ebene des Dargestellten (was zeigt das Bild?) auch die Art und Weise der Darstellung (wie zeigt das Bild?) für die Frage nach seiner politischen Dimension ernst zu nehmen. Kosellecks universales Interesse an Bildlichkeit unterschiedlichster Gattungen, medialer Erscheinungsformen und Zeiten als Instrument historischer Erkenntnis findet eine gemeinsame Grundlage in seinem Fokus auf die bildimmanente Dif ferenz des Bildes, die es zu einem kritischen Erkenntnismedium werden lässt. Die bildlichen Ebenen, auf denen diese Form der Dif ferenz sichtbar wird, sind je nach Bildgattung unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen aber die sichtbare Vermittlung einer Heterogenität in der Einheit des Bildes, die Koselleck interessierte. Diese Heterogenität trägt Sorge dafür, dass das Bild immer auch ein »Überschußpotenzial«61 birgt, das über die jeweiligen politischen Ideologien hinausgeht – und letztlich auch den Moment der Kritik und des Wandels eröffnet. Koselleck hob diese bildimmanente Differenz, die zu einer Distanzierung des Betrachters führt und damit durchaus auch eine politische Kritikfähigkeit ermöglicht, insbesondere am Medium der Karikatur hervor. Er zeichnete selbst und hielt auf diese Weise seine Kommilitonen, später auch seine Kolleginnen und Kollegen im Bild fest. Die so entstandenen Zeichnungen wurden 1983 im Eigenverlag herausgegeben.62 Niemand Geringeres als der Kunsthistoriker Max Imdahl, mit dem Koselleck über die Forschergruppe Poetik und Hermeneutik in engem Austausch stand,63 schrieb ein kurzes Vorwort zu den Zeichnungen, in dem er das besondere Charakteristikum der Karikatur als Bild hervorhob: »Als zeichnerisch übertreibende Form ist die Karikatur unmittelbar sichtbar wie jede Zeichnung 60 Vgl. Locher, »Politische Ikonologie«, hier 16. 61 Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstif tungen, 274. 62 Koselleck, Vorbilder – Bilder. 63 Vgl. dazu Markantonatos, Geschichtsdenken, 424 f f.
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oder wie jedes Bild. Aber gleichzeitig bezieht sich die Karikatur auf etwas, wovon sie abweicht und was sie gerade nicht unmittelbar sichtbar macht«.64 Es ist diese im Bild aufscheinende Differenz, die Imdahl hier hervorhebt, die Koselleck auch an den Karikaturen Honoré Daumiers interessierte und die er zum Schlüssel seiner Analysen dieser Zeichnungen werden ließ. So hebt er an der Karikatur Les honneurs du Panthéon (Abb. 5) hervor, dass hier die tagespolitischen, aktuellen Köpfe der Politiker im Kontrast stehen zu den ikonographisch gefestigten Zeichen der Dauer, sprich dem Panthéon.65
Abb. 5: Honoré Daumier, Les Honneurs du Panthéon, in: La Caricature, 23. Februar 1834, Lithografie, 26 × 22,4 cm.
64 Max Imdahl, Vorwort, in: Koselleck, Bilder – Vorbilder, o. S. 65 V gl. Koselleck, Daumier und der Tod, 67 f. Siehe dazu auch Britta Hochkirchen, Bildzeiten des Ereignisses. Reinhart Koselleck und das fotografische Bild, in: Rundbrief Fotografie 26 (3/2019, N. F. 103), 25–35.
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Koselleck bemerkt folglich, dass damit auch eine rein temporale Differenz in der Karikatur ersichtlich wird: »Gerade in der Differenzbestimmung zwischen den Zeichen von dauerhaften Anspruch und der Unüberbietbarkeit einmaliger Handlungen und Leiden, die gezeigt werden, kommt die Karikatur zu ihrer Wirkung.«66 Koselleck betont die bildimmanente Differenz als eine bildliche Relationierung gleich mehrmals, da damit die sinnliche Kritik und Distanz zum Gesehenen ihren Ausgangspunkt nimmt: »Der kritische Effekt der Karikatur gründet also in einer mehrschichtig und wechselseitig sich entlarvenden Zeichensprache. […] Was bildlich auf einer Ebene zusammengehalten wird, schafft ein provokatives Mißverhältnis-Element der Karikatur«.67 Das kritische Potenzial des Bildes und des Sehsinns gerade in der Qualität des Ins-Verhältnis-Setzens zu sehen, lässt den Austausch und die Kenntnis von Max Imdahls Bildbegriff deutlich werden.68 Imdahl erklärte das Bild zu einer »Anschauungseinheit«,69 die gerade dadurch ihr künstlerisches und vor allem sprachungebundenes Potenzial eröffne, dass sie immanente Relationen zwischen differenten Eigenschaften aufweise: »Dieses Bildganze macht sich in jeder Relationierung von Verschiedenem oder gar Widersprüchlichem bemerkbar, insofern es das je Verschiedene oder Widersprüchliche als dialektisch vermittelte Einheit aufweist und damit in jedweder Relation die simultane und spannungsvolle Bildtotalität anschaubar werden läßt«.70 Es ist gerade diese immanente Relationalität, die auch Koselleck für das Bild konstatiert und von ihm zum Movens für die Distanz- und damit Kritikfähigkeit des Auges erklärt wird: »Das Auge muß Distanz wahren, um etwas sehen zu können.«71 Gottfried Boehm, der mit Max Imdahl in engem Austausch stand, hat 66 D er Aufsatz Daumier und der Tod erschien in einer Festschrif t, die Max Imdahl gewidmet ist. Koselleck, Daumier und der Tod, 166. Vgl. zu dieser »Diskrepanz« der Form: Werner Busch, Das Ende der klassischen Bilderzählung, in: Michael Fehr/Stefan Grohé (Hg.), Geschichte – Bild – Museum. Zur Darstellung von Geschichte im Museum, Köln 1989, 127–165, hier 160. 67 Koselleck, Daumier und der Tod, 167. 68 V gl. dazu auch den grundlegenden Aufsatz von Adriana Markantonatos, Absatteln der ›Sattelzeit‹? Über Reinhart Koselleck, Werner Hofmann und eine kleine kunstgeschichtliche Geschichte der Geschichtlichen Grundbegrif fe, in: Forum Interdisziplinäre Begrif fsgeschichte 7 (H. 1/ 2018), 79–84. 69 M ax Imdahl, Giotto. Arenafresken. Ikonographie. Ikonologie. Ikonik (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste, 60), München 1980, 26. Vgl. zu Kosellecks Auseinandersetzung mit Imdahls Ikonik und deren Hervorhebung der Zeitstruktur des Bildes: Markantonatos, Geschichtsdenken, 424–434. 70 Imdahl, Giotto. Arenafresken, 108. 71 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 26.
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diese bildimmanente Relationalität als »ikonische Differenz«72 beschrieben, die auf dem »Kontrast[] zwischen kontinuierenden Momenten und diskreten Elementen« beruhe.73 Es ist nicht verwunderlich, dass Gottfried Boehm Wortführer der ikonischen Wende war, die er in den 1990er Jahren als sprachungebundene Form der Sinnerzeugung postulierte. Boehm war es auch, der die differenten Temporalitäten betonte, die im Bild zusammenkommen; er sprach deshalb von einem Bild als »Ereignis«: »Es [das Bild, Anm. d. Vf.] umfasst nicht nur visuelle, verschränkt lesbare Kontraste zwischen Figur und Grund, sondern impliziert den Raum der Geschichte. Denn alle Bestimmungen, die ins Bild einfließen, nicht lediglich Ikonographie bzw. Ikonologie oder Form und Stil entstammen einer in der Historie und in der Kultur vollbrachten Arbeit«.74 Die Temporalität des ›stehenden‹ Bildes tritt folglich gerade durch seine bildimmanente Differenz zutage. Im Bild treffen verschiedene Temporalitäten und Indices von Geschichte zusammen, allerdings nur, wenn man nicht allein auf die Ebene des Dargestellten achtet, sondern auch die Ebene der Darstellung ernst nimmt. Die sich so im Bild darbietende »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«,75 die Koselleck in seiner Theorie der historischen Zeiten so sehr interessierte, ist mit der ikonischen Differenz zu einem Grundprinzip des Bildes erklärt worden. Dass Koselleck das Bild und die visuelle Sinnlichkeit in Hinblick der immanenten – und damit kritischen – Differenz zur Kenntnis nahm und gerade diese interne Relationalität als erkenntnisleitend ansah, zeigen seine Schriften, die sich mit dem Bild bzw. mit visueller Sinnlichkeit auseinandersetzen. Paradigmatisch hierfür steht seine Bezugnahme auf Albrecht Altdorfers Gemälde Alexanderschlacht (1528–1529, Alte Pinakothek, München) in seinem Aufsatz Vergangene Zukunf t der frühen Neuzeit. Um im Verlauf des Aufsatzes die These einer »Verzeitlichung der Geschichte« in der Neuzeit nachzuweisen,76 benutzt Koselleck seine 72 G ottfried Boehm, Ikonische Dif ferenz, in: Rheinsprung 11 (H. 1/2011), 170–176, hier 171. Eindrücklich hat Boehm diesen bildimmanenten Kontrast in vielen seiner Schrif ten dargelegt, vgl. etwa Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994, 11–38, hier 22. 73 Boehm, Ikonische Dif ferenz, 171. 74 B oehm, Ikonische Dif ferenz, 173. Boehm hat schon früh in seiner Karriere über Zeit und Bild nachgedacht, durch die Gruppe Poetik und Hermeneutik und Imdahls ähnlichen Ansatz war Koselleck mit diesen Überlegungen vertraut. Vgl. für Boehm auch: Gottfried Boehm, Bild und Zeit, in: Hannelore Paflik (Hg.), Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaf t, Weinheim 1987, 1–23. 75 Reinhart Koselleck, Einleitung, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, 9–18, hier 9. 76 Koselleck, Vergangene Zukunf t der frühen Neuzeit, hier 19.
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Erläuterungen zum Gemälde als Rahmen seiner Ausführungen, um daran den im Bild sichtbaren, also sinnlich wahrnehmbaren, Anachronismus nahezu wortwörtlich ›vorzuführen‹.77 Mit Blick auf die im Bild dargestellten Reiter macht Koselleck auf eine temporale Differenz aufmerksam: Die Reiter, lebend dargestellt, tragen bereits Todeszahlen als Ziffern auf den Fahnen.78 Leben und Tod sind in der Gleichzeitigkeit der bildlichen Darstellung, aber durch die Differenz zweier Darstellungsweisen – Ziffern und bildliche Darstellung – miteinander verschränkt. Aber auch bezüglich der Denkmäler und des sich wandelnden Totenkults konstatierte er mit Blick auf sichtbare Differenzen in der Einheit des visuellen Angebots das Zusammentreffen von Wiederholungen mit neuen Elementen. Diese Koppelung war dann auch ausschlaggebend für seine Deutung für den gesellschaftlichen Kontext des Denkmals: »Die Ikonographie und die ästhetische Gestalt der Denkmäler lassen sich nicht zur Gänze auf ihre situativen Entstehungsbedingungen zurückführen. Sie haben ihre eigene Geschichte, ihre Wiederholungen enthalten andere zeitliche Rhythmen als die der Ereignisabläufe, deren Ergebnisse von Denkmälern einmal für immer festgesetzt werden sollen«.79 Und dennoch hob Koselleck immer wieder in Hinblick auf das Denkmal und die »Todessymbole«80 hervor, dass jede Rezeption auch Wiederholungen enthalte.81 Diese immanente Differenz im sinnlichen Angebot des Denkmals zeugt von einer Parallele zu Kosellecks Überlegungen zur Sprache und der »zeitliche[n] Binnenstruktur« von Begriffen, die stets anders ausfällt als die Ereignisse, »die sie auslösen helfen oder die sie erfassen sollen«.82 Diese temporale Binnenstruktur der Sprache – und des Bildes – ist die Grundlage für Kosellecks Verständnis der Differenz zwischen den verschiedenen »temporale[n] Strukturen« der sinnlichen Darstellung und dem vorausgegangenen oder folgenden Ereignis.83 Kosellecks These in seinem Aufsatz Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste, die besagt, 77 A uf Kosellecks Bezugnahme auf Albrecht Altdorfers Alexanderschlacht ist bereits verwiesen worden: Peter Geimer, Photography as a ›Space of Experience‹. On the Retrospective Legibility of Historic Photographs, in: Getty Research Journal 7 (2015), 97–108 und Locher, Denken in Bildern, hier 267 f. 78 Koselleck, Vergangene Zukunf t, 17 f. 79 Koselleck, Einleitung [Der politische Totenkult], hier 10. 80 Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstif tungen, 275. 81 Koselleck, Einleitung [Zeitschichten], 14. 82 R einhart Koselleck, Sprachwandel und Ereignisgeschichte. Die Geschichte der Begrif fe und Begrif fe der Geschichte, in: ders., Begrif fsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2010, 32–55, 45. 83 Vgl. Koselleck, Sprachwandel und Ereignisgeschichte, 41.
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dass geschichtliche Veränderungen auf sinnlichen Voraussetzungen beruhen,84 basiert folglich auf diesem Verständnis des Verhältnisses von sinnlicher Darstellung und geschichtlicher Wirklichkeit. Kosellecks Interesse an dieser Differenz zeigt sich darüber hinaus an seinen fotografischen Aufnahmen von öffentlichen Ereignissen, die im Fernsehen übertragen wurden und auf diese Weise in seinen Privatraum eindringen.85 Unter solchen Fotografien finden sich auch fünf Aufnahmen der Fernsehübertragung von einer Kranzniederlegung am Denkmal für die Vertriebenen in Ungarn (Abb. 6 a, b).86
Abb. 6 a, b: Reinhart Koselleck (Fotograf), Fernsehbilder einer Kranzniederlegung am Denkmal für die Vertriebenen, Ungarn, 26. Februar 1997, 2 von 5 Fotografien, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg. 84 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 27 und 33. 85 Vgl. hierzu Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 25. 86 Vgl. Hochkirchen, Bildzeiten des Ereignisses, 31–33.
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Die Fotografien sind unten rechts mit dem exakten Datum der Aufnahme versehen: 26.02.1997. Koselleck hat die f ließende Temporalität des Films, der er in Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste die Erzeugung eines erhöhten Zeitdrucks zuschreibt,87 zu einzelnen fotografischen Bildern ›festgestellt‹. Das Auffällige an Kosellecks Fotografien ist jedoch, wie sehr sich in ihnen das Fernsehbild vom Ereignis der Kranzniederlegung mit dem Bild des räumlichen Kontextes verbindet. Anders gesagt: Anstatt das Bild des Ereignisses möglichst groß und deutlich aufzunehmen, bleibt Koselleck als Fotograf auf Distanz zu diesem Bild, indem auch das bildgebende Medium, das Fernsehgerät, sowie der Privatraum mit erkennbar angeschnittenen Möbeln und einem Regal mit anderen Bildern – darunter ein reproduzierter Scherenschnitt einer lesenden Frau – einen Großteil der Bildf läche einnehmen. Dadurch wird die ritualisierte »Wiederholung« der Kranzniederlegung mit einem anderen Kontext bzw. mit anderen Bildkulturen wie etwa dem Scherenschnitt verbunden. Diese Verschränkung unterschiedlicher Räume, Zeiten, aber auch bildlicher Zeichenhaftigkeit (Fernsehbild vs. Scherenschnitt) bleibt im Bild jedoch nicht unmarkiert, im Gegenteil: Die bildimmanenten Rahmungen, die durch das Fernsehgerät und die Bilder im Bild gegeben sind, unterstreichen diese Differenz in der Einheit des Bildes der Fotografie. Es ist diese Art von Ref lexivität, die Koselleck dem Bild als Relationseinheit zuschreibt, die eine Kritik ermöglicht, die im immer schon distanzierten Sehsinn angelegt ist. Statt immersiver, identifikatorischer Rezeption löst ein solches Bild eine ref lexivkritische Haltung beim Rezipienten aus: Es stellt den Betrachter anders ein. Die mediale Vermitteltheit von Ereignissen, die immer mehr oder weniger ist als das Ereignis selbst, wird von Koselleck auch in seinen Fotografien festgehalten. Kosellecks Interesse am Bild, sein Verständnis vom Bild als Relationseinheit, war nicht allein auf die Wiedererkennbarkeit konzentriert. Die Durchsicht seiner Bildkästen führt hingegen vor Augen, dass Koselleck auch die Fotografien aufbewahrte, die keine klare, eindeutige Wiedergabe und Erkennbarkeit des Referenten boten. Ein solches Beispiel ist eine Fotografie aus dem Jahr 2003, die sein Sohn Felix Koselleck ihm überließ: Sie zeigt das Gemälde von Jacques-Louis David Bonaparte gravissant le Saint-Bernard aus dem Jahr 1801, das heute im Belvedere in Wien auf bewahrt wird (Abb. 7). Die Fotografie dieses Gemäldes ist zwar so aufgenommen, dass nur das eigentliche Bild, nicht aber der Rahmen sichtbar wird. Dennoch zeugt diese Fotografie von einer hohen Medienref lexivität, indem sie mit der Vorstellung einer bildlichen Unmittelbarkeit durch die Unschärfe und das ref lektierende Licht bricht.88 Koselleck beließ diese fotografischen Aufnahmen in seinen Bildkästen, gemeinsam 87 Vgl. Koselleck, Politische Sinnlichkeit, 27. 88 J örg Probst hat bereits auf das Phänomen der Unschärfe in Kosellecks Bildsammlung, auch in Hinblick auf die Fotografie des Gemäldes von Jacques-Louis David, hingewiesen. Jörg Probst,
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Abb. 7: Felix Koselleck (Fotograf), Bonaparte gravissant le Saint-Bernard (Jacques-Louis David, 1803), Wien, Belvedere, 2003, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg.
mit Aufnahmen, die zwar keine Unschärfe, aber extreme Perspektiven aufwiesen, dann aber auch Postkarten, die eine ideale Ansicht des Dargestellten boten.89 In der Sichtbarkeit der Operation der Darstellung und der Vermittlung, also in der ausgestellten und markierten Medialität, sah Koselleck die Möglichkeit der Distanznahme und Kritikfähigkeit gegenüber dem Gesehenen. In den sichtbaren, technischen Fehlern, die sich in die Fotografie durch Überbelichtungen und Unschärfen eintragen, wird das Medium Fotografie selbst sichtbar:90 Hier wird eben gerade nicht eine ideale Ansicht des Dargestellten, des Referenten, geboten, sondern das Medium der Vermittlung macht auf seine Rolle des Zeigens und ZuIkonologie und Prognose. Unschärfe in der Bildsammlung Reinhart Kosellecks, in: Locher/ Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, 70–83, hier 70–73. 89 Siehe für diese Beobachtung Probst, Ikonologie und Prognose, 72. 90 V gl. für diese These den Aufsatz von Peter Geimer, Was ist kein Bild? Zur ›Störung der Verweisung‹, in: ders. (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaf t, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M. 2002, 313–341.
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Sehen-Gebens aufmerksam und bringt den Rezipienten damit in eine ref lektierte Position des Betrachtens.91 Dies ist besonders erstaunlich beim Medium der Fotografie, war dieses doch seit seiner Erfindung zu Beginn des 19. Jahrhunderts als ein Medium der Transparenz gefeiert worden, indem es quasi ohne Störung auf rein technischem Wege den Referenten zeige. Noch Fototheoretiker wie Roland Barthes priesen mit der Berufung auf die Indexikalität der Fotografie deren ungebrochene Referenzialität auf eine außerbildliche Wirklichkeit. Fotografie und Wirklichkeit fallen in Barthes Argumentation fast schon in eins, wenn er konstatiert, dass »sich eine […] Photographie nie von ihrem Bezugsobjekt (Referenten; von dem, was sie darstellt) unterscheiden« lasse.92 Ein solches Zusammenfallen musste Kosellecks Bildverständnis widerstreben, das viel stärker auf Differenzmarkierungen setzte und vor allem die Bildebene von einer Wirklichkeitsebene stets getrennt sehen wollte, um so die Möglichkeit der Distanzierung einzuführen. Gottfried Boehm hat – in Rückgriff auf Arthur C. Danto – im Sinne der Relevanz einer Bildkritik hervorgehoben, dass einer Auffassung vom Bild als transparentem Abbild jegliches Bildverständnis verloren gehe, ja eine solche Auffassung sogar, zugespitzt, ikonoklastisch sei.93 Ein solches Verständnis begreift das Bild nicht als kritisch bzw. nicht different zu dem, was es zeigt. Boehm indes befürwortet eine Auffassung vom Bild, das die eigene Materialität und Medialität markiert und auf diese Weise auch eine Differenz zur außerbildlichen Wirklichkeit ins Bild setzt. Koselleck behält in seiner Sammlung entsprechend eine unscharfe Fotografie wie diejenige von Davids Gemälde, in der sich nicht nur das Referenzobjekt (nämlich das Gemälde) zeigt, sondern gleichzeitig auch die Situation des Fotografen per Lichtkegel und Unschärfe in das Bild miteinträgt.94 Auf diese Weise wird die Differenz zwischen Dargestelltem und Darstellung einmal mehr bildimmanent thematisiert. Ein Bild, das diesem Bildverständnis folgt, beruft sich nicht auf Unmittelbarkeit, Nähe und Identifikation, sondern auf ref lexive Distanz und Kritikfähigkeit. Diese war Koselleck besonders wichtig in Hinblick auf das Bild und dessen Rolle für die politische Sinnlichkeit. Die bildimmanente Relationalität bot die Ausgangsmöglichkeit für den distanzierten Sehsinn – für die Distanz zwischen Leib und Außenwelt, eine Distanz, die Ref lexion und Kritik versprach. 91 P eter Geimer hebt in seinem Aufsatz über Kosellecks Umgang mit Fotografie hervor, dass dessen Interesse an diesem Medium mit der von Siegfried Kracauer hervorgehobenen »temporal incongruence« in Verbindung stehe. Geimer, Photography as a ›Space of Experience‹, 103. 92 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M. 1989, 13. 93 B oehm, Die Wiederkehr der Bilder, 16 f. Gottfried Boehm, Die Lehre des Bilderverbots, in: Birgit Recki/Lambert Wiesing (Hg.), Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, München 1997, 294–306, hier 296. 94 Vgl. hierfür Probst, Ikonologie und Prognose, 71.
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5. Kritik der Sinnlichkeit Koselleck betonte die Verführbarkeit durch den Sehsinn, aber eben auch die Potenziale der Kritik, die diesem Sinn und auch Bildern eingeschrieben sind. In seinen Schriften sprach er deshalb von dem Sehsinn als Distanzsinn, der zwischen Subjekt und Objekt unterscheidet. In Hinblick auf das Bild beschrieb er immer wieder die bildimmanenten Differenzen, die die Möglichkeit von Kritik eröffneten. Aufs Engste verwoben mit dieser theoretischen Auseinandersetzung mit dem Sehsinn zeigt sich Kosellecks Bildpraxis: das Fotografieren und Karikieren, aber vor allem auch das Vergleichen und auf diese Weise Ordnen seiner umfangreichen Bildersammlung. Dabei spielten Differenzen – zwischen Bildern und Artefakten, aber auch bildimmanente Relationen – eine wichtige Rolle, der er durch Praktiken des Vergleichens gewahr wurde. Wie sehr sich Koselleck auch für das Nebeneinander unterschiedlicher Darstellungen (auch im Sinne von Motivtraditionen) interessierte, verrät seine Sammlung von Napoleon-Darstellungen: ob in einer Werbung für Möbel, in der eine Napoleon-Figur homogen in das Interieur integriert wird, oder in einer Anzeige für Whiskey, die mit der Napoleon-Geste lockt.95 Napoleon wird als Schnittstelle zwischen öffentlicher Politik und häuslichem Innenraum gewertet. Während die Bilder der Werbung jedoch für sich eine unkritische Betrachtung einfordern, zeugt die Fotografie des Gemäldes von David von einem Blick auf Napoleon, der nicht mehr ungebrochen ist. Der Sehsinn sowie das Bild blieben Ausgangspunkt und Explorationsfeld für Kosellecks Grundannahmen einer auf sinnlicher Wahrnehmung beruhenden Politik und Historik.
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95 D ie beiden von Koselleck aufbewahrten Werbeanzeigen finden sich heute im Bildnachlass Reinhart Koselleck, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Mappe 77.
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Abbildungsnachweis Abb. 1 a–c; 2 a–d; 4 a, b; 6 a, b; 7: © Bildarchiv Foto Marburg/Foto: Reinhart Koselleck. Mit freundlicher Genehmigung der Erbengemeinschaft Reinhart Koselleck. Abb. 3: Foto: Philipp Ottendörfer. Abb. 5: Reinhart Koselleck, Daumier und der Tod, in: Gottfried Boehm/Karlheinz Stierle/Gundolf Winter (Hg.), Modernität und Tradition. Festschrif t für Max Imdahl zum 60. Geburtstag, München 1985, 163–178, 168.
Fotografische Auseinandersetzungen mit Reinhart Kosellecks Bild-Wissenschaft Im Rahmen eines Kooperationsseminars zwischen der Universität Bielefeld und der FH Bielefeld zum Thema »Fotografie und Zeit« im Wintersemester 2017/18 untersuchten Studierende der Geschichtswissenschaft sowie des Fachbereichs Gestaltung theoretische Konzepte zur Zeit, Erinnerung und Geschichte und deren Verbindungen und Verf lechtungen mit dem Medium Fotografie. Ausgehend von Kosellecks Bildpraxis setzten sich Studierende des Fachbereichs Gestaltung fotografisch mit Kosellecks geschichts- und bildtheoretischen Konzepten auseinander. Die daraus hervorgegangenen fotografischen Arbeiten trugen sich in Form von Interventionen als neue »Zeitschichten« in die drei Ausstellungsorte ein, so dass neue Bezüge, aber auch Irritationen in der Ausstellung wahrnehmbar wurden. Für die produktive Diskussion sei besonders Prof. Axel Grünewald gedankt, der das Seminar aufseiten der FH Bielefeld geleitet hat.
Patrick Fäth, Processing 1–4, 2018, Luminogramme, Silbergelatine-Prints, 30 × 40 cm. Abbildung: © Patrick Fäth.
Simon Grunert, »Historisches Museum Bielefeld« aus der Serie »Recherchen«, 2017, Projektion auf Museumssockel, 45 × 30 cm. Abbildung: © Simon Grunert.
Lukas Heibges, uni-verse, 2018, Still aus Dreikanal Videoinstallation, 2:34 min (loop), Größe variabel. Bildvorlagen: Universität Bielefeld (Manfred Kettner / Walter Blohm) / Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld. Abbildung: © Lukas Heibges.
Dino Koster, »3«, 2018, Still aus der dreiteiligen digitalen Video-Projektion auf schwarzer Leinwand. Abbildung: © Dino Koster.
Alina Medvedeva, Ars Longa, 2018, Fotografie. Abbildung: © Alina Medvedeva.
Morgane Overath, courte durée, 2018, 25 Luminogramme mit zugeordneten Zeitcodes in Bilderrahmen hinter Glas, 24 × 30 cm in je 5 Reihen und 5 Spalten als Tableau. Abbildung: © Morgane Overath.
Spuren der Geschichte im Bild Zum Interesse der Kunstgeschichte am politischen Bild in Kosellecks Umfeld Hubert Locher Abstract Reinhart Kosellecks Verlagerung des Interesses Mitte der 1990er Jahre von der sprachlichen zur bildlichen Semantik lässt sich als Konsequenz eines in seiner zurückliegenden Arbeit angelegten Interesses sehen. Dieses steht im Kontext einer umfassenderen Wendung zum Bild in der Kunstgeschichte unter dem Stichwort ›pictorial turn‹, der um 1993/94 fast zeitgleich von dem amerikanischen Sprach- und Kulturwissenschaftler W. J. T. Mitchell und dem deutsch-schweizerischen Kunsthistoriker Gottfried Boehm angezeigt wurde. Koselleck ist jedoch lange zuvor auf das Bild gekommen. Sein Interesse, das zu jenem produktiven Kontakt mit Martin Warnke und dem Hamburger Warburg-Haus führte, ist auch im Rahmen einer Konvergenzbewegung zwischen Kunstgeschichte und Geschichte seit den 1960er Jahren zu sehen. Beide Disziplinen folgen ihrer eigenen Agenda, wobei sich dort die Möglichkeit der Verbindung aufdrängt, wo es um die Untersuchung des Bildes als politischen Ausdrucksträgers geht.
1. Kosellecks Interesse am (politischen) Bild Kosellecks Interesse am Bild, an der Kunst und am Gespräch mit Kunsthistorikern ist früh belegt, unter anderem durch Zeichnungen, die er 1948 etwa vom Heidelberger Kunsthistoriker Walter Paatz anfertigte, in dessen Vorlesung er saß – es muss eine Vorlesung mit Diaprojektion gewesen sein, wie unschwer an der angedeuteten Beleuchtungssituation erkennbar ist (Abb. 1). Diese und weitere karikierende Porträtzeichnungen aus den Studentenjahren zeigen einen geübten Strich und belegen Kosellecks erhebliche Begabung zur Erfassung des Visuellen.
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Abb. 1: Der Kunsthistoriker Walter Paatz in der Vorlesung, Heidelberg, April 1948, Zeichnung von Reinhart Koselleck.
Im Überblick eines langen, produktiven Gelehrtenlebens müsste man dieses Interesse vielleicht nicht zu stark gewichten. Denn als Wissenschaftler war Koselleck über die weitesten Strecken seiner Karriere ein Mann der Theorie, des Begriffs. Theorie ist aber, wie Hans Blumenberg einmal pointiert angemerkt hat, »etwas, was man nicht sieht«.1 Epochal wirkte Koselleck als Theoretiker der Geschichtswissenschaft, als Begriffshistoriker, als Historiker, der über Wörter, ihre Geschichte und ihre Bedeutung in ihrer Verwendung nachgedacht hat. Dies wurde sein besonderes Feld, seit ihm die Co-Herausgeberschaft und Redaktion der Geschichtlichen Grundbegrif fe übertragen wurde. Müßig zu fragen, ob er sich diesen Bereich frei ausgesucht hätte. Es bot sich die Gelegenheit und er war nicht in der Lage abzulehnen. Das Projekt sollte ihn jedenfalls bis in die 1990er Jahre stark beanspruchen und auch binden. Dann aber forderte jenes alte Interesse am Bild mit Macht sein Recht ein. 1 H ans Blumenberg, Theorie als exotisches Verhalten, in: ders., Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt a. M. 1987, 9–12, hier 9.
