Das Bild vom Bild: Bildsemiotik und Bildphänomenologie in interkultureller Perspektive 9783495820629, 9783495488546


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Inhalt
Vorwort und Dank
Kulturkampf um Bilder? Zur Einleitung
1. Einige Grundpositionen zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität
1.1 Zur Gefahr des Essentialismus
1.2 Dynamische Kulturbegriffe
1.3 Familienähnlichkeiten
1.4 Strukturmerkmale von Kulturen
1.5 Kultur und Religion
1.6 Interkulturalität
2. Kein Bildnis machen? Bildauffassungen in religiösen Kulturen
2.1. Symbolik in jüdischen Kulturen
2.1.1 Das biblische Bilderverbot
2.1.2 Philon von Alexandrien und das späthellenistische Judentum
2.1.3 Negative Theologie bei Maimonides
2.1.4 Jüdische Mystik
2.1.5 Symbolik und jüdische Kunst
2.1.6 Von den Grenzen der Repräsentation
2.1.7 Vom Zeichen zur Spur: Adorno und Lévinas
2.2 Bilderverehrung, Bilderstreit und Bildersturm in christlichen Kulturen
2.2.1. Ikonoklasmus und negative Theologie im frühen Christentum
2.2.2 Das 2. Konzil von Nicäa und der Aufschwung der religiösen Kunst im Mittelalter
2.2.3 Jenseits von Bild und Sprache: Cusanus und die christliche Mystik
2.2.4 Reformation und Bildersturm
2.2.5 Ökumene und Abendmahlsstreit: Realpräsenz oder Zeichen?
2.3 Bilderverbote in arabisch-islamischen Kulturen
2.3.1 Bildniszerstörung als Reinigung
2.3.2 Al-Kindī, antike Theorien des Sehens und ihre Weiterentwicklung in der arabischen Philosophie
2.3.3 Al-Ghazālī und die islamische Mystik
2.3.4 Lichtmetaphysik, Musterstaat und Prädetermination
2.3.5 Ornamentik, Kalligraphie und islamische Kunst
2.3.6 Moderne Strömungen
2.4. Ikonik und anikonische Symbolik in ostasiatischen Religionen
2.4.1 Inkarnation und Bildlichkeit in hinduistischen Kulturen
2.4.2. Zeichenlosigkeit und Unbeschreibbarkeit im frühen Buddhismus
2.4.3 Nagarjuna als Philosoph des Mahayana und als Boddhisatva
2.4.4 Die Ochsenbilder des Zen
2.4.5 Anikonische Symbolik jenseits des Bildes
2.4.6 Buddhabildnisse und buddhistisch-daoistische Kunst
2.5. Erstes Zwischenfazit
3. Der philosophische Bilderstreit
3.1. Was ist ein Bild?
3.1.1. Der Mensch als homo pictor: Bilder als Existential
3.1.2 Platons Mimesisverbot und seine Folgen
3.1.3 Das Bild vom Bild: Bildhaftes und Bildkritik bei Magritte
3.1.4 Zwei moderne Bildbegriffe im Vergleich: Wittgenstein und Bergson
3.1.5 Sind Bilder Zeichen? Zur Kontroverse von Bildsemiotik und Bildphänomenologie
3.2 Semiotische Bildtheorien
3.2.1 Die Neubegründung der Semiotik durch Charles S. Peirce (1839–1914)
3.2.1.1 Erkenntnis als Repräsentation
3.2.1.2 Pragmatismus und objektiver Idealismus
3.2.1.3 Kategorien und Relationen
3.2.1.4 Ikon, Index und Symbol: Zur Typologie der Zeichen im Objektbezug
3.2.1.5 Kann man Bilder sehen?
3.2.2 Welterzeugung durch Zeichensysteme bei Nelson Goodman (1906–1998)
3.2.2.1 Konstruktivismus und Pluralismus
3.2.2.2 Antimetaphysischer Nominalismus
3.2.2.3 Denotation, Exemplifikation und Ausdruck
3.2.2.4 Notationssysteme
3.2.2.5 Bildkompetenz
3.2.3 Semiotik und Interpretation bei Umberto Eco (1932–2016)
3.2.3.1 Die Theorie der Codes
3.2.3.2 Zeichenerzeugung und Signifikation
3.2.3.3. Hyperrealität und Interpretation
3.2.3.4 Bilder als visuelle Zeichen
3.2.3.5. Eine semiotische Kulturtheorie und ihr Mangel
3.3 Phänomenologische Bildtheorien
3.3.1 Zur Begründung der modernen Phänomenologie durch Edmund Husserl (1859–1938)
3.3.1.1 »Objektivistischer Schein« und fundierende Subjektivität
3.3.1.2 Phänomenologische Reduktionen und Epoché
3.3.1.3 Das intentionale Bewusstsein
3.3.1.4 Erfahrung und Weltkonstitution
3.3.1.5 Bildbewusstsein und Bildwelt
3.3.2 Imagination und Imaginäres bei Jean-Paul Sartre (1905–1980)
3.3.2.1 Existenzphänomenologie und Entwurf
3.3.2.2 Intersubjektivität und Dialektik
3.3.2.3 Husserl »vom Kopf auf die Füße gestellt«
3.3.2.4 Imagination und Imaginäres
3.3.2.5 Vergegenwärtigung im Bild
3.3.3 Sichtbares und Unsichtbares bei Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)
3.3.3.1 Zum Primat der Wahrnehmung
3.3.3.2 Inkarnierter Sinn
3.3.3.3 »Entrelacement« zwischen Empirismus und Idealismus
3.3.3.4 Sichtbares und Unsichtbares
3.3.3.5 Verkörperung von »Sicht«
3.4 Zweites Zwischenfazit
4. Differenzphilosophie als Vermittlung?
4.1. Heideggers Kritik am Systemdenken und seine Philosophie des Kunstwerks
4.1.1 Heideggers Kritik der »abendländischen« Metaphysik
4.1.2 Kritik am Dingbegriff
4.1.3 Kritik am Visualprimat
4.1.4 Die ontologische Differenz in der Kunst
4.1.5 Die Überwindung der Ästhetik: Kunst als Wahrheitsgeschehen
4.2. Gegen das Affirmative von Repräsentationen: Michel Foucault und die Ordnungen des Sichtbaren
4.2.1 Macht und Widerstand
4.2.2 Rationalismuskritik durch historisierende Genealogie
4.2.3 Foucaults Kritik des binären Zeichenbegriffs
4.2.4 Der Bruch mit dem Paradigma der Repräsentation
4.2.5 Heterotopien
4.3. Das Sein der Zeichen als Zeichen des Seins: Jacques Derridas Synthese von Bildphänomenologie und Bildsemiotik
4.3.1 Dekonstruktion als Metaphysikkritik
4.3.2 Das Sein der Zeichen als Zeichen des Seins: die Ausweitung des Schriftbegriffs
4.3.3 Negative Theologie und ihre Funktion als Metapher
4.3.4 Die »différance« und die ikonische Differenz
4.3.5 Derrida als (Bild-)semiotiker?
4.3.6 Derrida als (Bild-)phänomenologe
5. Zusammenfassung und Fazit: Entzugsfigur und Präsenz im Lichte der je anderen Bildauffassungen
Verzeichnis der Siglen
Bibliographie
Teil I
Teil II
Teil III
Teil IV
Bildquellen
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Das Bild vom Bild: Bildsemiotik und Bildphänomenologie in interkultureller Perspektive
 9783495820629, 9783495488546

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Gabriele Münnix

Das Bild vom Bild

Bildsemiotik und Bildphänomenologie in interkultureller Perspektive VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820629

.

B

Gabriele Münnix Das Bild vom Bild

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

Gabriele Münnix

Das Bild vom Bild Bildsemiotik und Bildphänomenologie in interkultureller Perspektive

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

Gabriele Münnix Images and Pictures of Pictures and Images Image Semiotics and the Phenomenology of the Image from an Intercultural Perspective The attack on »Charlie Hebdo« and the »cartoon controversy« about drawings of the prophet Muhammad have been discussed in the socalled »Western world« under the headers of freedom of the press and freedom of mind. But the problem is much more deeply rooted than the debate lets on. In fact, it touches deeply upon the ban of images and the renunciation of pictorial representation in various religious cultures. This is why Münnix’ book for the first time places the currently prevalent debate in the philosophy of images and pictures in an intercultural context. Can or should pictures be copies? Can they correspond to what they depict? What are images allowed to do, and what are they capable of? The proposed solutions of the philosophical controversy between semiotic and phenomenological interpretations are rejected in the light of other cultural perspectives. Instead a new solution is developed along the philosophy of difference, and especially in Derrida, which does not only allow to include understandings of pictures and images in other cultures, but also, with a different notion of the sign, to go beyond the dichotomy of the semiotic and the phenomenological approach.

The Author: Dr Gabriele Münnix studied philosophy and mathematics. Until recently she taught philosophy at the universities of Münster and Innsbruck where her work also always included the subject areas of intercultural philosophy. She is author / editor of Zum Ethos der Pluralität. Postmoderne und Multiperspektivität als Programm (22011), Wertetraditionen und Wertekonflikte. Ethik in Zeiten der Globalisierung (2013), and TRANS-LATE. Language Diversity and Intercultural Hermeneutics (2017).

https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

Gabriele Münnix Das Bild vom Bild Bildsemiotik und Bildphänomenologie in interkultureller Perspektive Das Attentat auf »Charlie Hebdo« und die unter dem Schlagwort »Karikaturenstreit« bekannt gewordene Kontroverse sind im sogenannten »Westen« vor allem unter dem Oberbegriff Presse- bzw. Meinungsfreiheit diskutiert worden. Das Problem reicht aber viel tiefer bis in die in vielen religiösen Kulturen wirksamen Bilderverbote bzw. den Verzicht auf bildliche Darstellung hinein. Daher wird hier erstmals die aktuelle Auseinandersetzung in der Philosophie des Bildes zwischen Bildsemiotik und Bildphänomenologie in einen interkulturellen Kontext gestellt. Können Bilder Abbilder sein, können sie dem Abgebildeten entsprechen oder nur auf es verweisen? Was können und dürfen Bilder? Die vorgeschlagenen Lösungen des philosophischen »Bilderstreits« werden im Lichte der Auffassungen anderer Kulturen verworfen, um mit der Differenzphilosophie und speziell mit Derrida eine neue Lösung vorzuschlagen, die es nicht nur erlaubt, Bildauffassungen anderer Kulturen mit einzubeziehen, sondern auch – mit einem anderen Zeichenbegriff – über die Dichotomisierung von Bildsemiotik oder Bildphänomenologie hinauszugehen.

Die Autorin: Dr. Gabriele Münnix studierte Philosophie und Mathematik und lehrte zuletzt Philosophie an den Universitäten Münster und Innsbruck, wo sie immer auch Themenfelder der interkulturellen Philosophie behandelte. Autorin bzw. Herausgeberin von Zum Ethos der Pluralität. Postmoderne und Multiperspektivität als Programm (22011), Wertetraditionen und Wertekonflikte. Ethik in Zeiten der Globalisierung (2013) und ÜBER-SETZEN. Sprachenvielfalt und interkulturelle Hermeneutik (2017)

https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Coverbild: © Jens Lorenzen, »Mauer III« (Ausschnitt) Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48854-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82062-9

https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

Inhalt

Vorwort und Dank

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Kulturkampf um Bilder? Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . .

17

1.

Einige Grundpositionen zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität . . . . . . . . . . . . . .

27

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6

Zur Gefahr des Essentialismus . Dynamische Kulturbegriffe . . Familienähnlichkeiten . . . . . Strukturmerkmale von Kulturen Kultur und Religion . . . . . . Interkulturalität . . . . . . . .

. . . . . .

27 31 38 45 57 65

2.

Kein Bildnis machen? Bildauffassungen in verschiedenen religiösen Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . .

2.1 Symbolik in jüdischen Kulturen . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Das biblische Bilderverbot (74) · 2.1.2 Philon von Alexandrien und das späthellenistische Judentum (83) · 2.1.3 Negative Theologie bei Maimonides (91) · 2.1.4 Jüdische Mystik (100) · 2.1.5 Symbolik und jüdische Kunst (111) · 2.1.6 Von den Grenzen der Repräsentation (121) · 2.1.7 Vom Zeichen zur Spur: Adorno und Lévinas (127) 2.2 Bilderverehrung, Bilderstreit und Bildersturm in christlichen Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Ikonoklasmus und negative Theologie im frühen Christentum (134) · 2.2.2 Das 2. Konzil von Nicäa und

74

132

7 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

Inhalt

der Aufschwung der religiösen Kunst im Mittelalter (146) · 2.2.3 Jenseits von Bild und Sprache: Cusanus und die christliche Mystik (152) · 2.2.4 Reformation und Bildersturm (165) · 2.2.5 Ökumene und Abendmahlsstreit: Realpräsenz oder Zeichen? (173) 2.3 Bilderverbote in arabisch-islamischen Kulturen . . . . . 2.3.1 Bildniszerstörung als Reinigung (180) · 2.3.2 Al-Kindi, antike Theorien des Sehens und ihre Weiterentwicklung in der arabischen Philosophie (190) · 2.3.3 Al-Ghazali und die islamische Mystik (205) · 2.3.4 Lichtmetaphysik, Musterstaat und Prädetermination (216) · 2.3.5 Ornamentik, Kalligraphie und islamische Kunst (225) · 2.3.6 Moderne Strömungen (239) 2.4. Ikonik und anikonische Symbolik in ostasiatischen Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Inkarnation und Bildlichkeit in hinduistischen Kulturen (246) · 2.4.2 Zeichenlosigkeit und Unbeschreibbarkeit im frühen Buddhismus (256) · 2.4.3 Nagarjuna als Philosoph des Mahayana und Boddhisatva (265) · 2.4.4 Die Ochsenbilder des Zen (273) · 2.4.5 Anikonische Symbolik jenseits des Bildes (277) · 2.4.6 Buddhabildnisse und buddhistisch-daoistische Kunst (279) 2.5. Erstes Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.

180

246

286

Der philosophische Bilderstreit . . . . . . . . . . . 291

3.1. Was ist ein Bild? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Der Mensch als homo pictor: Bilder als Existenzial (291) · 3.1.2 Platons Mimesisverbot und seine Folgen (296) · 3.1.3 Das Bild vom Bild: Bildhaftes und Bildkritik bei Magritte (302) · 3.1.4 Zwei moderne Bildbegriffe im Vergleich: Wittgenstein und Bergson (310) · 3.1.5 Sind Bilder Zeichen? Zur Kontroverse von Bildsemiotik und Bildphänomenologie (319)

291

3.2. Semiotische Bildtheorien . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Neubegründung der Semiotik durch Charles S. Peirce (1839–1914) . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1 Erkenntnis als Repräsentation . . . . . . .

323

8 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

325 325

Inhalt

3.2.1.2 Pragmatismus und objektiver Idealismus . 3.2.1.3 Kategorien und Relationen . . . . . . . . . 3.2.1.4 Ikon, Index und Symbol: Zur Typologie der Zeichen im Objektbezug . . . . . . . . . . 3.2.1.5 Kann man Bilder sehen? . . . . . . . . . . 3.2.2. Welterzeugung durch Zeichensysteme bei Nelson Goodman (1906–1998) . . . . . . . . . 3.2.2.1 Konstruktivismus und Pluralismus . . . . 3.2.2.2 Antimetaphysischer Nominalismus . . . . 3.2.2.3 Denotation, Exemplifikation und Ausdruck . 3.2.2.4 Notationssysteme . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.5 Bildkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Semiotik und Interpretation bei Umberto Eco (1932–2016) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.1 Die Theorie der Codes . . . . . . . . . . . 3.2.3.2 Zeichenerzeugung und Signifikation . . . . 3.2.3.3 Hyperrealität und Interpretation . . . . . . 3.2.3.4 Bilder als visuelle Zeichen . . . . . . . . . 3.2.3.5 Eine semiotische Kulturtheorie und ihr Mangel . . . . . . . . . . . . . . . . .

332 338

3.3 Phänomenologische Bildtheorien . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Zur Begründung der modernen Phänomenologie durch Edmund Husserl (1859–1938) . . . . . . . 3.3.1.1 »Objektivistischer Schein« und fundierende Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.2 Phänomenologische Reduktion und Epoché . 3.3.1.3 Das intentionale Bewusstsein . . . . . . . 3.3.1.4 Erfahrung und Weltkonstitution . . . . . . 3.3.1.5 Bildbewusstsein und Bildwelt . . . . . . . 3.3.2. Imagination und Imaginäres bei Jean-Paul Sartre (1905–1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.1 Existenzphänomenologie und Entwurf . . . 3.3.2.2 Intersubjektivität und Dialektik . . . . . . 3.3.2.3 Husserl »vom Kopf auf die Füße gestellt« . 3.3.2.4 Imagination und Imaginäres . . . . . . . . 3.3.2.5 Vergegenwärtigung im Bild . . . . . . . . 3.3.3 Sichtbares und Unsichtbares bei Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) . . . . . . . . . . . 3.3.3.1 Zum Primat der Wahrnehmung . . . . . .

430

345 355 358 358 366 373 383 390 396 397 403 411 419 426

431 432 437 442 448 456 462 463 470 475 481 488 495 495 9

https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

Inhalt

3.3.3.2 Inkarnierter Sinn . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.3 »Entrelacement« zwischen Empirismus und Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.4 Sichtbares und Unsichtbares . . . . . . . . 3.3.3.5 Verkörperung von »Sicht« . . . . . . . . .

501

3.4. Zweites Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

532

4.

Differenzphilosophie als Vermittlung? . . . . . . . . 542

4.1 Heideggers Kritik am Systemdenken und seine Philosophie der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Heideggers Kritik der »abendländischen« Metaphysik (543) · 4.1.2 Kritik am Dingbegriff (547) · 4.1.3 Kritik am Visualprimat (552) · 4.1.4 Die ontologische Differenz in der Kunst (555) · 4.1.5 Die Überwindung der Ästhetik: Kunst als Wahrheitsgeschehen (563) 4.2 Gegen das Affirmative von Repräsentationen: Michel Foucault und die Ordnungen des Sichtbaren . . . 4.2.1 Macht und Widerstand (566) · 4.2.2. Rationalismuskritik durch historisierende Genealogie (567) · 4.2.3 Foucaults Kritik des binären Zeichenbegriffs (568) · 4.2.4 Der Bruch mit dem Paradigma der Repräsentation (572) · 4.2.5 Heterotopien (582) 4.3 Das Sein der Zeichen als Zeichen des Seins: Jacques Derridas Synthese von Bildphänomenologie und Bildsemiotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Dekonstruktion als Metaphysikkritik (583) · 4.3.2 Das Sein der Zeichen als Zeichen des Seins: die Ausweitung des Schriftbegriffs (587) · 4.3.3 Negative Theologie und ihre Funktion als Metapher (590) · 4.3.4 Die »différance« und die ikonische Differenz (594) · 4.3.5 Derrida als (Bild-)semiotiker? (604) · 4.3.6 Derrida als (Bild-)phänomenologe (615)

5.

508 514 524

543

566

583

Zusammenfassung und Fazit: Entzugsfigur und Präsenz im Lichte der je anderen Bildauffassungen . 625

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Inhalt

Verzeichnis der Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie (I S. 641, II S. 646, III S. 656, IV S. 671) Bildquellen

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. . . . . . 641

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677

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Vorwort und Dank

Dieses Buch hat eine lange Entstehungsgeschichte. Erstmalig wollte ich das Thema Bildlichkeit in einen interkulturellen Zusammenhang stellen und die gegenwärtige Auseinandersetzung in der Bildphilosophie in diesem Lichte prüfen und habe auch schon auf diversen philosophischen Kongressen und Fortbildungsveranstaltungen für PhilosophielehrerInnen dazu bzw. zu Teilaspekten vorgetragen. Das Thema Bild und Bildbewusstsein beschäftigt mich schon sehr lange in unterschiedlichen Aspektierungen, im Grunde seit ein Schulbuchverlag Ende der 70er Jahre erläuternde Bilder als am Rande der philosophischen Seriosität befand (mit Hegel habe man in der Philosophie die Anstrengung des Begriffes auf sich zu nehmen) und ich mich genötigt sah, Bilder als Repräsentationen von Gedankenprozessen und spezifischen Sichtweisen gegenüber den FachkollegInnen philosophisch zu legitimieren. Inzwischen ist aber das Thema Bildlichkeit aus der Nische gekommen, wozu sicher auch die Aktualität und zunehmende Omnipräsenz der neuen Bildmedien beigetragen hat, und wird bildphilosophisch kontrovers diskutiert, aber auch in Kunstgeschichte und Kunstphilosophie, in Bildwissenschaft, Kommunikations- und Medientheorie und -philosophie wie auch in der philosophischen Ästhetik zum Thema. In verschiedenen Seminaren an den Universitäten Köln und Bonn, Münster und Innsbruck habe ich mit unterschiedlichen Akzenten die Auseinandersetzungen in der Philosophie des Bildes zum Thema machen dürfen. Zuletzt hatte ich im SS 13 Gelegenheit, in einer Ästhetikvorlesung an der Universität Innsbruck meine Überlegungen zur Bildästhetik und der aktuellen Auseinandersetzung in der Bildphilosophie zusammenhängender und tiefergehender zu formulieren, als man das in Seminaren tun kann. Für alle diese Gelegenheiten bin ich dankbar und habe auch die anregenden Gespräche mit den KollegInnen am Innsbrucker Institut für Philosophie in dankbarer Erinnerung. Es war mir wie immer wichtig, unterschiedliche Bildauffassun13 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

Vorwort und Dank

gen zu untersuchen, die, wie sich am Karikaturenstreit gezeigt hat, auch interkulturell Konfliktpotentiale bergen und auf unterschiedlichen Vorstellungen davon beruhen, was sichtbar gemacht werden darf und was sich der bildhaften Darstellung entzieht bzw. entziehen muss. Die Aufklärung über Bilderverbote und kulturell unterschiedliche Bildauffassungen muss also im Zeitalter verstärkter Globalisierung neue Sensibilitäten schaffen und vor allem angesichts einer immer weiter um sich greifenden Bilderflut mehr Wissen über Hintergründe und unterschiedliche Bewertungen des Bildhaften bereitstellen. Unterschiedliche Bewertungen von Bildlichkeit finden sich aber bereits innerhalb der sog. »abendländischen« Kultur, wie sich im Folgenden zeigen wird. Für eine Vorlesung steht begrenzt Zeit, und für dieses Buch begrenzt Platz zur Verfügung; vor allem musste ich auf große Teile meines Bildmaterials und den Teil über moderne Bildmedien verzichten. Die vertiefte Behandlung der Religionen war mir aber wichtig, auch wenn sie keineswegs erschöpfend sein kann. An jeder Stelle kann man jedoch mithilfe der angegebenen Literatur tiefergehen. Die Untersuchung soll nicht nur unterschiedliche kulturelle Prägungen durch religiöse Kulturen freilegen, sondern auch das Wissen um Unterschiede und Gemeinsamkeiten verstärken. Dabei will ich philosophische Bildauffassungen mit denen in verschiedenen religiösen Kulturen ins Gespräch bringen und mehr Hintergrundwissen bereitstellen, um mehr Verständnis für Zusammenhänge zu ermöglichen. Denn ich glaube, dass die Art des Abbildens oder Nicht-Abbildens in der traditionellen Kunst verschiedener Kulturen und auch in der modernen Kunst eng mit den Überzeugungen in den religiösen Kulturen, die auch in säkularen Zeiten noch nachwirken, verwoben ist. Ich danke besonders Prof. Micha Brumlik, Prof. Mohamed Turki und Prof. Ram Adhar Mall für die kritische Lektüre der entsprechenden Teile des religionsphilosophischen Kapitels, meinem lieben Mann für viel Verständnis und Entlastung im Alltag und beim Einscannen vieler Bilder sowie Karin Farokhifar von der Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie für bewährte und kompetente technische Hilfen bei der Manuskriptkorrektur. Weiter danke ich der Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie für vielfältige Anregungen über Jahrzehnte hinweg, sowie meinen Studentinnen und Studenten in Köln, Bonn, Münster und Innsbruck, die mich über die Jahre hinweg durch 14 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

Vorwort und Dank

interessante Fragen herausgefordert haben. Dankenswerterweise hat die Stiftung Geschwister Boehringer Ingelheim das Buch finanziell unterstützt, und last but not least verdient Lukas Trabert vom Verlag Karl Alber, der mit mir und diesem seit vielen Jahren besprochenen Projekt viel Geduld gehabt hat, meinen großen Dank. GMX

15 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

Illusion, ein lateinisches Wort, bedeutet überhaupt Täuschung, falscher Schein, daher z. B. ein illusorischer Vertrag ein solcher ist, der nur zum Schein eingegangen wird. Vorzugsweise bedient man sich aber des Ausdrucks Illusion zur Bezeichnung jener den Zweck des Kunstwerks ausmachenden Täuschung, welcher gemäß es dem Beschauer unter dem Scheine vollendeter Wirklichkeit entgegentritt. Die Natur der Sache bringt es mit sich, daß besonders Malerei und Schauspielkunst darauf ausgehen, auch den äußeren Sinnen eine scheinbare Wirklichkeit darzubieten, während die Poesie sich begnügt, auf den innern Sinn, auf die Phantasie, zu wirken. (Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Leipzig 1838)

Die Malerei kann wohl eine Realität fingieren, ohne sie gesehen zu haben. Anders als bei diesen Imitationen lässt sich in der Photographie nicht leugnen, dass die Sache dagewesen ist. Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit. […] Der Name des Noemas der Photographie sei also: »es-ist-so-gewesen«, oder auch: das Unveränderliche. […] Es ist dagewesen und gleichwohl auf der Stelle abgesondert worden; es war ganz und gar, unwiderlegbar gegenwärtig und war doch bereits abgeschieden. Das Wesen der Photographie ist, wörtlich genommen, eine Emanation des Referenten. […] Das Wesen der Photographie besteht in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt. (Roland Barthes, Die helle Kammer, Paris 1980)

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Kulturkampf um Bilder? Zur Einleitung

Das Attentat auf die französische Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« und die schon vorher unter dem Begriff »Karikaturenstreit« bekannt gewordene Kontroverse (in der Folge des Abdrucks diverser Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung) sind im sogenannten »Westen« nur sehr unzureichend unter den Oberbegriffen Pressebzw. Meinungsfreiheit diskutiert worden und nicht unter bildphilosophischen bzw. bildtheologischen Aspekten negativer Theologie, die viel tiefer reichen, und zwar bis zum alttestamentarischen Bilderverbot. Für Navid Kermani haben in der Aufarbeitung des Konflikts beide Seiten versagt 1 und eine Chance verpasst, sich über tiefergehende Hintergründe der unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen auszutauschen. Der IS-Propaganda im Internet kann man entnehmen, dass dort der sogenannte »gottlose« »Westen« pauschal der Idolatrie, d. h. der Bilderverehrung und damit des Götzendienstes bezichtigt wird. Man vergisst dabei gerne, dass es auch in jüdischen, christlichen und buddhistischen Kulturen Ikonoklasmus und bis heute wirksame anikonische Strömungen gab und immer noch gibt, und auch in arabischen Ländern muss die Thematik durchaus differenzierter gesehen werden. Vor diesem Hintergrund ist es besonders schade, dass Andreas Schelske in seinen »soziologischen und semiotischen Überlegungen zur visuellen Kommunikation« zwar die kulturelle Bedeutung von Bildern zum Thema macht, aber nicht die je anderen kulturellen Sichten auf Bildlichkeit streift. 2 Vor allem birgt es Konfliktpotential, die eigenen Selbstverständlichkeiten unbefragt ins Fremde zu projizieren und sie dort wie

1 Kermani, Hassbilder und Massenhysterie, in: Baatz/Belting et al. (Hg.), Bilderstreit 2006: Pressefreiheit? Blasphemie? Globale Politik?, S. 63, wo er sogar von einem »globalen Kulturkampf« spricht. 2 Schelske, Die kulturelle Bedeutung von Bildern. Soziologische und semiotische Überlegungen zur visuellen Kommunikation.

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selbstverständlich vorauszusetzen. Verallgemeinernde Pauschalisierungen sind wenig hilfreich und können Vorurteile unzutreffend und unnötig verfestigen. Das führt mich zu Beginn des Buches zur Schilderung meiner Grundpositionen, vor allen zu einer antiessentialistischen Haltung in Bezug auf den Begriff der Kultur. Denn ganz unabhängig von unzulässigen Verallgemeinerungen bestimmter »Wesenszüge« muss man sagen, dass Personen und Kulturen sich verändern können. Man kann daher Kulturen keineswegs jeweils wie auf einem Volksgeist aufruhende »Container« sehen, die sich so, von anderen Kulturen abgetrennt, einer gemeinsamen Natur oder Kultur, Geschichte oder auch Sprache verdanken 3. Mit der Absage an den Essentialismus wird für mich der dynamische Kulturbegriff Cassirers bedeutsam. Und immer sind die jeweiligen Lebensformen – wie auch die Religionen – an Sprachen gebunden, die sich in große Sprachfamilien einteilen lassen. Deshalb greift für mich hier auch das in der Kulturphilosophie Wittgensteins (von Hume entlehnte) Konzept der Familienähnlichkeiten, mit dem Wittgenstein eine Position zwischen Essentialismus und Nominalismus bezieht. Der mittelalterliche Universalienstreit ist also wieder hochaktuell, denn gegen die Vorstellung einer gemeinsamen Substanz oder eines gemeinsamen Wesens als Grund für eine gemeinsame Bezeichnung favorisiert Wittgenstein ein relationales Modell, das zusammenhängende Cluster von Phänomenen mit Überschneidungen (in den Gemeinsamkeiten) und elementfremden Bereichen (in den Differenzen) ausmacht. Sieht man auch die Diversität von Kulturen unter dem Aspekt der Familienähnlichkeit und betont so ihren Zusammenhang, so muss man gleichwohl nicht auf Analyseinstrumente verzichten, an denen sich ihre Verschiedenheiten, aber auch teilweisen Gemeinsamkeiten aufweisen lassen. Daher beschreibe ich Typisierungen von Kulturen anhand bestimmter Strukturmerkmale und zeige, dass man sich manchmal gefährlich dem Essentialismus nähert, etwa bei zuschreibenden Etikettierungen, gleichzeitig aber auch das Bewusstsein für und die Einfühlung in kulturell bedingte Unterschiede schärfen kann, solange man nicht wesensmäßige Zuschreibungen vornimmt. Vor allem sind diese Strukturmerkmale ge-

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s. z. B. Becks Kritik in Beck, Was ist Globalisierung?, S. 49 ff.

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eignet als tertium comparationis für die vergleichende Betrachtung von Kulturen und können als Beobachtungskriterien dienen. Da man für den religionsphilosophischen und religionsgeschichtlichen Teil genügend Offenheit aufbringen sollte (ich befleißige mich dort bewusst der Husserl’schen Urteilsenthaltung), gehört zu meinen Grundpositionen auch die pragmatische und pluralistische (Religions-)Philosophie von William James, der analog zu Cassirers Kulturbegriff Gemeinsamkeiten im Tun und in der religiösen Erfahrung sieht (und dabei auch religiöse Gefühle nicht ausklammert, denn religiöse Gefühle sind ein anthropologisches Phänomen und quer durch die Kulturen zu beobachten). Sein pragmatischer Wahrheitsbegriff (Wahrheit als Be-währung in der Praxis) schiebt ganz im Sinne Lessings die Wahrheitsfrage auf und vermeidet so jeden einseitigen Dogmatismus, der in interreligiösen Dialogen kontraproduktiv ist. Ich ergänze aber die etwas privatistischen Vorstellungen des Protestanten James mit denen von Matthias Jung, der den Ansatz von James auf das WIR, auf gemeinsames Erleben in Gemeinschaften, ausweitet. Zum Begriff der Interkulturalität liegen inzwischen genügend Einführungen in die interkulturelle Philosophie wie auch in die Philosophie der Interkulturalität vor. Ich unterscheide den Begriff aber von dem der Transkulturalität und einem bloßen beziehungslosen »Multikulti«, bei dem verschiedene Kulturen nebeneinander her leben und sich wenig füreinander interessieren. Mit Wimmer unterscheide ich drei Haltungen, die man gegenüber anderen Kulturen und in interkulturellen Diskursen einnehmen kann: exklusiv, egalitär und komplementär. 4 Interkulturelle Philosophie ist also weit mehr als ein bloßes komparatistisches Unterfangen. John Rawls hatte die Idee eines »overlapping consensus« formuliert, und dementsprechend findet sich bei Ram Adhar Mall eine »Überlappungsthese«, nach der wir in diesen »Überlappungen« 5 oder Überschneidungen tragfähige Gemeinsamkeiten finden können. Interkulturelle Philosophie hat also auch zu sagen, »was als unveräußerbar zwischen den Kulturen und als das genuin Menschliche in Erscheinung tritt«. 6

Wimmer, Exklusiv – egalitär – komplementär: Drei Verhältnisse zwischen Traditionen, in: Bickmann/Scheidgen et al. (Hg.), Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik, S. 99 ff. 5 Rawls, The Idea of An Overlapping Consensus, in: Oxford Journal of Legal Studies 7 (1987), S. 1–25, und Mall, Philosophie im Vergleich der Kulturen, S. 47–50. 6 Zimmermann, Kritik der interkulturellen Vernunft, S. 14. 4

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»Die historische Erforschung des Zusammenhangs zwischen religiösen Gemeinschaften und den Entwicklungen in der Malerei ist bis heute nicht weit fortgeschritten.« 7 Doch im Hinblick auf unterschiedliche Bildauffassungen finden hier m. E. auch Vorprägungen für den aktuellen philosophischen Bilderstreit statt. Daher untersuche ich zunächst die Entwicklung dieser Bildauffassungen in verschiedenen religiösen Kulturen. Der religionsphilosophische Teil beginnt mit dem biblischen Bilderverbot des Alten Testaments, das für das Judentum, die älteste monotheistische Weltreligion, entscheidend wurde. Von Anfang an war die Religionsphilosophie interkulturell: Man musste sich von den Götzenbildern der heidnischen Umgebung absetzen. Da anders als im Christentum und im Hinduismus im Judentum eine Inkarnation des Göttlichen undenkbar ist – Gott muss wie im Islam transzendent bleiben –, wird gezeigt, wieso sich im Judentum erst sehr spät bildhaftes Gestalten entwickelt hat (und in Synagogen bis heute völlig fehlt). Stattdessen wird wie im Islam das Symbolische (auch in der Mystik) gepflegt, was eine Entscheidung für die Bildsemiotik befördern kann. Es ist nämlich die vermeintliche Präsenz des Abgebildeten im Bild 8, die als gefährlich bekämpft werden muss, da sie falsche Illusionen schafft und zur Verehrung von Bildern Anlass geben könnte. Das (Ab)bild könnte für das Urbild gehalten werden oder mit ihm in Verbindung stehen und es ersetzen. (Bildsemiotiker ziehen daher mit der Auffassung vom Bild als Zeichen eine symbolische Zwischenebene ein, die verhindern soll, dass die Dimensionen von Urbild und Abbild konfundiert werden.) Die andere Entwicklung im Christentum liegt sicher daran, dass für Christen Gott Mensch geworden ist, den man in seiner menschlichen Gestalt abbilden konnte. Doch gibt es auch bereits seit Paulus und erst recht im byzantinischen Bilderstreit starke bilderfeindliche Traditionen, die erst mit dem 2. Konzil von Nicäa, das (mit einer Stimme Mehrheit!) Bilder erlaubte, zeitweilig zurückgedrängt wurden. In der Reformation brach die Bilderphobie wieder auf, mit Bil-

Obert, Welt als Bild, S. 73. Man betrachte z. B. die sehr »lebendigen« und sehr individuell ausdrucksstarken Gesichter in Rembrandts »Nachtwache« und die der im gleichen Raum im Amsterdamer Rijksmuseum aufgehängten Bilder von Frans Hals.

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derstürmen und -zerstörungen, z. B. in der Schweiz und in den Niederlanden, wo sie sogar einen achtzigjährigen Krieg entfachten. So hat sich in Ländern, die von der Reformation weniger berührt wurden, wie in Spanien und Südamerika, im Katholizismus eine andere und unbefangenere Haltung zum Bildhaften erhalten. Doch keinesfalls rechtfertigt das den pauschalen Vorwurf der Idolatrie des »gottlosen« »Westens« in den Medien des »Islamischen Staates«. Der Islam ging sicherlich am radikalsten mit dem Bilderverbot um. Es wird gezeigt, wie sich so eine spezifisch islamische abbildfreie Kunst mit Ornamentik und Kalligraphie entwickeln konnte. Doch auch hier muss man unterscheiden: Der Wahabismus ist sicherlich am radikalsten, die Schiiten gelten als bilderfreundlicher (nicht nur wegen der vorislamischen Bildtradition der persischen Miniaturmalerei, auch wegen anderer Hadithsammlungen); bei ihnen findet man sogar eine Art Heiligen- und Gräberverehrung, was die streng auf die Schrift fixierten Sunniten ablehnen. Die Entwicklung der arabischen Philosophie im sog. »goldenen Zeitalter« wird verfolgt, der Einfluss von Plotins Emanationslehre auf die Lichtmetaphysik und auf symbolische Formen islamischer Kunst (wie Maschrabiyyas und Muqarnas) analysiert, was auch eine andere Art des Sehens mit sich brachte. Die Weltabgewandtheit teilen viele buddhistische mit vielen islamischen Strömungen, und auch im Buddhismus finden wir anikonische Tendenzen, im Gegensatz zum sehr bilderfreundlichen Hinduismus (in dem es viele Inkarnationen des Göttlichen gibt). Zwar ist der Buddhismus aus dem Hinduismus in einer Gegenwendung gegen diesen entstanden, doch ist die Lehre von der Advaita Vedanta, der Zwei-Einheit, die alle Dualismen in eine kosmische Einheit zusammendenkt, sicher eine Quelle des buddhistischen Nirwanagedankens geworden, der sich von Indien über China bis hin nach Japan ausbreitete. Ironischerweise hat es gerade im Buddhismus die größten Bildnisse überhaupt gegeben, was die Taliban veranlasste, den Buddha von Bamiyan in Afghanistan als gotteslästerlich zu zerstören. Auch die heidnischen Statuen im Baal-Tempel von Palmyra fielen – obwohl Weltkulturerbe – den Bilderstürmern zum Opfer. Die bilderfeindlichen Auffassungen der Weltreligionen haben sich aber nicht ohne philosophische Argumentationen entwickelt, und dieser Einfluss wird nachgezeichnet.

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Unabhängig von religiösen Bildtheorien und Bildhaltungen haben sich aber auch im sog. »abendländischen« Denken seit Platon philosophische Bildtheorien entwickelt. Die Lehre von den Schattenbildern in Platons Höhlengleichnis hat eine Traditionslinie begründet, die Bilder bzw. Ab-Bilder als sekundär gegenüber den Urbildern in der eigentlichen vollkommenen (idealen) Realität erachtet und ihnen einen geringeren ontologischen Status zuschreibt. Über Aristoteles und Plotin bis hin zu Kant und Fichte, der im Rahmen seiner Wissenschaftslehre eine erste konstruktivistische Bildtheorie entwickelt hat (die viel mit Einbildungskraft und Bildung zu tun hat), lässt sich verfolgen, dass es hier meist um mentale Bilder geht. 9 (Leider ist die im Englischen übliche Unterscheidung von picture und image im Deutschen nicht vorhanden.) In Herders früher Aufklärungskritik (gegen Descartes: »Ich fühle mich! Ich bin!!«) wird aber eine andere, eine sensualistische Linie deutlich, die leibliche Sinneserfahrungen privilegiert, denn Herders Denkweg war vom französischen Materialismus und angelsächsischen Empirismus geprägt. Doch »das Bild ist weder mentalistisch im Subjekt noch im Bildträger zu verorten […]. Das Bild gibt sich als Licht, es gibt sich dem Auge als Bündel von Lichstrahlen.« 10 Stellenweise meint man in Simons Herder-Interpretation Bergson zu lesen, der, wie MerleauPonty bekannt hat, Einfluss auf Teile seines phänomenologischen Denkens gehabt hat. Ein philosophischer Bilderstreit, für den hier ein ganz anderes Panorama entfaltet werden muss, war also schon vorgebahnt: Im einen Falle kann das Abbild als Zeichen des abwesenden Referenten gesehen werden, auf den es verweist, im anderen Falle geht es um die Präsenz des im Bild Wahrzunehmenden, um seine Erscheinung als »bloß Sichtbares«, da ihm andere Sinnesqualitäten fehlen. Denn der zwar imaginäre, aber doch in der Darstellung sichtbare Bildgegenstand ist ja doch irgendwie im Bild präsent und kann unmittelbar angeschaut werden. Der zweite Hauptteil beschäftigt sich also mit dem aktuellen Streit um Bildsemiotik und Bildphänomenologie und setzt nach einer allgemeinen Einführung zum Bildbegriff in der Philosophie ein mit den jeweiligen Begründern der modernen Semiotik und Phänomenologie, mit Peirce und Husserl. Während Peirce und Husserl als ideaVgl. Neuber / Veressov (Hg.), Das Bild als Denkfigur. Zu Herders Aufsatz »Über Bild, Dichtung und Fabel« s. Simon, Herders Bildtheorie, in: Neuber/Veressov (Hg.), Das Bild als Denkfigur, S. 141–151, hier S. 148.

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listisch bzw. quasi-idealitisch gelten können (Husserl bleibt trotz seiner Absicht, »zu den Dingen zu gehen« doch noch Bewusstseinsphilosoph), sind die jeweiligen internen Gegenpositionen bei Goodman und Sartre antimetaphysisch bzw. materialistisch, und die jeweils dritten Autoren, Eco und Merleau-Ponty, erweisen sich als Vertreter vermittelnder Positionen, jedenfalls im Hinblick auf die jeweils zugrundegelegte Ontologie. Man hat in der Bildtheorie zwischen Bildträger, Darstellung (dem eigentlichen Bild) und Dargestelltem unterschieden. Peirce unterscheidet in seiner Semiotik zwischen dem Zeichen selber, seinem Referenten (Sachbezug) und dem Interpretanten – mit Frege gesprochen: zwischen Bedeutung (Extension, Goodman spricht von »Erfüllungsklassen«) und Sinn (Intension) – und entwickelt u. a. mit seiner Lehre von Ikon, Index und Symbol ein ganzes komplexes System von triadischen Beziehungen. Ich führe aus, weshalb man m. E. bei Goodmans antimetaphysischem Nominalismus von einer Reduktion des Interpretanten, bei Eco von einer Reduktion des Referenten und bei Husserl von einer Reduktion des Zeichens überhaupt reden kann, denn es geht Husserl ja nicht wie den Symboltheoretikern um die Vermitteltheit der Darstellung, sondern um möglichst große Unmittelbarkeit und Lebensnähe. Dabei ist mir immer auch eine Analyse der jeweiligen ontologischen Hintergrundprämissen der genannten Autoren wichtig, erstens um einem gelegentlich anzutreffenden etwas oberflächlichen bildphilosophischen Eklektizismus vorzubeugen, der sich etwa bei Peirce mit dem Begriff des Ikons und bei Goodman mit dem der syntaktischen Dichte bedient, zweitens aber auch, um die bildphilosophischen Positionen im Lichte der vorangegangenen religionsphilosophischen Erörterungen besser reflektieren zu können. Sind (Ab-)Bilder Zeichen, die auf ein Urbild verweisen und gelesen werden müssen, bettet man also Bilder wie Schrift und Sprache in eine allgemeine Zeichentheorie ein? Oder sind sie primär optische Erscheinungen, die man zunächst wie einen zwar imaginären, aber doch im Bild präsenten Gegenstand schauen muss, um sie in ihrem Eigenwert zu erfassen? Die Bildsemiotik (mit Peirce, Goodman, Eco) ist mehr der analytischen und postanalytischen Tradition verpflichtet und hält die Phänomenologie für zu subjektiv und unwissenschaftlich. Die Bildphänomenologie hingegen (mit Husserl, Sartre und Merleau-Ponty) glaubt, dass Semiotiker die eigenen Denkvoraussetzungen nicht kritisch genug hinterfragen und eine blutleere Lehre produzieren, die mit der Lebenswelt und ihrer leiblichen Wahrneh23 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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mung wenig zu tun hat. Dabei wird auch deutlich, dass sich in der Bildphänomenologie eine Verschiebung vom intentionalen – und damit unsichtbaren – Bild hin zum Sichtbaren, und zwar zum bloß Sichtbaren, ereignet (denn der im Bild anwesende Gegenstand hat keine anderen Sinnesqualitäten.) Man kann also im Falle von Semiotik und Phänomenologie durchaus auch von zwei verschiedenen philosophischen Kulturen mit je anderen Traditionslinien und anderen Sprachen sprechen; und die unterschiedlichen Schulen wirken sich bis hinein in die Besetzung von Lehrstühlen aus. Präsenz also oder Zeichen? Vermitteltheit oder Unmittelbarkeit? Auslöschung oder Verkörperung? 11 Die bisher im deutschen Sprachraum vorgeschlagenen Lösungen (Sachs-Hombach, Abel 12) werden im Lichte der vorangegangenen Untersuchungen zu den Weltreligionen verworfen, da sie noch zu sehr einer Metaphysik der Präsenz verhaftet bleiben und als zu eurozentristisch nicht gut geeignet sind, im Bilderstreit eine auch interkulturell akzeptable Lösung zu ermöglichen. Hier soll auch mit dem Vorurteil aufgeräumt werden, Bildsemiotiker, insofern sie ein ideelles transzendentales Signifikat bevorzugen und Zeichen als sekundär deuten, seien notwendig Idealisten und Bildphänomenologen, wenn sie unmittelbar Sichtbares als primär sehen und sich mit der unmittelbar gegebenen materiell erfahrbaren Realität beschäftigen, seien eher dem materialistischen Lager zuzuordnen und hätten mehr die gesellschaftliche Funktion der Kunst im Blick. Es wird gezeigt, dass solche Verallgemeinerungen an zentralen Unterscheidungen vorbeigehen. Unabhängig von der Tatsache, dass der klassische Materiebegriff durch die moderne Physik obsolet geworden ist und sich die Debatte um Idealismus und Materialismus heute in anderer Form in der mind-brain-Thematik (unter anderen Etiketten als Konstruktivismus und Physikalismus) wiederfindet, muss man feststellen, dass die bildphilosophische Kontroverse andere Bruchstellen produziert und keineswegs nur eine alte Debatte in neuem Gewand ist. vgl. die zwischen Abstraktion und Körperlichkeit schwingende progressive Malerei von Arnulf Rainer auf dem Hintergrund bildtheologischer Überlegungen in Rainer, Auslöschung und Inkarnation. 12 Sachs-Hombach, Das Bild als kommunikatives Medium, S. 73 ff spricht von »wahrnehmungsnahen Zeichen«, Abel im gleichnamigen Buch von »Zeichen der Wirklichkeit«. 11

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Die dargestellten fundamentalen Unterschiede zwischen Bildsemiotik und Bildphänomenologie münden dann ein in einen neuen Lösungsvorschlag, der sich m. E. in der sog. »Differenzphilosophie« finden lässt. Man hat zwar »die« Postmoderne – es handelt sich um Strömungen in verschiedenen Ländern – als anti-aufklärerisch bezeichnet (so z. B. Habermas), doch muss sich – mit Adorno – am Ende die aufklärerische Vernunft auch selbst hinterfragen, sodass man bei postmoderner Rationalismuskritik auch von einer neuen Welle der Aufklärung sprechen kann. Man kann »die« Postmoderne – ich spreche lieber von einem Syndrom – wegen ihres Beitrags zu zunehmender Pluralisierung, Individualisierung und Fragmentarisierung der Gesellschaft zu Recht kritisieren: es droht der Verlust des Sozialen. Doch ist sie mit ihrem Paradigma der Pluralität (das keineswegs in die so viel gefürchtete »Beliebigkeit« münden muss 13) in der Lage, das Denken für kulturell andere Sichtweisen zu öffnen, und dies gilt – wie ich zeigen möchte – auch für die Bildphilosophie. Ausgehend von der ontologischen (und auch ikonisch deutbaren) Differenz bei Heidegger wird das Bilddenken der Differenzphilosophie verfolgt, um dann über Foucaults Beitrag hinaus bei Derrida – mit einem anderen Zeichenbegriff und einer Metaphysik der Absenz – eine mögliche Lösung der Kontroverse zu entwickeln. Diese geht über die Dichotomisierung von Bildsemiotik und Bildphänomenologie hinaus und entspricht den transkulturell vorfindbaren bildkritischen Denkansätzen in den Weltreligionen besser. Das ist kein Zufall: Derrida steht seiner Herkunft wegen mehr in der Tradition der negativen Theologie als Heidegger und Foucault, die aber gleichwohl als Hinführung zu seinem Denken von Belang sind. Doch Derrida hat sich intensiv mit mystischen Strömungen im Christentum und asiatischen Religionen beschäftigt. Auch er will generell die klassischen Dichotomisierungen des »abendländischen« Denkens überwinden. Derridas Ausweitung des Schriftbegriffs um ikonische Dimensionen 14 könnte sogar eine Brücke für islamisches Denken in die Postmoderne Denker entwickeln nämlich eine sehr anspruchsvolle Pflichtethik, s. Münnix, Anything goes? Zum Schlagwort von der postmodernen Beliebigkeit, in Fuchs/Farokhifar/Schütte (Hg.), Freiheit, Moral, Beliebigkeit. Was sollen wir tun?, S. 43–60. 14 Derrida, Grammatologie, S. 21: »[…] all das, was Anlass sein kann für Ein-schreibung überhaupt; sei sie nun alphabetisch oder nicht, selbst wenn das von ihr in den Raum Ausgestrahlte nicht im Bereich der Stimme liegt: Kinematographie, Choreographie, aber auch die ›Schrift‹ des Bildes, der Musik, und der Skulptur […].« 13

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Kulturkampf um Bilder? Zur Einleitung

»westliche« Moderne darstellen. Er macht – wie Peirce und Eco – eine unendliche Kette von Signifikanten aus (Sprache, Schrift, Bildhaftes), die alle auf das Gemeinte verweisen, das sich aber entziehen muss und nie voll erfasst werden kann: Es kann nur Annäherungen geben. Derrida, der mit seiner Behandlung der Mystik zwischen Judentum, Islam, Christentum und Daoismus steht, schafft es daher, mit einem anderen Zeichenbegriff Bildsemiotik und Bildphänomenologie zusammen zu denken: Man muss vom Signifikanten, d. h. von der Materialität der Zeichen ausgehen, und das erlaubt phänomenologischen Zugriff. Ich zeige, dass sowohl bildphänomenologische als auch bildsemiotische Positionen sich in seinem Denken nachweisen lassen. Doch anders als bei Abel ist seine Position mit dem Bilddenken anderer Kulturen kompatibel. Damit wird hier erstmals eine Lösung des Streites vorgeschlagen, die nicht bilderfeindlich ist, aber dennoch den bildkritischen Bildauffassungen in anderen Kulturen Rechnung trägt. Unabhängig davon ist zu hoffen, dass zukünftig mit mehr Wissen um kulturell andere Prägungen interkulturelle Bilddiskurse geführt werden können, um jeweils Unerträgliches im Bildhaften als Grenze des im Bild Darstellbaren besser wahrnehmen zu können. Das wäre ein Beitrag zur interkulturellen Hermeneutik und damit auch Gewaltprävention, und dazu will auch dieses Buch einen Beitrag leisten.

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1. Einige Grundpositionen zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität

1.1 Zur Gefahr des Essentialismus Es gibt keine homogene Kultur. Schon intrakulturell gibt es große Unterschiede: Dialekte, manchmal sogar mehrere Sprachen innerhalb eines Landes (Quebecois, Baskisch, Occitan, Rätoromanisch), unterschiedliche klimatische Bedingungen, die für andersartiges Wohnen und andere Lebensbewältigung sorgen, Stadt/Land-Unterschiede, verschiedene dominante Religionszugehörigkeiten und Abstammungen, politische Parteiausrichtungen, Musik- und kulinarische Traditionen: All dies sorgt schon auf der Mikroebene für große Unterschiede, um nur einige Aspekte zu nennen. Doch auch »die« Kultur des sogenannten »Abendlandes« ist keineswegs homogen, sondern hat ihre Wurzeln rund um den Mittelmeerraum: Thales von Milet und Homer entstammen der heutigen Türkei, Augustinus kam aus Tunesien, Plotin war Ägypter, und die griechische Philosophie kam nach Europa nur durch dem »Umweg« über die arabische Philosophie. 1 »Die dogmatischen Gelehrten richten einen gleißenden Scheinwerfer auf das antike Griechenland, während die übrige Bühne in Dunkelheit getaucht ist. Aber wenn man die gesamte Bühne ausleuchtet, sieht man die anderen Mitwirkenden: Mesopotamier, Perser, Ägypter und Phönizier. Man versteht, dass es im alten Griechenland nicht nur den Heldenmonolog, sondern zahlreiche Dialoge gab, die Teil eines vielstimmigen Stücks waren.« 2

Die griechischen Begriffe für Maße und Gewichte sowie für Nautik entstammen semitischen Lehnwörtern, und schließlich holten sich die Griechen ihr Alphabet von den Phöniziern, die überall im östlichen Mittelmeerraum Handelsposten hatten, und bei denen z. B. α und β (»Alpu, Betu«) die Anlaute der Worte für »Ochse« und »Haus« Holenstein, Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens, S. 84–91. Trojanow/Hoskoté, Kampfabsage. Kulturen fließen zusammen, S. 44. Vgl. auch Robinson, Die Entstehung der Schrift, S. 164 ff.

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Einige Grundpositionen zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität

waren, eine Gedankenstütze, die natürlich bei der Übertragung auf die griechische Sprache – wie auch die optische Ähnlichkeit der Schriftzeichen mit dem Bezeichneten – verloren ging. (Das Gleiche gilt für die hebräische Schrift, deren Alphabet um ca. 1700 v. Chr. der protokanaanitischen Schrift entlehnt war und die den Vorteil gegenüber Piktogrammen und Hieroglyphen hatte, dass nicht nur Begriffe dargestellt werden konnten. Die ursprünglich bildhaften Ursprünge des bildhaften Ausgangsalphabets konnten so bei der Bezeichnung von Lauten vergessen werden. 3) Schon vor dem Zeitalter des Hellenismus also gab es in der Antike Pluralität, aus der heraus sich sinnvolle Gemeinsamkeiten entwickelten. Was kann man heute als »Wesen« der abendländischen Kultur, zumindest in Europa, bezeichnen? Was könnte wesensmäßig zur europäischen Identität gehören, die nach Robertsons Begriff von »Glokalisierung« schon wieder als Re-Lokalisierung, als neue Beheimatung im Eigenen, Antwort auf Globalisierungsprozesse ist? 4 (Universalismus und Partikularismus bilden so keinen Gegensatz: Weltweite Verallgemeinerung und Vereinheitlichung von Institutionen, Symbolen und Verhaltensweisen und die neue Betonung und Erfindung wie auch Verteidigung lokaler Kulturen und Identitätsbindungen bedingen einander. 5) Oft hat man die Wurzeln der abendländischen Identität in der griechischen Antike, in der jüdisch-christlichen Tradition und in der Aufklärung gesehen. Aber das ist nicht unproblematisch: »Jedoch können diejenigen, die auf der Suche nach den Ursprüngen der europäischen Kultur in die Vergangenheit schweifen, ein generelles Dilemma kaum vermeiden: Im Versuch, Substanzielles zu finden, werden besondere kulturelle Züge essentialisiert, und alternative Identitätsmuster werden verworfen. So bedeutet die Identifikation des jüdisch-christlichen Vermächtnisses als bedeutsam oft die Vernachlässigung der Beiträge des Islam zur europäischen Geschichte nicht nur im Mittelalter. Die Unterstreichung der Rolle des Hellenismus (der nicht nur griechisch, sondern auch asiatisch war) ignoriert die Rolle der sogenannten »Barbaren«, und schließlich kann die Konzentration auf die Rolle der Aufklärung das Risiko beinhalten, die Bedeutung der Romantik bei der Bildung modernen europäis. Brumlik, Schrift, Wort und Ikone, s. S. 19 und 45 f. Robertson, Globalization: Social Theory and Global Culture meint einen sich wechselseitig bedingenden Prozess von Globalisierung und Re-Lokalisierung. 5 Beck, Was ist Globalisierung?, S. 91. 3 4

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Zur Gefahr des Essentialismus

schen Bewusstseins und der Entwicklung von nationalen Gefühlen herunterzuspielen. Trotz des weiten historischen Blickwinkels steht die erwähnte kulturelle Triade für überlegte Wahl und schließt dadurch andere mögliche Optionen für kollektive Identifikationen vom europäischen Projekt aus.« 6

Man sieht an diesem Beispiel deutlich die Schwierigkeit des Essentialismus: Was überhaupt wesentlich ist, kann aus verschiedenen Perspektiven je anders gesehen werden. Kraus schlägt daher vor, kulturelle Identität nicht durch ein substanzielles Set von Werten zu definieren, die von kulturell ethnozentrischen Perspektiven abhängen, sondern er zieht es vor, als Indikatoren für Gruppenzugehörigkeit kollektive Erinnerungen, kodifiziertes Alltagswissen, Ethnizität, Sprache oder Religion anzunehmen. Doch der Essentialismus hat im abendländischen Denken eine lange Tradition. Die Beschreibung einer Substanz durch die ihr wesensmäßig beigelegten Attribute (was im chinesischen Prozessdenken mit einer subjektlosen Sprache z. B. gar nicht möglich ist 7) problematisiert die Frage nach der Existenz eines typischen Wesens gar nicht erst; diese Substanz wird als dauerhaft (»subsistierend«) angenommen, nicht nur als Substrat nach Art einer Trägersubstanz, sondern noch durch eine Hypostasierung ontologisch überhöht als substantieller Urgrund alles Seins in seiner jeweiligen Besonderheit, sodass Personen (und Kulturen) zwangsläufig so sein müssen, wie sie auf Grund ihrer jeweiligen Beschaffenheit eben sind. Damit gerät der Begriff fast in die Nähe eines Determinismus, z. B. wenn aufgrund bestimmter genetisch fixierter Eigenschaften von Ethnien, wie z. B. Hautfarbe, eine unabänderliche Fixierung auf bestimmte Wesenseigenschaften angenommen wird. (Einige Autoren sprechen sogar von »Nationalcharakter«, 8 und Aristoteles galten bestimmte Menschen »ihrer Natur nach« als Sklaven.) Essentialistische und substanzontologische Klassifikationen bewirken Verallgemeinerungen und Festschreibungen, die nicht sensibel für Entwicklungsprozesse und Veränderungen auf eben diese reagieren können und schon angesichts von interner Diversität versagen. Chokr assoziiert diesen Essentialismus noch mit einem hermetischen monistischen Holismus und macht eine »fundamental misconception of culture« aus: Kraus, A Union of Diversity. Identity and Polity-Building in Europe, S. 39 (Übers. d. d. A.). 7 s. z. B. Jullien, Der Weise hängt an keiner Idee, S. 96. 8 So z. B. Duijker / Frijda, National Character and National Stereotypes. 6

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Einige Grundpositionen zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität

»By ›cultural essentialism/monism/holism/hermeticism‹ I mean to capture in an adumbrated manner the most problematic and widespread view according to which each culture has presumably a distinct, essential nature – that is one, whole and hermetically closed off to other cultural influences. Each such culture is furthermore considered to be congruent with a distinct group or people. It is typically apprehended along only one of its dimensions in terms of a powerfully and strictly determining homogeneous und uniform symbolic system of meanings, values and beliefs (often without much regard for the material constraints at work) acting or operating in similar ways on all of its members or carriers (often without much regard for the powerfully individuating historical and psychological forces and factors at play).« 9

Insbesondere ist es problematisch, wenn solche vermeintlichen Wesensmerkmale von außen zugeschrieben werden. Amartya Sen, der diesen Klassifikationswahn für eine Art philosophische Krankheit hält, glaubt ganz ähnlich, dass hinter diesem Denken eine seltsame Annahme liege, nämlich dass man die Völker der Welt einzig mit einem einfachen System singulärer Zuweisungen kategorisieren könne, und spricht von einer »illusion of destiny« und einer »civilizational encarceration« (»Einkerkerung«!). Die kulturelle oder religiöse Aufteilung der Weltbevölkerung beinhalte einen Zugang zu menschlicher Identität, der menschliche Wesen genau als Mitglieder einer einzigen Gruppe erschöpfend beschreiben zu können glaubt; so wie dies früher durch Klassenzugehörigkeit oder Nation geschah, geschehe es heute eben durch Kultur oder Religion. Doch solche Art der Identitätszuschreibung sei ein Weg, nahezu jedermann n i c h t verstehen zu können, besonders da solche Identitätskonzepte nicht gewählt werden können als hauptsächliche und wichtigste Teile einer Persönlichkeit, sondern von anderen zugeschrieben und gewählt werden und daher latent gewalttätig sein können. 10 Natürlich sind treffende Trendaussagen möglich, die die Einfühlung und die Kommunikation in andere Lebensformen verbessern, doch wird es gefährlich, wenn daraus verallgemeinerte Klassifikationsaussagen mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit werden. Identitätsbildung vollzieht sich heute oft zwischen den Kulturen. Welsch redet bereits von Transkulturalität nach dem »Ende der KulChokr, A Fundamental Misconception of ›Culture‹ : Philosophical and Political Implications, in: Botz-Bornstein/Hengelbrock (Hg.), Re-Ethnicizing the Minds? Cultural Revival in Contemporary Thought, S. 406. 10 Amartya Sen, Identity and Violence. The Illusion of Destiny, S. 11 ff und 42. 9

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Dynamische Kulturbegriffe

turen«, doch scheint mir seine »Ortspolygamie« (»mit mehreren Orten verheiratet zu sein«) doch eher ein Upperclass-Phänomen. 11 Wir müssen aber in vielen modernen Gesellschaften nicht mehr weit reisen, um anderen Kulturen zu begegnen; man kann daher keineswegs mehr vom überholten Konzept einer »Container-Kultur« ausgehen, nach dem man Kulturen als aufruhend auf einem bestimmten zugrunde liegenden Volksgeist oder an bestimmten ethnischen Merkmalen festmacht und also als in sich geschlossen versteht. 12 Sie sind auch nicht inkommensurabel, bloß weil sie andersartig sein können, mit jeweils in ihnen implizierten spezifischen Werten und andersartigen Realitätsvorstellungen. 13 All dies kann sich mit den jeweiligen – auch gemeinsamen – Lebensformen ändern, und es gilt, die Gewordenheit des Andersartigen zu verstehen.

1.2 Dynamische Kulturbegriffe Kulturen wandeln sich. Bereits Nietzsche hatte deutlich gemacht, dass statische Begriffe insgesamt prinzipiell inadäquat sein müssen zur Beschreibung einer sich verändernden, in Entwicklung befindlichen Lebenswelt 14, eine Kritik, die u. a. von Whitehead in seinen Überlegungen zu Prozess und Realität aufgenommen wird. Erhellend ist hier auch der Vergleich von »Kultur«begriffen in verschiedenen Sprachen (Im Französischen und Englischen spricht man oft eher von civilisations. 15): Wird »Kultur« heute oft als Gegenbegriff zu »Natur« verstanden und als Inbegriff menschlicher Gestaltungsleistungen gesehen, so wurde das lateinische »cultura« zunächst konkret als Pflege und Bearbeitung von Äckern verstanden und erst durch Cicero auf die Kultivierung der Seele, des Selbst übertragen, was noch in Kants und Herders Bildungsbegriff aufgenommen wurde. 16 Welsch, Transkulturalität. Lebensformen nach dem Ende der Kulturen, S. 8 ff. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 49 ff. 13 Göller, Sind Kulturen inkommensurabel?, in: Jammal (Hg.), Kultur und Interkulturalität, S. 43 ff. 14 Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, SS III, S. 309 ff. 15 Die deutsche Debatte um »Zivilisation« und »Kultur« zwischen Politik und Geist beschreibt gut Geyer, Einführung in die Philosophie der Kultur, S. 17 ff. 16 Elberfeld, Sprache und Sprachen, S. 280 ff zeichnet die Entwicklung der Semantik dieses Wortfelds in der deutschen und englischen Sprache nach. 11 12

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Als »Kultur« gilt aber heute auch die Gesamtheit menschlicher Erzeugnisse, die Weltdeutung beinhalten und als ihre Reflexion zu gelten haben. In Asien hingehen gelten andere Vorstellungen, z. B. ist im Japanischen der entsprechende Ausdruck mit »Wind« ganz anders gelagert. 17 (Zum besseren Verständnis sei angemerkt, dass das chinesische Wort für Wind, »feng«, auch »musikalisch-dichterische Liedweise« bedeutet und sich gleich auf zwei Sinne bezieht, nämlich Gehör und Geruchssinn. Hören / Riechen wird mit dem gleichen Wort »wén« bezeichnet. »Wind« kann also den Sinn eines atmosphärischen Eindrucks, einer Aura annehmen. 18) Kulturbegriffe sind also kulturell verschieden. Zudem sind sie, wie Geyer nach seiner Auffächerung unterschiedlichster (»westlicher«) Kulturbegriffe formuliert, nicht nur plural, sondern auch interessengeleitet, und das gilt natürlich auch für den hier präferierten Kulturbegriff Cassirers. Die Humboldtsche Unterscheidung zwischen ergon und energeia, zwischen Werk und wirkender Kraft in der Sprache, greift auch Cassirer für seine Philosophie der symbolischen Formen auf und kritisiert damit den klassischen Substanzbegriff. 19 Seine Kulturphilosophie ist zugleich philosophische Anthropologie 20 und keineswegs reduktionistisch wie die von ihm erweiterte klassische Definition des Menschen als animal rationale. Denn Cassirer geht auf Uexkülls Beschreibung von Umwelten der Tiere zurück, die dieser relativ zu ihrer organischen Ausstattung durch Merkwelt und Wirkwelt je anders in Funktionskreise gliedert. 21 Cassirer stellt sich die Frage, ob man dieses Konzept nicht auch auf Menschen übertragen könne. Er geht dabei von der Lebenswelt des Menschen aus und stellt fest, dass sich hier, anders als bei Tieren, zwischen Merkwelt und Wirkwelt noch eine neue Dimension auftut, die er als »Symbolnetz« oder »Symbolsystem« bezeichnet. 22 Daher kann der Mensch – »wenn es überhaupt eine Definition Ohashi, Der Wind als Kulturbegriff in Japan, in: Paul (Hg.), Kultur: Begriff und Wort in China und Japan, S. 79–93. 18 Vgl. Obert, Welt als Bild, S. 98. 19 Grundlegend ist hier Cassirers Untersuchung zu Substanzbegriff und Funktionsbegriff, etwa S. 3–34 sowie S. 359–409. 20 Recki, Ernst Cassirer, S. 50. 21 vgl. Üexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 219; s. auch Cassirer, Versuch über den Menschen (VM), S. 47. 22 Cassirer, VM, S. 49. 17

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des Wesens oder der Natur des Menschen gibt« – nur funktional, nicht aber über eine ihm eigene Substanz definiert werden: »Das Eigentümliche des Menschen, das, was ihn wirklich auszeichnet, ist nicht seine metaphysische oder physische Natur, sondern sein Wirken.« 23 Das führt Cassirer dazu, den Menschen als animal symbolicum zu bezeichnen, denn wenn man eine empirische Darstellung von der Natur des Menschen geben wolle, so reiche das Merkmal Rationalität nicht aus. Die Beschreibung der Sprache als Quelle von Rationalität z. B. sei nur ein Teilaspekt, neben dem man die emotionale Sprache und die der poetischen Phantasie nicht vergessen dürfe: »Zuallererst drückt die Sprache nicht Gedanken oder Ideen aus, sondern Gefühle und Affekte.« 24 Unter »symbolischer Form« versteht Cassirer »jede Energie des Geistes […], durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.« 25 Solche Symbolisierung ist schon in der Welterfassung vorbegrifflich als produktives Gestalten am Werk, wenn z. B. Erklärung und Deutung von Naturphänomenen in mythischen Bildern 26 eine erste »Fernstellung der Umwelt zur Welt« 27 bewirkt und anstelle tierischer Reaktion menschliche Antworten 28 ermöglicht. Doch müssen solche Bilder und Welterklärungen sprachlich vermittelt werden, Cassirer, VM, S. 110. a. a. O., S. 51 und 50. 25 Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 79. 26 vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II (»Mythos«). 27 Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 38 ff. 28 Cassirer, VM, S. 52. Während Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen noch »Zeichen« und »Symbol« synonym benutzt, unterscheidet er diese in VM 57 streng: »Dass es im tierischen Verhalten ziemlich komplexe Zeichen- und Signalsysteme gibt, scheint eine gesicherte Tatsache zu sein« (wie die komplexen Tänze der Bienen, die die Richtung einer Futterquelle durch Abweichung von der Schwerkraft andeuten, die im dunklen Bienenstock für die Abweichung von der Sonne steht). »Wir können sogar sagen, dass einige Tiere, vor allem Haustiere, außerordentlich empfänglich für Zeichen sind. Ein Hund reagiert auf die geringfügigsten Veränderungen im Verhalten seines Herrn; er kann sogar den Gesichtsausdruck des Menschen oder Modulationen der menschlichen Stimme differenzierend wahrnehmen« (ich ergänze: und eigene Befindlichkeiten mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln ausdrücken). »Aber diese Phänomene sind vom Verstehen der Symbolsprache des Menschen noch sehr weit entfernt.« 23 24

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weshalb Cassirer im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen zunächst die Sprache als weltbewältigendes Medium abhandelt. Es wird aber an diesem Beispiel deutlich, dass die von Cassirer gewählte Reihenfolge seiner Abhandlung eine bloß analytische Trennung darstellt und in der Praxis ein Ineinander verschiedener symbolischen Formen sich zu dem bereits erwähnten Symbolnetz verdichtet; und erst durch die Vielfalt der Symbolsysteme wird relationales Denken möglich. 29 Es entstehen durch die Verknüpfung oder »Relationierung« von Symbolprozessen Verweisungszusammenhänge, die dadurch – sich stabilisierend – zunehmend »Kohärenz und Konnotativität« erhalten, und Dinge, die zueinander passen oder sich voneinander abgrenzen, in Beziehung zueinander setzen 30. Das gilt insbesondere auch für das Symbolschaffen in der Kunst, speziell der bildenden Kunst: Cassirers Beschäftigung mit der Renaissance 31 (da in ihr sich – zusammen mit der Zentralperspektive, die den Menschen in den Mittelpunkt des Sehens stellte – der für unsere Kultur so wichtige Gedanke der Individualität entwickelt habe) zielt auf die besondere Art des künstlerischen Sehens. Auch in ihm sind bereits Gestaltungsleistungen am Werk: »Bei dieser künstlerischen Vision geht es nicht nur um ein Aufnehmen von Eindrücken, die auf uns einströmen. Es geht vielmehr auch und vorab um das Sehen von Gestaltungsmöglichkeiten in dieser Welt der auf uns einströmenden Eindrücke, und damit um eine Gestaltung schon im Sehen selbst. Wo der bloß aufnehmende Blick die zerstreuten Sichten registriert, die die Welt uns bietet, gestaltet der künstlerische Blick diese Sichten zu einer Sicht, die sich in einem Bilde oder einer Plastik, einer Erzählung oder einer musikalischen Komposition, kurz: in einem Kunstwerk verdichtet.« 32

Diese schöpferische Vision als Quelle individuellen Ausdrucks bereitet späteren Abstraktionsleistungen den Weg. Denn solch gestaltendes Sehen (später wird Wittgenstein von »etwas als etwas sehen« sprechen) schafft die sinnliche Fundierung aller späteren begrifflichen Leistungen, und indem es zu einem individuellen eigenständiCassirer, VM, S. 66. Schwemmer, a. a. O., S. 93 f. 31 z. B. in: Individuum und Kosmos in der Renaissance, oder in der »Logik der Kulturwissenschaften«. 32 Schwemmer, a. a. O., S. 230. 29 30

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gen und unabhängigen Werk geworden ist, ist damit eine eigene neue Wirklichkeit geschaffen. 33 Cassirer fasziniert an der Renaissance – und z. B. auch an Leonardo da Vinci –, dass hier Kunst und Wissenschaft, z. B. in Architektur, Mathematik, Musik und Malerei, eine Synthese eingingen. Es handelt sich dabei jeweils – auch in der Wissenschaft – um Ausdrucksphänomene; und damit trägt Cassirer der Husserl’schen Kritik am Ausblenden der Lebenswelt und des Wissenschaft treibenden Subjekts Rechnung. (Nur so kann es zum »objektivistischen Schein« der Wissenschaften kommen und zum Vergessen der auch in ihnen zentralen menschlichen Gestaltungsleistungen in Symbolprozessen.) Alle symbolischen Phänomene sind für Cassirer durch die Grundfunktionen des Ausdrucks, der Darstellung in einer Repräsentation und der damit intendierten Bedeutung, z. B. einer wissenschaftlichen Theorie, definiert. 34 Wenn überpersonale Kräfte wie das Wirken eines »Volksgeistes« oder einer »Kulturseele« zur Erklärung des Ursprungs von Sprache, Religion und Gesellschaft bemüht werden, so ist dies für Cassirer »nichts anderes als ein Verzicht auf wissenschaftliche Erklärung und ein Rückfall in den Mythos«. 35 »Die Welt der Kultur wird dabei als eine Art von Überwelt erklärt, die in die physikalische Welt und das Dasein der Menschen hineinwirkt. Eine kritische Kulturphilosophie kann sich keiner der beiden Erklärungsarten gefangen geben. Sie muss eben sowohl die Scylla des Naturalismus als auch die Charybdis der Metaphysik vermeiden.« 36

Das gelingt dadurch, dass man sich klar macht, dass Subjekt und Objektwelt, Ich und Du, nicht fertig sind, sondern sich miteinander im Austausch entwickeln. Sie sind keine zwei substanziell getrennte Wesenheiten, sondern sind im Sprechen, künstlerischem Bilden, im Denken und Forschen miteinander aktiv, um sich in dieser Aktivität zu finden und sich gleichzeitig voneinander zu unterscheiden 37 und gemeinsam im Medium der Kultur in Wechselwirkung zu treten. Cassirer will also die Bedingungen der Möglichkeit von Kultur überhaupt in den Blick nehmen. Er geht nicht von verschiedenen zu 33 34 35 36 37

a. a. O., S. 231 f. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen 1, S. 19. a. a. O., S. 50. ebd. a. a. O., S. 51.

35 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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bewertenden kulturellen Inhalten aus, verliert sich also nicht in Diversifikationen, sondern sucht Einheit in der Arbeit des Erzeugens von Kultur. Solche Kulturphilosophie muss wohl Strukturanalyse betreiben, sucht aber auch nach einer Zusammenschau, die alle Einzelformen umfasst, und muss ihren Blick daher auf den Kultur generierenden Prozess lenken. Sie ist hier »nicht Morphologie der Kultur und ebenso wenig Kritik der einzelnen Kulturerscheinungen (und auch nicht ihre Kommentierung), sondern transzendentale Anthropologie.« 38 Dieser integrative Ansatz »ist nicht nur Kultur-, sondern Fundamentalphilosophie. Es geht Cassirer um das Ganze der geistigen Formen von Weltauffassung und -gestaltung.« 39 Damit ergibt sich ein geradezu logisches Interesse, über die eigenen habitualisierten Kategorien hinaus andere Möglichkeiten von Welterfassung und -deutung kennen zu lernen, denn die eigenen Prämissen werden in ihrer Eigenart und Funktion um so klarer, je besser wir sie von anderen Kategorien, Weltzugriffen und Denkmodalitäten unterscheiden können. Gemäß Whorfs Beschreibung des »Hintergrundsphänomens« 40 kann man nämlich auch die eigene Kultur als ein solches identifizieren: Jeder Mensch wird durch die Kultur, in der er aufwächst, entscheidend geprägt. Allerdings weiß er im normalen Alltag davon nichts, wenn er nicht mit anderen Prägungen konfrontiert wird. So sind seine eigenen kulturspezifischen Eigenarten für ihn selbstverständlich, und da für die anderen Menschen seiner Umgebung die gleichen Selbstverständlichkeiten gelten, gibt es keinen Anlass darüber nachzudenken oder diesen Hintergrund als besonders wahrzunehmen. Es ist die eigene Standpunkthaftigkeit, die unserem Bewusstsein wie der »blinde Fleck« in unserem Auge unbewusst bleibt. (Waldenfels spricht treffend von einem »Selbstentzug im Fremdbezug«. 41) Erst auf einem nicht ausgeblendeten Hintergrund aber erhalten alle kulturellen Phänomene ihre Kontrastierung und Bedeutung bzw. werden in ihrer Eigenart erst wahrnehmbar: Kulturelle »Prägungen zum Sein« werden erst dann in ihrer Besonderheit richtig verständ-

Geyer, a. a. O., S. 48 ebd. 40 Whorf, Sprache, Denken, Wirklichkeit, S. 9–13 beschreibt einen Stamm, der aufgrund besonderer physiologischer Beschaffenheit nur die Farbe Blau sehen kann. Kann er einen Begriff von Farbe haben? Oder eine Vorstellung von »Blau«? 41 Waldenfels, Sinnesschwellen, S. 127. 38 39

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lich, wenn wir andere Möglichkeiten solcher Weltschöpfung danebenhalten. Nur so gelangen wir zu einem vertieften Verständnis nicht nur des anderen, sondern auch des eigenen symbolischen Gestaltens und zugleich nicht nur zu einer Synopse, sondern auch zu einem Verstehen allgemein menschlicher Weisen von Welterzeugung. 42 Schwemmer kritisiert aber zu Recht, dass Cassirer »die Materialität dieser Symbolismen und die Rolle, die die mit dieser Materialität gegebene Eigenstruktur auch für die Bedeutung dieser Symbolismen spielt« eher weniger gesehen 43 und damit vernachlässigt hat. Die Funktion muss nämlich die Eigenart einer symbolischen Form bestimmen und nicht ihre materiale Struktur, was Cassirer das »Prinzip des Primats der Funktion vor dem Gegenstand« nennt und sogar als »Grundprinzip des kritischen Denkens« sieht. 44 Man könnte zwar auch dem prozessualen Kulturbegriff von Sartre den Vorzug geben, der z. B. von Zimmermann »im Ausgang von der empirischen Phänomenologie« – unter Einbeziehung von Lacan – zugrunde gelegt wird. Doch auch hier sind in der Auseinandersetzung mit Marx und Kierkegaard ontologische Prämissen am Werk, und daher kritisiert Zimmermann Sartres europäische Perspektive 45 und fordert Differenzierungen im Kulturbegriff. Doch wegen des Aspektreichtums des Cassirer’schen Ansatzes, der eine »Vielheit von Einheiten« auch kulturell ermöglicht, und der Relevanz der symbolischen Formen gerade auch für das Bilden in der Kunst ziehe ich es vor, aus interkultureller Perspektive in die Richtung weiterzudenken, wie sie sich z. B. in Steinecks Kritik der symbolischen Formen artikuliert. (Damit sind sowohl genitivus subjectivus als auch objectivus gemeint, und Steineck entfaltet entsprechend diese Kritik der Philosophie der symbolischen Formen und des sich daraus ergebenden Kulturbegriffs am herkömmlichen Substanzdenken, schildert darüber hinaus dieses Denken als noch zu europäisch und will »allfällige blinde Flecken« – gerade auch im Hinblick auf und in Beschäftigung mit japanischer Kultur – reflektieren. 46 Schließlich

Recki, a. a. O., S. 30 Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, S. 49 44 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen 1, S. 11 45 Zimmermann, Kritik der interkulturellen Vernunft, S. 70 f sowie S. 101–123. 46 Steineck, Kritik der symbolischen Formen I, S. 1, 3. (Letzeres geschieht in den Folgebänden.) 42 43

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gelangt er zu einigen »Korrekturen gegenüber Cassirer«, ohne die Fruchtbarkeit des Ansatzes in Abrede zu stellen. 47) Für ein angemesseneres nichtessentialistisches Verständnis von Personen und Kulturen ist also nach Konzepten wie den geschilderten zu suchen, die dieser Wandelbarkeit und Entwicklungsfähigkeit der menschlichen Gestaltungsleistungen im Rahmen von und auch zwischen den Kulturen Rechnung tragen. Und diese sind durchaus nicht immer disparat.

1.3 Familienähnlichkeiten In seinen posthum veröffentlichten Philosophischen Untersuchungen beschäftigt sich Wittgenstein (anders als im Tractatus) mit der normalen Alltagssprache und stellt fest, dass sie immer in situative Handlungskontexte eingebunden ist, aus denen heraus sprachliche Äußerungen (auch Interjektionen, keineswegs nur propositionale Äußerungen) erst ihre Bedeutung erhalten. Solche mit der Lebenspraxis eng verwobenen Sprachhandlungen definieren eine Lebensform, und sie tun dies in unterschiedlichen Gesellschaften mit je anderen Sprachen je anders. 48 Um Bedeutungen zu verstehen, muss man also immer auf den Sprachgebrauch im Kontext schauen: »Man kann für eine große Klasse von Fällen der Bedeutung des Wortes »Bedeutung« dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« 49 Kontextunabhängig kann man also überhaupt nichts richtig verstehen, und daher kritisiert Wittgenstein die kulturanthropologischen Bemerkungen des Schotten James Frazer, 50 der sich besonders mit dem Verstehen fremdkultureller Praktiken und magisch-mythischer Riten beschäftigt. 51 Wittgenstein bemängelt Frazers rationale Kritik und a. a. O., S. 130–135 (Dazu gehört auch »die Bereinigung aller Restbestände des metaphysischen Idealismus, die sich bei Cassirer noch zeigen«. (S. 131)). 48 Münnix, Wittgenstein, Whorf and Linguistic Relativity. Is There A Way Out?, in: Münnix (Hg.), Über-Setzen. Sprachenvielfalt und interkulturelle Hermeneutik, S. 154–179. 49 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (im Folgenden »PU«) § 42. 50 Wittgenstein; Bemerkungen zu Frazers »The Golden Bough«, in: Wittgenstein, Vortrag über Ethik, S. 29 ff. 51 vgl. Göller, Entwickelten Flöhe einen Ritus, er würde sich auf den Hund beziehen, in: Haller/Puhl (Hg.), Wittgenstein und die Zukunft der Philosophie, S. 263–274. 47

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Familienähnlichkeiten

hält dagegen, dass Lebensformen anders als Meinungen oder Theorien nicht wahrheitsfähig seien. Der Kardinalfehler, so Wittgenstein, sei es, wenn man die Kategorien des eigenen Denkens unbefragt auf andere Lebensformen übertrage, 52 ohne diese näher zu kennen. Sprachhandlungen sind also eingebettet in kulturell je anders sprachlich verfasste und traditionsmäßig divergierende Lebensformen, deren Kenntnis zum Begreifen von Bedeutungen unerlässlich ist. »[…] es ist […] wichtig, dass ein Mensch für einen anderen ein völliges Rätsel sein kann. Das erfährt man, wenn man in ein fremdes Land mit gänzlich fremden Traditionen kommt; und zwar auch dann, wenn man die Sprache des Landes beherrscht. Man versteht die Menschen nicht. […] Wir können uns nicht in sie finden. […] Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen. (PU II, 260)«

Sind Kulturen also grundsätzlich inkommensurabel? Diese Frage untersucht Göller und berichtet von Fremdheitserfahrungen mit der japanischen Kultur, denn die Begegnung mit dieser Kultur ist von Europäern oft als eine Erfahrung der besonderen Art beschrieben worden, als eine Art »verkehrte Welt« 53. Können wir solche sehr fremden Kulturen überhaupt verstehen, ohne sie mit unseren eigenen Kategorien zu deuten, wodurch sie uns natürlich fremd bleiben? Göller untersucht daher die Positionen von Wittgenstein, Winch und Rorty, für die allesamt kontextunabhängiges Sprechen nicht möglich ist: Ein radikaler epistemologischer Kulturrelativismus wäre die Folge. Denn wenn jede kulturelle Lebensform oder Sprache ein andere Realitätssicht konstituiert (Göller spricht von Kulturen und ihren Medien als Wirklichkeitskonstituentien), so müsste man »verschiedene Diskursuniversen und je andere multiple Realitäten« akzeptieren und dürfte keine objektiven externen Beurteilungsmöglichkeiten zulassen. 54 Doch genau das tue Wittgenstein, um bei diesen Beispiel zu bleiben: Wittgenstein nehme zumindest implizit an, seine »Aussagen seien empirisch gültig für die in Frage stehende Kultur oder Lebensform. Doch nicht nur das«: Er mache seine Kritik zur Grundlage für darüber hinausgehende Aussagen, »indem sie aus empirischen AusGöller, Sind Kulturen inkommensurabel?, in: Jammal, Kultur und Interkulturalität, S. 46 f. 53 nach Göller, a. a. O., S. 44. 54 Göller, a. a. O., S. 51. 52

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sagen wiederum Aussagen – sogar einer höheren Allgemeinheitsstufe« – ableite. »Es werden also generelle Aussagen formuliert, die wiederum Gültigkeit über andere, kontextfremde Kulturen und Lebensformen für sich reklamieren.« 55 Göller macht also »kontextübergreifende Metadiskurse« aus, »in denen verschiedene Diskurse verglichen, zueinander in Beziehung gesetzt und kritisiert werden. Aus diesem Grunde lässt sich an sie die kritische Frage richten, ob die in einem solchen Metadiskurs artikulierte Kritik nicht selbst auf einen nicht-relativierbaren Kern hinweist – nämlich – um es einmal so zu formulieren – auf kontextunabhängige Rationalitätsstandards.« 56 Wittgenstein müsse für seine eigenen kritischen Analysen ebensolche Standards beanspruchen 57. Um auf die oben zitierten Japan-Erfahrungen zurückzukommen: Auch bei großer Fremdheit kann man vergleichen und hat Vergleichskriterien, z. B. in Geschlechterfragen, Essgewohnheiten, Schreibgewohnheiten, Gestik und handwerklichen Gewohnheiten. 58 Kulturen können sich je unterschiedlich ausdifferenzieren, doch auch hier gibt es neben »erhellenden Differenzen« 59 oft auch inhaltliche Gemeinsamkeiten, nur fallen diese bei großer Fremdheit zunächst weniger ins Auge. Zum Beispiel prägen technische Innovationen Lebens- und Berufswelten nicht nur in einer Kultur, gibt es gemeinsame Sprache und Literatur, wie zwischen dem frankophonen Kanada und Frankreich oder England und USA, man teilt eine Religion, oder man ist ein Stück Geschichte miteinander gegangen. Daher liegt für mich in Wittgensteins relationistischem Konzept der Familienähnlichkeiten ein Weg, den nichtessentialistischen Ansatz Cassirers weiterzuverfolgen. Wittgenstein hatte in seinen posthum erschienenen Philosophischen Untersuchungen (PU) im Rückgang auf Humes Begriff der family resemblances eine Position gefunden und formuliert, die entgegen der üblichen Orientierung an der Aristotelischen Substanzontologie auf die Kategorie der Relation setzte. Damit stellte er sich im Universalienstreit zwischen die Fronten des Essentialismus und des Nominalismus 60 und führt als Beispiel 55 56 57 58 59 60

Göller, a. a. O., S. 53. ebd. ebd. Göller, a. a. O., S. 52. Mall, Philosophie im Vergleich der Kulturen, S. 115 f. Der Erste, der behauptete, Wittgenstein habe damit das Universalienproblem ge-

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das Phänomenfeld der Spiele an. Diese haben nämlich nicht bloß gemeinsam, dass sie »Spiele« heißen oder dass ihnen ein gemeinsames Wesen, z. B. Regelhaftigkeit, eignet (die ist nur bei manchen Spielen zu beobachten). Wittgenstein will also nicht nur die seiner Meinung nach falschen Kriterien kritisieren, sondern auch ein neues Modell entwickeln, das sich an der gesamten Breite des jeweils vorfindbaren Phänomens orientiert. Spiele nämlich bilden – wie andere Gegenstandsbereiche – eine Familie von ähnlichen Phänomenen, und man kann sich dies nach Art von Ähnlichkeitskreisen vorstellen, die sich überlappen und dort in manchen Punkten bei einigen Spielen Gemeinsamkeiten aufweisen, sich in anderen Merkmalen aber unterscheiden, so wie typische Gesichter in einer Familie nie in allen Merkmalen übereinstimmen müssen, aber trotzdem untereinander Familienähnlichkeit aufweisen, mache mehr, manche eben weniger: »Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und im Kleinen. Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ›Familienähnlichkeiten‹ […] Und ich werde sagen: Die Spiele bilden eine Familie.« (PU 66 f) Dies ist nun eine Absage an den Essentialismus: Denn »der Philosoph behandelt eine Frage wie eine Krankheit« (PU 255), und die Therapie besteht im »Schauen« auf die Phänomene. »Es gibt am Spiel nichts Bestimmtes im Sinne von ›Einem‹ Merkmal zu beobachten«, es darf »nichts ›Eines‹, ›Wesentliches‹, und ›Gemeinsames‹ geben, das das ›Spiel als solches‹ kennzeichnet oder auszeichnet. […] Durch die grammatische Auflösung jener Wesens-Betrachtungen der Philosophie, d. h. durch die sprachanalyische und -kritische Untersuchung jener Begriffe des ›Einen‹, ›Gemeinsamen‹, und ›Wesentlichen‹ […] nimmt Wittgenstein den ›Kampf‹ (PU 109) gegen die Verwirrungen, Täuschungen und Verhexungen der Philosophie durch Sprache auf.« 61 Die Phänomenbereiche, die durch Ähnlichkeitsrelationen zusammenhängen, bilden also ein Cluster, und es kann gut sein, dass einige Phänomenbereiche mehrere Ähnlichkeitsmerkmale gemeinlöst, war meines Wissens Bambrough, Universals and Family Resemblances, neu abgedruckt in Pitcher (Hg.), Wittgenstein’s Philosophical Investigations. Vgl. auch Teuwsen, Familienähnlichkeit und Analogie, S. 66 und 89. 61 Brose, Sprachspiel und Kindersprache, S. 78 f.

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sam haben, während die Phänomenbereiche an den Rändern des Clusters nicht unbedingt eine gemeinsame Eigenschaft oder Ähnlichkeit zu allen anderen Phänomenen des Clusters aufweisen müssen. »Sie kann die Glieder kettenartig verbinden, so dass eines mit dem anderen durch Zwischenglieder verwandt ist; und zwei einander nahe Glieder können gemeinsame Züge haben, einander ähnlich sein, während entferntere nichts mehr miteinander gemein haben und doch zur gleichen Familie gehören.« 62

Wir können aber – wegen des Zusammenhangs – Übergänge finden; und so können auch Spiele, die einander wenig ähnlich sind, insgesamt doch zur Familie der Spiele gehören. Gleiches gilt nun auch für Sprachspiele, die Wittgenstein in seiner Spätphilosophie als Phänomene der normalen Alltagssprache – immer verknüpft mit bestimmten Tätigkeiten und Lebensformen – sieht. Und gerade die Vagheit und Unexaktheit der alltäglichen Sprache sichert ihr Funktionieren, das man mit situationsübergreifenden starren Regeln für Sprachspiele eher nicht erreichen könnte. Und mit Bezug auf seine frühe Sprachphilosophie im Tractatus korrigiert Wittgenstein nun nicht nur seine frühe Wortbedeutungstheorie (PU 108). Zusammen mit der pragmatischen Bedeutungstheorie verweisen diese Sprachspiele nun auch bereits auf den Zusammenhang zwischen Sprache und Lebensweise der Sprachbenutzer. Teuwsen macht in Wittgensteins PU vier Typen von Beispielen für solche Sprachspiele von einzelnen perlokutionären Sprechakten bis hin zu größeren, relativ selbständigen Teilsystemen der Alltagssprache aus. 63 Wittgenstein will daher auch »das Ganze der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ›Sprachspiel‹ nennen« (PU 7). »Und sich eine Sprache vorstellen, heißt, sich eine Lebensform vorstellen.« (PU 19) Auch in den verschiedenen Sprachen gibt es Verwandtschaften, Sprachfamilien, etwa durch gemeinsame Abstammung. (So gehen z. B. die indogermanischen Sprachen gehen auf das Sanskrit zurück und weisen auch untereinander, ohne dass man ihre Abstammung

Wittgenstein, Philosophische Grammatik S. 75. Teuwsen, Familienähnlichkeit und Analogie, S. 33 verweist hier auf PU 23 sowie PU 270–278.

62 63

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kennt, ähnliche Strukturmerkmale auf 64). »Und dieser Verwandtschaft, oder dieser Verwandtschaften wegen nennen wir sie alle ›Sprachen‹.« (PU 65) 65 Über die morphologische Betrachtung hinaus sind wir mit der Sprache als energeia wieder beim symbolischen Gestalten und können den Wittgensteinschen Ansatz auf Kulturen übertragen. Auch Kulturen können sich nah sein (ich vermeide bewusst den Ausdruck wesensverwandt), wie die skandinavischen oder die lateinamerikanischen Kulturen, mit verwandten Sprachen, gemeinsamer Geschichte oder geteilten Religionen, oder auch ähnlichen klimatischen Bedingungen, die sich in ähnlicher Vegetation und ähnlichen Arten des Wohnens niederschlagen. Sie können sich aber auch, wie wir gesehen haben, sehr fremd sein. Wenn wir auch Schwierigkeiten haben mit essentialistisch zugeschriebenen Kulturmerkmalen (denn sie können sich vorurteilshaft verfestigen), so können wir doch, wenn wir vom Modell einer gemeinsamen Substanz oder eines charakteristischen Wesens, z. B. eines Volks- oder Nationalcharakters abgehen, uns nach dem schon beschriebenen Wittgenstein’schen Modell der Familienähnlichkeiten ein Netz von sich überschneidenden Ähnlichkeitskreisen von Kulturen vorstellen. Auch bei den von Mall und Hülsmann geschilderten drei Ursprungsorten der Philosophie (Indien, China, Europa) zeigen sich vielfältige Überlappungen, und man kann über die Gemeinsamkeiten Übergänge finden, u. U. auch durch Zwischenschaltung anderer, zunächst ähnlicherer Kulturen, was z. B. im untenstehenden Kapitel über die Entwicklung des Buddhismus von Indien über China nach Japan geschieht. So erhofft denn auch Wittgenstein »Verständnis, welches eben darin besteht, dass wir die ›Zusammenhänge sehen‹. Daher die Wichtigkeit des Findens von Zwischengliedern.« 66

für weitere Differenzierungen vgl. Elberfeld, Sprache und Sprachen, S. 87–113. Bambrough, a. a. O., S. 202 beschreibt ganz im Sinne Wittgensteins, wie sich Klassifikationsmerkmale für die Bildung von Allgemeinbegriffen je nach Funktion unterscheiden können am Beispiel eines fiktiven Südseestammes, der der Bäume ganz anders als wir nicht nach morphologischen Gesichtspunkten, sondern nach Gebrauchszwecken in »house-building trees, boat-building trees« etc. einteilt, was völlig andere Klassenbildungen nach sich zieht, die mit anderer Weltsicht verknüpft sind: »Where we would se a mixed planation, they might see a homogenous field.« Vgl. auch Teuwsen, a. a. O., S. 89. 66 Wittgenstein, Bemerkungen über Frazers Golden Bough, in: ders., Vortrag über Ethik, S. 37. 64 65

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Einige Grundpositionen zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität

Auch Wolfgang Welsch benutzt dieses Modell der sich überschneidenden Ähnlichkeitskreise für sein Konzept der transversalen Vernunft, und damit komme ich auf die oben ausgeführten Gedanken zur Existenz einiger kontextunabhängiger Rationalitätsstandards zurück. Die »transversale Vernunft« ist für Welsch nämlich ein metarationales Vermögen, das trotz unterschiedlicher Rationalitätsformen in verschiedenen Kulturen ein »Vermögen der Übergange« darstellt 67. Dabei wird Vernunft nicht am Maßstab der eigenen Rationalität gemessen: »Wagnis und Anspruch der Vernunft liegen höher. Vernunft setzt sich noch dem aus, was rational nicht zu fassen ist. Vernunft ist gerade auch ein Vermögen zur Überschreitung etablierter Zusammenhänge. Ihre Übergänge vollziehen sich letztlich ohne Boden und ohne Netz.« 68 Und diese Übergänge sind leichter möglich, wenn es zwischen Kulturen nicht nur elementare Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten zu erleben gibt. Es ist durchaus beabsichtigt, dass es bei diesen Clustern von Phänomenbereichen »unscharfe Ränder« gibt, weil man bewusst weder intensional definiert noch durch Vorgabe einer bestimmten Extension. Denn Phänomenbereiche können sich erweitern: »Wenn Sprachspiele nicht hermetisch gegeneinander abgeschottet sind, sondern von vornherein, ›ihrem Begriff nach‹ offene Grenzen und zerfaserte Ränder aufweisen, dann erscheint eine auf gegenseitiges Verständnis zielende Bewegung zwischen unvereinbaren Artikulationen und damit eine Veränderung der beteiligten Denkweisen nicht als unmöglich.« 69

Einem Gedanken Eike von Savignys unter der Überschrift »Kulturelle Barrieren« folgend, kann man sich z. B. auch unschwer Gesellschaften ohne Eigentumsvorstellungen denken, oder solche, die keine Autoritätsverhältnisse haben. (»Denken wir an isolierte Ethnien im zentralen Hochland von Neuguinea!«) Die entsprechenden Sprachspiele des Schenkens bzw. der Eigentumsübertragung oder des Beurkundens von Schenkungen wären sinnlos, ebenso das Sprachspiel Welsch, Vernunft, S. 754 f. a. a. O., S. 755. 69 Schneider, Offene Grenzen, zerfaserte Ränder: Über Arten von Beziehungen zwischen Sprachspielen, S. 145 f (vgl. Wittgenstein PU 41), in: Lütterfels/Roser (Hg.), Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, S. 138– 155. 67 68

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des Befehlens, wenn Weisungen erst nach Palaver angenommen werden und Kinder durch Lockungen statt mit Anweisungen erzogen würden. Man kann »jedenfalls eine Art von Verständigungshindernissen voraussagen, die auf Unterschieden zwischen Lebensformen beruhen und immerhin so weit gehen, dass eine Übersetzung gewisser Äußerungen von einer Sprache in die andere grundsätzlich ausgeschlossen ist«. 70 Doch neben solchen Fremdheiten gibt es immer auch Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten, und dafür gibt es Kriterien.

1.4 Strukturmerkmale von Kulturen Für vergleichende Beobachtungen und Betrachtungen von Kulturen braucht man Kriterien, die nicht nur der eigenen Kultur entnommen sind. Wir brauchen also Differenzkriterien zu ihrer Unterscheidung oder zur Feststellung von Ähnlichkeiten und befinden uns damit nicht auf dem Niveau, das Amartya Sen kritisiert. (Wir reden schließlich nur von Prägungen, denen andere Prägungen folgen können, und nicht von Determination -»destiny«- und beziehen diese Strukturmerkmale nicht als Etiketten auf ganze Kulturen, um sie wesensmäßig zu etikettieren und voneinander abzugrenzen.) Bei zuviel Partikularisierung, so wie Sen sich das wünscht, kann jedoch der Blick für einige charakteristische Züge von Kulturen verloren gehen, die uns – wenn sie uns bewusst sind – das Verstehen erleichtern können. Das könnte verhindern, dass wir, wie es so oft geschieht, von uns auf andere schließen und woanders selbstverständlich eigene Denkschemata und Interpretationsgewohnheiten als gegeben voraussetzen. Die Kategorien, in denen sich Kulturen voneinander abheben oder ähneln können und die in ihrer strukturierten Gesamtheit das spezifische Profil von Kulturen bilden, nennen wir Strukturmerkmale. Doch schon die Isolierung von Strukturmerkmalen bedeutet eine Vereinfachung, da sie als Komponernten eines Ganzen unter-

von Savigny, Wittgensteins »Lebensformen und die Grenzen der Verständigung«, in: Lütterfelds/Roser (Hg.), Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, S. 132 f (s. auch Münnix, Wittgenstein, Whorf and Linguistic Relativity, in: Münnix (Hg.), Über-Setzen. Sprachenvielfalt und interkulturelle Hermeneutik, S. 155–159.

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einander funktional verbunden sind. 71 Dennoch sind sie zur Einführung in das Spektrum, in dem Ähnlichkeiten und Unterschiede sich auftun, interessant und relevant. Dabei geht es um Wissen über Strukturmerkmale von Kulturen, das nicht beanspruchen kann, eine einzelne Kultur in ihrer Totalität zu erfassen (wie wir sehen werden, kann auch hier eine Art Bilderverbot gelten) oder in einem wie auch immer gearteten Wesen. Doch bieten sich hier Verstehenshilfen, und es kann Problembewusstsein wachsen. So kann man z. B. unterscheiden: 1. Raumkonzepte, 2. Zeitauffassungen, 3. Vorstellungen von Erkenntnisprozessen, 4. unterschiedliche Naturauffassungen, aber 5. auch verschiedene Auffassungen von Personalität sowie 6. von Gesellschaft oder Gesellschaften. Und schließlich beschäftigt sich Galtung 7. mit dem sogenannten Transpersonalen oder auch Transzendenten, das in unterschiedlichen Kulturkreisen je anders gedacht werden kann. 72 Wegen essentialistscher Tendenzen teilweise bedenklich sind die folgenden 10 Strukturmerkmale von Kulturen: 1. Nationalcharakter, Basispersönlichkeit 2. Wahrnehmung, 3. Zeiterleben, 4. Raumerleben, 5. Denken, 6. Sprache, 7. nichtverbale Kommunikation, 8. Wertorientierungen, 9. Verhaltensmuster: Sitten, Normen, Rollen und 10. soziale Gruppierungen und Beziehungen. Und eigentlich müsste man sich, so Maletzke, auch noch mit den sogenannten »geistigen Objektivationen« beschäftigen, die von Philosophie, Religion, Kunst, Musik, Literatur bis hin zu Gegenständen des Alltagslebens wie Kleidung, Schmuck, Haus, Wohnung und Hausrat reichen. 73 Eine vergleichende Analyse der jeweiligen Kategorien ist erhellend, zumal beide Autoren jeweils andere Aspekte beleuchten. Ich betrachte fünf Dimensionen voon Strukturmerkmalen: 1. Raum und Zeit. Bei Galtung finden wir zum Thema Raum eine Kritik der sozialen Wertigkeit von verschiedenen Räumen aufgrund von Machtverhältnissen: Zentrismus und Universalismen verhinderten, dass man Räume beachtet, die weniger im Focus stehen, und aufmerksam auf andere Räume wird, in denen Dinge anders gesehen werden. 74 Maletzke, Interkulturelle Kommunikation, S. 42 f. So etwa der Träger des alternativen Friedens-Nobelpreises, Johan Galtung, in Menschenrechte – anders gesehen, S. 28–45. 73 Maletzke, Interkulturelle Kommunikation, S. 42–107. 74 Galtung, a. a. O., S. 28 f. 71 72

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Während Galtung unterschiedliche (politische) Wertungen von Raum betrachtet, geht es Maletzke um unterschiedliches Raumerleben und unterschiedliche Raumkonzepte; er geht hier weiter und behandelt vier Bereiche: 1. privaten Raum, 2. räumliche Orientierung, 3. interpersonale Distanz sowie 4. Raumgestaltungen, die kulturell sehr unterschiedlich ausfallen können. Maletzke konkretisiert das noch weiter und kontrastiert es mit Raum-Zeitauffassungen anderer Kulturen: So verweist er auf japanische Häuser und Gärten, in denen mehr Aufmerksamkeit dem Raum zwischen den Objekten gelte, 75 und besonders in Gärten werde der visuelle Raum durch gesteigertes kinästhetisches Einbezogenwerden ausgedehnt. Interessant ist aber auch, dass Europäer und Amerikaner sich Räume meist abstrakt als leere Räume mit drei orthogonal aufeinander stehenden Achsen vorstellen, während etwa die Hopis das nicht können, denn sie benennen leere Räume nicht als wirkliche Objekte, sondern durch die Position anderer Gegenstände. 76 Zum Aspekt der Zeit muss man festhalten, dass die westliche und eben nicht allgemeingültige Auffassung von Zeit nach dem Modell eines linearen Kontinuums aus lauter gleichen Einheiten als »Zeitpfeil« aus der Vergangenheit in die Zukunft vorgestellt wird, mit einer Zeitrichtung, und dieser Zeitpfeil ist gekoppelt mit einer Vorstellung von Höherentwicklung und Fortschritt, was wir natürlich in anderen, z. B. asiatischen Kulturen mit zyklischen Zeitvorstellungen so nicht finden. In Asien und Afrika finde sich ein konkreteres und ganzheitlicheres Zeiterleben, nach dem Zeit keine »abstrakte Rechengröße, sondern ein in Jahresfesten und Saisonarbeiten konkret erlebbarer Prozess« sei. 77 Es fehlt auch nicht der Hinweis auf für uns kuriose Zeitvorstellungen, z. B. einer Zeit als Kapsel (bei einem afrikanischen Stamm) oder Zeitlosigkeit an Zeitlöchern (bei einem kanadischen Indianerstamm), und auf unterschiedliche Zeitorientierungen: Calvinistisch geprägte Kulturen seien stark zukunftsorientiert, Lateinamerikaner und Anwohner des Mittelmeeres eher gegenwartsorientiert, während einige asiatische Kulturen in der Vergangenheit

Maletzke, a. a. O., S. 62 f. Interessanterweise macht Maletzke diese Achtung für das Dazwischen (dieses »ma« wird verehrt) auch in der Länge der Pausen bei verbaler Kommunikation aus, die bedeutungstragend sind und das gesprochene Wort relativieren können, ohne dass jemand verletzt wird (S. 189–192). 76 Hall, The Hidden Dimension, S. 92. 77 Maletzke, a. a. O., S. 54 f. 75

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lebten, »so zum Beispiel die Chinesen mit ihrem Vorfahrenkult«. 78 (Hier sind bereits einige bedenkliche Verallgemeinerungen am Werk!) Doch Mall zeigt mit einer phänomenologischen Untersuchung, dass lineare und zyklische Zeitbegriffe durchaus nicht gegensätzlich gedacht werden müssen, sondern auch zusammengehen können. 79 Die analytische Trennung der Kategorien Zeit und Raum, die im sog. »Westen« so oft geschieht (und nicht nur in Folge der Kantischen Unterscheidung der Anschauungsformen Raum und Zeit), widerspricht aber der praktischen Erfahrung: Es sind Abstraktionen. In der Praxis, wie auch die moderne Physik weiß, gibt es Räume nicht ohne Zeit und Zeit nicht ohne Räume und dieses Ineinander von Raum und Zeit, wie es auch in anderen Kulturen, z. B. der chinesischen, immer schon gesehen wird, gilt es zu bedenken 80. 2. Personbegriff und Gesellschaft: Während Galtung – unter Ausblendung einer ganzen Kulturgeschichte – nur sehr kurz die »westliche« Prägung zum Individuum mit »Ich« und »Über-Ich« beschreibt, die die Heiligkeit des Leibes und des Geistes des einzelnen Menschen zur Folge habe, 81 kritisiert Maletzke hingehen klischeehafte Zuschreibung von Eigenschaften zu bestimmten Nationalitäten 82. Man muss hier festhalten, und zwar nicht nur für die Ontogenese, sondern auch für die Geistesgeschichte, dass »westliche« Individualität sich tatsächlich anderswo so nicht entwickelt hat und als Ergebnis eines historischen Prozesses gesehen werden muss, vom ›principium individuationis‹ des Meister Eckhart, für das er noch angefeindet wurde, über den Traktat zur Menschenwürde Pico della Mirandolas in der Renaissance, über Descartes und Kant bis hin zur amerikanischen Bill of Rights, in der jedem Einzelnen sogar das Recht zugesprochen wurde, sein eigenes Glück verfolgen zu dürfen. Demgegenüber muss man anmerken – und die interkulturelle Philosophie bietet inzwischen reichlich analytisches Material über andersartige a. a. O., S. 55. Mall, Time-Arrow within the Bounds of Cyclic Time, in: Tiemersma/Oosterling (Hg.), Time and Temporality in Intercultural Perspective, S. 65 ff. 80 Libbrecht, Chinese Concepts of Time: yü-chou as Space-Time, in: Tiemersma/Oosterling (Hg.), Time and Temporality in Intercultural Perspective, S. 87 f. 81 Galtung, a. a. O., S. 31 f. 82 Maletzke, a. a. O., S. 44 f. 78 79

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Konzeptionen von »Selbst«, – dass es z. B. im Buddhismus gar keinen derartigen Personbegriff gibt, im Gegensatz sogar das Ziel, westlich gesprochen, die »Entpersonalisierung« der Person ist, die sich von den sie ausmachenden »Anhäufungen« wie Gier, Neid, Stolz etc. lösen muss, da sie allesamt nur Leiden verursachen. Jedes abhängige Existieren ist sowieso nur illusionär und gehört nicht der eigentlichen Wirklichkeit zu. Auch eine Seele gibt es nicht, und hier kann der Einfluss religiöser Vorstellungen auf die Entwicklung von Personbegriffen nur anklingen. Auch wie eine Gesellschaft strukturiert ist und wie die sozialen Beziehungen verlaufen, ist in weit höherem Maß kulturspezifisch als wir gemeinhin annehmen. So sind zum Beispiel unterschiedliche Gruppierungen wie Familie, Verwandtschaft, Klassen und Kasten sowie Statuseliten korreliert mit bestimmten Verhaltensweisen und Beziehungen untereinander. Es gibt auch kulturspezifisch unterschiedliche Normierungen des Verhaltens: So gelten in Asien vielfach gemeinschaftliche Beziehungen als höherwertig gegenüber den Belangen und Interessen des Individuums, und das muss zunächst klar sein, bevor man sich Einzelinteressen zuwendet. »Während man bei Geschäftsbeziehungen in Europa und Nordamerika meist schnell ›zur Sache‹ zu kommen sucht, legt man in Japan (und etlichen anderen asiatischen Kulturen) großen Wert darauf, erst einmal gute persönliche Beziehungen zu den Partnern aufzubauen. Deshalb dauert es dort eine gewisse Zeit, oft finden mehrere Treffen statt, bis die Kontakte so weit gereift sind, dass man zu Geschäftsfragen übergehen kann. Wer diese Fragen zu eilig und zu direkt ansteuert, gilt in den Augen japanischer Partner als rüde und unhöflich. Europäer und Amerikaner müssen dort also Geduld und Gleichmut lernen«. 83

Man muss bemerken, dass sich traditionell auch in Afrika oft ein ausgeprägter Kommunitarismus findet: Der Mensch erhält seinen Wert nicht aus sich selbst, sondern in und durch die Gesamtheit der sozialen Beziehungen, z. B. in der Sippe, in der er lebt. »It is a matter of common knowledge that the African society is a communal society […] Indeed, to many this characteristic defines ›Africanness‹. On the same phenomenon, John Mbiti writes that that in African societies, whatever happens to the individual, happens to the whole group, and what-

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Maletzke, a. a. O., S. 153 f.