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Besonders in einer Reihe von Studien zum Denkmal, zum Kriegerdenkmal sowie zum Totenkult kommt das Bild ins Spiel. Dass gerade das Kriegerdenkmal und überhaupt das Denkmal in den Vordergrund rückte, hat offensichtlich mit Kosellecks eigener Kriegs- und Überlebenserfahrung zu tun. Das Kriegerdenkmal erinnert den Kriegsteilnehmer an sein Überleben und daran, dass er auch tot sein könnte, und so ist unweigerlich eine Auseinandersetzung mit dem persönlichen Schicksal damit verbunden. Das Denkmal ist ein Mal, eine Mahnung. In der Regel ist es mit einer schriftlichen Botschaft verbunden und es ist als öffentliches Zeichen unweigerlich politisch. In einem abstrakten Sinn ist es damit auch stets ein Bild. Nicht zuletzt ist es mit dem Tod verbunden, oft mit dem gewaltsamen Tod aus irgendeinem Anlass, dessen Bedeutung für die Gegenwart der Überlebenden gesichert werden soll.2 Neben dem Denkmal ist es unter den Bildern die Karikatur, die Koselleck seit jeher interessierte. Bereits in den 1980er Jahren gibt es hier eine Publikation zu verzeichnen, die im Zusammenhang mit einer Bielefelder Ausstellung über den französischen Maler und Lithographen Honoré Daumier entstand, die unter der Leitung des Romanisten André Stoll realisiert wurde. Zum Katalog steuerte Koselleck einen Text über »Tod und Töten bei Daumier« bei.3 Es spricht für den Stellenwert, den er diesem Text beimaß, dass er ihn noch im gleichen Jahr in der Festschrift zum 60. Geburtstag seines Freundes, des Bochumer Kunsthistorikers Max Imdahl erneut abdrucken ließ.4 Honoré Daumier hat sich bekanntlich mit vielerlei befasst, gewiss auch mit dem Tod. Jedenfalls kennt man ihn aber als Künstler mit klarer politischer Orientierung, der seine Karikaturen kontinuierlich in den politischen Diskurs einspeiste. Diese Andeutungen mögen hier vorerst genügen, um die These zu belegen, dass Kosellecks in den 1990er Jahren auch in der eigenen Arbeit in den Vordergrund rückendes Interesse am Bild mit der Rolle zu tun hat, die es nach seiner Überzeugung im politischen Diskurs einnehmen kann. Der Zeitpunkt von Kosel2 D ie Literatur zum Denkmal ist unübersehbar und disparat. Die besondere politische Dimension des Visuellen hat in jüngster Zeit, nicht zuletzt im Fahrwasser der Arbeiten Kosellecks, auch von Historikerseite Aufmerksamkeit gefunden. Zum politischen Denkmal vgl. z. B. Biljana Menkovic, Politische Gedenkkultur – Denkmäler. Die Visualisierung politischer Macht im öffentlichen Raum (Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte, 12), Wien 1999. Zur Besetzung des öffentlichen Raumes mit Denkmälern Rudolf Jaworski/Peter Stachel (Hg.), Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich, Berlin 2007. 3 A ndré Stoll (Hg.), Die Rückkehr der Barbaren. Europäer und »Wilde« in der Karikatur Honoré Daumiers (Ausst.-Kat. Kunsthalle Bielefeld, Wilhelm Busch Museum Hannover, Augustinermuseum Freiburg, Museum der Stadt Mühlheim a. d. Ruhr), Hamburg 1985. Darin: Reinhart Koselleck, Tod und Töten bei Daumier, 53–62. 4 D er Titel ist leicht verändert: Reinhart Koselleck, Daumier und der Tod, in: Gottfried Boehm/ Karlheinz Stierle/Gundolf Winter (Hg.), Modernität und Tradition. Festschrif t für Max Imdahl zum 60. Geburtstag, München 1985, 163–178.
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lecks verstärkter Auseinandersetzung mit dem Bild fällt nicht zufällig in die Jahre jener ›Wendung zum Bild‹, von der bald in den Kunst- und Kulturwissenschaften die Rede war und die inzwischen sprichwörtlich geworden ist. Nachdem der amerikanische Sprach- und Kulturwissenschaftler W. J. T. Mitchell bereits 1992 von einem »pictorial turn« gesprochen hatte,5 brachte unabhängig davon der deutschschweizerische Kunsthistoriker Gottfried Boehm 1994 die Rede von einer »ikonischen Wendung« in dem Sammelband Was ist ein Bild? ins Gespräch. Diesen ›turn‹ hat Koselleck kaum als solchen wahrgenommen – Boehms Buch hat er wohl erst Jahre später gelesen.6 Sein gesteigertes Interesse am Bild geht mit dieser Bewegung in der Kunstgeschichte aber durchaus konform und zwar im größeren Rahmen jener komplexen Verlagerung in den Geisteswissenschaften, die sich auch in der Anerkennung der Relevanz des Bildes für die historische Arbeit und im Besonderen für die historische Semantik niedergeschlagen hat.7 Wenn inzwischen auch die Geschichtswissenschaft verstärkt auf das Bild aufmerksam geworden ist, so überwiegt allerdings nach wie vor die Tendenz, Bilder mehr oder weniger analog zu den üblicherweise verwendeten Schriftquellen heranzuziehen und im Blick auf ihren sachlichen Informationsgehalt hin auszuwerten. Koselleck war in den 1990er Jahren hier bereits weiter, insofern ihn im Umgang mit Bildern weniger das umtrieb, was Historiker meinen, wenn sie sich Bildern als »historischen Quellen« zuwenden,8 als vielmehr jene Dimension, die bereits den Kunsthistoriker und -theoretiker Carl Friedrich von Rumohr veranlasst hatte, in der bildenden Kunst eine Verbindung zu einem »anschaulichen Denken« angelegt zu sehen, das sich vom »abstracten Denken« in Begriffen unterscheide.9 Wie sich aus Kosellecks später, auch theoretischer Beschäftigung mit Fragen der Bildlichkeit rückwirkend erschließen lässt, gründet schon sein frühes Interesse 5 W . J. T. Mitchell, The Pictorial Turn, in: ArtForum International 30 (7/1992), 89–94. Wiederabgedruckt in: ders., Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago/London 1994, 11–34. 6 G ottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994, 11– 38. Koselleck las eine Rezension dieses Bandes von Ralf Konersmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 11. März 1995. Das Buch habe er jedoch erst im Jahr seines 80. Geburtstags erhalten und wohl auch gelesen. Am 6. Januar hielt Boehm einen Vortrag in Bielefeld, an dem Koselleck teilnahm. Vgl. dazu Adriana Markantonatos, Geschichtsdenken zwischen Bild und Text. Reinhart Kosellecks »Suche nach dem (…) Unsichtbaren«, Phil. Diss., Philipps-Universität Marburg 2017, 39, bzw. 233–238. 7 V gl. dazu grundlegend im Überblick Ernst Müller/Falko Schmieder, Begrif fsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Frankfurt a. M. 2016, hier 746–758, zu Kosellecks Interesse am Bild Müller/Schmieder, Begrif fsgeschichte und historische Semantik, 328–337. 8 Z u einer Erörterung dieser Problematik vgl. hier repräsentativ für ein wachsendes Forschungsfeld Jens Jäger/Martin Knauer (Hg.), Bilder als historische Quellen? Dimension der Debatten um historische Bildforschung, München 2009. 9 C arl Friedrich von Rumohr, Italienische Forschungen, Bd. 1, Berlin/Stettin 1827, 121–122.
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tatsächlich in der prinzipiellen Anerkennung des Bildes als eines Mediums, das zu jenem der Sprache komplementär ist, aber zugleich ebenso als Medium der politischen Kommunikation eingesetzt werden kann, wobei dessen Wirkkraft ebenso stark sein mag, wie seine Auslegung schwierig. So hatte Koselleck erkannt, dass das Bild nicht nur durch eine visuell explizierte Botschaft politisch wirken kann, sondern ebenso durch das, was es nicht zeigt, sondern verbirgt, durch das, was es als Konnotation mit sich führt. Exemplarisch wird dies zumal in Kosellecks Überlegungen zur Funktionsweise von Denkmälern, diesem Spezialfall des Bildes, expliziert. In einem zentralen Aufsatz über die »Politische Ikonologie des gewaltsamen Todes«, der bereits 1994 als Vortrag vorlag, aber erst 1998 im Druck erschien, stellte Koselleck fest: »Alle Denkmäler zeigen, indem sie verschweigen. Was gezeigt und was verschwiegen wird, ist ein primär politischer Akt; was ikonographisch kombiniert und was zitiert wird, gehört zur politischen Geschichte.«10 Diese Aussage, hier zunächst auf das Denkmal bezogen, ist schon im Nachsatz zu Recht verallgemeinert, dergestalt, dass Bilder aller Art mögliche Gegenstände der politischen Geschichte sein können und, sofern sie es sind, von der Geschichtsschreibung erfasst werden sollten. Ein konkretes Beispiel für die Art und Weise, wie in Bildern auch durch Weglassen Bedeutung erzeugt wird, findet sich im selben Aufsatz mit Bezug auf Auguste Rodins Statue des Titels L’Âge d’airain – das eherne Zeitalter. In Kosellecks Bildnachlass findet sich dazu eine Aufnahme, die er selbst im Musée d’Orsay aufgenommen hat (Abb. 2). Es handelt sich, wie so oft, zum einen um eine Erinnerung an die Situation, zum anderen um eine Gedankenstütze auch zu jenem wichtigen Aspekt jedes Bildes. An Rodins Plastik konstatierte Koselleck eine ikonographische Reduktion, eigentlich ein Zurückhalten von sachlicher Information, die aber nicht zu einer Bedeutungsminderung, sondern – paradoxerweise – zu einer Anreicherung führt. »Worauf beruht der Ruhm des weltbekannten ›Ehernen Zeitalters‹?«, fragt Koselleck und fährt fort: »Rodin hatte ursprünglich einen verwundeten Krieger mit Kopfbinde und Speer dargestellt. Damit wäre ein im traditionellen Sinnhorizont sich bewegendes Kriegerdenkmal entstanden. Durch den Verzicht auf die soldatischen Beigaben hat Rodin seinen Soldaten entnationalisiert und entmilitarisiert. Zurückgeblieben ist jener zaghaft zweifelnde Jüngling, der in das 20. Jahrhundert hineintaumelt, in das eherne, das keinen Sinn mehr bietet, höchstens fordert.« 11 10 R einhart Koselleck, Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes. Ein deutsch-französischer Vergleich, Basel 1998, 8. 11 K oselleck, Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes, 45. Vgl. dazu J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, Rodins »Ehernes Zeitalter« und die Problematik französischer Kriegerdenkmäler
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Abb. 2: Reinhart Koselleck (Fotograf), Auguste Rodin, Das eherne Zeitalter im Musée d’Orsay, Paris.
Worauf Koselleck hier abzielt, könnte man als die politische Interpretation der ästhetischen Form bezeichnen. Sie wird vollzogen, indem die Plastik im ikonographischen Kontext des Umfeldes ihrer Entstehung lokalisiert wird, das heißt im Umfeld der Kriegerdenkmäler, und zwar obwohl sie in ihrer vom Künstler so autorisierten Endform kein solches mehr ist. Das politisch-historische Interesse Kosellecks verbindet sich mit einer genuin kunsthistorischen Lesart, woraus eine Deutung hervorgeht, welche diese eine Skulptur in ihrem historischen Kontext erst verständlich macht.
nach 1871, in: Reinhart Koselleck/Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, 223–247.
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2. Jenseits des Politischen? Kunstgeschichte in Kosellecks Umfeld Die Integration einer politisch-historischen und zugleich ästhetischen Betrachtung eines Kunstwerks, wie sie Koselleck hier nachvollzieht,12 war in der deutschsprachigen Kunstgeschichte der unmittelbaren Nachkriegszeit, zu der Koselleck in Heidelberg in seinen Studienjahren Zugang hatte, kaum vorbereitet. Wie sich auch aus seinen Karikaturzeichnungen erschließt, hörte er Klassische Archäologie bei Reinhard Herbig (1898–1961), Kunstgeschichte bei August Grisebach (1881– 1950) und bei Walter Paatz (1902–1978). Bei aller Vorsicht, was dergleichen Verallgemeinerungen betrifft, wird man sagen können, dass sich die Kunstgeschichte der Nachkriegszeit mehrheitlich nicht etwa als Teil einer allgemeinen Geschichtswissenschaft oder als eine kulturwissenschaftliche Disziplin neben anderen verstand, sondern vordringlich als Geschichte der Kunst, das heißt als Form- und Stilgeschichte auf der Grundlage positiver Befunde. Ohne dass dies immer explizit ref lektiert wurde, klammerte man die Verbindungen der Kunst mit der Politik weitgehend aus oder gestand dieser als einem untergeordneten kommunikativen Aspekt allenfalls eine sekundäre Rolle zu. Die strenge Abscheidung einer Geschichte der Kunst als Geschichte ihrer Form von den ihr womöglich nur anhängenden Aspekten nicht-ästhetischer Funktion bildet den Kern des historischen Gründungsparadigmas der Kunstgeschichte, die sich im 19. Jahrhundert als akademische Disziplin zu etablieren begann. Die hier angelegte Separierung der Kunstgeschichte von der (politischen) Geschichte entspricht zugleich einem modernen Kunstbegriff, der auf der Behauptung der zumindest relativen Autonomie der Kunst gründet.13 Das Paradigma wurde in den Jahrzehnten um 1900 in der formorientierten Kunstgeschichte eines Alois Riegl und Heinrich Wölff lin ausgestaltet, dann aber bald, zumal in den Jahrzehnten zwischen den zwei Weltkriegen, relativiert durch die ikonographisch-ikonologische Forschung, als deren wichtigste Protagonisten heute Aby M. Warburg und Erwin Panofsky gelten. Doch das Interesse an der Erforschung der Bedeutungsdimension der Kunst wurde auch anderweitig und teils mit bedenklichen politischen Implikationen erfolgreich betrieben.14 Bezeichnenderweise erlebte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg jene Kunstgeschichte, die sich hauptsächlich der reinen Form widmete, eine erneute Konjunktur. Zum einen waren die wichtigsten Protagonisten der ikonographisch-ikonologischen Forschung aufgrund ihrer oft jüdischen Abstammung zur 12 Vgl. dazu den Beitrag von Schmoll gen. Eisenwerth, Rodins »Ehernes Zeitalter«, 223–248. 13 V gl. Hubert Locher, Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750–1950, 2. Aufl. München/ Paderborn 2010. 14 D azu Daniela Bohde, Kunstgeschichte als physiognomische Wissenschaf t. Kritik einer Denkfigur der 1920er bis 1940er Jahre, Berlin 2012.
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Emigration gezwungen gewesen und hatten im glücklichen Fall in England oder den USA eine neue Existenz gefunden. Zum anderen scheint es, als hätten die in Deutschland verbliebenen Kunsthistoriker sich auf das sichere Terrain der Kunstgeschichte als Form- und Stilgeschichte zurückgezogen, wenn sie sich nicht ohnehin auf die Weiterführung einer reinen Sach- und Objektforschung beschränkten. Verständlich wäre es, wenn man nach den Jahren politischer Barbarei, der Durchdringung des Alltags und der Kultur mit politischer Indoktrination, auch der Verfemung der Moderne, sich absichtsvoll von einer dem Inhaltlichen und vor allem dem Politischen gewidmeten Forschung fern zu halten gesucht hätte. In Heidelberg zumal mag solche Zurückhaltung insofern geboten gewesen sein, als es in der NS-Zeit zu einer peinlichen Politisierung der Kunstgeschichte gekommen war, die immerhin teilweise wieder zurechtgerückt werden konnte. Der von 1930 bis 1937 als Ordinarius wirkende Grisebach, dessen Frau Hanna Jüdin war, war seines Amtes enthoben und durch den sich stramm der NS-Ideologie anschließenden Hubert Schrade verdrängt worden.15 Nach Kriegsende wurde Grisebach rehabilitiert und im Status eines Emeritus wieder ins Amt eingesetzt. So konnte Walter Paatz nach einer kurzen amtslosen Zeit das Ordinariat übernehmen. Was in Heidelberg zutreffen mag, lässt sich für die ersten Nachkriegsjahrzehnte verallgemeinern. Vor dem Hintergrund der vorgängigen politischen Instrumentalisierung des Faches erschien eine Konzentration auf die Beschreibung und Würdigung von Kunst als einer zwar geistes- und kulturgeschichtlich fundierten, jedoch in ihrem Wesenskern unpolitischen Angelegenheit sowohl von Seiten der mehr oder weniger als Mitläufer kompromittierten Wissenschaftler wie auch von Seiten derjenigen, welche unter der Politisierung der Wissenschaft durch den Nationalsozialismus gelitten hatten, gleichermaßen opportun. Es zeigt sich hier mitunter eine Haltung, die mit den ebenfalls nicht zuletzt politisch bedingten Entwicklungen in der zeitgenössischen Kunst korrespondierte. So erlebte in den Jahren nach der »Stunde Null« die Abstraktion in der Malerei eine zweite Blüte als Neubelebung dessen, was einst verfemt war und im Sinne der Rückkehr zu einer reinen Geistigkeit.16 Komplementär dazu wurde in der Kunstgeschichte der rein ästhetische Zugriff auf die Sphäre des Visuellen, des bildneri15 D ietrich Schubert, Heidelberger Kunstgeschichte unterm Hakenkreuz. Professoren im Übergang zur NS-Diktatur und nach 1933, in: Ruth Hef trig/Olaf Peters/Barbara Schellewald (Hg.), Kunstgeschichte im »Dritten Reich«. Theorien, Methoden, Praktiken, Berlin 2008, 65–86. Golo Maurer, August Grisebach (1881–1950) – Kunsthistoriker in Deutschland. Mit einer Edition der Briefe Heinrich Wölf flins an Grisebach, Ruhpolding/Mainz 2007. 16 S o schreibt z. B. Kurt Leonhard, Die heilige Fläche. Gespräche über moderne Kunst, Stuttgart 1947, 7: »Die lange Diät des letzten Jahrzehnts hat manchen Übersättigten wieder zu einem Hungrigen gemacht. Und als wir wieder die ersten alten Bilder, die ersten modernen Werke zu sehen bekamen, da erfuhren wir unzweideutig, wie unser ausgedörrter Lebensboden mit allen Wurzeln die lang entbehrte Himmelsgabe in sich sog.«
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schen Kunstwerks neu begründet und bald auch theoretisch als hermeneutische Kunstgeschichte fundiert. Was das unmittelbare Umfeld Kosellecks betrifft, so sind hier besonders zwei Kunsthistoriker seiner Generation zu erwähnen, mit denen er wohl bereits in Heidelberg in Kontakt kam. In den Blick gerät hier zum einen der wenige Jahre jüngere Peter Anselm Riedl (1930–2016). Riedl studierte seit 1949, zeitgleich mit Koselleck, in Heidelberg. 1969 übernahm er in Heidelberg eine Professur für Kunstgeschichte. Besonders wichtig, was die theoretische Fundierung betrifft, sollte jedoch der 1925 geborene Max Imdahl werden. Zur direkten Begegnung kam es spätestens 1963 anlässlich des ersten Kolloquiums der Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«, an der teilzunehmen Imdahl eingeladen worden war und der auch Koselleck angehörte. 1965 nahm Imdahl einen Ruf auf eine neu eingerichtete Professur für Kunstgeschichte nach Bochum an, wohin ein Jahr später auch Koselleck berufen wurde. Sowohl Riedl wie besonders auch Imdahl zeichneten sich durch einen ausgeprägt ästhetischen Zugang zum Kunstwerk als visueller Gegebenheit aus. Dies praktizierten sie zum einen im Blick auf die Kunst der Tradition, auf mittelalterliche Buchmalerei oder klassische Kunst, vor allem aber auch in der engagierten Auseinandersetzung mit unmittelbar zeitgenössischer Kunst – was im Feld der akademischen Kunstgeschichte dieser Jahre nicht die Regel war. Kann man auch Riedl wie Imdahl wache Zeitgenossenschaft hinsichtlich ihres Interesses an der Kunst der Gegenwart bescheinigen, so spielte allerdings die Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk als einem irgend politischen Bedeutungsträger in der Gegenwart oder auch der Vergangenheit bei beiden kaum eine nennenswerte Rolle. Gleichwohl wäre es vorschnell, hieraus zu schließen, dass man gänzlich blind gewesen wäre für die Tatsache, dass einem Kunstwerk und überhaupt der Sphäre der Kunst politische Relevanz eigne. So gibt es doch die eine oder andere Spur für ein wenigstens indirektes historisch-politisches Interesse kunsthistorischer und kunsttheoretischer Arbeit. Zumal beim Kunsthistoriker Riedl lässt sich eine für Koselleck relevante Anschlussstelle erkennen. Sie ist in der Auseinandersetzung mit Arnold Gehlens 1960 publiziertem Buch Zeit-Bilder gegeben,17 die sich 1962 in einer ausführlichen Besprechung in der traditionsreichen Zeitschrif t für Kunstgeschichte niederschlug.18 Bemerkenswert ist schon die Tatsache, dass ein klassisch ausgebildeter Kunsthistoriker sich überhaupt mit dem Buch des Sozialanthropologen Gehlen befasste. Der Grund hierfür liegt zum einen in dem offensiv und schon im Titel angezeig17 A rnold Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a. M./Bonn 1960. 18 P eter A. Riedl, Rez. zu: Arnold Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, in: Zeitschrif t für Kunstgeschichte 25 (1962), 92–96.
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ten Programm dieses Buches, das tatsächlich der Versuch einer historischen und zumindest im Ansatz soziologischen Erklärung der abstrakten beziehungsweise informellen Kunst der Gegenwart sein will, zum anderen darin, dass Gehlens Zeit-Bilder auch eine Theorie des kunsthistorischen beziehungsweise kunsttheoretischen Kommentars sind. Im Kern geht es Gehlen weniger um die Verteidigung als um die Einordnung einer Kunst, die scheinbar und skandalöserweise die Brücken zur Realität abgebrochen hat, die jede Abbildlichkeit und in ihren extremen Formen auch jegliche Zeichenhaftigkeit beiseitelässt und nun als Herausforderung, als blinde Zumutung vor dem alleingelassenen Betrachter steht. Gehlen rekurriert hierzu auf die Geschichte der Kunst als einer Geschichte der »Bildrationalität« – dies ist einer seiner zentralen Begriffe und eigentliche Leitidee des Buches. Deren Geschichte stellt er zu Beginn in drei Phasen vor, die zumindest schematisch soziologisch begründet sind: Die erste Phase wäre jene der »Ideellen Kunst«, die sich in religiöser und mythologischer Malerei niederschlägt und die der Feudalgesellschaft zugeordnet ist. Sie geht über in die »Realistische Kunst« der zweiten Periode, die das »Wiedererkennen« einer äußeren Realität verfolgt und der bürgerlichen, industriellen Gesellschaft zugeordnet ist. Die dritte Epoche ist jene der »Abstrakten Malerei«, die der »nachbürgerlichen Industriegesellschaft« entspricht. Für diese letzte Form der Bildrationalität der Kunst sei charakteristisch, dass Begriff und Bild endgültig auseinandergetreten wären, dass dem neuen, abstrakten Kunstwerk eine fundamentale Begriffslosigkeit eigne.19 Dementsprechend meint Gehlen, dass diese neuen Formen der abstrakten Kunst in besonderer Weise »kommentarbedürftig« seien, dass sie eines erläuternden Textes bedürften, den Gehlen als notwendigen Bestandteil des zeitgenössischen Kunstwerks deklariert. Von besonderem Belang für die hier interessierende Fragestellung – und vom Rezensenten Riedl herausgehoben – sind aber Gehlens Überlegungen zur Frage des »Politischen«, die er in einem zentralen Kapitel des Buches unter der Überschrift »Über Politisches und Freiheit« platziert.20 Dieser Abschnitt ordnet die »modernen Richtungen« der avantgardistischen Kunst seit Beginn des Jahrhunderts als zunächst grundsätzlich »revolutionär« und der Tendenz nach als »links« ein. Gehlen bringt dann ein überraschendes, nichtsdestoweniger plausibles Argument hinzu, wonach durch die explizite politische Ächtung der Abstraktion durch »die Sowjets« etwas »sehr Entscheidendes« passiert sei: »Sie entpolitisierten damit die moderne westliche Malerei, denn es war jetzt unmöglich geworden, die jeweils neueste Richtung mit politischen Vorstellungen nach links hin glaubhaft zu verbinden.«21 19 Gehlen, Zeit-Bilder, 53. 20 Gehlen, Zeit-Bilder, 150–161. 21 Gehlen, Zeit-Bilder, 150.
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Gehlens Diagnose ist aus den unmittelbaren Geschehnissen der Zeit heraus begründet und in diesem Kontext heute durchaus nachvollziehbar. Er erkennt auf dem Höhepunkt der internationalen Abstraktion deren Absolutheitsanspruch. Dabei interpretiert er die scheinbar demonstrativ unpolitische Kunstform gerade politisch. Die offensichtliche Verweigerung jeglicher inhaltlicher Aussage durch die Künstler erscheint ihm infolge der politischen Instrumentalisierung der Kunst in den Zeiten des Kalten Krieges in ihr Gegenteil gewendet: Abstraktion wird zur politischen Geste des anti-kommunistischen Westens, zur symbolischen Geste der Freiheit. Was die eigentliche politische beziehungsweise soziale Funktion der abstrakten Kunst innerhalb der westlichen Gesellschaft betrifft, hat Gehlen eine Lösung bereit: Er sieht in ihr die Möglichkeit der »Entlastung«.22 Komplett von der Politik geschieden, biete die Kunst eine Art sinnlich-geistigen Erholungsraum, in dem die reine ästhetische Erfahrung gepf legt und intensiviert werden könne, ein Raum, in dem es möglich sei, sich dem im Alltag dominanten Regiment des »Begriff lichen« zu entziehen, denn der modernen Malerei gelinge es, »die Hypothek der Begriffslosigkeit zu tragen«.23 Man muss Gehlens Kompensationstheorie nicht unbedingt überzeugend finden, es ist vielleicht doch eher eine nachgeschobene Erklärung. Gleichwohl erscheint sie vor dem Hintergrund der politischen Instrumentalisierung der Kunst in der NS-Zeit und angesichts des vielfach bezeugten ›Hungers‹ der Nachkriegszeit nach einem reinen, spirituellen Kunsterlebnis nachvollziehbar.24
3. Die politische Dimension des Bildes Gehlens Diagnose ist unbedingt zeitgenössisch, insofern sie sich konkret auf die Kunst der Gegenwart bezieht und zugleich jene große Frage anspricht und problematisiert, die ein allgemeines Publikum dieser Jahre sich stellte – die Frage nach der Verbindung der abstrakten, sich absolut setzenden Kunst zur weltlichen Realität, zum Alltag, zur politischen Wirklichkeit. Unmittelbar vor Erscheinen von Gehlens Buch hatte der Kunsthistoriker Werner Haftmann anlässlich der zweiten documenta in Kassel im Blick auf die Gegenwart und im Rückblick auf die Geschichte der Kunst festgestellt, dass nunmehr die Kunst
22 Gehlen, Zeit-Bilder, 204–209. 23 Gehlen, Zeit-Bilder, 207. 24 V gl. dazu das in Anm. 16 erwähnte Buch von Leonhard, Die heilige Fläche, als authentisches Zeugnis dieser Sehnsucht, mit entsprechend pathetischen Formulierungen. Leonhard, Die heilige Fläche, 7.
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abstrakt geworden sei, und bald kursierte die Rede von der Abstraktion als »Weltsprache«.25 Tatsächlich haben sich viele Künstler der späten fünfziger und sechziger Jahre in unterschiedlicher Weise dieser absoluten Linie verpf lichtet gefühlt. Es sind diese Spielarten der abstrakten, konkreten, gegenstandslosen Kunst, die Kunsthistoriker wie Riedl und vor allem Imdahl mit ihrer auf die Erfassung der genuinen Bildlichkeit gerichteten Methodik adressierten, kommentierten und vermittelnd erläuterten. Die Kunstformen der Gegenwart stellten für das zeitgenössische Publikum ebenso wie für die Kunstgeschichte eine enorme Herausforderung dar, gerade weil hier keine konventionellen abbildlichen Verbindungen zur Alltagswelt mehr gegeben waren.26 Dem Kunsthistoriker kam nun in besonderer Weise als Autor des – nach Gehlen – notwendigen Kommentars die Rolle zu, sprachliche Brücken herzustellen, indem er zwischen der absoluten Bildwelt und dem Betrachter buchstäblich interpretierend vermittelte. Man kann dies, und so haben es Kunsthistoriker wie Riedl oder auch Imdahl verstanden, durchaus als eine politische Aufgabe verstehen. So versuchte Peter Anselm Riedl etwa in einem Aufsatz von 1973 – und noch einmal mit einem einleitenden Verweis auf Arnold Gehlen – ausgerechnet dem Op Art Künstler Victor Vasarely, dem Farbfeldexperimentator Josef Albers und dem heiteren Spätkubisten (Orphisten) Robert Delaunay eine politische Agenda nachzuweisen, indem er ihnen die Absicht zu bescheinigen suchte, mit rein künstlerischen Mitteln zur Verbesserung der Gesellschaft beizutragen, nämlich durch »eine allgemeine Steigerung der Rezeptivität für ikonographisch nicht fassbare Phänomene«. Eine formalkünstlerische Agenda wird als utopisch gesellschaftsveränderndes Projekt beschrieben, das darauf abzielte, eine für höhere Qualitäten sensibilisierte »rezeptive Gesellschaft« zu erreichen.27 Riedl bestätigte und befestigte damit vor allem die Auffassung, dass die Sphäre der Kunst prinzipiell von der Sphäre des Politischen getrennt liege und zwar auch und gerade dann, wenn der Künstler sich selbst als politischer Akteur versteht. Dass die Kunst selbst unmittelbar über ihre Bildhaftigkeit politische Inhal-
25 V gl. dazu die Eröf fnungsrede von Werner Haf tmann, Von den Inhalten der modernen Kunst (1959). Rede anlässlich der Eröf fnung der ›II. documenta‹ am 11.05.1959, in: ders., Das antwortende Gegenbild. Ausgewählte Texte 1947–1990, hg. von Evelyn Haf tmann/Wouter D. Wirth, München 2012, 41–58. 26 Z u den kontroversen Diskussionen siehe einführend Marianne Heinz, Abstraktion und Gegenständlichkeit. Die documenta II – ein Forum der abstrakten Malerei, in: Monika Wagner (Hg.), Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1991, 533–551. 27 P eter A. Riedl, Abstrakte Kunst und der Traum von der rezeptiven Gesellschaf t, in: Wolfgang Hartmann (Hg.), Festschrif t für Klaus Lankheit, Köln 1973, 67–77, hier 67.
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te verdichten, abbildhaft ›politische Energie‹ aufnehmen und vermitteln könnte, wurde in dieser Konzeption ausgeblendet. Es entspricht der Ironie der Geschichte, dass just in den Jahren, als Gehlen seine Theorie der informellen abstrakten Malerei entwickelte und Kunsthistoriker wie Riedl und Imdahl in ihren interpretierenden Kunstkommentaren das genuin Bildliche, das heißt hier das rein Ästhetische, Ungegenständliche, nicht Abbildhafte der zeitgenössischen Kunst meinten in den Blick nehmen zu müssen, sich das in einer scheinbar trivialen Weise abbildliche (gegenständliche, realistische) Bild in der alltäglichen und auch in der politischen Welt mit Macht wieder vordrängte. Es war ein Vorgang, der in der Medienwelt des Alltags, in den Unterhaltungsmedien der illustrierten Zeitschriften, dem auf kommenden Fernsehen, der immer bildhafter und bunter werdenden Werbung sich manifestierte und zugleich in der Kunst kritisch ref lektiert wurde. Schon in den frühen 1960er Jahren erhielt das Publikum in der bald so genannten Pop Art einen Spiegel vorgehalten, der die Bildwelt der Medien buchstäblich als visuelle Realität ref lektiert und zugleich dekonstruiert – beispielhaft umgesetzt etwa in den unter Einsatz von Fotografien hergestellten Gemälden eines Gerhard Richter in Deutschland, Richard Hamilton in England, Robert Rauschenberg oder Andy Warhol in den USA.28 Mutwillig wird hier der von Gehlen beschriebene, streng abgegrenzte Entlastungsraum der absoluten Kunst gestört, indem der Künstler dem Publikum deutlich macht, dass wir immer schon von Bildern umgeben sind und von Bildern regiert werden. Für die Kunstgeschichte, gerade auch für jene Kunsthistoriker, die sich mit der Kunst der Gegenwart befassten, stellte dieser Vorgang der Rückkehr einer scheinbar konventionellen Bildlichkeit in die künstlerische Malerei eine Herausforderung dar. Vor dem Hintergrund des klassischen kunsthistorischen Paradigmas, das eine mehr oder weniger stringente formale Entwicklung vorsah, musste die immer selbstverständlicher werdende teils ironische, teils lustvolle, teils auch affirmativ scheinende Bezugnahme auf die im weitesten Sinn politische (bzw. kommerzielle) Bildwelt des Alltags suspekt erscheinen.29 Die Skepsis gegenüber dem womöglich naiven Einsatz von abbildlichen Bildern erstreckte sich aber besonders auch auf die Bildwelten des Alltags, auf die »moderne Reproduktionsindustrie« einer Postmoderne, die »tendenziell die Differenz zwischen Bild und
28 V gl. hierzu z. B. mit einer Neubewertung der Pop Art als Malerei, allerdings ohne Berücksichtigung von Rauschenberg, Hal Foster, The First Pop Age. Painting and Subjectivity in the Art of Hamilton, Lichtenstein, Warhol, Richter, and Ruscha, Princeton 2011. 29 V gl. aber den kritischen Erklärungsversuch von Max Imdahl, Probleme der Pop Art, in: ders., Reflexion – Theorie – Methode (Gesammelte Schrif ten, 3), hg. von Gottfried Boehm, Frankfurt a. M. 1996, 233–246. Erstpublikation in: Ausst.-Kat. 4. documenta, Bd. 1, Kassel 1968, XIV–XVII.
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Realität« und damit auch zwischen einer kritischen Bildwelt der Kunst und einer trivialen Bildwelt des Alltags überspielte.30 Desto interessanter ist es, dass bereits zu Beginn der 1960er Jahre gerade der Aspekt der im weitesten Sinn politischen Relevanz und der Alltagsbezogenheit des künstlerischen, aber auch des nichtkünstlerischen Bildes in seiner jeweiligen medialen Eigenwertigkeit dem Historiker Reinhart Koselleck besonders auffiel und sogar theoretisch ref lektiert wurde. Anlass und Anregung hierzu dürfte maßgeblich Gehlens soziologische Erklärung der Kunstwelt gewesen sein, vielleicht auch durch Diskussionen mit Riedl verstärkt. Eine derartige direkte Rezeption belegt jener frühe, manifestartige Text über »Politische Ikonologie«, der gemäß einer späteren Aufschrift von der Hand Kosellecks um 1963 zu datieren ist und sich im Marburger Teil des Nachlasses fand. Darin bezieht sich Koselleck unmittelbar auf Gehlens Zeit-Bilder, allerdings nicht allein mit Referenz auf die Bildwelten der Kunst.31 Vielmehr konstatiert Koselleck in diesem Text die besondere Macht des Bildes, des Bildhaften in seiner politischen Dimension, ohne allerdings einen Plan zu präsentierten, wie man diesem Problem analytisch begegnen könnte. Die Einsicht allein ist in ihrer Deutlichkeit allerdings bemerkenswert genug. Koselleck hatte erkannt, dass die politische Dimension der Kunst sich nur dann erschließt, wenn ihre spezifische Funktionsweise als Bilder, ihre besondere Bildlichkeit erkannt und ref lektiert wird. Man mag es im Rückblick bedauern, dass sich erst viele Jahre später diese Überlegungen Kosellecks in den zu Beginn genannten Studien zu den Kriegerdenkmalen und zur Ikonologie des gewaltsamen Todes zu runden beginnen und zumindest ansatzweise auch in Texten Ausdruck finden. In diesen wenigen Arbeiten deutet sich immerhin an, welches Potenzial Koselleck im Bild als einem Medium der Erkenntnis, aber auch der politischen Gestaltung und Kommunikation gesehen hat. Dass er dabei besonders von Max Imdahls ganz auf das Ästhetische des künstlerisch gestalteten Bildes abzielender Konzeption der Bildanalyse und -beschreibung angeregt worden war, für die Imdahl um 1980 die Bezeichnung »Ikonik« geprägt hatte, lässt sich im Nachhinein anhand verschiedener Dokumente der späten Jahre rekonstruieren und absichern. Darunter findet sich auch die Skizze eines Vortrages mit der Überschrift »Ikonik und Historik« aus dem Jahr 1996.32 In diesem bislang unpublizierten Vortrag ordnet Koselleck Imdahls 30 Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, 35. 31 V gl. dazu Hubert Locher, Denken in Bildern. Reinhart Kosellecks Programm Zur politischen Ikonologie, in: Hubert Locher/Adriana Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, Berlin/München 2013, 294–303, das Typoskript als Faksimile auf 295. 32 E s handelt sich um ein Manuskript zu einem unveröf fentlichten Vortrag, den Koselleck anlässlich eines Kolloquiums zu Ehren von Max Imdahl 1996 in Münster gehalten hatte. Vgl. Heinz Liesbrock an Koselleck, 16. Mai 1995, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Nachlass Reinhart Koselleck, Handschrif ten. Das Vortragsmanu-
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Methode der »Ikonik« dezidiert der Abstraktion zu, historisiert sie als ein Verfahren, das seinen Ursprung in einer bestimmten geschichtlichen Situation und im Bezug zu einer bestimmten Form der Gegenwartskunst hatte, erkennt aber zugleich doch an, dass der damit entwickelte Blick eines das rein Ikonographische übersteigenden, erkennenden Sehens für alle Formen der bildenden Kunst, also auch für ihre gegenständlichen Formen, fruchtbar ist. Das heißt, er traut der »Ikonik« zu, gerade auch auf jene Aspekte hinzuführen, die den sachlichen Informationsgehalt eines primären Objekts erst visuell wirksam machen.
4. Politische Bildforschung Es ist diese spezielle Orientierung Kosellecks auf das genuin Bildliche, die sein Interesse am Bild als Politikum auszeichnet und es von jenem anderen Projekt unterscheidet, das in den achtziger und neunziger Jahren im Bereich der Kunstgeschichte entstanden ist und Kontur gewonnen hat: Martin Warnkes Forschungen zur »Politischen Ikonographie«. Man darf wohl sagen, dass der zunächst in Marburg, dann seit 1979 in Hamburg lehrende Warnke schon seit den frühen 1970er Jahren entscheidend darauf hingewirkt hat, die Kunstgeschichte aus ihrer Isolation im Bereich des rein Ästhetischen herauszuführen und in Erinnerung gerufen zu haben, dass der Bereich der Kunst immer schon in die Formung der Machtverhältnisse der Gesellschaft, der politischen Situation hineingewirkt und diese sogar mitgestaltet hat. Der Weg Warnkes führte allerdings zunächst weniger über die Auseinandersetzung mit dem Bild selbst. Vielmehr legte er es darauf an, den gesellschaftlichen Kontext mit den Mitteln und Methoden der Geschichtswissenschaft und dem Blick der Soziologie zu rekonstruieren. Den Auf takt hierzu bildete ein umfangreiches Habilitationsprojekt, das Warnke dem »Hof künstler« gewidmet und 1970 eingereicht hatte. Ursprünglich als Vorarbeit hierzu gedacht, veröffentlichte Warnke 1976 ein Buch mit dem Titel Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen.33 Wie der Untertitel anzeigt, zielt Bau und Überbau nun gerade nicht auf das Visuelle, sondern auf eine Untersuchung und Auswertung von Schriftquellen. Zwar werden im Anhang zwölf Abbildungen aus mittelalterlichen Manuskripten gezeigt, die separat auf Kommentarseiten erläutert werden, doch um Bilder geht es gerade nicht, vielmehr um die Etablierung einer neuen Grundlage, um im skript befindet sich ebenfalls im Nachlass. Zu diesem Text siehe Markantonatos, Geschichtsdenken, Kapitel 3.2.2., 213–233. 33 M artin Warnke, Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schrif tquellen, Frankfurt a. M. 1976, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1984.
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Nachgang endlich einen neuen Zugang zur Interpretation der »Form« gewinnen zu können – was in diesem Buch allerdings nicht geleistet werden will.34 Diese »Form« wäre jene Dimension, welche einen bildkünstlerisch gestalteten Gegenstand von einem Text kategorial unterscheidet. Die Hervorbringung solcher Gebilde ist demnach als eine Tätigkeit zu verstehen, der »Bedürfnisse zugrundeliegen, die durch kein anderes Medium gesellschaftlichen Handelns abgedeckt werden können«.35 Das Ziel des Überganges zur Form wäre demnach die Interpretation der visuellen Dimension der Kunst in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft, also eine politische Interpretation. Zur Erforschung der politischen Dimension der Kunst hat Warnke in den folgenden Jahren verschiedene bedeutende Beiträge geleistet. Erwähnenswert ist hier die kommentierte Edition einer Reihe von älteren Texten verschiedener Autoren, die sich nach Meinung Warnkes bereits der politischen Dimension der Architektur gewidmet hatten.36 In seiner Habilitationsschrift, die mit mehr als zehnjähriger Verspätung 1985 endlich erschien, legte er eine Grundlagenstudie zu den politischen Bedingungen der Arbeit des Künstlers, auch des Malers, am Hof vor.37 Der Auseinandersetzung mit dem politischen Bild – in einem engeren Sinn – war schließlich jenes Projekt gewidmet, das Warnke 1990 unter dem Titel »Politische Ikonographie« mit den Mitteln des ihm verliehenen Gottfried Wilhelm LeibnizPreises der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Hamburg in größerem Stil in Angriff nehmen konnte. Mit der Einrichtung einer »Forschungsstelle Politische Ikonographie« sollte dezidiert die politische Dimension des Bildes unter Einbeziehung aller Gattungen und Formen breit und systematisch recherchiert und dokumentiert werden und zwar unter Fokussierung auf die Ikonographie. Es ist bezeichnend, dass sich Warnke für diesen Begrif f und nicht für jenen der Ikonologie entschied. Den Hintergrund dieses Projektes bildete ein anspruchsvolles Verständnis des Ausdruckspotenzials des Bildes, wie es in den Forschungen des Hamburger Kunsthistorikers und Bildwissenschaftlers Aby M. Warburg fundiert ist. Warnkes Auseinandersetzung mit Warburg beginnt früh und mag noch in die Mar-
34 M artin Warnke, Schluss: Überleitung zur Form, in: ders., Bau und Überbau, 147–157. Zu diesem Text vgl. den Kommentar in Hubert Locher (Hg.), Kunstgeschichte im 20. Jahrhundert. Eine kommentierte Anthologie, Darmstadt 2007, 153–157. 35 Warnke, Bau und Überbau, 150. 36 S iehe dazu Hubert Locher, Martin Warnke – Kunstgeschichte des Politischen. Zur ›Einführung‹ in den Sammelband »Politische Architektur in Europa vom Mittelalter bis heute – Repräsentation und Gemeinschaf t« (Köln 1984, 7–18), in: Kunstgeschichte. An Open Peer Reviewed Journal (2009), URL: urn:nbn:de:0009-23-20177 [letzter Zugrif f: 20.03.2019]. 37 M artin Warnke, Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1985, 2. Aufl. Köln 1996.
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burger Jahre zurückreichen.38 Der entscheidende Impuls dürfte aber Warnkes Berufung an die Universität Hamburg zum Wintersemester 1979 gewesen sein. In diesem Jahr veranstalteten die Hamburger Kunsthalle und das Kunstgeschichtliche Seminar eine Ausstellung und eine Gedenkveranstaltung zum 50. Todestag des Gelehrten und man richtete erst jetzt ein eigenes Warburg-Archiv ein. Mit Bezug zu diesen Veranstaltungen erschien 1980 ein von Georg Syamken, damals Kustos an der Hamburger Kunsthalle, Werner Hofmann, seit 1969 deren Direktor, und Martin Warnke gemeinsam herausgegebenes Buch, in dem sich der neue Hamburger Ordinarius für Kunstgeschichte mit einigen der wichtigsten Begriffe des Gelehrten auseinandersetzte, darunter Ikonologie, Pathosformel, Schlagbild und Bilderfahrzeug.39 Kurze Zeit später lag auch Ernst Gombrichs bereits 1970 in englischer Sprache erschienene »intellektuelle Biographie« Warburgs in deutscher Sprache vor, die eine breitere Rezeption des Hamburger Gelehrten in der Kunstgeschichte begünstigte. Erst infolge dieser nun langsam, aber mit zunehmender Dynamik sich vollziehenden Rezeption wird in den folgenden Jahren das »Bild« in seiner komplexen Verfasstheit näher an den »Begriff« heranrücken, indem im gleichen Zug die Kluft zwischen Kultur und Kunst als ein methodisches Konstrukt der traditionellen Kunstgeschichte erkannt und überwunden wird. Wenn die intensive Beschäftigung mit Warburgs auf eine tiefer schürfende Ikonologie zielenden Bildforschungen nachweislich den Horizont bildete, so versuchte Warnke für sein Projekt der »Politischen Ikonographie« festeren Boden zu finden. Im bald neu bezogenen Hamburger Warburg-Haus richtete er eine eigene Arbeitsstelle ein, zu deren Aufgabe die Einrichtung und Pf lege eines systematisch aufgebauten »Bildindex zur politischen Ikonographie« zählte. Offenbar absichtsvoll verharrte man hier auf dem sichereren Grund der Motivkunde als Ausgangspunkt für eine genuin bildwissenschaftliche Forschung. Die im Umfeld angesiedelte Forschung des zugehörigen Graduiertenkollegs und auch diejenige der geladenen Gäste griff hier durchaus weiter aus, wie nicht 38 W arnke zitiert Aby Warburgs Aufsatz Bildniskunst und florentinisches Bürgertum (1902) in der letzten Anmerkung von Bau und Überbau, 154. Die Kunstgeschichte beginnt sich erst in den 1980er Jahren intensiver mit Warburg zu befassen. Eine Grundlage bildete die Biographie Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. An Intellectual Biography, London 1970, deren deutsche Erstveröf fentlichung 1981 erfolgte. Einen wichtigen Beitrag zur Warburg-Rezeption veröf fentlichte der später in Marburg lehrende Wolfgang Kemp in der Zeitschrif t Kritische Berichte, die in Marburg redigiert wurde: Wolfgang Kemp, Walter Benjamin und die Kunstwissenschaf t. Teil 2: Walter Benjamin und Aby Warburg, in: Kritische Berichte 3 (1/1975), 5–25. 39 M artin Warnke, Vier Stichworte: Ikonologie – Pathosformel – Polarität und Ausgleich – Schlagbilder und Bilderfahrzeuge, in: Werner Hofmann/Georg Syamken/Martin Warnke, Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt a. M. 1980, 53–83; außerdem Martin Warnke, »Der Leidschatz der Menschheit wird humaner Besitz«, in: Hofmann/Syamken/Warnke, Die Menschenrechte des Auges, 113–186.
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zuletzt die 1996 erfolgte Einladung von Reinhart Koselleck als Gastprofessor an das Warburg-Haus belegt. Ohne dass man in den Schriften Warnkes nennenswerte Spuren eines intellektuellen Austausches erkennen könnte,40 hatte Warnke von Kosellecks Interesse am politischen Bild durchaus schon früh erfahren. So kam es schon in den 1970er Jahren zu einem Austausch und wechselseitigen Einladungen, darunter verschiedene Workshops in Bielefeld und Bad Homburg, bei denen der Aspekt der »Politischen Ikonologie« im Zusammenhang mit »Todesbildern und Totenmalen« thematisiert wurde.41 Bemerkenswert ist ein konkreter Kontakt aus Anlass des Erscheinens jener erwähnten Anthologie zur politischen Architektur, die Warnke 1984 herausgegeben hatte. So unterstrich Koselleck in einer brief lichen Äußerung, er erhoffe sich von der Imdahl’schen »Ikonik«, dass jene Kluft zwischen der sachlichen Abbildlichkeit des primären Objekts und dem genuin bildlichen überbrückt werden könnte.42 Dieses Interesse Kosellecks am genuin Bildhaften als dem eigentlichen Medium der politischen Botschaft eines Bildwerks blieb jener Punkt, in dem sich Warnkes Projekt eines umfassenden »Bildindex zur politischen Ikonographie« unterschied. Koselleck konnte dieses Interesse dann aber als Gastprofessor am Warburg-Haus vertiefen und auch in einer Tagung des DFG-Graduiertenkollegs »Politische Ikonographie« in die Diskussion einbringen.43 Wenn Koselleck in diesem Kontext einen weiteren Aufsatz verfasste, in dem er wichtige zukunftsweisende Aspekte seines Interesses am Bild theoretisch erläutert,44 so bestand seine Hauptarbeit als Bildforscher denn doch nicht in der 40 W arnke verwendet in Bau und Überbau den Begrif f des »Erfahrungsraumes« (S. 155). Zitiert wird Koselleck hier jedoch nicht und sein bekannter Aufsatz zu diesem Terminus (Reinhart Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹. Zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunf t. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, 349–375.) erschien im Erstdruck ebenfalls 1976. 41 W arnke ist namentlich im Programm für die Ende November 1976 im Bielefelder ZiF stattfindende Tagung erwähnt, die mit dem Titel »Todesbilder und Totenmale. Politische Ikonologie zwischen Politik und Ästhetik« angezeigt wurde. ZiF: 1968–1993. Daten aus 25 Jahren Forschung, Bielefeld 1993, 397. 42 R einhart Koselleck an Martin Warnke, Brief vom 5. März 1984, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Nachlass Reinhart Koselleck, Handschrif ten. 43 D ie Tagung war benannt »Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert«. Sie fand am 6./7. Juli 1996 statt. Koselleck hielt einen Vortrag zum Thema »Politische Sinnlichkeit«. 44 R einhart Koselleck, Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste, in: Sabine Arnold/Christian Fuhrmeister/Dietmar Schiller (Hg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert: Zur Sinnlichkeit der Macht, Köln 1998, 25–34. Dazu Hubert Locher, »Politische Ikonologie« und »Politische Sinnlichkeit«. Bild-Diskurs und historische Erfahrung nach Reinhart Koselleck, in: ders./Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, 14–31. Markantonatos, Geschichtsdenken, 251–257.
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Ausgestaltung von Abhandlungen über Bilder. Tatsächlich entstanden nur einige wenige Aufsätze, die sich zudem in manchen Aspekten erheblich überlappen. Viel Energie verwandte er jedoch auf die gleichsam praktisch-ästhetisch zu nennende Arbeit mit Bildern, die er als fotografischer Laie und Sammler betrieb. Sie schlug sich in jenem umfangreichen Bilderfundus nieder, den er bei seinem Tod in einer sorgfältigen Ordnung zurückließ, ohne aber irgendeine konkrete Handreichung zu ihrem Nutzen oder gar eine Gebrauchsanweisung zu hinterlassen. Wolfgang Kemp hat für Walter Benjamins Passagenwerk, das sich nicht mehr zu einer geschlossenen Monographie fügen wollte, und für Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas, der bis zu seinem Tod keine feste Gestalt gefunden hatte, eine »weitgehende Koinzidenz der Verfahrensweisen« 45 festgestellt. Ohne dass hier der Vergleich mit diesen Monumenten der Wissenschaft, deren epochale Bedeutung bereits vielfach dargelegt wurde, zu sehr strapaziert werden sollte, könnte man auch für Kosellecks Bildersammlung Ähnliches in Anschlag bringen, insofern hier ebenfalls prinzipielle Strukturof fenheit als wesentlicher Aspekt eines Spätwerks eines Gelehrten zu konstatieren ist, eines Werks, dessen Vollendung gar nicht beabsichtigt und wohl auch weder sinnvoll, noch überhaupt möglich ist. Diese Unvollendetheit trifft in einem mehrfachen Sinn auf Kosellecks Bildsammlung zu und verlangt nach entsprechendem Umgang mit dem Material. So legte er es von vornherein nicht darauf an, irgend vollendet gelungene Bilder zusammenzutragen oder zu erstellen. In technischer Hinsicht sind die Fotografien anspruchslos. Meist handelt es sich um Kleinbildaufnahmen, die mit handelsüblichem Farbumkehrfilm aufgenommen und im Standardlabor auf Papier ausbelichtet wurden. Dabei finden sich in den Aufnahmen alle möglichen Mängel, von Unschärfe über Belichtungsfehler bis hin zu Verwacklungen. Oft hat man auch Bildausschnitte und Perspektiven zu konstatieren, die nicht der Konvention entsprechen. Aussortiert wurden solche Aufnahmen aber offensichtlich nicht, was eine konzeptionelle Begründung verlangt. Wollte man den Vergleich mit Warburg noch einmal bemühen, so könnte man sagen, dass Koselleck auf seine Weise ebenso darauf abzielte, nicht nur die kanonischen Bilder und Ansichten zu sammeln, sondern auch Tiefenschichten der visuellen Kommunikation zu erfassen, jene Bilder, die sich aus der zufälligen Ansichtigkeit einer Situation ergeben und die nicht weniger wichtig sind als die offiziellen Perspektiven. So würde sein scheinbar unprofessionelles Verfahren darauf abzielen, jene Bilder mitzunehmen, die sich ihm als einem Vorbeigehenden mit besonderen Interessen darboten. Und so kann man vielleicht doch sagen, dass Koselleck es als Bilderforscher darauf anlegte, das zu erfassen, was eigentlich nicht gezeigt, was verschwiegen wird. Dieses Verschwiegene ist, wie er dies 45 Kemp, Walter Benjamin und die Kunstwissenschaf t (Teil 2), 10.
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in Bezug auf die Kriegerdenkmäler formuliert hatte, gerade so wichtig wie das, was ostentativ dargelegt wird. Demnach ginge es in Kosellecks gesammelten Fotografien durchaus um Fragen der Ästhetik als Fragen der sinnlich-intellektuellen Erfahrung, um die bildliche Wirkung, und um das Bild als Vehikel des Politischen. Kosellecks Bildsammlung ist aber auch strukturell unvollendet. Zwar hat er seine Fotografien mit Bedacht sortiert. Deren Ordnung folgt jedoch keiner systematischen ikonographischen Klassifikation wie dies für Warnkes »Bildindex zur politischen Ikonographie« gilt,46 sondern bestimmten Interessenfeldern, etwa den Kriegerdenkmälern oder Reiterdarstellungen, und ist innerhalb dieser größeren Kategorien vom jeweiligen Bildobjekt her angelegt als offene Sammlung von aufgefundenen Fällen visuell-politischen Ausdrucks. So wäre es weder möglich noch sinnvoll, aus Kosellecks Bildsammlung von mehreren tausend Fotografien ein ikonographisches Handbuch des politischen Bildes zu entwickeln. Tatsächlich geht es weder um die systematische Erfassung des Spektrums bildlicher Ausdrucksweisen noch um ikonographische Codes, sondern um das, was die gesammelten Bilder jeweils an Einsichten ermöglichen. Gegenstand des Bilderfundus sind zum einen jene Bilder – Denkmäler vor allen Dingen –, die Koselleck bei seinen Besuchen vorfand. Zum anderen geht es zugleich um das Sammeln jener Bilder, die Koselleck selbst herstellte, um seine Ansichten, um Einsichten, die er sich bildhaft notiert hatte, zu bewahren. Seine Fotografien zielen auf dieses genuin Bildliche, das sich einer rein ikonographischen Analyse nicht erschließt. Sie wären stattdessen im Blick auf jenen Aspekt zu ergründen, den Max Imdahl »Ikonik« genannt hat. Verlangt wäre, jenes »wiedererkennende«, bloß den Gegenstand identifizierende Sehen ebenso zu übersteigen wie eine Auslegung des Bildes nach seiner codierten Bedeutung, um in der Synthese des »Gegenstandssehens« mit einem »sehenden Sehen« zu einer Erkenntnis des Bildsinnes vorzudringen.47
46 S iehe Forschungsstelle Politische Ikonographie, Kunstgeschichtliches Seminar der Universität Hamburg (Hg.), Bildindex zur politischen Ikonographie, mit einer Einführung von Martin Warnke, Privatdruck 1993, 2. veränderte Aufl. 1996. Die Systematik wurde spätestens mit der Aufstellung des Bildindex im Hamburger Warburg-Haus 1993 als Begrif fssystem und Forschungsinstrument stabilisiert. 47 H ierzu Max Imdahl, Cézanne – Braque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen, in: ders., Reflexion – Theorie – Methode, 303–380, hier 326. Zur Ikonik siehe Max Imdahl, Giotto. Arenafresken. Ikonographie – Ikonologie – Ikonik (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste, 60), München 1980, 99: »Die Ikonik […] befaßt sich mit der Synthese von sehendem und wiedererkennendem Sehen als der Stif tung eines sehr besonderen und sonst nicht formulierbaren Sinngehalts«.
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Abbildungsnachweis Abb. 1: Reinhart Koselleck, Vorbilder – Bilder, gezeichnet von Reinhart Koselleck, eingeleitet von Max Imdahl, Bielefeld 1983, 50. Abb. 2: © Bildarchiv Foto Marburg/Foto: Reinhart Koselleck. Mit freundlicher Genehmigung der Erbengemeinschaft Reinhart Koselleck.
Reinhart Koselleck – Geschichtsdenken zwischen Bild und Text Adriana Markantonatos Abstract Der Beitrag gründet in der Aufarbeitung von Reinhart Kosellecks wissenschaftlichem Nachlass, mit dem tiefgreifende bildimmanente Einf lüsse in der Genese seines historischen Werkes und eine erstaunliche Verquickung sprachlich-diskursiver und sinnlich-bildlicher Erkenntnis- und Darstellungsweisen ans Licht getreten sind. Diese erlauben es, so die These, Kosellecks Geschichtsdenken zwischen Bild und Text zu verorten und seine lebenslange Bildpraxis auch als theoretische »Suche nach dem […] Unsichtbaren« zu verstehen, das heißt nach geschichtlichen Strukturen und Prozessen, geschichtlicher Zeit und Bewegung, schlicht nach Geschichte. Den Spuren dieser idiosynkratischen Suche folgend, zentriert der Beitrag das problematische Verhältnis von Bild und Zeit entlang konkreter Verbindungen in künstlerische und kunsthistorische Kreise, unveröffentlichter Handschriften und einer Relektüre von Kosellecks Schriften auf der Basis einer paradigmatischen Perspektivenerweiterung um ›das Bild‹.
1. Spuren geschichtlichen Denkens zwischen Bild und Text Im wissenschaftlichen Nachlass von Reinhart Koselleck befinden sich auch Briefe des Münchner Kunsthistorikers Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth.1 Über Jahrzehnte standen beide in engem intellektuellem Austausch, freundschaftlich ver1 D er Beitrag geht auf einen Vortrag für das Rahmenprogramm zur Ausstellung Reinhart Koselleck und das Bild zurück, mit dem ich einige Ergebnisse aus meiner Promotionsschrif t mit dem Titel Geschichtsdenken zwischen Bild und Text. Reinhart Kosellecks »Suche nach dem (…) Unsichtbaren«, Marburg 2018 (elektronische Hochschulschrif t), vorgestellt habe. Thesen und Argumente können hier freilich nur ausschnitthaf t wiedergegeben werden. Mein Dank gilt in besonderem Maße der Erbengemeinschaf t nach Prof. Dr. Reinhart Koselleck für deren Genehmigung, die Ergebnisse meiner Forschungen unter Einbezug des Quellenmaterials zu publizieren. Auch einigen Zeitgenossen Kosellecks habe ich für ihr Einverständnis zu danken, aus Briefwechseln zu zitieren. Ich habe versucht, Personenrechte respektvoll zu wahren. Sollte mir dies in einem Fall nicht gelungen sein, werde ich mich umgehend um Korrektur bemühen. Folgende Abkürzun-
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bunden über die geteilte Leidenschaft für das Zeichnen und Fotografieren. Dabei pf legte der Kunsthistoriker Fotomaterial für Kosellecks Bildsammlung zu senden, das »unbedingt zu Ihnen« wollte,2 wie es in einem der Begleitschreiben heißt. Ein weiterer Brief datiert auf den 28. Oktober 1994 und fällt damit in eine für Koselleck besonders produktive Zeit, die sich aus heutiger, zumal bildkritischer Perspektive als spannend erweist. Von einem »An-Sie-Denken« ist darin zu lesen, das »vermutlich« zu einem »Traum vor 3 Tagen« geführt habe: »[I]ch stand mit anderen (Kollegen?) [sic!] am Ausschank einer Festwiesen-Bar […] man drängte sich nicht nur, um Getränke zu bekommen, sondern auch, um dem ›Barkeeper‹ zuzuhören, der fesselnde Sentenzen von sich gab. Und das waren Sie«, wie Schmoll gen. Eisenwerth hervorhob und diese Passage zusätzlich mit seinem Füller unterstrich. Im Folgenden beschrieb er Koselleck dann »als weise[n] Philosoph[en]«, der »hinter der Theke […] mit jeder Glasfüllung aus den verschiedensten Flaschen tiefsinnige Sprüche verlauten liess [sic!], auf die wir alle atemlos lauschten, während hinter uns ein Betrieb wie beim Oktoberfest vorüberrauschte«. Leider habe er keines seiner Worte behalten, musste der Kunsthistoriker schließlich eingestehen, jedoch nicht ohne zu ergänzen: »[I]ch weiß aber, dass sie beeindruckend waren […] Sie schenkten uns reingekelterte Essenzen Ihres Wissens und Ihrer Erfahrung«.3 Schmoll gen. Eisenwerths bildreiche Anekdote bietet einen unvermittelten Eindruck von Kosellecks Ausstrahlungskraft als Gelehrtem und der Idiosynkrasie seines Denkens und Wissens, um die der folgende Beitrag kreist, mit dem Ziel, zu den Grundlagen von Kosellecks geschichtlichem Denken und Wirken vorzudringen und damit zu einer intellektuellen Positionsbestimmung beizutragen. Kosellecks intellektuelle Beweglichkeit wird dabei nicht allein Zwischen Sprache und Geschichte vermutet,4 wo sie freilich auch begründet liegt, sondern zwischen Sprache und Sinnlichkeit, zwischen Bild und Text.5 Keine Korrektur seiner Rezeption ist damit intendiert, wohl aber der Versuch einer Aufmerksamkeitsverschiebung zugunsten von Kosellecks Bildpraxis und den breiten kunsthistorischen, kunsttheoretischen, schlicht sinnlich-bildlichen Interessen, die sein Nachlass offengelegt hat, wie er sich auf das Deutsche Literaturarchiv Marbach und das Deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg verteilt – eine archivarische Zweiteilung, die den argumentativen Kern der hier gen werden verwendet: DDK, NRK, H/B/BS = Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Nachlass Reinhart Koselleck, Handschrif ten/Bibliothek/ Bildsammlung sowie DLA, NRK, H/B: Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Reinhart Koselleck, Handschrif ten/Bibliothek. 2 Josef A. Schmoll gen. Eisenwerth an Reinhart Koselleck, 24. März 2004 (DDK, NRK, H). 3 Josef A. Schmoll gen. Eisenwerth an Reinhart Koselleck, 28. Oktober 1994 (DDK, NRK, H). 4 C arsten Dutt/Reinhard Laube (Hg.), Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, Göttingen 2013. 5 Markantonatos, Geschichtsdenken.