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ever happens to the group, happens to the individual. The individual can only say: ›I am, because we are; and since we are, therefore I am‹.« 84

Westlicher Individualismus darf sich also nicht in Unkenntnis anderer kultureller Gewordenheiten für sakrosankt oder gar für besonders arriviert halten, und man könnte sogar an andern kulturellen Entwürfen für sich selbst lernen, wie es die amerikanischen Kommunitaristen versuchen. 85 Beide Autoren sind aber betriebsblind für kulturspezifisch je andere normative Wertungen der geschlechtlichen Identität: Während es in einigen Gegenden Afrikas Matriarchatslinien gibt (die Sippenzugehörigkeit definieren), gibt es viele andere Kulturen, in denen das Patriarchat bzw. Neopatriarchat (oft mit Homophobie verbunden) fröhliche Urstände feiert und es selbstverständlich ist, dass Frauen nicht die gleichen Rechte haben wie Männer und in Abhängigkeit gehalten werden müssen, was auch Gewalt gegen Frauen legitimiert. Kulturell gewachsene Auffassungen von Geschlechtsrollen (so z. B. auch die positive Bewertung des Hermaphroditismus in manchen indischen Gegenden) gehören also unbedingt in die Gruppe der Unterscheidungsmerkmale mit hinein. 3. Ein weiteres besonderes Unterscheidungs- bzw. Strukturmerkmal muss man in den Naturverhältnissen bzw. Vorstellungen von Natur sehen. Maletzke unterscheidet zwischen drei Typen von Naturverhältnissen und attribuiert sie so: Unterwerfung unter die Natur (z. B. im spanischen Südwesten der USA, dort nehme man das jeweilige Naturgeschehen als unvermeidlich hin), Harmonie mit der Natur (in vielen geschichtlichen Perioden kennzeichnend für chinesische und japanische Kulturen) und Beherrschung der Natur (was z. B. in der Werteordnung der meisten Nordamerikaner ganz weit oben stehe). 86Auch Galtung schildert als »westliche« Perspektive das Herrschaftsbestreben und eine anthropozentrische Auffassung von Natur. 87 Dieses so ausgemachte »westliche« Naturverhältnis ist aber

Gyekye, Sensus Communis in African Political and Moral Thought. An Akan Perspective, in: Kimmerle (Hg.), Sensus Communis in Multi- and Intercultural Perspective, S. 85 f. Dazu auch Sundermeier, The Individual and Community in African Traditional Religions. 85 Näheres s. Münnix, Zum Ethos der Pluralität, S. 228 ff. 86 Maletzke, a. a. O., S. 83. 87 Galtung, a. a. O., S. 30 f. 84

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nicht naturgegeben, sondern als Ergebnis der europäischen Geistesgeschichte zu verstehen und verändert sich gerade wieder: Hatte Franz von Assisi sich in seinem Sonnengesang noch der ganzen Schöpfung verschwistert gefühlt und ›Bruder Sonne‹ und ›Schwester Mond‹ angerufen, so muss doch wohl als der entscheidende Wendepunkt die sog. »Cartesische Spaltung« verstanden werden. Der Cartesische Aufruf, der Mensch müsse endlich mit Hilfe einer lebensdienlichen Technik und seiner Vernunft »maître et possessseur de la nature« werden, um nicht länger dunklen Kräften hilflos ausgeliefert zu sein, hat einer gnadenlosen Ausbeutung der Natur für menschliche Zwecke Vorschub geleistet, bis schließlich hin zu Heideggers Ruf nach einer Umkehr und heutigen ganzheitlichen Naturphilosophien, die die Cartesische Spaltung zu überwinden suchen. 88 Hingegen wissen wir aus anderen, z. B. indianischen, Kulturen, dass Menschen sich immer schon als Teil der Natur denken. Der cartesische Dualismus zwischen res extensa und res cogitans ist allerdings schief, auch wenn er immer noch wirkmächtig ist, und ist schon von Leibniz mit seinem Begriff der Kraft kritisiert worden. Denn der Mensch ist nicht nur Geist-, sondern auch organisches Naturwesen, und sowohl in der Natur als auch beim Menschen gibt es jede Menge Energie. Für indianische Kulturen, wie auch für animistische afrikanische Kulturen ist die Natur von Spiritualität durchwirkt, von Naturgeistern oder den Geistern der Ahnen 89, eine Trennung von Geist und Natur ist undenkbar. Holistische (z. B. auch bei Spinozas Pantheismus) und dualistische Weltbilder sind also voneinander zu unterscheiden und offenbaren unterschiedliche offenbar nicht immer kulturdependente Denkmodelle von Eingebundensein bzw. Opposition zur Natur. 4. Die Kategorie des »Transpersonalen« bei Galtung kann als ein weiteres wichtiges Strukturmerkmal gelten. Es findet sich zum Teil unter dem Begriff »Objektivationen« des menschlichen Geistes bei Maletzke, was schon ein bestimmtes Verständnis von Religion voraussetzt. Bei Galtung scheint zunächst eine lineare Vorstellung von Geschichte vorzuliegen. Im säkularen Staat sei Gott abgelöst durch König, dann Staat, Institutionen usw. Offenbar hätten die Menschen das z. B. Meyer-Abich, Aufstand für die Natur. Von der Umwelt zur Mitwelt. Udeani, Afrikanische Wertetraditionen im 21. Jahrhundert, in: Münnix (Hg.), Wertetraditionen und Wertekonflikte. Ethik in Zeiten der Globalisierung, S. 209 ff.

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Bedürfnis, sich einem Ganzen unterzuordnen, das größer sei als sie, und das sie anbeten oder zumindest als Autorität betrachten könnten. Der säkulare aufgeklärte und demokratische Staat als Institution habe eine solche Autorität, sie werde ihm zumeist zugestanden. Doch Transzendenz über die eigentliche Sphäre des Menschlichen hinaus ist natürlich auch anders vorstellbar, bezeichnet das Unverfügbare und kann sowohl in einer personalen oder nichtpersonalen Gottesvorstellung (wie bei Spinoza: deus sive natura) bestehen. Jenseits aller Transzendenz kann auch ein Gottesstaat diese Rolle übernehmen. Es können aber auch viele Götter sein oder Geister, die in unser Leben hineinwirken oder eine Vorstellung vom geordneten Kosmos, in dem man in seiner Winzigkeit zu Recht verschwindet (zum Thema Religion und Kultur gesondert Kap. 1.5). Es kann auch ein Kosmos von Werten sein, der die Gesellschaft als Ganze erst möglich macht und ihr Profil verleiht (kulturseparatistisch noch Nietzsche: »Eine Tafel der Güter hängt über jedem Volke« 90). Werden diese Werte nach Art einer objektiven idealen Existenz als präexistent gedacht, sind sie eine metaphysische Legitimation der Wertebasis einer Gesellschaft, die dann dazu neigen kann, ihre eigenen Werte zu universalisieren. Man kann die Wertorientierungen aber auch als soziale Traditionen sehen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden und daher als sakrosankt gelten können. Zwar ist die europäische Aufklärung und die damit einhergehende Säkularisierung ein westlicher Sonderweg, zwar gibt es in anderen Kulturkreisen andere Vorstellungen von weltlicher oder kirchlicher oder auch spiritueller Autorität, doch können wir hier niemals zu allgemeinen Urteilen über das Transpersonale in einer Kultur kommen, um sie damit hinreichend zu beschreiben und von anderen abzugrenzen. Zu groß ist die Vielfalt und Bandbreite von Spiritualität, Agnostizismus, fanatischer Religiosität oder auch humanistischer Wertebindung, Aberglaube und Staatsgläubigkeit schon innerhalb einer Gesellschaft, weshalb dieses »Transpersonale« in der Sonderform des Religiösen im nächsten Kapitel eigens unter dem Aspekt der Vielfalt behandelt werden soll.

Nietzsche, Zarathustra, S II S. 322, ist natürlich vom Sozialdarwinismus und vom »Willen zur Macht« getrieben. (»Leben könnte kein Volk, das nicht schätzte; will es sich aber erhalten, so darf es nicht schätzen, wie der Nachbar schätzt.«)

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5. Zuletzt soll die sehr interessante Dimension des Denkens und Erkennens behandelt sein, die man früher mangels anderen Wissens oft für universal gehalten hat: Hier scheint die Gefahr ungerechtfertigter Verallgemeinerungen und Dichotomisierungen offenbar besonders groß: Während Maletzke sich mit je unterschiedlicher Wahrnehmung und Denkweisen befasst, und zwar nicht als Rezeption, sondern als aktives und selektives Gestalten, diagnostiziert Galtung fälschlicherweise unter dem Oberbegriff »Erkenntnis«, dass die »westliche Erkenntnisstruktur atomistisch und deduktiv« sei, »im Unterschied zur holistisch/dialektischen Kombination, die sich in vielen anderen Kulturen findet.« (!) Denn für ihn ist »hier eine unverkennbar westliche Epistemologie am Werk […], die dem sozialen Atom, dem Individuum, das große Augenmerk schenkt; und ebenso dem begrifflichen Atom.« 91 Es ist aber gefährlich, dies zu verallgemeinern, denn schon ein Blick in unsere eigene Philosophiegeschichte zeigt uns die unterschiedlichsten Ansätze in der Erkenntnistheorie, und eben auch holistisch/dialektische, z. B. bei Hegel. Doch wir unterscheiden uns nicht nur in den Inhalten des Denkens voneinander, sondern auch in den Weisen unseres Denkens, mit dem wir zur Erkenntnis gelangen wollen. Maletzke unterscheidet hier zwischen logisch oder prälogisch, induktiv oder deduktiv, abstrakt oder konkret, alphabetisch oder analphabetisch. Letzteres ist unter dieser Überschrift zunächst erstaunlich, aber er erläutert die Relevanz des Analphabetismus für das jeweilige Denken damit, dass man die Welt anders verarbeitet: Analphabeten lebten in einer geschlossenen Welt, in dem Sinne, »dass sie an spezifische Situationen, Bedingungen, Gegebenheiten gebunden sind. Schriftkulturen dagegen machen ein abstraktes, entpersönlichtes, vom Augenblick unabhängiges Denken möglich. Schreiben mache eine Kultur unabhängig von den einzelnen Personen. Nur Schreiben mache den kritischen, überprüfbaren Dialog möglich, der dann seinerseits sich ausweitet zu zugunsten eines kritischen, skeptischen, rationalen und logischen Denkens.« 92 Maletzke folgert daraus eine Zweiteilung von westlicher und »nichtwestlicher« Denkungsart in folgendem gegenüberstellendem Schema, und hier schließt sich meine Kritik an: 91 92

Maletzke, a. a. O., S. 48 ff und Galtung, a. a. O., S. 30. Maletzke, S. 66 beruft sich hier auf Cunzcik, Communication and Social Change.

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logisch – prälogisch induktiv – deduktiv abstrakt – konkret alphabetisch – analphabetisch Er kommentiert: »Mit aller Vorsicht und einigen Einschränkungen kann man die eine Seite dem westlichen Kulturkreis, die andere recht vage den ›Anderen‹ zuordnen.« 93 Abgesehen von der Tatsache, dass es den westlichen Kulturkreis nicht gibt, wird hier nun sehr deutlich, dass man so selber in die Falle essentialistischer Zuschreibungen gerät, die man doch vermeiden wollte. Zudem ist die Zuschreibung »prälogisch/deduktiv/konkret (also nicht zu Abstraktionen fähig)/analphabetisch« für nichtwestliche Kulturen schlichtweg nicht nur undifferenziert, sondern auch falsch: China, Indien und Japan und auch die arabischen Länder haben eine hoch entwickelte Schrift und Buchkultur, die indische Logik braucht sich vor der westlichen nicht zu verstecken, obwohl sie andere Akzente setzt, und auch im sogenannten Westen denkt man (z. B. in der Wissenschaft) sowohl induktiv als auch deduktiv. Denn deduktives Denken muss von allgemeinen Ideen oder vorgegebenen Regeln ausgehen und versuchen, die Tatsachen diesem Rahmen einzuordnen, während induktives Denken vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteige und Theorien konstruiert, die dann anhand empirischer Befunde geprüft würden. 94 Letzteres ist aber keineswegs dem »westlichen« Denken vorbehalten. Wie bei Huntington wird hier zu wenig differenziert. Dualismen wie westlich und nichtwestlich (oder wie bei Huntington der »Westen« und »der Islam« 95) sind zu vereinfachend, wenig hilfreich und erfassen die konkrete Vielfalt des Denkens nicht; und der Analphabetismus ist durchaus auch im sog. »Westen« anzutreffen, wie auch große Belesenheit in anderen Kulturen. Um auf die hier besonders interessierenden kulturell gewachsenen verschiedenen Bildauffassungen zu kommen, könnte man auch in gleicher Weise versuchen, Kulturen mit einem Gegensatzpaar »ikonisch-anikonisch« zu beschreiben (und vielleicht sogar »westlich/nichtwestlich« attribuieren), doch wie wir sehen werden, ist auch dies schief und erfasst die komplexe Realität verschiedenen Bilddenkens in verschiedenen Kulturen und Subkulturen keineswegs. (Es 93 94 95

Maletzke, a. a. O., S. 67. a. a. O., S. 64. Huntington, Kampf der Kulturen, S. 291–330.

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greift viel zu kurz, wenn etwa Stoddart die religiösen Kulturen von Christentum, Hinduismus und Buddhismus als ikonodul, Judentum und Islam aber als anikonisch bezeichnet. 96) Besonders wenn sie mit pauschalen Zuschreibungen verknüpft werden, können die oben genannten Dichotomien sogar Unheil anrichten und klischeehaftes Denken sowie Vorurteile befördern. In der Absicht zu typisieren schießen sie über das Ziel hinaus. In der sehr alten arabischen Kultur gibt es durchaus – nicht nur während ihrer Blütezeit um die erste Jahrtausendwende herum – differenzierte logische Erörterungen – und auch keineswegs nur als Übernahme Aristotelischen Denkens –, man kann diese Kultur keinesfalls als »prälogisch« bezeichnen. Zum Vergleich die später noch ausführlicher zu behandelnde Erkenntnislehre der Advaita-Vedanta im indischen Denken. Hier ist das Bild vom Schleier der Maya zu interpretieren: Er verhindert die rechte Erkenntnis und lässt die Menschen im Stadium der Unwissenheit, wenn sie die Wirklichkeit als dualistisch auffassen. Der Dualismus von Wissendem und Gewussten, von Subjekt und Objekt wird hier als Schein entlarvt. Der Schleier der Maya verschwindet in der aufdämmernden Selbsterkenntnis; und Brahman als »Eines ohne ein Zweites« durchstößt den Schleier der Maya für immer. Dualistisches Denken ist also aus dieser Perspektive keine analytische Leistung, sondern geht am Eigentlichen vorbei. 97 Es gibt in der Tat gerade im Bereich epistemischer Normierungen 98 große kulturelle Unterschiede. So macht etwa Jullien darauf aufmerksam, dass Konfuzius (mit großem Einfluss auf das chinesische Denken!) sich bewusst von allem Exklusiven und Kategorischen freimacht: »wenn man sich von keiner Seite in Beschlag nehmen lässt, beraubt man sich auch keiner der beiden,« wodurch sich »der Gegensatz von ›es ist so‹ und ›es ist nicht so‹ auflöst« 99 und das EntwederOder nicht alternativ, sondern komplementär gedeutet wird. »Sobald man die die identitätsfixierte Perspektive des Subjekts, wie sie sich im Westen entwickelt hat, verlässt, um zur Perspektive eines kontinuierlichen Prozesses überzugehen, wie sie in China vorliegt, wird die Einheit 96 97 98 99

s. Stoddart, Grundzüge des Hinduismus, S. 39 s. etwa Mall, Der Hinduismus. Dieses Thema möchte ich gesondert in einer späteren Monographie behandeln. Jullien, Der Weise hängt an keiner Idee, S. 126 f.

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und Komplementarität der Gegensätze, weit davon entfernt, ein Problem darzustellen, als Prinzip des Laufs der Dinge selbst gedacht. Dass das eine im anderen ist, dass das eine auch das andere ist, eben dies ermöglicht den Prozess.« 100

Und das hat auch politische Folgen: In der griechischen Polis z. B. habe man die frontale und direkte Explikation auf der Basis des Kontradiktionsprinzips systematisiert und »auf der Grundlage einer Entscheidung zwischen zwei Gegensätzen, die einander ausschließen (eine Partei steht gegen die andere, man stimmt in dem einen oder im anderen Sinne)« entfaltet sich die Demokratie, wohingegen andernorts das Harmoniedenken maßgebend ist (»in China wurde niemals abgestimmt«). 101 Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die exemplarisch geschilderten Strukturmerkmale von Kulturen in die richtige Richtung gehen, auch wenn ich ihre Zuschreibungen in einzelnen Punkten kritisiert habe. Als Analysekriterien bei Kulturvergleichen stellen sie ein wichtiges tertium comparationis bei solchen Vergleichen dar; sie schärfen die Aufmerksamkeit für unterschiedliche Lebensformen und liefern Beobachtungskriterien. Obwohl Typisierungen unangemessen vereinfachen können, machen sie uns doch sensibler für Differenzen, die wir als solche wahrnehmen und analysieren können – am besten mit der Bereitschaft zu Perspektivwechseln. So lassen sich Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Kulturen feststellen, die es uns erlauben, Verwandtschaften und »Familienähnlichkeiten« festzustellen. Die Überschneidungen in Gemeinsamkeiten erlauben uns Übergange, sie sind sozusagen die Brücken, auf denen wir uns hinein in einer »fremde« Kultur wagen können, die so nie gänzlich fremd ist. Totale Fremdheit ohne die Möglichkeit solcher Übergange würde interkulturellen Dialog unmöglich machen, totale Vertrautheit unnötig. Dabei werden Kulturen gerade nicht als in sich abgeschlossene Entitäten nach Art von Containern gedeutet – separatistische Kulturmodelle scheinen mir überholt –, sondern sie sind verbunden nicht nur durch einige gemeinsame Lebensformen, sondern auch durch einige gemeinsame Denkformen, die uns dann andere weniger vertraute erschließen helfen können. 100 101

Jullien, a. a. O., S. 91. (Hervorhebung d. d. A.) Jullien, a. a. O., S. 101.

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Kultur und Religion

Das aufgezeigte Spektrum ist sicher nicht vollständig, doch es hilft uns, eigene Selbstverständlichkeiten besser zu relativieren und mit einem genaueren Blick auf das Fremde zu schauen. Und da man mit einem relationistischen Modell wie dem der Familienähnlichkeiten der Gefahr entgeht, einer Kultur ein festes unveränderliches und abgegrenztes Wesen zuzuschreiben, das wir dann bei aller Wahrnehmung des Fremden unbewusst voraussetzen müssen, öffnet dies auch ein Denken, das in Gefahr steht, vorurteilshaft zu erstarren und vorgebliche Eigenschaften von Kulturen zu Eigenschaften aller Angehörigen dieser Kultur zu machen.

1.5 Kultur und Religion Die Zeiten, da sich innerhalb von Kulturen je spezifische religiöse Vorstellungen entwickelten – z. B. unabhängig voneinander und zeitgleich in der mittelamerikanischen Kultur der Maya und der der Neandertaler in Europa – scheinen vorbei. In heutigen pluralen Gesellschaften mit großer internationaler Mobilität sind viele Religionen vertreten: Das Christentum verzeichnet heute seine größten Zuwächse in Südamerika und Afrika, der Buddhismus ist in Amerika und Europa heimisch geworden, der Islam hat sich bis nach Indien und Indonesien verbreitet und ist nicht nur im vorderen Orient, sondern auch in Afrika vertreten. Die Weltreligionen treffen dort auf je andere kulturelle Lebensformen und Sprachen, und auch innerhalb dieser Religionen gibt es noch einmal viele Binnendifferenzierungen, sodass wir z. B. kaum angemessen von dem Islam oder dem Christentum sprechen können. (Sogar innerhalb deutschsprachiger Länder sind regional unterschiedliche Arten von Katholizismus und Protestantismus festzustellen.) Überdies gibt es in heutigen pluralen Gesellschaften im Zuge zunehmender Individualisierung immer auch zeitgleich unterschiedliche Grade von Orthodoxie und Säkularisierung, was es ebenfalls verbietet, Kulturen und Religionen zu identifizieren; und so wird es in heutigen Gesellschaften kaum noch wie früher universal verbindliche und unbezweifelte spirituelle Sinnhorizonte geben. Kann es angesichts der Unterschiede der im vorangegangenen Kapitel nur ansatzweise an einigen Bespielen geschilderten Vielfalt der kulturell je anders geprägten – und auch in religiösen Vorstellungen manifesten – Denk- und Lebensformen eine Betrachtung des Phänomens Religion geben, die diese Vielfalt akzeptiert, ohne sich 57 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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auf eine bestimmte Seite zu schlagen und alles andere aus dieser Perspektive zu deuten oder sogar abzuwerten? Eine Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, wie sie z. B. Kant beschrieben hat, ist »bloß eine Abstraktion. Sie vermittelt lediglich die ideale Form, nur den Schatten dessen, worin echtes, konkretes religiöses Leben besteht.« Religion »verheißt und eröffnet die Aussicht auf eine transzendentale Welt, weit über die Grenzen unserer Erfahrung hinaus – und bleibt gleichwohl menschlich, allzumenschlich.« 102 Einen ganzheitlichen nichtreduktionistischen Ansatz, der sich auf konkrete religiöse Erfahrungen bezieht, finden wir bei William James, der die Vielfalt religiöser Erfahrung als eigene Dimension menschlichen Erlebens und als konkret erfahrbare Realität beschreibt. Damit geht er mit seinem radikalen Empirismus über den naiven Gegenstandsbezug des traditionellen Empirismus hinaus (»der die Konstruktionsleistungen ignoriert und das Konstruierte in ›platte Gegebenheit‹ ummünzt« 103), setzt sich mit seinem lebensweltlich getönten Erfahrungsbegriff aber auch vom mehr wissenschaftlich orientierten Pragmatismus bei Peirce ab. Denn auch Empfindungen, Gefühle, sinnliche Vorstellungen und Vorbegriffliches, sogar mystische Erfahrungen, die James besonders interessieren, gehören zur religiösen Erfahrung. Sein Interesse gehört daher »den Gefühlen, Handlungen und Erfahrungen einzelner Individuen, insofern sie sich in Beziehung sehen zu dem, was immer sie als göttlich betrachten«. 104 Hier findet James – analog zu Cassirers Kulturbegriff mit seinem symbolischen Gestalten -unabhängig von inhaltlichen Unterschieden der Religionen eine Ebene, die sie verbindet, da sich hier viele Ähnlichkeiten feststellen lassen. Er verteidigt so »die rationale Möglichkeit des Glaubens, das Recht zum Glauben, nicht unmittelbar diesen selbst.« 105 Mit der Einbeziehung von Leiblichkeit und Gefühl und seinem pluralistischen Paradigma wird James mit seinem pragmatistischen Ansatz neben Nietzsche und Heidegger zu einer der Quellen postmoderner Rationalismuskritik. 106

102 103 104 105 106

Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 51, S. 117. Margreiter, Erfahrung und Mystik, S. 193. James, Varieties of Religious Experience, S. 31. Jung, Erfahrung und Religion, S. 186. Münnix, Zum Ethos der Pluralität, S. 38 ff.

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Kultur und Religion

James möchte mit seinem Ansatz jeden einseitigen Dogmatismus vermeiden und klammert daher die bewusstseinsunabhängige Wahrheit religiösen Denkens und Fühlens bewusst aus, bzw. reduziert »Wahrheit« pragmatisch auf Bewährung in der Praxis. Auch ein heutiger katholischer Theologe stellt die Frage, ob man nicht angesichts der Vielfalt der religiösen Strömungen die Wahrheitsfrage um des Friedens und der Toleranz willen suspendieren solle: »Wenn fragwürdig geworden ist, ob es religiöse Wahrheit überhaupt im Singular geben kann oder gar muss, und es stattdessen darauf ankommt, den Anderen in ihrer vielfältigen religiösen Andersheit gerecht zu werden, dann wird auch die Rede von dem »einen Gott« dem Gebot der friedlichen Koexistenz kaum förderlich sein. Wäre es in Zeiten religiöser Pluralität nicht angezeigt, ein Urteil über die Wahrheit des jeweils Geglaubten – wie in Lessings Ringparabel – bis ans Ende aller Zeiten aufzuschieben?« 107

Höhn befürchtet aber zu Recht, dass die »Erörterung der sozialverträglichen Folgen des Glaubens den Blick auf Inhalte und Voraussetzungen verstellen könnte«, und in der Tat ist ein tieferes Verstehen des Anderen nur möglich, wenn man sich auch inhaltlich um Kenntnis von Gemeinsamkeiten und Unterschieden bemüht. Doch die Gemeinsamkeiten geraten bei dem Blick auf die Unterschiede oft zu schnell aus dem Blick, und James’ Ansatz der gemeinsamen religiösen Erfahrung ist daher ein versöhnlicher Ansatz, der hilft, auch mit Unterschieden besser umzugehen. James’ Programm des »radikalen Empirismus« – er beansprucht, in einem neuen Paradigma zu denken – »kennt kein ›Anderes‹ der Erfahrung, kennt vor allem keine der Erfahrung angeblich vorgeordnete eigene Welt der Kategorien bzw. keine eigene Welt einer autonomen Rationalität«. Auch Begriffe sind für James Erfahrungsmomente, es gibt kein Apriori, und »der Prozess der Verbegrifflichung ist für ihn eine spezieller Modus des allgemeinen Erfahrungsprozesses. Damit löst sich das Denken nicht in Erfahrung auf, es wird vielmehr aus der Erfahrung – und als Erfahrung – verstanden.« 108 Einen Dualismus, der Bewusstsein und Realität voneinander trennt, gibt es bei James nicht, es gibt auch »keine transzendentalen

107 108

Höhn, Der fremde Gott, S. 78. Margreiter, a. a. O., S. 198.

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Bedingungen der Erfahrung, die ihrem konkreten Verlauf begründend und geltungsverbürgend vorgeordnet wären«. 109 Damit tritt James als Phänomenologe avant la lettre auf und will als Psychologe und als Philosoph seine Beschäftigung mit psychischen und mentalen Zuständen »from within« 110 beginnen, denn die Binnenperspektive der Subjekte ist zunächst entscheidend, und dazu gehört auch die (verallgemeinerbare) Erfahrung, dass Glaube höchst lebensdienlich und -förderlich sein kann. Denn die Hypothese der Existenz Gottes wird höchst wirksam und erzeugt »Sinnhaftigkeit, Rationalität und Wahrheit des Gottesglaubens«. 111 In der ihm eigenen »holistischen Variante von Empirismus und Positivismus« ist dann alles im Bewusstseinsstrom empirisch Beobachtbare gemäß Berkeleys »esse est percipi« »potentiell wahrheitsfähig – ob es sich nun um Sinneseindrücke, religiöse Erfahrungen oder parapsychologische Erlebnisse handelt […], affektive Betroffenheit fungiert als psychologischer Index von Realität.« 112 Für James sind religiöse Erfahrungen so »real wie andere Tatsachen auch, sie liegen distributiv vor« und können beschrieben werden. »Das Universum ist beseelt, hat aber ein beseelendes Zentrum: es ist der Mensch, der Gott – in einem Akt freien Willens – in die Welt bringt«; 113 und da sind Institutionen und Autoritäten nebensächlich. Die Annahme eines transzendenten Grundes von religiösen Überzeugungen wird überflüssig. Jenseits solcher Dualitäten sieht James nämlich das Göttliche als immanent im Menschen am Werk, denn sieht man Gott als »innerste Seele und Grund des Universums, eher als das innewohnende Göttliche als den externen Schöpfer«, so kann das zur Erfahrung einer sehr tiefen Realität führen. 114 Daher kann er das »deskriptiv erfasste Realitätsgefühl als Realitätskriterium« subjektiver Erfahrung deuten und Realität mit subjektiver Bedeutsamkeit gleichsetzen, wobei es hinreicht – hier verwendet Jung ein Argument Nietzsches –, wenn der geglaubte Gehalt als intentionales Objekt vorliegt. 115 Jung, Erfahrung und Religion, S. 152. James, Principles of Psychology, I, S. 219. 111 Jung, a. a. O., S. 216 verweist hier auf James’ Pragmatismusvorlesung, S. 128 und 133. 112 Jung, a. a. O., S. 158 f, S. 164. 113 Diaz-Bone/Schubert, William James, S. 135 f sowie James, The Will to Believe. 114 James, Varieties, S. 433. 115 Jung, a. a. O., S. 164 f und S. 197. (My italics) 109 110

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Religiöse Gefühle können in der Tat sehr real sein und sind, obwohl individuell, auch nicht nur an einigen wenigen Exemplaren der Spezies Mensch zu beobachten. Begriffliche Systeme verfehlen diese Art individueller Realität, was sie »reduktiv und irrelevant« macht. 116 Religionsphilosophie und -psychologie dürfen also keineswegs an dieser Ebene subjektiven Erlebens vorbeigehen oder sie für nebensächlich halten. So sind nicht nur Glaube, sondern auch Vertrauen und Erwartung beobachtbare Tatsachen, paradigmatisch sind für James aber mystische Erfahrungen, die auch in den folgenden Kapiteln über die Weltreligionen interessieren sollen. 117 Jung glaubt, dass James wirklich die unio mystica vorschwebt, denn in ihr fallen Subjekt und Objekt, Wahrnehmung und Sein tatsächlich zusammen. 118 Philosophische und theologische Formeln sind sekundäre Produkte, wie Übersetzungen eines Texts in eine andere Sprache 119, und können niemals jemanden zum Glauben zurückbringen, der diese primäre Verankerung im religiösen Gefühl verloren hat. Denn »der Intellektualismus in der Religion will etwas ganz anderes und davon Verschiedenes«: Eine auf reiner Vernunft aufruhende Theologie möchte Menschen universell überzeugen; doch James möchte, dass wir Diversität in sich selbst achten und schätzen und die Tatsache einer aktualen Gegenwart des Göttlichen respektieren. 120 Nach James muss das sogar der persönlich Nichtglaubende anerkennen, so wie ein Blinder die Gesetze der Optik anerkennen muss. Wir dürfen uns niemals vom konkreten Leben oder Arbeiten entfernen, »in ein begriffliches Vakuum, wo Formeln bloß Annäherungen sind, denen es an Tiefe, Bewegung und Lebenskraft fehlt.« 121 Wo eine vereinheitlichende Vernunft in Systeme zwingen will, die das Eigentliche nicht erfassen, führt die Anerkennung von Gefühl und Erfahrung in den Bereich des Pluralen und lässt es gelten. James führt dies in einer Theorie des Pluralen fort und redet konsequenterweise hinfort nicht mehr von »Universum«, sondern von einem »Multiversum« oder »Pluriversum«. 122 Der philosophi116 117 118 119 120 121 122

Wild, The Radical Empiricism of William James, S. 294. James, Varieties of Religious Experience, S. 344. Jung, a. a. O., S. 248. James, Varieties of Religious Experience, S. 422. James, a. a. O., S. 447 und 454. a. a. O., S. 456. James, Das Pluralistische Universum, S. 11 f.

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sche Pluralismus hat für James das Verdienst, auf diese ursprüngliche Vielheit hinzuweisen: »Indem er das Absolute verbannt, vernichtet er die furchtbare Macht, die das einzige uns zugängliche Leben entwirklicht; er befreit das Wesen der Wirklichkeit von der ihm sonst innewohnenden Fremdartigkeit.« 123 Damit kritisiert James u. a. den Hegel’schen Idealismus, der als Monismus die Auffassung vertritt, dass die Dinge in ihrem unmittelbaren Sein keine Wahrheit haben. 124 Denn »das Wahre ist das Ganze« so Hegel im Eingang zu seiner »Phänomenologie des Geistes«. Aber Philosophie darf für James nicht an der Totalität festhalten, diese ist ein Konstrukt, das »AllEine« ist Fiktion. Der Idealismus ist also als Monismus zu widerlegen, nicht überirdisches ewiges Sein ist von Interesse (Rechtshegelianer hatten ja den absoluten Geist als Geist Gottes interpretiert, angesichts dessen das einzelne Individuum gar nicht von Belang ist), sondern das plurale vielgestaltige Werden und Geschehen in der Lebenswelt. 125Denn wenn man sich vorstelle, das Universum existiere »nur in der Form individueller Existenzen«, so wird man »von ihm im Ganzen eine zutreffendere und befriedigendere Vorstellung haben«, als wenn man an der Fiktion des All-Einen festhält. 126 Die Welt stellt aber keinen einheitlichen Sinnzusammenhang dar, auch Rationalität existiert für James nicht im Singular. »Sie hat mindestens vier Dimensionen: eine intellektuelle, ästhetische, moralische und praktische« 127, und wie wir heute wissen, gibt es auch kulturspezifische Rationalitätsformen. In seinen Pragmatismusvorlesungen macht James klar, dass er keinen prinzipiellen Pluralismus (im »Multiversum«) favorisiert, sondern dass Vielheit und Einheit gleichzeitig und nebeneinander bestehen können: Vielheit ist zwar beständige Tatsache, doch durch Vernetzung können auch Einheiten entstehen. Denn es handelt sich »bei der Welt um ein raumzeitliches Kontinuum, das unverbundene Dinge einbettet und in dem es möglich ist, unverbundene Teile miteinander in Verbindung zu bringen und zu vernetzen. Dort aber, wo keine Verbindungen stattfinden, bleibt die Welt als Vielheit bestehen.« 128 Denn da James das Prinzipiendenken überhaupt ablehnt, können 123 124 125 126 127 128

a. a. O., S. 26 ff. ebd. a. a. O., S. 19. a. a. O., S. 23. Diaz-Bone / Schubert, a. a. O., S. 138. a. a. O., S. 130.

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weder absoluter Monismus noch absoluter Pluralismus die Lösung sein. 129 So hält James die Entwicklung auch für die Zukunft offen, denn wie genau das jeweilige Verhältnis von Einheit und Vielheit auf der Basis fundamentaler Vielgestaltigkeit sein wird, wird sich erst in ihr zeigen. Daher scheint mir James’ pluralistische Religionsphilosophie ein gangbarer Weg, gerade in heutiger Zeit jenseits von Universalisierungsansprüchen und Dogmatisierungen den Phänomenen des Religiösen besser gerecht zu werden. Damit sind wir schließlich bei einer notwendigen Ergänzung, die mit der Kritik einsetzt, der Begriff der reinen (religiösen) Erfahrung bei James sei wegen seiner Vorliebe für die Binnenperspektive der Subjekte zu phänomenalistisch subjektiv und zu privatistisch, 130 er bleibe daher an einem verkürzten Begriff von Realität orientiert. 131 Sicher hat James als Protestant andere Prägungen erfahren, als wenn er in einer anderen Konfession groß geworden wäre. Doch unabhängig davon muss man sehen, dass eine Ebene der versprachlichenden Vergegenwärtigung bereits auf das Intersubjektive zielt: Innere Empfindungen wie z. B. Schmerzen 132 kann man besser in ihrer Spezifität wahrnehmen, wenn man sie von anderen Empfindungen unterscheiden kann, und dazu müssen begriffliche Unterscheidungen und Prägungen bereits vorliegen. Und erst recht, wenn man sich mystische Erfahrungen vergegenwärtigen will, die jenseits der Sprache stattfinden sollen, ist eine Art retrospektive Bewusstheit nötig, die sich auf die gehabte Erfahrung erinnernd bezieht und sie sprachlich oder durch Beschreibung von Bildern zu fassen versucht, wenngleich man dort an Grenzen stößt. »Schon deshalb ist die Beschreibung des Erlebnisgehalts immer durchdrungen von den spezifischen Vorstellungen der jeweiligen religiösen Herkunftstradition.« 133 Und das macht synkretistische Auffassungen, wie z. B. »Meister Eckhart, der MahayanaBuddhismus und die Upanishaden […] hätten im Grunde die gleiche Erfahrung gemacht« 134 oder man könne das Tao-te-King mit der

James, Pragmatismus, 4. Vorl. Jung, Erfahrung und Religion, S. 156. 131 a. a. O., S. 165. 132 vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 288 sowie 580: »Ein ›innerer Vorgang‹ bedarf äußerer Kriterien.« 133 Jung, a. a. O., S. 253. 134 Jung, a. a. O., S. 239 f. 129 130

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Dreifaltigkeit identifizieren, 135 trotz mancher Ähnlichkeiten problematisch. Zwar ist die Perspektive der ersten Person Singular unhintergehbar; darauf hatte schon Wittgenstein hingewiesen und in der analytischen Philosophie eine Diskussion über »privileged access« ausgelöst, was Peter Bieri veranlasst hatte, von einem »neuen Existentialismus« zu sprechen. 136 Nur auf dieser subjektiven Ebene hat das Ich privilegierten Zugang zu den eigenen Gefühlen, die nur im Modus der Jemeinigkeit zu haben sind und von außen eher schlecht beschreibbar sind, was auch in der analytischen Philosophie »den theoretischen Anspruch des strengen Objektivismus endgültig obsolet« machte. 137 Besonders bekannt aber wurde das Thema durch Thomas Nagel: Dieser hatte in einem epochemachenden Aufsatz darauf hingewiesen, dass jede Betrachtungsweise von außen am Kern der Empfindungen »from within« vorbeigehen muss, denn wir können z. B. nicht wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Auch wenn wir alle Gehirnvorgänge der entsprechenden anderen Wahrnehmungswelt wissenschaftlich exakt beschreiben könnten, hätten wir noch keinen Zugang zum inneren Erleben. 138 Aber Fledermäuse wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, und daher steht der Aspekt geteilter oder vernetzter Erfahrung bei James sicherlich zu wenig im Fokus. Gerade für das religiöse Erleben ist auch – neben singulären eremitenhaften Existenzen – der Aspekt der Religionsgemeinschaft wichtig, weshalb Jung zu Recht mit seiner Theorie der Artikulation eine Ausweitung auf die 1. Person im Plural, auf das »Wir«, vornimmt und damit in den Bereich des Intersubjektiven vorstößt, in »eine Welt geteilter Sinnperspektiven« 139, wo der »Aspekt individuellen Erlebens mit der Verwendung intersubjektiver Symbole über die Kategorie der Ausdrucksgestalt vermittelt« 140 wird und so einer größeren Objektivität, zumindest aber Intersubjektivität, zugeführt wird. 141 so der Bamberger Philosoph Heinrich Beck in einem Gespräch mit der Autorin. Jung, a. a. O., S. 268. 137 a. a. O., S. 275 f (vgl. auch die Ausführung des Privatsprachenarguments in Münnix, Wittgenstein, Whorf and Linguistic Relativity, Is There A Way Out? a. a. O., S. 159 ff. 138 Nagel, What is it like to be a bat? Phil. Review 83/4, S. 435–450. 139 Jung, Erfahrung und Religion., S. 274. 140 a. a. O., S. 11. 141 Gerade Nagel war selbst trotz seiner Betonung der unhintergehbaren Perspektive 135 136

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Interkulturalität

Nur durch symbolische Artikulation nämlich werden innere Erfahrungen und Meinungen nicht nur für das jeweilige Subjekt, sondern auch von außen für andere zugänglich, können sie von anderen vielleicht – annäherungsweise – verstanden werden und zu Vorstellungen von Gemeinschaft führen. Und um diese Annäherungen im Verstehen soll es auch in den folgenden religionsphilosophischen Kapiteln des 2. Teils gehen.

1.6 Interkulturalität Zuletzt möchte ich meinen Begriff von »Interkulturalität« erläutern und von anderen gängigen Begriffen abgrenzen. Mit »Multikulturalismus« – kurz auch »Multikulti« – bezeichnet man in der Regel ein beziehungsloses Zusammenleben vieler Kulturen auf einem Raum, in dem jeder das Recht auf seine eigenen Kultur- und Lebensformen leben können soll und die Gefahr von Parallelgesellschaften entsteht, die wenig voneinander wissen und nicht daran interessiert sein müssen, miteinander in Kontakt zu treten. Das Fremde wird dann zur Sicherung eigener Identitätsbedürfnisse entweder nicht wahrgenommen oder abgewertet (»die Achse des Bösen«, »fremde Teufel«), um der Gefahr des Identitätsverlustes vorzubeugen. Im Gegensatz dazu wird das Konzept der Transkulturalität entweder als eine Position verstanden, die annimmt, dass wir in einer globalisierten Gesellschaft längst über (separatistische, und daher regressive) Kulturbegriffe und Kulturformen hinaus sind und zukünftig in einer pluralistischen Weltgesellschaft leben werden. 142 Oder aber man glaubt, um der Gefahr des Relativismus zu entgehen, dass der 1. Person bemüht um höhere Grade von Objektivität, ja sogar um »Ultraobjektivität« zumindest als Zielvorstellung (Der Blick von Nirgendwo, S. 17 f: »Zu einem objektiveren Standpunkt kommt es jeweils, wenn man eine subjektivere, individuellere oder bloß menschliche Perspektive hinter sich lässt. Es gibt jedoch Aspekte der Welt, des konkreten Lebens und unserer selbst, die von einem weitestgehend objektiven Standpunkt gerade nicht angemessen verstanden werden können. […] und das Unternehmen einer vollständigen Erklärung der Welt in einer bloß objektiven Begrifflichkeit […] würde unweigerlich zu verfehlten Reduktionen oder zu der ausgesprochenen Leugnung führen, dass es gewisse offenkundig reale Phänomene überhaupt gibt.«) 142 Welsch, Transkulturalität – Lebensformen nach dem Ende der Kulturen, S. 8 ff hat allerdings seine Konzeption überarbeitet: unter dem Titel »Transkulturalität«, in: Kirloskar-Steinbach et al. (Hg.) Die Interkulturalitätsdebatte, S. 146–156.

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man einige über alle Kulturen hinaus gültige, und damit universale Strukturen behaupten kann, wie dies z. B. für die klassische zweiwertige Logik denkbar wäre, 143 was als unzulässige Ausweitung des Eigenen aus Herrschaftsbedürfnissen heraus missverstanden werden kann. Man kann nämlich das Bedürfnis unterstellen, man suche nur nach Bestätigung des Eigenen, wolle das Fremde nach dem Eigenen formen oder es nur selektiv wahrnehmen. »Trans« wird hier in einem die kulturspezifischen Idiosynkrasien übersteigenden Sinn gebraucht, so wie Habermas von der »Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen« redet. Doch darf man solche Einheit nicht voraussetzen, sie kann sich allenfalls entwickeln. Mir geht es hier um Interkulturalität. Aufwachsen zwischen den Kulturen (und Subkulturen) ist heutzutage vielfach Normalität, und Persongenese geschieht heute oft in einem Spannungsfeld verschiedener kultureller Einflüsse. Das gilt sogar schon intrakulturell. Eine Philosophie der Interkulturalität muss sich daher u. a. mit den Phänomenen der Andersheit und Fremdheit befassen und dieses andere Fremde im Kontrast zum Eigenen zu verstehen suchen, 144 ohne es für sich vereinnahmen zu wollen. Die entscheidende Wende zur der hier erforderlichen Phänomenologie – weg von einer dominanten Geistphilosophie – geschah durch den amerikanischen Pragmatismus und etwa zeitgleich durch Nietzsches und später Husserls Wendung zur »Lebenswelt«. Die konkreten Phänomene führten, so Stenger, ein »Opferdasein der Vernunft«, 145 sie wurden dem Wunsch nach Systematisierung geopfert bzw. bleiben auf der Strecke. Beim Pragmatismus mit seiner neuen Wertschätzung der Empirie, aber auch bei Nietzsche tritt der Gedanke der Pluralität in den Blick, und auch Husserl, obwohl noch stark Bewusstseinsphilosoph, wendet sich der phänomenalen Vielfalt von Denkmodellen zu. Doch wie geschieht Fremderfahrung? Eine möglichst unvoreingenommene phänomenalen Betrachtung des anderen, fremden Einzelnen oder auch seiner Kultur (auch mit versuchter Einfühlung) stößt oft auf Schwierigkeiten: Die von uns unbewusst im Hintergrund unseres Bewusstseins befindlichen Deutungskategorien und 143 144 145

wie es z. B. Lenk/Paul in ihrem Buch »Transkulturelle Logik« dies tun. vgl. ausführlicher Stenger, Philosophie der Interkulturalität, S. 303 ff und 345 ff. Stenger, a. a. O., S. 43.

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Interkulturalität

Interpretationsmodelle, bis hin zu allgemeinen Bewertungen, sind nämlich oft kulturell entstanden und uns als solche nicht bewusst. Mangels anderer Erfahrungen neigen wir dazu, sie für universal zu halten. Sie werden nicht selten ins Fremde projiziert, das dadurch gerade seiner spezifischen Andersheit beraubt und verwandelt ins Eigene überführt wird. Man wird also immer wieder auf die Kategorie des Selben, des Eigenen, zurückgeworfen. (Im Hintergrund lauert der hermeneutische Zirkel!) Daher ist auch jede Komparatistik von Kulturen ohne eine neutrale Perspektive problematisch; man neigt dazu, eigene Kriterien zu projizieren. Richard Rortys vermeintlich liberale Forderung nach einer »Kultur ohne Zentrum« – die Zentren der Kultur mögen jedes Mal wechseln, je nachdem welche Kultur gerade etwas Nützliches beizusteuern hat – bleibt daher ethnozentristisch. 146 Denn in der Regel nehmen wir die Maßstäbe der Bewertung von Nützlichem doch aus der eigenen Kultur. Man muss hier an Edward Saids Kritik eines westlich gefärbten – romantisierenden – Bildes vom Orient denken, mit der er die Postkolonialismusdebatte angestoßen hat. Denn dieses Bild war »den Orientalen« fremd – sie fanden sich darin nicht wieder –, und es konnte als abendländischer Bemächtigungsversuch gedeutet werden. Mentale Kolonialherren oder auch Kulturimperialisten, 147 die die eigene aus der Binnenperspektive erlebte Kultur für differenzierter und daher überlegener halten und daraus Deutungshoheit ableiten, sind sich dessen aber oft – in aller Naivität, in Unkenntnis anderer kultureller Kontexte – nicht bewusst, was sie gefährlich macht und unnötig Gewaltpotentiale erzeugt. So z. B. weist Stenger darauf hin, dass Lächeln im europäischen Kontext etwas ganz anderes bedeutet als vor japanischem Hintergrund, 148 und Merleau-Ponty hat selbiges auch für die Gestik ganz allgemein ausgeführt. 149 Missverständnisse und Missdeutungen sind so ohne Kontextwissen vorprogrammiert. Es sind also vielfach mentale Prozesse von Rekontextualisierung und Dekolonialisierung nötig: Andere Lebensweltkontexte sind erst einmal in ihrer Eigenart wahrzunehmen und zu verstehen, bevor

Rorty, Kultur ohne Zentrum, S. 5. Said hat diesen Ansatz seines frühen Orientalismus-Buches in »Kultur und Imperialismus« verallgemeinert. 148 Stenger, a. a. O., S. 191. 149 Merleau-Ponty, Die Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 218 ff. 146 147

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man interkulturell problemorientierte Dialoge führen kann. (Das Anliegen von Derridas Dekonstruktion und der Husserl’schen Urteilsenthaltung sind also verschwistert und sollen verbesserte Phänomenwahrnehmung zeitigen.) Nach dem »pragmatic turn« 150 musste daher eine hermeneutische Wende folgen (man denke an Gadamers Konzept der Horizontverschmelzung), und dieser – in Zeiten der Globalisierung – ein »intercultural turn«. 151 Denn die gelegentlich immer noch anzutreffende kulturelle Arroganz, Philosophie sei etwas spezifisch Westliches, weicht doch allmählich dem Wissen von philosophischen Traditionen in anderen Kulturen, zu denen man sich – inter cultures – in Beziehung zu bringen versucht. Doch wie füllt man nun dieses »Dazwischen« sinnvoll? Ganz sicher sind iterative Verstehensprozesse nötig, die zu Annäherungen führen können. Über dieses »Zwischen Uns« hat sich Lévinas Gedanken gemacht und festgestellt, dass sogar jedes Urteil über den fremden Anderen ein Akt der Gewalt sein kann, insofern nämlich, als es beansprucht, den Anderen in seiner Totalität erfasst zu haben. Doch der oder das Andere entzieht sich in seiner Unendlichkeit, und ein Rest von Fremdheit muss ihm auch nach iterativen Verstehensversuchen aus Achtung vor seinem Recht auf Andersheit und Selbstdeutung immer belassen werden. 152 Es geht also um das Wahrnehmen von Differenzen und um Differenzkompetenz. Versteht man diese Differenzen substanziell, also etwa im Sinne der nicht erst bei Wittgenstein kritisierten Substanzontologie, so sind sie Entitäten, die Substanzcharakter mit einer bestimmten Essenz aufweisen. Versteht man sie aber relational, so liegt die Relation als Ganzes noch vor den aus ihr entstehenden Relata: »Substanzial gedacht hat jedes Seiende sein Sein ›in sich‹, relational dagegen hat jedes sein Sein ›im anderen‹. Doch auch dies ist »schon nicht mehr richtig gesprochen, da relational jegliches Seiende aufgehoben ist.« 153

150 Dieser erfolgte in der sprachanalytischen Philosophie aus anderer Richtung nach dem linguistic turn, wäre m. E. aber ohne die neue Strömung des Pragmatismus nicht zustande gekommen. 151 Stenger, a. a. O., S. 45. 152 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 320 f und Lévinas, Die Spur des Anderen, S. 215. 153 Stenger, a. a. O., S. 329.

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Daher steht für Stenger Differenz »gar nicht gegen Einheit, Besonderheit und Einzelheit gar nicht gegen Ganzheit«. 154 Differenzen gehören zur Ganzheit dazu und bedrohen sie nicht, wir müssen sie nicht als Gefährdung einer vermeintlichen Einheit sehen. Waldenfels hat darauf hingewiesen, dass solche Verstehensversuche von Differenzen zum Scheitern verurteilt wären, wenn die Kategorien des Eigenen und des Fremden im obigen Sinne einander radikal fremd wären. Ich und Anderes sind ja ohne einander gar nicht möglich, und es gibt neben der engen (begrifflichen) Verwobenheit auch immer Eigenes im Fremden und Fremdes im Eigenen, 155 weswegen wir über diese Gemeinsamkeiten Brücken zueinander finden können. Sonst wäre auch jeder interkulturelle Dialog oder Polylog – eines der wichtigsten Instrumente für Verstehensbemühungen – unsinnig. (Wobei auch Texte natürlich Dialogpartner sein können, auch sie kann man »befragen«; und sie können uns besseres Verstehen ermöglichen.) Ein »Dazwischen«, zwischen den mentalen und ebenso auch wirklichen Orten verschiedener Kulturen, ist also derjenige Ort, an dem sich Verständnisbemühungen abspielen müssen, und solche interkulturellen Dialoge oder auch Polyloge können auf der Basis von verschiedenen Grundhaltungen erfolgen, wie sie Wimmer vorstellt: Er klassifiziert nämlich verschiedene Beziehungen zwischen Kulturen und unterscheidet drei verschiedene Kategorien, die behauptete Allgemeingütigkeit von Denkweisen und Wertungen betreffend: Erstens kann die exklusive Gültigkeit und Wertigkeit des Eigenen bzw. der eigenen Kultur behauptet werden. Die Überlegenheit des Eigenen, aus der Binnenperspektive Bekannten, wird oft mangels Kenntnis anderer Lebensformen und Denkweisen gegenüber dem Fremden für absolut überlegen und kultiviert gehalten, währen das Fremde als unkultiviert und unzivilisiert abgetan wird. Die eigene Kultur wird so zum Maßstab von Kultur überhaupt, an dem alles andere zu messen ist. Oft ist man dann auch noch von einem Sendungsbewusstsein durchdrungen, mit der eigenen Kultur missionieren zu können und das auf niedrigerer Stufe der Kultur stehende Fremde mit der eigenen Kultiviertheit zu beglücken. Die Abwertung des Anderen wird aber auch in der oben kritisierten Gegenüberstela. a. O., S. 336. Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 57–71 spricht von »Selbsterfahrung zwischen Aneignung und Enteignung«. 154 155

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Einige Grundpositionen zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität

lung von angeblich »westlichen« und nichtwestlichen Kulturmerkmalen deutlich und ist auch heute noch gar nicht selten. Die zweite Beziehung zwischen Kulturen behauptet – realistischer – eine Egalität zwischen zwei differenten Kulturen, zumindest zwischen einigen Kulturen und in einigen Bereichen. Werden Kulturen jedoch als egalitär nebeneinander gesehen, besteht weniger Interesse für das Andere; und »so sind theoretisch zwischen den jeweiligen VertreterInnen keine Argumentationen, sondern nur Manipulation, Drohung und Verlockung anzunehmen, soweit Einfluss überhaupt stattfindet«. 156 Es bestünde, so Wimmer, die Gefahr eines globalen Kultur-Apartheits-Systems, in dem den einzelnen Kulturen ihre spezifischen Eigenheiten zugestanden werden, aber echter Dialog über Kulturgrenzen hinweg nicht möglich und auch nicht nötig ist. Die Kulturen bleiben ethnozentristisch, was für Charles Taylor, der philosophisch vom Standpunkt der verstehenden Sozialwissenschaften argumentiert, zu kritisieren ist. Denn dieser Ethnozentrismus billigt den Individuen einer fremden Kultur nicht das Recht auf Selbstbeschreibung der eigenen Identität zu, was »albern« und wenig hilfreich ist: »Wir sind immer in Gefahr, unsere Art zu handeln und zu denken als die einzig vorstellbare zu sehen. Darin genau besteht Ethnozentrismus. Andere Gesellschaften zu verstehen sollte uns davon entbinden; es sollte unser Selbstverständnis ändern […].« 157 Doch die dafür nötigen echten Dialoge geschehen leider noch viel zu selten. Galtung stellt fest: »Die ganze Welt ist das Opfer des fehlenden Dialogs.« 158 Drittens kann das Verhältnis zwischen Kulturen als komplementär gesehen werden, wobei an wechselseitige Bereicherung und sogar Ergänzung gedacht ist. So hebt Hans Küng in seinem Buch »Projekt Weltethos« auf der Suche nach allgemein akzeptablen Wertbindungen die Tradition der Gewaltlosigkeit im Hinduismus, die islamische Verpflichtung zum Almosengebern (»Zakāt«, sogar eine der fünf »Säulen des Islam«), aber auch Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor allem Leben als fähig zur globalen ethische Orientierung heraus. 159 Galtung schlägt als weiteren Kandidaten für solche SammWimmer, Exklusiv, egalitär, komplementär, a. a. O., S. 107 f. Taylor, Hermeneutik und Ethnozentrismus, in: Münnix (Hg.), Wertetraditionen und Wertekonflikte. Ethik im Zeiten der Globalisierung, S. 308 und 315. 158 Galtung, a. a. O., S. 10. 159 Dass die in vielen Kulturen bekannte sog. »goldene Regel« in diesem Zusammenhang problematisch sein kann, habe ich an anderer Stelle gezeigt: s. Münnix, Perspek156 157

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Interkulturalität

lungen von Merkmalen zukünftiger Weltkultur – die natürlich auch interessengeleitet sind – den berühmten »Artikel 9 der japanischen Verfassung« vor (»wonach das japanische Volk für immer auf Krieg als ein souveränes nationales Recht wie auch auf die Drohung und den Einsatz von Gewalt als ein Mittel zur Regelung internationaler Konflikte verzichtet«). 160 »Was die einen entwickelt haben, fehlt den anderen, und diese sind imstande, dessen Wert zu schätzen. Das Verhältnis ist gegenseitig oder sogar allseitig, und eine Entwicklung der einen Seite führt zum möglichen Austausch mit der anderen.« 161

Wimmer findet Komplementaritätsvorstellungen sogar in religionstheoretischen Zusammenhängen: »Alle Menschen sind […] ebenso auf die religiösen Überlieferungen ihres Volkes oder Kulturkreises wie auf einen universalen interreligiösen Dialog angewiesen, weil ihnen sonst wegen der historischen Zufälligkeit, Beschränktheit und Kürze ihrer Existenz wesentliche Offenbarungen der Menschheit zum Schaden ihrer eigenen sittlichen Entwicklung entgingen […].« 162

Im Idealfall sollten interkulturelle und interreligiöse Dialoge – nach Wimmer auch »Polyloge« – natürlich offen, mit Achtung und mit der Bereitschaft geführt werden, über Differenzen hinweg auch Komplementäres zur eigenen Kultur zu entdecken. 163 Doch oft fehlt uns sogar grundlegendes Wissen über andersartige Kulturen, die man am Maßstab der eigenen misst, und das kann fatal werden: »Solange wir unsere potentiellen Gesprächspartner mit ihren spezifischen Sichtweisen, ihren eigenen Kontexten und Motivationen nicht wahrnehmen, kann auch kein Dialog zustande kommen.« 164 tivismus, postmoderne Ethik und »sensus communis«, in: Münnix, Wertetraditionen und Wertekonflikte, S. 351–383. 160 Galtung, a. a. O., S. 41. 161 Wimmer, a. a. O., S. 109. 162 Wimmer, a. a. O., S. 110 zitiert das Nachwort von Krautz in P. Abaelard: Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen, S. 328. 163 Hier soll erwähnt werden, dass Leibniz, der den Begriff der Perspektive in die Philosophie einführte, immer bemüht war, andere Perspektiven zur Ergänzung des eigenen Denkens genauer kennen zu lernen. S. Leibniz, Monadologie § 40: »Chaque âme se représente l’univers selon son point de vue«. Leibniz ging allerdings noch von einer prästabilierten Harmonie der monadologischen Perspektiven aus, eine metaphysische Prämisse, die wir heute eher selten teilen. 164 Hendrich, Islam und Aufklärung, S. 7.