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verfolgten These spiegelt. Wenn der Beitrag dazu mehr essayistisch-impressionistisch vorgeht und eine Systematik scheinbar vermissen lässt, so ist dies einer Herangehensweise geschuldet, die den Spuren in Kosellecks Nachlass zu folgen und diesen einen zumindest temporären Ort zu geben suchte, von dem aus sich mit neuen Perspektiven weiterdenken lässt. Dabei scheint es vor dem Hintergrund der Vielseitigkeit von Werk und Nachlass wenig verwunderlich, dass auch Koselleck selbst eine Präferenz für das Essayistische, mitunter Impressionistische hatte.6 Dazu erklärte er einmal: »Wenn ich ›essayistisch‹ sage, so soll das keine Minderung der wissenschaftlichen Qualität bedeuten, sondern dazu ermuntern, generelle Fragen an Einzelfällen zu demonstrieren, unter Verzicht auf all jene minuziösen Schritte der Forschung«.7 »Minutiös« ist ein in der Tat wichtiges Stichwort, dem erliegen kann, wer Kosellecks wissenschaftlichen Nachlass in seiner Gänze durcharbeiten darf. Wer sich dann doch mit den zahlreichen bildlichen und textlichen Ingredienzen zu verköstigen wagt, der mag ähnlich volltrunken wie einst Schmoll gen. Eisenwerth empfinden, gezogen in einen Rausch von Klassikern, benebelt von manch hochprozentiger Theorie-Konzeption und dazu meist auch angeheitert von Kosellecks Ironie und Witz. Für den Historiker Niklas Olsen, der für seine Introduction to the Work of Reinhart Koselleck eine Kostprobe genießen durfte, erwies sich diese – um im önologischen Sprachbild zu verbleiben – im Abgang als »somewhat unsystematic«:8 eine Umschreibung, der ein bitterer Beigeschmack anhaften könnte, und doch hat Olsen auch Recht, insofern sich Koselleck einer Systematisierung, zumal im Sinne der Disziplinierung, zu versperren scheint. Man kann das wie Olsen, aus seiner spezifisch geschichtswissenschaftlichen Perspektive, »unsystematic« nennen; man kann Kosellecks Eklektizismus und seine Zwischen- beziehungsweise Außenseiterstellung aber auch gehaltvoller fassen und so etwas wie eine intellektuelle Essenz herausfiltern, die sicherlich seine internationale Rezeption quer durch Disziplinen und Jahrzehnte erklärt. Denn die Tiefe des Koselleck’schen Werkes und seines geschichtlichen Denkens, so die hier vertretene These, entfaltet sich weniger in systematischer Hinsicht als in der Beweglichkeit seines Denkens selbst, und zwar zwischen den großen Polen von Sprache und Sinnlichkeit pendelnd: Im Dazwischen von Bild und Text, von Sichtbarkeit und Sagbarkeit, von Simultaneität und Sukzessivität, von Zeigen und Sagen lag möglicherweise die spezifisch Koselleck’sche Flexibilität zum Nachdenken über Geschichte und ihre Theoretisierung begründet, und es könnte sich hier ebenso Kosellecks spezieller 6 V gl. dazu auch Reinhart Koselleck an Christian Meier, 29. März 1987 sowie 11. Mai 1987 (DDK, NRK, H). 7 Reinhart Koselleck an Ulrich Bischof f, 1. Oktober 1980 (DDK, NRK, H). 8 N iklas Olsen, History in the Plural: An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2012, 5.
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Fokus auf Fragen nach der historischen Zeit begründen, die in ihrer »Anschauungslosigkeit« in genuiner Weise mit der Anschaulichkeit des Bildes und des Bildlichen verbunden ist.9 Mit diesen Thesen verbindet sich eine der wohl wichtigsten Einsichten aus der Aufarbeitung des (Bild-)Nachlasses: die Hypothese nämlich, dass Koselleck bei aller konkreten Arbeit mit und über Bilder, bei aller unentwegten Wahrnehmungspraxis durch die Linse seiner Kamera immer auch auf Geschichte gezielt zu haben scheint – ohne damit sagen zu wollen, Koselleck habe sich systematisch darangesetzt, seine geschichtstheoretische Arbeit durch Anleihen in der Kunstgeschichte oder durch seine individuelle Bildpraxis zu ergänzen. Eher scheint es sich so verhalten zu haben, dass hier ein Denker in seiner spezifischen Verortung zwischen Wissenschafts- und Künstlercharakter, der zwar nicht »riskiert [hatte], auf die Kunstakademie zu gehen«,10 dem der karikaturistische Blick und überhaupt ein anschaulich-bildhaftes Denken gleichwohl nie abhanden kommen sollte, besondere Bedingungen zusammenführte, die eine spezifische Mobilität seines Denkens und Wissens mit sich brachten. Dies wiederum könnte einen »Zwang zu interdisziplinärer Arbeit« ausgeübt haben,11 genauso wie »alle Nebenfächer […] in Komplementärfächer [Hervorh. d. Vf.] umzuwandeln«,12 wie Koselleck 1970 formulierte und damit wohl auch mit Blick auf die Konstituierungsphase der Bielefelder Reformuniversität. Bemerkenswert erscheint dabei, dass Koselleck nicht nur früh über eine Grundposition der Interdisziplinarität nachdachte, sondern dass er diese schon damals im Sinne der Komplementarität dachte, später, besonders seit den 1990er Jahren, auch konkret von »paritätisch, komplementär mitgedacht« sprach,13 womit er sein Verständnis disziplinärer Gegenseitigkeit auch auf die Ebene von Sprache und Bild beziehungsweise von Hermeneutik und Ikonik übertrug. In diesem letzten Schritt, so soll es weiter unten gezeigt werden, verband er geschichtliches Denken bedingend mit Bild und Bildlichkeit. 9 R einhart Koselleck, Theoriebedürf tigkeit der Geschichtswissenschaf t, in: Hans-Georg Gadamer/Gottfried Boehm (Hg.), Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaf ten, Frankfurt a. M. 1978, 362–380, hier 369. 10 R einhart Koselleck/Manfred Hettling/Bernd Ulrich, Formen der Bürgerlichkeit. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Manfred Hettling und Bernd Ulrich, in: Mittelweg 36 (2/2003), 62–82, hier 73. 11 R einhart Koselleck, Wozu noch Historie?, in: Jörn Rüsen/Michael Baumgartner (Hg.), Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, Frankfurt a. M. 1976, 17–35, hier 26. 12 R einhart Koselleck, nach einer Abschrif t der Radio-Sendung Kultur und Kritik – Aktuelles aus dem In- und Ausland des Hessischen Rundfunks vom 5. April 1970 anlässlich des damaligen Historikertages (DLA, NRK, H). 13 R einhart Koselleck/Christoph Dipper, Begrif fsgeschichte, Sozialgeschichte, begrif fene Geschichte. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Christoph Dipper, in: Neue politische Literatur. Berichte für das internationale Schrif ttum (2/1998), 187–205, hier 198.
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Bereits der Weg in die historische Forschung könnte von diesem universalen Selbstverständnis initiiert gewesen sein. Denn zu Beginn seiner wissenschaftlichen Lauf bahn war Koselleck noch der Überzeugung, dass es die Geschichtswissenschaft mit ihrer einzigartigen Stellung inmitten der Fächer auszeichne, dass sie sich einem wissenschaftlichen »Zwangsjackett mehr als alle anderen Wissenschaften« entziehen könne,14 wie er anlässlich seiner Aufnahme in die Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften im Jahr 1976 formulierte; eine bildliche Vorstellung, die sich zwar nicht in ihr Gegenteil verkehren sollte, die aber bekanntermaßen eine grundlegende Umdeutung erhielt, denn später sprach Koselleck allein noch über die »theoretische[] Zwangsjacke«, die ihn seine professoralen Verpf lichtungen und konkret die Arbeiten an den Geschichtlichen Grundbegrif fen zu tragen gezwungen hatten.15 Allein der eigens ins Leben gerufene Bielefelder Lehrstuhl für »Theorie der Geschichte« verschaffte den institutionellen Rahmen, um den individuellen Interessen trotzdem nachgehen zu können; eine Namensgebung, die Koselleck auch deshalb so benannt haben wollte, »weil diese Bestimmung elastisch [Hervorh. d. Vf.] genug ist, Innovationspotentiale einzubringen«.16 Dass Koselleck auch aus dem Bereich der Bilder und der Kunst innovative Kraft schöpfte, lässt sein Nachlass in einer Vielzahl an Spuren nachvollziehen. Mit dem Kunsthistoriker Gottfried Boehm gesprochen, der eine erstaunliche Präsenz in Kosellecks intellektueller Biographie hinterlassen hat, ist in dem Spannungsverhältnis von »Kunst versus Geschichte« geradezu »ein unerledigtes Problem« zu Tage getreten,17 das Koselleck zunehmend bewusster beschäftigt zu haben scheint:18 zunächst im Kontext seiner Überlegungen zu außer- und vorsprachlichen Bedingungen möglicher Geschichten, die er in seiner Festrede »Historik und Hermeneutik« anlässlich des Geburtstages von Hans-Georg Gadamer im Jahr 1985
14 R einhart Koselleck, Rede bei der Aufnahme in die Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaf ten, in: Jahrbuch 1976 der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaf ten, Wiesbaden 1977, 55–57, hier 56. 15 V gl. Reinhart Koselleck, Hinweise auf die temporalen Strukturen begrif fsgeschichtlichen Wandels, in: ders., Begrif fsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2010, 86–102, hier 86. 16 S o Reinhart Koselleck auf der Rückseite eines zum Umschlag für ein Fotokonvolut umfunktionierten Dokuments (DDK, NRK, BS). 17 G ottfried Boehm, Kunst versus Geschichte: ein unerledigtes Problem. Zur Einleitung in George Kublers »Die Form der Zeit«, in: George Kubler, Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, mit einer Einleitung von Gottfried Boehm, Frankfurt a. M. 1982, 7–26 (DDK, NRK, B). Boehms Einleitung wurde von Koselleck komplett durchgearbeitet. 18 M öglicherweise in der Zeit seines Studiums. Vgl. Koselleck, Rede bei der Aufnahme in die Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaf ten, 56.
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erstmals umfassender behandelte;19 dann in der Ref lexion bildlicher Bedingungen historischen Denkens im Zusammenhang eines Vortrages über »Ikonik und Historik« Mitte der 1990er Jahre.20 Gleichwohl würde es der Eigenständigkeit und auch der Komplexität von Kosellecks Bildarbeit nicht gerecht, würde man diese allein auf ihren geschichtstheoretischen Nutzen hin beziehen. Zahlreiche Spuren sind hier ans Licht getreten, die entlang von Lebens-, Bildungs- und Forschungswegen die viel diskutierte Entwicklungslinie »Von der Historischen Bildkunde zur Visual History« auf innovative Weise ergänzen lässt.21 Bereits Ende der 1950er Jahre beschäftigte sich Koselleck mit politischer Ikonologie22 und band diese früh schon in »allgemeine Fragestellungen zur politischen Sinnlichkeit« ein.23 Für seine Antrittsvorlesung als Neuzeithistoriker wagte Koselleck einen »ikonologischen Exkurs« in die frühe Neuzeit.24 Ebenso sorgte er in den 1960ern für großes Aufsehen, als er in Traumbildern von Holocaust-Überlebenden historische Quellen »ersten Ranges« erkannte,25 womit die Einbindung konkreter Bilder in das Quellenkorpus des Historikers banal wirken musste und doch immer wieder eingefordert werden sollte: »Quelle ist potentiell alles«,26 hielt Koselleck bei der Lektüre von Brandts Klassiker Werkzeug des Historikers im Jahr 1961 fest, um in der Folge immer wieder auf »Bilder als Quelle und Korrektur zu schriftlich lesbaren Quellen« zu verweisen.27 Im Jahr 1980 zeigte sich Koselleck zunehmend überzeugter, »daß die Relation von 19 R einhart Koselleck, Historik und Hermeneutik, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2003, 97–118. 20 R einhart Koselleck, Ikonik und Historik, unveröf fentlichtes Manuskript, o. D., abgelegt in der Materialsammlung »Imdahl« (DDK, NRK, H). 21 G erhard Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, in: ders. (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, 7–36. 22 E ine der frühesten Spuren für die Arbeit an einem eigenen Bildprojekt datiert in das Jahr 1959. Gert und Marianne Kalow sandten am 19. August 1959 eine Postkarte, um »auf ein Buch aufmerksam zu machen, das du vielleicht für deine Ikonographie gebrauchen könntest« (DDK, NRK, H). Auch in frühen Lektürespuren findet sich das Schlagwort »Ikonologie«, so in Carl Schmitt, Machtpositionen des modernen Staates, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, 367–371 (DLA, NRK, B). Koselleck indexierte das Stichwort »Ikonologie« mit Bezug auf Seite 369. 23 Reinhart Koselleck an Anselm Riedl, 25. Mai 1976 (DDK, NRK, H). 24 R einhart Koselleck, Vergangene Zukunf t. Historische Bemerkungen zur Prognostik in der Neuzeit, Typoskript, o. D., 12 Seiten, hier 5 (DLA, NRK, H). 25 V gl. u. a. Reinhart Koselleck, Nachwort, in: Charlotte Beradt, Das Dritte Reich des Traums, Frankfurt a. M. 1981, 115–132, hier 123. 26 A hasver von Brandt, Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, Stuttgart 1958, 59 (DDK, NRK, B). 27 R einhart Koselleck, Zum Geleit, in: Andrea Löther et al. (Hg.), Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter, Festgabe für Klaus Schreiner, München 1996, 9–10, hier 10.
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Bild und Text stärker betont werden muß«,28 worin sich bereits eine wichtige Entwicklung hin zu einer bewussten Auffassung der Komplementarität bildlicher und schriftlicher Quellen – und damit auch von Hermeneutik, Ikonik und Historik – verbunden haben könnte. Mit Übergang in die 1970er Jahre ging Koselleck verstärkt ins Feld, um in groß angelegten, umfangreich geförderten Forschungsprojekten die Geschichte des politischen Totenkults, später der Reiterdenkmäler aufzuarbeiten. Hierzu gehörte von Beginn an die fotografische Erfassung und damit sinnliche Erfahrung visueller Artefakte und Bilder in situ, im Gepäck stets Kamera, Notizblock und Stift. Dabei dokumentierte Koselleck nicht allein Objekte, sondern seine subjektive und sich mit jedem neuen Blick wandelnde Wahrnehmung von Objekten in Raum und Zeit,29 und entlang dieser Koordinaten pf legte er seine Fotos und Fotoserien dann auch in sein »riesiges Bildarchiv« einzuordnen,30 ergänzt um verschiedenste weitere Bildmaterialien sowie tausende kleine Notizzettel. Über mehrere Jahrzehnte dokumentiert sich diese komplexe Bildarbeit, bis in das Jahr 2006, Kosellecks Todesjahr, das mit Gerhard Paul überhaupt erst den »Beginn des ›Visual Turn‹ in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft« markieren sollte,31 als man damals auf dem Historikertag erstmals GeschichtsBilder zum Rahmenthema erhob. Und doch schien das wirklich Überraschende und Innovative aus der Erschließung von Kosellecks Nachlass nicht primär darin zu liegen, dass dieser über Jahrzehnte GeschichtsBilder ins Zentrum seiner Arbeit stellte, sondern dass er »Geschichte als Bild [Hervorh. d. Vf.]« verstand, als eine »okulare Angelegenheit«, um hier zwei Annotationen in seinem Exemplar von Karl Jaspers’ Vom Ursprung und Ziel der Geschichte aufzugreifen,32 die wahrscheinlich zurück in die Heidelberger Studienjahre um 1950 datieren. Viele weitere solcher Spuren lassen nachvollziehen, dass Kosellecks Blick bei aller konkreten Bildarbeit nie dem Sichtbaren allein galt, sondern immer auch dem Unsichtbaren, dass er sich das Unsichtbare – Geschichte, geschichtliche Strukturen und Prozesse, geschichtliche Zeit und Be28 Reinhart Koselleck an Werner Boder, 15. September 1980 (DDK, NRK, H). 29 S iehe dazu Adriana Markantonatos, Er-fahrungen. Eine Sichtung von Reinhart Kosellecks Bildsammlung aus kulturwissenschaf tlicher Perspektive, in: Hubert Locher/dies. (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, Berlin 2013, 32–53. 30 Reinhart Koselleck an Wolfgang Ernst, 17. Februar 1992 (DDK, NRK, H). 31 G erhard Paul, Vom Bild her denken. Visual History 2.0.1.6., in: Jürgen Danyel/Gerhard Paul/Annette Vowinckel (Hg.), Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, Göttingen 2016, 15–74. 32 S o die Annotation von Koselleck in: Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949, 330 (DLA, NRK, B). Damit ist Grundlegenderes gemeint als die Einsicht, dass es im geschichtlichen Diskurs nicht um Geschichte, sondern um den Blick auf die Geschichte gehe. Vgl. Axel Rüth, Metaphern in der Geschichte, in: Lutz Danneberg/Carlos Spoerhase/Dirk Wehrle (Hg.), Begrif fe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaf tsgeschichte, Wolfenbüttel 2009, 125–143, hier 132.
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wegung, schlicht Zusammenhänge – in der Sichtbarkeit des Bildes zu vergegenwärtigen und in die Sichtbarkeit des anschaulichen Textes zu überführen suchte. Sinnfällig sprach auch Koselleck im »Nachdenken über Geschichtsschreibung« von einer »Suche nach dem Unvermittelbaren und Unsichtbaren«,33 die sich für ihn wohl auch darin begründete, dass »die Suche der Historiker zwischen den Texten«34 und »hinter den Texten« liege,35 wie er im Kontext von Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode erklärte. Auf den Spuren dieser »Suche nach dem Unvermittelbaren und Unsichtbaren« ergibt sich ein tiefgreifender Zugang zur Genese von Kosellecks historischem Werk, entlang einer erstaunlichen Verquickung sprachlich-diskursiver und sinnlich-bildlicher Erkenntnis- und Darstellungsweisen. Zudem zeigt sich in komplexer Weise, wie eng Kosellecks geschichtliches Denken mit der Geschichte und Epistemologie des Sehens und der Sinne verbunden ist. In diesen Einsichten begründet sich die Hypothese, dass Koselleck zwar grundlegend zur Geschichtswissenschaft und überhaupt zum methodisch-theoretischen Diskurs der historischen Geisteswissenschaften beitrug, dass er bei aller Geschichtsref lexion aber möglicherweise primär die eigenen subjektiven geschichtlichen Erkenntnisweisen ref lektierte, die für ihn sowohl die sprachlichen wie auch die vor- und außersprachlichen – und damit auch die ikonischen – Bedingungen von Geschichte einschlossen. Freilich steht Geschichtstheorie immer auch für das Nachdenken über geschichtliches Denken und dessen Modalitäten. Fraglich ist allerdings, wie stark Koselleck dabei von disziplinären Beweggründen und damit von dem Ziel einer stringenten, systematisierten Geschichtstheorie angetrieben wurde, worin sich Niklas Olsens Diagnose eines »lack of theoretical system« ja überhaupt erst begründet.36 Denn möglich ist ebenso, dass hier die Idiosynkrasie eines Forschenden antrieb, der tief im anschaulichen Denken und künstlerischen Wirken verwurzelt war. Damit könnte sich auch erklären, warum Koselleck »über Jahre […] mehr Fragen als Antworten beisteuerte«,37 warum seine zentralen Thesen, beispielsweise zur sogenannten ›Sattelzeit‹, bis heute so umstritten wie anerkannt sind und warum Kritik an Kosellecks Werk immer schon zugunsten seiner anregenden Wirkung relativiert worden ist, wie sich nicht allein
33 R einhart Koselleck, Nachdenken über Geschichtsschreibung, in: Neue Sammlung. Vierteljahreszeitschrif t für Erziehung und Gesellschaf t 40 (2/2000), 277–280, hier 279. 34 S o Kosellecks Anmerkung in seinem Exemplar von Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, 278 (DLA, NRK, B). 35 Koselleck, Historik und Hermeneutik, 116. 36 Olsen, History in the Plural, 5. Vgl. auch 304. 37 H ans U. Gumbrecht, Pyramiden des Geistes. Über den schnellen Aufstieg, die unsichtbaren Dimensionen und das plötzliche Abebben der begrif fsgeschichtlichen Bewegung, in: ders., Dimensionen und Grenzen der Begrif fsgeschichte, München 2006, 7–36, hier 20.
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mit Kritik und Krise zeigt, ein Buch, das zur »literarisch erfolgreichsten Dissertation eines Geisteswissenschaftlers im 20. Jahrhundert« stilisiert werden sollte.38
2. »[K]ein professioneller Historiker« – Überlegungen zum intellektuellen Selbstverständnis »Ich gehe davon aus, ein Historiker kann nur ein Frageraster entwickeln, das ihn interessiert. Alles, was ich geschrieben habe, ist nur durch meine Fragestellung entstanden«,39 erklärte Koselleck in seinem achtzigsten Lebensjahr. Dass er in dieser Selbsteinsicht mitnichten intellektuelle Selbstverliebtheit sah, darauf deuten Lektürespuren in einem Beitrag in der Neuen Zürcher Zeitung. Denn wo man Goethe darin kritisch der »Eigenliebe« beäugt hatte, da verwies Koselleck in einer handschriftlichen Anmerkung korrigierend auf sein Wissenschaftsideal der »Erkenntnisliebe« und fügte hinzu: »Nicht Egoist, sondern eine Welt für sich«.40 Das war im Jahr 1993 und es waren soeben Monate intensivster Relektüren von »zahlreichen Ausgaben […] und Hunderten von Büchern über Goethe« vergangen,41 als Grundlage für einen für seine intellektuelle Selbstverortung wichtigen Vortrag über »Goethes unzeitgemäße Geschichte«.42 Koselleck stand damals am Beginn dessen, was man als äußerst reges professorales Nachleben bezeichnen kann. Zahlreiche Einladungen zu Vorträgen und Gastaufenthalten rund um den Globus erreichten den Bielefelder Historiker, und diese nutzte er nun bevorzugt dazu, sich seinen Bildprojekten zuzuwenden. Dabei dürfte der Rückgriff auf die »long-standing tradition of describing oneself through analyzing Goethe« durchaus als Kompass für die zukünftige Ausrichtung gedient haben.43 Frei nach Ernst Bertrams Hinweis, »Wie einer ist, so ist sein Goethe«,44 war Kosellecks Goethe 38 G ünther Maschke, Rez. zu: Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, in: Aurora. Jahrbuch der Eichendorf f Gesellschaf t 35 (1975), 137–138, hier 137. Mario Wimmer, Über die Wirkung geschichtswissenschaf tlicher Texte oder warum impact eine zu einfache Lösung für ein komplexes Problem ist, in: Schweizerische Zeitschrif t für Geschichte/Revue Swisse D’Histoire/Rivista Storia Svizzera 62 (2/2012), 217–238, hier 228. 39 R einhart Koselleck/Renate Solbach, Öf fentlichkeit ist kein Subjekt. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Renate Solbach, in: Iablis. Jahrbuch für europäische Prozesse 2 (2003), 131–158, hier 156. 40 S iehe Reinhart Koselleck, Annotationen auf einem Zeitungsausschnitt aus dem Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung vom 28. August 1993, betitelt »Ferneres Vertrauen hof fend…«, abgelegt in den »Materialien zum Aufsatz ›Goethes unzeitgemäße Geschichte‹« (DLA, NRK, H). 41 Reinhart Koselleck an Werner Keller, 23. September 1993 (DLA, NRK, H). 42 Reinhart Koselleck, Goethes unzeitgemäße Geschichte, Heidelberg 1997. 43 Vgl. Olsen, History in the Plural, 254. 44 E rnst Bertram, Nietzsches Goethebild, in: ders., Dichtung als Zeugnis. Frühe Bonner Studien zur Literatur, Bonn 1967, 251–286, hier 251.
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neben vielen weiteren gelobten Eigenschaften vor allem eines, nämlich interessanterweise »kein professioneller Historiker«,45 wie sich dem kurze Zeit später publizierten Aufsatz entnehmen lässt. Goethes Geschichte war aber trotz dessen oder gerade deshalb »[g]enuin geschichtlich, und damit objektiv und subjektiv zugleich«,46 wie Koselleck wohl auch sein eigenes historisches Selbstverständnis ref lektierte. Bei genauerem Hinsehen könnte dieses eigenwillige Selbstverständnis bereits zu Beginn des akademischen Weges prägend gewesen sein. Denn auch schon in Kritik und Krise wurden vor allem jene Denker der Auf klärung zu Protagonisten seiner Pathogenese der Auf klärung erhoben, die laut Koselleck »keine Historiker« gewesen seien,47 aber über besondere sinnliche Dispositionen verfügten, speziell zum Sehen und damit zur Einsicht in die historischen Geschehenszusammenhänge der Krise im Vorfeld der Revolution.48 Ein detaillierter Abgleich des Doktorarbeitsskripts aus dem Jahr 1954 mit dem 1959 publizierten ersten Buch belegt zudem, dass sich Koselleck damals intensiv mit Sehen, Sinnen und Sinnlichkeit beschäftigte und dass der Rückgriff auf eine optische Metaphorik auch schon damals »nicht«, um es mit Christian Meier zu sagen, »als das ›Äußerliche‹, als bloßes Gewand der Gedanken« fungierte, sondern als »Zugang zur Sache und zu den zu Grunde liegenden Auffassungen«.49 Meier sprach damit eine tiefgreifende Verquickung und auch eine Unmittelbarkeit der Vermittlung an, die es ihm beim Rezensieren schwer machte, vom Inhalt des Buches zu abstrahieren; eine Auffälligkeit, die auch weiteren Rezensionen eigen ist, indem darin eine optische Metaphorik verwandt wurde, die eigentlich den Gegenstand der Kritik stellte. Was in Kosellecks Doktorarbeit und erstem Buch noch intuitiv die Bildsprache geleitet zu haben scheint – gleichwohl eine genauere Aufarbeitung des Verhältnisses etwa zu Hans Blumenberg und dessen »luzide[n] metaphorologische[n] Analysen« weiteren Aufschluss vermuten lässt –,50 das ref lektierte Koselleck in der Folge als »bewusst übernommene« Gleichnisse, die er schließlich in theoretisch fundierte Metaphern überführte:51 Metaphern für Geschichte, wie Alexander Demandt for45 Koselleck, Goethes unzeitgemäße Geschichte, 20. 46 Koselleck, Goethes unzeitgemäße Geschichte, 17. 47 R einhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 1973, 31. Vgl. dazu ders., Kritik und Krise. Eine Untersuchung der politischen Funktion des dualistischen Weltbildes im 18. Jahrhundert, Heidelberg 1954, 39, wo die Passage fehlt. 48 S iehe Kosellecks Ausführungen zu Rousseau, in: ders., Kritik und Krise [Eine Studie zur Pathogenese], 133 f f. 49 C hristian Meier, Rez. zu: Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, in: Ruperto Carola 29 (1961), 258–264, hier 260. 50 Reinhart Koselleck an Hans Blumenberg, 18. Juli 1973 (DLA, NRK, H). 51 R einhart Koselleck, Standpunktbezogenheit und Parteilichkeit, 19-seitiges Typoskript mit handschrif tlichen Anmerkungen, von Koselleck auf »1974 Herbst« datiert, 3 (DLA, NRK, H).
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mulierte, dessen gleichnamige Monographie aus dem Jahr 1978 Koselleck durchaus anregte, weil hier »[k]eine Metapherngeschichte oder Geschichte der Metapher« verhandelt wurde.52 Überhaupt beschäftigte sich Koselleck im Verlauf der 1970er Jahre viel mit sprachbildlichen Theoriebegriffen, angeregt auch durch die Arbeit an zwei seiner wichtigsten Theorieaufsätze: Wozu noch Historie? und Über die Theoriebedürf tigkeit der Geschichtswissenschaf t.53 Während er seine frühe Wortkombination der ›Sattelzeit‹ noch als »ein semantisch etwas schwaches oder metaphorisch arg anreicherbares Etwas« wahrnehmen musste,54 folgten hiermit Theoriemetaphern, die er »strenger definierte«, wie einer Gedankenskizze zu entnehmen ist, die während der Arbeit an seinem Vortrag über »›Erfahrung‹ und ›Erwartung‹« entstand,55 aus dem bekanntlich die historischen Kategorien »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« in dem gleichnamig publizierten Aufsatz hervorgingen.56 Koselleck hatte hierfür zu Beginn den schlichten Titel Erfahrungsstrukturen der Neuzeit vorgesehen –57 wie im Übrigen auch der Aufsatzband Vergangene Zukunf t zunächst den einfachen Arbeitstitel Temporalstrukturen der Geschichte trug.58 Damit verband sich jedoch kaum das bildhafte Gerüst, um sich eine Anschauung von geschichtlicher Zeit als komplexem Geschichtsraum machen zu können. Dem voran gingen bildhafte Einsichten etwa in das »Ausmessen des Bedeutungsraumes« und seiner »temporalen Ausfächerung«,59 später die Vorstellung von Geschichte in Form pluraler »Zeitschichten«,60 wie sie Koselleck in den 1990er Jahren auszuarbeiten begann, um damit das Bild von den »Schichten 52 A lexander Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978 (DLA, NRK, B). Koselleck erhielt das Buch 1979 vom Autor. Die Notiz ist auf dem Schmutztitel zu finden. 53 K oselleck, Wozu noch Historie?, in: Historische Zeitschrif t 1 (1971), 1–18, und ders., Theoriebedürf tigkeit der Geschichtswissenschaf t, in: Werner Conze (Hg.), Theorie der Geschichtswissenschaf t und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972, 10–28. 54 Koselleck/Dipper, Begrif fsgeschichte, Sozialgeschichte, begrif fene Geschichte, 195. 55 R einhart Koselleck, unveröf fentlichtes Typoskript mit dem Titel »Text zu den Begrif fen ›Erfahrung‹ und ›Erwartung‹«, o. D., abgelegt in den »Materialien zum Aufsatz ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien« (DLA, NRK, H). 56 R einhart Koselleck, »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunf t. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, 349–375. 57 Reinhart Koselleck an Horst Stuke, 3. Juli 1975 (DLA, NRK, H). 58 W ie sich Kosellecks Hinweis in der Erstpublikation von »Vergangene Zukunf t der frühen Neuzeit. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten« entnehmen lässt. Sonderdruck aus: Hans Barion/ Ernst-Wolfgang Böckenförde/Werner Weber (Hg.), Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt, Bd. 2, Berlin 1968, 549–566, hier 549 (DLA, NRK, H). 59 R einhart Koselleck, Begrif fsgeschichte und Sozialgeschichte, in: ders., Vergangene Zukunf t, 107–129, hier 111. 60 Reinhart Koselleck, Zeitschichten, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, 19–26.
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geschichtlicher Zeiten« aus dem Preußen-Buch weiterzuführen.61 Im Verlauf der Jahrzehnte lässt sich so eine Differenzierung von Kosellecks historischer Vorstellungskraft verzeichnen. Eine frühe Erkenntnis könnte für Kosellecks geschichtliches Denken besonders prägend gewirkt haben, die er im Januar 1953, vertieft in das Abfassen seiner Doktorarbeit, mit Carl Schmitt teilte, als er diesem brief lich über »die eine Relation« berichtete, »ohne die es keine Historie gibt, nämlich die des Betrachters zum historischen Stoff«.62 Zentrale Kategorien traten hiermit auf den Plan, entlang derer sich Kosellecks Werk entwickeln sollte, wie Perspektivität, Subjektivität und die Pluralität historischer Erkenntnis und Erkenntnisweisen; Kategorien, die ihn mit ästhetischen und kunstgeschichtlichen Diskursen verbinden sollten. Und so war Kosellecks Auffassung von den »Aufgaben des Historikers«, wie er sie prominent auf dem Kölner Historikertag im Jahr 1970 skizzierte, wissenschaftsgeschichtlich und eigentlich wissensgeschichtlich vermutlich immer schon eng mit der Kunstgeschichte verf lochten; im konkreten Fall, weil er von den Ideen des amerikanischen Kunsthistorikers George Kubler inspiriert worden sein könnte.63 Kubler hatte bereits 1962 in The Shape of Time über »The Historian’s Commitments« nachgedacht, was in der deutschen Fassung aus dem Jahr 1980 dann sinnfälliger Weise in »Die Aufgaben des Historikers« (rück)übersetzt wurde.64 Auch hat ein vergleichender Blick in die Vorarbeiten zur Heidelberger Antrittsvorlesung über 61 R einhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791–1848, Heidelberg 1965, 14. 62 R einhart Koselleck an Carl Schmitt, 21. Januar 1953 (DLA, NRK, H). Nach Verfassen dieses Beitrages in größerem Kontext vollständig abgedruckt in: Jan Eike Dunkhase (Hg.), Reinhart Koselleck – Carl Schmitt: Der Briefwechsel 1953–1983 und weitere Materialien, Berlin 2019, 10–13. 63 D ie Anregung zur Kubler-Lektüre rührte möglicherweise von Siegfried Kracauer her. Dieser hatte 1966 bei einem Tref fen der »Poetik und Hermeneutik«-Gruppe über »General History and the Aesthetic Approach« gesprochen und in diesem Rahmen auch einige Thesen zu seiner noch im Fragment vorliegenden Geschichtstheorie vorgetragen. Siegfried Kracauer, General History and the Aesthetic Approach, in: Hans Robert Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen (Poetik und Hermeneutik, Bd. 3), München 1968, 111–127 (DLA, NRK, B). Dabei könnte er auch auf Kublers The Shape of Time eingegangen sein, das für Time and History von zentraler Bedeutung ist. Siegfried Kraucauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, Frankfurt a. M. 1973. Sowohl Kracauer als auch Koselleck grif fen somit auf den Diskurs der Kunst und konkret auf Kubler zurück, um sich dem Problem geschichtlicher Chronologie beziehungsweise geschichtlicher Periodisierung zu nähern. Auch wählten beide dazu die Formel von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« und damit eine genuine Eigenschaf t des Ikonischen und der Sinnesfähigkeit des Sehens. Siehe zum Einfluss von Kracauer ausführlicher: Markantonatos, Geschichtsdenken, 262 sowie 420–422. 64 S iehe das gleichnamige Unterkapitel im ersten Teil von George Kubler, The Shape of Time. Remarks on the History of Things, New Haven 1970 (Erstveröf fentlichung 1962) sowie vergleichend ders., Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, mit einer Einleitung von Gottfried Boehm, Frankfurt a. M. 1982 (DDK, NRK, B).
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die »Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit« ein kleines kunstgeschichtliches Detail ans Licht gebracht. Denn wo bekanntlich der publizierte Beitrag die Beschreibung von Albrecht Altdorfers Alexanderschlacht als einleitenden Auf hänger für die Analyse des neuzeitlichen Geschichtsbewusstseins nimmt, da bat Koselleck ursprünglich in der Mitte seines mündlichen Vortrages, ihm »[b]itte […] zunächst einen ikonologischen Exkurs« zu »gestatten«. »Sie kennen sicher die Alexanderschlacht von Albrecht Altdorfer«,65 fuhr Koselleck fort und regte damit auf einfache und beiläufige Weise die Vorstellungskraft seiner Zuhörer an; zugleich griff er auf den Bereich der kunsthistorischen Bildbetrachtung zurück, in dem die »Relation des Betrachters«, wie er sie ein Jahrzehnt zuvor mit Schmitt diskutiert hatte, eine lange Tradition aufweist, was ihm möglicherweise als Legitimationsgrundlage für seinen ersten »ikonologischen Exkurs« vor historischem Fachpublikum gedient hatte. Dieser Exkurs sollte allerdings der einzige dieser Art bleiben,66 so wie das Jahr 1963 überhaupt ein bedeutsames und schicksalsträchtiges Jahr für »Reinhart Koselleck und das Bild« werden sollte: Denn auf der einen Seite entstand etwa das wichtige Typoskript »Zur pol.[itischen] Ikonologie«,67 mit dem sich erstmals Kosellecks Nachdenken über ein »Denken in Bildern« kondensieren sollte. Auf der anderen Seite wurden mit den »Richtlinien zum Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit« die Weichen zur Arbeit an den Geschichtlichen Grundbegrif fen und damit die begriffsgeschichtlichen Weichen für die nächsten 30 Jahre gestellt.68 Koselleck wusste um diese akademischen Einschränkungen. »Das gehört zur Semantik professoraler Zeiten«, erklärte er nüchtern dem professoralen Aussteiger Hans Blumenberg, und sympathisierend mit diesem schob er hinterher: »Was bleibt da noch übrig, als der konsequente Rückzug an den eigenen Schreibtisch«.69 Freilich zog es Koselleck auch ebenso konsequent mit seiner Fotokamera hinaus; über die Bedeutung des Bildes und des Bildlichen indes ref lektierte er bis in die 1990er Jahre nicht mehr in gleich intensiver Weise, wenn ihm auch die theoretische Tiefe seiner alltäglichen bildpraktischen Arbeit zunehmend bewusster wurde und er im »Blicken durch die Linse einer Kamera« 65 R einhart Koselleck, Vergangene Zukunf t. Historische Bemerkungen zur Prognostik in der Neuzeit, Typoskript, o. D., 12 Seiten, hier 4 (DLA, NRK, H). 66 V gl. Helge Jordheim, Against Periodization: Koselleck’s Theory of Multiple Temporalities, in: History and Theory 51 (2012), 151–171, hier 160. 67 S iehe hierzu Hubert Locher, Denken in Bildern. Reinhart Kosellecks Programm Zur politischen Ikonologie, in: Zeitschrif t für Ideengeschichte 3 (4/2009), 81–96. 68 R einhart Koselleck, Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begrif fe der Neuzeit, Sonderdruck aus: Hans-Georg Gadamer/Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Archiv für Begrif fsgeschichte, Bd. XI, Bonn 1967, 81–99 (DLA, NRK, B). Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegrif fe. Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1–7, Stuttgart 1975–1996. 69 Reinhart Koselleck an Hans Blumenberg, 21. August 1979 (DLA, NRK, H).
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mithin ein allgemeines »Forschungsprinzip« erkannte.70 Eine gewisse bildpraktische Kontinuität ging zudem von den Arbeiten zum politischen Totenkult aus. Doch auch hier sollte Koselleck immer wieder auf die Arbeit an den Geschichtlichen Grundbegrif fen verweisen und erklären, dass er »[w]egen des Lexikons […] schlichtweg über zwanzig Jahre gehindert worden« sei, seine »international vergleichende Monografie über den politischen Totenkult der Neuzeit abzufassen«.71 Zwar blieb dieses Buchprojekt sowie das Vorhaben zu einem »vollständige[n] Buch über die Geschichte der Reiterdenkmäler« auch nach Abschluss des Lexikons unvollendet und wurde nie publiziert,72 Kosellecks Nachlass zeugt aber in einer Fülle an Materialien davon, dass er sich im Übergang zu den 1990er Jahren zunehmend intensiver seinen Bildprojekten zuwandte. In diese Zeit datieren auch unveröffentlichte Notizen, die in erstaunlicher Weise ein erneutes Nachdenken über »Das Denken in Bildern« dokumentieren, wie es Koselleck in den frühen 1960er Jahren schon einmal bewegt hatte. In der Masse des Nachlasses stehen diese Notizen vergleichsweise singulär; gleichwohl geben sie in bislang unbekannter Nachdrücklichkeit Zeugnis von der Bedeutung des Bildes und der Bildlichkeit für Kosellecks historisches Denken.
3. (Hermeneutik und) Historik und Ikonik und die »Anschauungslosigkeit« historischer Zeit »Ich sehe Sie im Geiste weiterhin ungeheuer aktiv wirkend«,73 schrieb Schmoll gen. Eisenwerth in seinem Weihnachtsschreiben im Dezember 1992. In der Tat bereitete sich Koselleck damals intensiv auf den erwähnten Goethe-Vortrag vor, mit dem ihm die sinnlichen Wurzeln seiner historischen Arbeit noch einmal besonders deutlich werden sollten.74 In der Folge stellte Koselleck sogar eine, wie er selbst zugab, »subjektivistische Extremthese« auf, nach der sich Geschichte »immer nur im Medium der Wahrnehmung der Beteiligten« vollziehe.75 Bald darauf begann die angesprochene Zeit erneuter und intensiver Bildarbeit. Daran Anteil 70 Koselleck, Hinweise auf die temporalen Strukturen begrif fsgeschichtlichen Wandels, 87. 71 Koselleck an Wolfgang Ernst, 17. Februar 1992. 72 Sybill Ebers an Reinhart Koselleck, 30. Juli 2004 (DDK, NRK, B, Einlagen). 73 Josef A. Schmoll gen. Eisenwerth an Reinhart Koselleck, 22. Dezember 1992 (DDK, NRK, H). 74 D enn bei Goethe lasse sich lernen, dass sich Geschichte nur vollziehe, wie sie wahrgenommen werde, so Koselleck, Goethes unzeitgemäße Geschichte, 35. Vgl. auch Kosellecks Überlegungen zum Kollektivsingular der Sinnlichkeit: ders., Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste, in: Sabine Arnold/Christian Fuhrmeister/Dietmar Schiller (Hg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert: Zur Sinnlichkeit der Macht, Köln 1998, 25–34. 75 R einhart Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. von Carsten Dutt, Berlin 2010, 9–31, hier 16.
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hatte sicherlich auch, dass Koselleck damals Aussicht auf einen inspirierenden Aufenthalt als Gastprofessor am Hamburger Warburg-Haus hatte. Bei seinem Auszug aus dieser einzigartigen Forschungseinrichtung soll er sich wie »Adam« gefühlt haben, als dieser »das Paradies« habe verlassen müssen,76 und dies sicherlich auch deshalb, weil er dort »im Kreis von kunsthistorischen Fachkollegen« arbeiten konnte.77 Das wiederentfachte Interesse am Bild schlug sich unter anderem in einer gesteigerten Wahrnehmungspraxis als Fotograf nieder. Dies wiederum führte zum deutlichen Anwachsen seiner Bildsammlung, die um diese Zeit auch in das gelehrte Ablagesystem der Zettelkästen überführt wurde.78 Zudem intensivierte Koselleck seine Arbeit an den Publikationsvorhaben zur Geschichte des gewaltsamen Todes, die damals auf die Geschichte der Reiterdenkmäler und schließlich auf die Hippologie fokussiert wurde.79 Ebenso konkret, wenngleich allein hypothetisch-theoretisch führte der wiedererlangte akademische Freiraum aber auch zu den genannten Notizen mit Ref lexionen über die Relation von Bildlichkeit und Geschichtlichkeit,80 angeregt durch die intensive Arbeit an dem Vortrag über »Ikonik und Historik«,81 den Koselleck im Februar 1996 anlässlich des Kolloquiums »Max Imdahl – Ikonik und Geschichte« in Münster hielt.82 Wo der Vortrag die Geschichtlichkeit der ikonischen Analyse zum Thema hatte, freilich um die Leistungen des verstorbenen Freundes Imdahl zu würdigen, da zeugen die begleitenden Notizen von einer umgekehrten Denkrichtung, indem Koselleck hier über die Bedeutung der Ikonik für seine eigene Historik und die alles leitende Frage nach der historischen Zeit nachdachte. Dabei gilt es sich bewusst zu machen, dass sich mit Kosellecks Schwerpunkt auf der historischen Zeit nicht nur ein Alleinstellungsmerkmal seiner Geschichtstheorie entwickelte, son76 L utz Wendel/Lars Gustaf fsons, Steile Identifikation. Ein Gespräch mit dem Dichter und Philosophen, der vier Monate in Hamburg zu Gast ist, in: Hamburger Abendblatt, 09.2012 (DDK, NRK, H). 77 Reinhart Koselleck an Leonhard Hajen, 29. April 1996 (DDK, NRK, H). 78 A driana Markantonatos, Eine Fotohexerei. Einblicke in Reinhart Kosellecks Bildarchiv, in: Heike Gfrereis/Ellen Strittmatter (Hg.), Zettelkästen. Maschinen der Phantasie, Marbach a. N. 2013, 69–73. 79 V gl. Reinhart Koselleck, Der Unbekannte Soldat als Nationalsymbol im Blick auf Reiterdenkmale, in: Wolfgang Kemp et al. (Hg.), Dichterstaat und Gelehrtenrepublik (Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 7), Berlin 2003, 137–166 und Reinhart Koselleck, Der Aufbruch in die Moderne oder das Ende des Pferdezeitalters, in: Berthold Tillmann (Hg.), Historikerpreis der Stadt Münster. Die Preisträger und Laudatoren von 1981–2003, Münster 2005, 159–172. 80 R einhart Koselleck, lose Blattsammlung mit Notizen, abgelegt in der Materialsammlung »Imdahl«. 81 Koselleck, Ikonik und Historik, unveröf fentlichtes Manuskript. 82 Vgl. Heinz Liesbrock an Reinhart Koselleck, 16. Mai 1995 (DDK, NRK, H).
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dern dass diese eigensinnige Schwerpunktbildung auch für eine spezifische Problematik steht, die ihn auf besondere Weise mit dem Bild beziehungsweise mit der Sinnkomplexität des Bildes und des Bildlichen verbinden sollte: das Problem der »Anschauungslosigkeit« von Zeit,83 die ihn auf Denkwege jenseits des SprachlichDiskursiven beziehungsweise in die »Vor- und Außersprachlichkeit« führte. Es war anlässlich der wichtigen Gadamer-Rede über »Historik und Hermeneutik«,84 als Koselleck ausgehend von der zentralen Frage, »wie nämlich die Hermeneutik sich zur Zeit verhält«,85 erstmals ausführlich über vor- und außersprachliche Bedingungen von Geschichte referierte. An dieser Stelle könnte er zehn Jahre später wieder angesetzt haben, indem er die Ikonik an die Stelle der Hermeneutik setzte, um nach dem Verhältnis von »Ikonik und Historik« zu fragen und daraus die Frage nach dem Verhältnis von Bildlichkeit und Geschichtlichkeit zu abstrahieren.86 Koselleck wählte den Begriff der Ikonik zwar klar aus dem Imdahl’schen Verständnis heraus;87 im Unterschied zum Münsteraner Vortrag nutzte er diesen allerdings weniger im Sinne einer konkreten Anschauungslehre als im Sinne einer Eigenschaft, einer nur dem Bild eigentümlichen Logik, wie sie Gottfried Boehm in Auseinandersetzung mit Imdahl und Gadamer in den Diskurs gebracht hat.88 Den Notizen zufolge ging es Koselleck um das Ikonische als Komplement zum Diskursiven, verstanden als sprachlicher Vollzug in der Zeit, im Unterschied zum instanten Wahrnehmen von Zeitlichkeit im Bild.89 Damit nahm Koselleck etwas bewusst zum Gegenstand der Ref lexion, das rückblickend viele seiner Interessen und vor allem seine präferierten Lektüren und persönlichen Verbindungen in die Welt der Kunst und der Kunstgeschichte eint, nämlich das problematische Verhältnis von Bild und Zeit, von Bildlichkeit und Zeitlichkeit – respektive Geschichtlichkeit. 83 Koselleck, Theoriebedürf tigkeit, 396. 84 Koselleck, Historik und Hermeneutik. 85 Koselleck, Historik und Hermeneutik, 97. 86 Koselleck, Ikonik und Historik, unveröf fentlichtes Manuskript. 87 V gl. Max Imdahl, Giotto. Arenafresken. Ikonographie – Ikonologie – Ikonik, München 1988 (DDK, NRK, B). 88 S iehe stellvertretend Gottfried Boehms Aufsatzsammlung Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007. Interessant vor allem dessen Hinweis, dass sich simultane Realitäten ausschließlich zeigen lassen könnten. Ders., Die Hintergründigkeit des Zeigens. Deiktische Wurzeln des Bildes, in: Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen, 19–33, hier 29. Koselleck beschäf tigte sich vor allem mit Boehms Arbeiten, die diesen mit Gadamer verbinden, vgl. besonders den Aufsatz: Gottfried Boehm, Zuwachs an Sein. Hermeneutische Reflexion und bildende Kunst, Sonderdruck aus: Hans-Georg Gadamer, Die Moderne und die Grenze der Vergegenständlichung, mit Beiträgen von Hans Belting, Gottfried Boehm und Walther Ch. Zimmerli, München 1996, 95–125 (DDK, NRK, B). 89 H ans Adler/Sabine Gross, Einleitung, in: dies. (Hg.), Anschauung und Anschaulichkeit. Visualisierung im Wahrnehmen, Lesen und Denken, Paderborn 2016, 7–26, hier 18.
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Diese Bild-Zeit-Problematik kann hier nur angedeutet werden: Neben den Arbeiten von Max Imdahl und Gottfried Boehm inspirierten wahrscheinlich Wilhelm Pinders Skizzen zu einer Kunstgeschichte nach Generationen aus den 1920er Jahren, in denen Koselleck über die »versteckte Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen« erfuhr.90 Pinder war es gelungen, eine Mehrdimensionalität historischer Zeit anschaulich zu umschreiben, allerdings nicht, wie später Imdahl, in ihrer Simultaneität auch auf den Begriff zu bringen. Auch George Kubler, der wiederum bei Pinder promoviert hatte, lieferte mit seinen anthropologischen Ausführungen über Die Form der Zeit eine inspirierende Vorlage, um über »die Formen der Zeit« und »die Mischungsverhältnisse« nachzudenken.91 Ebenso zogen Erwin Panofskys Beitrag »Zum Problem der historischen Zeit«92 und Dagobert Freys Thematisierung des »Zeitproblems in der Bildkunst« als Frage nach der Zeitwahrnehmung im Bild Kosellecks Interesse auf sich.93 Darüber hinaus ist das kunsthistorische Werk Werner Hofmanns ganz besonders präsent in Kosellecks Nachlass, und es lässt sich mit dessen Publikationen zur Kunst um 1800 sogar eine eigene kleine Kunstgeschichte der Koselleck’schen Begriffsgeschichte erahnen, die auf Parallelen zwischen begriff lichen und bildlichen Verschiebungen in der so genannten ›Sattelzeit‹ verweist.94 Dabei handelt es sich bei allen genannten Personen um Außenseiter des kunstgeschichtlichen Kanons, die Koselleck gewissermaßen aus den Peripherien der Kunstgeschichte über eine kritische Geschichte des Sehens in den Kern der historischen Theoriebildung führten. Denn so randständig das spezifische Interesse an dem Thema von Bild und Zeit für die Kunstgeschichte mitunter ist,95 so zentral scheint dieses für Kosellecks geschichtliche Theoriebildung gewesen zu sein, weil hier ein komplementärer Zugriff auf das geschichtstheore-
90 W ilhelm Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas, München 1961, 41 sowie ders., Kunstgeschichte nach Generationen, Sonderdruck aus: Willy Schuster (Hg.), Zwischen Philosophie und Kunst: Johannes Volkelt zum 100. Lehrsemester, Leipzig 1926, 1–16 (DLA, NRK, B). 91 R einhart Koselleck, Wiederholungsstrukturen in Sprache und Geschichte, in: Dutt (Hg.), Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, 96–114, hier 98. 92 E rwin Panofsky, Zum Problem der historischen Zeit, in: ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaf t, zusammengestellt und hg. von Hariolf Oberer/Egon Verheyen, Berlin 1964, 77–83 (DDK, NRK, B). 93 D agobert Frey, Das Zeitproblem in der Bildkunst, in: ders., Bausteine zu einer Philosophie der Kunst, hg. von Gerhard Frey, mit einem Geleitwort von Walter Frodl, Darmstadt 1976, 212–235 (DDK, NRK, B). 94 N achzulesen in: Adriana Markantonatos, Absatteln der Sattelzeit? Über Reinhart Koselleck, Werner Hofmann und eine kunstgeschichtliche Geschichte der Geschichtlichen Grundbegriffe, in: Forum Interdisziplinäre Begrif fsgeschichte 7 (1/2018), 79–84. 95 V gl. Hubertus Kohle, Max Imdahl (1925–1988), in: Ulrich Pfisterer (Hg.), Klassiker der Kunstgeschichte, Bd. 2: Von Panofsky bis Greenberg, München 2008, 217–225, hier 221.
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tische Problem der »Anschauungslosigkeit« historischer Zeit vorlag;96 je formaler und abstrakter dabei die Vorlage, wie besonders im Fall von Max Imdahl, desto wichtiger, weil leichter formalisier- und übertragbar für Koselleck. Imdahl ist nun in der Tat ein spezieller Fall. Er beschäftigte sich nicht allein mit der historischen Zeit in der Kunst und ihrer Strukturierung; auch zielte seine Auseinandersetzung mit der »Zeitgestaltung im Bild« nicht auf Fragen der Ikonografie,97 sprich auf das was; es ging ihm vielmehr um das wie, um die Frage, wie sich Sukzessivität im simultanen Medium entfalten könne.98 Dabei verband er mit dem Bild eine Komplexität, die über die Linearität und sequentielle Entfaltung sprachlich verfassten Denkens hinausreicht,99 und darin wiederum erkannte Koselleck Mitte der 1990er Jahre eine komplementäre Entsprechung für eine Kernkategorie seines historischen Denkens, die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« als zentrales Signum des modernen Geschichtsbewusstseins. Konkrete Anregungen dazu lassen sich bis in die frühen 1970er Jahre zurückverfolgen. Besonders Imdahls Beschäftigung mit der Frage, »wie es überhaupt möglich ist, Sukzession und Simultaneität miteinander zu vermitteln«, zog Kosellecks Aufmerksamkeit auf sich.100 Erst Mitte der 1990er Jahre indes, nach der erneuten Lektüre von Imdahls Buch Giotto, mit dem sich dessen Nachdenken über »die Verbildlichung des Geschehens in der Zeit« thesenhaft konzentriert hatte,101 zog Koselleck konkrete Vergleichslinien zwischen Bildlichkeit und Geschichtlichkeit, die sich in den erwähnten Notizen schrittweise nachvollziehen lassen.102 Den Anfang soll hier ein kleiner, kaum mehrere Zentimeter messender Papierschnipsel bilden. Darauf notierte Koselleck die formelhafte, geradezu kryptische Gleichung »I + H komplementär«, darunter – und gewissermaßen als gemeinsamer Nenner – die Worte »anthropol. Basis«, schräg unten drunter »Text Schreiner«. Hiermit verwies Koselleck sehr wahrscheinlich auf sein zeitgleich verfasstes 96 Koselleck, Theoriebedürf tigkeit, 396. 97 H ubertus Kohle, Zeitstrukturen in der Geschichtsmalerei des 19. Jahrhunderts. Adolf Menzel und seine Kollegen, in: Andrea von Hülsen-Esch/Hans Körner/Guido Reuter (Hg.), Bilderzählungen. Zeitlichkeit im Bild, Köln 2003, 139–148, hier 139. 98 V gl. Kohle, Zeitstrukturen in der Geschichtsmalerei des 19. Jahrhunderts, 139 und ders., Max Imdahl, 221. 99 V gl. Heinz Liesbrock, Die Unersetzbarkeit des Bildes, in: ders. (Hg.), Die Unersetzbarkeit des Bildes. Zur Erinnerung an Max Imdahl, Münster 1996, 8–18, hier 9. 100 M ax Imdahl, Wandel durch Nachahmung. Rembrandts Zeichnung nach Lastmanns ›Susanna im Bade‹, Sonderdruck aus: Hans Robert Jauss (Hg.), Kurt Badts Apologie der Kunst, Konstanz 1974, 19–44, hier 32 (DDK, NRK, B). 101 Imdahl, Giotto. Arenafresken, 80. 102 K oselleck, lose Blattsammlung mit Notizen (in Materialsammlung »Imdahl«). Die Blätter sind nicht einzeln verzeichnet, der Nachweis zitierter Passagen erfolgt mit Hinweis auf das Konvolut. Der Bezug zu einzelnen Blättern wurde versucht, sprachlich kenntlich zu machen.
Reinhart Koselleck – Geschichtsdenken zwischen Bild und Text
»Geleitwort« für eine Festgabe für Klaus Schreiner, in dem sich auch die alte Forderung wiederfindet, dass der Historiker »neben seinen philologisch-kritischen Methoden auch die ikonischen, ikonographischen und ikonologischen Fragen und Zugriffe zu pf legen« hat, denn »Bilder sind eben mehr, jedenfalls anderes [Hervorh. d. Vf.] als bloße Illustrationen zu schriftlich lesbaren Quellenaussagen« –103 dabei liegt in der Andersartigkeit des Bildlichen die Grundlage zur Komplementarität begründet. Um wieder auf die formelhafte Gleichung zurückzukommen, ließe sich die These aufstellen, dass Koselleck »I[konik]« und »H[istorik]« auf einer »anthropol.[ogischen]« – auch metahistorischen – »Basis« als »komplementär« verstand. Auf einem anderen Blatt stellte er die »wichtige[] Frage: Ist [sic!] Ikonik und Historik vereinbar, parallelisierbar?«, um seitlich daneben zu notieren: »analog doch anders«.104 Vermutlich zur weiteren Klärung dieses Analogieverhältnisses stellte Koselleck in einem weiteren Schritt einige ikonische Qualitäten jenen der Historik zur Seite und es entstand eine Liste mit Begriffen und Thesen aus beiden Bereichen, die auf gegenseitige Ergänzung gezielt zu haben scheint. Dabei hielt Koselleck unter anderem fest: »Was nur im Bild zusammen sichtbar [?; Anm. d. Vf.] ist zeigt Strukturen der Geschichte«.105 Auf Grundlage dieser wichtigen Erkenntnis stellte Koselleck die Hypothese auf, dass »im Bild die aporetischen Strukturen aufgelöst« seien. Mit »aporetischen Strukturen« der Geschichte zielte Koselleck in seiner listenartigen Skizze auf ein Hauptelement seines Geschichtsdenkens, aus dem heraus sich seine Theorie historischer Zeiten differenziert hatte, nämlich die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«. Diese Formel positionierte er in seiner zweispaltigen Liste an erster Stelle, darunter den Verweis auf die »Komplexität des nicht Vereinbaren« und auf »Unlösbare Konf likte«, gewissermaßen als empirische Übersetzung zu den beiden vorangegangenen Kategorien.106 Indem Koselleck diese Aspekte einer strukturellen, narrativen Aporetik der Geschichte mit der Ikonik beziehungsweise dem Bildsinn zusammendachte, begegnete er vermutlich der Problematik, dass das 103 Koselleck, Zum Geleit, 9 f. 104 K oselleck, lose Blattsammlung mit Notizen (in Materialsammlung »Imdahl«). Was Koselleck unter ikonischen Qualitäten genau verstand, formulierte er an dieser Stelle nicht weiter aus, Hinweise geben aber die verstreuten Lektürespuren in: Imdahl, Giotto. Arenafresken. Koselleck las hierin deutlich durch die Brille seiner Historik und fokussierte ausgewählte theoretisierbare Substrate, man könnte auch sagen Schlagworte der Ikonik, die ihm of fensichtlich als Komplemente zu seiner Historik und für seine zentrale Frage nach der historischen Zeit dienten. Vgl. bspw. Kosellecks Annotation in: Imdahl, Giotto. Arenafresken, 92, die Imdahls Gleichung »Ikon zu Eikon wie Logik zu Logos oder Ethik zu Ethos« um »Historik zu Historie« ergänzt. 105 K oselleck, lose Blattsammlung mit Notizen (in Materialsammlung »Imdahl«). Kosellecks Handschrif t ist undeutlich, möglicherweise heißt es hier auch »sehbar« und nicht »sichtbar«. 106 Koselleck, lose Blattsammlung mit Notizen (in Materialsammlung »Imdahl«).
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Ineinandergreifen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sprachlich nur bedingt gelöst werden kann, denn auch Sprache – wie Geschichte – vollzieht sich diskursiv in der Zeit, zeichnet sich durch ein verstehendes Nacheinander aus; dagegen ist das Bild beziehungsweise das Sehen von Gleichzeitigkeit geprägt. Dies ermöglichte oder verstärkte es, »Geschichte in ein Bild gebannt« zu sehen,107 um es mit »Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit« zu sagen, oder mit Kritik und Krise, worin der Geschehenszusammenhang der Auf klärung als »das Bild eines einzigen gewaltigen Prozesses« sichtbar werden sollte.108 Auch Kosellecks Konstruktion des »Geschichtlichen Grundbegrif fs« zeichnet als Kollektivsingular eine solche Perspektivierung und Sinnverdichtung aus, und es ist mehr als bemerkenswert, dass gerade das, was nach Kosellecks Verständnis den »Geschichtlichen Grundbegriff« von Wort und Begriff trennt, diesen gerade mit dem Bild verbindet, wie die Eigenschaft der Bündelung, eine temporale Binnenstruktur oder die Offenheit der Interpretation. Analogien wie diese, zwischen bildlichen und begriffsbildenden Analogien, konkretisieren sich in Kosellecks Nachlass in einer Vielzahl an Spuren, auch schon weit vor den 1990er Jahren. Ein sinnfälliges Beispiel bilden Lektürespuren in Johann Martin Chladenius’ Einleitung zur richtigen Auslegung vernünf tiger Reden und Schrif ten, wo Koselleck dessen Formel vom »verjüngten Bild« mit »oder auf den Begriff bringen« übersetzte und damit einen frühen Beleg für das bewusste Zusammendenken begriff licher und bildlicher Strukturen hinterließ:109 eine nicht bloß ref lexive Verquickung, die in Kosellecks Leidenschaft für das Zeichnen praktische Evidenz erhält. In Analogie zum Begriff, steht auch die Zeichnung für eine »optische Verjüngung« im Sinne der »Reduktion von Komplexität«110 oder schlicht für die »Weglassung von Einzelheiten« zugunsten einer komplexen Sinneinheit.111 Im Zeichnen, zumal in der Karikatur, brachte Koselleck eine bestechende Fähigkeit zur verstehenden Abstraktion zum Ausdruck, die sich vergleichbar auch in seinen Lektürespuren und überlieferten Mitschriften zeigt, die nur selten die Form ausformulierter Exzerpte annahmen, sondern indexierter Begriffe und Schlagworte, die zudem mit Zeichnungen versehen, mitunter auch in solche überführt wur107 R einhart Koselleck, Vergangene Zukunf t der frühen Neuzeit, in: ders., Vergangene Zukunf t, 17–37, hier 17. 108 Koselleck, Kritik und Krise (1954), III. Ders., Kritik und Krise (1973), 6. 109 S iehe Kosellecks Annotation in: Johann M. Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünf tiger Reden und Schrif ten, hg. und mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer, Düsseldorf 1969, 227 (DLA, NRK, B). 110 C hristoph Friedrich, Die ›Allgemeine Geschichtswissenschaf t‹ von Johann Martin Chladenius, in: Johann M. Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaf t, mit einer Einleitung von Christoph Friedrich und einem Vorwort von Reinhart Koselleck, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1752, Wien 1985, XI–LII, hier XXXIV. 111 Friedrich, Die ›Allgemeine Geschichtswissenschaf t‹ von Johann Martin Chladenius, XXXV.
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den. Max Imdahl sprach in seinem dicht verfassten Vorwort zu Kosellecks Karikaturenbuch daher auch von »karikierende[n] Illustrationen von Texten – von sprachlichen Karikaturen sozusagen«.112 Koselleck verschenkte den Privatdruck mit einer Auswahl an Zeichnungen, der anlässlich seines 60. Geburtstages in geringer Auf lage publiziert worden war,113 noch bis ins hohe Alter als Ausdruck enger freundschaftlicher Verbindung; der Forschung aber blieb der schmale Band so gut wie unbekannt. Dabei wird gerade im Wissen um Kosellecks zeichnerische Praxis evident, dass seine Fähigkeit, komplexe geschichtliche Zusammenhänge in den Blick zu nehmen, vielleicht sogar in den Blick bekommen zu haben, auch als künstlerischer Schritt verstanden werden kann.