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Einige Grundpositionen zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität

Die Erfahrung der Andersheit des Anderen öffnet das Ich über sich selbst hinaus. Lévinas fordert also »eine Bewegung des Selben zum Anderen, die niemals zum Selben zurückkehrt«. 165 In Abänderung des Dilthey’schen Denkmodells vom hermeneutischen Zirkel halte ich also eine Höherentwicklung im Verstehen für möglich und rede lieber von einer »hermeneutischen Spirale«, 166 die das Verstehen als iterativen dialektischen Prozess von einfühlenden Perspektivwechseln zwischen Eigenem und Fremden auf höhere Ebenen transportieren kann. Auch über verschiedene Bildauffassungen, die in verschiedenen religiösen Kulturen verwurzelt sind – was aber in säkularen Zusammenhängen auch kulturintern oft gar nicht mehr bewusst ist –, müssen wir – inter cultures und auch intra cultures – reden, um uns auf der Grundlage von mehr Wissen besser verstehen zu können. Und wir werden Gemeinsamkeiten, aber auch erhellende Differenzen erkennen. Interreligiöse Dialoge, und umfassender, interkulturelle Dialoge, müssen auf Augenhöhe und im echten Bemühen um Verständnis geführt werden, wenn sie nicht bestehende Fronten weiter verhärten sollen. Solche Kommunikation muss für Ricoeur eine besondere Relation des Perspektivwechsels zwischen Selbstvergewisserung und Fremdverstehen beinhalten, »in der ich mich abwechselnd in meinem Ursprung bestätige und mich der Imagination des anderen in seiner anderen Zivilisation ausliefere. Die menschliche Wahrheit besteht einzig in diesem Prozess, in dem die Zivilisationen mit ihrem Lebendigsten und Schöpferischsten in eine ständig heftiger werdende Auseinandersetzung untereinander treten. Die Geschichte der Menschen wird immer mehr zu einer umfassenden Erklärung werden, in der jede Zivilisation ihre Wahrnehmung der Welt in der Auseinandersetzung mit allen anderen entwickelt. Freilich hat dieser Prozess noch kaum begonnen. Vermutlich wird er die Aufgabe der kommenden Generation sein.« 167

Lévinas, Die Spur des Anderen, S. 215. Münnix, Zum Ethos der Pluralität. Postmoderne und Multiperspektivität als Programm, S. 167. 167 Ricoeur, Weltzivilisation und nationale Kulturen, in: Ricoeur, Wahrheit und Geschichte, S. 293. 165 166

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Interkulturalität

Im Folgenden soll also der Versuch unternommen werden, eine solche echte Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven durch Bereitstellung von mehr Wissen zu ermöglichen.

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2. Kein Bildnis machen? Bildauffassungen in religiösen Kulturen

2.1. Symbolik in jüdischen Kulturen 2.1.1 Das biblische Bilderverbot Bis heute gibt es in Synagogen keinerlei bildhafte Darstellungen. Das Judentum hat sich als erste der großen monotheistischen Weltreligionen vor einem anderen Hintergrund entwickelt und musste sich gegen eine heidnische Umwelt abgrenzen. Götterwelt, Herrschaftsstruktur und Bildwirklichkeit, so berichtet Lippold, waren damals in den frühen Hochkulturen des Mittelmeerraumes untrennbar aufeinander bezogen: »Als Garanten der Dauer, als Repräsentanten göttlicher und menschlicher Macht, als Wohnung der Gottheit, aber auch als ihr irdischer Stellvertreter fungierten die Bilder als reale Instrumente des Lebensvollzuges. Dies war nur möglich durch die generelle Zusammenschau des Bildes mit dem Abgebildeten, der in seiner materiellen Darstellung wesenhaft gegenwärtig war.« 1

Die suggestive Realpräsenz des Abgebildeten im Bildnis, besonders in der dreidimensionalen Skulptur, wie man glaubte, sorgte für eine Zentrierung der jeweiligen Gesellschaften um die jeweiligen Gottheiten herum und für die Privilegierung einer Priesterkaste, die als Vermittler zwischen Göttern und Menschen hohen Rang besaß. Nur in Ägypten hatte es kurzfristig Monotheismus gegeben, als Amenophis IV den Reichsgott Amun durch den bildlos, nämlich als Sonnenscheibe dargestellten Aton ersetzte, sich hinfort Echnaton (»der dem Aton nützlich ist«) nannte und alle anderen Götterbildnisse radikal vernichten ließ. 2

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Lippold, Macht des Bildes – Bild der Macht, S. 43. a. a. O., S. 38.

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Symbolik in jüdischen Kulturen

Doch im alten Israel, wahrscheinlich schon zur mosaischen Zeit (1250–1230 v. Chr.), entstand auf dem Boden Palästinas »inmitten einer Umwelt, die erfüllt ist von mannigfaltigen Gottheiten und Kulten, mit ihren Tempeln und wirkkräftigen Standbildern«, 3 eine andere religiöse Kultur. Mehrere Gruppen halbnomadischer Hirten hebräischer Abstammung hatten sich unter der Führung des vom ägyptischen Pharao hochgeschätzten Moses (da sie dort zu Frondiensten gezwungen worden waren) in das Land ihrer Väter, 4 nach Kanaan, aufgemacht und erhielten im Verlauf ihrer 40-jährigen Wanderung durch die Wüste (im 12.–11. Jh. v. Chr.) unterwegs am Sinai, wie die Bibel berichtet, von Gott die Zehn Gebote als Gesetze für diese Gemeinschaft. Gott hatte sich nach der Überlieferung Moses geoffenbart, aber nicht als Person, sondern im Zeichen eines brennenden Dornbuschs mit einer für Moses hörbaren Stimme, und sich auf Nachfrage als »JHWH« zu erkennen gegeben (übersetzt als »Ich bin, der ich bin«, oder »Ich bin, der ich sein werde«, oder »Ich bin, der ich bin da«). Die von Chagall dargestellte Offenbarungsszene (siehe Bild 1) wahrt das Bilderverbot, denn auf die Anwesenheit Gottes ist mit den Zeichen des brennenden Dornbuschs und den Buchstaben des geoffenbarten Namens JHWH (von rechts nach links gelesen) hingewiesen, und auch Moses ist zeichenhaft dargestellt: als die Offenbarung Hörender. Die klassische Formulierung des Bilderverbots findet sich gleich zu Beginn der Zehn Gebote: »Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst Dir kein Gottesbild machen, und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst Dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen« (Ex 20,2–5).

Eine weitere Formulierung mit präziseren Details findet sich im Deuteronomium, wo es heißt: a. a. O., S. 43. Die Patriarchen Abraham, Isaak und Jacob sowie die Erzmütter Sara, Rebecca, Rachel und Lea stammten ursprünglich aus Mesopotamien und wanderten nach Kanaan aus, bevor sie sich in Ägypten niederließen. Vgl. van Voolen, Jüdische Kunst und Kultur, S. 26.

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»Lauft nicht in Euer Verderben, und macht Euch kein Gottesbildnis, das irgendetwas darstellt, keine Statue, kein Abbild eines männlichen oder weiblichen Wesens, kein Abbild irgendeines Tieres, das auf der Erde lebt … […] Wenn Du die Augen zum Himmel erhebst und das ganze Himmelsheer siehst, die Sonne, den Mond und die Sterne, dann lass Dich nicht verführen! Du sollst Dich nicht vor ihnen niederwerfen und ihnen dienen.« (Dtn 4, 16–19) 5

Faur unterscheidet zwischen Idolatrie, der Verehrung fremder Götter, und Ikonolatrie (»avodah zarah«, von Sommer mit »strange or inappropriate worship« übersetzt), der Verehrung von Bildern. Anders als Faur macht Sommer die genannte Unterscheidung nicht, argumentiert aber in der Sache ähnlich: es handele sich um »two phenomena that are conceptually quite distinct but that Jewish tradition insists on viewing as identical: idolatry proper and polytheism. Theoretically one could be a polytheist while rejecting idolatry (in this case, one would worship many gods while regarding physical representations of them as inappropriate). Similarly, one could be a monotheist but also an idolater (in which case one would view it as appropriate to bow down to a physical token or manifestation of the one God).« 6

Doch es sei typisch für das Judentum und auch wegweisend für spätere monotheistische Religionen, so Faur ebendort, dass das Verbot von Ikonolatrie und Idolatrie miteinander verschmelzen: »From this perspective, there is no difference between illegitimate iconolatry, idolatry or the worship of ›wood and stone‹.« Götzendienst und Bilderverehrung fließen zusammen und werden als eine der drei Todsünden gebrandmarkt. 7 »Die orientalisch reiche Phantasie« des jüdischen Volkes wurde, so Cohn-Wiener, »vom Bild ins Wort abgedrängt. […] Wir haben die Kraft gehabt, eine Askese der Phantasie herbeizuführen, und alles, was in Israel große Kunst hätte werden können, zur Bildlosigkeit zu zwingen.« 8

Brumlik, Bilderverbot, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur I, S. 339. (Die zitierten Textstellen finden sich im Alten Testament (AT), im Buch Exodus und Deuteronomium.) 6 Faur, The Biblical Idea of Idolatry, in: Jewish Quarterly Review 69/1 (1978), S. 13 f und Sommer, Idolatry, in: The Oxford Dictionary of The Jewish Religion, S. 373 f. 7 Die anderen beiden sind Mord und sexuelle Untaten wie Inzest. Nach Sommer, Idolatry, a. a. O., S. 373. 8 Cohn-Wiener, Jüdische Kunst, S. 4. 5

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Symbolik in jüdischen Kulturen

Bild 1: Marc Chagall, Mose vor dem brennenden Dornbusch (1965)

Das Bilderverbot wurde jedoch nicht immer befolgt: Schon als Moses mit den Gesetzestafeln vom Berg Sinai herabkam, soll sein Bruder Aaron, so der Bericht im Buch Exodus, mit den wartenden Israeliten ein goldenes Kalb gefertigt haben. Zwar kannte man wohl im Orient Stierdarstellungen als Throne für unsichtbare Götter (»in Egypt, Babylonia and Aram the bull was the seat of various gods« 9), die Schrift aber berichtet, dass die Israeliten dieses goldene Kalb anbeteten und um es herum tanzten – wie z. B. von Raffael dargestellt –, weswegen Moses wütend die Gesetzestafeln zerstört haben soll. 10 Faur, a. a. O., S. 11, s. auch Brumlik, Schrift, Wort und Ikone, S. 47. Es ist bemerkenswert, dass Arnold Schönberg in seiner Oper über das Bilderverbot, »Moses und Aaron«, zwar die Bildlosigkeit der Musik als Darstellungsmedium wählte, aber doch unter dem Eindruck von Michelangelos Mosesplastik stand, um sich seinem Thema anzunähern. S. Lenzen, Vom Bilderverbot zum jüdischen Gebet in Arnold Schönbergs Oper Moses und Aron, in: Rainer/Janssen (Hg.), Bilderverbot, S. 239–251, hier S. 240.

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Zwar führten die Juden, als sie noch nomadisch umherzogen, eine Bundeslade mit sich, die die wiederhergestellten Gesetzestafeln als Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen enthielt und als geistliches Zentrum diente; 11 doch als sie sesshaft wurden und Tempelbauten errichtet hatten, soll es durchaus Bildnisse gegeben haben. Auch im Tempel Jahwes im Südreich Juda standen Bilder, die man verehrte, wie sich einer Äußerung des Propheten Ezechiel entnehmen lässt. 12 Hosea lässt Jahwe in bitterer Enttäuschung ausrufen: »Als Israel jung war, gewann ich es lieb, ich rief meinen Sohn aus Ägypten. Je mehr ich es rief, desto mehr liefen sie von mir weg. Sie opferten den Baalen und brachten den Götterbildern Rauchopfer dar.« 13 Ein von Menschenhand gemachtes Götterbild wird als nichtig erklärt und kann keine Vergegenwärtigung der Gottheit sein. 14 Am eindringlichsten warnt der Prophet Jeremia vor dem »Unwert der Bilder«, er nennt sie »Trug«, absolut »nichtig«, »Leichname«, »lächerliches Machwerk« […]. »Der Widerwille Jahwes gegen den neuerlich hereingebrochenen Götzendienst klingt wie Donnergrollen in seinen Worten auf.« 15 Daher führte König Josija von Juda zwischen 632 und 622 v. Chr. eine Kultreform durch und zerstörte z. B. das von Jerobeam I. errichtete Stierbild in Bethel sowie den Sonnenwagen und die Sonnenrosse am Tempel Jahwes und viele andere Altäre, Schatz- und Gussbilder. 16 Für Brumlik ist dies die eigentliche Geburtsstunde des monotheistischen Judentums. Denn Josija habe den Tempel Salomons renovieren lassen (wobei sich das bis dahin als verschollen gegoltene »Buch der Gesetze Gottes« wiedergefunden habe) und die vorfindliche israelitische Religion im Geist des Prophetentums reformiert. Später sei sie – in der babylonischen Diaspora – als strikter Monotheismus artikuliert worden, »um schließlich zu Beginn des 4. Jh. von Esra und Nehemia als Judentum kodifiziert zu werden. 17 Deshalb musste auch die Imago-Lehre spiritualisiert werden, denn wenn Gott den Menschen

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van Voolen, a. a. O. Brumlik, Bilderverbot, a. a. O., S. 339 nennt als Quelle AT, Buch Ezechiel (Ez) 8,10. AT, Hosea 11,1–2. s. auch AT Jes 2,8 und Jes 2,20–21. AT Hos. 8,4b-6. Lippold, a. a. O., S. 48, verweist auf AT Jer 10,3–5. s. AT 2. Buch der Könige (Kön) 23,5. Brumlik, Schrift, Wort und Ikone, S. 18.

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Symbolik in jüdischen Kulturen

»nach seinem Bilde« geschaffen hat, 18 durfte daraus nicht im Umkehrschluss auf eine anthropomorphe Gestalt Gottes geschlossen werden, 19 der keinesfalls optische Ähnlichkeit mit Menschen haben konnte, aber durchaus über verwandte Gefühle wie Trauer, Zorn und Liebe verfügte. So wird etwa im 17. Kapitel des Buches Jesus Sirach 20 eine anthropologisch-ethische Deutung der Imago-Stellen vorgenommen. Die Gottähnlichkeit wird in der Fähigkeit gesehen, Gutes vom Bösen unterscheiden zu können, daneben aber auch zunehmend in den geistigen Fähigkeiten des Denkens und Erkennens. 21 Einen noch deutlicheren Schritt in Richtung Spiritualisierung der Imago-Vorstellung geht die Sapientia Salomonis, die in der »Unsterblichkeit« der menschlichen Seele die Gottebenbildlichkeit des Menschen sieht: »Denn Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit geschaffen und ihn zum Bilde seines eigenen Wesens gemacht«. 22 (My italics) Die Lehre von der Gottesebenbildlichkeit jedes einzelnen Menschen hatte daher auch zur Folge, dass man sich seinen Mitgeschöpfen in Achtung zuwenden musste. Die babylonische Gefangenschaft wie auch die Zerstörung des (ersten) salomonischen Tempels konnte durchaus als Strafe für Götzendienst gedeutet werden, wobei das in Auflösung begriffene assyrische Weltreich mit den vier Hauptstädten Susa, Ekbatana, Persepolis und Babylon durchaus den Freiraum für neue Gemeinschaftsbildungen zuließ. Jahwe hatte wegen Bundbrüchigkeit und Abgötterei die Zerstörung des Heiligtums, die Verschleppung der Bundeslade und Exilierung zugelassen und erwies sich doch als der alleinige und treue Gott, der sein Volk zu seiner unverwechselbaren Identität führen will: 23

die gefährlichen Perikopen finden sich in Genesis 1,26–28; 5,5 und 9,6, sowie in Psalm 8. 19 Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 211. 20 Das Buch Jesus Sirach wurde um 190 v. Chr. in hebräischer Sprache verfasst und um 132 v. Chr. ins Griechische übertragen, aber nicht in den offiziellen Kanon der Heiligen Schriften des Judentums aufgenommen (die Thora enthält die ersten 5 Bücher Mose), stand aber gleichwohl bei den Rabbinen in hohem Ansehen, vgl. Schäfer, Die Geburt des Judentums aus dem Geiste des Christentums, S. 61. 21 vgl. Sir 17,7 und Sir 16,24 f sowie 17,7. 22 Grözinger, a. a. O., zitiert SapSal 2,2.3. 23 Lippold, a. a. O., S. 49. 18

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Kein Bildnis machen? Bildauffassungen in religiösen Kulturen

»Fern von der verwüsteten Heimat und dem zerstörten Zentralheiligtum müssen die verstreuten Exilanten neue geistige Werte finden, die sie zusammenhalten. Zum einenden Band wird jetzt das Gesetz, dessen Grundlage die Thora 24 bildet. […] Seit der Makkabäerzeit sind überhaupt keine Abbildungen von irgendwelchen Lebewesen gestattet. Das Gesetz, nunmehr die einzige Basis, auf der das ethnisch heterogene Judentum unter der Römerherrschaft seinen inneren Zusammenhalt findet, hat existentielle Bedeutung gewonnen.« 25

Das Judentum war zur Buchreligion geworden und verfolgte rigoros jede Art von Bildhaftigkeit. Es war deshalb nicht erstaunlich, dass zur Zeit der Römerherrschaft Probleme auftraten, als die Juden sich der Enthüllung von römischen Hoheitszeichen mit Kaiserbildnissen widersetzten. Es kam fast zum Krieg, als Kaiser Caligula seine Statue im wiederaufgebauten Jerusalemer Tempel aufstellen lassen wollte. Bei zwei Aufständen der Juden gegen die Römer 66 n. Chr. (»Makkabäeraufstand«) und 132–135 n. Chr. (»Bar-Kochba-Aufstand«) ging es um die Wahrung des Bilderverbots, und infolgedessen wurde der 2. Tempel unter Hadrian durch Titus 70 n. Chr. zerstört 26 und nie wieder aufgebaut. Jerusalem wurde dem Erdboden gleichgemacht und durch eine römische Kolonie ersetzt, deren Betreten den Juden verboten war. Schon damals siedelten sich jüdische Gemeinden in Mittel- und Osteuropa sowie in Spanien an, und nach der Phase einer PriesterKönigs-Tempelreligion wurden die Schriftgelehrten zu neuen Leitfiguren. 27 »Es beginnt das so genannte rabbinische Judentum, genannt nach der jetzt zur ausschließlichen Herrschaft gelangten intellektuellen Elite, dem Rabbi und den Schriftgelehrten. Von nun an musste und konnte das Judentum vollständig ohne Tempel auskommen – die Funktion des Tempels wurde durch Tora und Laiengottesdienst in der Synagoge völlig ersetzt sowie durch Elemente der häuslichen und individuellen Frömmigkeit.« 28 Die Thora umfasst die ersten 5 Bücher Mose des AT, der später entstandenen Jerusalemer und der babylonische Talmud sind eine später entstandene Sammlung von Gesetzen und Lebensregeln für die jüdischen Gemeinschaften, was gerade in der Diaspora wichtig war. 25 Lippold, ebd. 26 nach Künzl, Jüdische Kunst, S. 16 f soll der »3. Tempel« am Ende der Zeiten an genau dieser Stelle wiedererstehen (nur dass sich an genau dieser Stelle heute der arabische Felsendom befindet, weil an dieser Stelle Mohammed seinen »Nachtflug« in den Himmel angetreten haben soll.) 27 Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 31. 28 Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 32. 24

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Symbolik in jüdischen Kulturen

Für Grözinger ist das rabbinische Judentum »das grandiose Unternehmen einer Neudeutung der biblischen Schrift aus dem Geiste eines kulturell, wissenschaftlich und weltläufig gewordenen Denkens«. 29 Die Sammlung der göttlichen Gesetze und die reine Schriftdeutung wurden in der Halacha (Rechtschnur) normiert und um erbauliche Erzählungen und Belehrungen (Haggada) ergänzt und später in die für alle Juden auf der ganzen Welt verbindlichen Talmude übernommen. 30 »Was ihnen bleibt, ist das Gesetz und die Erwartung des Messias. Was ihnen bevorsteht, ist die Große Diaspora, die Zerstreuung über die ganze Welt.« 31

In der Fixierung auf die heiligen Schriften hatte sich der jüdische Monotheismus anders entwickelt als der griechisch-philosophische: die – abstraktere – platonische Wesensschau der Idee des Guten und Schönen wurde nun einer Kultur des Lesens und des Hörens gegenübergestellt, wie es später Buber analysiert hat. 32 »Aus diesem Ringen um die Schrift resultiert eine Stellung zum Absoluten, die der platonischen Metaphysik strikt entgegengesetzt ist. […] An die Stelle des platonischen Theoretikers, der ein absolutes Sein geistig betrachtet, hört der jüdische Gläubige auf eine Weisung, an die Stelle eines nach Übereinstimmung suchenden Blicks tritt ein zur Tat bereites Hören, wo in der platonischen Metaphysik das Auge regiert, regiert im biblischen Denken das menschliche Ohr.« 33

Spekulative Vermutung und gläubiges Bestätigen, höchstes Sein und göttliche Stimme werden also gegeneinander abgesetzt, und daraus entstand die Lehre des sog. »Hebräischen Humanismus«, der auf Sprache und eben nicht auf »Spekulation« setzte. 34 Das führt sogar dazu, dass das »Tetragrammaton«, der von der göttlichen Stimme geoffenbarte Name JHWH, der inhaltlich sowieso mehr Verhüllung als Enthüllung ist, sich nicht im Sein profanisiert einnisten darf: Er darf nur einmal im Jahr, am Versöhnungstag, von einem Priester in einem ebd. vgl. Elshahed, Die Rolle der jüdischen Philosophie im islamischen Gedankengut am Beispiel von Mose Maimunides, in: Bickmann / Scheidgen et al. (Hg.), Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik, S. 512. 31 Lippold, a. a. O., S. 50. 32 Buber, Zwei Glaubensweisen. (u. a. S. 133: »Bild ist eine Festlegung auf eine Offenbarkeit, es will Gott verwehren, sich zu verbergen.«) 33 Brumlik, Schrift, Wort und Ikone, S. 72. 34 ebd. 29 30

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Kein Bildnis machen? Bildauffassungen in religiösen Kulturen

leeren Raum ausgesprochen werden, und ansonsten liest man stattdessen »Adonai« (mein Herr) oder einfach »HaSchem« (der Name). Der jüdische Gott ist also nicht nur bildlos, sondern auch namenlos. Doch »das rabbinische Judentum beharrt auf einem Gott, der sich zu gemeinsamer Interpretation seinen Geschöpfen überantwortet hat. Das Judentum […] kam ohne Opfertod aus – die befreiende Erniedrigung Gottes geschah durch Interpretation, durch Lektüre« 35. Es musste sich auch gegen das Christentum absetzen (»Many authorities classified Christianity as idolatry, because of its doctrines of the Trinity and the Incarnation and due to its use of images« 36), und so schreibt Schäfer, obwohl historisch das Christentum aus dem Judentum entstanden ist – Jesus und seine Jünger waren Juden – auch über »die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums.« Denn es galt, sich gegen das neu entstandene Christentum abzusetzen. So kann man z. B. im feierlichen Beginn des biblischen »Schʾ ma Jisrael«, das zu einem der wichtigsten jüdischen Gebete werden sollte, (»Höre Israel (»Schʾ ma Jisrael«), der Herr ist unser Gott, der Herr allein – »JHWH echad«) diesen letzten Teil auch als »der Herr ist einer« übersetzen, womit der Gott Israels als einer – und ein einziger – anerkannt wird, d. h. gleichzeitig als ein ungeteilter Gott, »von dem nicht gesagt werden kann, dass er aus mehreren Personen besteht«. 37 Doch das war nicht unstrittig, vor allem weil es drei Gottesnamen gab: Neben JHWH wurde in der Schrift »el« und »elohim« benutzt, und letzterer war sprachlich ein Plural und bedeutet wörtlich »Götter« und verwies auf den in Gen 1,26 verwendeten Plural: »Lasst uns einen Menschen machen, in unserem Bilde, in unserem Gleichnis«. In der griechischen Übersetzung, der Septuaginta, entstand das Problem nicht, denn der Plural »elohim« wurde dort im Singular mit theos, und JHWH mit kyrios übersetzt, um jede Zweideutigkeit zu vermeiden. 38 Das Judentum hatte sich zu einem strengen Monotheismus entwickelt; und Hermann Cohen, einer der Begründer des Marburger Neukantianismus, schrieb später in seinem bekanntesten Buch zum Judentum mit dem Untertitel »Eine jüdische Religionsphilosophie« in seinem Kapitel II (»Der Bilderdienst«), der Monotheismus habe 35 36 37 38

Brumlik, Schrift, Wort und Ikone, S. 73. Sommer, Idolatry, a. a. O., S. 373. Schäfer, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums, S. 35. Schäfer, a. a. O., S. 47 und 37.

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Symbolik in jüdischen Kulturen

»die Brücken zwischen der Vielheit der Dinge und der Einzigkeit des göttlichen Seins abgebrochen«: »Das Bekenntnis und die Anerkennung anderer Götter außer dem Einzigen« sei damit ausgeschlossen, und der Monotheismus könne »keine Toleranz anerkennen gegenüber dem Polytheismus«. Der Götzendienst müsse »schlechterdings ausgerottet« werden. 39 »Der Unterschied zwischen dem einzigen Gott und den Göttern beschränkt sich nun aber nicht auf den Unterschied in der A n z a h l : Er prägt sich auch aus in dem Unterschiede zwischen einer unsichtbaren I d e e und einem wahrnehmbaren B i l d e . […] Die Götterbilder müssen Bilder von etwas anderem sein, dem sie die Bedeutung eines Gottes beilegen. […] Daher kann kein Bild von Ihm zulässig sein: Es müsste ein Urbild, vielmehr das Urbild sein, mithin kein Bild, welches nur Abbild sein kann. Im Begriffe des Seins und seiner Einzigkeit ist sonach der Widerspruch gegen die Plastik begründet. […] Die Götter müssen vernichtet werden, denn sie sind nicht Sein, sondern Bilder.« 40

2.1.2 Philon von Alexandrien und das späthellenistische Judentum Philon von Alexandrien, latinisiert auch genannt »Philo Judaeus«, dessen sehr wohlhabende Familie persönlichen Kontakt zum römischen Hof hatte, lebte von ca. 20 vor bis ca. 45 nach Chr. in Alexandria und wurde vor allem bekannt dadurch, dass er auf dem Hintergrund der politischen Wirren in Alexandria eine Delegation anführte, die um das Jahr 40 n. Chr. zum kaiserlichen Hof nach Rom geschickt wurde, um den Juden in Alexandria das Bürgerrecht zu sichern. Der alexandrinische Mob hatte verlangt, dass Juden Kultstatuen des wahnsinnigen Kaisers Caligula 41 in ihren Synagogen aufstellten (man war sich seines Wunsches nach göttlichen Ehren bewusst), und nahm die Weigerung als willkommene Gelegenheit, Juden nach Belieben auszuplündern und zu morden. Die einzige Hoffnung der Juden, die zu Tausenden aus ihren Häusern vertrieben wurden und um ihr Leben fürchten mussten, war, dass der Kaiser selbst sie von seiner Cohen, Religion der Vernunft aus dem Quellen des Judentums, S. 84 f. Cohen, a. a. O., S. 86 f. 41 Caligula soll Gespräche mit dem Mond geführt haben und wollte noch kurz vor seiner Ermordung sein Lieblingspferd Incitatus, dem er einen Palast gebaut hatte, zum Konsul mit ständigem Sitz im Senat ernennen. 39 40

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Kein Bildnis machen? Bildauffassungen in religiösen Kulturen

Forderung nach Anbetung ausnehmen würde, und tatsächlich konnte Philon von Caligula eine widerstrebende Duldung der Juden erreichen. 42 Philon war wie sie der Auffassung, dass Malerei und Bildhauerei, die er an anderer Stelle als »schädliche« und »hinterlistige« Künste bezeichnet, durch ihre Ausstrahlung die Wahrheit verfälschen und durch ihre Wirkung durch die Augen die Seele verführen. 43 Daher erfüllte ihn die Aufstellung von Statuen in Synagogen mit Wut. Denn Sinnlichkeit mache den Geist schläfrig, besonders »wenn das Auge die kunstvollen Werke von Malern und Bildhauern betrachtet.« 44 Für Goodenough ist es eine Ironie, dass der Mann, der diese Duldung am römischen Hof 45 erreichen konnte, heute oft als weltfremder Metaphysiker ohne praktische Interessen gesehen wird. Seine Texte zu politischen und Gesetzesfragen sind nämlich – in idealistischer Sprache – in anderen Texten versteckt, denn man musste Vorsicht walten lassen. Die jüdische Gemeinde im damaligen Alexandria scheint eine Art jüdischer Stadtstaat im Staat gewesen zu sein, in denen die Juden wie Philon gleichzeitig Bürger und Fremde waren. Sie hatten wohl eigene Gerichte und Beamte, waren aber dennoch Untertanen des römischen Präfekten und zahlten Steuern, waren aber nicht an der griechischen Organisation der Stadt beteiligt, die die Römer fortgeführt hatten. Sie wurden persönlich von den Römern verachtet, aber als gute und profitable Bürger anerkannt und mit politischen Privilegien ermutigt, in Alexandria zu leben, galten aber doch im Vergleich mit Römern als minderwertig. 46 Man musste also in seinen Äußerungen äußerst vorsichtig sein, und Philon rief in seinen Schriften dazu auf. Vorsicht sei für den Einzelnen, was die Schutzmauer für eine Stadt sei. Mit seiner Vorliebe für Vergleiche

s. Philons autobiographischer Bericht in Legatio ad gaium, sowie Goodenough, The Politics of Philo Judaeus, S. 1. 43 Pekáry, Imago res mortua est, S. 40 und 161 zitiert hier Philo, Decal. 156 sowie Gigant. 59. 44 Pekáry, a. a. O., S. 161 f zitiert hier Philo, Flacc. 41 ff sowie Legum allegoriae II,26. 45 Ursprünglich sollen die Römer voller Verachtung für die Fülle der griechischen Statuen gewesen sein, wofür Pekáry, a. a. O., z. B. S. 17 ff viele Belege gibt. Doch das soll sich zur Kaiserzeit geändert haben, so z. B. soll das römische Kolosseum in jeder Nische eine Statue enthalten haben, als ein »ewigwährendes Denkmal der Verdienste einer Person« (a. a. O., S. 49). 46 Goodenough, The Politics of Philo Judaeus, S. 3 f. 42

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Symbolik in jüdischen Kulturen

betont er, dass ein Wagenlenker zwar jede Freiheit habe, seinen Pferden freien Lauf zu lassen, aber auch in der Lage sei, sie zu kontrollieren und nach seinen Wünschen zurückzuhalten. Man setze auch keine Segel und begebe sich aufs offene Meer, wenn der Sturm die Wellen auftürme, sondern liege besser zu dieser Zeit sicher im Hafen. 47 Daher kann man bei Philon zwei Arten politischer Schriften unterscheiden: solche, in denen er offen die jüdischen Beziehungen zu den Römern diskutiert, und solche, in denen er verschlüsselt und vorsichtig unter Verwendung von Gleichnissen vorging. Unter der Überschrift »Politics in Code« beschreibt Goodenough Philons Schriftauslegung, z. B. der Geschichte Josephs, der im historischen Ägypten der zweite Mann hinter dem König war, als ein »clever piece of double entendre«, denn jeder jüdische Leser von Verstand müsse den Doppelsinn und den Bezug zur Zeit Philons verstanden haben, in der ein römischer Präfekt, über dem nur noch der römischen Kaiser rangierte, das Sagen hatte. 48 »To make this reference clear, Philo also brings out the Scriptural description of Joseph having honor in Egypt second only to that of the king or emperor. […] Philo is using Joseph as a type to vent his secret hatred of not just the politician, but specifically to that Roman ruler who was immediately over Philo and his own circle. That Jew would have been dull indeed who did not understand the reference.« 49

Versteckt war dies alles in einer Reihe von Abhandlungen zu den »Allegorischen Erklärungen der Gesetze« (»Legum allegoriae«), in denen Philon den mosaischen Pentateuch (er kannte nur die griechische Übersetzung der Septuaginta) einer hermeneutischen Exegese unterzog, was nur für Juden von Interesse war, die seine Methode der Allegorie verstehen konnten. Diese Methode war nicht die Erfindung von Philon. Man glaubt heute, dass sie sich im 6. vorchristlichen Jahrhundert als Folge der Homerkritik der Vorsokratiker entwickelt hat und dazu gedient haben soll, die Schriften Homers, die »Bibel« der Griechen, gegen Kritik abzusichern. Sie soll also aus apologetischen Motiven entstanden sein, was man auch Philon und den christlichen Schriftstellern unter-

47 48 49

a. a. O., S. 5 f. a. a. O., S. 21 ff. a. a. O., S. 23.

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stellte. 50 Die Allegorie sei, so Stein, »das Antidotum gegen die gottlose Auffassung von der Gottheit«. 51 In der Tat wollte sich Philon gegen eine zu anthropozentrische Auffassung von der Menschenähnlicheit Gottes stellen, 52 es ging ihm um Spiritualisierung. Doch zumindest für ihn ist noch ein anderes Motiv auszumachen: Philon arbeitete im Hinblick auf Thoraauslegung mit einem zweischichtigen Textmodell und unterschied eine niedere Thora mit wörtlicher Auslegung und eine höhere mit allegorischer Auslegung. »Nach Philon ist die allegorische Methode das hermeneutische Element, um die in der Schrift unterirdisch, d. h. hinter dem Literalsinn verborgenen Wahrheiten ans Licht zu heben. Sie richtet sich also auf den tieferen Sinn des geschriebenen Buchstabens […]. Nach Jos 28 ist sogar das meiste, was sich in der Gesetzgebung des Mose findet, Allegorie, und darum in einem über den äußeren Wortlaut hinausgehenden Sinne zu verstehen, der in diesem Über-Hinaus zugleich die Tiefendimension der Schrift anvisiert.« 53

Vom platonischen Urbild-Abbild-Denken beeinflusst, sieht Philon als erster monotheistischer Religionsphilosoph 54 in der äußeren, niederen, da schriftlich fixierten Thora ein Abbild der eigentlichen Thora, die ein höheres inneres Gesetz repräsentiert und erschlossen werden muss. Dem Textkorpus steht also ein innerer Sinn gegenüber. Der Buchstabengehorsam deutet symbolisch auf den höheren Gehorsam hin, die irdischen Repräsentanten der Schrift gelten allenfalls als Hinweise und Zeichen 55 auf den höheren bzw. tieferen Sinn. So stehen die Personen des Alten Testaments für bestimmte Tugenden (Adam z. B. für den Nous, Eva für die Aisthesis, Abel für die Frömmigkeit), denn Philon sucht ein allgemeines tertium comparationis (wie die Tugenden) zu finden, das es gestattet, die biblischen

Christiansen, Die Technik der allegorischen Auslegungswissenschaft bei Philon von Alexandrien, S. 8 f. 51 Stein, Die allegorische Exegese des Philo aus Alexandria, S. 2. 52 Weber, Das »Gesetz« bei Philon v. Alexandrien und Flavus Josephus, S. 117. 53 Weber, a. a. O., S. 116. Von hier scheint mir die Methode der Textdekonstruktion bei Derrida motiviert zu sein, der auch mit einem ganz ähnlichen zweischichtigen Textmodell arbeitet. 54 Elshahed, Die Rolle der jüdischen Philosophie im islamischen Gedankengut, in: Bickmann et al. (Hg.) Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik, S. 511. 55 Weber, a. a. O., S. 122 f. 50

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Geschichten auf die Gegenwart zu beziehen. 56 Diese allegorische Exegese der Schrift wird auch für spätere Denker wichtig. Für Stein wird die Allegorie erst durch die Verbindung der Metapher mit der Symbolik möglich, denn »mittels der Metapher verdrängt der symbolische Sinn ganz das Reale: Die Symbolik wird zur Allegorie«, im Bestreben, »die Gottheit vom Sinnlich-Menschlichen zu befreien«. 57 Wenn z. B. Manna für die hungrigen Israeliten in der Wüste vom Himmel fällt, muss man nicht im Wortsinn an physische Nahrung denken, denn es kann auch um spirituelle Sättigung mit himmlischer Speise gehen. Und eine zahlenmystische Spekulation zur heiligen Zahl 7, die diese nicht nur mit der Anzahl der Schöpfungstage, sondern auch mit der der damals bekannten Planeten in Verbindung bringt, macht deutlich, dass sie für Himmel und Erde steht, also für den gesamten Kosmos, und dass ihr also kosmische Verehrung zukommt. 58 Solche Allegorese ist daher für Philon nicht nur angewandte platonische Philosophie, da die allegorisch auszulegenden Schriften Ideen enthüllen, sie ist für Philon auch eine Erkenntnismethode, die zur Gottesschau führt. 59 Denn des Weiteren ist die von Platon inspirierte Lichtmetaphorik zu nennen, in der es neben dem natürlichen Licht das eigentliche, das göttliche Licht gibt, das mit den Augen des Geistes zu sehen gestattet (damit hat Philon Plotin beeinflusst), wobei Klein, der die Sprache der hellenistischen Mystik untersucht, »die Vorstellung des Schauens, die Einheit von Licht und Auge im Akte des Sehens« mit der Symbolik der Liebesgemeinschaft und des Hochzeitsmahles identifiziert. 60 Doch solche unio mystica kannte das jüdische Denken eher nicht, das Göttliche (das Philon ganz griechisch mit »dem Sein an sich« identifizierte) musste prinzipiell unerkennbar und unerreichbar bleiben. Für Philon ist es aber durch seine Kräfte wahrnehmbar, die er mit Gottes Güte, Autorität und dem Logos bezeichnet, der in die Welt

Philon, De virtutibus, in: Cohn/Heinemenn et al (Hg.), Philon v. Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 2. 57 Stein, Die allegorische Exegese des Philo aus Alexandria, S. 1 f. 58 Weber, a. a. O., S. 132 f und 156 f. 59 Christiansen, a. a. O., S. 13 f. 60 Klein, Die Lichtterminologie bei Philon von Alexandrien und in den hermetischen Schriften, S. 73. 56

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hineinwirkt, aber auch alles umschließt. 61 Philon bezeichnete diesen Logos, der an der zweiten Stelle nach Gott steht, sogar als »Sohn Gottes«; ihm wird eine »Fürsprecherrolle zwischen Gott und den Menschen« 62 zugeschrieben. (Damit hat Philon auf Ambrosius und Augustinus gewirkt und die christliche Trinitätslehre beeinflusst.) Das zeigt erneut, dass Philon nicht nur über jüdische, sondern auch über griechische Bildung 63 verfügte und wie Paulus als synkretistischer Denker gesehen werden kann. Doch ist dies für Philon kein naiver Eklektizismus, für ihn passen die Schriften Moses (die er, wie gesagt, nur in griechischer Übersetzung kannte, er soll kein Hebräisch gekonnt haben) und das griechische Denken perfekt zueinander und ergänzen sich gegenseitig, und er war überzeugt, dass das mosaische Schrifttum auf das griechische Denken eingewirkt hatte, das nun seinerseits Auslegungen und Interpretationen gestattete, die das jüdische Denken für das hellenistische erschließen helfen konnten: »Wenn also Philon die hellenistischen Bestandteile seiner Bildung unter dem Einfluss des Judentums auswählt, umbildet, gelegentlich sogar verstärkt, so lässt sich eine ganz ähnliche Wirkung des Hellenismus auf sein jüdisches Gedankenerbe feststellen.« 64 Damit wird das Problem der Assimilation exemplarisch deutlich, das sich jüdischen Denkern auch zu späteren Zeiten gestellt hat. Wie weit darf solche Assimilation gehen? Wieviel Assimilation ist möglich, wie viel nötig? Gerade in Zeiten der Diaspora gilt es ja auch, die eigene Identität zu bewahren, was zum Erstarken der rabbinischen Bewegung und zur Notwendigkeit des Jerusalemer und des Babylonischen Talmud beigetragen hat. In Philons jüdisch-hellenistischem Denken wird deutlich, dass er das Sehen über das Hören, das Visuelle vor das Auditive gestellt hat, 65 was auch zu Brüchen führt: Einerseits soll und muss das Göttliche prinzipiell verborgen und unerkennbar bleiben, andererseits soll es in mystischer Schau geistigen Augen erreichbar sein. Schon hier bricht der Konflikt zwischen Unmittelbarkeit und symbolischer VerJ. Morris, The Jewish Philosopher Philo, in: E. Schürer, History of the Jewish People, Bd. 3, 1987, S. 884. 62 Elshahed, a. a. O., S. 517 zitiert hier Abdarrahman Badawi, Kharif al-fikr al-yunani, an-nahda, S. 93 f. 63 Heinemann, Philons griechische und jüdische Bildung, § 11 (S. 511 ff.). 64 Heinemann, Philons griechische und jüdische Bildung, S. 562. 65 vgl. Klein, a. a. O., S. 69 sowie Kweta, Sprache, Erkennen und Schweigen in der Gedankenwelt des Philo von Alexandrien, S. 227. 61

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Symbolik in jüdischen Kulturen

mittlung auf, und es ist die Frage, ob sich in ihm überhaupt vermitteln lässt. Ebenso ist in rabbinischer Tradition nicht wie bei den Griechen die (auf Ideenschau beruhende) Erkenntnistheorie bzw. Metaphysik die Prima Philosophia, sondern die Ethik, da Verhaltensregeln direkt aus der geoffenbarten Schrift abgeleitet wurden. Denn die rabbinische Deutung der zelem-Vorstellung sah eben nicht die geschöpfliche Sonderstellung des Menschen in seinen intellektuellen und theoretischen Vernunftfähigkeiten, sondern in seiner Fähigkeit zum ethischen Handeln: »Der Heilige«, so die Interpretation des Midrasch Tanchuma von Gen 11.26, »der ›Gerecht‹ und ›Aufrichtig‹ heißt, hat den Menschen alleine deshalb in seinem Bilde (zelem) erschaffen, damit der Mensch ›gerecht‹ und ›aufrichtig‹ sei, wie er selbst.« Dies führt zu einer völlig anderen Ausrichtung der rabbinischen Anthropologie, 66 der es auch nie um das Wesen Gottes ging, sondern um das Handeln Gottes an den Menschen. Und schließlich war die auch Frage zu klären, ob es sich um einen personalen Gott handelte, der sich den Menschen geoffenbart hatte, oder, wie im griechischen Denken, um ein abstraktes Seinsprinzip. Das führt u. a. bei Heinemann auch zu massiver Kritik: Philon habe rabbinische Unterscheidungen teils nicht gekannt, teils aber auch ihm bekannte, aber unbequeme Einzelheiten weggelassen. 67 Es werde deutlich, »wie wenig sich seine unscharfe Art der Widersprüche bewusst geworden ist«: bisweilen stehe Griechisches und Jüdisches unausgeglichen nebeneinander. 68 Levine stellt die Frage, die sich hier wie bei jedem Zusammenfließen von Kulturen stellt: »Conflict or Confluence?« und verweist gerade auch für die Bildpraxis auf ganz praktische Probleme: Darf man in einem Bad mit einer Statue der Göttin Aphrodite baden? Rabban Gamaliel, von dem in der Mischna Aboda zara berichtet wird, tat dies und entschuldigte sich, dies sei kein Bad für Aphrodite gewesen, sondern eines, in dem ihre Statue als Ornament in der Nähe des Abflusses gestanden habe, so dass die Leute dort auch urinierten. Man ehre sie dort also nicht als Göttin, was in der Tat verboten wäre. 69 Diese liberale und flexible Auffassung, wenn es sich nicht um Idolatrie handelte – denn man war in der hellenistischen Spätantike ja 66 67 68 69

Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 280. Heinemann, a. a. O., S. 519. Heinemann, a. a. O., S. 515. Levine, Judaism and Hellenism in Antiquity. Conflict or Confluence?, S. 107.

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umgeben von Statuen aller Art –, wird konterkariert durch eine andere Geschichte, nach der es Juden zunächst nicht erlaubt war, sich im Nymphäum von Bostra Wasser zu holen, das viele Statuen, u. a. von Aphrodite, enthielt und von Zeit zu Zeit für Anbetungszwecke genutzt wurde. 70 Gesetzestreue Juden wurden also gezwungen, einen weiten Weg zum Wasserholen auf sich zu nehmen. Das Verbot wurde dann jedoch nach Diskussion in rabbinischen Zirkeln mit der Begründung zurückgenommen, dass Statuen oder Bilder nicht in Tempeln, sondern im öffentlichen Raum (das Nymphäum stand an der Hauptkreuzung) nicht als Götzenbilder zu betrachten seien. Man wollte Juden in römischen Städten ein weitgehend normales Leben ermöglichen. 71 Dennoch war die Bemühung um Abgrenzung nötig, und so beschrieb Philon die Ägypter als das ultimativ Fremde und Verabscheuungswürdige, denn durch Verehrung von tierischen Gottheiten (»Zoolatrie«) und Inzest (Moses hatte ja mit seinen biblischen Ehegesetzen einen gesunden Standard vorgegeben) werde Ägypten zu einer kranken Nation. Hingegen wurden ihm die Römer zum Inbegriff von Kultur, denn sie waren in der Lage, anders als Alexander der Große es vermocht hatte, die Errungenschaften der hellenistischen Kultur, die sich für ihn so gut mit der jüdischen harmonisieren ließ, in die Welt zu tragen. 72 Philon interpretierte – ob dies auch seiner eingangs erwähnten Vorsicht anzurechnen ist? – die beispiellosen Dimensionen des Römischen Reiches als Ausdruck von moralischer und kultureller Überlegenheit. »Ein Reich im Frieden mit sich selbst, unter guten Gesetzen, das Harmonie zwischen allen seinen Regionen gewährleistet«, war deshalb »eine Freude« 73 »für alle Nationen sowohl in Europa als auch in Asien«, und dies rechnete Philon Augustus zu. 74 Doch dieses Reich sollte untergehen. Cohn-Wiener, Jüdische Kunst, S. 2 macht den Gegensatz ganz deutlich: »Hellas war eine sinnliche Nation. Es musste sich seinen Gott menschlich vorstellen, auch wenn es ihn unsterblich dachte. […] Die höchste Steigerung der hellenistischen Gottesvorstellung ist nicht der körperlose, unbegreifbare, sondern der das Auge beglückende, schöne Gott.« 71 Levine, a. a. O., S. 109. 72 Niehoff, Philo on Jewish Identity and Culture, S. 48 f und 115 ff. 73 Philon, Legum allegoriae, 8 und 10, zitiert nach Niehoff, a. a. O., S. 115. Vgl. auch Bd. 3 der bereits zitierten deutschen Gesamtausgabe, S. 3 f. 74 Philon, Legum allegoriae, 147 in Bd. 3 der bereits zitierten deutschen Gesamtausgabe. 70

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2.1.3 Negative Theologie bei Maimonides Im Mittelalter war die »zivilisierte« Welt einerseits christlich geworden, andererseits hatte sich im vorderen Orient unter griechischem Einfluss eine anspruchsvolle islamische Philosophie entwickelt, die auch das jüdische Denken beeinflusste, wodurch es einen Teil seiner Wurzeln wiederentdeckte. 75 Das war kein Zufall, da »die Urschrift der Thora mit dem Koran im Großen und Ganzen übereinstimmt« 76 und beide zu strengem Monotheismus mahnen. Das islamische Reich hatte sich bis nach Südspanien ausgedehnt (»Al-Andalus«) und hier hielt sich die jüdische Religionsphilosophie im Gegensatz zur orientalischen Richtung an Aristoteles. 77 In Al-Andalus lebten Juden, Christen und Muslime unter muslimischer Herrschaft friedlich zusammen und konnten sich, da es sich wohl um eine »weitgehend säkulare Kultur« handelte, als »gleichwertige Erben einer großen kulturellen Tradition« fühlen. 78 »Therefore, Judaism could draw freely and copiously from Muslim civilization and, at the same time, preserve its independence and integrity far more completely than it was able to do in the modern world or in the Hellenistic society of Alexandria.« 79

Von wirklich unglaublichem Einfluss für das jüdische Denken muss an dieser Stelle Moses Maimonides, oder Rʾ Mbʾ M (Rabbi Mosche ben Maimon), genannt werden, der 1138 zur Zeit des maurischen Spanien in Cordoba als Sohn eines jüdischen Rabbis geboren wurde und 1204 in Kairo (damals Fostat) starb. Er war es, der als Datum der Schöpfung das Jahr 3761 vor unserer Zeitrechnung ausmachte, sodass man sich nach jüdischer Zeitrechnung heute im 6. Jahrtausend befindet. Nach muslimischer Meinung war er durch seinen ebenfalls in Cordoba geborenen Zeitgenossen Averroes (Ibn Ruschd) beeinflusst. Doch musste seine Aristoteles-Rezeption und -Umdeutung aus jüdischer Perspektive ja keineswegs mit der aus muslimischer PerspekElshahed, Die Rolle der jüdischen Philosophie im islamischen Gedankengut am Beispiel von Moses Maimunides, a. a. O., S. 509. (Gegenseitige Appropiationsversuche sind nicht unüblich.) 76 Elshahed, a. a. O., S. 513. s. auch Katsch, Judaism in Islam. Biblical and Talmudic Background of The Koran. 77 Elshahed, a. a. O., S. 512. 78 Goitein, Jews and Arabs. Their contacts through the ages, S. 125. 79 Goitein, a. a. O., S. 130. 75

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tive in Konflikt geraten. Die Zeit des 11. bis 14. Jahrhunderts war für das Judentum alles andere als »finsteres Mittelalter«. Es gab neue Richtungen in biblischer Exegese, Rechtsprechung und TalmudNovellierungen sowie starke intellektuelle Traditionen einschließlich der entstehenden neuen mystischen Bewegungen; und doch war fraglos die die beherrschende Figur dieser Zeit Moses ben Maimon (oder: Moses Maimonides), denn er galt in der jüdischen Welt als die Autorität für rabbinische Gesetze schlechthin und beherrschte den wissenschaftlich-philosophischen Diskurs seiner Zeit. Sein Einfluss war so bedeutsam, dass jeder Zweig jüdischen Denkens ab dem 12. Jahrhundert, bis hin zur Entstehung einer spezifischen mittelalterlichen jüdischen Mystik in der Kabbala, ohne ihn nicht denkbar gewesen wäre. 80 Als Jude arbeitete Maimonides zeitlebens in arabischen Welten, stand für religiöse Toleranz und wurde durch seine Philosophie und Theologie, vor allem in seinem philosophisch-theologischen Hauptwerk Führer der Unschlüssigen über Jahrhunderte hinweg kanonisch. Er gilt bis heute als einer der größten jüdischen Philosophen, wenn nicht der größte, und genoss schon zu Lebzeiten höchstes Ansehen bei den Juden der ganzen Welt. 81 Darüber hinaus arbeitete er bis zur Erschöpfung noch als Rabbi und als Arzt, was ihm noch zusätzlich große Reputation und Anerkennung – auch seiner nichtjüdischen Umgebung – einbrachte. Maimonides machte sich zunächst als jüdischer Theologe einen Namen und publizierte auf Arabisch und Hebräisch. Die Mischna, die Sammlung jüdischer Religionsgesetze und Lebensregeln, war zwar schon teilweise durch den Babylonischen und später den Jerusalemer Talmud durch Berichte und Protokolle von Diskussionen thematisiert worden, aber nur im Hinblick auf die Themen, die nach der Zerstörung des Tempels und für das Leben im Exil relevant waren. Maimonides verfasste die erste umfassende Auslegung der ganzen Mischna, und zwar kritisch, indem er u. a. auf die ungeheure Vielfalt biblischer und rabbinischer Quellen Bezug nahm und seine eigenen philosophischen Ansichten über die Seele und die Vollkommenheit des menschlichen Charakters hinzufügte. 82 Diamond, Maimonides and the Shaping of the Jewish Canon, S. 2 f, S. 7. Levinger/Kasher, Maimonides, in: Niewöhner (Hg.), Klassiker der Religionsphilosophie (KdRP), S. 163. 82 Levinger/Kasher, Maimonides, in: Niewöhner, KdRP, S. 167 f. 80 81

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Im seinem umfangreichsten Buch Mischneh Thora versuchte er nicht nur, die Talmude aus der Thora herzuleiten, 83 sondern auch alle jüdischen Religionsgesetze zu ordnen, und kommentiert auch Gesetze, die Erkenntnis und Ethik betreffen. Dieses Buch enthält 1000 Kapitel und behandelt 83 Themen, u. a. im 2. Buch, dem Buch der Liebe, dessen Titelbild einer Ausgabe um 1400 einen Rabbiner mit der Thorarolle zeigt, umgeben vom Psalmvers »Wie lieb ist mir deine Thora«, die Verpflichtung zur Liebe. 84 Als Religionsphilosoph betätigte er sich dann im »Führer der Unschlüssigen« (FdU), der sich an diejenigen richtete, die zwischen der aristotelischen Philosophie, die damals in arabischer Übersetzung verfügbar war, und der jüdischen Religion schwankten. Unter anderem ging es dabei um den Konflikt zwischen der creatio ex nihilo, also einer Schöpfung am Beginn der Zeit, und der aristotelischen Auffassung von der Ewigkeit der Naturgesetze (vgl. FdU II, Kap. 13 ff.), bei der Maimonides zumindest den »Unschlüssigen« klarmachte, dass weder Präexistenz noch ein Schöpfergott bewiesen werden können (FdU I,71-II,31); sowie um das Zusammendenken des göttlichen Vorherwissens mit der menschlichen Willensfreiheit. Seine Lösung 85 gemahnt an die Quaestio 22 des Thomas v. Aquin, der wie sein Lehrer Albertus Magnus Maimonides sowie auch Averroes – der allerdings kein sephardischer Jude, sondern Muslim war – kannte und schätzte. Wirklich bedeutsam im Hinblick auf das Bilderverbot ist aber sein ungewohnt scharfer und systematisierender Ansatz der negativen Theologie, die ein aus dem Platonisms stammendes Verfahren darstellt, das Denken oder Reden über Gott zu beschränken, indem die positiven Aussagen über Gott (positiv und negativ sind hier deskriptiv, nicht wertend gemeint) als unangemessen kritisiert und verworfen werden. So kritisiert etwa der 7. Brief Platons die schriftliche Verbreitung der Lehren über »das Erste und Höchste in der Natur« (seine Ideenschau ist intuitives Erfassen) und stellt fest, dass man, wenn man wirklich etwas davon verstanden habe, davor zurückschrecken muss, es schriftlich zu fixieren, solches Wissen lasse sich in keiner Weise wie anderes Wissen in Worte fassen. 86 Wenn man nämlich 83 84 85 86

Trutwin, Wege zum Licht, S. 37. Levinger/Kasher, a. a. O., S. 168 f und Trutwin, ebd. vgl. Levinger/Kasher, a. a. O., S. 185 sowie Mose ben Maimon, FdU III, Kap. 114. Platon, Siebter Brief 341 b-e, 344d-345b.

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menschliche Eigenschaften wie Güte oder Weisheit einem höchsten Wesen zuschreibe, so übertrage man Vorstellungen aus dem Bereich der menschlichen Erfahrung auf ein göttliches Wesen. Das ist unangemessen, weil so die absolute Transzendenz Gottes nicht berücksichtigt wird. Es sind daher nur negative Aussagen, also die Verneinung positiver Aussagen, legitim, wobei die Aussage, Gott könne nicht als gut bezeichnet werden, nicht bedeute, dass er schlecht sei. Vielmehr müsse man an so etwas wie »übergut« denken, da seine Güte alle menschlichen Vorstellungen und Begriffe übersteige. (Ein Gedanke, der sich so auch bei Meister Eckhart wiederfindet.) »Die negative Theologie beginnt mit dem Letzten und Untersten (unbelebter Materie und den niederen Gemütsbewegungen), indem sie es bezüglich Gott negiert, und schreitet dann aufwärts, indem sie alle Worte und Namen bis hin zu den höchstrangigen Begriffen wie Leben und Gutheit als Aussagen über Gott verwirft.« 87

Anthropomorph ist daher auch die Annahme der Körperlichkeit Gottes, die aus der Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit (zelem) des Menschen folgen könnte, und Maimonides sieht diese gleich im ersten Kapitel des ersten Buchs 88 (Aristoteles-kompatibel) in dessen Geistigkeit und Vernünftigkeit und macht klar, dass die Thora in vielem metaphorisch redet, um allgemein verständlich zu sein. 89 Das gilt auch für die Zuschreibung von Gefühlsregungen: In der Mischne Thora bezeichnet Maimonides sogar jemanden, der an die Körperlichkeit Gottes glaube, als Häretiker, der keinen Anteil an der kommenden Welt haben kann. Dieser Glaube sei sogar schlimmer als Idolatrie, denn ein Götzendiener könne immer argumentieren, dass das Idol, das er anbetet, nur ein Symbol eines höheren Gottes sei. Doch jemand, der sich mit seinem geistigen Auge ein personifiziertes Bild der Gottheit, z. B. als große Person auf einem Thron sitzend, vorstelle, sehe jene Gestalt nicht als bloßes Symbol. Er bete nur ein Wesen an, das lediglich eine vollkommenere Gestalt eines Menschen sei, was nicht mehr als ein imaginäres Wesen darstelle, auf das der Anbetende seine eigenen Züge projiziere (I,36). Damit eröffnete Maimonides den Kampf gegen die Idolatrie an einer völlig neuen Front. Nicht die Anbetung von Statuen, z. B. plas87 Theill-Wunder, Archaische Verborgenheit, S. 160–165. (Damit müsste auch die Annahme eines bestimmten Geschlechts als anthropomorph gelten.) 88 vgl. auch FdU I, 7 und I, 26. 89 Levinger / Kasher, a. a. O., S. 171 f.

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Symbolik in jüdischen Kulturen

tischen Repräsentationen des Baal oder der Astarte, wie es noch zur Zeit des ersten Tempels geschah, war nun die schwerste religiöse Übertretung, sondern der Anthropomorphismus, der das innere Bild des Glaubenden korrumpiere, denn auch hier konnte man von Anbetung fremder Götter sprechen 90. Das hatte bedeutsame Folgen für ein neues Verständnis religiöser Sprache, denn die jüdische Tradition hatte streng zwischen Wort und Bild unterschieden. Sprachliche Bilder (z. B. von Gottes ausgestreckter Hand als Metapher) aber waren nicht anstößig. Nun bricht die Unterscheidung zwischen verbaler Repräsentation und bildhafter Repräsentation zusammen. Ein personifiziertes Bild von Gott in der religiösen Sprache war nun verboten, und die traditionellen Schriften konnten die Todsünde einer Körperattribution fördern. Daher mussten sie von metaphorischer Sprache gereinigt werden, d. h. die Interpretation musste die Metaphern als solche bewusst machen. Da in jeder Sprache ein Begriff vielfache Bedeutungen annehmen kann (z. B. ist im Hebräischen »Auge« mit »Quelle« synonym), kann man auf dem Hintergrund einer metaphysischen Überzeugung von der Immaterialität Gottes klarmachen, dass »ein großes Herz«, »Sehen«, »Sagen«, »Abstieg«, »Aufstieg«, »Sitz« oder »Stand« nur im übertragenen Sinn recht verstanden werden können. Bereits in den ersten Kapiteln des »Führers der Unschlüssigen« legt Maimonides großen Wert auf diese Erörterungen. 91 »Maimonides gewinnt eine Sprachlehre, die kathartisch auf das biblische Zeugnis angewandt werden soll: Es verbietet sich zu sagen, »Gott ist zornig« oder »Gott ist barmherzig«, denn damit reduzierte man die Eine Gottheit auf einen menschlichen Affekt. Das wäre eine unstatthafte Äquivokation.« 92

Man kann Gott aber auch mit nichts vergleichen, weshalb auch alle Relationsattribute unangemessen sind: »Die Ähnlichkeit ist eine gewisse Beziehung zwischen zwei Dingen, und wenn zwischen zwei Dingen keine Beziehung gedacht werden kann, so ist auch deren Vergleichbarkeit undenkbar. Ebenso besteht zwischen Dingen, die nicht vergleichbar sind, auch keine Beziehung, […] Da also die Beziehung zwischen uns und Gott oder streng genommen zwischen Gott und

90 91 92

Halbertal, Maimonides. Life and Thought, S. 290 f. Halbertal, a. a. O., S. 292 ff, S. 297. Seubert, Zwischen Religion und Vernunft, S. 15.

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einem anderen Wesen außer ihm als undenkbar erwiesen ist, so ist folgerichtig auch die Ähnlichkeit mit ihm undenkbar«. 93

»Denn so, wie man nicht die Größe einer Ameise mit der Farbe von Senf vergleichen kann, so auch nicht Gott mit irgendeiner Existenz.« 94 Und weiter sind alle positiven Eigenschaften insgesamt, die man ihm etwa zuschreiben könnte, nicht zutreffend: »Ebenso sollte derjenige, der glaubt, dass es Wesenseigenschaften gibt, durch die Gott bezeichnet werden kann, nämlich dass er existiert, lebt, allmächtig und allweise ist und einen Willen hat, verstehen, dass diese Bestimmungen, wenn sie auf Gott bezogen werden, nicht dieselbe Bedeutung haben, wie wenn sie auf uns bezogen werden.« 95

Maimonides reinigt daher gerade im Hinblick auf das Bilderverbot die biblischen Schriften von missverständlichen Formulierungen und lässt einzig negative Attribute und Wirkattribute zu. (Er interpretiert die Äußerung »Mein Angesicht kann nicht gesehen werden« wie folgt: »Das wahre Wesen meiner Existenz kann nicht so, wie es ist, begriffen werden.« 96) »Die verneinenden Aussagen von Gott sind (also) die wahren Aussagen, bei denen ein ungenauer Ausdruck nicht stattfinden kann« (ein mehr oder weniger), während »die Darstellung Gottes mit bejahenden Attributen die Aussage von Pluralität und Unvollkommenheit zur Folge hat […], denn eine Eigenschaft ist nicht nur dann eine solche, wenn sie das mit ihr Dargestellte ausschließlich kennzeichnet, sodass es diese Eigenschaft mit keinem anderen Dinge gemein hat, sondern auch dann, wenn es dieselbe auch mit anderen gemein hat und durch sie keine besondere Kennzeichnung stattfindet. […] Der Gesichtspunkt aber, durch den sich die bejahenden von den verneinenden unterscheiden, ist der, dass die bejahenden, wenn sie das Ding auch nicht kennzeichnen, doch irgendeinen Teil von dem ganzen Dinge bezeichnen, dessen Erkenntnis wir anstreben, sei es nun einen Teil seines Wesens, oder irgendeine seiner zufälligen Beschaffenheiten, während die verneinenden uns durchaus und in keiner Weise darüber Aufschluss geben, was das Wesen des Dinges sei, dessen Kenntnis wir anstreben. […] Somit kommt Gott auf keinerlei Weise ein positives Attribut zu.« 97

93 94 95 96 97

ben Maimon FdU S. 188 (Kap. 56). Levinger/Kasher, a. a. O., S. 173. a. a. O., S. 189. ben Maimon, FdU I, 37. a. a. O., S. 196 ff.

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Eine anthropomorphe Auffassung Gottes ist also unzulässig, er ist die Alterität schlechthin, wie Lévinas sagen wird, das absolut Fremde, das sich uns immer entzieht und entziehen muss, demgegenüber jedes Sprechen unangemessen ist, und das kein menschlicher Begriff erfassen kann. Seine Prädikationslehre führt Maimonides konsequenterweise letztlich zu einer Auffassung, dass die angemessenste Haltung Gott gegenüber das Schweigen sei, 98 denn jede bildhafte metaphorische Redeweise provoziert innere Vorstellungsbilder, die gefährlich sein können, da sie Gott verkleinern. Denn auch die göttlichen Namen, die man lieben soll, sind nur stellvertretend: »elohim« (den Plural interpretiert Maimonides mit »Gott und die Engel« [FdU I,2], um an späterer Stelle zu ergänzen, dass individuelle, natürliche und psychische Kräfte »Engel« genannt werden [FdU II,6], »El« (der »lebendige Gott«, was den Schöpfer im Gegensatz zur Schöpfung bezeichnet) 99 wie auch das spätere »En Zof« (für »Unendlichkeit«). Ebenso die »Vaterheit« und den hyperbolisierten höchsten Gottesnamen: die »Übergutheit«. 100 Das sich zeigende Eine kann einzig im Tetragrammaton JHWH angemessen »gefasst« werden, denn »Maimonides braucht, um zum Unaussprechlichen zu kommen, nicht noch hinter den letzten und ersten Eigennamen JHWH zurückzugehen. Das Tetragramm ist dadurch, dass es keinen Gegenbegriff kennt, jeder Form der Prädikation und des Urteils, jedem Hinweis auf Semantik, jeder Ableitung und Begründbarkeit enthoben, und so auch jeder Phonie. Das Tetragrammaton ist das stumme, schweigende Zeichen des absoluten, mit seiner Wesenheit identischen Gottes. Das Schweigen der prädikativen Sprache findet in dem Nichtaussprechen der Buchstabenfolge JHWH statt.« 101

Hier könnte sich eine Mystik anschließen, doch sie findet sich bei Maimonides explizit nicht. Dennoch kann man zwei Lesarten des »Führers der Unschlüssigen« feststellen, eine erkenntniskritische, skeptische und eine, die sich nach der Diskussion über die Grenzen der Sprache eröffnet und die Mosche Halbertal als »mystische Lesart« bezeichnet. Gibt es eine

Seubert, a. a. O., S. 154. Westerkamp, Via negativa. Sprache und Methode der negativen Theologie, S. 36 sowie Diamond, a. a. O., S. 35. 100 Westerkamp, a. a. O., S. 86. 101 Westerkamp, a. a. O., S. 87. 98 99

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nichtsprachliche, metalinguistische Erkenntnis Gottes, die nicht formulierbar ist? Nach dieser Lesart definieren die Grenzen der Sprache nicht die Grenzen des Wissens und des Erlebens, denn dem Schweigen folgt eine blitzartige große Erleuchtung, eine manchmal ekstatische Erfahrung von Leerheit, die erst nach der Auslöschung der Sprache geschieht, wenn das Bewusstsein von allen Inhalten befreit ist, und die nicht kommuniziert werden kann. 102 Maimonides lebte in einer Welt, in der das Platonische Erbe in arabischer Übersetzung präsent war. Anders als in Platons Höhlengleichnis, bei dem der Philosoph angesichts der Schau der Idee des Guten und Schönen verzückt verweilt, aber dann die moralische Pflicht empfindet, zurück in die Höhle zu seinen Mitmenschen zu gehen, um dort seine Erkenntnisse weiterzutragen, ist aber bei AlFārābī nicht nur Verantwortung das Motiv, sondern zusätzlich ein Überfließen der erlebten Fülle. Beides enthält die Bereitschaft, sich in das politische Leben der Gemeinschaft ziehen zu lassen, aber bei Maimonides wird der aristotelische Einfluss dann dergestalt deutlich, dass man zur Welt zurückkehren muss in der »imitatio dei«, und dies in seinem – gerechten und tugendhaften – ethischen Handeln erweisen muss. 103 Die ist wieder sehr rabbinisch, indem die Ethik vor der Kognition privilegiert wird. Lasker beschreibt, wie Maimonides sich in Übereinstimmung mit dem jüdischen Denken seiner Zeit gegen Christentum und Islam abgrenzte: Natürlich musste man die Lehre von der Dreifaltigkeit kritisieren, denn in ihr wurden Eigenschaften Gottes hypostasiert. Dazu noch hatte Maimonides im FdU 3,15 104 festgestellt, dass es »nach der Ansicht jedes einzelnen Forschers zur Klasse des Unmöglichen gehöre« […], »dass Gott seinesgleichen hervorbringen, sich selbst ins Nichtsein versetzen, sich verkörpern oder verändern könne.« 105 Nicht nur, dass Jesus wegen seiner außerehelichen Geburt als mamzer, als Bastard galt, er hatte auch behauptet, der verheißene Messias zu sein, und wollte, so meinte man, die Thora abschaffen, weswegen die Juden ihn exekutierten (was er verdient habe). Man

Halbertal, a. a. O., S. 301 ff. Halbertal, a. a. O., S. 306, 310. 104 Die Stelle befindet sich in der Meiner-Ausgabe des dritten Buches des FdU auf S. 83. 105 Lasker, Tradition and Innovation in Maimonides’ Attitude toward other Religions, in: Harris (Hg.), Maimonides After 800 Years, S. 167–182, hier: S. 170 f. 102 103

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glaubte auch, jemand nach Jesus, z. B. Paulus, habe das Christentum begründet. 106 Obwohl der Islam von Beginn an ein strenger Monotheismus mit dem Verbot der Idolatrie war, polemisierte Maimonides auch hier, denn für ihn war Mohammed nach Jesus und dem Gründer des Christentums die dritte Person, die versucht hatte, das Judentum spirituell zu zerstören, und er nannte ihn, wohl aus Abgrenzungsbedürfnis, »verrückt« (ha-meshuga), »disqualifiziert« (pasul) und bezichtigte ihn der Schriftfälschung (tahrif) und der Aufhebung des Gesetzes (naskh). 107 (Zudem muss man bedenken, dass nach der islamischen Eroberung Jerusalems im Jahr 638 die Muslime an genau der Stelle des ersten und zweiten Tempels ihren Felsendom errichteten, da angeblich von dieser Stelle aus Mohammed seinen Nachtflug in den Himmel angetreten hatte.) Beide Religionen verstießen aber auch gegen Deut 28,30, in dem ein Verbot der Verehrung von Menschenwerk »aus Holz und Stein« erlassen worden war: die Christen, indem sie ein hölzernes Kreuz, die Muslime, indem sie die steinerne Kaaba verehrten. 108 (Die man freilich auch als Symbole hätte deuten können.) Das alles waren bekannte Topoi, doch Maimonides ging darüber hinaus: Trotz allem waren diese Religionen (nach der Mischneh Thora) eine gute Vorbereitung für die Zeit der Erscheinung des Messias, wenn die Zweige des Baumes wieder eins werden können. 109 Denn in der imitatio dei geht es nicht mehr um Wahrheit oder Falschheit, jede Dogmatik ist suspendiert. Es geht nur noch um das Üben von Gnade, Recht und Tugend. »Dadurch, dass die imitatio dei doch wieder ein an Welt gerichtetes Tun ist, hat Maimonides die Antinomie von vita activa und vita comtemplativa überwunden. Das Ethos der Tat des biblisch-talmudischen Judentums und die Weltflucht der antiken Gnosis werden bei Maimonides zu einer neuen Einheit gebracht […]. Doch diese Nachahmung Gottes hat eigentlich nichts spezifisch Jüdisches mehr […]. Sie ist vielmehr das, was Judentum, Christentum und Islam gleichermaßen als das letzte Ziel ihrer Gesetze anerkennen können und anerkannt haben.« 110

106 107 108 109 110

Lasker, a. a. O., S. 171 f. Lasker, a. a. O., S. 175 zitiert den mir nicht zugänglichen Jemen-Brief. Lasker, a. a. O., S. 179 f. Lasker, a. a. O., S. 180 ff. Niewöhner, Maimonides. Aufklärung und Toleranz im Mittelalter, S. 33.

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Von daher kann man alle drei Offenbarungsreligionen als Erziehungsinstrumente sehen, die die Menschen dahin führen sollen, in der imitatio dei das Trennende ihrer je spezifischen Gesetze zu überwinden, deren Inhalt aus dieser Perspektive nur vorläufigen Charakter haben kann. Diese Aufklärung mündet in Toleranz. Wer sich, so Maimonides, im Sinn der Tugend verhält (zedaqua, im Arabischen mit sadaqa übersetzt, dem wichtigsten Begriff der islamischen Ethik), also als Freund handelt und um der Tugend willen Almosen gibt, um Bedürftigen aus einer unbedingten Verpflichtung heraus zu helfen, dem versichert sogar der Koran (Sure 9,11), er werde nicht mehr als Ungläubiger, sondern als Glaubensbruder angesehen. Damit deutet Maimonides an, »dass der, der das philosophische Sein erreicht hat, gemäß dem lebt, was das Zentrale aller drei Offenbarungsreligionen ist.« 111 Zwar gab RaMBaM, Mosche ben Maimon, auch zu Kontroversen Anlass (wie man sich denken kann) – provenzalische Juden riefen gegen ihn sogar die katholische Inquisition an –, doch im spätmittelalterlichen Judentum galt er als ein Geist, der in der Merkaba, dem Thronwagen Ezechiels, fahren durfte und damit höchste Verklärung erfahren hatte. 112 »Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang folgte ganz Israel der Führung ben Maimons.« Die dankbare Nachwelt verband sogar seinen Namen mit dem des ersten Moses und sagte: »Von Moses bis Moses gab es keinen anderen als Moses.« 113

2.1.4 Jüdische Mystik Während die negative Theologie einen erkenntniskritischen skeptischen Impuls enthält, liegt die Mystik auf einer anderen Ebene (obwohl beide oft zusammen auftreten), der des religiösen Erlebens. Für Albert ist es die Erfahrung oder Einsicht in die Einheit alles Seins, die Nietzsche bereits bei den Vorsokratikern finde: Wenn Thales sage »Alles ist Wasser«, sage er u. a. auch (neben einer Behauptung vom Ursprung des Seins) »Alles ist eins«. 114 Diese Erfahrung der Einheit von Ich und Weltgrund ist sprachlich nicht zu fassen, da laut Jaspers 111 112 113 114

Niewöhner, a. a. O., S. 36. Seubert, a. a. O., S, 155 (vgl. Derrida, Wie nicht sprechen, S. 9). Levinger/Kasher, a. a. O., S. 189. Albert, Einführung in die philosophische Mystik, S. 2 f.

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in der Sprache immer eine Subjekt-Objekt-Spaltung vorliege. 115 Die mystische Intuition, nach Nietzsche Ziel alles Philosophierens, muss also eine Anschauung sein, die nicht durch einen Akt des Verstandes zustande kommt, sondern durch unmittelbaren Anblick einer Wirklichkeit, der aber nicht durch die Sinne geschieht, »bei denen das Erkennende und Erkannte, Subjekt und Objekt, verschieden sind, sondern in einer mystischen Erkenntnisweise geistiger Art, in der Subjekt und Objekt zu einer Einheit verschmelzen.« 116 Diese unio mystica sei das Ziel mystischer Versenkung, in ihr könne der Mensch dem Göttlichen begegnen. Während also in der negativen Theologie auf der Ebene des begrifflichen Denkens, der Sprache und der Vernunft eine unendliche Distanz zwischen Menschen und dem göttlichen Wesen festgestellt wird, ist diese auf der Ebene des intuitiven Erlebens für Mystiker oft überbrückbar, denn hier wird ein direkter und unmittelbarer Kontakt zum Göttlichen gesucht. Gershom Scholem übernimmt zu Beginn seines Hauptwerkes über jüdische Mystik eine Definition von Rufus Jones, die den Vorteil hat, dass es in ihr nicht um das Erreichen einer unio mystica geht: »Ich werde das Wort Mystik für die Art von Religion gebrauchen, die auf einer unmittelbar wahrgenommenen Beziehung zu Gott beruht, auf einem direkten, fast greifbaren Erlebnis göttlicher Gegenwart. Dies ist Religion in ihrer tiefsten, innerlichsten und lebendigsten Form.« 117 Wie andere Religionen schritt auch das Judentum auf zwei parallelen Wegen voran, einem exoterischen und einem mystischen, wobei sich die jüdischen Mystiker nur ausnahmsweise von der Mehrheitstradition trennten, denn oft waren »dieselben Männer Gemeindefromme, rabbinische Gelehrte und Mystiker zugleich«. 118 Grözinger legt Wert auf die Feststellung, dass jede Epoche ihre eigene Mystik, oder besser, eigene Sprach- und Vorstellungswelt hat, um ihre mystischen Erlebnisse zu beschreiben. Was die antiken Mystiker der biblisch-rabbinischen Periode als Himmelsreise mit dem Ziel einer Vision oder Audition vor dem göttlichen Thron und oft auch als 115 Man kann allerdings nicht von der Sprachstruktur indogermanischer Sprachen auf andere Sprachfamilien schließen, speziell nicht auf Sprachen ohne grammatisches Subjekt. 116 Albert, a. a. O., S. 4. 117 Scholem, Die jüdische Mystik, S. 4 (Hervorheb. d. d. A.). 118 Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 35.

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personale Begegnung beschrieben, sei möglicherweise das gleiche Erleben wie das der mittelalterlichen Rede vom Aufschwung des Intellekts zur unio; und die griechisch-arabisch-jüdische Philosophie des Mittelalters gab wiederum neue Beschreibungsmöglichkeiten an die Hand, sodass »nicht das mystische Erlebnis ein anderes geworden ist, sondern die Möglichkeiten, dieses zu beschreiben.« 119 Die sehr alte jüdische Mystik (der Begriff ist übrigens ein christlicher Spätimport) war wegen ihrer Gefühlsdimensionen und Praxiseinbindung in das jüdische Leben im Volk verwurzelt, auch wenn sie zunächst in Form der sog. Thronsaalmystik (»Merkaba-Mystik«) in der talmudischen und nachtalmudischen Zeit eher an positiven Beschreibungen des Göttlichen orientiert war. Vom ersten vorchristlichen Jahrhundert bis ins zehnte wurde die mystische Schau aufgrund von Allegorien möglich, womit aber man immer noch im Bereich der Sprache bleibt. Stellvertretend für Gottes Ehre und Herrschaft werden ein prächtiger Thronsaal oder ein Thronwagen imaginiert. Die ältesten jüdischen Mystiker beschrieben also ihre Erfahrung in mentalen Bildern, die ihrem Anschauungskreis entsprachen, und schilderten eine ekstatische Erfahrung und Anschauung der Majestät Gottes und seiner Geheimnisse. 120 Durch fromme Versenkung imaginierte man einen Flug der Seele hinauf zum Göttlichen, und für Wolfson ist es ironischerweise gerade das vorgeschriebene Fehlen fester ikonischer Repräsentationen des Göttlichen im alten Israel seit der Zeit des 2. Tempels, das den andauernden Kontext für das Bedürfnis nach mentalen Visualisierungen des Göttlichen schuf. 121 Das Problem figuraler Repräsentation Gottes in Vorstellungsbildern wurde aber viel diskutiert, denn natürlich entstand eine Spannung zwischen dem Anikonismus der jüdischen Kultur und den mentalen Visualisierungen des Göttlichen. Zwar wusste man, dass Gott in seiner wahren Natur unkörperlich und unsichtbar sein musste, doch wie interpretierte man dann die Visionen der Propheten, denen Gott in Inkarnationen, einmal als alter Mann, einmal als Krieger (Güte und Gerechtigkeit symbolisierend) erschienen sein soll? 122

Grözinger, Jüdisches Denken, Band 1, S. 34. Scholem, a. a. O., S. 6. 121 Wolfson, Through a Speculum that Shines. Vision and Imagination in Medieval Jewish Mysticism, S. 6. 122 Wolfson, a. a. O., S. 38. 119 120

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Eine graduelle Spiritualisierung und Zurückweisung anthropomorpher Repräsentationen war die Folge dieser Diskussionen und fand in den rabbinischen Quellen der klassischen Periode (200–600 n. Chr.) ihren Niederschlag. 123 Die heute auch ganz allgemein »Kabbala« genannte jüdische Mystik 124 entstand in ihrer frühen Form im 2./3. nachchristlichen Jahrhundert, und als ihr Gründungsvater und Verfasser des Sefer Jezira zur Zeit des Bar-Kochba-Aufstandes gilt Rabbi Akiba. Man kann sie als Reaktion auf das Vakuum, das die mit Philon untergehende ägyptisch-neuplatonische Tradition jüdischer Philosophie hinterließ, sehen. 125 Für Westerkamp gibt es eine Begründung, die er in der Historiographie findet: »Immer dort, wo ein streng rationalistisches, mythen- und überlieferungskritisches philosophisches Denken den Ton angibt, provoziert es spiritistische und schwärmerische Gegenbewegungen; immer dort, wo sich das Potenzial streng argumentierender, den Geist der Massen aber überfordernder Philosophie erschöpft und deren Rationalismus versiegt, bricht sich der Mystizismus Bahn; denn jede Aufklärung produziert Gegenaufklärung.« 126

Ob man aber normativ die Mystiken aller Religionen als eine Art Gegenaufklärung abtun kann (obwohl sie gelegentlich so wirken können 127), ist noch die Frage; kann sie doch auch als Überschreitung, Vertiefung und Ergänzung des theoretischen Denkens gesehen werden. Zwar geht die Mystik von der Religion des Einzelnen aus – »long before subjectivity has learned to walk the way« (in der Tat kann man die Mystik als Wegbereiterin neuzeitlicher Subjektivität sehen), 128 – doch geht sie hin bis zu einer Aufhebung des Ich in einer größeren Einheit und kann trotz ihrer zunächst subjektiven, d. h. asozialen Tendenzen sogar gemeinschaftsbildend wirken und hat dies im Judentum auch getan. 129 Denn die gemachten ekstatischen Erfahrungen drängen in einer Art »overflow« zur Mitteilung und Narration und

Wolfson, a. a. O., S. 25 und 33. Bei Scholem findet sich der Terminus auch für die vormittelalterliche Mystik, bei Dan, Die Kabbala, aber im engeren Sinne z. B. erst für die seit der mittelalterlichen, zuerst auf der iberischen Halbinsel entstandene Form. 125 Westerkamp, Die philonische Unterscheidung, S. 63. 126 Westerkamp, Die philonische Unterscheidung, S. 61 f. 127 Scholem, a. a. O., S. 26. 128 s. Jonas, Myth and Mysticism, S. 328 f. 129 Scholem, a. a. O., S. 19. 123 124

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haben Traditionslinien etabliert, die Anleitungen zu mystischer Versenkung geben. Beeinflusst von der neuplatonischen Idee des Einen jenseits aller Bilder und Gestalten ist das Ziel einer »bildlosen Vision« ein Erlebnis von Einheit jenseits aller Differenzierungen. Dabei verhilft die »via negativa« zu einem allmählichen Wegdriften von Sinneserfahrungen und rationalen Begriffen: Durch Sichtbares hindurch muss das Unsichtbare verfolgt werden. 130 »Da, wo die Seele alles Begrenztsein ganz von sich abstreift und, um mit den Worten der Mystiker zu sprechen, in die »Tiefen des Nichts« hinabsteigt, da gerade begegnet sie Gott. Das »Nichts« nämlich ist ein Nichts voller mystischer Fülle, wenn es auch in keine menschliche Bestimmung gefasst werden kann. […] Das Nichts ist, mit anderen Worten, die Gottheit selbst in ihrem verborgensten Aspekt.« 131

Die Rede von der »creatio ex nihilo« bekommt für Mystiker also einen neuen Sinn: Dieses »Nichts« aus dem alles entsprungen ist, ist nicht bloß als Abwesenheit aller Bestimmungen Negation, weil es sich aller intellektuellen Erkenntnis entzieht. Es ist jenseits aller Differenzierungen und Definitionen »von unendlich höherem Sein als alles andere Sein in der Welt«, und so kann die Rede von der »Schöpfung aus dem Nichts« zum Symbol göttlicher Emanation werden. 132 Die Bewegung des deutschen Chassidismus im Mittelalter, und vor allem die vom iberischen Judentum beeinflusste Kabbala (die in Spanien zur Zeit des Maimonides entstand) sind von diesem Gedanken der Emanation beeinflusst, der sich bereits im Sefer Jezira findet, 133 wo auch zum ersten Mal von den 10 Urzahlen (Sefirot) und 22 Buchstaben des Alphabets die Rede ist, die wegen ihrer symbolischen Bedeutung als Ausfluss des göttlichen Geistes galten. Jede Sefira für sich und alle zusammen galten als Meditationshilfen und als Möglichkeit, in Gedanken zum Göttlichen aufzusteigen. In ihnen war das Göttliche gleichzeitig verborgen und enthüllt. 134

vgl. Wolfson, a. a. O., S. 8 Scholem, a. a. O., S. 27 (mit bemerkenswerter Nähe zur buddhistischen Mystik!). 132 Scholem, ebd. 133 etliche Originaltexte verschiedener Epochen finden sich in der von Cohn-Sherbok herausgegebenen Anthologie »Jewish Mysticism«, die auch über eine chronologische Tabelle verfügt. 134 Wolfson, a. a. O., S. 274, s. auch Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 37. 130 131

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Bild 2: Die 10 Sefirot und 22 Pfade im Kabbala-Baum nach Isaak Luria

Denn in den 10 Urzahlen und den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets (die für die Verbindungen zwischen den Sefirot standen 135) »leben die geheimen Kräfte, durch deren Zusammentreten die verschiedenartigen Kombinationen der Schöpfung zustande gekommen sind. Dies sind die ›zweiunddreißig geheimen Wege der Weisheit‹, auf denen Gott alles Wirkliche hervorgebracht hat«, 136 wobei die erste Sefira, Gottes Geist, alle anderen aus sich entlassen hat.

135 Grözinger, a. a. O., Bd. 2, S. 44–47 weist mit den 10 Urzahlen auf die Zahlenmystik pythagoreischen Ursprünge hin und beschreibt die Deutung der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets (es gab keine Konsonanten, die wurden durch Punkte markiert) als Gottes Schöpfungswerkzeuge. 136 Scholem, a. a. O., S. 82.

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Die Sefirot (Gottes Wirkkräfte) kommen als Selbstoffenbarung Gottes aus der Verborgenheit des Höchsten: »Die Kabbalisten kennen zehn Sefirot und benennen sie meist mit biblischen Namen: 1. Gottes Krone, 2. Weisheit, 3. Einsicht, 4. Gnade, 5. Strenge, 6. Schönheit und Name JHWH, 7. Sieg, 8. Majestät, 9. Pracht, 10. Reich Gottes und Schekina (die Einwohnung Gottes und seine Gegenwart bei seinem Volk Israel im Exil, auch das weibliche Element der Gottheit). Demnach ist z. B. der biblische Gott JHWH nicht der göttliche Urgrund selbst, sondern der Beginn der Selbstentfaltung Gottes. […] So wird der göttliche Urgrund auch das ›große Antlitz Gottes‹, JHWH das ›kleine Antlitz Gottes‹ genannt.« 137

Eine sehr frühe, bereits antike und weit verbreitete Lesart des Systems der Sefirot ist anthropomorpher Natur, indem mit ihnen der göttliche Leib imaginiert wird: »Die drei oberen Sefirot stehen für das göttliche Haupt, die nächsten beiden für den rechten und linken Arm, die sechste für den Körper oder das Herz, und zugleich für die Männlichkeit dieser Gestalt. Die nächsten beiden Sefirot repräsentieren die Beine, die neunte den Phallus und die zehnte einen eigenständigen Körper, jenen der weiblichen göttlichen Kraft.« 138

Wohl angeregt durch die Beschreibung des Geliebten im biblischen Hohelied der Liebe (5,10–16) wird der göttliche Leib des Schöpfers beschrieben und mit erotischen Konnotationen begleitet. 139 Doch spätere Deutungen der 10 Sefirot und der 22 Wege zwischen ihnen lösen sich von den anthropomorphen Deutungen und geben den geheimen Kräften Gottes einen abstrakteren Sinn. Für viele Kabbalisten repräsentiert das System der 10 Sefirot einen oder mehrere verborgene, geheime Namen Gottes. 140 Man setzte nun auf das nur hinweisende Symbol, alles schien symbolisch aufgeladen und mit geheimem Leben durchwirkt. Alles wurde in Beziehung zu Gottes Schöpfung und zum gebotenen Verhalten gesetzt. »Die jüdische Mystik hat dazu geführt, das Mysterium des Geschlechtlichen in Gott selbst zu finden […] So wurde jede wahre Ehe zu einer symbolischen Verwirklichung der Vereinigung Gottes mit der Schechina.« Der mystische Sinn der Ehe bestand also

137 138 139 140

Trutwin, Wege zum Licht, S. 82 f und 45. Dan, Die Kabbala, S. 69. ebd. Dan, Die Kabbala, S. 71.

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in der Realisierung des »biblischen Erkennens« von Mann und Frau, was stets eine unio realisieren heißt. 141 Daher ist auch die Mystik des Mittelalters sexualisiert und erotisch aufgeladen, denn es galt auch, mit dem Bild vom göttlichen Phallus ein Symbol für Schöpferkraft zu imaginieren, das sich wie Gott verbergen muss und aus dieser Verborgenheit in die Welt hinein zeugend wirkt, 142 weswegen die unterste Sefira, die Schechina, als das weibliche und empfangende Element, die Aufnahme des göttlichen Schöpfungswirkens, also auch als Welt gedeutet werden kann. Scholem hält die prophetische Kabbala (»Überlieferung«, »Tradition«), die im 12. Jahrhundert in Frankreich und Südspanien entstanden war und sich später über andere europäische Länder im ashkenasischen Judentum bis hin nach Safed in Galiläa verbreitete und in populärer Form noch heute lebendig ist, im Vergleich zu anderen Ausprägungen der Mystik für die aristokratische Form der Mystik. Insbesondere das Buch Sohar (verfasst von Moses de León) sei mit seiner theosophischen Lehre und der Form des Kommentars tief an jüdische Denkgewohnheiten gebunden, anders als ihnen eigentlich fremd gebliebene Formen der Systematisierung und stellte »in der Hauptsache einen Versuch dar, die Substanz des naiven Volksglaubens, der durch die rationale Theologie der Philosophen in Frage gestellt worden war, zu erhalten.« 143 Der Sohar sollte einen symbolischen Subtext der Thora aufdecken und fand mystische Symbole für die innergöttliche Dynamik, und die beiden letzten Sefirot werden als nacheinander verlangende Liebende beschrieben, und doch sind diese 10 Dimensionen göttlichen Wirkens alle ein Licht. 144 Die Kabbala verbindet Gottesspekulation und Schöpfungsdramen, Seelenlehren und Erlösungshoffnungen miteinander und erlangte später bei den Kabbalisten fast kanonische Geltung. Die Gottheit, die die Kabbalisten »En-Sof« (»das Endlose«, »das Unerfassbare«) nennen, ist verborgen, einzig, absolut jenseitig, für den Menschen unerreichbar und unzugänglich. Sie ruht in sich und kann

Scholem, a. a. O., S. 256. Wolfson, a. a. O., S. 279, 285 f, 395 ff, vgl. auch Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 34 f. 143 Gershom Scholem, a. a. O., S. 224 f. 144 Fishbane, The Zohar. Masterpiece of Jewish Mysticism, in: Greenspahn (Hg.), Jewish Mysticism and Kabbalah, S. 50 und 62. 141 142

107 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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als »Verborgenheit aller Verborgenheit« bezeichnet werden. 145 Dabei wird deutlich, dass die Mystik der Kabbala – im folgenden Zitat unter Einbeziehung der Lichtmetaphysik Plotins, von der noch zu reden sein wird – eine Ergänzung der negativen Theologie sein kann: »Der verborgene Gott, sozusagen das innere Selbst der Gottheit, hat weder Bestimmungen noch Attribute. Dieses innerste Selbst nennen der Sohar und die meisten Kabbalisten gern En Sof, das heißt, das Unendliche. Wo aber dieses verborgene Selbst im Weltprozess wirkend hervortritt, kommen ihm positive Attribute zu. […] Beide Welten bilden in Wahrheit eine dynamische Einheit wie die Kohle und die Flamme – um den Vergleich des Sohar zu gebrauchen – das heißt, die Kohle besteht auch ohne die Flamme, aber ihr geheimes Leben offenbart sich erst, wenn es sich in der Flamme verströmt. Die mystischen Attribute Gottes sind solche Lichtwelten, in denen das dunkle Wesen von En-Sof sich manifestiert.« 146

Dabei geht auch die Symbolik vom mystischen Begriff des Nichts aus: Die Wendung des verborgenen En-Sof zur Schöpfung ist wie ein »Ruck, der die in sich selbst versunkene Gottheit, ihr nach innen strahlendes Licht, nach außen treten und hervorbrechen lässt«, […] »und verwandelt En-Sof, die unaussprechliche Fülle, zum Nichts […], aus dem alle anderen Stufen der Selbstentfaltung Gottes in den Sefirot hervortreten. Dieses geheimnisvolle Nichts, das die Kabbalisten als erste Sefira, auch als die höchste Krone der Gottheit bezeichnen«, […] ist der »Bereich des Beziehungslosen, des puren Seins«, des völlig Bestimmungslosen, das der Mystiker eben »Nichts« nennt. 147 Das mystische Nichts, das vor der Spaltung der Uridee in das Denkende und das Gedachte liegt, ist für den Kabbalisten kein wirkliches Subjekt.« 148 Und das ähnelt Derridas Idee von der »différance«, aus der heraus sich alle Gegensätze erst entfalten, ohne dass sie selber als »Sein« bezeichnet werden könnte. 149 Mit dieser Lehre von den 10 Sefirot und dem sich entäußernden En-Sof wird zwischen dem Anthropomorphismus der Thora und dem Gottesverständnis der negativen Theologie vermittelt. Das Schweigen und das Reden von Gott sind in der Kabbala miteinander versöhnt. Doch die Kabbala war als Geheimlehre an das rabbinische Juden145 146 147 148 149

Trutwin, Wege zum Licht, S. 82. a. a. O., S. 227. a. a. O., S. 237. a. a. O., S. 241. vgl. Derrida, Die différance, in: ders., Randgänge der Philosophie, S. 31–56.

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tum gebunden, sie war vielen Juden gar nicht bekannt, erst recht zur Zeit der großen Aufklärer Hermann Cohen und Moses Mendelssohn galt sie als überholt und geriet mehr und mehr in Vergessenheit. In der Tat war die jüdische Mystik lange Zeit verschüttet, und die Wiederentdeckung und Erforschung wird Gershom Scholem zugesprochen, der 1897 in Berlin geboren wurde, zu einer Zeit, als in Europa die christliche Mystik eine Renaissance erlebte. Der konservative Rabbiner, jüdische Religionsphilosoph und Mystiker Abraham Joshua Herschel (1907–1972), der kurzzeitig Nachfolger Martin Bubers am Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt war, hatte noch geklagt, dass in der jüdischen Tradition der mystische Geist diskreditiert worden sei. 150 Scholem erforschte die geschichtlichen Strömungen der jüdischen Mystik und machte sie seinem Volk als altehrwürdige Tradition erst wieder bewusst. Im Unterschied zur christlichen Mystik, wo es um eine rein geistige Liebe und Verschmelzung gehen muss, spielte Askese dabei keine Rolle, zu stark wirkte das Gebot »Seid fruchtbar und mehret Euch«. 151 Daraus ergibt sich die Pflicht, das Leben durch Kinderzeugung zu vermehren und nicht etwa durch Morden zu vermindern. 152 Es muss noch erwähnt werden, dass etwa zeitgleich mit der Entstehung des Buches Sohar (und unabhängig davon) im deutschen und nordfranzösischen Judentum die chassidische Bewegung zur Volksfrömmigkeit gehörte, als deren wichtigstes Dokument der »sefer chassidim«, das »Buch der Frommen«, gelten kann, das eine soziale Ethik propagierte und von der Merkaba-Mystik und der volkstümlichen christlichen Mystik jener Zeit inspiriert war. 153 Doch sie ging noch über die ekstatische Schau der alten Thronmystik hinaus: Neben eine eigene Theologie der Geschichte und zahlenmystischen Erwägungen sowie eine Gebetsmystik, die das Gebet als Aufstieg auf den Stufen von Jakobs Himmelsleiter verstand, tritt ein durchaus unintellektueller, religiöser und moralischer Wert des jeweiligen Chassids, zu dem es keine besondere Gelehrsamkeit braucht, sondern 1. asketische Abwendung von den Dingen dieser Welt, 2. vollkom-

150 Herschel, Der einzelne Jude und seine Pflichten, in: ders., Die ungesicherte Freiheit, S. 158. 151 Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, S. 257. 152 Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 282. 153 Scholem, a. a. O., S. 87–91.

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mener seelischer Gleichmut und 3. ein ins Extreme getriebener prinzipieller Altruismus, was den Menschen zu den Stufen der wahren Gottesfurcht und Gottesliebe führen soll, die auf dem höchsten Gipfel miteinander verschmelzen, da ein mystischer Stand eine Überflutung der Seele mit Freude bewirke, die alles Diesseitige und Egoistische hinwegschwemme. 154 Auch die spätere Bewegung des polnischen und ukrainischen Chassidismus des 18. Jahrhunderts, die Scholem einstweilen als letzte Phase der jüdischen Mystik ausmacht, wollte zum mystischen Moralismus erziehen, verfügte aber auch über die Quellen der Kabbala. Auch hier waren die Leitfiguren nicht die rabbinischen Thora-Gelehrten, sondern charismatische Führer, die die Kabbala popularisieren wollten und als Heilige (»Zaddikim«) galten. Sie bedienten sich auch magischer Praktiken und bekamen gefährliche Macht, denn dieser Chassidismus, »der aus den Kreisen der rabbinischen Ungelehrten als eine typische ›Erweckungsbewegung‹ entstanden ist, hatte von vornherein das Ziel breiter Wirkung vor Augen«, 155 ganz im Gegensatz zur frühen esoterischen Kabbala, die als rabbinische Geheimlehre galt. »An die Stelle dieser Lehrer des Gesetzes tritt nun ins Zentrum der Bewegung der ›Erweckte‹, der, dem Gott ans Herz gerührt und es verwandelt hat, der Typus des Propheten«, und so wurde der Glaube »in einer ganz besonderen und entscheidenden Bedeutung gegen das Wissen an die Spitze der Wertskala gerückt«. 156 Der Zaddik, dessen magnetische und beherrschende Persönlichkeit zum Geheimnis seiner Macht beitrug, galt als lebendige Verkörperung der Mystik. 157 Durch diese Personalisierung bekam die Mystik eine ganz neue Färbung, da sie nun nicht mehr als Theosophie galt, sondern als Instrument psychologischer Vertiefung und Selbstanalyse, denn als wirklich wichtig galt nur der Weg, die Mystik des persönlichen Lebens, den die Zaddikim wiesen, die als lebendig gewordene Thora galten 158 und ganz natürlich aus einer unmittelbaren religiösen Erfahrung lebten. 159 Damit wurden sie zugleich Volksführer und konnten als Zentrum von Gemeinschaften auftreten, denn »wer den tiefsten Grad von Einsamkeit erlangt hat, wer wirklich imstande ist, allein mit Gott 154 155 156 157 158 159

Scholem, a. a. O., S. 99 und 103. a. a. O., S. 361 und 383. a. a. O., S. 366. a. a. O., S. 370 f. a. a. O., S. 374 f und 378. a. a. O., S. 381.

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zu sein, der ist das eigentliche Zentrum der Gemeinschaft, der hat den Punkt erreicht, von dem aus alle wahre Gemeinschaft möglich wird«. 160 Diese wird auch dadurch erreicht, dass sich die Zaddikim »zu Anwälten des ungebrochenen und unverkrüppelten Glaubens des einfachen Mannes aufgeworfen und […] diesen Glauben als höchsten Wert glorifiziert« haben. 161 Auch die Sprache wurde angepasst, die Theologie wurde in die vielen chassidischen Geschichten gekleidet, auch die Erfahrung von der Immanenz Gottes im mystischen Erleben. Für Derrida zerstören noch heute »all die Kräfte der Abstraktion und der auflösenden Trennung (Entwurzelung, Entortung, Entkörperlichung, Formalisierung, verallgemeinernde Schematisierung, Objektivierung, Telekommunikation, usw.)« die Religion, »ohne Gebet und Opfer«, wie jede Ontotheologie, die schon Heidegger als Präsenzmetaphysik kritisiert hatte. 162 Doch die Religionen, die über zwei »Adern« oder »Quellen« verfügen, deren eine »immer unerreichbar bleibt« (was jeden Dogmatismus verbietet), haben reaktives Potential, müssen »stets wieder von neuem anheben« und können u. a. gerade aus ihrer jeweiligen Mystik immer neu schöpfen. 163

2.1.5 Symbolik und jüdische Kunst Wie ist unter solchen Bedingungen einer mehr auditiven, verbalen Kultur mit Bilderverbot überhaupt Kunst möglich? Cohn-Wiener schreibt dazu: »Offenbar schätzen wir unsere religiöse und geistige Vergangenheit weit höher als unsere künstlerische und empfinden jüdische Kunst an sich als illegitim, höchstens als geduldet. Tatsächlich war eine jüdische Kunst vom Umfang und der Bedeutung der ägyptischen oder griechischen an sich unmöglich. […] In Israel verabscheute gerade die religiöse Intensität die Gottdarstellung bis zum Ekel.« 164 a. a. O., S. 376 f. a. a. O., S. 380. 162 Derrida, Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der »Religion« an den Grenzen der bloßen Vernunft, in: Derrida/Vattimo (Hg.); Die Religion, S. 9–106, hier S. 11, S. 28, vgl. auch Teil 5. 1 und 5. 3. 163 Derrida, a. a. O., S. 34, 40 und 56 (mit den zwei Quellen sind wohl via positiva und die mit der Mystik verknüpfte via negativa gemeint). 164 Cohn-Wiener, Die jüdische Kunst, S. 1 f. 160 161

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Es ging aber nicht nur um Darstellungen Gottes. Im Deuteronomium 4 steht ausdrücklich auch das Verbot der Darstellung von Menschen und Tieren. Doch schon der 1. salomonische Tempel soll Cherubimdarstellungen enthalten haben, die nicht nur als Symbol der Allmacht Gottes, sondern auch als Thron eines unsichtbaren Gottes galten, im Vorhof soll es ein aus Metall gegossenes Wasserbecken gegeben haben, das zwölf Rinder auf ihrem Rücken trugen, 165 und in etlichen Synagogen gab es Löwendarstellungen als Symbol für den Stamm Juda. Eine Möglichkeit der »Darstellung« eines Nichtdarstellbaren ist also die Interpretation als hinweisendes Symbol, denn sein Konzept fungiert nicht abbildtheoretisch. Das Symbol nämlich ist »als künstlerische Form bedeutungslos […] und (hat) seinen Wert in dem Begriff, der hinter ihm steht.« 166 Die oft verwendeten Symbole sind von unterschiedlicher Qualität, teilweise mit optischer Ähnlichkeit stilisiert, teilweise aber auch abstrakter, wie der Stern Davids, dessen zwei ineinander gestellte Dreiecke den Bund des Menschen mit Gott versinnbildlichen, denn das untere Dreieck weist nach oben als Zeichen der Hinwendung der Menschen zu Gott, das obere zeigt von oben nach unten, als Zeichen der Zuwendung Gottes zu seinem auserwählten Volk. Das Widderhorn Schofar, das am jüdischen Neujahr Rosch Haschana geblasen wird, steht für Neubeginn und Trennung, die Menorah, der siebenarmige Leuchter, im Unterschied zum achtarmigen Leuchter an Chanukka, erinnert mit der heiligen Zahl 7 u. a. an die sieben Tage der Schöpfung und die sieben damals bekannten Planeten, die stilisierten Thora-Rollen stehen für das geoffenbarte Wort Gottes, der Buchstabe Aleph für den Anfang der Welt, also die Schöpfung Gottes, und die Taube über den Wassern symbolisiert den Frieden, den Gott mit den Menschen nach der Strafe der Sintflut schloss, so wie man im Gebetshaus ein Symbol für die gläubige Gemeinde sehen kann. Dennoch gab es neben den Symbolen auch immer jüdische Kunst, die sich zunächst am ornamentalen Schmuck von Gebrauchsgegenständen, Bauten und Grüften manifestierte. Sogar Reliefplastik und Schmuckmalerei waren zugelassen, »solange sie sich nicht in der Nähe des Heiligsten oder an ihm befanden.« 167 So gab es natürlich auch Buchmalerei: Zwar blieb die Thora bildlos, doch viele Bücher 165 166 167

Künzl, Jüdische Kunst von der biblischen Zeit bis in die Gegenwart, S. 7. Cohn-Wiener, a. a. O., S. 4. a. a. O., S. 8 f.

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des Alltags wurden in späterer Zeit mit Bildern ausgeschmückt. So z. B. wurde auch die Haggada, die beim Seder in der Familie vorgelesen wurde, für die Kinder mit Bildern ausgeschmückt, Bibeln für den privaten Gebrauch und die Mischneh Thora des Maimonides »illuminiert«. 168 Das Bilderverbot hatte sich im 3. Jahrhundert spürbar gelockert. Es werden Ausnahmen zugelassen, etwa zu Lehrzwecken, menschliche Teildarstellungen werden erlaubt. »Das Bedürfnis nach Schaubarkeit der heiligen Geschichten, nach bildnerischen Schmuck und nach bildhafter Vergegenständlichung« ließ sich auch bei den Juden nicht unterdrücken, und man duldete Standbilder, die zur Dekoration an wenig prominenten Stellen aufgestellt wurden, da dies die Gefahr der Idolatrie minimierte 169. Die Juden haben seit der Spätantike immer, darauf weist Künzl hin, als Minderheiten in den verschiedenen Kulturkreisen gelebt und sich den künstlerischen Konventionen des jeweiligen Landes angepasst. Doch es gab Grenzen: bis heute gilt das Verbot der Darstellung Gottes, der nicht vorstellbar und daher auch nicht darstellbar sein konnte. 170 Als man 1929 die frühbyzantinischen Bauten der Synagoge von Beth Alpha entdeckte, fand man Bodenmosaiken mit figürlichen Szenen, und wenige Jahre später fand man die Synagoge von Dura Europos in Syrien mit reichen figürlichen Fresken und vermutete zunächst christliche Auftragsarbeiten, was sich aber später auch für figürliche Buchillustrationen als falsch herausstellte. 171 Lippold glaubt, dass die Bildfreudigkeit des Hellenismus ausgestrahlt habe und in die Fresken von Dura Europos ohne Bedenken auch heidnische Bildformen einbezogen wurden. »Offenbar sind für die Rabbinen von Dura Europos die Wirkkraft des unsichtbaren Jahwe, welche die Götzenbilder zerstört, und die bildliche Darstellung dieses Vorgangs kein Widerspruch mehr. Trotzdem deuten auch hier einige Indizien auf Reste einer Bildnisscheu, die durchaus archaischen Ursprungs sein kann: Bei dem Fresko mit der Opferung Isaaks fehlen die Gesichter«, auch »sind vielen Gesichtern die Augen ausgekratzt worden.« 172 Magall, Kleine Geschichte der jüdischen Kunst, S. 222 und 256. Zur Buchmalerei ausführlicher Magall, a. a. O., S. 218–262 und Künzl, a. a. O., S. 61 ff. 169 Lippold, Macht des Bildes, S. 50. 170 Künzl, a. a. O., S. 9. 171 Künzl, Jüdische Kunst, S. 8 f. 172 Lippold, a. a. O., S. 50 f. 168

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Für Magall beweisen die tierischen und menschlichen Darstellungen auf Mosaikböden in Synagogen aus römischer und byzantinischer Zeit, »dass die rabbinischen Behörden zu jener Zeit die Götzenanbetung nicht mehr als Gefahr betrachteten und diese Darstellungen deshalb sogar in ihren Synagogen duldeten«. 173 Zu weniger laxen Auslegungen des Bilderverbots bis hin zu Bilderstürmen kam es erst im 6. und 7. Jahrhundert, als unter dem Einfluss des islamischen Bilderverbots die rabbinische Praxis wieder strenger wurde, denn »die Juden konnten sich als Volk des Buches nicht erlauben, in solchen Zeiten weniger streng vorzugehen als ihre nichtjüdischen Nachbarn.« 174 Die Erforschung der jüdischen Kunst ist nach Künzl ein schwieriges Unterfangen. Sie weist kein einheitliches Erscheinungsbild in bestimmten Epochen auf, denn erstens sind z. B. die sephardischen Juden auf der Iberischen Halbinsel und die ashkenasischen in Mittelund Osteuropa in andere Kulturkontexte eingebunden, zweitens aber wurde viel zerstört bzw. ist uns nicht erhalten: Bei der Eroberung Jerusalems durch Rom wurden viele Kultgegenstände – auch des 2. Tempels – geraubt und im römischen Triumphzug als Beute mitgeführt (was man heute noch auf dem Titusbogen in Rom sehen kann); sie gelten als verschollen. England vertrieb die Juden Ende des 13. Jahrhunderts, Frankreich wies sie 1394 aus, und Spanien sowie die damals zu Spanien gehörende Insel Sizilien mussten sie 1492 verlassen. Im ersten Fall ist keine Synagoge erhalten, im zweiten Fall wurden die mittelalterlichen Bauten entweder abgerissen oder umgenutzt, in Kirchen umgewandelt. Und im letzten Fall wurden viele kostbare Stücke geraubt und eingeschmolzen, 175 was auch für die Katastrophe des Holocaust in Deutschland gelten muss; auch hier wurden viele Synagogenbauten in Mittel- und Osteuropa zerstört. Künzl kommt zum Schluss, dass es zwar keinen jüdischen Kunststil gibt, da Juden immer als religiöse und kulturelle Minderheit in anderen Ländern lebten und die Stile der jeweiligen Kunst für sich adaptierten. Doch ganze Typen von Kunstwerken, wie z. B. der Thoraschmuck, sind nirgendwo sonst zu finden und müssen als jüdische Kunst gelten: Die Thorarollen sind oft in einen kostbar geschmückten Mantel gekleidet, um die Schrift vor den Blicken der Gläubigen zu verbergen, 173 174 175

Magall, Kleine Geschichte der jüdischen Kunst, S. 219. ebd. Künzl, a. a. O., S. 44.