4. Einsichten in die Sichtbarmachung des Unsichtbaren In Kritik und Krise ist die angedeutete Verquickung bereits, oder vielleicht auch noch, erstaunlich evident. Ausgehend von einer kleinen Spur, die Kosellecks Lektüre von Werner Hofmanns Caspar David Friedrich-Monografie im Jahr 2001 mit einer Reminiszenz an das Jahr 1950 verbindet, soll in einem letzten Schritt dieses »Buch eines Anfängers« in den Blick genommen werden, der zwar nicht den Mut, wohl aber noch den Wunsch hatte, Karikaturist zu werden. Und es soll davon ausgehend mit einem werkinterpretativen Kommentar geschlossen werden, um auf eine erstaunliche Kontinuität zwischen Kunst und Geschichte in Kosellecks geschichtlichem Denken aufmerksam zu machen. Beim Lesen von Hofmanns Buch rief die Abbildung von Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer offensichtlich »ein Bild von mir in Wales 1950!« in Erinnerung: »identisch«, wie Koselleck der Notiz hinzufügte, wohl um dem Umstand Ausdruck zu verleihen, dass er hier an seinen Blick auf »Lake District« im Jahr 1950 erinnert wurde,114 wie er ebenfalls dazu notierte. Koselleck war damit an jene frühen Jahre erinnert worden, als er sich bald an das Niederschreiben seiner Doktorarbeit machen und sich mit Schmitt über die zentrale Bedeutung des Betrachters austauschen sollte.115 Dabei thematisiert das berühmte Gemälde den Zustand der betrachtenden Ref lexion in besonderer Weise. Denn nicht die 112 M ax Imdahl, Einleitung, in: Reinhart Koselleck, Vorbilder – Bilder, Bielefeld 1983, o. S. Siehe Reinhart Koselleck, Bleistif tzeichnung »Das von und durch Martin Heidegger befragte Dasein«, o. D., 23 × 15 cm, abgedruckt in: ders., Vorbilder – Bilder, 105. Dass Koselleck nicht »Der Mitschreiber« war, zeigt sich eindrücklich in der gleichnamigen Bleistif tzeichnung, o. D., 16,5 × 19,5 cm, in: ders., Vorbilder – Bilder, 80. 113 Vgl. Koselleck, Vorbilder – Bilder, 132. 114 W erner Hofmann, Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrnehmung, München 2000, 9 (DDK, NRK, B). 115 Koselleck an Carl Schmitt, 21. Januar 1953.
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Landschaft ist das Thema, sondern der Umstand, dass jemand eine Landschaft betrachtet.116 Für Koselleck spiegelte sich in dem Bild möglicherweise die »eine Relation, ohne die es keine Historie gibt, nämlich die zum Betrachter«,117 und dieser Betrachter ist im Wanderer von einer Monofokalität geprägt, die einen der wohl hartnäckigsten Kritikpunkte an Kritik und Krise darstellen sollte, beginnend bei Helmuth Kuhn, der feststellte, dass »der Lichtkegel des situationsanalytischen Scheinwerfers […] einseitig« beleuchtet,118 bis zu Niklas Olsens Feststellung einer »universal narrative«.119 Möglicherweise verkennt eine Kritik narrativer Engführung aber die eigentliche Nähe zu den Stilmerkmalen der Karikatur, speziell zur karikaturistischen Überzeichnung, im Kontrast von Schwarz und Weiß beziehungsweise Gut und Böse. Zumal die Karikatur nur im Wissen um das zu karikierende Vorbild selbst wirkt, und zwar in der Identität von Bild und Vorbild, von dem es sich kontrastiv absetzt. Die Karikatur baut damit auf der Distanz zu ihrem Gegenstand auf und ist doch eins mit ihm: »Verschwindet die Differenz, verschwindet die Karikatur«,120 erklärte Max Imdahl in seinem Vorwort zu Kosellecks Vorbilder – Bilder. So suchte Koselleck möglicherweise die seiner Meinung nach dunklen Abgründe von Auf klärung und bürgerlicher Gesellschaft aufzudecken: nicht etwa, indem er sie in Dunkelheit tauchte, sondern indem er sie in »scharfe[n] Schlaglichter[n]« in den Fokus der Kritik zog,121 wie Helmut Kuhn rezensierte. Carl Schmitt wiederum lobte, wie die »großen Gestalten der Auf klärung […] in einem Licht [erscheinen, Anm. d. Vf.], das schärfer ist als das der ›lumières‹«.122 In der Tat erweist sich der narrative Stil von Kritik und Krise nicht allein mit Blick auf das englische Enlightenment oder das französische Lumières als ironische Inversion, einem Kernmerkmal der Karikatur, zumal der politischen, denn Koselleck kehrte die auf klärerische Instrumentalisierung des Lichts gegen diese selbst. Damit bezog er sich gleichsam kritisch auf die neuzeitliche Perspektivität und kondensierte dies auch schließlich sprachbildlich:123 »Die Eigenart der Krise, von den 116 L ászló F. Földényi, Sehen und sehen lassen. Das Sehen des Sehens, in: Thomas Kisser (Hg.), Bild und Zeit. Temporalität in Kunst und Kunsttheorie seit 1800, München 2011, 193–211, hier 196. 117 Koselleck an Carl Schmitt, 21. Januar 1953. 118 H elmuth Kuhn, Rez. zu: Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, in: Historische Zeitschrif t 192 (1961), 666–668, hier 667. 119 Olsen, History in the Plural, 87. 120 Imdahl, Einleitung (Vorbilder – Bilder). 121 Kuhn, Rez. zu: Koselleck, Kritik und Krise, 667. 122 C arl Schmitt, Rez. zu: Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, in: Das historisch-politische Buch 7 (1959), 301–302, hier 302. 123 I nteressant hierzu freilich Hans Blumenberg, Licht als Metapher der Wahrheit, in: Studium Generale 10 (1957), 432–447, hier 446. Blumenberg forderte hier die Bedeutung der Perspektive und des Standortbewusstseins für die Neuzeit als »eine Untersuchung für sich«. Diese legte
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Bürgern gesehen und doch nicht gesehen, gewollt und doch nicht gewollt zu sein, beruht auf der Ambivalenz der Auf klärung, die proportional zu ihrem Prozeß der Entlarvung politisch verblindet [Hervorh. d. Vf.]«.124 Für die erste Drucklegung im Alber-Verlag plante Koselleck daher auch ein Unterkapitel über die »Verblindung [Hervorh. d. Vf.] der Kritik zur Hypokrisie«.125 Möglicherweise verband sich damit die assoziative Abgrenzung zur »Verblendung«, die eher als Folge einer von außen wirkenden Kraft erscheint, während »Verblindung« im Sinne des pathologischen Zustands der Blindheit innerlich verwurzelt bleibt, zumal Koselleck in Bezug auf die »Geheimnis«-Kultur der Freimaurer von »einem selbst [Hervorh. d. Vf.] geschaffenen Schleier« sprach.126 Durchaus möglich, dass die bedeutungsreiche Wortspielerei im Zusammenhang des Gesamtkonzepts einer Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt stand. Von Verlagsseite wurde die eigensinnige Wortfindung allerdings abgelehnt, »Verblindung« durch »Verblendung« ausgetauscht und dabei offensichtlich die mehrfache metaphorische Bedeutung sowie semantische Feinheit des Wortes übersehen, das Koselleck »gerne beibehalten« wollte, »zumal es«, wie er erklärte, »im Text des Buches verwendet und von dort her verständlich wird«.127 Darüber hinaus fällt auf, dass die Rolle des Betrachters in Kritik und Krise bis hinein in die Auswahl der Quellen präsent ist, die Kosellecks Darstellung zufolge allesamt ein spezieller Blick einte, der in wenigen Fällen auch zum Durchblick und damit zum Erkennen der Krise im Vorfeld der Revolution führte.128 Dabei gilt es sich ins Gedächtnis zu rufen, dass Licht Bedingung von Sehen und Sichtbarkeit ist.129 Der Sitz des Lichts ist das Auge,130 und »nur das Auge als ›körperliches Organ‹ ist imstande, den Weg zwischen Einzelnem und Ganzem […] zu bekanntlich Gottfried Boehm mit seinen »Studien zur Perspektivität: Philosophie und Kunst in der frühen Neuzeit« ein Jahrzehnt später vor: Gottfried Boehm, Studien zur Perspektivität: Philosophie und Kunst in der frühen Neuzeit, Heidelberg 1969. Aber auch Koselleck reflektierte diesen Bedeutungszusammenhang seit den frühen 1960er Jahren und kondensierte dies in dem Aufsatz: Reinhart Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit, in: ders., Vergangene Zukunf t, 176–207. 124 Koselleck, Kritik und Krise (1973), 15. 125 V gl. das Konvolut »Unterlagen und Korrespondenz zum Buch ›Kritik und Krise‹ im Alber-Verlag« (DLA, NRK, H). 126 Koselleck, Kritik und Krise (1954), 64. Ders., Kritik und Krise (1973), 55. 127 R einhart Koselleck an Johannes Harling, o. D. (vermutlich Anfang 1959) (DLA, NRK, H). Koselleck nutzte das Wort dann in Koselleck, Richtlinien, 87. 128 V gl. bspw. Koselleck, Kritik und Krise (1973), 31 und ders., Kritik und Krise (1954), 39, wo die Passage fehlt (DNB, FFM). 129 J ohann Kreuzer, Art. Licht, in: Ralf Konersmann (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007, 207–223, hier 211. 130 Kreuzer, Art. Licht, 208.
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gehen«.131 Das Auge befähigt so zur Einsicht in die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, in Strukturen und Geschehenszusammenhänge, was im Vorwort zur ersten Taschenbuchausgabe von Kritik und Krise im Jahr 1973 ganz selbstverständlich als bleibender Mehrwert der Studie dargestellt werden sollte. Zur selben Zeit hatte sich Kosellecks Blick entlang der Ref lexion auf »Standortbindung und Zeitlichkeit« bereits differenziert und pluralisiert,132 um schließlich im Bild polyfokaler »Zeitschichten« gebündelt zu werden. In der Pluralisierung des Blicks liegt nun eine werkgeschichtliche Entwicklung begründet, die sich noch einmal kunstgeschichtlich spiegeln lässt. Denn auch Caspar David Friedrich führte es in seiner Malerei von der monofokalen Rückenfigur – wie dem Wanderer – zum polyfokalen Landschaftsbild,133 wie prominent im Eismeer ins Bild gesetzt, das mit seinen Eisschollen dem Cover von Kosellecks drittem Aufsatzband Begrif fsgeschichten sehr ähnelt, während auch schon der vorangehende Aufsatzband Zeitschichten mit geologischen Gesteinsschichten ins Bild gesetzt wurde, wie sie in Friedrichs Landschaftsbildern ins Bildgedächtnis der modernen Malerei rückten. Dabei fällt erneut der doch seltsame Umstand ins Auge, dass die von Koselleck fokussierten Zeiträume und Gegenstände eigenwillig mit Kosellecks geschichtlichem Werk selbst verquickt sind:134 so im Fall der sogenannten ›Sattelzeit‹ als semantisch-begriff liche Umbruchphase im Übergang in die Moderne, die mit dem Übergang in die moderne visuelle Kultur zusammenfällt; oder wie im Fall von Kritik und Krise, worin Koselleck mit den Mitteln der Karikatur auf eine Zeit blickte, in der die politische Karikatur ihre Hochzeit erlebte. Schließlich stellt sich die freilich spekulative Frage, ob diese eigentümliche Verquickung auch damit zusammenhängen könnte, dass ein ›Augenmensch‹ seinen Blick auf eine Zeit richtete, die durch die Modernisierung des Sehens, verstanden als »kognitive Revolution«, diesen Augenmenschen explizit hervorbrachte,135 wie den Maler Caspar David Friedrich und den mit diesem befreundeten, für Kosellecks Selbstspiegelung so wichtigen Goethe. So nimmt es möglicherweise auch kaum Wunder, dass es »Goethes Blick auf die Geologie« sein sollte,136 der Kosel131 G ottfried Boehm, Bildsinn und Sinnesenergie, in: Neue Hef te für Philosophie 18/19 (1980), 118– 132, hier 132. 132 Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. 133 E welina Rzucidlo, Caspar David Friedrich und Wahrnehmung. Von der Rückenfigur zum Landschaf tsbild, Münster 1998. 134 D amit sei auch auf Hinweise von Ernst Müller und Falko Schmieder hingewiesen, die bemerkt haben, dass Kosellecks Begrif fsgeschichte methodisch selbst auf Eigenheiten ihres Untersuchungsgegenstandes zurückgrif f. Ernst Müller/Falko Schmieder, Begrif fsgeschichte und historische Semantik: Ein Kompendium, Berlin 2016, 286. 135 Vgl. dazu Boehm, Studien zur Perspektivität. 136 V gl. Reinhart Koselleck, handschrif tliche Skizze, abgelegt in den »Materialien zum Aufsatz ›Goethes unzeitgemäße Geschichte‹«, Mappe 2 (DLA, NRK, H).
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lecks Konzept der »Zeitschichten« maßgeblich beeinf lusste, und Koselleck nach seinem Goethe-Vortrag feststellen konnte, dass »ich meine eigene Geschichtstheorie naiverweise in Goethes Texten wiedergefunden habe«.137 Wie Christian Meier in seinem Nachruf anmerkte, steckt noch »eine ungeheure, geradezu übermenschliche Summe von Arbeit in […] Reinhart Kosellecks Hinterlassenschaft«,138 und diese könnte weit über sich hinausweisen. Denn Kosellecks Spuren geschichtlichen Denkens zwischen Bild und Text laden dazu ein, diese paradigmatische Verbindung neu zu ergründen und Wissenschaftsgeschichte und eigentlich Wissensgeschichte – die beide nicht selten auf den Augen blind sind – entlang des Sehens und der Sinne neu zu perspektivieren.
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Reinhart Koselleck – Geschichtsdenken zwischen Bild und Text
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Adriana Markantonatos
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Sattel, Schicht, Schwelle, Schleuse Kosellecks paradoxe Sprachbildlichkeit der pluralen Zeiten Helge Jordheim Abstract Zu Kosellecks wichtigsten Beiträgen zur Geschichtswissenschaft gehört zweifellos seine ›Theorie der geschichtlichen Zeiten‹, die im Moment ihren Siegeszug durch die historiographischen Theorielandschaften macht. Koselleck selbst ging es eher um die methodologische, erfahrungs- und forschungsleitende Funktion von Theorie als um deren Kohärenz. Ebenfalls war er mehr auf das einprägsame sprachliche Bild als auf analytische Konzeptualisierung bedacht. Den Stoff zur Konstruktion dieser Sprachbilder, die auch in seinen Fotografien dokumentiert werden, hat er in der physischen Außenwelt gefunden. An prominenter Stelle treten Sattel, Schichten, Schwellen und Schleusen auf. Sobald aus diesem Material Sprachbilder zur Analyse von historischen Vorgängen geschaffen werden, klaffen allerdings ihre Bedeutungen auseinander. Eine durchaus paradoxe Sprachbildlichkeit entsteht, die sehr zur Dynamik und Lebendigkeit seines Werkes beiträgt.
1. Intro: Sattelgeschichten In Band 34 von Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon Aller Wissenschaf f ten und Künste, herausgegeben zwischen 1731 und 1754, kann im Eintrag über das Wort ›Sattel‹ Folgendes nachgelesen werden: »Sattel, Sella, Selle, heißet derjenige Sitz, der auf das Pferd geleget wird, damit der Reuter desto bequemer darauf fortkommen möge. Er ist zusammengesetzt aus zweyen Sattelbögen, die von Holz, aber mit eisernen Blechen beschlagen sind, unter welchen zwey Kissen, die auf des Pferdes Rücken geschicklich anliegen; obenher ist er ausgepolstert, mit Leder, Tuch, oder andern Zeug überzogen, vorne mit einem Knopfe, der Sattelknopf genannt, gezieret, und etwas erhöhet, damit der Reuter fester sitzen könne; hinten hat er gleichfalls einen Gegenhalt.«1 1 J ohann Heinrich Zedler (Hg.), Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaf ten und Künste, Bd. 34, Halle/Leipzig 1742, 195 f., URL: https://www.zedler-lexikon.de/index.html?c=blaettern
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Helge Jordheim
Nach dieser einleitenden Definition und Beschreibung folgt die Auf listung verschiedener Satteltypen, teils nach nationaler Herkunft, im Falle des englischen, des deutschen und des polnischen Sattels, teils nach äußeren Kennzeichen: »der Tummelsattel, der geschlossene Kleppersattel, der f lache Kleppersattel«. Im Weiteren gibt der Eintrag einige Redeweisen an, in denen ›Sattel‹ im übertragenen Sinne vorkommt, »[e]inen aus dem Sattel heben«, »[s]ich in den Sattel schwingen«, »[i]n alle Sättel gerecht seyn«,2 gefolgt von Wortzusammensetzungen mit ›Sattel‹ als Präfix, die entweder sattelähnliche Objekte benennen, wie ›Sattelbein‹ und ›Sattelbaum‹, oder Objekte oder Praktiken, die mit dem Gebrauch von einem Sattel verbunden sind, wie ›Satteldach‹ und ›Sattelknecht‹. Dazu kommen einige Beispiele juristischer Fachterminologie, unter anderem ›Sattelgüter‹ und ›Sattellehnsrechte‹. Im letzten Drittel des Eintrages werden Passagen aus der Bibel, in denen ein Sattel vorkommt, wiedergegeben und kommentiert, wie es bei Zedler oft der Fall ist. Ungefähr hundertfünfzig Jahre später, im vierzehnten, 1893 erschienenen Band von Grimms Deutschem Wörterbuch, werden ebenfalls zwei Hauptbedeutungen des Lexems ›Sattel‹ angegeben: zum einen eine »sitzvorrichtung, die pferden, eseln u. s. w. auf den rücken gelegt wird, um das reiten bequemer zu machen«; zum anderen die Bezeichnung »von einem sattel ähnlichen oder verglichenen dingen«.3 Als Präfix ist ›Sattel‹- in der Zwischenzeit sehr produktiv geworden, und es werden mehr als achtzig Wortzusammensetzungen aufgelistet, die fast ohne Ausnahme von einer der beiden eben genannten Bedeutungen abgeleitet sind. Es geht entweder um die ›Sitzvorrichtung‹ oder um etwas, was ihr visuell-physisch ähnlich ist. Eine reiche metaphorische Produktion kann dem Wort ›Sattel‹ nicht zugeschrieben werden; im Gegenteil begrenzen sich die Anwendungen des Wortes darauf, sattelförmige Natur- oder Kulturobjekte zu benennen. Wenn wir noch ein knappes Jahrhundert in der Geschichte der deutschen Sprache vorrücken, hat sich allerdings etwas getan. Ein neues Lexikon ist erschienen, in dem das Wort ›Sattel‹ vorkommt, diesmal allerdings nicht als Nach schlagewort, sondern als Teil des theoretisch-methodologischen Rahmens. In diesem Werk, Geschichtliche Grundbegrif fe genannt und zwischen 1972 und 1997 erschienen, tritt ›Sattel‹ als Bestandteil eines analytischen Schlüsselbegriffes auf, der sogar als Begründung des gesamten Werkes vorgestellt wird:
&id=309224&bandnummer=34&seitenzahl=0111&supplement=0&dateiformat=1%27) [letzter Zugrif f: 28.01.2020]. 2 Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 34, 197. 3 J acob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 14, Leipzig 1893, URL: http://woer terbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GS02 185#XGS02185 [letzter Zugrif f: 28.01.2020].
Sattel, Schicht, Schwelle, Schleuse
»Der heuristische Vorgriff der Lexikonarbeit besteht in der Vermutung, daß sich seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ein tiefgreifender Bedeutungswandel klassischer topoi vollzogen, daß alte Worte neue Sinngehalte gewonnen haben, die mit Annäherung an unsere Gegenwart keiner Übersetzung mehr bedürftig sind. Der heuristische Vorgriff führt sozusagen eine ›Sattelzeit‹ ein, in der sich die Herkunft zu unserer Präsenz wandelt.« 4 Als der Mitherausgeber und primäre Formgeber des Lexikons Reinhart Koselleck seinem »heuristischen Vorgriff« diesen Namen gab, hat er nicht wissen können, dass sich gerade der Begriff der ›Sattelzeit‹ als vielleicht wichtigstes Merkzeichen seines Werkes durchsetzen würde – neben dem ebenfalls historiographisch sehr wirksamen Begriffspaar ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹.5 An sich ist das Wort eine Neuprägung. Weder in Zedlers Universal-Lexicon noch in Grimms Wörterbuch noch in anderen neueren Lexika und Wörterbüchern treten Anwendungen von ›Sattel‹ auf, die im buchstäblichen oder im übertragenen Sinne eine Aussage über die Form, Struktur, Dauer oder das Tempo der Zeit machen. Die Neuprägung ›Sattelzeit‹ ist daher durch eine klassische metaphorische Übertragung zustande gekommen: Eine Bedeutung aus der räumlich-physischen Welt der Pferde und Reiter ist auf die abstrakte Welt der Zeit, präziser, der historischen Zeit, übertragen worden. In dem obigen Zitat finden sich mindestens zwei Versuche, dieses Zeitphänomen etwas näher zu beschreiben: einmal chronologisch, durch ihren Anfang »seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts«; einmal geschichtstheoretisch, wie »sich die Herkunft zu unserer Präsenz wandelt«. Um diese geschichtliche Umbruchphase zu benennen, sucht sich Koselleck das Bild des Sattels aus. Später hat er versucht, die Bedeutsamkeit dieser Wortwahl herunterzuspielen, und sogar vorgeschlagen, man könnte ›Sattelzeit‹ durch ›Schwellenzeit‹ ersetzen, um eine »weniger ambivalente Metapher« zu finden.6 Allerdings macht dieser Versuch einer Selbstkorrektur seitens des Urhebers die ursprüngliche Metapher nur noch interessanter. In diesem Aufsatz wird uns die ›Sattelzeit‹ als Ausgangspunkt dienen, um einige Aspekte von Kosellecks Sprachbildern zu untersuchen. ›Sattel‹ gehört zu einer Gruppe von Wörtern, die in der Alltagssprache Gegenstände der physisch-räum4 R einhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegrif fe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, XIII–XXVII, hier XV. 5 R einhart Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien [1976], in: ders., Vergangene Zukunf t. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1995, 349– 375. 6 R einhart Koselleck, A Response to the Comments on the Geschichtliche Grundbegrif fe, in: Hartmut Lehmann/Helmut Richter (Hg.), The Meaning of Historical Terms and Concepts, Washington, D. C. 1996, 59–70, hier 69.
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lichen Außenwelt benennen, die bei ihm aber eine metaphorische Bedeutung und Funktion übernehmen. Andere Beispiele sind ›Schwelle‹, ›Schicht‹, und ›Schleuse‹, die aus der Welt der Architektur, der Geologie und der Schifffahrt kommen. In Kosellecks Werk treten alle vier als Zeitmetaphern auf, in Wortzusammensetzungen wie ›Zeitschichten‹, ›Erinnerungsschwellen‹ und ›Erinnerungsschleusen‹, neben den schon erwähnten Fügungen ›Sattelzeit‹ und ›Schwellenzeit‹. Einerseits werden uns diese Zeitmetaphern an sich interessieren, wo sie herkommen und welche Sinninhalte sie mit sich führen. Andererseits sollen sie darauf hin analysiert werden, wie sie zusammen eine Zeittheorie entfalten. Es wird gefragt, wie die Zeitmetaphern Kosellecks in den letzten zehn Jahren immer öfter ins Gespräch gebrachte »Theorie der geschichtlichen Zeiten«7 teils unterstützen, teils erweitert haben und ihr teils radikal entgegengetreten sind. Angesichts der vielen Versuche, Kosellecks zeittheoretische Ref lexionen zu einem kohärenten Theoriebau zusammenzufügen,8 besteht durchaus die Möglichkeit, die von ihm intensiv ins Feld geführte paradoxe Sprachbildlichkeit stark zu machen, als eine alternative Weise, historisch, kontextuell und mit konkretem Weltbezug über abstrakte Fragen von Zeit und Geschichte nachzudenken. Diesen Spannungen zwischen Zeittheorie und Sprachbildlichkeit soll in diesem Aufsatz nachgegangen werden.
2. Sprachbilder und Zeittheorie »Wer über Zeit spricht, ist auf Metaphern angewiesen«.9 In diesem Sinne eröffnet Koselleck die Einleitung zum ersten Band seiner gesammelten Aufsätze, der 2000 erschienenen Zeitschichten. Schon der Titel deutet für das Gesamtwerk, vertreten durch die vierzehn im Band aufgenommenen Texte, von denen die meisten in den achtziger Jahren entstanden sind, eine metaphorische Logik an. Ähnlich wie das sich über zwei Jahrzehnte hinziehende Projekt der Geschichtlichen Grundbegrif fe antizipatorisch der Metaphorik der ›Sattelzeit‹ zugeordnet wurde, wird den mit dem begriffsgeschichtlichen Projekt in Dialog tretenden Aufsätzen über Zeit- und Geschichtstheorie rückblickend durch den Titel Zeitschichten eine metaphorische Kontinuität verliehen. Auf diesen augenfälligen, biographisch-intentional wohl eher impressionistisch motivierten Metaphernwechsel, mit dem allerdings eine mögliche metaphorische oder zumindest von Metaphern geleitete Periodisierung 7 R einhart Koselleck, Über die Theoriebedürf tigkeit der Geschichtswissenschaf t, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, 298–316, hier 302. 8 S iehe z. B. John Zammito, Koselleck’s Philosophy of Historical Time(s) and the Practice of History, in: History and Theory 43 (1/2004), 124–135; Helge Jordheim, Against Periodization: Koselleck’s Theory of Multiple Temporalities, in: History and Theory 51 (2/2012), 151–171. 9 Reinhart Koselleck, Einleitung, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, 9–16, hier 9.
Sattel, Schicht, Schwelle, Schleuse
von Kosellecks Werk verbunden sein könnte, komme ich später zurück. Zwischen der Metaphorik des Sattels, bzw. der Schwelle, und der Metaphorik der Schicht besteht im Gesamtwerk Kosellecks eine Spannung, die sich diachron und synchron verfolgen lässt. An dieser Stelle geht es mir zunächst um eine etwas andere Spannung zwischen der bemerkenswerten Dominanz metaphorischen Denkens und Schreibens in Kosellecks Werk und seiner Abneigung, diesen Aspekt der Sprache einer expliziten, theoretisch informierten Analyse zu unterziehen. Ziel ist allerdings nicht, das Fehlen einer Theorie der Metapher in Kosellecks Werk zu kritisieren, sondern seine Anwendung von Metaphern in der Entwicklung seiner Theorie der historischen Zeiten zu erörtern. Ohne diese Spannung zwischen Theorie und Praxis einzubeziehen, ist es unmöglich, Kosellecks eigene konzeptionelle Sprachbildlichkeit zu verstehen. Auf Kosellecks nur sehr zögernde Aufnahme metaphorologischer, das heißt metapherntheoretischer und metaphernhistorischer Denkweisen in seine begriffsgeschichtlichen Analysen hat Frank Beck Lassen ausführlich hingewiesen. Zentral sind dabei seine Reaktionen auf die Arbeiten Hans Blumenbergs. Anhand zweier zur Fertigstellung des letzten Bandes der Geschichtlichen Grundbegrif fe 1992 verfasster Texte, darunter das letzte Vorwort sowie die Antwort auf Kommentare bei dem von Melvin Richter zu diesem Anlass organisierten Seminar, weist Beck Lassen nach, wie Koselleck Blumenbergs metaphorologischen Ansatz lobt und das Fehlen einer systematischen Erfragung der »Metaphorik unserer Begriffe« bedauert.10 Koselleck betont aber zugleich, wie eine solche metaphorologische Erweiterung der Begriffsgeschichte das Lexikon »überfordert«.11 Kosellecks eigenhändig verfasste Begrif fsgeschichten, von denen einige im zweiten, 2006 erschienen Band der gesammelten Aufsätze Begrif fsgeschichten enthalten sind, erzählen allerdings eine etwas andere Geschichte. Durchgehend weist Koselleck auf metaphorische Inhalte von Begriffen und Semantiken hin, darunter Lichtmetaphorik, Kreislaufmetaphorik, Körpermetaphorik, Wiederholungsmetaphorik, Umsturzmetaphorik, und nicht zuletzt Zeitmetaphorik, um nur einige Beispiele zu nennen. Angesichts der Ausstellung Reinhart Koselleck und das Bild 12 leuchtet ein, dass Kosellecks Interesse an Bildlichkeit vor allem einen praktischen Ausgangspunkt hatte, und zwar im doppelten Sinne: sowohl die eigene fotografische Praxis als auch die Erforschung von Visualität als Quelle historischer Praktiken betreffend. 10 F rank Beck Lassen, ›Metaphorically Speaking‹ – Begrif fsgeschichte and Blumenberg’s Metaphorologie, in: Riccardo Pozzo/Marco Sgarbi (Hg.), Eine Typologie der Formen der Begrif fsgeschichte, Hamburg 2010, 53–71, hier 54. 11 L assen, ›Metaphorically Speaking‹, 54. 12 V gl. die Webseite der Ausstellung: https://www.uni-bielefeld.de/geschichte/zthf/koselleckund-das-bild.html/ [letzter Zugrif f: 07.06.2020].
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Beide werden ausführlich in diesem Band beschrieben. Etwas Ähnliches könnte allerdings über sein Verhältnis zur Sprache gesagt werden. Auch in seiner Handhabung von Sprache und Sprachlichkeit ist Koselleck mehr Praktiker als Theoretiker, was ihn von anderen Vertretern des linguistic turn, sowohl in ihrer strukturalistischen als auch in ihrer hermeneutischen und pragmatischen Ausprägung, unterscheidet. An mehreren Stellen in seinem Werk setzt er sich von anderen verwandten theoretischen Ansätzen seiner Gegenwart ab, die der Sprache einen nach seinen Begriffen zu hohen Grad der Autonomie gegenüber der Wirklichkeit und der Geschichte zuschreiben. Sowohl in der Einleitung als auch in einem abschließenden Vorwort zu den Geschichtlichen Grundbegrif fen warnt er davor, sich den Theorien Ferdinand de Saussures und im Allgemeinen der »strukturalistischen Linguistik« hinzugeben.13 Insofern ist es auch symptomatisch, dass er sich eine Leitfigur aus dem Bereich der Linguistik aussucht, den Rumänen Eugenio Coseriu, der in der humboldtschen, zentraleuropäischen Tradition steht, und der sich vor allem für die Dynamik und Geschichtlichkeit der Sprache interessiert. Noch bekannter ist allerdings Kosellecks Auseinandersetzung mit der hermeneutischen Sprachtheorie in einem anlässlich des 85. Geburtstages seines ehemaligen Lehrers Hans-Georg Gadamer gehaltenen Vortrag, der später als Historik und Hermeneutik veröffentlicht wurde. Laut Koselleck ist Gadamer zu weit gegangen, der Sprache den Vorrang vor der Geschichte einzuräumen. Dem will er durch seine an Johann Gustav Droysen, Carl Schmitt und Martin Heidegger orientierte Historik entgegenwirken.14 Aber die Strategien weisen trotzdem Parallelen auf: Strukturalistische Linguistik, Hermeneutik und Metaphorologie haben gemeinsam, dass sie sich mehr für die Strukturen, Funktionsweisen und Erfahrungsformen der Sprache interessieren als für ihre Rolle in historischen Ereignissen und Prozessen, für die situative »Konvergenz von Begriff und Geschichte«, die allerdings keinen »naive[n] Zirkelschluß von Wort auf den Sachverhalt und zurück« darstellt, sondern »eine Spannung, die bald aufgehoben wird, bald wieder auf bricht, bald unlösbar erscheint«.15 Dieses Konvergenzverhältnis, das in »Wortbedeutungswandel und Sachwandel, Situationswechsel und Zwang zur Neubenennung« manifest wird, kann erst durch einen Ansatz erforscht werden, der einerseits historische 13 I n der Einleitung zum Lexikon hebt er das »Interesse an der Geschichtlichkeit der behandelten Grundbegriffe« als Kennzeichen der Begriffsgeschichte hervor, durch das sie sich »von Ansätzen der modernen Sprachwissenschaft, speziell der strukturalistischen Linguistik« unterscheidet. Später, im Vorwort zum letzten regulären Band des Lexikons, warnt er davor, wie leicht »linguistische Semantik […] zur synchronen Textanalyse« gerinnen kann. Vgl. Reinhart Koselleck, Einleitung [Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1], XXI und Reinhart Koselleck, Vorwort, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart 1992, V–VIII, hier VI. 14 R einhart Koselleck, Historik und Hermeneutik, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, 97–118, hier 98–99. 15 Koselleck, Einleitung [Geschichtliche Grundbegrif fe, Bd. 1], XXIII.