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und im Thoraschrein aufbewahrt, der durch einen oft ebenfalls kostbaren Vorhang vom Gebetsraum der Synagoge getrennt ist, analog zum Vorhang im 1. und 2. Tempel. Kunstvolle Bearbeitungen von liturgischem Gerät, z. B. dem Thorazeiger, waren aber erlaubt. Ebenso gab es in den Synagogen symbolische Darstellungen, z. B. in Form der Menora oder des achtarmigen Chanukka-Leuchters, was zu einer Anregung des Kunsthandwerks führte und zu einem besonderen Zweig in der Erforschung der spärlich erhaltenen antiken und mittelalterlichen jüdischen Kunst, der Ornament- und Symbolforschung. 176 Auch die architektonische Konzeption von Synagogen ist neben ihrer Ausschmückung 177 von Interesse, wie auch die Geräte des Alltags, etwa im Zusammenhang mit dem täglichen Gebet oder dem Seder, dem jährlichen häuslichen Pessach-Mahl, bei dem bestimmte Speisen in Erinnerung an bestimmte Stationen jüdischer Geschichte gegessen werden. Allerdings hatten Juden keinen Zutritt zu christlichen Bauhütten, und es war ihnen in vielen europäischen Ländern bis ins 18. Jahrhundert verboten, den Beruf des Gold- oder Silberschmiedes zu ergreifen, weshalb jüdische Kunst oft Auftragskunst sein musste. 178 Zudem stellt Cohn-Wiener einen zunehmenden Druck mit der Ghettoisierung fest (Das erste Ghetto gab es schon um das Jahr 1000 in Speyer): »Die freie Schöpferkraft, die der Phantasie das letzte abringt, konnte im Ghetto nicht gedeihen. Der Mensch vergrübelte. Es lässt sich verfolgen, wie von Jahrhundert zu Jahrhundert der Umkreis des Schaffens immer enger wird. Erst die Gegenwart hat diese inneren Fesseln gesprengt, als die äußeren fielen.« 179

Die in vielen Ländern einsetzende »Emanzipation« brachte den Juden dann die vollen Bürgerrechte einschließlich des Zugangs zu bis dato versperrten Berufstätigkeiten. Zunächst erfolgte sie in den USA durch die amerikanische Bill of Rights 1776, dann 1791, zwei Jahre nach der Französischen Revolution, in Frankreich, dann 1796 und 97 in Holland und Italien, dann kamen ab 1800 die deutschen Staaten Lenhart, Du sollst Dir ein Bildnis machen, Kap. 1.2 und S. 78 f. s. etwa van Voolen, a. a. O., S. 36–45 (Dura Europos, Beth Alpha, Prager Jerusalem-Synagoge und Santa Maria la Blanca, Toledo) und Künzl, a. a. O., zu Synagogen im 19. und 20. Jahundert, S. 137–172. 178 Künzl, a. a. O., S. 10 f. 179 Cohn-Wiener, a. a. O., S. 10. 176 177

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nach und nach hinzu, Dänemark 1814, Schweden 1865 und im Jahr darauf Großbritannien. Österreich folgte 1867, die Schweiz 1879. 180 Zwar gab es noch mancherlei Diskriminierungen, z. B. auch durch die eingeschränkte Wahl des Wohnorts in Ghettos. In Russland fanden weiterhin Diskriminierungen durch die Zaren statt; allgemeine Bürgerrechte gab es hier erst nach der Oktoberrevolution, die aber nur einige Jahre währten, bis die kommunistische Unterdrückung der Juden und der jüdischen Kultur begann. 181 Dennoch begann in Westeuropa durch Aufgabe der Geschlossenheit der Ghettos die Auflösung der Traditionsgemeinschaften, obwohl oft immer noch die Art der Berufe, die Juden offenstanden – mit Ausnahme von Handel und Geldverleih – begrenzt war. 182 (Der Aufklärer Moses Mendelssohn, der sich für eine Trennung von Kirche und Staat einsetzte, formulierte: »Man bindet uns die Hände und macht uns zum Vorwurf, dass wir sie nicht gebrauchen«. 183) Die Assimilation verlief aber unterschiedlich schnell, sowohl durch erstarkenden Nationalismus von innen und Antisemitismus von außen. 184 Doch das erstarkende Selbstbewusstsein weltweit fand seinen Niederschlag in der Kunst und eigener künstlerischer Tätigkeit, und den Tüchtigen und Begabten – z. B. in akademischen Disziplinen – gelang der Aufstieg. 185 Das wirft die Frage auf, was denn eigentlich jüdische Kunst – im Wandel der Zeiten – sei: Solche, die von Juden gefertigt war, die im Auftrag von Juden nach jüdischen Vorstellungen entstand oder solche mit jüdischen Sujets, also etwa auch von Nichtjuden entworfene Dar-

180 Katz, Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft, S. 14 ff macht deutlich, dass diese Emanzipationsbewegungen nicht unabhängig voneinander verliefen: »Der wechselseitige Einfluss darf nicht ignoriert werden. Das Beispiel und die Lehren deutscher Reformatoren wie Moses Mendelssohn machten ihren Einfluss auf französische Juden geltend; und der politische Fortschritt, den die französischen Juden durch die Revolution in Frankreich erfuhren, wirkte sich ebenfalls auf das deutsche Judentum aus. Den holländischen Juden wurde durch die Eroberung Hollands durch die Franzosen 1795 die Staatsbürgerschaft gewährt, wobei die holländische Nationalversammlung dem französischen Beispiel folgte. […] Es besteht kein Zweifel, dass zwischen den Ereignissen in den einzelnen Ländern eine Verbindung bestand.« 181 van Voolen, a. a. O., S. 30 f. 182 Katz, a. a. O., S. 19, 21 und 28. 183 Katz, a. a. O., S. 72 ff. 184 Katz, a. a. O., S. 241. 185 Katz, a. a. O., S. 32.

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stellungen jüdischen Lebens und jüdischer Kultur, wie z. B. die vielen Darstellungen von Beschneidungsszenen seit der Renaissance. 186 Cohen stellt sich die Frage, wieso es so spät zu jüdischer Porträtmalerei kam. So ziert ungewöhnlicherweise ein Porträt des Autors der Historia deʾ riti Hebraici in einer späten Ausgabe von 1638 ein Frontispiz, was zur damaligen Zeit mit der Erfindung des Buchdrucks allgemein üblich geworden war, doch nicht für Bücher jüdischer Autoren. Cohen glaubt, dass Leon Modena sein Buch für Christen, mit denen er über Fragen des Glaubens viele Unterredungen geführt hatte, annehmbarer machen wollte. 187 Es gab dann Auftrags-Porträts reicher Juden in prächtigem Barockhabit einschließlich Allonge-Perücke, die Offenheit gegenüber der Gesellschaft außerhalb des Ghettos zeigen sollten, womit z. B. Jacob Baruch Carvalho 1687 in Italien auch wirtschaftlichen Erfolg demonstrieren wollte. 188 Im Hochmittelalter und in der frühen europäischen Neuzeit unterschieden sich Porträts von Juden und jüdischem Leben noch durch allegorische und symbolische Repräsentationen. Das trug ihnen den Ruf einer Gegenkultur mit vielen anachronistischen Elementen ein. Doch im frühen 17. Jahrhundert begann sich eine andere Einstellung zum Porträt und zur ikonographischen Tradition abzuzeichnen. Für diese Bewegung in der Kunst weg vom Symbolismus und hin zum Realismus macht Cohen aber u. a. auch eine sich wandelnde Perspektive in den Naturwissenschaften verantwortlich, in der Beobachtung und Experiment und die damit einhergehende Privilegierung des Sehens zentral für das Verstehen und Einordnen wahrgenommener Phänomene wurden. In dieser Zeit des Wandels wurde das Judentum zuerst in Westeuropa, dann in Osteuropa heterogener; viele entfernten sich von traditionellen Verhaltensmustern, andere behielten ihr traditionelles orthodoxes Verhalten bei. Die Rabbinen bekamen also besondere Bedeutung, und um besonders charismatische Personen entstand ein Personenkult, der zur Entstehung der Gattung der rabbinischen Porträts und ihrer weiten Verbreitung führte. Manchmal wurden diese Porträts sogar neben mizrachim aufgehängt (der »Osten« wurde

186 187 188

Cohen, Jewish Icons, S. 36–42. Cohen, a. a. O., S. 28 f. Cohen, a. a. O., S. 30 f.

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durch kleine Zeichnungen oder Pergamente an den östlichen Wänden von Häusern und Synagogen angezeigt, um die Gebetsrichtung zu bezeichnen 189). Die Vergegenwärtigung einer verehrten Person im Bild, auch wenn sie schon gestorben war, hielt das Andenken aufrecht. (So findet heute auch in Yad Vashem, der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte, eine Vergegenwärtigung der Opfer mittels Fotografien statt.) Die Verehrung rabbinischer Porträts war damals trotz ihrer großen Verbreitung aber strittig, denn es entstand um die Verehrung besonders herausragender Gestalten jüdischen Glaubens eine Art Heiligenkult. »No uniform halakhic position predominated. Some rabbis took an extreme position rejecting any form of human figure, while many others, from different countries and periods, permitted it so long as the portrait showed only half the body and was not executed in any form of sculpture or relief.« 190

Oft wurden sie mit Büchern abgebildet, um daran zu erinnern, dass das Judentum eine Buchreligion ist, wie z. B. Hakham Zevi Ashkenazi im 18. Jahrhundert, der zur Sicherheit auf einen aus seinem Buch herausragenden Zettel mit der Aufschrift »Gott ist Einer« zeigt, um das, was man im Islam die »Sünde der Beigesellung« (shirk) nannte, zu dementieren. Obwohl sich der Rabbi der Abbildung zunächst verweigerte, ließ er sich doch durch die sephardische Gemeinde in London umstimmen, die für eine Zeit seiner Abwesenheit ein Erinnerungsbild von ihm haben wollte. Sein Sohn war völlig bestürzt, dass es so lebendig und lebensecht wirkte, und viele Kopien davon wurden für große Summen auf Londoner Märkten verkauft. 191 Auch der ungarische Rabbi Yehuda Aszod soll sich lebenslang gegen ein Bild von sich gewehrt haben, doch bei seinem Tod waren seine Schüler so verzweifelt, dass die auf der Beerdigung anwesenden Rabbinen entschieden, dass ein Foto gemacht werden durfte. Yehuda Aszod wurde dafür in Sabbatgewänder gekleidet und mit einem Traktat in den Händen in einen Stuhl gesetzt. Die Abzüge des Fotos ver189 190 191

Cohen, a. a. O., S. 127. Cohen, a. a. O., S. 126. Cohen, a. a. O., S. 115 f.

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Bild 3: Porträt des Rabbi Tzvi Hirsch ben Yaakov Ashkenazi (1714)

kauften sich so gut, dass man die Hochzeit seiner Töchter damit finanzieren konnte, doch berichtet die Überlieferung, dass diejenigen, die zu diesem Foto angestiftet hatten, binnen Jahresfrist verstarben, und aus einigen ultra-orthodoxen Biographien des 20. Jahrhunderts wurde der ganze Vorfall entfernt. 192 Die jüdische Aufklärung, z. B. in Deutschland, bemühte sich jedoch um Angleichung an die umgebende Kultur, weswegen auch Toleranz von anderer Seite leichter fiel. So hat Moritz Oppenheim, den man auch als den »ersten jüdischen Maler« bezeichnete, 1856 eine Szene am Schachbrett dargestellt, in der nicht nur Physiognomien historischer Persönlichkeiten festgehalten wurden, sondern auch eine historische Begebenheit, bei der Lessing und Lavater den jüdischen 192

Cohen, a. a. O., S. 136 f.

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Bild 4: Moritz Oppenheim, Lessing und Lavater besuchen Moses Mendelssohn in seinem Haus (1856)

Aufklärer Moses Mendelssohn in dessen Haus besuchen. Im Biedermeierstil hielt er viele Szenen jüdischen Familienlebens fest, für gewöhnlich mit einer großen Zahl von Kindern. Es ist nicht verwunderlich, dass Maler jüdischer Herkunft mit dabei waren, als man in der europäischen Malerei das detailgetreue realistische Abbilden verließ. Zwar wurde Max Liebermanns Impressionismus von den Nationalsozialisten als »entartete Kunst« eingestuft, doch der Trend war nicht aufzuhalten: Mit Klee, Kandinsky, Chagall, Malewitsch und anderen (auch mit Chaim Soutine, der sein »Schtetl« anders als Chagall nie malte, weil er dort einmal beim Abzeichnen eines alten Mannes verprügelt worden war 193), wurde der Weg in die 193

van Voolen, Jüdische Kunst und Kultur, S. 90.

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Bild 5: Barnett Newman, Der Name I (1949)

Abstraktion beschritten. So tobt sich also der moderne Ikonoklasmus in der zeitgenössischen abstrakten Kunst aus. Daher kann Barnett Newmans »abstrakte Theologie« neben der von Mark Rothko am Ende stehen: In »Der Name I« zeigt er gemäß der hebräischen Leserichtung von rechts nach links symbolhaft rote Linien als heiße Spur für die Buchstaben JHWH in einer kühleren Welt, die durch die Spuren dieses Namens lebendig und erwärmt wird.

2.1.6 Von den Grenzen der Repräsentation In seiner Analytik des Erhabenen hatte Kant ebendieses Erhabene im Unterschied zum Schönen charakterisiert, indem er das Schöne in der Natur oder Kunst dem Verstand zuwies, es also auf der Basis von Sinneserfahrungen entstanden sah. »Das Erhabene ist dagegen auch an einem formlosen Gegenstande zu finden, sofern Unbegrenztheit an ihm oder durch dessen Veranlassung, vorgestellt und doch Totalität derselben hinzugedacht wird.« 194 Dieses Erhabene ist schlechthin, d. h. »über alle Vergleichung« groß, es ist absolut, »eine Größe, die

194

Kant, Kritik der Urteilskraft (KdU) B 75.

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bloß sich selber gleich ist«. 195 Jede Vorstellung der Einbildungskraft muss als objektiv unangemessen klassifiziert werden und mündet in eine Erfahrung der Negativität, die z. B. angesichts erhabener Natur ihre Unerreichbarkeit mittels jeder Darstellung durch Ideen fühlt und eine »Verwunderung, die an Schreck grenzt«, ein »Grausen« und einen »heiligen Schauer«. 196 Darstellungen dieses Erhabenen sind auf keine Weise möglich, Bilder und Begriffe reichen an diese Ahnung von Unendlichkeit, an diese Größe und Transzendenz nicht heran. Als Gegenstück zu dieser durch das Erhabene bewirkten »Aufwärtsbewegung nach oben« greift nun Lang Kants Vorstellung des »radikal Bösen« auf (eine Dimension, die Valentin das »negative Absolute« nennt 197) und beschreibt eine Inversion, eine Bewegung »nach unten«, die gleichfalls an Grenzen der Darstellung stößt, was sie zu einer Untersuchung nicht nur über die Grenzen der Repräsentation, sondern auch über die Repräsentation von Grenzen veranlasst und zur Unterscheidung der Modalitäten unvorstellbar und unmöglich / vorstellbar, aber unmöglich / unvorstellbar, aber möglich sowie vorstellbar und möglich führt. Relevant wird hier die dritte Kategorie: Das Unvorstellbare hat sich im Falle der humanitären Katastrophe des Holocaust als möglich erwiesen, als »Verleugnung von Individualität und Person im Akt des Genozids, als abstrakte Bürokratie, die die ›Endlösung‹ ermöglichte«, 198 und natürlich in der bis dato nicht vorstellbaren quasiindustriellen Organisation des Massenmordes. Das wirft Probleme der Darstellung auf, z. B. für die Geschichtsschreibung, denn auch historische Begriffe müssen vorgestellt werden. Die Geschichtsschreibung, da sie schlecht 18 000 Quellen mit Erfahrungen traumatisierter Überlebender auswerten könne, müsse selektiv und konstruktiv vorgehen. Da sie schreiben und Zusammenhänge herstellen müsse, teile sie, so Haidu, auch einige Züge mit fiktionaler Literatur. 199 Kant, a. a. O., B 81 und B 84. Kant, a. a. O., B 115 und B 118. 197 Joachim Valentin, Ratlos vor dem negativen Absoluten, in: Joachim Valentin (Hg.), Weltreligionen im Film, S. 153–163. 198 Lang, The Representation of Limits, in Friedlander (Hg.), Probing the Limits of Representation, S. 303 ff und S. 116. 199 Haidu, The Dialectics of Unspeakability, in Friedlander (Hg.), Probing the Limits, S. 280 f. 195 196

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Ist die Alternative, wie es George Steiner vorschlägt, also Schweigen sowie ein »ban of images«? (»The world of Auschwitz lies out of speech as it lies outside reason.« 200) Zumindest hatte auch Himmler dies in einer Rede an die SS vom 3. 10. 43 in Posen über »Die Judenevakuierung« gefordert: »[…] und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden […]«. Er hatte die »Endlösung« euphemistisch als »niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt deutscher Geschichte« bezeichnet. Haidu kommentiert: »Die Mitglieder der Elite erkennen die Notwendigkeit der Apophasis, des Nichtsprechens, Verschweigens bestimmter Angelegenheiten«. 201 Eine Kultur der Erinnerung erfordert aber das Zur-SpracheBringen des Unaussprechlichen, evtl. sogar, wie Friedlander anregt, einen neuen Stil der historischen Beschreibung, der auch Visualisierungen einbezieht, zwecks dokumentarischer Genauigkeit, und um den »Horror hinter den Worten« zu verdeutlichen: »The event demands a global approach and a general reflection on the difficulties that are raised by its representation«. 202 Doch Repräsentationen sind immer »Darstellungen als«, was die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Darstellung lässt. Ist also »imaginative writing about the final solution« zulässig? Künstlerische Darstellung ist nach Lang grenzenlos, doch kann man sich historische Figuren innerhalb fiktionaler Rahmenerzählungen vorstellen? Wo ist dann die Grenze zwischen Realität und Fiktion erkennbar? 203 Und können nicht Bilder des Grauens auch zur Banalisierung und Abstumpfung führen? Bis zu den Photografien der amerikanischen Befreier der KZs (inwieweit verletzte man damit Persönlichkeitsrechte?) existieren kaum Bilder, 204 weder aus Täter- oder Opferperspektive. Bilder mit Symbolkraft, wie das der Abladerampe in Auschwitz, haben sich eingebrannt. Die amerikanischen Fotografien brachten ikonische Gewissheit, hatten aber auch eine unmittelbare Wirkung darauf, wie »the Event« George Steiner, Language and Silence, S. 163. Haidu, a. a. O., S. 284 ff (Übersetzung d. d. A.). 202 Friedlander, a. a. O., Introduction, in: ders. (Hg.), Probing The Limits of Representation, S. 1 sowie Cohen, Between Image and Phrase, in: ders., Jewish Icons, S. 172. 203 Lang, a. a. O., S. 300 und 314. 204 s. a. Valentin, Ratlos vor dem negativen Absoluten, in: ders. (Hg.), Weltreligionen im Film, S. 153 f. 200 201

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erinnert und auch unterdrückt wurde, denn »icons of destruction« betäuben und lähmen, sind aber auch als Spur des Realen zu verstehen. 205 Bathrick kritisiert, dass die wiederholten Bilder zu Ikonen werden können und den Status einer globalen Sprache erreichen können, da sie implizit beanspruchten, die ganze Geschichte zu erzählen. Statt Bilder generell zu verteufeln, ist, so meint er, eher ein Durcharbeiten des Bildes als Fetisch und als ikonischer Vorrat des kollektiven Bildarchivs nötig. »Die wenigen Bilder müssen davor bewahrt werden, zu ›Ikonen des Grauens‹ zu werden, die weder die Darstellung historischer Realität noch eine aktuelle Auseinandersetzung mit dem Geschehen ermöglichen. […] Der Glaube, man könne die Schrecken der industriellen Vernichtung ›eins zu eins‹ abbilden, ist tatsächlich naiv. Die Filmbilder von der Rampe, den Verbrennungsöfen oder Leichenbergen erreichen zwar das Publikum, die Gefahr jedoch, dass ihnen höchstens eine fetischartige Wirksamkeit zukommt – man hat gesehen, vielleicht auch geweint, die Darstellung im Film jedoch als verfrühte Katharsis, als bequeme Entlastung erlebt – diese Gefahr wächst mit zunehmender Medienpräsenz des Themas, anstatt abzunehmen und einer ergebnisoffenen, notwendig schmerzhaften Auseinandersetzung zu weichen. Auschwitz ist nicht zu verstehen, weil man mit Auschwitz nicht abschließen kann.« 206

Das vernichtet nach Friedländer aber nicht jede Möglichkeit von Kunst, im Gegenteil. 207 Und auch bildhafte Darstellungen, wenngleich wegen ihres potentiellen Kunst- oder Dokumentarcharakters heiß umstritten, wurden möglich. Fasst man Fotografien als Spuren der Ermordeten auf, so lässt sich auch die eindrucksvolle Gestaltung der Erinnerung an sie in der Gedenkstätte Yad Vashem als zeichenhaften Verweis auf die ehemals Lebenden in ihrer vielfältigen Individualität begreifen; die Opfer verlieren so ihre Anonymität. Lyotard, der sich ebenfalls mit Kants Ästhetik des Erhabenen beschäftigt hatte, hat in seinem Hauptwerk Der Widerstreit argumentiert, es komme darauf an, den zum Schweigen Gebrachten (den Opfern) oder zur Sprache Unfähigen (den Traumatisierten) ein Idiom zu verschaf205 206 207

Bathrick, Visual Culture and Holocaust, S. 287 f. Valentin, Ratlos vor dem negativen Absoluten, a. a. O., S. 154 und 155 f. Friedlander, Introduction, a. a. O., S. 20.

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Bild 6: Yad Vashem, Halle der Namen

fen. Schmerz z. B., der ein Schweigen begleiten kann, erzwinge die Schaffung neuer Ausdrucksmöglichkeiten, damit dem, was im Widerstreit nach Setzung verlangt, Gehör verschafft werden kann. 208 Doch wie soll das geschehen? Beispielhaft ist hier die Kontroverse zweier jüdischer Filmregisseure zu nennen, von Steven Spielberg (»Schindlers Liste«) und Claude Lantzmann (»Shoah«). Spielbergs Hollywood-Film agiert mit bekannten Darstellern und dem Zwang einer ästhetischen Form (Länge ca. 2 Stunden, Held, Handlung mit Spannungsbogen, Happy End, Einheit von Raum und Zeit). Für Valentin hat »Spielbergs erfolgreicher Versuch, mit dem Holocaust-Thema einen Platz im Mainstream-Kino zu erobern und damit bis dahin gängige Tabus zu brechen, […] Wesentliches zur Veränderung der Kinolandschaft beigetragen«. Er hat damit auf gewandelte demographische Daten und auf Publikumsinteressen reagiert, denn die Enkel- und Urenkelgene208 Lyotard, Der Widerstreit, S. 33. S. mit Bezug auf Lyotard auch Friedlander, a. a. O., S. 5.

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ration von Tätern und Opfern kann immer weniger auf Zeitzeugen zurückgreifen und ist von einer neuen Unbefangenheit dem Thema gegenüber. 209 Eine Darstellung in Form einer Filmstory kann also ein neues Publikum an das Thema heranführen und möglicherweise zu eigener Beschäftigung mit der Thematik führen. Das wird von Lantzmann heftig kritisiert: »Der Holocaust ist vor allem darin einzigartig, dass er sich mit einem Flammenkreis umgibt, einer Grenze, die nicht überschritten werden darf, weil ein bestimmtes absolutes Maß an Greueln nicht übertragbar ist: Wer es tut, macht sich der schlimmsten Übertretung schuldig. Die Fiktion ist eine Übertretung, und es ist meine tiefste Überzeugung, dass jede Darstellung verboten ist.« 210

Lantzmann beruft sich mehr oder weniger auf das biblische Bilderverbot, das der Shoah »spiegelbildlich zu Gott – die Position des negativen Absoluten« zuweist. Lantzmann ist gegen »theatralische Rekonstruktion«, z. B. auch des Grauens in den Gaskammern, das die Opfer nicht mehr bezeugen können. Stattdessen bringt er in seinem 9½ stündigen Werk das Kunststück fertig, im Bild das Bild zurückzuweisen, was für Bathrick eine cimematische Provokation ist. 211 Denn seine »bilderlosen Bilder« zeigen ausführliche Interviews von Opfern und Tätern, sowie Schauplätze in ihrer heutigen Gestalt und beteiligen den Zuschauer so an Prozessen des Erinnerns, aber auch mit Spuren des Vergessens, der Verdrängung und Verklärung, und somit auch an einer subtilen historischen Recherche. 212 Die Aussagen der Zeitzeugen und die Schauplätze bekommen also durch ihre Exemplarität Symbolcharakter und weisen auf das Ungeheuerliche, ohne es direkt darzustellen. Allerdings können Menschen, die im Film für sich selber stehen und niemand anderen darstellen, auch zu Objekten der Sensationsgier werden und sich instrumentalisiert fühlen. Und sie können beleidigt werden: Im Jahr 2006 wurde auf Anregung des Holocaust-Leugners und damaligen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad als Antwort auf die dänischen Mohammed-Karikaturen ein antisemitischer Karikaturenwettbewerb 209 Valentin, a. a. O., S. 156. Spielberg hat mit den Einnahmen aus dem Film ein NSDokumentationszentrum aufgebaut, das sich der Erinnerungskultur verschrieben hat. 210 Nach Valentin, a. a. O., S. 155. 211 Bathrick, a. a. O., S. 295. 212 Valentin, a. a. O., S. 156.

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zum Thema Holocaust veranstaltet, der im Jahr 2016 zum 10. Mal stattfand, und in dem die damaligen Opfer, teilweise mit Nazi-Armbinden, als heutige Täter dargestellt werden. Ahmadinedschad wollte damals die Grenzen westlicher Meinungsfreiheit ausloten 213, für die Pariser UNESCO-Präsidentin eine Verhöhnung der Opfer.

2.1.7 Vom Zeichen zur Spur: Adorno und Lévinas Brumlik nennt zwar auch Spinoza als entscheidenden jüdischen Philosophen (obwohl dieser u. a. wegen Pantheismus aus der Amsterdamer Jüdischen Gemeinde ausgestoßen wurde und sich als Erster bewusst Konfessionsloser seiner Zeit fühlte). Mit seiner Affektenlehre hat er Rationalismuskritik geübt und u. a. auf deutsche Dichter und Philosophen gewirkt. Doch im Hinblick auf das Bilderverbot sind unbedingt als moderne jüdische bzw. jüdischstämmige Philosophen Adorno und Lévinas zu nennen. Adorno, wegen seiner Mutter katholisch getauft, hatte zunächst keine besondere Nähe zum jüdischen Glauben seines Vaters. Als er 1933 wegen seiner Abkunft seine Frankfurter Lehrerlaubnis verlor und in die USA emigrierte, hatte er sich bereits intensiv mit Hegel und Marx beschäftigt 214 und schrieb in Kalifornien zusammen mit Horkheimer die Gründungsschrift der Frankfurter Schule, die Dialektik der Aufklärung, die zusammen mit dem nach dem Krieg wiedereröffneten Frankfurter Institut für Sozialwissenschaften zur »intellektuellen Gründung der Bundesrepublik« 215, zumindest ihrer linksintellektuellen Szene im Nachkriegsdeutschland, beitrug. An Hegels Ästhetik gefällt Adorno, dass er den Subjektivismus Kants (der in der KdU vom »interesselosen Wohlgefallen« angesichts von »schönen« Kunstwerken geredet hatte) kritisiert. Für Hegel war es das »sinnliche Scheinen der Idee«, das das Kunstwerk ausmacht; doch kritisiert Adorno die Ästhetik Hegels insgesamt als zu affirmativ. 213 Die Neue Zürcher Zeitung berichtete (s. z. B. unter www.nzz.ch/international/ nahost-und-afrika/jude), dass die aktuelle Ausstellung dem jetzigen Präsidenten Rohani wegen seiner Politik der Öffnung peinlich sei. 214 Zur Biographie der »Frankfurter« Philosophen s. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Hier zu Adorno, der nicht nur Philosoph, sondern auch Sozialwissenschaftler, Musiker, Komponist und Musikkritiker war, S. 82 ff. 215 Albrecht/Behrmann et al., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik.

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Gegen die Identität von Sein und Denken, von Begriffsbild und Gegenstand, will Adorno das »Nichtidentische« starkmachen und entwickelt daher eine nicht-identitäsphilosophische antisystematische Dialektik als »konsequentes Bewusstsein von Nichtidentität«. 216 Anders als bei Hegel wird als schlechthin Erstes nicht die absolute Identität gesetzt, sondern »das Nichtidentische, Seiende, die Faktizität, das Nichtbegriffliche«. 217 Denn Identitätsdenken finde immer nur im Subjekt statt, und Adorno »tastet nach der Präponderanz des Objekts«. 218 »Negative Dialektik war ein: Gedenke des Anderen. Sie rundete sich nicht zum System, war kein Fortgang von einer Kategorie zur nächsten wie bei Hegel. Sie mahnte vielmehr von Fall zu Fall stets aufs neue daran, das Nichtidentische freizugeben, von dem das identifizierende Denken, der selbstherrliche Geist sich nie unabhängig machen, das er nur deformieren konnte mit unberechenbaren Folgen.« 219

Die unmittelbare Erfahrung eines totalitären Systems macht Adorno hellsichtig für das zugrundeliegende Denken. Wer wie bei Hegel »der Individuation […] in der Konstruktion des Ganzen einzig minderen Rang zuerkennt«, bewirke »Vernichtung des Individuellen, Liquidation des Besonderen«. 220 Adorno aber bezweifelt den Primat des Ganzen. (Hegel affirmativ: »Das Wahre ist das Ganze«, zu Beginn der Phänomenologie des Geistes.) Adorno stellt dem seine Aussage »Das Ganze ist das Unwahre« gegenüber, denn das »Menschliche ist gerade […] das Verschiedene.« 221 Das wirkt auch in Adornos posthum erschienener Ästhetischer Theorie weiter, denn auch in der Kunst darf es nicht um Affirmation des Bestehenden gehen. Wie Lyotard ist auch Adorno beeindruckt von Kants Analytik des Erhabenen: Das Naturschöne sei eben deshalb erhaben, weil es in seiner Größe das menschliche Fassungsvermögen übersteigt, es lässt sich nicht abbilden. Indem das Erscheinende nämlich vergegenständlicht wird, wird es weggeschafft: »Das Naturschöne geht im Zeitalter des totalen Vermitteltseins in seine Fratze

216 217 218 219 220 221

Adorno, Negative Dialektik, S. 17. a. a. O., S. 138. a. a. O., S. 182. Wiggershaus, a. a. O., S. 667 f. Adorno, Minima Moralia, S. 15. Adorno, a. a. O., S. 55 und 117.

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über.« 222 Naturmalerei sei authentisch auch in der Vergangenheit einzig als nature morte, als Stillleben, gewesen, nämlich dort, wo man Naturhaftes als Chiffre des Vergänglichen, Hinfälligen sehen konnte. Überall sonst ist Ehrfurcht angebracht: »Das alttestamentarische Bilderverbot hat neben seiner theologischen Seite eine ästhetische. Dass man sich kein Bild, nämlich keines von etwas machen soll, sagt zugleich, kein solches Bild sei möglich. Was an Natur erscheint, wird durch seine Verdopplung in der Kunst eben jenes Ansichseins beraubt, an dem die Erfahrung von Natur sich sättigt.« 223

Der falsche Schein einer Präsenz des Absoluten sei die eigentliche »Kardinalsünde.« 224 Es sei kein Zufall, dass die französischen Impressionisten Naturdarstellungen oft gemieden hätten, denn »das Fixierte ist Zeichen, Funktion, nicht an sich.« 225 Kunstwerke böten sich scheinbar unmittelbar als stimmig und bruchlos dar, doch »verdanken sie sich ihrem Vermitteltsein in sich. Dadurch allein werden sie zeichenhaft und ihre Elemente zu Zeichen.« 226 Adorno redet aber auch folgerichtig einer nichtgegenständlichen Kunst das Wort, die erst gar keinen Scheincharakter aufkommen lässt. Denn »die Negation alles falschen Ansichseins«, die in der Kunst erforderlich ist, mache es nötig, dass sie sich »radikal vergeistigt« und sich vom sinnlich Wahrnehmbaren und dessen Affirmation, ja von Distanzverletzung insgesamt, abwendet. 227 Ganz stimmig hatten Horkheimer und Adorno bereits in der Dialektik der Aufklärung (mit politischen Implikationen) vom »Verbot, das Falsche als Gott anzurufen« geredet, »das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit«: »Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots. Solche Durchführung, ›bestimmte Negation‹, ist nicht durch die Souveränität des abstrakten Begriffs gegen die verführende Anschauung gefeit […]. Die bestimmte Negation verwirft die unvollkommenen Vorstellungen des Absoluten, die Götzen […].« 228

Emmanuel Lévinas, der lange Zeit zunächst als Theologe wahrgenommen wurde, bevor man ihn philosophisch entdeckte, wurde 222 223 224 225 226 227 228

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 106. ebd. a. a. O., S. 159. Adorno, a. a. O., S. 288. a. a. O., S. 217. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 166, S. 142, S. 10 und 518. Horkheimer / Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 30 (my italics).

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1905 in Litauen geboren und schrieb sein erstes Hauptwerk in der Auseinandersetzung mit Heidegger im Konzentrationslager: Vom Sein zum Seienden, nicht umgekehrt mit der Absicht einer Fundamentalontologie, sondern im Bemühen einer Zuwendung zum Konkreten. Seine »prima philosophia« ist gegen die europäische Tradition – aber im Sinne jüdischen Denkens – nicht die Metaphysik, sondern die Ethik. Lévinas überträgt das Bilderverbot auch auf den anderen Menschen und beschreibt ganz im Sinne von Adornos Minima Moralia keine ethischen Prinzipien (sie hätten die Katastrophe der Weltkriege nicht verhindert), sondern grundlegende Haltungen, denn Moralität siedelt in der unmittelbaren Beziehung zwischen mir und den anderen, nicht in einer übergreifenden Vernunft. 229 (Er vermeidet auch das abstrahierende »man«.) Damit wird, so Haidu, die jüdische Tradition umgeformt in eine radikale Herausforderung westlichen ethischen Denkens. 230 »Bilder und Buchstaben als Erinnerungszeichen – alles, was dem Menschen begegnet, ist zugleich die Spur von etwas anderem. Die bedeutsamsten Zeichen jedoch, so glaubt Lévinas, der […] in den Phänomenen des Lebens nach Spuren des Göttlichen […] sucht, finden wir im Antlitz des anderen Menschen, das wir als Spur jenes vorübergehenden, sich verweigernden, gebieterischen Gottes lesen dürfen, der sich Moses am Sinai offenbarte.« 231

Gerade die Menschlichkeit des Menschen wird zur Spur Gottes; und Lévinas untersucht menschliche Subjektivität im Bereich dreier Themenfelder: Existenz, Transzendenz und menschliche und göttliche »Alterität«. Ganz im Sinne des Bilderverbots ist die Kategorie des Fremden bei ihm zentral. Von der radikalen Andersheit des Anderen kann ich mir kein Bild machen. (Hier geht es vor allem um mentale Bilder.) Man muss sich von dieser Andersheit betreffen lassen; ohne dass man die Unendlichkeit, die der Andere ist, auch nur annäherungsweise erfassen kann, ist sein Antlitz Spur, Ereignis und verlangt Aufmerksamkeit und Respekt: Be-achtung und Achtung. Obwohl das Bilderverbot warnt, den Anderen als substantielle Totalität sehen und begreifen zu wollen, scheint der Andere oft vor lauter Bildern unsichtbar, übersehbar. Doch das Ich ist herausgefordert durch die

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s. ausführlicher Münnix, Zum Ethos der Pluralität, S. 92 ff. Haidu, The Dialectics of Unspeakability, in: Friedländer (Hg.), a. a. O., S. 281. Brumlik, Schrift, Wort und Ikone, S. 115.

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Nähe des Anderen, das Sein für ihn und mit ihm ist eine zeitliche Beziehung, ist Ereignis, Prozess – »au delà de l’essence«. 232 Die Sensibilität für die Nähe des Anderen, von dem ich ab-solut getrennt bin, erfordert aber Hinwendung und Öffnung für das Geheimnis des Anderen. Man kann in ganzen Passagen von Lévinas, z. B. in Die Spur des Anderen, den Begriff der »Alterität« in der Doppelbedeutung von »Gott« und »der andere Mensch« lesen, und man muss ihn »sein lassen«. Jede aneignende Deutung, jedes Urteil ist für Lévinas übergestülpte Metaphysik, nachträglich zum Geschehen, und kann Vergewaltigung des Anderen bedeuten, ist also nicht nur unrecht, sondern auch gewalttätig. Indem das Fremde umgewandelt wird ins Eigene, wird es assimiliert und kolonialisiert und kann nicht in seiner Andersheit belassen und respektiert werden, der Andere wird in seiner Andersheit vernichtet. »Objektive Totalität schließt definitiv jedes Andere aus […]. Die Philosophie, die vom Sein bestimmt wird, ist Unterdrückung des Pluralismus. […] Die Mannigfaltigkeit setzt eine Subjektivität voraus, in der Unmöglichkeit, das Ich und das Nicht-Ich zu einem Ganzen zu verschmelzen. Diese Unmöglichkeit ist nicht negativ (sie belässt den anderen wie er ist)«. 233

Es kann also keine »Kommunion«, kein Einssein geben. 234 Die Beziehung zum Antlitz des Anderen, das wir als seine Spur verstehen können, stellt eine Forderung, die uns die Transzendenz und Andersartigkeit des Anderen fühlen lässt. Dem Anderen zu begegnen, bedeutet, die Idee der Unendlichkeit zu haben. Wir fühlen uns dieser Andersartigkeit unterworfen (eine neue, aber eigentlich alte Bedeutung von sub-jectum), und sogar als »Geisel« genommen, 235 da die Begegnung mit dem Antlitz des Anderen uns in eine unmittelbare ethische Verpflichtung dem Anderen gegenüber führt. Zygmunt Baumann kommentiert:

232 Lévinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, dt.: Jenseits des Seins, oder anders als Sein geschieht. Der deutsche Titel unterscheidet leider nicht wie der französische zwischen Sein und Wesen, ens und essentia. 233 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 320 f. 234 Es ist interessant, dass die aus frommem jüdischen Haus stammende Edith Stein in ihrer Dissertation bei Husserl über Einfühlung und Einssein (»communio«) nachdachte, später zum Katholizismus konvertierte, und in ihrer späteren Habilitationsschrift christliche Mystik und Phänomenologie zusammenbrachte. 235 Lévinas, Ethik und Unendliches, S. 77.

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»Wir begegnen einem Antlitz dann und nur dann, wenn das Verhältnis zum Anderen programmatisch nichtsymmetrisch ist, d. h. unabhängig von dessen Vergangenheit und Gegenwart oder von erhoffter oder antizipierter Reziprozität, Gegenseitigkeit […] Ich bin für den Anderen, ob der Andere für mich ist oder nicht. Sein Für-Mich-Sein ist sozusagen sein Problem, und ob und wie er damit umgeht, berührt mein Für-Ihn-Sein nicht im mindesten […], was umgekehrt mein Einverständnis einschließt, den Anderen nicht zu einem Für-Mich-Sein zu erpressen […]«. 236

Das entspricht der positiven Formulierung der Goldenen Regel, andere so behandeln zu sollen, wie man selber gern behandelt werden würde. Sie war schon im Judentum bekannt und stellte keine Vermeidungsregel dar, sondern eine Aufforderung zum aktiven Handeln, ohne in Rechnung zu stellen, ob die andere Seite sich ebenso verhält. Das Ich wird in seiner Verantwortung für den Anderen als »Ich« konstituiert, eine neue ethische Fassung von Subjektivität, die sich vom Begriff der Spur des Anderen jenseits aller Bilder leiten lässt. »Der Gott, der vorbeigegangen ist, ist nicht das Urbild, von dem das Antlitz das Abbild wäre. Nach dem Bilde Gottes sein heißt nicht, Ikone Gottes zu sein, sondern sich in seiner Spur zu befinden. Der geoffenbarte Gott unserer jüdisch-christlichen Spiritualität […] zeigt sich nur in seiner Spur. […] Zu ihm hingehen heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen, sondern auf die anderen zugehen, die sich in der Spur halten.« 237

Anders als in der klassischen Repräsentationstheorie ist »Spur« bzw. Symbol kein bloßes Zeichen des Bezeichneten, sondern Ausdruck des Verborgenen, des En-Sof. »Spur« weist auf Absenz, Verborgenheit bzw. Entzug des Absoluten, dem man sich allenfalls annähern kann. Und diesen Begriff der Spur wird Derrida übernehmen.

2.2 Bilderverehrung, Bilderstreit und Bildersturm in christlichen Kulturen Weihnachten 2014, mehr als 1200 Jahre nach dem 2. Konzil von Nicäa, veröffentlichte die Vatikanische Verlagsbuchhandlung endlich die Akten dieses Konzils, das für die katholische und orthodoxe Haltung zu Bildern von so großer Bedeutung war. Es hatte zwar Bilder erlaubt, aber die Gleichsetzung von Bild und Abbild verurteilt. Kardi236 237

Baumann, Postmoderne Ethik, S. 79 ff. Lévinas, Die Spur des Anderen, S. 235

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nal Piero Marini würdigte die Übersetzung der Akten in eine lebende Sprache als zentral im Hinblick auf ihre maßgebende Bedeutung »in religiöser, künstlerischer und politischer Hinsicht«: »Von der Bilderverehrung zu sprechen heißt vom Gebet zu sprechen, und zwar besonders vom liturgischen Gebet; und somit ist die Rede davon, dass wir »vor dem Herrn stehen«, um unsererseits zu lebendigen Ikonen umgestaltet zu werden. […] Die Bilder sind eine wertvolle Hilfe auf dem Weg, Christus ähnlich zu werden.« 238

Dabei beruft er sich u. a. auf den damaligen Patriarchen von Konstantinopel, Germanos, der festgestellt hatte, »dass das Ablehnen der Ikonen das Ablehnen der Inkarnation bedeute; in der Ikone »zeichnen wir das Bild seiner menschlichen Gestalt gemäß dem Fleische und nicht das seiner unfassbaren und unsichtbaren Göttlichkeit. Wir fühlen uns veranlasst, unseren Glauben bildlich darzustellen, um zu zeigen, dass Gott sich nicht nur dem Anschein nach, gleichsam wie ein Schatten, mit unserer Natur vereint hat, sondern dass er wirklich Mensch geworden ist.« 239 In der Tat unterscheidet der Glaube an die Inkarnation (»Fleischwerdung«) des Göttlichen das Christentum von den anderen abrahamitischen Offenbarungsreligionen und ihren (damit zusammenhängenden) Vorstellungen von Bildlichkeit. Die Tatsache, dass es nach anfänglichen Christenverfolgungen – da auch die Christen sich u. a. weigerten, den Hoheitszeichen der römischen Kaiser Verehrung zu bezeugen – bereits ca. 300 Jahre nach seiner Stiftung durch den historischen Jesus von Nazareth zur Staatsreligion des Römischen Reiches wurde und auf die dortigen Bildtraditionen traf, brachte Probleme mit sich. Die von Marini zitierte Stellung zum Bild wird von den anderen monotheistischen Religionen oft als Idolatrie, als Götzendienst gesehen, war und ist aber bis heute auch im Christentum nicht unumstritten; es gab und gibt bis heute auch ganz andere Strömungen.

Marini, Ikonographie und Liturgie, S. 1. (www.vatican.va/news_services/liturgy/ 2005/.../ms_lit_doc_20050120_marini_ge.html) 239 Marini, Ikonographie und Liturgie, S. 3. 238

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2.2.1. Ikonoklasmus und negative Theologie im frühen Christentum Bereits der erste nichtjüdische Apostel Paulus, der ein hellenistisch gebildeter Mann war und das platonische Mimesisverbot gekannt haben muss, 240 musste sich nach seiner Konversion von heidnischen Formen des Bilderkults absetzen und betonte in seinen Briefen an die vielen Gemeinden, die er betreute, dass diese sich nicht von den sie umgebenden Bilderkulten beeindrucken lassen sollten. Im Römerbrief meint Paulus z. B. zu den Heiden: »Da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden und haben verwandelt die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes in ein Bild gleich dem eines vergänglichen Menschen und der Vögel und der vierfüßigen und kriechenden Tiere.« 241 Und in seiner berühmten Rede auf dem Areopag in Athen zur Thematik des »unbekannten Gottes« griff Paulus auf die bereits von Platon in Gang gesetzte negative Theologie zurück, gemäß der man sich dem Göttlichen nur negativ, also durch Nichtzuschreibung positiver Merkmale, annähern könne: Er hatte die Stadt voller Götzenbilder gesehen und einen Altar entdeckt, der »dem unbekannten Gott« geweiht war, knüpfte geschickt daran an und geißelte den Irrtum, »die Gottheit sei gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht.« Gott habe zwar lange über die Zeit der Unwissenheit hinweggesehen, aber nun sei die Zeit der Buße gekommen. 242 Platons Ringen mit der Ideenlehre und seine dialektischen Betrachtungen über die Natur des »Einen«, hinter allen Erscheinungen stehenden Urgrundes, sind »von späterer Zeit im Sinne einer Aussage über das Absolute und die Gottheit gelesen worden.« 243 Daher konnte die Paulusrede als Bezug auf diesen unsichtbaren Gott der Philosophen verstanden werden, der von Platon als Weltenschöpfer, aber auch als zentrale Idee des Guten beschrieben worden war. Ganz besonders hat dies natürlich auf den Neuplatonismus gewirkt, den Mars. ausführlich in Teil II, Kap. 3.1.2. Neues Testament, Röm 1,22 f. 242 Die Rede findet sich in der von Lukas verfassten Apostelgeschichte, hier Apg 17, 16 und 17,29 f. Ihre Authentizität wird bezweifelt, doch befindet sich der griechische Urtext auf einer Steinplatte am Areshügel in Athen. 243 Schwabl, Platon, in: Niewöhner (Hg.), Klassiker der Religionsphilosophie (KdRP), S. 29. 240 241

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greiter im weiteren Sinn als vielfach verzweigte und mit anderen Denkrichtungen Synthesen eingehende Geistesströmung in der ausgehenden Antike, etwa zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert, ausmacht und im engeren Sinn mit der Philosophie von Plotin und seinen Schülern identifiziert, die ja über Augustinus bis hin in die deutsche Mystik und (nicht allein) über Al-Fārābī in den Islam ausgestrahlt hat. Nach Aussagen seines Biographen und Schülers Porphyrios hat sich Plotin geweigert, einem Maler oder Bildhauer Modell zu sitzen, damit nicht noch ein »Abbild des Abbildes« angefertigt werde. 244 Denn ganz platonisch hat das Abbild eine geringere Dignität und auch Qualität als das Urbild. Die Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen veranlasste ihn auch, aus seinem subjektiv bzw. religiös-ethischen denkerischen Ausgangspunkt heraus eine Einkehr des Menschen in sich selbst zu fordern, in der der Mensch das Göttliche in sich entdecken könne, was eine »Sehnsucht, mit diesem verborgen anwesenden Ursprung vereinigt zu werden«, erwachen lassen soll, denn »dies ist zugleich der für Plotin fundamentale und argumentativ begründete Weg von und aus der Vielfalt zum gänzlich differenzlosen Einen, dem Plotinischen Gott.« 245 (Plotin war »mit Kaiser Gordianus gegen die Perser gezogen, um die ihre und der Inder Weisheit kennen zu lernen« 246 und hatte möglicherweise hier den Kontakt mit dem »tat twam asi« der Upanishaden, die die Vereinigung vom Brahman und Atman, der jeweiligen Einzelseele mit dem All, beschrieben. Diese »Einung« wird auch für Plotin bedeutsam.) Das ist verknüpft mit einer metaphysisch-kosmologischen Spekulation: Von den vielen Sinnesdingen (Plotin übernimmt die Unterscheidung Platons zwischen Sinnen- und intelligibler Welt) muss man »hinaufsteigen zum Ursprung, der in uns selbst ist, und aus der Vielheit Eines werden.« 247 Geist und Seele müssen also noch transzendiert werden, da das Eine (»Hen«) eine eigene Dimension noch über dem Nous ist und die Seele eine Mittelstellung im Reich der Wirklichkeit hat, »insofern sie, zwar prinzipiell dem Intelligiblen zugehörig, doch am unPorphyrios, Vita Plotini 1,8, in: Henry/Schwyzer (Hg.), Plotini Opera, Bd. 1. Kremer, Plotin, in: Niewöhner, KdRP, S. 59. 246 Plotin, Enneaden, a. a. O., VI, 9,3,21. 247 Kremer, a. a. O., S. 61 verweist auf Plotins Enneaden, IV, 8.7 1–8; VI, 4.16.18 f sowie IV, 8,4, 1–6 und stellt fest, dass Plotin lange vor Leibniz oder Freud als Entdecker des Unbewussten gelten muss, da etwas von der Seele, auch wenn wir das nicht immer bemerken, immer in ihrem Ursprung, im Nous, bleibe. 244 245

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tersten Rand des geistigen Reichs lebt und der sinnlichen Welt als ihr ›Grenznachbar‹ etwas von ihrem Sein dargibt. Daraus resultiert ihr Charakter, ›gleichsam wie Amphibien‹ in zwei Elementen leben zu müssen«, bald dort oben in der geistigen, bald hienieden in der sinnenhaften Welt. 248 Das Denken muss die Stufen abnehmender Vollkommenheit, hen, nous und psyche, in umgekehrter Richtung bis zum Einen (hen) zurück gehen, um so sein überrationales Ziel, in dem der Mensch sein Heil findet, zu erreichen. 249 Ethisches und religiöses Ziel ist es, schon während des irdischen Lebens den Aufstieg vom Vielen zum Einen zu schaffen, durch SichAbscheiden vom Sinnenhaften (»tu alles fort!«, so Plotins Apell in den Enneaden V 3,17,38). Doch »wie soll man sich dieses Eine denken? Kann man Es überhaupt denken? Plotins ganzes Bemühen kreist um dieses Eine, es ist sein philosophisches und zugleich persönliches Lebensziel. Aber seine Verlegenheit, dieses Eine zu erfassen und über Es zu sprechen, ist äußerst groß. Mit der Feststellung, dass wir nur sagen können, ›was Es nicht ist, nicht aber, was Es ist‹, beschreitet Plotin den von Platon initiierten Weg der negativen Theologie. Auch die von Plotin favorisierten Bezeichnungen des Einen und Guten verfallen dieser negativen Theologie, weil Eines bloß die Aufhebung des Vielen besagt, und das Gute im Sinne des Überguten zu verstehen ist.« 250

Doch mit der Negation von Sein wird dem Einen nicht die Wirklichkeit abgesprochen und mit der Negation von Denken nicht Unwissenheit, denn dem Einen kommt ein »Über-Denken« zu. Es hat, bzw. ist, Wille und »gleichsam Liebe zu sich selbst«, weshalb Kremer bei Plotin, im Unterschied zu Platon und Aristoteles, von einer personalen Gottesvorstellung spricht. Die von Plotin angedeutete Erfahrung einer »unio mystica« 251 setzt aber voraus, dass auch die Dualität des Denkens überwunden wird, denn »auch der Geist ist noch Zweiheit von Denkendem und Gedachtem«, die auf das Eine hin überschritten werden muss. 252 Wenn Denken und Gedachtes, Einheit und Zweiheit dasselbe sind, der Geist also die Einheit von Unterschiedenem darstellt, so

Langer, Christliche Mystik im Mittelalter, S. 63. Kremer, a. a. O., S. 63, bezieht sich auf Enneaden V 3, 14,6 f. 250 Kremer, a. a. O., S. 63 bezieht sich auf Enneaden V3, 14,6 f. 251 Plotin, Enneaden IV, 8,1,1–11. 252 Langer, a. a. O., S. 66 f bezieht sich auf Enneaden V, 9,5,8 und analysiert hier sehr klug weiter. 248 249

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zeigt sich »in dieser Bestimmung […] seine Defizienz«, 253 denn das höchste Eine ist für sich und »hat es nicht nötig, sich gleichsam eifrig selber auszuforschen – denn was kann es Neues lernen, wenn es sich denkt? Bereits vor dem Denken ist es ja in seinem ganzen Seinsinhalt für sich selber da. Auch ist ja die Erkenntnis eine Art Verlangen.« 254 In sich selbst also muss man aufsteigen zum höchsten Einen, und deshalb ist die unio mystica als »Einung« kein irrationaler, wohl aber die Vernunft übersteigender Akt, der nicht zur Selbstauslöschung führt, denn die Seele gelangt zu sich selbst, da Selbstentäußerung und Selbstverwirklichung der Seele in diesem Einen in einem »punktuellen Zustand intensivster Verwirklichung« jenseits alles Denkens zusammenfallen. 255 Das hatte Auswirkungen auf Augustinus, der zunächst in Karthago (dem späteren Tunis) Rhetorik studierte, später aber in Rom und am kaiserlichen Hof in Mailand wirkte und sich zum Christentum bekehrte (das Christentum wurde zu seinen Lebzeiten Staatsreligion). Er erhielt später sogar den Ehrentitel »Kirchenvater« und soll mit einem Plotin-Wort auf den Lippen gestorben sein. 256 Denn Augustinus hatte zunächst vor seiner Konversion materialistische Gottesvorstellungen, stieß aber schließlich auf die neuplatonische Konzeption eines immateriellen Geistigen, und dies löste für ihn »drei zentrale Probleme der bisherigen Gottesbegriffe: 1. Aus der Auffassung, dass Gott als geistiges Wesen immateriell sei, wird erklärbar, wieso er über ein unwandelbares und unzerstörbares Wesen verfügt […]. 2. Die Unräumlichkeit des Geistigen erklärt ungleich besser, weshalb Gott überall als Ganzer präsent sein kann; Plotin hatte diese Überlegung u. a. am Beispiel der Präsenz der Seele im Körper erklärt. 3. Die göttliche Unendlichkeit meint gerade keine quantitativ-räumliche Endlosigkeit, 257 sondern bezeichnet die Tatsache, dass Gott von keiner ihm übergeordneten Grenze umfasst sein kann.« 258

Kann man aber über Immaterielles, Transzendentes und Unendliches irgendetwas Angemessenes aussagen? Natürlich zieht Augustinus als

253 254 255 256 257 258

Langer, a. a. O., S. 67. Plotin, Enneaden, V3,10,46 ff. Kremer, a. a. O., S. 63. Kremer, a. a. O., S. 66 f. Augustinus, Confessiones VII, 1, 2. Horn, Augustinus, in: Niewöhner, KdRP, S. 72 f.