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sprachliche Praktiken empirisch-kontextuell untersucht und andererseits selbst eine innovative sprachlich-kontextuelle Praxis entwickelt, die fähig ist, diese historischen Praktiken den gegenwärtigen Menschen greif bar zu machen. In diesem Sinne sollte auch Kosellecks Sprachbildlichkeit verstanden werden. Kosellecks Bedürfnis, eine Abgrenzung zu strukturalistischen und hermeneutischen Sprachtheorien und folglich zur Metaphorologie vorzunehmen, hängt mit seiner Zeittheorie zusammen, die Zeit und Geschichte aus der Erfahrung der Zeitpluralität und Ungleichzeitigkeit heraus verstehen will. Ein historisches Ereignis, beispielsweise eine politische Krise oder einen historischen Prozess wie den Fortschritt zu verstehen, heißt für ihn immer die diesem Ereignis oder diesem Prozess innewohnenden Ungleichzeitigkeiten nachzuvollziehen. Sprache dagegen, im strukturalistischen, hermeneutischen oder pragmatischen Sinne, täuscht eine völlige Gleichzeitigkeit vor – sei es im Sinne einer synchronen Sprachstruktur, der Unmittelbarkeit menschlicher Erfahrungen oder des Kairos-Elementes einer rhetorischen Handlung. Erst wenn der sprachliche Ausdruck auf seinen historischen Kontext bezogen wird, sowohl diachron als auch synchron, kommen seine innewohnenden Ungleichzeitigkeiten zum Vorschein. In diesem Sinne sollte Kosellecks Verwendung des viel kritisierten Topos der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« verstanden werden, der auf den kunstgeschichtlichen Generationenbegriff Wilhelm Pinders, den soziologischen Generationenbegriff Karl Mannheims sowie Ernst Blochs Bloßstellung der destruktiven, rückwärtsgewandten Utopie des Nationalsozialismus zurückgeht.16 Der theoretisch-methodologische Ausgangspunkt für Kosellecks Theorie der Ungleichzeitigkeit und, davon abgeleitet, seine Theorie der pluralen historischen Zeiten war die Begriffsgeschichte. Erst in der »Konvergenz zwischen Begriff und Geschichte« oder auch in der Rolle der Begriffe »als Faktoren und als Indikatoren geschichtlicher Bewegung«17 können »Bedeutungsüberhänge beachtet werden, denen keine Wirklichkeit mehr entspricht, oder Wirklichkeiten […], deren Bedeutung unbewusst bleibt«.18 Zwanzig Jahre später in der Einleitung zu dem im Jahre 2000 erschienenen Sammelband Zeitschichten weitet Koselleck diese Einsicht auf alle ›Lebenszusammenhänge‹ aus: »Was ereignet sich nicht alles zu gleicher Zeit, was sowohl diachron wie synchron aus völlig heterogenen Lebenszusammenhängen hervorgeht.«19 Um diese Struktur historischen Wandels zu analysieren, 16 W ilhelm Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas, München 1961, 33; Ernst Bloch, Erbschaf t dieser Zeit, erw. Ausg. Frankfurt a. M. 1985 [1962],104; Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. von Kurt H. Wolf f, Neuwied/Berlin 1964, 509–565. 17 Koselleck, Einleitung, [Geschichtliche Grundbegrif fe, Bd. 1], XXIII, XIV. 18 Koselleck, Einleitung, [Geschichtliche Grundbegrif fe, Bd. 1], XXI. 19 Koselleck, Einleitung [Zeitschichten], 9.
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hat Koselleck seine »Theorie der geschichtlichen Zeiten« entwickelt und ihr eine eigenartige sprachliche Form gegeben, die unter anderem auf einer Handvoll Metaphern beruht, in erster Linie ›Sattel‹, ›Schwelle‹, ›Schleuse‹ und ›Schicht‹. Im folgenden Teil dieses Aufsatzes geht es mir darum, die Rolle dieser Metaphern in Kosellecks zeittheoretischer Arbeit besser zu verstehen. Allerdings wäre es durchaus missverstanden, die Metaphern als pure Verbildlichung einer theoretisch entwickelten und begründeten Begriff lichkeit zu verstehen. Im Gegenteil sind Kosellecks Metaphern theoriegenerativ und gedankenerzeugend, und zwar in einer Weise, die die Begriff lichkeit in Frage stellt und deren Paradoxien aufdeckt.
3. Sattelzeit/Zeitsattel Eine Zeittheorie bringt die fundamentalen Prinzipien der Zeit möglichst direkt zur Sprache. Eine solche Theorie kann es allerdings laut Koselleck nicht geben, denn die Worte, die wir verwenden, um über die Existenz- und Funktionsweisen der Zeit eine Aussage zu machen, müssen notwendigerweise ihre Sinngehalte aus einem anderen Bereich der Wirklichkeit holen. »Genuin geschichtliche Begriffe, die es mit der geschichtlichen Zeit zu tun haben«, stellt Koselleck fest, »gibt es zunächst nicht«.20 Stattdessen macht die Zeittheorie »Anleihen aus den jeweils obwaltenden Erfahrungsbereichen, aus dem Mythos, aus dem politischen Verfassungsleben, aus Kirche und Theologie, aus der Technik und der Naturwissenschaften, um geschichtliche Phänomene zu beschreiben«.21 »Immer«, fügt er hinzu, »handelt es sich um Metaphern«.22 Jede Zeittheorie ist in diesem Sinne als metaphorisch anzusehen. Sinngehalte werden aus dem Leben der Menschen und ihrer Umwelt auf den Zeitverlauf übertragen, Dauer, Tempi und Rhythmen. Stets betont Koselleck, wie Zeit »nur über Bewegung in bestimmten Raumeinheiten anschaulich zu machen« ist.23 Ein wiederkehrendes Beispiel ist der ›Fortschritt‹, der die räumliche Figur des ›Schreitens‹ sowie den Vektor ›fort‹ auf den Zeitverlauf der Geschichte überträgt. Der Verlauf der Zeit kann metaphorisch als ein räumliches Fortschreiten konzipiert werden. Aber es gibt auch jede Menge andere Beispiele, wie Raumbegriffe mobilisiert werden, um Zeitphänomene zu benennen. Einige von ihnen – ›Sattel‹, ›Schwelle‹, ›Schleuse‹, ›Schicht‹ – werden in diesem Aufsatz zum Thema gemacht. 20 R einhart Koselleck, ›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹ – Nachtrag zur Geschichte zweier Begrif fe, in: ders., Begrif fsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, 159–181, hier 162. 21 Koselleck, ›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹, 162. 22 Koselleck, ›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹, 162. 23 Koselleck, Einleitung [Zeitschichten], 9.
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Zunächst nähern wir uns dem schon oben angesprochenen Wort ›Sattel‹, der im semantischen Bereich des Pferdehaltens seinen Ursprung hat, wie wir schon in den Einträgen aus den einf lussreichsten deutschen Wörterbüchern des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts gesehen haben. In den theoretisch-methodischen Vorarbeiten zu den Geschichtlichen Grundbegrif fen übernimmt das Wort ›Sattel‹ eine metaphorische Funktion, und zwar im Begriff der ›Sattelzeit‹, der zunächst eine Übergangs- oder Umbruchphase in der deutschen und europäischen Geschichte vorsieht: »die Auf lösung der alten und Entstehung der modernen Welt«.24 Welche Rolle diese Zeitmetapher in Kosellecks Zeittheorie spielt, bleibt allerdings zunächst ungeklärt, zum Teil weil der metaphorische Inhalt des ›Sattels‹ als schwierig bestimmbar erscheint. Koselleck selbst hat wenig zur Inhaltsbestimmung der Metapher beigetragen. Tatsächlich stellt er in einem Gespräch mit Christoph Dipper fest, ›Sattelzeit‹ sei nichts als ein »Kunstbegriff«, den er »benutzt habe, um Geld zu bekommen«, und der an sich nicht sehr gut passe.25 Gern hätte er sie im Rückblick durch ›Schwellenzeit‹ ersetzt.26 Dieses Urteil des Urhebers ist bei mehreren Kommentatoren auf Zustimmung gestoßen, an erster Stelle bei Daniel Fulda, der sich auch mit der in der Metapher angelegten Bedeutungsübertragung beschäftigt. »Passend ist die Sattelmetapher«, schreibt er, »wenn man sich einen Einschnitt im Gebirge vorstellt, wo der Wanderer vergleichsweise bequem aus dem einen Tal ins andere wechselt, analog zum Übergang von alteuropäischen Begriffsbedeutungen zu modernen«.27 Der Sattel wäre insofern im Sinne der »montan-topographische[n] Metapher« des »Gebirgskamm[s]« zu verstehen, der schon eine Sinnübertragung aus dem Bereich des Pferdehaltens in den Bereich des Bergwanderns zugrunde liegt. Dass Sattel qua Bergsattel eine topographische und naturgeschichtliche Bedeutung hat, könnte als Vorwegnahme der späteren metaphorischen Anleihe bei der Naturgeschichte beziehungsweise der Geologie im Falle der Schichtenmetapher gelten. Allerdings lasse ich mich von diesem Kurzschluss der Metapherngeschichte, der das Reiten und den Reiter ganz aus dem Spiel lässt, nicht ganz überzeugen. Besonders kann ich Fulda nicht folgen – weder in seiner Koselleck-Interpretation noch in seinem Landschaftsverständnis – wenn er behauptet, der im Wort »Sattel« gemeinte Bergsattel oder Gebirgskamm erlaube »kein[en] Blick aus dem einen ins 24 Koselleck, Einleitung [Geschichtliche Grundbegrif fe, Bd. 1], XIV. 25 R einhart Koselleck/Christof Dipper, Begrif fsgeschichte, Sozialgeschichte, begrif fene Geschichte. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Christof Dipper, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), 187–205, hier 195. 26 Reinhart Koselleck, A Response, 69. 27 D aniel Fulda, Sattelzeit. Karriere und Problematik eines kulturwissenschaf tlichen Zentralbegrif fs, in: Elisabeth Décultot/Daniel Fulda (Hg.), Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 52), Berlin/Boston 2016, 1–16, hier 2.
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andere Tal«.28 Eben die beiden Blickrichtungen, nach vorne und nach hinten, ins eine Tal sowie ins andere, kommen mir in Kosellecks Verwendung der Metapher als entscheidend vor. Ich lasse mich daher nicht ohne Weiteres überzeugen, dass die »Vorstellung eines Reitsattels«, der ja zweifellos Koselleck, der in der Jugend viel geritten ist und der im Alter tausende Fotos von Reiterdenkmälern angefertigt und gesammelt hat, am nächsten lag, »[v]ollends keinen Sinn« mache – vor allem nicht aus dem von Fulda angeführten Grund: »weil man dann die Frage beantworten müsste, wer der Reiter ist«.29 Es ist, als habe Fulda vergessen, dass wir es im Falle Kosellecks nicht mit einem Hegelianer, sondern mit einem »soliden Historisten«30 zu tun haben, der sich nie erlauben würde, über Geschichte als »Weltseele« oder »Weltgeist zu Pferde« Phantasien zu machen. In den Sattel kann sich letztendlich jeder historische Akteur hochschwingen, um nach hinten oder nach vorne in die Geschichte zu blicken. Es muss kein Napoleon sein. Die Sattelmetapher bringt semantische Ressourcen ins Spiel, die für Kosellecks Geschichtsdenken von entscheidender Bedeutung sind und die verloren gehen, wenn der ursprünglich in Zedlers Universal-Lexicon nachgewiesene Sinn des Reitsattels nicht mitklingen darf. Interessant an der Sattelzeitmetapher ist nicht in erster Linie ihre philologische oder intentionale Bedeutung, sondern ihr Beitrag zu Kosellecks Zeit- und Geschichtstheorie an der Schnittstelle von Produktion und Rezeption, Autorintentionen und Leserreaktionen.31 Die »Unschärfe« der Metapher ist ihr wichtigster »Erfolgsfaktor«, schlägt Fulda vor,32 was ja auch zu Kosellecks Fotos passt, die oft eine gewisse Unschärfe besitzen, die auf Bewegung, Veränderlichkeit und Kontingenz hinweisen. Oder anders gesagt, im Anschluss an Paul Ricœurs Sprachphilosophie: Diese Metapher bietet einen »Sinnüberschuss« an,33 der ihre mehr oder weniger kritische Aufnahme in der deutschen und später in der europäischen und gar transnationalen Historiographie begleitet.34 In den Übernahmen der Sattelzeitmetapher in der historiographischen Literatur ist allerdings 28 Fulda, Sattelzeit, 2. 29 Fulda, Sattelzeit, 3. 30 R einhart Koselleck, Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begrif fe der Neuzeit, in: Archiv für Begrif fsgeschichte XI (1967), 81–99, hier 91. 31 V gl. dazu z. B. Helge Jordheim, »Unzählbar viele Zeiten«. Die Sattelzeit im Spiegel der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in: Hans Joas/Peter Vogt (Hg.), Begrif fene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, 449–480. 32 Fulda, Sattelzeit, 1. 33 Paul Ricœur, Interpretation Theory: Discourse and the Surplus of Meaning, Fort Worth, TX 1976. 34 F ulda, Sattelzeit, 1; Jörn Leonhard, Erfahrungsgeschichten der Moderne: Von der komparativen Semantik zur Temporalisierung europäischer Sattelzeiten, in: Joas/Vogt (Hg.), Begrif fene Geschichte, 423–448; vgl. Margrit Pernau/Dominic Sachsenmaier (Hg.), Global Conceptual History: A Reader, London 2016.
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zunächst wenig von dieser ›Unschärfe‹ oder dem ›Sinnüberschuss‹ zu spüren. Im Gegenteil hat sich die Metapher vor allem als chronologischer Periodenbegriff durchgesetzt, zur Abgrenzung der Zeit zwischen 1750 und 1830 beziehungsweise 1850.35 Unscharf ist in diesem Sinne nur der Endpunkt, der zwischen 1830 und 1850 alterniert. Oft wird darauf hingewiesen, dass Kosellecks ›Sattelzeit‹ einigermaßen mit der von Michel Foucault hypostasierten Bruchstelle zwischen der klassischen und der modernen épistémè zusammenfällt.36 Einschlägiger ist allerdings ihr Zusammenfallen mit der Epoche des deutschen Idealismus, der genau wie die ›Sattelzeit‹ die politische Umwälzung der Französischen Revolution etwas in den Hintergrund rückt, um eine Reihe längerfristiger sprachlich-kultureller Transformationsprozesse, die vor allem im deutschen Sprachgebiet ihren Ursprung haben, in den Blick zu bekommen. Dass die ›Sattelzeit‹ in die Rolle eines chronologisch begründeten Epochenbegriffs geschlüpft ist, zeigt sich vor allem in den vielen oft eher kritisch angelegten Versuchen, ähnliche Periodisierungen außerhalb des deutschen Sprachgebiets und Kulturkreises wiederzufinden, wie etwa im Versuch Jörn Leonards, durch einen systematischen Vergleich von Liberalismusbegriffen in Deutsch, Französisch und Englisch die verschiedenen ›Sattelzeiten‹ dieser nationalen Geschichten chronologisch-historisch einzuordnen.37 Im ähnlichen Sinne hat die postkoloniale und transnationale Historiographie Kosellecks Sattelzeitbegriff einen starken Eurozentrismus angekreidet, der für andere historische Rhythmen, die nicht mit dem deutsch-europäischen synchronisiert sind, kein Interesse habe.38 Letztendlich brachte Kathleen Davis anhand von Kosellecks Werk die Verknüpfung von politischer Theorie und Periodisierung zur Sprache, indem sie ihn beschuldigt hat, eine Säuberung des von Carl Schmitt in die Welt gebrachten, politisch-theologischen Souveränitätsdenkens vorzunehmen, weil er dessen Ursprünge in die vorsattelzeitliche Welt zurückversetzt.39 Eben diese »Politik der Periodisierung« kann durch Kosellecks eigene Betonung, 35 V gl. z. B. Jürgen Osterhammel, Über die Periodisierung der neueren Geschichte, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaf ten, Berichte und Abhandlungen 10 (2006), 45–64. 36 Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966. Für einen kritischen Vergleich siehe Gabriel Motzkin, On the Notion of Historical (Dis)Continuity: Reinhart Koselleck’s Construction of the Sattelzeit, in: Contributions to the History of Concepts 1 (2/2005), 145–158; Elías Palti, Koselleck – Foucault: The Birth and Death of Philosophy of History, in: Concha Roldán, Daniel Brauer, Johannes Rohbeck (Hg.), Philosophy of Globalization, Berlin/ Boston 2018, 409–422. 37 Leonhard, Erfahrungsgeschichten der Moderne. 38 K ostas Vlassopoulos, Aquiring (A)historicity: Greek History, Temporalities, and Eurocentrism in the Sattelzeit, in: Alexandra Lianeri (Hg.), The Western Time of Ancient History: Historiographical Encounters with the Greek and Roman Pasts, Cambridge, MA 2011, 156–178. 39 K athleen Davis, Periodization and Sovereignty: How Ideas of Feudalism and Secularization Govern the Politics of Time, Philadelphia, PA 2008, 87–88.
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er hätte gerne die ›Sattelzeit‹ in ›Schwellenzeit‹ umbenannt, oder auch durch seine Analysen der radikalen Asymmetrie der Neuzeit, deren Erwartungshorizont sich von dem Erfahrungsraum der Vormoderne völlig losgelöst hat,40 nur verstärkt werden. Auch aus diesem Grund möchte ich zunächst sowohl zu Kosellecks Selbstkorrektur als auch zu Fuldas Bekräftigung derselben durch die Aussage, ›Schwellenzeit‹ sei »nicht nur klarer, sondern auch die passendere Bezeichnung für das […], was Koselleck meint«, eine gewisse Distanz halten.41 Als Metapher hat der ›Sattel‹ semantische Ressourcen, die in einer Umbenennung zur ›Schwelle‹ schnell verloren gehen könnten. Während die ›Schwelle‹ zum Überschreiten da ist, deutet der Sattel ein Verweilen an, eine Möglichkeit, sich für eine Weile einzurichten. Die Sattelzeit wird zum Zeitsattel. Mehr als eine historische Periode stellt die Sattelzeit eine Gegenwart, ein Jetzt, dar, einen fast Benjaminischen Augenblick, dem allerdings kein Messianismus, sondern eine säkulare, an Fortschrittsutopismus grenzende Zukunftsorientierung innewohnt. Angesiedelt zwischen Vergangenheit und Zukunft umfasst die ›Sattelzeit‹ eine Erfahrung von Gegenwärtigkeit und Gleichzeitigkeit. Zu Recht hat Gabriel Motzkin betont, die ›Sattelzeit‹-These bringe vor allem die »Gleichzeitigkeit der Moderne« zur Sprache und ihre wichtigste Funktion bestehe darin, unsere Erfahrung von Gegenwart die letzten zweihundertfünfzig Jahre europäischer Geschichte umfassen zu lassen.42 In der Forschung ist Koselleck vor allem durch seine Historisierung der Zukunft bekannt geworden, die eine historiographische Untersuchung von ›vergangenen Zukünften‹ in die Wege leitete. Die Sattelzeitmetapher kann als Komplement dazu, im Sinne einer Historisierung der Gegenwart und der Gegenwartserfahrung, verstanden werden, die allerdings ebenfalls eine phänomenologische Ausweitung dieser Temporalkategorie voraussetzt: Laut der aristotelisch-augustinischen Zeitkonzeption ist die Gegenwart als Diskretum, als Grenze, oder gar Schwelle, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zu verstehen, die selbst keine Ausdehnung hat. Ein Beispiel dafür liefert die berühmte Gegenwartsreduktion des heiligen Augustinus, die für die Gegenwart zunächst eine Zeitperiode von hundert Jahren vorsieht, aber durch eine Reihe Skalierungen letztendlich bei deren chronologischer Nicht-Ausdehnung landet. Dagegen richten sich die zeitphilosophischen Schriften Edmund Husserls, in denen er die Gegenwart nicht als Diskretum, sondern als extensionales Zeitfeld, als ein Kontinuum begreifen will.43 Diese phänomenologische Konzeption der Gegenwart, die allerdings ebenfalls ihre Ursprünge bei Augustinus hat, dehnt 40 Koselleck, ›Erfahrungsraum‹, 366. 41 Fulda, Sattelzeit, 3. 42 Motzkin, On the Notion of Historical (Dis)Continuity, 152. 43 E dmund Husserl, Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Text nach Husserliana, Bd. X, hg. u. eingel. von Rudolf Bernet, Hamburg 1985, 20 f f.
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sich durch menschliche Erfahrung auf Vergangenheit und Zukunft aus. Bei Husserl besteht die Gegenwart aus der ›Retention‹ vergangener Erfahrungen sowie Augenblicken der antizipierenden ›Protention‹, verbunden durch eine Bewegung, wobei jede Protention fortlaufend in Retention übergeht.44 Kosellecks Sattelzeit könnte als ein solches extensionales Zeitfeld verstanden werden, das in die Geschichte zurückprojiziert und auf ungefähr hundert Jahre ausgedehnt wird. Angelegt in der Metapher des Sattels liegt also einerseits die Zweidimensionalität, Länge und Breite, andererseits aber die in Grimms Wörterbuch benannte Funktion als ›Sitzvorrichtung‹ sowie die damit verbundenen Blickrichtungen, nach hinten in die Vergangenheit, nach vorne in die Zukunft, die allerdings nicht im Sinne Fuldas ohne weiteres auf einen Reiter schließen lassen. In der Einleitung zu den Geschichtlichen Grundbegrif fen leitet Kosellecks erster Hinweis auf die ›Sattelzeit‹ unmittelbar zu einer anderen Metapher über, die den Blick vom Sattel nicht in einem Reiter verortet, sondern im Sinne Heideggers in der Sprache selbst. In der ›Sattelzeit‹ tragen die Begriffe das Gesicht des römischen Gottes Janus: »Entsprechende Begriffe tragen ein Janusgesicht: rückwärtsgewandt meinen sie soziale und politische Sachverhalte, die uns ohne kritischen Kommentar nicht mehr verständlich sind, vorwärts und uns zugewandt haben sie Bedeutungen gewonnen, die zwar erläutert werden können, die aber auch unmittelbar verständlich zu sein scheinen.« 45 Diese Metapher des ›Zeitsattels‹, die in Kosellecks ›Sattelzeit‹ mitklingt, hat ihre ausgeprägteste Form bei dem amerikanischen Pragmatisten William James gefunden. In seinen Principles of Psychology von 1890 beschreibt James die Gegenwart als »a saddle-back, with a certain breadth of its own on which we sit perched and from which we look in two directions into time«.46 Der Unterschied zu Koselleck ist ebenso auffällig wie die Ähnlichkeiten. Beide berufen sich auf den Sattel als einer Zeitmetapher zur Veranschaulichung des Verhältnisses zwischen den drei Dimensionen der Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wo aber James eine Aussage über die spezifische Zeitstruktur der menschlichen Erkenntnis macht, über den durch das Pronomen »we« vertretenen, im Sattel niedergelassenen Reiter, richtet sich Kosellecks Hinweis auf den ›Zeitsattel‹ weniger auf die menschliche Psychologie als auf eine Struktur der Wirklichkeit selbst, die im Sinne von Gadamers Hermeneutik oder Droysens Historik konzipiert werden kann und die sich in den Begriffen manifestiert.
44 Husserl, Texte zur Phänomenologie, 20 f f. 45 Koselleck, Einleitung [Geschichtliche Grundbegrif fe, Bd. 1], XV. 46 William James, The Principles of Psychology, Bd. 1, New York/London 1890, 609.
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Letztendlich können wir nicht über Kosellecks Verwendung der Metapher des Sattels reden, ohne darauf hinzuweisen, wie diese Metapher im Laufe seines Lebens und Werkes immer mehr an Realität, an historisch-materiellem Inhalt annimmt. In seinem veröffentlichten Werk kommt sein Interesse an Reiterdenkmälern, ihrer Aufstellung im Stadtraum, der Identität des Reiters sowie der Körperposition des Pferdes nur andeutungsweise zum Ausdruck.47 Sobald sein fotografisches Werk einbezogen wird wie in diesem Buch und der ihm zugrundeliegenden Ausstellung, finden allerdings Sattel, Reiter und Pferd den Weg ins Zentrum seines Denkens. Dass Koselleck zum Ende seines Lebens im Begriff war, eine Geschichte der europäischen Moderne auf der Basis der überall auf dem Kontinent aufgestellten Reiterdenkmäler zu konzipieren, rückt seine Metapher der ›Sattelzeit‹ aus der Einleitung zu den Geschichtlichen Grundbegrif fen in ein etwas anderes Licht – insofern als der Sattel, in diesem Fall der Reitsattel, über mehr als dreißig Jahre als ein konstitutives Element seines Denkens erscheint. Der Sattel als eine Art metaphorische Umrahmung seines ganzen Werkes kommt uns allerdings nur in den Blick, wenn wir diese Bedeutungsvielfalt und -spannungen nicht von vornherein topographisch und naturgeschichtlich kurzschließen, sondern produktiv und generativ Kosellecks Denken prägen lassen. Erst auf diese Weise kommt auch das Zusammenspiel zwischen der Sattelmetapher und den anderen werkprägenden Metaphern – Schwelle, Schleuse, und Schicht – zum Vorschein.
4. Schwelle, Schleuse, Schicht Dass die in Geschichtstheorie und Geschichtsschreibung wesentlich mehr verbreitete Schwellenmetapher vor allem als Korrektur und Präzisierung der Sattelmetapher zu verstehen ist, wurde oben schon angesprochen. In der zeitlichen Anwendung der Schwellen-Metapher ist allerdings der ursprüngliche, aus der Architektur stammende Bedeutungsinhalt, der zum Beispiel im Wort ›Türschwelle‹ erkennbar ist, so sehr abgeschwächt, dass die metaphorische Konkretion der geometrischen Abstraktion hat weichen müssen. Darin unterscheidet sich die Schwellenmetapher von einer anderen Metapher, die in ihrer geschichtstheoretischen Funktion eng verwandt ist: der Schleuse. Auf einer im Herbst 1984 von der Polnischen Akademie der Wissenschaften organisierten Tagung hielt Koselleck einen Vortrag, der den Einf luss der beiden Weltkriege auf das soziale Bewusstsein zum Thema hatte und in dessen erst 1992 zu Papier gebrachtem Titel er diese neue geschichtstheoretische Metapher einführte. Überschneidungen mit der Sattelmetaphorik gibt es insofern, als auch diese Metapher Sinngehalte aus dem 47 R einhart Koselleck, Einleitung, in: Reinhart Koselleck/Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, 9–20, hier 13.
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Bereich der Kommunikation, Bewegung und Beförderung von Menschen und Gütern evoziert, allerdings nicht mehr auf dem Land, sondern auf dem Wasser. Ähnlich wie im Falle der ›Sattelzeit‹ bemüht sich Koselleck nicht, seiner metaphorischen Wortbildung ›Erinnerungsschleusen‹ einen präzisen historischen oder theoretischen Inhalt zu geben, sondern führt sie emblematisch im Titel seines Aufsatzes ein. Dieser Titel verdankt seine Prägnanz nicht zuletzt der Zusammenstellung von »Erinnerungsschleusen« und »Erfahrungsschichten«, die wie keine andere Formulierung Kosellecks die paradoxen Effekte seiner Bildsprache zur Schau stellt und zugleich zu überwinden versucht.48 Während die ›Schleuse‹ an die lineare, unauf hörliche und meistens reguläre Vorwärtsbewegung des in einem Fluss oder Kanal f ließenden Wassers denken lässt, deutet ›Schicht‹ auf die multiplen, vertikal strukturierten Sedimentierungen der Erde hin. Nicht nur die Blickrichtung ändert sich, horizontal einem Fluss oder Kanal entlang oder vertikal hinunter in die Erdkruste, sondern auch das Element selbst von Wasser zu Erde. Auf die geschichtstheoretischen Effekte dieses Metaphernwechsels komme ich gleich zu sprechen, als Übergang zum letzten Teil dieses Aufsatzes, in dem es mir um die Spannung zwischen den vorwiegend teleologisch-linearen Metaphern des ›Sattels‹, der ›Schwelle‹ und der ›Schleuse‹ einerseits, und der geologisch-stratigraphischen Metapher der ›Schichten‹ andererseits geht. Davor soll allerdings auf einige Bedeutungsverschiebungen im Wechsel von ›Schwelle‹ zu ›Schleuse‹ aufmerksam gemacht werden. Koselleck lässt sich nicht darauf ein, seine Metapher auszulegen, sondern überlässt den Leserinnen und den Lesern, die Verbindungen zwischen den im Titel emblematisch eingeführten ›Erinnerungsschleusen‹ und den im Aufsatz besprochenen synchronen und diachronen Wirkungen der beiden Weltkriege auf das individuelle und kollektive Bewusstsein zu knüpfen. In der Schifffahrt benennt die ›Schleuse‹ einen Kanal, mit beweglichen Türen am Ein- und Ausgang, die den Strom des Wassers auf halten und dadurch den Wasserstand abwechselnd erhöhen und verringern kann, um dadurch eine Verbindung von Flüssen und Seen zu schaffen, deren Wasserspiegel verschiedene Höhe haben. Möglicherweise bedarf ihre metaphorische Bedeutung zunächst keiner näheren Erklärung, denn dem fünfzehnten Band von Grimms Wörterbuch zufolge wird das Wort »oft bildlich« benutzt, »doch so, dasz die eigentliche bedeutung noch durchblickt«, zum Beispiel wenn die Schleusen der Beredsamkeit, des Kummers oder des Herzens sich öffnen.49 In diesem Sinne sind sowohl ›Schwellen‹ als auch ›Schleusen‹ Teile 48 R einhart Koselleck, Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten. Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, 265–284. 49 G rimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 15, 1899, URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WB Netz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GS11519#XGS11519, [letzter Zugrif f: 28.01.2020].
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einer kommunikativen Infrastruktur, die den Strom von Menschen und Gütern durch Ein- und Auslassen regulieren. Durch die ›Schwelle‹ wird vor allem eine Grenze zwischen Außen und Innen markiert, die Koselleck zu den anthropologischen, an Heidegger und Schmitt orientierten Dichotomien zählt, die in seiner Historik als Bedingungen möglicher Geschichten fungieren; 50 die ›Schleuse‹ dagegen stellt keine Grenze, sondern eine Passage dar, die nur momentan den Wasserstrom auf hält, um ein Schiff durchzulassen. Ihre Funktion ist nie das Schließen und Zumachen, sondern immer das Öffnen und Durchlassen. Allerdings bedingt die Funktionsweise der ›Schleuse‹, der Rhythmus des Auf- und Zumachens die Möglichkeit einer sicheren Weiterfahrt. Auf die Geschichtstheorie übertragen, stellt die ›Erinnerungsschleuse‹ einen Moment der Bewusstseinsprägung dar, als »Sinne, Verhaltensweisen und Einstellungen sowie das davon affizierte und darauf reagierende Bewußtsein« von Erlebnissen und Erfahrungen geprägt werden, zum Beispiel von Kriegserlebnissen.51 Zu diesen »synchronen Faktoren der Bewußtseinsprägung« gehören sowohl die Kriegserlebnisse selbst, »die Erfahrungen des Grabenkrieges, des Bombenkrieges, des Lebens und Sterbens in den Lagern, der Rüstungsarbeit oder auch die Erfahrungen, die den Haushalt der Emotionen umstürzen«,52 als auch »zahlreiche sozialisierende Bedingungen aus der Vorkriegszeit«, Sprachgemeinschaften, religiöse und ideologische Überzeugungen, politische Handlungseinheiten, Generationen, Familien sowie Klassen und Schichtstrukturen.53 In diesem Sinne dehnt sich die ›Schleuse‹ wie früher der ›Sattel‹ chronologisch und historisch aus, indem die bewusstseinsprägenden Elemente, die den Kriegserlebnissen und -erfahrungen innewohnen, eine längere Dauer haben und über die jeweilige historische Gegenwart hinausweisen. Dasselbe gilt für ihre ›Wirkungen‹, die nicht nur synchron, sondern vor allem diachron auftreten: »Alle synchronen Faktoren [….] treten […] in ihrer diachronen Wirkung erneut auf«.54 Ein von Koselleck oft einbezogenes Beispiel solcher diachronen Wirkungen ist »der politische Totenkult«, wenn »das organisierte Massentöten […] zu Gemeinsamkeiten und zu Unterschieden in der Erfahrungsverarbeitung und in der Erinnerungsleistung der Weiterlebenden« führt.55 Diese gesamten Elemente und Wirkungen gehören zur »Erinnerungsschleuse« im Koselleck’schen Sinne, die gewisse Erfahrungen zurückhalten kann, zumindest für eine Weile, bis die Höhe des Erfahrungsdruckes, gleich einem Wasserspiegel, ein Niveau erreicht hat, wo die Türen nicht mehr standhalten können. Andere Erfahrungen werden 50 Koselleck, Historik und Hermeneutik, 104–106. 51 Koselleck, Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten, 266. 52 Koselleck, Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten, 266. 53 Koselleck, Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten, 267–269. 54 Koselleck, Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten, 273. 55 Koselleck, Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten, 275.