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Theologe den Sinn der biblischen Aussagen nicht in Zweifel, bedient sich aber der lange vor Augustinus entwickelten Lehre des Origines vom vierfachen Schriftsinn als eines exegetischen Instruments zur Auslegung und Interpretation auch dunkler Bibelstellen. Besonders wichtig ist ihm dabei der 4. Schritt, der es erlaubt, »den Text als signum, figura oder allegoria« zu verstehen. 259 Als Philosoph jedoch fühlt sich Augustinus von der Tradition der negativen Theologie angesprochen. Hadot hat zwischen zwei Verfahren der negativen Theologie unterschieden und führt das eine – aphairetische – auf Platon, das zweite – apophatische – auf Plotin zurück. 260 »Die erste Methode besteht darin, alle überflüssigen Kennzeichnungen schrittweise aufzuheben, um schließlich zum philosophischen Elementarbegriff des absolut Einfachen und Ersten zu gelangen. […] Die zweite Methode negiert zudem noch den positiven Rest des ersten Verfahrens und stellt Gott als reine gedanklich strikt unerfassbare Negativität dar.« 261 Augustinus kennt und benutzt beide Wege der negativen Theologie, den aphairetischen und den apophatischen. Gotteserkenntnis ist bei Augustinus ein Weg aus der Erfahrung und über sie hinaus, den er in den Confessiones aufgezeichnet hat. Die sinnenhafte Welt muss durchwandert, aber dann verlassen werden, und das gilt auch für Bildhaftes: »Hinter sich lassen muss man damit auch die verbildlichenden Vorstellungen vom Himmel und seinen Hierarchien. Eine Wendung ins Innere […] ist unerlässlich.« 262 In De trinitate bezweifelt Augustinus, ob der »Mund eines Menschen« überhaupt etwas Eigentliches über Gott sagen könne (V, 10,11), und in De doctrina christiana, dass sich über die Trinität überhaupt irgendetwas aussagen lasse. (I, 6,6). Und doch hat Augustinus gerade hier eine historische Weichenstellung vollzogen, indem er platonische und neuplatonische Vorstellungen des Göttlichen als »All-Eines« bzw. »Idee des Guten und Schönen« mit denen des Christentums zusammenbrachte, das das Göttliche in drei Gestalten kannte: Gott Vater, den Schöpfergott, der

Horn, a. a. O., S. 75. Hadot, Exercices spirituels et philosophie antique, Paris 1993, S. 185–193. Auf die apophatische Methode bezieht sich aber bereits Derrida vor 1987 in seinem Jerusalemer Vortrag in »Wie nicht sprechen«. 261 Horn, a. a. O., S. 76. 262 Seubert, Zwischen Religion und Vernunft, S. 111. 259 260

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seinen »Sohn« (was man auch im übertragenen Sinn verstehen kann) als Erlöser der Menschen (als »Menschensohn«) in die Welt geschickt hat, um ihnen den Weg zum Heil zu zeigen, und ebenso seinen Heiligen Geist, dessen Feuer die gottgefälligen Menschen beseelt und befähigen kann, charismatisch Grenzen zu überschreiten und so in die Welt hinein zu wirken. Das neuplatonische triadische Schema von Verharren, Hervorgang und Rückkehr sieht Augustinus aber schon in der heidnischen Kultur, in der er jede Menge solcher Triaden entdeckt. (In der Tat ist ja auch das Tao-Te-King eine solche, in der sich Immanenz und Transzendenz verklammern; und auch die Hindu-Trimurti von Entstehen, Bestehen und Vergehen weist die gleiche Struktur auf.) Das ganze Schrifttum des Augustinus ist durchzogen von solchen Triaden. Das geläufige aristotelische Substanz-Akzidens-Denken brachte Augustinus aber im Hinblick auf die Dreifaltigkeit in Schwierigkeiten. Gemäß dem ersten Konzil von Nicäa im Jahr 325 waren Vater und Sohn als untereinander wesensgleich (»consubstantialis«) zu sehen, und gemäß dem von Konstantinopel 381 auch mit dem Heiligen Geist. Deutete man aber alle drei als drei Substanzen, lief das auf einen Tri-Theismus hinaus, und sah man alle drei als Akzidentien einer göttlichen Substanz, so ließ sich die Einheit und Unveränderlichkeit Gottes kaum noch behaupten. 263 »Denn Akzidentien können einer Substanz nur unwesentlich zugehören; an Gott darf es aber nichts Beliebiges geben.« 264 Augustinus versucht also in seiner Schrift De Trinitate die Substanz-Akzidens-Unterscheidung der aristotelischen Kategorienlehre zu unterlaufen: »Nach dem Vorbild des Porphyrios interessiert sich der Kirchenvater für begriffliche Implikationsverhältnisse. So ist etwa die Relation zweier Freunde eine grundlegend andere als die Relation von Farbe (Akzidens) und farbigem Gegenstand (Substanz). Freundschaft ist eine Relation selbständiger Individuen; innerhalb dieser Relation ist keines der Individuen ein Akzidens. […] Eine notwendige Interdependenz der Relate […]« gilt auch für das »begriffliche Wechselverhältnis eines Liebenden und eines Geliebten.« 265

263 264 265

Seubert, Zwischen Religion und Vernunft, S. 114 (vgl. auch Horn, a. a. O., S. 79). Horn, a. a. O., S. 79. Horn, ebd.

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Augustinus sieht also im Verhältnis von Liebenden und Geliebten und ihrem Verbindungsmoment, der Liebe, eine wichtige Trinitätsanalogie. 266 »Das Beispiel der Liebe als des dritten Gliedes der amans-amatus-Relation zeigt bereits, dass ein Argumentationsziel Augustins darin besteht, die übergeordnete Relation selbst als eins der Relate zu interpretieren«. 267 Damit haben Vater und Sohn Anteil an der göttlichen Liebe, die als heiliger Geist gedeutet werden kann und zugleich alle drei umfasst. Ganz ähnlich sieht Augustin auch die dreifach gegliederte Struktur-Einheit des menschlichen Geistes: Erinnerung, Einsicht, Wille bilden nicht »drei Leben«, sondern sind »ein Leben und nicht drei Geister«. Was man von ihnen auch als einzelne aussagt, gilt von ihnen zusammen auch gleichzeitig. Dadurch sind sie geeint. »Drei indes sind sie dadurch, dass sie aufeinander bezogen werden.« 268 Gleiches gilt auch für die Trinität, und nur so konnte unter Maßgabe von Plotins All-Einem durch Augustinus das »unum, verum, bonum« in der mittelalterlichen Transzendentalienlehre zum Inbegriff des Göttlichen werden. (Das »unum« kam von Plotin in der augustinischen trinitarischen Präzisierung, das »bonum« von Platon, das »verum« von Christus. (»Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.«) Damit hat Augustinus im Ausgang der Antike das Christentum hellenisiert (oder den Platonismus/Neuplatonismus verchristlicht), da der philosophische Gottesbegriff zur Auslegung der Heiligen Schrift benutzt wird und andererseits diese zur (philosophisch neuen) Vorstellung eines liebenden, personalen Gottes verhilft, der aber dennoch mit dem Verstand nicht zu begreifen ist: »Wenn Du begreifst, ist es nicht Gott«. 269 Auch im Bild ist Gott nicht zu fassen, doch zeigen die Bildpraktiken der damaligen Zeit ein anderes Verhalten. Vielleicht musste auch deswegen die negative Theologie so stark gemacht werden. Zwar mussten sich die frühen Christen von heidnischen Götzenbildern und denen des römischen Staatskults absetzen und wussten sich in der Tradition des mosaischen Bilderverbots. Doch sie lebten in einer Umwelt, in der Bilder als Sitz von göttlichen Wesen galten, deren Abbilder durch Konsekrierung beseelt wurden, so dass »dem Bild die glei266 267 268 269

Augustinus, De trinitate VIII 10, 14. Horn, a. a. O., S. 80. Seubert, a. a. O., S. 114 bezieht sich auf Augustinus, De trinitate, X, 11,17. Seubert, a. a. O., S. 111 bezieht sich auf die Predigt 117 des Augustinus.

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chen Kräfte eigneten wie dem Urbild« und es so verehrt werden konnte. 270 Etwa im Jahr 306, unmittelbar nach dem Ende der Christenverfolgungen, setzte das Konzil von Elvira (Spanien) fest, dass »es in der Kirche keine Malereien geben soll; das, was verehrt und angebetet wird, darf nicht auf Wänden gemalt erscheinen«, und auch im Osten des Reiches bezieht der Hoftheologe Konstantins des Großen Stellung gegen die religiösen Bilder und ließ nur die symbola gelten. 271 Der Bischof Epiphanius von Salamis soll auf einer Palästinareise in der Dorfkirche von Anablatha einen Vorhang mit dem Bild Christi oder eines Heiligen wutentbrannt heruntergerissen haben und berichtete empört »von der neuen verwerflichen Unsitte, Abbildungen Christi, der Gottesmutter, von Erzengeln, Engeln, Propheten, überhaupt von Heiligen und Märtyrern herzustellen«. 272 (In der pseudoklementinischen Kirchenordnung wurden, so Lippold, Maler unterschiedslos mit den Götzenbildnern – und damit mit Schauspielern, Wettkämpfern, Trunkenbolden und Bordellbesitzern – auf eine Stufe gestellt, und damit auf die niedrigste Stufe in der ethischen Rangordnung frühchristlichen Empfindens. 273) Doch die Unsitte der Bilder griff weiter um sich. »Im Kultbild war das göttliche Numen gegenwärtig und wirksam, so dass man vor es hintrat, wenn man eine Bitte vorzubringen hatte. Dieser Bildgebrauch hat uralte Wurzeln, die weit vor die gräkorömische Kultur zurückreichen, und bedarf keiner besonderen Erklärung. Er darf auch nicht als eine volkstümliche Entgleisung der Unterschicht verstanden werden, sosehr die immer beredten Aufklärer aus der Oberschicht sich schon damals davon distanzierten. In öffentlichen und privaten Notlagen war der Wunsch nach der Präsenz eines himmlischen Helfers an seinem Kultort und in seinem Bild nur zu verständlich.« 274

Der Unterschied zwischen dem Bild und dem Dargestellten schien aufgehoben, das Bild war der oder die Abgebildete in Person, zumindest seine aktive wunderwirkende Präsenz, wie es bis dahin die Reli-

Belting, Bild und Kult, S. 49. Lippold, Macht des Bildes – Bild der Macht, S. 74 f zitiert Kanon 36 der erarbeiteten Festlegungen. 272 Lippold, a. a. O., S. 75. 273 Lippold, a. a. O., S. 73. 274 Belting, Bild und Kult, S. 49 f. 270 271

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quie eines Heiligen gewesen war. Geschichten von Marienbildern die nach Verletzung durch Soldaten bluten, machten die Runde. 275 Seit 475 waren Westrom und Ostrom getrennt, es gab zwei Kaiser, aber der Papst war und blieb in Rom. Besonders im Oströmischen Reich mit der Hauptstadt Byzanz, dem späteren Konstantinopel und heutigen Istanbul, eskalierte der Bilderstreit bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. In dieser Zeit im Oströmischen Reich fing man an, die ersten Ikonen theologisch zu rechtfertigen. Szenen aus dem Alten und Neuen Testament sollten nun als Anschauungsmittel für die ungebildete Masse der Bevölkerung gelten, die die Heiligen Schriften nicht lesen konnten. 276 Vor dem Hintergrund dieser Zeit ist auch das Werk des Dionysius Areopagita zu verorten, der zunächst für einen Schüler des Apostels Paulus gehalten wurde und diesen Glauben auch bewusst aufrechterhielt, da er sich zum Beispiel als Zeuge der Athener Paulusrede und der beim Tode Jesu herrschenden Sonnenfinsternis ausgab. Doch nach späteren Forschungen (u. a. zitiert er Positionen des Neuplatonismus) handelte es sich um einen syrischen Mönch um ca. 500 nach Chr. (etwas später wird das Werk erstmals zitiert), der daher auch als »Pseudo-Dionysius« tituliert wird und keineswegs später, wie eine andere Legende berichtet, als St. Denis auf dem Pariser Mont Martyr (Montmarte) zum Märtyrer wurde. Pseudo-Dionysius, auch wenn er nicht der war, der er vorgab zu sein, verfasste nichtsdestotrotz ein Werk von ungeheurer Ausstrahlungskraft und Wirkungsgeschichte – über Meister Eckhart bis zu Cusanus und bis hin zu Derrida –, das Corpus Dionysiacum. In seiner christlichen Umdeutung der damals verbreiteten Heilslehre des Neuplatonismus hat er unglaublichen Einfluss auf die mittelalterliche Theologie und Philosophie gehabt. Gott ist ihm Ursache, Anfang, Sein und Leben aller Dinge, 277 aber auch das Eine und Vollkommene jenseits allen Seins, das nie erreicht wird, sondern übererkennbar bleibt. 278 Über Reinigung und

275 276 277 278

Belting, a. a. O., S. 60 f. Koch, Die altchristliche Bilderfrage, S. 68 zitiert den Abt Nilus von Ancyra. Pseudo-Dionysius, De divinibus nominibus i3. ders., De mystica theologia, i3.

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Erleuchtung lässt sich eine Vollendung erreichen in einer nicht im normalen Sinn erkennenden Erkenntnis. 279 Doch »die mystische Theologie, die zur Einung führt, schlägt notwendig um in die negative Theologie, soweit es zum Wesen des Geistes gehört, sich darzustellen. Nach Ps-Dionysius ist dabei die negative Theologie nicht als eine Form der Aussage, die wahr oder falsch sein kann, aufzufassen, sondern als die Sprachhandlung des Lobgesangs oder des Feierns.« 280 Die negative Theologie sei als ein »Aufstieg durch Negationen« aufzufassen. 281 »Um deutlich zu machen, dass das göttliche Wesen auch nicht durch die Beschreibungen der negativen Theologie erfasst werden kann, so als ob es auf einer Seite der vom menschlichen Geist bestimmten Gegensätze stünde, muss diese negative Theologie über sich selbst noch einmal hinausgehen. […] In diesem Sinne endet auch die Schrift Mystische Theologie mit einer Aufzählung der Verneinung der verschiedenen Gegensätze: Gott ist weder Gleichheit noch Ungleichheit, weder Ähnlichkeit noch Unähnlichkeit, weder steht er, noch bewegt er sich, er ist weder Ewigkeit noch Zeit … weder Sohnschaft und Vaterschaft; er ist weder etwas vom Seienden noch vom Nichtseienden, […] weder Licht noch Finsternis, kurzum: Gott ist allen Setzungen und Abstraktionen unseres Bewusstseins entzogen. Hier wird deutlich, dass die mystische bzw. die negative Theologie auch die Negationen überschreiten muss, weil auch sie Tätigkeiten unseres Bewusstseins sind.« 282

Zugleich aber lieferte Pseudo-Dionysius Ansätze einer ersten Bildtheologie, denn sein System stellt eine Pyramide alles Seienden dar, in dem sich Gott, das mit den menschlichen Intellekt absolut unerkennbare Urlicht, offenbart. Und »die Selbstmitteilung des absolut Transzendenten […] über die Hierarchien bis zur Basis der sinnlichen Materiewelt geschieht auch unter Einbeziehung der Urbild-AbbildRelation nach dem Analogieprinzip«, sodass in diesem »System die vom frühen Christentum verteufelte Materiewelt nach neuplatonischem Muster zum sichtbaren Abbild des sich den Menschen mitteilenden unsichtbaren höchsten Seins geworden« ist. 283 Damit hatte Areopagita eine theoretische Grundlegung für die Rechtfertigung materieller Bilder geliefert, die der von Marini zitier279 a. a. O., iii, sowie Kobusch, Pseudo-Dionysius, in: Niewöhner (Hg.), Klassiker der Religionsphilosophie, S. 89. 280 a. a. O. 281 Pseudo-Dionysius, De divinus nominibus xiii, 3. 282 Kobusch, a. a. O., S. 91, vgl. Derrida, Wie nicht sprechen, S. 73–80, 85–91. 283 Lippold, a. a. O., S. 100 f.

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te Johannes von Damaskus (»Damaszenus«) aufgriff und eine Position entwickelte, in der der Begriff »Bild« als Ähnlichkeit definiert wurde, »die das Urbild so ausdrückt, dass zwischen beiden ein Unterschied bestehen bleibt«, eine »Abprägung, die in sich den abgeprägten Gegenstand zeigt.« Und da Damaszenus in der Nachfolge von Areopagita »alles Sichtbare, aber auch alles Unsichtbare, das zur Gestaltwerdung tendiert, als Bild begreift, formt er die erste eigentliche Bildertheologie aus, die auf der die ganze spätere orthodoxe Ikonentheorie aufbaut, und die selbst viele Denker des Westens nachhaltig beeinflussen sollte.« 284 (Ich denke da z. B. an Bergson, vgl. Teil 3.) Bilder können nun als Abglanz einer göttlichen Herrlichkeit gesehen werden, die sich mit Denken oder Sprache nicht erfassen lässt, aber auf dem Stufenweg einer Annäherung an das Göttliche hilfreich sein können, obwohl man sie dann hinter sich lassen muss. Der Bilderstreit im Byzantinischen Reich eskalierte zeitgleich weiter und wurde gewalttätig. Leon III., der erste Ikonoklastenkaiser, verbot jeglichen Bilderkult und ordnete die Beseitigung aller christlichen Kultbilder an, womit die Zeit christlich-monarchischer Bildrepräsentation durchbrochen wurde. Denn vor allen die Klöster trieben schwunghaften Handel mit angeblich wundertätigen Ikonen, und Bilder hatten hohen Prestige- und Symbolwert bekommen. Konstantin V. verfasste dagegen theologische Schriften und betonte, dass ein wahres Abbild mit dem Urbild wesensgleich sein müsse. Dieses könne aber nur die menschliche Natur und nicht die unumgrenzte gottmenschliche Natur Jesu abbilden, 285 weshalb es daher ein wahres Abbild – außer der Eucharistie – nicht geben könne, denn sie allein sei »dem Prototyp wesensgleich«. 286 Also muss jedes Christus- und Heiligenbild ein Götzenbild sein und seine Verehrung Götzendienst. Das aber bedeutete »eine unzulässige Aufwertung eines bloß materiellen Gegenstandes.« 287 »Wann immer die Ikonoklasten an die Macht kamen, nahmen sie religiöse Bilder mit der sinnlichen Anschaulichkeit antiker Malerei, vor allem jene Christi und seiner Mutter, ins Visier und ersetzten sie auf den Kirchenwänden durch ein Kreuz, das im Christentum ein archetypisches Zeichen geworden war und deshalb von niemandem angefeindet werden konnte. 284 285 286 287

nach Lippold, a. a. O., S. 111 f. Döpmann, Die Ostkirchen vom Bilderstreit bis zur Kirchenspaltung 1054, S. 56. Lippold, a. a. O., S. 109. a. a. O.

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Wenn sie aber die Macht verloren, kehrte sich der Vorgang sofort um und wurde das Kreuz gegen jenes Bild ausgetauscht, das sich schon vorher dort befunden hatte. Bild und Zeichen zeugen bei dieser Auseinandersetzung gegeneinander als die Parolen zweier feindlicher Lager, die um die Identität ihrer Kultur im Namen der Religion fochten.« 288 »Bild und Zeichen drückten nämlich wie in späterer Zeit eine Antithese aus: Wo ein Bild war, konnte kein Zeichen sein, und umgekehrt. Das Kreuz wies nicht nur auf seinen eigenen Zeichencharakter, sondern auch auf die Abwesenheit der Ikone hin, was diese wieder als Anti-Zeichen erscheinen ließ: Bild und Zeichen denunzierten sich im Bilderstreit gegenseitig als Abirrung und Verrat.« 289

Einen Höhepunkt fand die Entwicklung beim ikonoklastischen »Konzil« von Hiereia 754 n. Chr. (Dieser Konzils-Status wurde ihm später wegen der nicht-ökumenischen Besetzung der einberufenen 338 Bischöfe aberkannt – was damals Ostkirche und Westkirche meinte). Die Bilderfreunde und Bilderverehrer (»Ikonodulen«) wurden zu Ketzern erklärt, der mit über 100 Jahren bereits gestorbene Johannes v. Damaskus und Patriarch Germanos exkommuniziert und alle Bilderproduktion und -verehrung untersagt, was brutale Gewalt und Verfolgung nach sich zog. Denn Konstantin V. hatte Bischofstühle mit seinen Anhängern besetzt und eigens neue Bistümer gegründet, und der Beschluss war in seinem Sinn: Da nur die Menschennatur Christi dargestellt werden konnte, komme das Bild einer Leugnung seiner Gottmenschlichkeit gleich. Über Konstantin hinausgehend wurden aber auch Bilder der Gottesmutter, der Apostel, der Heiligen und Märtyrer verurteilt. 290 Bilder galten nun als Hindernis der Reinheit des Glaubens, was aber auf andere Bildpraktiken – auch auf kirchlicher Seite – traf. »Der hundertjährige Bilderstreit, der zeitweise in einen Bürgerkrieg ausartet, spaltet die Kirche und die Gesellschaft.« 291 Wer nun noch für Bilder eintrat, galt nicht nur als Gegner des Kaisers, sondern auch als Häretiker. 292

288 Belting, Das echte Bild, S. 139 (Wie man in Teil III sehen wird, setzt sich dieser Streit auch in säkularer Kultur fort bzw. wirkt in sie hinein.) 289 Belting, ebd. 290 Döpmann, a. a. O., S. 57. 291 Belting, Bild und Kult, S. 166. 292 Döpmann, a. a. O., S. 58 beschreibt die sich anschließenden schrecklichen Ausschreitungen gegen Bilder und Bilderfreunde.

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2.2.2 Das 2. Konzil von Nicäa und der Aufschwung der religiösen Kunst im Mittelalter Eine Restauration der bilderfreundlichen Tendenzen, die immer mit orthodoxen kirchentreuen Bewegungen gegen das Kaisertum verknüpft war, bahnte sich an, als Kaiserin Irene als Regentin für ihren minderjährigen Sohn Konstantin VI. an die Herrschaft kam und 787 n. Chr. ein ökumenisches Konzil nach Nicäa, südöstlich von Konstantinopel, einberief, wo schon einmal unter Konstantin dem Großen 325 das erste allgemeine Kirchenkonzil getagt hatte. Viele der Synodalen – ergänzt durch zwei päpstliche Legate – hatten vorher gegen Bilder gestimmt, was sie aber nicht hinderte, nunmehr die Front zu wechseln. Das Konzil verdammte alle Beschlüsse der Vorgängersynode, erklärte sie für häretisch und setzte den Bilderkult wieder ein, Bilder von Jesus Christus und den Heiligen sollten verehrt, aber nicht angebetet werden: »Denn je öfter man sie in bildlicher Gestaltung sieht, desto mehr werden die, die sie betrachten, zur Erinnerung an deren Urbilder und zur Sehnsucht nach diesen angeregt, und dazu, ihnen Küsse und ehrende Gebete darzubringen. Nicht jedoch, ihnen wirkliche Anbetung zukommen zu lassen, im Sinne des Glaubens an sie, die nur dem göttlichen Wesen gebührt!« 293

Die den Bildern erwiesene Verehrung gehe, beschloss man, auf die Urbilder über, und »wer das Bild verehrt, verehrt die Seinswirklichkeit (»hypostasin«) des darauf Dargestellten.« 294 Die Bildlehre des Damaszenus, der unter islamischer Besetzung in einem Jerusalemer Kloster wirkte und drei Bücher zur Bilderthematik geschrieben hatte, wurde nun kanonisch und vom damaligen Patriarchen Germanos unterstützt, war aber natürlich apologetisch, da sie nur die vorhandenen Bildpraktiken sublimiert und nachträglich legitimiert. Belting bezeichnet die Ikonenlehre als die christliche Version antiker Bildtheorien: 295 »Gott wird in Byzanz immer nur in der Gestalt des Menschensohnes abgebildet. Christus, der Mensch, bildet zugleich auch Gott ab, zum einen, weil

293 Döpmann, a. a. O., S. 62. Daher ist die Behauptung von Naef, das 2. Konzil von Nicäa habe den Kult der Bilder gebilligt und sogar dazu ermutigt, undifferenziert und falsch; s. Naef, Bilder und Bilderverbot im Islam, S. 28. 294 Konzilsbeschluss zitiert nach Döpmann, a. a. O., S. 62. 295 Belting, a. a. O., S. 164.

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er Gott in der göttlichen Natur ähnlich ist, zum anderen, weil in ihm Gott als Mensch sichtbar geworden ist. Christus verhält sich zu Gott wie dessen Bild. Die Analogie mit dem Abbild wirft jetzt Gewinn für die Bilderlehre ab. Zwischen Christus und Gott besteht eine Klammer: beide sind ein Gott. Genauso besteht zwischen dem gemalten Abbild und seinem Modell eine Klammer: beide sind eine Person.« 296

Nach orthodoxer Ansicht kann der Maler, der kein Schöpfer eines Abbildes ist, nur deshalb abbilden, weil er auf das Modell angewiesen ist, dessen Abbildung seine eigene Leistung ist und ihm zuzurechnen ist. Nur deshalb konnte man glauben, dass das Urbild von seinem Bildnis bezeugt wird, das existentiell mit dem Wesen des Urbildes verknüpft ist und daher auch in ihm verehrt werden kann, 297 denn hier kann eine übernatürliche Kraft auf das Bild übergehen. Diese Ansicht wurde nun kanonisch, Bilder als »biblia pauperum«, als Bibel der Armen, 298 die des Lesens nicht kundig waren, wurden zum festen Bestand christlicher Traditionen, auch wenn die Bilderfeinde noch einmal kurz die Oberhand gewannen, denen man von Seiten der Bilderfreunde sogar unterstellte, dass sie die Inkarnationslehre leugneten. 299 Im März 843 aber rief Kaiserin Theodora in die Hagia Sophia, die damals christliche Basilika war, eine Synode ein, die die ehemalige Position bestätigte und endgültig die Konzilsbeschlüsse des 2. Nicäums billigte, was die orthodoxe Kirche bis heute mit ihrem jährlichen »Fest der Rechtgläubigkeit« feiert: »Wir schreiben vor, die Ikone unseres Herrn […] zu verehren, und ihr dieselbe Ehre zu erweisen, wie den Büchern der Evangelisten. Denn so gut wie alle durch die Buchstaben der letzteren zum Heil kommen, ebenso finden alle – die Wissenden und die Unwissenden – durch die Bildwirkung der Farben ihren Nutzen darin, und sind dazu imstande. […] Wenn also einer die Ikone Christi nicht verehrt, so soll er auch nicht imstande sein, seine Gestalt bei der Wiederkunft zu schauen.« 300 (womit die Wiederkehr Christi beim Jüngsten Gericht am Ende aller Zeiten gemeint ist)

Belting, Bild und Kult, S. 175. a. a. O., S. 174 f. 298 vgl. die Äußerung Papst Gregors des Großen über den pädagogischen Wert der Bilder, in: Lippold a. a. O., S. 123. 299 Lippold, a. a. O., S. 114: »Wer die Darstellbarkeit Christi leugnet, leugnet die Inkarnation!« 300 Belting, Bild und Kult, S. 172. 296 297

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Kein Bildnis machen? Bildauffassungen in religiösen Kulturen

Bild 7: Klassizistische, russisch-orthodoxe Ikonostase

Die Ikonenmalerei der Ostkirche nahm also einen ungeheuren Aufschwung, es gab keinerlei Vollplastik mehr, 301 und es entwickelte sich hier, zunächst durch Behang des Altargitters mit Ikonen, die Ikonostase, die für griechisch-, russisch- und syrisch-orthodoxe Kirchen so charakteristische Bilderwand in unterschiedlicher Ausformung, 302 Sie trennt den sakralen Altarraum, der manchmal nur durch eine kleine Tür – nur für die Priester – zugänglich und oft völlig bilderlos ist, von dem Raum, in dem die Gläubigen sich befinden, denen die vielen Bilder zugewandt sind. Das Heilige ist bilderlos und also (platonisch gedacht) jenseits der Bilder, durch die hindurch (neuplatonisch gedacht) die Andacht gelangen muss (in orthodoxen Kirchen muss bis heute eine Ikone im Eingang geküsst werden). In syrisch-orthodoxen Kirchen hingegen tritt ein bemalter Vorhang (das hatte Mohammed ausdrücklich verboten) an diese Stelle. Er wird für den Gottesdienst zurückgezogen 301 302

Lippold, a. a. O., S. 118. vgl. ausführlicher Belting, a. a. O., S. 266 f.

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Bild 8: Syrisch-orthodoxe Ikonostase als Vorhang vor dem Altarraum

und enthüllt dann erst den Altarraum. Das obenstehende Foto aus dem christlichen Kloster Mor Gabriel in Südostanatolien ist ein historisches Dokument, denn im Juni 2016 enteignete die türkische Regierung alle christlichen Klöster und konfiszierte ihr Inventar. Das Weströmische Reich war seit 476, dem Einmarsch der Germanen in Rom, im Zerfall begriffen (während sich »Ostrom« bis 1453 halten konnte). Das erste christliche Kaiserreich in Westeuropa unter Karl dem Großen entwickelte andere Bildpositionen. Karl der Große, dessen fränkisches Königtum zur Schutzmacht des Papstes geworden war, hatte dem Papst vorgeworfen, dass er Vertreter der weströmischen Kirche nach Nicäa geschickt hatte. Karl war verärgert, dass er nicht eingeladen oder gehört worden war, und wollte in der Bilderfrage eine eigene Haltung unter Beweis stellen, denn er verstand sich als führende geistige Macht im Abendland und als christlicher Herrscher eines Reiches, das von Nordsee und Atlantik bis an die Adria reichte und von der Elbe bis zum Ebro. Die oberste Leitung von Staat und Kirche hielt Karl ausschließlich für 149 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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sein Recht und seine Pflicht (sogar der Papst galt nun als Untertan Karls). Papst Hadrian hatte Karl die Konzilsakten des 2. Nicäums geschickt, doch Karl vertrat eine dezidiert andere Bildposition als »Byzanz«, die er in den Libri Carolini formulierte. Karl sprach Deutsch und Latein und verstand Griechisch, war aber nicht in der Lage, flüssig zu schreiben 303, und er brachte der Schrift – und auch der Heiligen Schrift – immer eine besondere Hochachtung entgegen. Auch war er für sein Reich sehr um mehr Bildung bemüht. Und natürlich mussten in einer Kultur, die noch nicht lange vom Heidentum zum Christentum gewechselt war, andere Einflüsse berücksichtigt werden. Die griechische Lust am Schauen war den Völkern nördlich der Alpen eher unbekannt. Lippold zeichnet nach, dass in keltischen (z. B. in England und Irland) und in germanischen vorchristlichen Kulturen anders als in mediterranen Kulturen eher Zeichen, nicht nur für Göttliches, symbolhaft gebraucht wurden. 304 (Runen, Thors Hammer zur Abwendung von Unheil und als Fruchtbarkeitssymbol, bewusst nur sehr grob behauene Plastiken.) (Tacitus hatte in seiner Schrift Germania auf diese Scheu vor Bildern hingewiesen. 305) Auf diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Karl in den vier Büchern der Libri Carolini, die im Kreise der Hofgelehrten vor Karl beraten und redigiert worden waren, 306 der Schrift, aber nicht dem Bild dokumentarischen Charakter zumisst. 307 Allenfalls Symbole wie das Kreuz, das nicht als Bild, sondern als Zeichen nicht mit dem zu verwechseln ist, den es symbolisiert, gelten als statthaft: Als Objekt ist es nichts, als Bedeutung alles, denn es lenkt den Sinn hin auf das von ihm Intendierte. 308 Doch Karl folgte der didaktischen Linie der früheren Päpste, die Bilder zur Unterweisung des Volkes zuließen, will den Franken in der Bilderfrage freie Hand lassen und sich den Griechen gegenüber als tolerant und damit überlegen erweisen. Er will sich sowohl von den Lippold, a. a. O., S. 176. Lippold, a. a. O., S. 126–169. 305 »Im übrigen sind sie der Meinung, sie dürfen die Götter weder in Tempelwände einsperren noch sie sich irgendwie in Menschengestalt vorstellen – und zwar der Größe der Himmlischen wegen. Sie weihen ihnen Wälder und Haine und benennen mit Götternamen jenes Geheimnisvolle, das sie mit ehrfürchtiger Scheu wahrnehmen.« (nach Lippold, a. a. O., S. 151) 306 a. a. O., S. 180. 307 Libri Carolini, Nachdruck 1979, Lippold, a. a. O., S. 178. Das Gutachten in der Bildfrage findet sich auch im Anhang 33 zu Beltings Bild und Kult, S. 592–594. 308 Belting, Bild und Kult, S. 177. 303 304

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Bilderzerstörern als auch von den Bilderverehrern distanzieren. 309 Bilder werden weiterhin zugelassen, ihre Verehrung aber schärfstens abgelehnt, wobei die griechische Urbild-Abbild-Relation keine Rolle spielt. Bilder und Zeichen werden hier anders als in Byzanz nebeneinander geduldet, wobei allerdings dem Zeichen des Kreuzes kraft biblischer Autorisierung (es gilt Christen ja auch als Zeichen für Jesu Auferstehung durch den Tod hindurch) ein höherer Wert zugesprochen wurde. 310 So erklären sich auch einige karolingische Kreuze, die keinen Korpus aufweisen, sondern in ihrer Mitte das Symbol des Opferlamms. Dem Bild bzw. Abbild wird ein potentieller Heilswert oder eine besondere Wirkkraft abgesprochen, Bilder sind faktisch machtlos; der Maler ist aus sich selbst heraus schöpferisch tätig, und daher müssen die Bilder auch nicht beseitigt werden, sie sind von jeder Mystifikation befreit und als »bloßes Menschenwerk« entlarvt. Allerdings begründen die »Libri Carolini« den Reliquien- und Heiligenkult, z. B. am Apostelgrab in Santiago de Compostela: Reliquien könnten am Jüngsten Tag auferstehen, Bilder aber nicht, diese hätten nie gelebt und könnten daher auch nicht auferstehen, sie würden nur verrotten und verfaulen. 311 Sowohl in der orthodoxen Ostkirche, die sich 1054 von Rom lossagte, 312 als auch in der westlichen Christenheit markiert das 2. Nicänum also eine endgültige Trendwende und Klärung in der Bilderfrage, wenn auch je andere Traditionen wirksam werden. Der Produktion von sakralen und nichtsakralen Bildern wird daher ein ungeheurer Schub versetzt. Dabei handelt es sich bis hin zur Renaissance aber weitgehend um zweidimensionale Tafelbilder, höchstens Reliefs; die Vollplastik war eingedenk des Platonischen Mimesisverbots »gegen alles, was einen Schatten wirft« lange Zeit verpönt und galt als heidnisch.

Lippold, a. a. O., S. 182. a. a. O., S. 332. 311 a. a. O., S. 186. 312 zu weiteren Hintergründen s. Döpmann, Die Ostkirchen vom Bilderstreit bis zur Kirchenspaltung 1054, S. 130 ff. 309 310

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2.2.3 Jenseits von Bild und Sprache: Cusanus und die christliche Mystik Die um sich greifende Bilderproduktion erforderte ein Gegengewicht. Die mittelalterliche Mystik nach der Zeit der Kirchenväter blühte in den Klöstern, die auch Stätten der Bildung waren. Sie verfügten nämlich über große Bibliotheken, kopierten lange vor der Zeit des Buchdrucks klassische Handschriften per Hand und sorgten so für ihre weitere Verbreitung. Über Augustinus war dort auch Plotin bekannt und übte mit seinem Konzept des »Einen« bzw. der »Einung« großen Einfluss aus. Dabei erwies sich die Mystik als andere Seite der negativen Theologie, wenngleich beide nicht unbedingt zusammen auftreten müssen. Geht es der negativen Theologie um die absolute Transzendenz Gottes und seine Unbegreiflichkeit aus Mitteln des endlichen menschlichen Verstandes 313 und eine demzufolge gefühlte unendliche Distanz, so streben die scholastischen Frömmigkeitskulturen auf anderem Wege nach »Schau« des Göttlichen und nach Vereinigung in der »unio mystica«. Man kann daher die scholastische Mystik als Quelle für den abendländischen Subjektbegriff sehen, denn in ihr wird eine ganz subjektive individuelle Erfahrung gesucht. Das alte Erkenntnismodell der Teilhabe an einer göttlichen Vernunft wandelt sich, schon in der Frühscholastik hatte z. B. Abaelard festgestellt, dass alles Wirkliche immer individuell sein müsse und es echtes Wissen nur vom Einzelding gebe, wohingegen für Platon und Augustinus die allgemeine Idee das Genaueste war und die Grundlage für Wissen und Wahrheit. 314 Schon auf der ersten Stufe des mystischen Weges, der »Reinigung«, wird diese individuelle Erfahrung gemacht. Neben Askese und Buße gehört auch eine geistige Einstellung zu diesem Weg: Hier muss alles Unwesentliche weggelassen werden, und diese »Gelassenheit« wird oft mit der buddhistischen »Leere« in Verbindung gebracht: »Der Mensch soll alles Kreatürliche – sein Selbst und damit alle Ziele, Absichten, Ansprüche, jedes Wissen-, Sein-, und Habenwollen, ›lassen‹.« 315 Er wird damit willenlos und kann sich dem Wil-

313 314 315

vgl. Rahner, Von der Unbegreiflichkeit Gottes. Hirschberger, a. a. O., S. 413. Margreiter, a. a. O., S. 83.

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len Gottes öffnen. Vor allem ist er dann »arm im Geiste«, und ein attraktiver Weg ist dann konsequent etwa in der franziskanischen Armutsmystik zu sehen. Der von Franz von Assisi gegründete »Bettelorden« wurde zunächst verspottet, denn es war durchaus nicht selbstverständlich, dass man als Ordensbruder in der Nachfolge Christi arm zu sein hatte, 316 um für die Menschen da sein. Der »Sonnengesang« des Franz v. Assisi machte deutlich, dass man sich auf dieser Basis allen Geschöpfen, sogar »Bruder Sonne und Schwester Mond« verschwistert fühlen konnte, da man gemeinsam aus Gott hervorgegangen war. Franz sah also die Schöpfung als Spiegel der Güte Gottes, sodass mit der franziskanischen Armutsmystik auch eine theophanische Naturmystik verknüpft ist. 317 Im Orden der Zisterzienser wuchs eine andere Art von Mystik: Mit Bernhard von Clairvaux entstand auf der Basis des Hohen Liedes der Liebe im Alten Testament, das von Liebe und Leid handelt, eine Liebes- und eine Passionsmystik. Passio und compassio, Liebe und Mitgefühl sind die Basis für eine Annäherung an den menschgewordenen Gott. 318 Dabei vermischen sich christliche Vorstellungen von Schmerz, Leid und Mitleid mit »Elementen einer Affektenlehre griechischer Provenienz«, 319 doch ist bei Bernhard »Selbsterkenntnis« keineswegs eine Analyse kognitiver und affektiver oder anderer psychischer Phänomene, sondern der Mensch muss sich auf dieser Stufe seiner kreatürlichen Nichtigkeit und Sündhaftigkeit bewusst und sich selbst transparent werden. Die Liebe zu Gott und die so aus einer Einheit von Verstand und Gefühl entstehende mystische Intuition führt schließlich zu einer »unio«, weshalb Bernhard schließlich auch eine »Brautmystik« entwickelt. Dies musste natürlich auch für weibliche Orden attraktiv werden, und es ist erstaunlich, dass Langer bei seiner Behandlung benediktinischer Mystik die Benediktineräbtissin Hildegard von Bingen unterschlägt. Zwar hat Oliver Sacks ihre Lichtvisionen mit dem Auftreten von Migräne-Auren erklärt, doch war sie von ungeheurer Ausstrahlung und Bedeutung für die mittelalterliche Mystik, die sich auch bei den Beginen entwickelt hatte. Sie gründete sogar einen Orden, in den auch nichtadelige Frauen eintreten konnten. 316 317 318 319

Langer, a. a. O., S. 269 f. Langer, Christliche Mystik im Mittelalter, S. 268. Langer, a. a. O., S. 193–197 und S. 191. Näheres in einem Exkurs dazu bei Langer, a. a. O., S. 197 ff.

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Besondere Erwähnung verdienen auch die Schweigeorden der Kartäuser und Trappisten, die während der Zeit der hochscholastischen Mystik ihre Blütezeit erlebten und nicht nur Kontemplation, sondern auch strenges Schweigen zu ihren Regeln zählten. Der Zisterzienser Abaelard hatte im Universalienstreit Partei ergriffen und – gegen Essentialismus und Nominalismus – betont, dass Allgemeinbegriffe nur Meinungen seien und darum kein wirkliches Wissen begründeten. Man könne sie zwar nicht als bloße Worte bezeichnen, aber auch nicht als ein Wissen um das Innere der Dinge. Das besitze nur Gott. Und da allgemeine Begriffe durch Abstraktion entstehen (wie später auch Locke betonte) und diese Abstraktion auf verschiedene Weise möglich sei, »könnte man ruhig das Universale auch eine res ficta heißen«. 320 Solche Sprachskepsis macht deutlich, dass Begriffe den Weg nach innen verstellen können; nur die Einzelerfahrung zählt. Das Schweigegebot kann also als ein Mittel zur Annäherung an eine innerlich zu erfahrende Präsenz Gottes dienen und reiht sich ein in die Maßnahmen der »Reinigung« der Seele auf dem Weg zum kognitiv Unbegreiflichen. Warum zieht sich der Mystiker, so fragt Margreiter, »der Denken und Sprache offenbar nur als höchst unzureichende Mitteilungsund Darstellungsformen, ja letztlich nur als Verzerrungen und Verfälschungen seiner ›eigentlichen‹ Erfahrung ansieht, nicht völlig ins Schweigen zurück?« Margreiter kritisiert die Auffassung, dass mystische Erfahrung prinzipiell vorsprachlich sein müsse, die der Mystiker nachträglich – im Drang sich mitzuteilen – in Sprache umsetzen möchte. Da die Anleitungen zum Weg mystischer Erfahrung sprachlich vermittelte sind, durch sog. »Mystagogen«, die Kant ironisiert hat, sei »mystisches Sprechen […] kein nachträglicher Akt gegenüber der mystischer Erfahrung, sondern deren Mit-Konstituens.« 321 Das zeigt sich auch besonders an dem nachfolgend thematisierten Meister Eckhart, der hier als besonders wirkmächtig genannt und wegen seiner großen Bedeutung ausführlicher beschrieben werden soll. Denn gerade Eckhart kann »als großer Poet und Schriftsteller Visionen in Sprache umsetzen« und Bilder und Gleichnisse finden

Hirschberger, a. a. O., S. 413. Margreiter, a. a. O., S. 101. Vgl. Derrida, Wie nicht sprechen – Verneinungen, sowie seine Ironisierung von Kants Mystagogen-Kritik in der Apokalypseschrift »Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie«, in der er dem Kant’schen Vernunftmodell die Offenbarung des Johannes entgegenstellt. 320 321

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»für einen mystischen Gehalt, der eigentlich unaussprechlich ist und nicht ausgesagt werden kann.« Er stellt sicher einen Höhepunkt in der abendländischen Mystik dar, weil sich bei ihm »viele Grundzüge der Mystik […] in großer konzeptioneller Verdichtung« 322 finden. Eckhart, von Pseudo-Dionysius und Maimonides 323 beeinflusst, lebte von 1260–1328 und war zunächst innerhalb des Ordens mit internen Bildungsaufgaben betraut. Er wurde als Dominikanermönch noch mit Albertus Magnus bekannt, den er oft zitierte. Damit bekannte er sich zum Programm Alberts, der die Wissenschaft der Antike und der Araber in das christliche Denken integrieren wollte. Doch er identifizierte sich auch während seiner Professur in Paris weder mit den radikalen Aristotelikern noch mit den antiphilosophischen Strömungen innerhalb der dortigen theologischen Fakultät. 324 Er distanzierte sich auch von der Theologie und aristotelisch inspirierten Metaphysik des Thomas v. Aquin, dem renommiertesten Schüler des großen Albert, da die von ihm vertretene »aristotelische Substanzontologie im Bereich der ›spiritualia‹ total versagt« 325 und Eckhart nicht wie Thomas glaubte, dass »Gott denkt, weil er ist«, sondern gerade umgekehrt feststellte: »Weil er denkt, ist er«. 326 (Was Descartes später auch für das Ich formulierte.) Der Unterschied zur Ontotheologie des Thomas wird in der von der via negativa inspirierten Predigt in Quasi stella matutina deutlich: »Grobe meister sprechent, got sî ein lûter wesen: er ist als hôch über wesene, als der oberste engel ist über einer mücken. Ich spraeche als unrechte, als ich got hieze ein wesen, als ob ich die sunnen hieze bleich oder swarz. Got enist weder dies noch daz. Und sprichet ein meister: swer dâ waenet, daz er got bekannt habe, so enbekante er got niht. Daz ich aber gesprochen hân, got ensî niht ein wesen und sî überwesene, hiemite enhân ich im niht wesen abgesprochen, mêr: ich hân es im gehoehet.« 327

Grätzel, Die Vollendung des Denkens, S. 95 und 107. Sturlese, Meister Eckhart, in: Niewöhner, KdRP, S. 238. 324 Sturlese, Meister Eckhart, in: Niewöhner, a. a. O., S. 226 f. 325 Sturlese, a. a. O., S. 239. Gut erklärt wird der Zusammenhang von Substanzontologie und klassischer Transsubstantiationslehre bei Klueting, Luther und die Neuzeit, S. 89. 326 Seubert, Zwischen Religion und Vernunft, S. 133 bezieht sich auf Lat. Werke V, 40. 327 Quint / Zimmermann (Hg.), Meister Eckharts Predigten, Bd. 1: Quasi stella matutina, S. 143 f (»Wenn ich aber gesagt habe, Gott sei kein Sein und sei über dem Sein, 322 323

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Hier ist das von Derrida ausgewählte Zitat aus Quasi stella matutina zu verorten: »Gott ist nicht gut noch besser noch allerbest. Wer da sagte, Gott sei gut, der täte ihm ebenso Unrecht, wie wenn er die Sonne schwarz nennen würde.« 328 Menschliche Begriffe und Namen 329 reichen nicht hin. Aber bei der negativen Theologie bleibt es nicht: Eckhart beschreitet den mystischen Weg. Schon in einer seiner ersten Predigten greift er den Reinigungsgedanken mit einer originellem Metapher auf und vergleicht die menschliche Seele mit einem Tempel, in dem – wie in der Bibel – Händler allerlei Geschäfte treiben und ihn so entweihen. Es geht aber um das »Leermachen der Seele, das Freimachen für das Nicht«, und Grätzel fragt: »Was sind in diesem Tempel dann die Kaufleute […], die Händler, die in der Seele herumwerken, kaufen und verkaufen? Auch dieses Bild ist leicht zu verstehen. Es beschreibt das innere Leben, die innere Seite des Lebens, die wir im Alltag erleben. Denn auch hier sind wir Kaufleute, wir empfangen etwas und geben etwas dagegen, wir verschenken vielleicht auch einmal etwas, aber dann erwarten wir natürlich, dass wir etwas zurückbekommen. Die Kaufleute sind das innere Nehmen und Geben der Seele, […] es ist ein geschäftiges Treiben. Das muss ausgetrieben werden.« 330

Durch Selbstverneinung im »vernihten sîn selbes«, in dem er »sînen willen unde sich selber laesset«, erreicht der Mensch »Abgeschiedenheit, Freiheit, Gelassenheit und die Einsicht ins eigene Wesen« 331 und macht sich so bereit für die Begegnung mit Gott. Es geht hier also um eine Spiritualisierung der Armutsidee, um ein inneres Leerwerden, wie es auch im Buddhismus auf dem Weg zu möglicher Erleuchtung nötig ist. Auch die zweite Stufe des mystischen Weges wird von Eckhart im Blick auf das Armutsideal grundlegend umgestaltet, denn jede Art von Gebet, Vision oder Kontemplation kann Eigentumsstrukturen aufweisen und die vita illuminativa behindern. 332

so habe ich ihm damit nicht das Sein abgesprochen, vielmehr habe ich es ihm erhöht.« (vgl. Albert, a. a. O., S. 83) (Weitere Zitate erfolgen in heutigem Deutsch.) 328 Derrida, Wie nicht sprechen, S. 81. 329 vgl. Derrida, Außer dem Namen, in: ders., Über den Namen, S. 65–103. 330 Grätzel, Die Vollendung des Denkens, S. 85. 331 Sturlese, a. a. O., S. 229. 332 a. a. O., S. 334.

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»In einer Reihe von Abgrenzungen und Negationen destruiert er traditionelle Vorstellungen vom Gebet als Akt des Geschöpfes, das sich mit seinem Gebet zu Gott auf seine eignen Belange bezieht. Das wahre Gebet besteht dagegen im Schweigen. Da das göttliche Wort schon immer in der Seele verborgen liegt, aber nur gehört werden kann, wenn alle Stimmen verstummen, darf der Mensch nicht reden, damit Gott reden, d. h. sein Wort in der Seele hervorbringen kann.« 333

Und auch das Komtemplative muss enteignet werden: An die Stelle des »kontemplativen Genusses« sollen »selbstlose Taten der Nächstenliebe« treten: actio vor contemplatio. 334 Auch bildhafte Vorstellungen, Sprachbilder (diese sind nur als didaktisches Hilfsmittel zu verstehen) und die Kategorien der je eigenen Sprache muss man hinter sich lassen. Die Negation der grundlegenden Kategorien, die sich durch die gesamte mystische Literatur hindurchzieht, nämlich die von Ich und Gegenstand, Grund und Folge, Zahl und Vielheit, Raum und Zeit, die man neben anderen Begriffen als sprachliche Konstrukte sehen kann, bedeutet Entgrenzung des Eigenen. Dabei wird der »platonisch-neuplatonische Begriff des ›Einen‹ dafür verwendet […], die unio als negierenden und zugleich fundierenden – letztlich also dialektisch vermittelnden – ›Grund‹ aller Kategorialität, von dem diese ausgeht und zu dem sie zurückkehrt, zu veranschlagen.« 335 Plastische, gemalte, oder auch nur durch die Einbildungskraft vorgestellte Bilder repräsentieren etwas, wie sprachliche Symbole und Zeichen verweisen sie auf etwas außerhalb ihrer selbst, und das kann auch Nichtgegenständliches, Transzendentes sein. Sie helfen also auf dem Weg zur unio, sind aber in ihr bedeutungslos. Margreiter vermutet, dass sich Sinn und Gebrauch von Symbolik im Lichte mystischer Erfahrungen wandeln, denn die unio ist »jenseits aller Repräsentationsabsichten«. »Die unio selbst ist – hier schwelgt Eckhart in apophatischen Beschreibungen – über allen ›Kräften‹. Sie ist ›weiselos‹, ›unmittelbar‹, ›bildlos‹ und jenseits aller Gleichheit (d. i. Vergleichbarkeit). Man erkennt sie nur in einer ›weiselose Weise‹ und als ›bildloses Bild‹.« 336

333 334 335 336

ebd. Langer, a. a. O., S. 338. Margreiter, a. a. O., S. 72 f. a. a. O., S. 102 f.