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durchgelassen, allerdings erst nachdem sie durch die Operation der ›Schleuse‹ eine gewisse Form und Prägung gewonnen haben. Mit der ›Schwelle‹ teilt die ›Schleuse‹ das metaphorische Element der Trennung und des Übergangs; mit dem ›Sattel‹ teilt sie die Elemente der Länge und der Breite und damit die Vorstellung einer historischen Gegenwart, die nicht nur ein Diskretum ist, sondern selbst eine zeitliche Ausdehnung und Dauer hat. Was die ›Schleuse‹ zur metaphorischen Entfaltung von Kosellecks Zeit- und Geschichtstheorie bringt, ist eine dritte Dimension: die Höhe, oder richtiger, die Tiefe. In einer Schleuse steigt und sinkt das Wasser, und dadurch kommt eine vertikale Perspektive ins Spiel, eine Vorstellung von Tiefe, die allerdings von Koselleck in diesem Zusammenhang unkommentiert und ungenutzt bleibt. Ähnlich wie die Beiträge zu den Geschichtlichen Grundbegriffen bewegt sich Kosellecks Darstellung vom Einf luss der beiden Weltkriege auf das soziale Bewusstsein in einer diachronen, linearen Zeit, in der sich im traditionellen historiographischen Sinne Ereignisse und Perioden einordnen lassen. Von Anfang an hat Kosellecks Werk allerdings auch eine andere Zeitlichkeit oder Zeitordnung ins Spiel gebracht. Zwar wollte er durch das Lexikon die ganze Zeitspanne von der Antike zur Nachkriegszeit begrif fsgeschichtlich abdecken. Aber die der Begrif fsgeschichte eigenen Fragen lassen sich, so Koselleck in der Einleitung, »nicht nur diachronisch beantworten«,56 erschöpfen sich nicht in »chronologisch aufzählbaren Wortbedeutungen«, sondern die Antworten müssen auch immer in der Tiefe gesucht werden: »Die Begriffsgeschichte klärt die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf, die in einem Begriff enthalten ist. Die geschichtliche Tiefe, die nicht identisch ist mit ihrer Chronologie, gewinnt einen systematischen oder einen strukturellen Charakter. Diachronie und Synchronie werden also begriffsgeschichtlich verflochten.«57 In dieser Weise, durch den Hinweis auf »geschichtliche Tiefe«, fängt schon in den Geschichtlichen Grundbegriffen eine Arbeit an der Zeitmetaphorik an, die zum Ziel hat, die chronologisch-lineare Zeit der Historiographie, bestärkt durch theoretisch-historische Analysen von Begriffen wie ›Neuzeit‹, ›Fortschritt‹ und ›Beschleunigung‹, durch eine weitere Dimension beziehungsweise durch einen anderen räumlichen Vektor zu erweitern. Das, was Koselleck an dieser Stelle als »geschichtliche Tiefe« bezeichnet, ist die diachronische Abfolge von Wortbedeutungen und -verwendungen, die im Begriff synchron gestaffelt werden. Die von einem Begriff mitgeführten Bedeutungen haben unterschiedliche Dauer und einen unterschiedlichen Änderungstakt. Die Aufsätze der Geschichtlichen Grund56 Koselleck, Einleitung [Geschichtliche Grundbegrif fe, Bd. 1], XXI. 57 Koselleck, Einleitung [Geschichtliche Grundbegrif fe, Bd. 1], XXI.
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begrif fe zeigen in den politischen und sozialen Grundbegriffen Überreste von Bedeutungen aus der griechischen und römischen Antike, die zwar überholt und durch andere semantischen Strategien verdrängt wurden, die aber in der »Tiefe« des Begriffes weiterleben und eine fast zweitausend Jahre lange Dauer entfalten. Zunächst dient Koselleck diese Metaphorik dazu, seine Analysen historischer Zeiten um eine räumliche Dimension zu bereichern, im Sinne einer zunächst abstrakten, unspezifizierten, und metaphorisch wenig entfalteten ›Tiefe‹. Aber schon in einem anderen frühen Text, wie die Einleitung zu den Geschichtlichen Grundbegrif fen 1972 entstanden, in dem er das Programm der Begriffsgeschichte im Vergleich mit den Forschungsstrategien der Sozialgeschichte darlegt, entwickelt er die Tiefenmetaphorik ein Stück weiter: »Die Begriffsgeschichte klärt also auch die Mehrschichtigkeit von chronologisch aus verschiedenen Zeiten herrührenden Bedeutungen eines Begriffs. Damit führt sie über die strikte Alternative der Diachronie oder Synchronie hinaus, sie verweist vielmehr auf die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die in einem Begriff enthalten sein kann.« 58 Aus der räumlich-abstrakten Tiefe ist eine »Mehrschichtigkeit« geworden. Entscheidend ist dabei die Einführung, zunächst fast unmerklich, einer Schichtenmetaphorik, die einerseits das Prinzip der Überlagerung von Bedeutung und Erfahrung für die Begriffsgeschichte produktiv macht, andererseits aber zu einem Nachdenken über eine Pluralität historischer Zeiten einlädt. Seitdem spielt die Metaphorik der ›Schichten‹ eine Schlüsselrolle in Kosellecks Entwicklung seiner Zeittheorie: »Alle Schlüsselwörter der politischen oder sozialen Sprache«, schreibt er später, »haben eine vielschichtige temporale Binnenstruktur und weisen über die jeweilige zeitgenössische Realität voraus oder zurück.«59 In keinem dieser Beispiele ist allerdings klar, wie sich Koselleck diese ›Schichten‹ eigentlich vorstellt, denn sie haben noch nicht ihre spätere metaphorische Eigenart gewonnen. Noch sind die Hinweise auf ›Schichten‹ und ›Mehrschichtigkeit‹ von einer fast diagrammatischen Abstraktion geprägt, die im gewissen Sinne bis zur Veröffentlichung des Sammelbandes Zeitschichten im Jahr 2000 fortbesteht. Nun schafft es allerdings die Schichtenmetaphorik auf den Buchumschlag, in einem Bild von Deutschlands berühmtestem Naturfotografen, Bernhard Edmaier, das die Gesteinsschichten einer graubraunen Felsenwand in fast übernatürlicher Klarheit darstellt. Quer über diese geologische Schichtenstruktur leuchtet 58 R einhart Koselleck, Begrif fsgeschichte und Sozialgeschichte, in: ders., Vergangene Zukunf t, 107–129, hier 125. 59 R einhart Koselleck, Hinweise auf die temporalen Strukturen begrif fsgeschichtlichen Wandels, in: ders., Begrif fsgeschichten, 86–99, hier 92.
Sattel, Schicht, Schwelle, Schleuse
der Titel des Buches auf: Zeitschichten. Nicht nur stellt Koselleck seinen Leserinnen und Lesern den geologisch-stratigraphischen Ursprung seiner Schichtenmetaphorik vor Augen. Er klärt auch durch den Titel den Zusammenhang zur Zeittheorie auf. Allerdings scheint er noch zu bezweifeln, dass das Publikum seine big idea, die er in seinem ganzen Werk umkreist hat,60 mitbekommen hat, und bemüht sich, anders als im Falle der ›Sattelzeit‹ und der ›Erinnerungsschleusen‹, selbst die Metapher auszulegen: »›Zeitschichten‹ verweisen, wie ihr geologisches Vorbild, auf mehrere Zeitebenen verschiedener Dauer und unterschiedlicher Herkunft, die dennoch gleichzeitig vorhanden und wirksam sind.«61 Koselleck will auch sicherstellen, dass seine Zeitschichtenmetapher ihren rechtmäßigen Platz an der Spitze der Metaphern- und Begriffshierarchie seines Werkes einnehmen darf: »Auch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, eines der aufschlußreichsten historischen Phänomene, wird mit ›Zeitschichten‹ auf einen gemeinsamen Begriff gebracht.«62 Auf den ersten Seiten des im Jahre 2000 veröffentlichten Sammelbandes, einschließlich Titel und Umschlag, erreicht der abstrakte Hinweis auf »geschichtliche Tiefe« aus der 1972 veröffentlichten Einleitung zu den Geschichtlichen Grundbegrif fen ihre volle metaphorische Konkretion in dem nach geologischem Vorbild geprägten Begriff der ›Zeitschichten‹. Interessant in Kosellecks Hinweis auf Zeitbegriffe an der Schnittstelle zwischen Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte ist vor allem, wie er die historischen Zeiten auf »vorgegebene […] Naturzeiten« bezieht, die »ihren unbestreitbaren Sinn« behalten.63 Diese Rückkehr zu einem Begriff der Naturzeiten überrascht umso mehr, weil Koselleck in früheren Texten seine ganze Theorie der historischen Zeitenvielfalt auf einer »Denaturalisierung« der Zeit und einer »Destruktion der naturalen Chronologie« basiert hat.64 In der Vormoderne blieben alle Geschichten, so Koselleck, »der ›Natur‹ verhaftet und in die biologischen Vorgegebenheiten unmittelbar eingelassen«.65 In der Moderne dagegen gewinnt die »historische Zeit« ihre Selbständigkeit von der natürlichen, physischen oder biologischen Chronologie und entwickelt dabei ihre eigene temporale Begriff lichkeit. Zu den neuen denaturalisierten Zeitbegriffen des modernen Zeitregimes gehören vor allem »der Fortschritt, die Dekadenz, Beschleunigung oder Verzögerung, das Noch-nicht und das Nicht-mehr, das Früher- oder Später-als, das Zufrüh oder Zu60 Zammito, Koselleck’s Philosophy of Historical Time(s), 126. 61 Koselleck, Einleitung [Zeitschichten], 9. 62 Koselleck, Einleitung [Zeitschichten], 9. 63 Koselleck, Einleitung [Zeitschichten], 10. 64 K oselleck, Theoriebedürftigkeit, 303 und 306. Zur »Denaturalisierung« siehe Helge Jordheim, Introduction: Multiple Times and the Work of Synchronization, in: History and Theory 53 (4/2014), 498–518. 65 Koselleck, Theoriebedürf tigkeit, 306.
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spät, die Situation und die Dauer«.66 In der Einleitung zu Zeitschichten wird diese fortschrittsgeschichtlich geprägte Idee einer Ablösung von Naturzeiten durch genuin historische Zeiten, ebenfalls im Plural, durch die Idee eines historisch belegten, fortwährenden Austauschs zwischen Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte ersetzt, anhand von zwei Figuren der ›Sattelzeit‹, dem Theologen, Philosophen, Historiker und Lehrer Johann Joseph Görres und dem Physiologen und Maler Carl Gustav Carus: »Die geologische Herkunft des geschichtlichen Strukturbegriffs wird hier für unseren Sprachgebrauch deutlich.«67 Erst »nachdem die alte und ehrwürdige Naturkunde […] selber verzeitlicht worden war«, ist die Metapher ›Zeitschichten‹ seit dem achtzehnten Jahrhundert ›sagbar‹ geworden.68 Eine wichtige Funktion der Zeitschichtenmetapher ist daher, eine Verbindung zu einer anderen historischen Gegenwart zu schaffen, die der Historiker Dipesh Chakrabarty als »eine einmalige Phase in der Menschheitsgeschichte« bezeichnet, »wenn zum ersten Mal bewusst eine Verbindung zwischen Ereignissen von einer enormen geologischen Größenordnung und […] dem Alltagsleben von Individuen, Kollektiven, Institutionen, und Nationen hergestellt wird«.69 Wir könnten darin Kosellecks Beitrag zur Auf lösung der ebenfalls von Chakrabarty benannten »uralten humanistischen Trennung zwischen Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte« erkennen.70 Aber die Schichtenmetaphorik wirkt auch in anderen Weisen auf Kosellecks Zeit- und Geschichtstheorie ein, von denen ich hier nur zwei Beispiele geben kann. Eine durchaus aufschlussreiche Diskussion der Zeitschichtenmetapher findet sich in der 2018 erschienenen englischen Übersetzung von Kosellecks Aufsätzen, kongenial durchgeführt von Sean Franzel und Stefan-Ludwig Hof fman.71 Ein Ansatz zur Auslegung der Metapher findet sich schon im Titel: Sediments of Time. In der Einleitung begründen die beiden Herausgeber ihre Wahl, Schichten durch Sedimente zu ersetzen: »This term presents a spatial image of different coexisting layers, but also alludes to the process of these layers accruing or sedimenting at different speeds. It is in good part to access this process of accretion (and erosion) over time that we have
66 R einhart Koselleck, Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen, in: ders., Vergangene Zukunf t, 130–143, hier 133. 67 Koselleck, Einleitung [Zeitschichten], 11. 68 Koselleck, Einleitung [Zeitschichten], 10. 69 Dipesh Chakrabarty, Anthropocene Time, in: History and Theory 57 (1/2018), 5–32, hier 6. 70 Dipesh Charabarty, The Climate of History, in: Critical Inquiry 35 (2/2009), 197–222, hier 201. 71 R einhart Koselleck, Sediments of Time: On Possible Histories, hg. von Sean Franzel und StefanLudwig Hof fmann, Stanford, CA 2018.
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chosen to translate Zeitschichten as ›sediments‹ of time rather than the more geologically precise ›strata‹.« 72 Neben Kathleen Davis’ schon erwähnter kritischer Auseinandersetzung mit der Politik der Periodisierung sowie einer Anzahl in der Zeitschrift History & Theory gedruckter Aufsätze stellt diese Übersetzerintervention einen der interessantesten Ansätze zu einer englischsprachigen Koselleck-Rezeption für das 21. Jahrhundert dar.73 Der wichtigste, durch den Sediment-Begriff erzielte Gewinn besteht in der Dynamisierung der geradezu versteinerten, oder gar fossilisierten, temporalen Schichtenordnung, durch die Koselleck die Gefahr läuft, zu einer »Stilllegung der Geschichte«, in Heideggers Worten, beizutragen.74 Ebenso weist Foucault, den Koselleck sonst systematisch vermeidet, darauf hin, wie »synchronische Figuren« – und dazu gehört ja eindeutig die Figur der ›Zeitschichten‹ – immer riskieren, die bewegliche Geschichte »einzufrieren«.75 Dagegen bringen ›Sedimente‹ den dynamischen Prozess ihrer Entstehung in den Blick. »Die Sedimentenmetapher,« so Franzel und Hoffman, »fängt die Ansammlung, Verdichtung und Erhärtung von Erfahrungs- und Ereignisschichten ein, ebenso wie die Spannungen und Verwerfungen, die zwischen unterschiedlichen sedimentierten Formationen entstehen« – wobei sie hinzufügen, dass dies alles Metaphern sind, die Koselleck in seinen Schriften verwendete.76 In dieser Weise gelingt es den Übersetzern, Kosellecks zunächst eher spatial-strukturelle Metapher der ›Zeitschichten‹ in eine temporale und dynamische Figur zu verwandeln, die wie die ›Schleuse‹ von Zeit, oder besser, von Zeiten in Plural durchströmt ist. Aber ganz kostenlos ist diese übersetzerische Innovation nicht. In ihrem Kommentar meinen Hoffmann und Franzel, strata wäre als Übersetzung von ›Schicht‹ »geologisch präziser« als sediments, was in ihren Augen für ihre Wahl spreche. Dabei stellt sich allerdings die Frage, warum dann das wissensgeschichtlich noch unmarkiertere layers abgewählt wurde. Ob sediments oder strata wirklich das in der Geologie weniger festgemachte Wort ist, werde ich hier nicht zu entscheiden versuchen. Aber, wie ich oben schon gezeigt habe, hat es in Kosellecks Werk vor 72 S tefan-Ludwig Hof fmann/Sean Franzel, Introduction: Translating Koselleck, in: Koselleck, Sediments of Time, IX–XXXI, hier XIV. 73 D avis, Periodization and Sovereignty; Zammito, Koselleck’s Philosophy of Historical Time(s); Jordheim, Against Periodization; Stefan-Ludwig Hof fmann, Koselleck, Arendt, and the Anthropology of Historical Experience, in: History and Theory 49 (2/2010), 212–236; Alexandra Lianeri, A Regime of Untranslatables: Temporalities of Translation and Conceptual History, in: History and Theory 53 (4/2014), 473–497; Niklas Olsen, History in the Plural: An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2012. 74 Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding, Tübingen 1975, 33. 75 Michel Foucault, L’archéologie du savoir, Paris 1969, 216 [Übersetzung H. J.]. 76 Hof fmann/Franzel, Introduction, XIV [Übersetzung H. J.].
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der Publikation des Sammelbandes Zeitschichten schon fast dreißig Jahre lang das Wort ›Schicht‹ gegeben, ohne dass ihm je früher ein präziser geologischer Inhalt gegeben wurde. Eben diese durchaus zentrale Kontinuität in Kosellecks Werk wird durch die englische Übersetzung mit sediments verwischt; dabei handelt es sich um eine Kontinuität, die sich bis in den 1972 erschienenen Aufsatz zu Begrif fsgeschichte und Sozialgeschichte zurückdatieren lässt, in dem die Schichtenmetapher zum ersten Mal ins Spiel kommt. Noch einschlägiger erscheint ein anderer Bedeutungsverlust, der durch die Ausmusterung von Übersetzungen wie layers und strata entsteht, Begrif fen, die in der eher sparsamen anglophonen Rezeption von Kosellecks Zeittheorie zur Anwendung gekommen sind. Obwohl das Wort ›Sedimente‹ in sehr wirksamer Weise die mannigfaltigen Prozesse der geologischen Schichtenbildung einfängt, kommen die daraus entstehenden Schichten selbst nicht sehr deutlich in den Blick. ›Sedimente‹, oder mit einem deutschen Synonym: ›Ablagerungen‹, sind selber keine Schichten, sondern bezeichnen lediglich das Material, woraus sich Schichten bilden können: Flussablagerungen, Seeablagerungen, Sandstein- oder Kalksteinablagerungen, die sich durch Prozesse in der Erdkruste über Millionen von Jahren in Gesteinsschichten transformieren. In Kosellecks Werk tritt die Zeitschichtenmetapher im Kontext seiner »Theorie der geschichtlichen Zeiten«77 auf, durch die er die Geschichtsschreibung von ihrer Einbindung in eine lineare, homogene, der Natur abgeguckte Chronologie befreien und in eine auf Pluralität und Mehrschichtigkeit basierende historische Zeitordnung hinüberretten will. Eine Übersetzung, die riskiert, diese Betonung der zeitlichen Pluralität abzuschwächen, auch um die dieser alternativen Zeitenordnung innewohnende, drohende räumliche Erstarrung wieder in Bewegung zu bringen, bleibt ein Wagnis. In diesem Sinne stellen Prozesse der Ablagerung nur einen Aspekt von Kosellecks metaphorischen Anleihen bei der Geologie dar; der andere Aspekt ist die Stratigraphie, die Lehre von den Schichten der Erde, ihrem Ursprung und Alter sowie ihren Bruchlinien und Verwerfungen. In die metaphorische Auf ladung, die von der Zeitschichtenmetapher in die Koselleck’sche Zeittheorie hinübergetragen wird, gehört insofern das sogenannte »stratigraphische Prinzip«, das seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts Teil der Mineralogie und später der Geognosie sowie der Geologie ist. Die Lehre von den sich überlagernden Gesteinsschichten in der Erdkruste wurde zum ersten Mal von dem dänischen Naturhistoriker, Mineralogen und Jesuiten Nicolaus Steno zu Papier gebracht, in seinem 1669 veröffentlichten Werk Nicolia Stenonius solido intra solidum naturaliter contento dissertationis prodromus, in dem er die natürlichen Prozesse beschreibt, die einen soliden Körper, zum Beispiel einen Zahn, einen Kristall, einen Diamant, eine Pf lanze oder ein Tier, in einen anderen soliden Körper, in eine Gesteinsschicht, einschließen kann. Die 77 Koselleck, Theoriebedürf tigkeit, 302.
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Antwort findet sich in den Prozessen der Sedimentierung oder Ablagerung, durch die die Schichten oder Strata der Erdkruste ihre Form und Struktur gewinnen. Die Position dieser Schichten, unterhalb und oberhalb voneinander, ist ganz und gar eine Zeitfrage. Dem »stratigraphischen Prinzip« zufolge hängt alles davon ab, zu welcher Zeit in der Geschichte der Erde unterschiedliche Schichten geformt wurden, in Stenos eigenen Worten: »Zu der Zeit als eine bestimmte Schicht geformt wurde, gab es unterhalb dieser Schicht einen anderen Stoff, der das weitere Absinken des zertrümmerten Materials verhinderte; […] zu der Zeit als die unterste Schicht geformt wurde, waren keine der oberen Schichten da.«78 Ohne dieses Prinzip kann kein Begriff der ›Zeitschichten‹ nach geologischem Vorbild Sinn machen, auch wenn der Stoff nicht mehr zertrümmerte Partikel von Erde oder Stein ist, sondern Begriffe und menschliche Erfahrungen, die von der Oberf läche der Ereignisse und Praktiken nach unten sinken und sich auf dem Boden absetzen, wo sie eine neue Schicht bilden. Sobald wir uns auf diese Weise klarmachen, was in der geologischen Semantik der Schichtenmetapher alles versteckt liegt, kommen auch ihre Schwächen mit aller Deutlichkeit zum Vorschein. Die Stratigraphie kann uns nicht dabei helfen zu verstehen, wie die unteren Schichten die oberen beeinf lussen oder sogar an die Oberf läche gelangen, wenn sich lang vergessene Bedeutungen wieder in unsere gegenwärtige politische Diskussion einmischen, wie es in den heutigen Debatten über den neuen Rechtspopulismus oft der Fall ist. Allerdings wäre es möglich, die stratigraphische Version von Kosellecks Geschichtstheorie einer Kritik zu unterziehen, die sich ebenfalls einer geologischen Metaphorik bedient, in der die tektonischen und vulkanischen Umwälzungen in der Erdkruste alte Schichten nach oben, neue Schichten nach unten pressen. Auf diese Weise könnte eine Analyse der Ereignisgeschichte der Natur unsere Analysen der Ereignisgeschichten des Sozialen und Politischen informieren. An zwei Stellen in Kosellecks Werk haben wir daher Verschiebungen beobachten können, in denen eine Metapher durch eine andere ersetzt wird, angeblich um der semantischen Präzision willen. Im ersten Fall hat Koselleck selbst rückblickend den Vorschlag gemacht, »Sattelzeit« hätte schon am Anfang der Arbeit am Lexikon durch »Schwellenzeit« ersetzt werden können, um spätere Verwirrung zu vermeiden; im zweiten Fall haben die Übersetzer seines Werkes ins Englische, Franzel und Hoffmann, bewusst entschieden, ›Schichten‹ durch sediments zu übersetzen, um Kosellecks Metaphorik sozusagen vor der Versteinerung zu retten. Man könnte behaupten, die Sattelmetapher wird dadurch fester und diskreter gemacht, die Schichtenmetapher beweglicher und dynamischer. In beiden Fällen geht allerdings auch etwas Wesentliches verloren, was man vielleicht als Deutungsoffenheit oder -spielraum bezeichnen könnte. Hätte sich Koselleck 78 N icolaus Steno, The Prodromus of Nicolaus Steno’s Dissertation concerning a Solid Body Enclosed by Process of Nature within a Solid, New York/ London 1916, 230.
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optimale begriff liche Schärfe gewünscht, hätte er keine exemplarisch mehrdeutigen Metaphern ausgesucht. Charakteristisch an Kosellecks Sprachbildern ist nicht ihre analytische Präzision, sondern ihre Fähigkeit, Gedanken, Ideen und Fragestellungen zu erzeugen und zu mobilisieren. Konkrete Antworten können sowieso nie im theoretischen Rahmen, sondern stets nur in den Quellen gesucht werden, an deren »Vetorecht« er sich immer gehalten hat.79
5. Zusammenfassung Zu Kosellecks wichtigsten Beiträgen zur Geschichtswissenschaft gehört zweifellos seine »Theorie der geschichtlichen Zeiten«,80 die im Moment ihren Siegeszug durch die historiographischen Theorielandschaften macht. Der Versuch, aus den im Werk verteilten, fragmentarisch-essayistischen Ansätzen einen kohärenten Theoriebau zu schaffen, wird sich noch lange hinziehen. Umso schwieriger ist diese Arbeit, weil Koselleck selbst an den systematisch-philosophischen Begründungen dieser Theorie nur ein Stück weit interessiert war. Parallel zur theoretischen Rekonstruktionsarbeit, die wohl eher als eine Arbeit der Konstruktion verstanden werden sollte, bietet sich ein zweiter interpretativer Vorgang an, der sich nicht von analytischen Begriffen, sondern von generativen Metaphern leiten lässt. In seiner Ausarbeitung einer Theorie der pluralen Zeiten und der Ungleichzeitigkeit war Koselleck mehr auf das einprägsame sprachliche Bild als auf analytische Konzeptualisierung bedacht. Den Stoff zur Konstruktion dieser Sprachbilder hat er in der physischen Außenwelt gefunden, in der Welt materieller menschlicher und natürlicher Umgebungen, die auch in seinen Fotografien dokumentiert werden. Der Stoff der Wirklichkeit kann allerdings nie dieselbe Klarheit und Eindeutigkeit wie die Abstraktion der Theorie erlangen. Stattdessen entsteht eine paradoxe Sprachbildlichkeit, die sehr zur Dynamik und Lebendigkeit seines Werkes beiträgt. Indem ich eine Sammlung werkprägender Metaphern, ›Sattel‹, ›Schicht‹, ›Schwelle‹ und ›Schleuse‹, unter die Lupe genommen habe, konnte ich ihre stofflich generierte Vieldeutigkeit und deren Wirkung auf das Werk als Ganzes aufzeigen. Sobald aus diesem Bildmaterial Sprachbilder zur Analyse von historischen Vorgängen geschaffen werden, wie im Falle von ›Sattelzeit‹, ›Schwellenzeit‹ und ›Erinnerungsschwellen‹, ›Zeitschichten‹ und ›Erinnerungsschleusen‹, klaffen ihre Bedeutungen auseinander, wie wir oben gesehen haben. Um diese paradoxen Bedeutungseffekte unter Kontrolle zu bekommen, haben sowohl Koselleck als auch seine Interpreten versucht, eine Metapher für eine andere auszutauschen: Schwel79 R einhart Koselleck, Archivalien – Quellen – Geschichten, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, hg. von Carsten Dutt, Berlin 2010, 68–79, hier 78. 80 Koselleck, Theoriebedürf tigkeit, 302.
Sattel, Schicht, Schwelle, Schleuse
le für Sattel, Sedimente für Schichten. Die Generativität der Metaphern gibt sich vor allem darin kund, dass solche Ersetzungen weitreichende Folgen für die Auslegung des ganzen Werkes haben, wie die Ersetzung von Sattelzeit durch Schwellenzeit bezeugen konnte. Dadurch wird deutlich, dass Kosellecks metaphorische Denkweise sich nicht auf analytische Begriff lichkeit reduzieren lässt, sondern einen selbstständigen Zugang zu seinem Werk bietet, der in Kontinuität mit seiner fotografischen Praxis sogar seiner Zeittheorie neues Leben einzuhauchen vermag.
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Sattel, Schicht, Schwelle, Schleuse
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Autorinnen und Autoren
Bettina Brandt (Dr. phil.), geb. 1968, ist Historikerin an der Universität Bielefeld. Sie lehrt, forscht und publiziert zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mit den Schwerpunkten Politik-, Kultur- und Geschlechtergeschichte sowie historische Bildwissenschaft. 2006 erhielt sie den Dissertationspreis der Bielefelder Universitätsgesellschaft für ihre Studie »Germania und ihre Söhne: Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne«, veröffentlicht 2010 bei Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Britta Hochkirchen (Dr. phil.), geb. 1982, ist Akademische Rätin a. Z. am Arbeitsbereich Historische Bildwissenschaft/Kunstgeschichte an der Universität Bielefeld und Teilprojektleiterin im Sonderforschungsbereich 1288 »Praktiken des Vergleichens«. Sie forscht zu kuratorischen Praktiken in Kunstausstellungen und zur französischen Kunst im Zeitalter der Auf klärung. Zu ihren Veröffentlichungen zählt »Bildkritik im Zeitalter der Auf klärung. Jean-Baptiste Greuzes Darstellungen der verlorenen Unschuld« (2018). Helge Jordheim (PhD), geb. 1971, ist Professor für Kulturgeschichte an der Universität Oslo. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören europäische Kultur-, Wissens-, und Begriffsgeschichte seit 1600 sowie Geschichts- und Zeittheorie. Er hatte Gastprofessuren u. a. in Paris (EHESS), New York (NYU) und Trondheim (NTNU). Publikationen (Auswahl): Der Staatsroman im Werk Wielands und Jean Pauls, Tübingen 2007; Multiple Times and the Work of Synchronization (Hg., Special Issue, History & Theory 53/4/2014); Universal History and the Making of the Global (Mithg.), London 2018; Conceptualizing the World (Mithg.), New York 2018. Hubert Locher (Prof. Dr. phil.-hist.), geb. 1963, seit 2008 Professor für Geschichte und Theorie der Bildmedien an der Philipps-Universität Marburg und Direktor des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg. Forschung und Publikationen im Bereich der Kunst, Kunstliteratur, Kunsttheorie von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart u. a. zur Geschichte der Kunstgeschichte, der Kunstausstellung und der Fotografie.
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Reinhart Koselleck und das Bild
Adriana Markantonatos (Dr. phil.), geb. 1982, Kulturwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin mit breiten disziplinären und historischen Interessen, besonders im Bereich der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Geistes- und Sozialwissenschaften, der Gelehrtengeschichte und der historischen Bild- und Kunstwissenschaften. Als Postdoktorandin erforscht sie wissenskulturelle Bruchlinien zwischen Bild und Text seit der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart.
Bielefeld University Press Haun Saussy
Are We Comparing Yet? On Standards, Justice, and Incomparability 2019, 112 p., pb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4977-2 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-4977-6
Angelika Epple, Walter Erhart, Johannes Grave (eds.)
Practices of Comparing Towards a New Understanding of a Fundamental Human Practice June 2020, 406 p., pb., col. ill. 39,00 € (DE), 978-3-8376-5166-9 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5166-3
Oliver Flügel-Martinsen, Franziska Martinsen, Stephen W. Sawyer, Daniel Schulz (eds.)
Pierre Rosanvallon's Political Thought Interdisciplinary Approaches 2018, 248 p., pb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4652-8 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-4652-2
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