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Die Transgegenständlichkeit und Transkategorialität dieser unio, ihre Bildlosigkeit, die sich jeder sprachlichen und kognitiven Strukturierung entzieht, macht sie zu etwas Unaussprechlichem: »Daz ist über allez, daz man geworten mac.« 337 Aber wo das Denken versagt, kann die Liebe weitergehen: Entgrenzt hat diese Liebe »einen universalen Zug: sie schließt nichts aus und bezieht sich auf alles. Dieser Bezug aufs Ganze ist ihr ›Adel‹ : »Diu minne ist edel, wan sie gemeine ist.« Diese radikale bzw. mit Gott bzw. der unio gleichgesetzte Liebe geht also auf nichts Einzelnes mehr, bevorzugt nicht Eines vor dem anderen, sondern geht auf den alle Dinge umfassenden, zugleich bergenden und vernichtenden göttlichen Grund (der immer zugleich Abgrund ist).« 338 Margreiter interpretiert: Das (kategoriale) Dunkel erhellt sich und schlägt um »in das (transkategoriale) ›Licht‹, das nicht mehr dem Denken, sondern nur noch der Liebe zugänglich ist.« 339 Damit ist eine Art ›Schauen‹ des Einen möglich. In der Interpretation Derridas: »Wenn aber alle Bilder der Seele abgeschieden werden, und sie nur das einige Eine […] schaut, dann findet das reine Sein der Seele, erleidend und ruhend in sich selbst, das reine formenfreie Sein göttlicher Einheit, das da ein überseiendes Sein ist. […] Wir vermögen nun nichts zu erleiden als Gott, nichts anderes als ihn. So benannt ist Gott ›namenlos, denn von ihm kann niemand etwas aussagen, oder erkennen.‹ Von diesem überhervorragenden Sein, welches auch eine ›überseiende Nichtheit‹ ist, muss man vermeiden zu sprechen. Eckhart lässt den heiligen Augustin sprechen: Das Schönste, was der Mensch über Gott auszusagen vermag, besteht darin, dass er aus der Weisheit des inneren (göttlichen) Reichtums schweigen könne. ›Schweig daher.‹ schließt Eckhart an. ›Ohne dies lügst Du und tust Du Sünde.‹ Es ist ein Müssen aus Liebe, die in einem Gebet die Hilfe Gottes erbittet: ›Du sollst ihn lieben wie er ist ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild, mehr noch: wie er ein lauteres klares Eines ist, abgesondert von aller Zweiheit. Und in diesem Einen sollen wir ewig versinken vom Etwas zum Nichts. Dazu helfe uns Gott.‹« 340

Margreiter, a. a. O., S. 96 bezieht sich auf Eckharts Predigt 86, II/220, 6. a. a. O., S. 79 bezieht sich auf Eckharts Predigt 4, I/50. 339 Margreiter, a. a. O., S. 77 bezieht sich damit auf einen anonymen englischen Kartäuser, der im 14. Jahrhundert einen mystischen Text mit dem Titel »The Cloud of Unknowing« verfasste. 340 nach Derrida, a. a. O., S. 92 f. 337 338

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Da Abgeschiedenheit und Reinigung (durch Askese und Lösung vom Alltäglichen) nötig ist, gibt es Analogien zu buddhistischen Vorstellungen, die Fülle im Nichts zu erlangen, dass nicht Nichts ist, sondern erfüllte Leere (s. u.). »Dieses reine und mit Gott identische Sein aber kann nach Eckhart durch die Vernunft erkannt werden, und zwar nun nicht nur in der Weise rationalen Denkens, sondern in mystischer Vereinigung, so dass die Trennung von Subjekt und Objekt überwunden scheint. […] So wird in einer lateinischen Predigt die Seinserkenntnis des Intellekts als unmittelbare Erkenntnis aufgefasst (also nicht im Sinne rationaler, schlussfolgernder, argumentierender Erkenntnis).« Wenn der Erkennende im Erkannten versinkt, sein Ich in der höheren Wirklichkeit des göttlichen Seins aufgibt, »handelt es sich hier also nicht um rationale Erkenntnis […], sondern um philosophische Mystik, allerdings auch nicht um ekstatisches Erleben oder ein dumpfes Gefühl, sondern um Überschreiten der für das rationale Erkennen charakteristischen Trennung des Erkenntnissubjekts vom Erkenntnisobjekt.« 341

Es wäre allerdings zu kritisieren, dass Albert hier mit einem moderneren Erkenntnisschema interpretiert, das die Cartesische Spaltung (in Kants Interpretation: Subjekt und Objekt) voraussetzt. Besser verständlich wird der Gedankengang mit einem früheren Modell von Erkenntnis, dem der Teilhabe an der (göttlichen) Vernunft. 342 Kants Spott über die Gefühlsduselei der Mystagogen ist also entgegenzutreten. Insbesondere für unsre heutige Zeit, so Grätzel, sei das mystische Denken wieder wegweisend, denn nicht das analytische Denken führe zur Erfahrung. Denken müsse aus dem Leben und den elementaren Fragen heraus entstehen, wieder in dieses Leben zurückführen und es dabei bereichern. Das mystische Denken aber habe »vor allem einen ethischen Anspruch« und sei »damit zentral in der rationalen Philosophie verankert«, denn damit »wird das Denken in der Mystik als ein Weg gesehen, der dazu führt oder führen soll, das Eigene im Fremden zu erkennen. Denken ist hier mehr als eine theoretische Betrachtung oder Feststellung, es ist die dramatische und leidenschaftliche Auseinandersetzung mit sich und dem Anderen.« 343

341 342 343

Albert, a. a. O., S. 141. vgl. Derrida, a. a. O., S. 80–85, 91–94. Grätzel, Die Vollendung des Denkens, S. 109.

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Das ganz Andere, Fremde der Mystik und negativen Theologie (Lévinas hätte gesagt: die Alterität) kann also als Modell gelten für Hinund Zuwendung zum Fremden, trotz des Bewusstseins, wie wenig wir doch darüber wissen. Der Diskurs der negativen Theologie hat »Familienähnlichkeit mit dem Reden über Differenz« 344 und kann interkulturelle Dialoge bereichern: Erst mit der Zurücknahme eigener Deutungsschemata und der damit einhergehenden postkolonialistischen oder postimperialistischen Bemächtigungsversuche, die nur eine Weltsicht, und zwar die je eigene, gelten lassen, wird so die Offenheit möglich, sich auf das Abenteuer anderer Denkmöglichkeiten jenseits unserer eigenen Begriffsgebäude einlassen zu können. 345 An den Schluss möchte ich daher nach diesem kurzen Durchgang durch die christliche Mystik des Mittelalters Nikolaus v. Kues (»Cusanus«) setzen, der an der Schwelle zur Renaissance das philosophische Denken des Mittelalters einschließlich seiner mystischen Strömungen zusammenfasste und in einem wegweisenden Sinn darüber hinausging. Er wurde 1401 in Bernkastel-Kues an der Mosel geboren, studierte in Heidelberg und Padua und wurde bereits mit 22 Jahren zum Doktor des Kirchenrechts promoviert, um danach als Jurist beim Fürstbischof von Trier 346 zu arbeiten, was ihm eine steile Karriere bis hin zum Kardinalsrang eröffnete. Zudem pflegte er seit seiner Studienzeit Freundschaften zum Florentiner Humanistenkreis um Cosimo de Medici. Bereits mit seinem ersten Hauptwerk, der docta ignoratia, stellte er sich nicht nur in die Tradition des Sokratischen Nichtwissens, sondern nimmt auch die Traditionslinien der negativen Theologie und der Mystik auf. Cusanus arbeitete an einem neuen Konzept von einem neuen Wissen: Das bisherige Wissen war Nichtwissen, es verstand sich selbst nicht richtig. Man weiß nicht nur, dass man nichts weiß, sondern auch warum: Das alte Denken in Dualismen verstellt die richtige Sicht der Dinge. Cusanus’ entscheidendes Denkmotiv ist die MetaDerrida, Wie nicht sprechen, S. 11. vgl. Münnix, Derrida, negative Theologie und interkulturelle Philosophie, in: Bickmann /Wirtz et al. (Hg.), Religion und Philosophie im Widerstreit?, S. 814, wo ich einen ähnlichen Gedanken entwickele. 346 Bei Borsche, Nikolaus v. Kues, in Niewöhner, KdRP, S. 242 findet man die Bezeichnung »Erzbischof«, bei Flasch, Nikolaus von Kues in seiner Zeit, S. 17 »Kurfürst«. Beide haben recht: Es handelte sich zu jener Zeit der Personalunion von weltlicher und kirchlicher Macht um »Fürstbischöfe«. 344 345

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physik des Einen, das sich in die Schöpfung hinein entfaltet und dort Urbild-Abbild-Verhältnisse entstehen lässt: »Alle Dinge sind in Gott, aber dort als der Dinge Urbilder (exemplaria)«. 347 Das Viele existiert also nur in der Welt, wo der menschliche Verstand es unterscheidet und vergleicht. Vielheit, Andersheit und Gegensätzlichkeit sind also notwendig sekundär und müssen auf das Eine zurückgeführt werden. Gegensätze existieren daher nur in der Welt des Neben- und Nacheinander, in Raum und Zeit, 348 können aber mit der Vernunft zusammengedacht werden: So ist am Beispiel von Ruhe und Bewegung zu sehen, dass sich Bewegung aus Ruhe entwickelt und in ihr wieder »zur Ruhe kommt«, sodass Ruhe dergestalt zum Nullpunkt der Bewegung wird. Zum Nachdenken über Bewegung tritt ein neues Thema, das Moment der Perspektive hinzu. Cusanus’ Studienfreund Paolo del Pozzo Toscanelli, der als Arzt und Mathematiker in Florenz arbeitete, beriet Brunelleschi, der damals dank arabischer Vorarbeit an der Zentralperspektive arbeitete, beim Bau der Domkuppel. 349 Cusanus war so in die Diskussionen um menschliches Sehen involviert und brachte erstmals in philosophische Überlegungen zum Sehen und Erkennen die Abhängigkeit von unterschiedlichen Standpunkten 350 mit ein. Schon im Bereich der Erkenntnis des Endlichen gibt es daher nur begrenzte Erkenntnis, nur Vermutungswissen, und das gilt erst recht für die Erkenntnis des unendlichen Urgrundes alles Seins, denn dieser entzieht sich aller Vergleichbarkeit durch den menschlichen Verstand. »Die Vernunft negiert alle positiven Begriffe von Gott, die sie gleichwohl voraussetzen muss, um sie negieren zu können. Ihre Art von Gott zu reden heißt daher negative Theologie […] Aus ihrer Perspektive nämlich erscheint die affirmative Redeweise im Ganzen als für Gott unangemessen.« 351

Cusanus erfindet also immer neue Namen für das Göttliche Urprinzip (darunter auch die im Judentum übliche Bezeichnung vom 347 Stallmach, Ineinsfall der Gegensätze und Weisheit des Nichtwissens, S. 4 zitiert Nicolai de Cusa, Idiota de mente, 3 (hV, N.73, Z.1). 348 Stallmach, a. a. O., S. 5. Die Idee dazu soll Cusanus auf einer Schiffsfahrt von Byzanz nach Venedig gekommen sein (Flasch, a. a. O., S. 29) (vgl. dazu Koran, Sure 57/3: »Er ist der erste und der letzte, der außen ist und innen […]«). 349 Flasch, a. a. O., S. 14 f. 350 vgl. Herold, Menschliche Perspektive und Wahrheit. Zur Deutung der Subjektivität in den philosophischen Schriften des Nikolaus v. Kues, S. 102 ff. 351 Borsche, a. a. O., S. 247.

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»Namen der Namen«, eine Parallele zu den 99 Namen Allahs im Islam, die auch alle nicht hinreichen, ihn zu erfassen). Der Gedanke der prinzipiellen Ungenauigkeit jeder Erkenntnis unterscheidet Cusanus’ Auffassung grundlegend von der scholastischen. 352 So artikuliert Cusanus Misstrauen »gegen jeden sich aufspreizenden Standpunkt, gegen jede dogmatisch sich gebärdende, d. h. die Relativität des Ausgangspunktes vergessende Metaphysik.« 353 Die docta ignorantia, die um ihr eigenes Unvermögen weiß, ist also hilfsweise auf ein Philosophieren des »symbolice imaginare« angewiesen, das uns Erkenntnis nie in absoluter Genauigkeit liefern kann: Bilder, Symbole und Modelle nehmen einen weiten Raum ein, wodurch das Subjekt in neuer Weise hervorgehoben wird. 354 Dabei scheint ein neuplatonisches Bildverständnis vorzuliegen: denn die »Weisheit Gottes erscheint in allen Gestalten als die Wahrheit im Bild und als das Urbild im Abbild.« 355 Cusanus’ Kombination der Ideen von Perspektivität und Bewegung führt zudem hundert Jahre vor Kopernikus und Galilei zu einer Erkenntnis der Relativität von Bewegung, die das Augenscheinliche des aristotelischen Weltbildes, bei dem die Planeten um die Erde als Mittelpunkt des Weltalls kreisten, in Frage stellte. »Die Erde kann nicht Weltzentrum sein. Sie kann also auch nicht ohne Bewegung sein.« 356 Denn die Menschen setzen Markierungen und bestimmen, was als fest zu gelten hat. Wo immer man sich befindet, beobachtet man Bewegungen von seinem eigenen Standpunkt aus und glaubt man sich im Mittelpunkt. Das gilt auch für das Experiment, mit dem Cusanus den Mönchen eines Klosters am Tegernsee das »Sehen Gottes« und seinen »Zusammenfall der Gegensätze« nahebringt: Er ließ ein Bild anfertigen, dessen Augen dem Betrachter folgen (auf seiner Bischofsburg in Brixen war z. B. ein Engel so dargestellt), und gab genaue Anweisungen:

Herold, Menschliche Perspektive und Wahrheit, S. 14. Flasch, Nikolaus von Kues. Die Idee der Koinzidenz, S. 230. 354 Herold, a. a. O., S. 4. 355 Nikolaus v. Kues, Idiota de sapientia (Ein Laie über die Weisheit), S. 41 (I, 25) sowie Elena Filippi, Die Unendlichkeit im Endlichen: Momente des Austauschs zwischen Cusanus und der Kunst, S. 347–367 hat gezeigt, dass Dürer die Schriften von Cusanus kannte und in seinen Porträts umgesetzt hat. 356 de Cusa, Docta Ignorantia, II,11,157. 352 353

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»Sie sollten das Bild mit dem Allsehenden Auge aufstellen. Sie sollten dabei zu mehreren sein. Denn nur so können sie erfahren, dass alle sich angeblickt sehen. Und dann sollen sie auf folgendes achten: Wer steht, für den steht das allsehende Auge. Es geht mit den Gehenden. Bewegt sich der eine Betrachter von links nach rechts, der andere in entgegengesetzter Richtung, so sieht jeder das Auge auf sich gerichtet. Es wandert mit, in entgegengesetzten Richtungen. Und jeder Betrachter meint, er allein sei angeblickt; er kann sich nicht vorstellen, dass andere genauso angesehen werden wie er.« 357

»Der Blick bewegt sich, ohne sich zu bewegen«: 358 Das »Sehen Gottes« (wobei leibliches Sehen nur als Metapher dient) ist also gleichzeitiges Sehen und Gesehenwerden, die Gegensätze fallen zusammen. (Im Lateinischen wie im Deutschen ist ja die Frage, wer das Subjekt des Sehens ist, erst einmal nicht zu beantworten, beides kann gemeint sein. Der Unterschied von genitivus subjectivus und genitivus objectivus bezeichnet aber eine je andere Richtung des Sehens und ist hier, da beides zusammenfällt, nicht mehr von Bedeutung.) Der Blick bewegt sich, ohne sich zu bewegen: Diese Eins-Erfahrung ist aber nur ein Beispiel: In der jenseitigen Unendlichkeit Gottes fallen alle Gegensätze in sich zusammen, sie sind nicht mehr von Belang. Für Borsche ist dies eine Methode der Entgrenzung der Verstandesbegriffe mit einer philosophisch begründeten Mystik, 359 die in das All-Eine hineinführt. Der Vernunft eröffnet sich eine neue weiterreichende Sicht auf den (seinsmäßig primären) Ineinsfall der Gegensätze im Unendlichen. 360 Das Bild ist dabei ein pädagogisches Hilfsmittel, damit die coincidentia oppositorum vorstellbar wird; doch darüber hinaus greift Cusanus auch zum Mittel der symbolischen Vorstellung (»symbolice imaginare«), da er durch Zeichnungen ein unendliches Vieleck einem Kreis annähert (bereits eine Infinitesimalüberlegung) oder den Schenkel eines Winkels von 0 bis 180 wandern lässt, so dass Minimum und Maximum in einer Linie zusammenfallen. »Unser Beryll« (das heißt: unsere Brille – als Bild für die Vernunftsicht, die über die Sehkraft des Verstandes hinausgeht) »lässt uns schärfer sehen, so dass wir das Gegensätzliche im einenden PrinFlasch, Nikolaus von Kues in seiner Zeit, S. 68, vgl. Nicolai de Cusa, De visione dei. de Cusa, De visione dei, Praefatio 3,6–16: Etwas weiter heißt es: »Dich sehen, das ist nichts anderes, als dass Du den siehst, der Dich sieht.« 359 Borsche, a. a. O., S. 251. 360 Stallmach, a. a. O., S. 14. 357 358

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zip vor dem Auseinandertreten in Zweiheit, das heißt, bevor es in Sich-Widersprechendes auseinandergeht, schauen.« 361 Der eine Grund entlässt vielfache Gegensätze und ist zugleich ihr gegensatzloser Anfang. So wird mit der Koinzidenzlehre das Viele auf das Eine zurückgeführt, das damit auch oberhalb der Gegensätze von Identität und Alterität anzusetzen ist, 362 wodurch Cusanus auf einen neuen Namen für das Absolute kommt, das nun nicht einfach das gänzlich Andere, Fremde ist, sondern gleichzeitig auch das NichtAndere (»non aliud«) in uns. Das Absolute, Unendliche ist aber auch oberhalb der Gegensätze von Sein und Nichtsein anzusetzen: Affirmativ müsste man sagen, dass Gott ist, negativ, dass er nicht ist. »Aber nach Maßgabe dessen, dass er über aller Setzung und Wegnahme ist, ist zu antworten, dass er weder ist, nämlich die absolute Seinsheit, noch nicht ist, noch beides zugleich, sondern darüber.« 363 Das suchende Denken geht über den rationalen Verstandesdiskurs und auch noch über intellektuale Zusammenschau hinaus hin auf den einen unendlichen Urgrund alles Vielen, somit also hinein in die »Finsternis« des »überhellen Lichtes«. 364 Der Zusammenfall der Gegensätze in einem jenseitigen Unendlichen wird auch deutlich in einem frühen Toleranzdokument, in Cusanus’ Schrift De pace fidei, in der sich Vertreter der großen Religionen vor dem Thron Gottes einfinden und erfahren, dass es sich eigentlich um eine Religion mit verschiedenen Riten und Gebräuchen handelt. (»una religio in rituum diversitate«). Gott ist größer als alle Perspektiven auf ihn und muss sie umfassen. Die »Weisheit des Nichtwissens« und die prinzipielle Begrenzt361 de Cusa, De Beryllo, 25, h XI/1, vgl. 2: Wer durch den Beryll »hindurchsieht, erreicht vorher Unsichtbares«. 362 Hegel und der deutsche Idealismus kannten Cusanus’ »De Beryllo« und die Koinzidenzlehre durch die Übersetzung Giordano Brunos, und besonders Hegel hat diesen Gedanken für seinen Begriff des Absoluten übernommen. 363 Nikolaus v. Kues, Der Laie über die Weisheit, S. 55 (II 35), kursive Hervorhebung von mir: Man bemerke, dass Cusanus hier die bereits im Parmenides erwähnte Struktur der vierfachen Verneinung des buddhistischen Tetralemmas verwendet, die über alles Thetische des Sprechens hinausführen soll. Doch Cusanus verbleibt anders als buddhistische Denker immer noch im Bereich des Seins, was Derrida als den Umschlag in die Superessentialität kritisiert. Seine différance oberhalb aller begrifflichen Gegensätze hat also mehr Ähnlichkeit mit dem Tao als mit Cusanus, den er gleichwohl lobend erwähnt (Wie nicht sprechen, S. 114). 364 vgl. Stallmach, a. a. O., S. 22.

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heit unseres Wissens verhindern also einseitige Besitz- und Monopolansprüche jeglicher Art. Das gegenseitige Abschlachten im Namen der Religion sollte endlich ein Ende haben. Es gehört zur Ironie und Tragik der Geschichte, dass Cusanus in seinen letzten Lebensjahren in Rom völlig desillusioniert vom Zustand der Kurie und ihrer Reformunfähigkeit und -willigkeit verzweifelte und sich als Stellvertreter des Papstes genötigt sah, gegen seine theoretischen Überzeugungen zu handeln. 365

2.2.4 Reformation und Bildersturm Hatte man zunächst im Mittelalter ziemlich körperlos, dann aber in der Renaissance sehr räumlich und realistisch nach Modellen gemalt (so z. B. saß gelegentlich die Geliebte des Malers für ein Marienporträt Modell), nahm die religiöse Kunst nun Anregungen der griechischen Antike auf (und zwar auch in der Plastik, man denke an Michelangelos Pietà im Petersdom). Anders als in der Ostkirche malte man nicht nach Stereotypen, sondern bildete nach der Weise des menschlichen Sehens (Zentralperspektive) möglichst genau ab, und das sogar mit der Illusion von Räumlichkeit. Und sogar in Menschengestalt Gottvater, der nach christlichem Glauben nie Mensch geworden war.

Bild 9: Michelangelo: Schöpfungsszene aus der Sixtinischen Kapelle (1509)

365

Flasch, a. a. O., S. 80.

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War das Qualitätskriterium in der islamischen Kunst die möglichst große Unähnlichkeit zum Dargestellten (s. u.), so ging es hier um möglichst naturgetreue Darstellung, oft nach Modellvorbildern, und im Falle von Darstellungen Gottes auch um den bekämpften Anthropomorphismus. Das ließ eine neue Phase des Ikonoklasmus ausbrechen. Die christliche Kirche hatte zu Beginn der Renaissance auch mit zunehmendem Sittenverfall zu kämpfen, unter anderem mit Ämterkauf und ungebildeten Klerikern, der lockeren Lebensweise der Renaissance-Päpste und dem Finanzgebaren der Kurie, verbunden mit schwunghaftem Ablasshandel, 366 der die Gelegenheit eröffnete, sich gegen Geld von seinen Sünden loszukaufen. Bereits der Humanismus (z. B. mit Erasmus v. Rotterdam) wie auch die von Wyclif – Theologieprofessor in Oxford – beeinflussten Hussiten in Böhmen (Autorität des Gewissens, Kritik am weltlichen Besitz der Kirche) hatten in die Richtung einer Erneuerung der Kirche im Rückgang auf ihre Ursprünge gedacht. Doch eine wirkliche Revolution wurde mit der Veröffentlichung von Martin Luthers 95 Thesen am 31. 10. 1517 eingeleitet, der damals Augustinermönch und Universitätslehrer in Erfurt war und seine Thesen eigentlich als Anregung für eine theologische Diskussion gedacht hatte. Doch sowohl der Erzbischof von Mainz als auch der damalige Papst Leo waren keine Theologen, sondern Prinzen aus dem Hause Hohenzollern bzw. Medici, und es kam nicht wie intendiert zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung in der Ablassfrage. Dafür liefen Luthers Thesen, ins Deutsche übersetzt und als Plakate und Flugzettel gedruckt (der neu erfundene Buchdruck half bei der Verbreitung), »innerhalb von 14 Tagen schier durch ganz Deutschland«, wie Luther später sagte, 367 »denn alle Welt klagte über den Ablass.« Es war möglich gewesen, »ganze Bündel von Ablasszetteln für seine Verstorbenen zu kaufen, Ablass für Fastengebote, die sogenannten ›Butterbriefe‹, Ablass für Gelübde, auch für zweifelhafte Erwerbung irdischer Güter«, und auch die Teilnahme an Kreuzzügen war mit Ablassversprechen verknüpft gewesen. 368 Schon Wyclif hatte im 14. Jahrhundert das Ablassunwesen (sowie die Verweltlichung der Kirche und Oberherrschaft des Papstes) kritisiert, und die blutigen Hussitenkriege hatten zum 366 367 368

Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, S. 158 f. Friedenthal, Luther. Sein Leben und seine Zeit, S. 162, 155. a. a. O., S. 165, 162.

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Entstehen einer böhmischen Sonderkirche geführt, 369 was nicht ohne Wirkung auf Luther blieb. Seine »protestantische Haltung« in den 95 Thesen, in denen er auch betonte, dass der wahre Schatz der Kirche das Evangelium sei, 370 wurde natürlich auch als Papstkritik verstanden. Die Androhung des Kirchenbanns und, da Luther sich weigerte zu widerrufen, die Reichsacht folgte, doch er hatte bereits zu viele Anhänger. Da Luther auch die kirchliche Lehrautorität von Papst und Institutionen bezweifelte und die eigene Beschäftigung mit dem Evangelium anriet, übersetzte er dieses in damals modernes Deutsch, um es breiten Massen zugänglich zu machen. Die Bilderfrage war für Luther eigentlich ein Nebenschauplatz und weniger wichtig, er erwähnte das biblische Bilderverbot in seinem Katechismus gar nicht. Luther konnte sich privat durchaus an Bildern erfreuen, wiewohl er immer mehr Kritik an der an Aristoteles orientierten scholastischen Theologie und Philosophie entwickelte, die u. a. Bilder rechtfertigte. 371 Doch im Volk bekam die Bilderfrage, auch weil die Bildnisse die Schätze der Kirche symbolisierten, im Zuge der Laienemanzipation und sozialer Ungleichheiten 372 eine große Bedeutung; und so brach der alte Ikonoklasmus wieder auf. »Die evangelische Kritik am Heiligenkult, an der Messe, an den Klöstern und so weiter stürzte die alte Kirche in eine schwere Legitimationskrise, und die neue reformatorische Lehre verbreitete sich auf dem Land sehr rasch. Die Bauern übernahmen die Losung, dass Bilder und Statuen von Heiligen, Kruzifixe, und andere Christusdarstellungen Götzen seien und aus den Kirchen geschafft werden müssten.« 373

Kamber verweist im Zusammenhang mit der nicht immer organisierten, oft auch in Einzelaktionen durchgeführten Entfernung und Zerstörung von Heiligen- und Christusrepräsentationen auf die Entstehung einer neuen Symbolsprache und die rasche Entwertung überkommener religiöser Ausdrucksformen. Ein innerer Zusammenhang mit der Thematik muss aber auch in der Transsubstantiationslehre (über die später noch zu reden sein wird) und ihrer Auffassung Friedenthal, a. a. O., S. 165 f. vgl. Friedenthal, a. a. O., S. 173. 371 Eine spätscholastische Kritik an der von Damaszenus herrührenden thomistischen Bildtheologie wird bei Jean Wirth, La critique scolastique, entfaltet. 372 Die komplexe Verflechtung mit sozialen Themen betont auch Bredekamp, Kunst als Medium sozialer Konflikte. 373 Kamber, Reformation als bäuerliche Revolution, Teil 4, S. 131–250. 369 370

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von der Realpräsenz des Göttlichen in der Eucharistie gesehen werden. Wenn Christus in der Eucharistie präsent war, wieso dann nicht der Heilige in seinem Bild? 374 In Böhmen und in England hatte es bereits Bilderstürme gegeben, 375 und sie setzten sich nun in Norddeutschland fort. »In Wittenberg hatte Karlstadt am 27. 1. 1522 eine Schrift mit den Titel »Von der Abtuhung der Bylder« veröffentlicht. Studenten hatten da bereits im Dezember 1521 bei den Franziskanern einen hölzernen Altar zerstört, kurz danach waren in derselben Stadt […] bei den Augustinern alle Bilder aus der Kirche geräumt, zerbrochen und verbrannt worden.« 376

Wirklich virulent wurde die Bilderfrage dann aber in der Schweizer Reformation, bei Zwingli in Zürich und Calvin in Genf. Denn Zwingli bestritt die Transsubstantiationslehre mit einer anderen Auffassung der Eucharistie, die ihm nur als Zeichen der Erinnerung galt an das historische Abendmahl, das Jesus mit seinen Jüngern gefeiert hatte. Konsequent bestritt er auch die Realpräsenz des Abgebildeten im Bild (was Luther für die Eucharistie nicht tat) 377 und suchte sich vom »Frevel der Bilder« abzusetzen: In seiner »Christlichen Einleitung« beschreibt er Bilder aus Holz als »äußerliche Scheinwerke«, die unser Herz nicht gläubig zu machen vermögen. »Dass man aber die Bilder in den Tempeln hat, das ist schon, ihnen Ehre zu erweisen.« 378 Durchaus unabhängig von Luther hatten sich in der Schweiz reformatorische Strömungen, die zunächst von Zürich ausgingen, entwickelt, von Schorn-Schütte als »Zürcher Weg« und radikaler Flügel der Reformation bezeichnet. Zwingli war anders als Luther nicht mit den Überlegungen Ockhams bekannt geworden, sondern blieb

374 Hoeps, Von der Darstellung zur Gegenwart. Repräsentation und Präsenz in Bild und Sakrament, in: Hoeps (Hg.), Handbuch der Bildtheologie, Bd. II, S. 395–419 untersucht diesen Zusammenhang gleichzeitig für Bild und Abendmahl. 375 Schnitzler, Ikonoklasmus – Bildersturm, S. 64 und 149. 376 Kamber, a. a. O., S. 132. (s. auch das ganze Dokument in Belting, Bild und Kult, Anhang 39, S. 606 f.) 377 In: Zeitgenössische Auswahl aus Zwinglis Schriften, Bd. 6 (Das Abendmahl). 378 Huldreich (Ulrich) Zwingli, Zeitgenössische Auswahl aus seinen praktischen Schriften, Bd. 2, S. 43 und 40. In Bd. 6 (»Das Abendmahl«) kritisiert er die »Wesensverwandlung« (»transsubstantiatio«) mit dem Argument, dass »Mein Fleisch essen und mein Blut trinken« als bildliche Rede zu verstehen sei (wie in »Ich bin der Rebstock«). Gemeint sei vielmehr, dass man »unter dem Bilde des Essens und Trinkens seines Fleisches und Blutes« die Worte des Evangeliums verinnerliche und verkünde (S. 10 und S. 28 f).

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Bild 10: Frans Hogenberg, Ikonoklastische Ausschreitungen (1588)

zunächst »in den Bahnen der via antiqua, d. h. der scholastisch-philosophischen Schule des Thomas v. Aquin und des Albertus Magnus«, erhielt aber durch die humanistischen Schriften des Erasmus v. Rotterdam einen praktischen Zugang zur Theologie: »Das Wort der Bibel wurde zur maßgeblichen Autorität für die notwendige Neuordnung der Kirche.« 379 Die Stadt Zürich holte Zwingli wegen seiner humanistischen Gesinnung ans Großmünster und trug seine Kritik mit, auch als er die Legitimität der kirchlichen Führung in Frage stellte (»sola scriptura«), die Freigabe der Priesterehe forderte und gegen die Verehrung der Heiligen predigte. »Von gnadenreichen Bildern zu sprechen, anstelle Gottes die Heiligen lieben und als Götzen anzubeten, das war für Zwingli definitiv ›Abgöttery‹.« 380 Ein fundamentaler Unterschied zum Luthertum aber lag in der Deutung der Eucharistie, da Zwingli ihren Symbolcharakter betonte: Anders als Luther glaubte er, dass Brot und Wein nur Leib und Blut Christi bedeuten, nur Zei-

379 380

Schorn-Schütte, Die Reformation, S. 43 f. Kamber, a. a. O., S. 384.

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chen der Erinnerung an das historische Abendmahl sind, 381 und dieser Gegensatz war nicht zu überbrücken. Es entwickelte sich eine Zürcher Staatskirche, wobei das Ineinssetzen von kirchlicher und bürgerlicher Gemeinde bei Zwingli politisch aktives Handeln legitimierte, wie es von Luther nie akzeptiert worden ist. Zürich schloss mit Bern, St. Gallen, Schaffhausen, Biel, Basel, Mühlhausen, Konstanz und Straßburg ein Städtebündnis zur Verteidigung des neuen Glaubens ab, doch die »altgläubigen« Kantone versicherten sich der Unterstützung der katholischen Habsburger, wehrten sich und hatten militärisch Erfolg. Zwingli war unter den Toten, sodass das Zentrum der Schweizer Reformation später nach Genf zu Jean Calvin wanderte und von dort nach Frankreich hin ausstrahlte. Denn Calvin war Franzose, aus der Picardie, war nach humanistischen und juristischen Studien zu reformatorischen Standpunkten gelangt und nach Basel geflüchtet und kehrte später über Genf als Prediger der französischen Flüchtlingsgemeinde nach Straßburg zurück. 1541 kehrte er auch nach Genf zurück und arbeitete eine Genfer Kirchenordnung aus, die von obrigkeitlicher Bevormundung befreien sollte. Zusätzlich verfasste Calvin eine Bekenntnisschrift (»Genfer Katechismus«), in der er u. a. gegenüber Zwingli noch einmal eine andere Position im Abendmahlsstreit vertrat: Wie Zwingli wandte er sich gegen Transsubstantiation und Realpräsenz Gottes im Sakrament (an der Luther festhielt) und vertrat die Lehre von der Spiritualpräsenz: die reale Gegenwart Christi im Abendmahl werde nur durch den Geist bewirkt. »Das Prinzip der distinctio sed non separatio hat es Calvin ermöglicht, zwischen ›Wirklichkeit‹ und ›Zeichen‹ eine klare Unterscheidung zu treffen, ohne die beiden Aspekte voneinander trennen zu müssen. Die alte Kirche, so Calvin, habe dieses Prinzip verraten, weil sie Wirklichkeit und Zeichen durcheinander gebracht habe. Sie habe den Zeichen Brot und Wein jene Ehrerbietung zukommen lassen, die ausschließlich der Wirklichkeit gebühre, für die jene Zeichen stehen.« 382

Calvin trieb im Hinblick auf Bilder die semiotische Abstraktion am weitesten und verabschiedete Bilder damit »endgültig aus dem theologischen Diskurs«, da er (im »kleinen Abendmahlstraktat« von 1541) von einer »abscheulichen Idolatrie« redet, wenn man Jesu Prä381 382

a. a. O., S. 46. MacCulloch, Die Reformation, S. 338.

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senz im Brot verehre, so wie man sinnliche Bilder verehre. Deshalb müsse »man darauf beharren, dass alle sichtbaren Zeichen ihre wahre und eigene Substanz behalten«, also Zeichen und nichts als Zeichen bleiben. Als solche waren sie darauf beschränkt, eine »spirituelle Wahrheit zu repräsentieren.« 383 Dies hatte Ausstrahlung auf andere Schweizer Kantone und sogar bis in die Niederlande. So beschreibt Dürrenmatt einen durch kirchliche Prachtentfaltung motivierten Bildersturm in Basel. 384 Auch in England, Schottland und Frankreich hatte es bilderfeindliche Aktionen gegeben. In England unterstützte Heinrich VIII. den Reformationskurs, und der Pfarrklerus wurde 1538 offiziell angewiesen »diese heuchlerischen Bilder […], die durch Wallfahrten oder durch Opfergaben jeglicher Art missbraucht werden […], zur Vermeidung der abscheulichen Sünde der Idolatrie sogleich zu beseitigen und auszulöschen.« In Schottland entluden sich 1559/60 machtpolitische und konfessionelle Spannungen in massiven gewalttätigen Übergriffen auf Kirchen und Klöster. In Frankreich griff sogar der König in die Verfolgung der »Bilderfrevler« ein, denn die tätlichen Angriffe auf Heiligenbilder galten als blasphemisches Delikt, das als todeswürdiges Vergehen angesehen wurde. 385 Hugenotten gab es aber auch im französischen Flandern. Wirklich dramatisch war – auch im Hinblick auf seine Folgen – 1566 der calvinistische Bildersturm (»beeldenstorm«) durch die flandrischen Provinzen, der den 80-jährigen spanisch-niederländischen Krieg einleitete. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation Karls des Großen war im Zerfall begriffen und wurde vom Sohn Karls V., seiner »Allerkatholischsten Majestät« Philipp II. von Spanien vertreten, dessen Schwester und Regentin für die Niederlande, Margarete von Parma, bereits 1561 berichtete, die »Ketzerei« wachse entsprechend der Situation in den Nachbarländern. Eine Hungersnot war 1556 vorausgegangen, und die Anführer des Bildersturms beklagten »den Reichtum und die Steuerfreiheit der katholischen Kirche; sie missbilligten deren Rechtsprechung und deren Gerichte, die jeden, der die Geistlichkeit beleidigte, einkerkern, 383 Belting, Das echte Bild, S. 170 sowie Calvin, Studienausgabe 1.1, S. 198 f und 218 f (Genfer Katechismus zum Abendmahl) sowie 1.2, S. 282 f (Sendschreiben von 1537 mit Passus zum Bilderverbot) und S. 485 ff. (Kleiner Abendmahlstraktat von 1541 mit Passus zur Idolatrie) 384 Dürrenmatt, Schweizer Geschichte I, S. 292 ff. 385 Schnitzler, a. a. O., S. 150–155.

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mit einer Geldbuße bestrafen, ja selbst verstümmeln konnte.« 386 Kritik am unsittlichen Leben vieler katholischer Priester war ja bereits seit Erasmus v. Rotterdams Humanismus geübt worden, und überraschend viele Kinder prominenter Humanisten waren Protestanten geworden. Die typisch niederländische Institution der Rhetorikerkammern (allein in Flandern gab es 85 »rederijkerkamers«) bot ein aufgeklärtes und tolerantes Milieu, in dem andersartige Ansichten möglich waren. Das wurde vom niederen Adel, der die Reformation billigte, begleitet, aber auch von der jüdischen Gemeinde von Antwerpen unterstützt. Hier steuerten 300 spanische und portugiesische »marranos« (Juden, die sich nur der Form halber zum christlichen Glauben bekannten) ihre Erfahrungen im Hinblick auf Verfolgung und Widerstand bei, und manche von ihnen traten sogar zur calvinistischen Konfession über. 387 Materielle Not – für die Armen war der Preis des täglichen Brots zu hoch – kehrte sich in Wut gegen die katholischen Regenten, und calvinistische Trupps zogen plündernd durch die Kirchen, nicht nur in Gent, wo der Aufstand begann, sondern später auch in Antwerpen, Middelburg, s’Hertogenbosch, Breda, Amsterdam, Tournai, Delft, Utrecht, Valenciennes, Den Haag, Leiden, und Eindhoven. Parker berichtet, dass »sämtliche Bilder, Kirchenfenster und andere Kultgegenstände des römisch-katholischen Glaubens […] zerstört« wurden und dass in Westflandern mindestens 400 Kirchen und Klöster den Bilderstürmern zum Opfer fielen. 388 Da die Bilderstürme sich trotz Bemühungen um Kompromisse und trotz diverser Zugeständnisse Margaretes an die Calvinisten weiter fortsetzten, hob der mit ihrer Amtsführung höchst unzufriedene Philipp II. eine Armee aus, die die Ordnung in den Niederlanden wiederherstellen sollte, und schickte den Herzog von Alba mit einer gewaltigen spanischen Streitmacht in die Niederlande. Dieser ließ – es können hier natürlich nicht alle Stationen der Entwicklung nachgezeichnet werden – 6000 Aufständische, die sich um den Prinzen von Oranien formiert hatten, hinrichten (der Prinz selbst konnte nach Deutschland flüchten). 389 Die Situation eskalierte weiter, als

Parker, Der Aufstand der Niederlande, S. 58. a. a. O., S. 59. 388 a. a. O., S. 81. (Goethes Egmont und Schillers Don Carlos gehören vor diesen geschichtlichen Hintergrund.) 389 s. van der Lem, Anton, Opstand! Der Aufstand in den Niederlanden. 386 387

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die Kongregation der römischen und allgemeinen Inquisition alle drei Millionen Niederländer wegen Häresie zum Tode verurteilte, Philipp II. dieses Urteil bestätigte und befahl, mit den Exekutionen zu beginnen. Doch nach blutigen Kriegen konnten die Niederländer schließlich unter dem Oranier ihre Unabhängigkeit von Spanien, zumindest für die nördlichen Provinzen, erreichen. Die südlichen blieben bei Spanien und wurden später zu Belgien und Frankreich geschlagen. »Der Bildersturm als Begleiterscheinung des reformatorischen Prozesses war über 130 Jahre lang auf einem riesigen europäischen Territorium zwischen Schottland, Südfrankreich, Siebenbürgen, Polen-Litauen und dem Ostseebereich immer wieder gegenwärtig. Bilderstürme in Form kollektiv geübter Gewalt gegen Bilder und andere Symbole des »alten Glaubens« mit dem Ziel ihrer vollständigen Vernichtung bilden dabei – wie wir inzwischen wissen – nur die Spitze des Eisbergs.« 390

Die konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts – immer mit Machtansprüchen gepaart – mündeten schließlich in den 30-jährigen Krieg. Die Religionskriege des 30-jährigen und des 80-jährigen Krieges (zwischen Spanien und den Niederlanden hatte man ja die kriegerischen Auseinandersetzungen bereits viel früher begonnen) wurden erst 1648 mit einem gemeinsamen Friedensschluss des Westfälischen Friedens in Osnabrück und Münster beendet, der hinfort drei Konfessionen Existenzrecht zubilligte: Katholiken, Lutheranern und Reformierten. Katholiken und Lutheraner billigten Bilder in ihren Kirchen, Reformierte nicht; und die orthodoxe Ostkirche mit ihren Ikonen hatte sich ja schon lange vor der Reformation abgespaltet.

2.2.5 Ökumene und Abendmahlsstreit: Realpräsenz oder Zeichen? Im heutigen Zeitalter der Ökumene, in dem christliche Konfessionen den Weg zur verloren gegangenen Einheit wieder suchen, wird der Abendmahlsstreit im Zusammenhang mit der »Interkommunion«, dem interkonfessionellen Abendmahl, wieder virulent. Wie ist diese communio (»Gemeinschaft«) auszulegen? 390 Schnitzler, Ikonoklasmus – Bildersturm, S. 145 bezieht sich zudem auf Michalski, Das Phänomen Bildersturm, S. 119.

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Da die Transsubstantiationslehre, einer der Steine des Anstoßes, für Vorstellungen von Realpräsenz auch im Bild so relevant ist, soll hier noch einmal darauf zurückgegangen werden. Zu einem ersten »Abendmahlsstreit« war es bereits 831/33 gekommen: Der Mönch Radbertus hatte in einem Traktat De corpore et sanguine domini (den er Karl dem Kahlen schenkte) in 22 Thesen – gegen andere Auffassungen – die eucharistische Realpräsenz im Sakrament behandelt. »Zwei Fragen wollte Karl der Kahle beantwortet wissen: Sind Leib und Blut Christi in der Eucharistie figura oder veritas, Bild oder Realität; sind also Leib und Blut Christi im Sakrament in mysterienhafter Verhüllung oder in unverhüllter Realität gegenwärtig? Zweitens: Ist der sakramentale und der historische Leib Christi identisch? Die beiden Fragen markieren präzise das Zentrum der Auseinandersetzung: das Verhältnis von figura und veritas, imago und res ipsa.« 391

Jorissen macht deutlich, dass es sich nicht um eine Kontroverse zwischen »materialistischem Ultra-Realismus« (Radbertus) und spiritualistischem Symbolismus (sein Gegner Ratramnus aus dem gleichen Kloster Corbie) handelt, wie man lange glaubte, sondern um einen »philosophischen Umbruch im Wirklichkeitsverständnis«, in dem zwei ganz verschiedene Begriffe von »Bild« auftauchen, 392 und in der Tat ist das auch die Diagnose aus der Sicht des heutigen philosophischen Bilderstreits. Das Gegensatzpaar figura – veritas bzw. imago – res ipsa sieht figura nur als Zeichen, nicht als Wirklichkeit. Im Unterschied zu Ratramnus sieht Radbertus in der Eucharistie »die Wirklichkeit des historischen transfigurierten Leibes Christi«. Doch Ratramnus geht von einem neuplatonischen Bildbegriff aus: Er nimmt zwischen Urbild und Abbild keine bloße Verweisrelation an, sondern sieht das Urbild im Bild zur Erscheinung kommen. Bild, imago, figura wird damit mehr als bloßes Zeichen oder Symbol, sodass aus heutiger Sicht hier mindestens zwei Zeichenbegriffe zu diskutieren wären, denn hier sieht man ein Zeichenverständnis, das für eine andere Realität durchlässig war: Ratramnus glaubt, die Eucharistie sei Bild des himmlischen Herrenleibes, aber im »Sakrament ist entsprechend seinem neuplatonischen Bildbegriff der Herrenleib real präsent«, und so Langer, Christliche Mystik im Mittelalter, S. 124. Jorissen, Zum Verhältnis von Bild und Sakrament, in: Wohlmuth (Hg.), Streit um das Bild, S. 100. 391 392

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kann er den historischen Leib des Herrn vom sakramentalen unterscheiden, ohne dessen Realpräsenz zu leugnen. 393 Man sieht, wie eng der Abendmahlsstreit mit der Bilderthematik verknüpft ist, und er sollte ein zweites Mal (im 11. Jahrhundert – zwischen Berengar von Tours und Petrus Damiani 394) und auch noch ein drittes und viertes Mal aufbrechen. Albertus Magnus und Thomas v. Aquin hatten die Philosophie des Aristoteles christlich umgedeutet und zur kanonischen Philosophie und Theologie des damaligen Christentums werden lassen. Im Gegensatz zu Platon vertrat Aristoteles einen Begriffsrealismus: Das Wesen der Dinge liegt nicht in einer vorgängigen geistigen Wirklichkeit von Ideen (und damit »ante res«, wie der mittelalterliche Universalienstreit zuspitzte), sondern »in rebus«, in den Dingen selber. Diese Dinge bestehen in einem Ineinander von Stoff und Form (»Hylemorphismus«), was ihre Substanz ausmacht. Jede Substanz wird zusätzlich charakterisiert durch ihre Akzidentien, Eigenschaften, die ihnen nicht wesensmäßig, sondern akzidentell zukommen. Diese Eigenschaften oder Qualitäten werden auch hypostasiert als selbstständige Entitäten gedacht (die Wärme, die Röte, etc.), sodass es in der aristotelischen Substanzontologie zu einem wildwuchernden Kosmos eigenständiger Qualitäten kommt. Diese sind keineswegs wie etwa bei Descartes Zustände oder Substanzen, die nicht für sich existieren können, sondern selbständige und häufig aktive Entitäten. 395 Die gesamte Naturwissenschaft des Mittelalters, besonders aber Chemie und Alchimie, werden verständlich, wenn man sie auf dem Hintergrund der ontologischen Voraussetzungen des aristotelischen Systems betrachtet. Die Erhebung sinnlicher Qualitäten (wie Farbe, Geschmack, Geruch) zu gesonderten Wesenheiten, die vom Sein des Körpers verschieden und somit wenigstens im Prinzip vom einen auf den anderen Körper übertragbar sind, bildet die herrschende Grundanschauung. Mit dieser Verdinglichung sinnlicher Qualitäten ließe sich – möglicherweise – Quecksilber in Gold wandeln, indem man ihm Farbe, Flüssigkeit und Feuchtigkeit entzieht und diese durch andere Beschaffenheiten (Qualitäten) ersetzt. Der aristotelische Begriffsrealismus schafft also eine Fülle neuer Entitäten: so besteht die

393 394 395

Langer, a. a. O., S. 12. Langer, a. a. O., S. 158–160. S. auch Redondi, Galilei, der Ketzer, S. 212–216. Specht, Descartes, S. 100.

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Form der Wärme oder des Bösen als ein eigentümliches Etwas real. Sie ist es, die allen warmen bzw. bösen Dingen innewohnt, die man aber auch wieder von diesen Dingen glaubt ablösen zu können, 396 so wie man das Böse aus einer Seele auch durch läuterndes Feuer entfernen zu können glaubte. Die scholastische Physik operiert also mit Substanzen, Quantitäten und realen Qualitäten; der Magnetismus, ein relationales Phänomen, ist unerforschbar. Denn bei Aristoteles wird die Kategorie der Relation zu einer abhängigen und untergeordneten Stellung herabgedrückt, im Gegensatz zur Kategorie der Substanz, und so konnten die mittelalterlichen Ärzte zur Erklärung von Herzschlag oder Schmerzen von einer »vis pulsifica« oder von einer »qualitas dolorifica« sprechen. In der scholastischen Interpretation der Eucharistie nach der aristotelischen Substanzontologie konnte nun »das eigenständige Göttliche« als Qualität durch Konsekration (»Wandlung«) in die Substanzen von Brot und Wein eingehen, derart, dass Brot zum Leib Christi und Wein zum Blut Christi wurden; und diese Lehre erhob man bereits auf dem 4. Laterankonzil von 1215 zum Dogma und bestätigte dies auf dem nachfolgenden Konzil von Trient. Diese Lehre war nämlich mit der von Thomas v. Aquin für das Christentum adaptierten aristotelischen Metaphysik gut erklärbar. Die Theorie zweier metaphysischer Prinzipien in jedem Körper, Materie (»Stoff«) (mit Ausdehnung) und Form (ein qualitatives Prinzip, das verantwortlich ist für Aktivität und spezifische Eigenschaften) brachte aber für die Eucharistie Schwierigkeiten: Die Substanz des Corpus Christi stimmte weder mit der Ausdehnung der Hostie noch mit den sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften (Geruch, Geschmack, Farbe) zusammen. »Der Heilige Thomas von Aquin besaß die intellektuelle Kühnheit, zu behaupten, was seine Vorgänger nur sehr vorsichtig zu formulieren wagten: die Phänomene der Eucharistie sind unabhängig von ihrer Substanz sinnlich wahrnehmbar, es sind Akzidentien ohne Subjekt. Daher wird die Qualität (die Ausdehnung) der geweihten Hostie weder durch die Materie des Brotes noch durch die umgebende Luft gestützt.« (Das war eine Idee Abaelards.) »Sie bleibt, durch ein Wunder, auch ohne Substanz. Und dasselbe gilt für die anderen Akzidentien, die zur Ausdehnung gehören: Die berühmten Eigenschaften Farbe, Geruch, Geschmack. Diese bleiben und agieren, ›als

396

Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 203 f.

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ob‹ sie von einer Substanz abhingen, aber in Wirklichkeit bleiben und agieren sie ohne Substanz.« 397

Diese »Transsubstantiation« 398 vom Materie und Form beinhaltete eine bestimmte »Philosophie der Materie, nach der es in den Körpern eine konstitutive Grundrealität gibt und eine Realität, die nur der sinnlichen Wahrnehmung erscheint«. Erstere wird Substanz genannt, letztere Qualität. »Die Substanz war die Essenz an sich, ohne Notwendigkeit eines Subjekts« (oder Trägers) »für seine Existenz. Die Akzidentien waren eine unabhängige Realität, die – virtuell, nicht faktisch – mit der Substanz verbunden waren, so dass dieser Zustand durch Aussprechen des Segens verändert werden konnte.« 399 So war die aristotelische Substanzontologie zum Dogma erhoben worden, weil sie die beste Erklärung eines real präsenten Gottes im Abendmahl liefern konnte. (Aber, so fragt Redondi, »sind die eucharistischen Spezies nun objektive Realitäten oder subjektive Eindrücke?« 400) Jeder, der hinfort die Aristotelische Physik und Ontologie angriff, wie der Franziskaner Duns Scotus in Oxford, Cambridge, Paris und Köln oder sein Ordensbruder Ockham in Oxford, der keine Essenz, sondern »nur gemeinsame Namen« für die Wesenheiten einer Begriffsklasse verantwortlich machte, oder auch Galilei und später Descartes mit seiner Korpuskulartheorie, lief nun Gefahr, als Ketzer verurteilt zu werden. Galileis Saggiatore, der in römischen Kreisen hoch gehandelt wurde und Descartes bekannt sein musste, enthielt aber bereits implizit, was man erst später bemerkte und was Galilei eine Anzeige vor der Inquisition einbrachte, eine völlig neue Ontologie und Physik. Das berühmte, später von Descartes zitierte Beispiel betraf den »Kitzel«. Dieser sei nicht als Qualität der Feder inhärent, so Galilei, und gehe sodann auf den Menschen über, der damit gekitzelt werde. Die Sinneserfahrung sei überhaupt nur im Menschen vorhanden (mit heutigen, späteren Begriffen: bloß subjektiv). Descartes schließlich reduzierte den aristotelisch-scholastischen Kosmos von Substanzen und Qualitäten auf nur zwei Substanzen, 397 398

Redondi, Galilei, der Ketzer, S. 215 f. Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, quaestio 73–83 der Eucharistia, hier qu. 75,

a4. 399 400

Redondi, a. a. O., S. 216. Redondi, Galilei, der Ketzer, S. 214.

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denen jeweils wenige Eigenschaften zukamen: res cogitans und res extensa, und auch dies war ein Sakrileg: eine Substanz nur in Zusammenhang mit Ausdehnung anzunehmen. Descartes war sich der Gefahr wohl bewusst und hatte im Anhang zu seinen Meditationen klugerweise vorab bereits auf mögliche Einwände, darunter auch einen im Hinblick auf die Transsubstantiationslehre, geantwortet. Er verlegte später seinen Wohnsitz in die bereits protestantischen Niederlande, wo er kein kirchliches Imprimatur für seine Veröffentlichungen mehr brauchte. Trotzdem wurden seine Principia philosophiae von einem in Lüttich lehrenden englischen Jesuiten bei der Inquisition angezeigt: »Kürzlich bin ich auf einen modernen Autor gestoßen, der aus dem Universum jede substanzielle Form zu entfernen scheint (abgesehen vielleicht vom Menschen und den anderen Lebewesen), und er behauptet, dass Feuer, Erde und Wasser nichts anderes sind als Urmaterie in verschiedenen Bewegungen«. Für den Ankläger war Descartes »begieriger auf Neuigkeiten als auf die Wahrheit, wobei er auch noch für sich in Anspruch nimmt, Katholik zu sein.« 401

Die theologische Fakultät von Löwen verurteilte dann 1662 zwei cartesianische Thesen: Die Ablehnung der realen Akzidentien ohne Subjekt und der Übereinstimmung von Substanz und Ausdehnung. Das Werk wurde in Rom auf den Index gesetzt, bis zu einer Korrektur. 402 Man sieht an diesen Beispielen, wie sehr die römische Kirche sich an das Dogma der Transsubstantiation gebunden fühlte und jede abweichende Meinung als Gefährdung von Glaubenswahrheiten brandmarken zu müssen glaubte, und dies traf dann auch auf reformatorische »Ketzereien« zu, die die Realpräsenz des Göttlichen in der Eucharistie und auch im Bild zum Problem machten. Hier schlug – wie bereits geschildert – die große Stunde der Zeichentheorie. »Zeichen und Wort fanden sich dabei auf der einen Seite, Bild und Körper auf der anderen in einem totalen oder einem scheinbaren Gegensatz. […] Die Zeichentheorie muss zwischen Körper und Zeichen einen ontologischen Unterschied machen: Ein Körper kann nicht zugleich Zeichen sein. […] Präsenz oder Repräsentation waren die Alternativen, und dazwischen gab es keinen Ausgleich.« 403 401 402 403

nach Redondi, Galilei, der Ketzer, S. 286. ebd. Belting, Das echte Bild, S. 168 f.

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Bilderverehrung, Bilderstreit und Bildersturm in christlichen Kulturen

Man versteht, dass dieser Konflikt bei den heutigen Bemühungen um Ökumene nicht nur im Hinblick auf die »Interkommunion«, das gemeinsame Abendmahl, sondern auch im Hinblick auf die eng damit verknüpften Bildauffassungen wieder auftauchen musste. Es war die deutsche evangelische Kirche, die sich 2015 in einer gemeinsamen Bemühung um die Orthodoxie und deren Bildverständnis in einem Kommuniqué zum »Bild Christi in der orthodoxen und der evangelischen Frömmigkeit« äußerte und in Bezug auf Kaiser Konstantins V. ikonoklastisches Konzil von Hiereia von einem »undifferenzierten Bildbegriff« sprach. Obwohl sich Calvin als einziger der Reformatoren mit dem 2. Konzil von Nicäa befasst habe, sei er auf die inkarnatorische Begründung des Christusbildes nicht eingegangen und habe nicht berücksichtigt, dass Ikonen zum Gebet anregen, das himmlische Urbild widerspiegeln und das Transzendente im Immanenten offenbaren. »Beide Kirchen lehnen die Bilderzerstörung ab. Die evangelischen Kirchen bedauern die Zerstörung der Bilder in der Reformationszeit. Die ablehnenden oder zurückhaltenden Urteile der Reformatoren über den Gebrauch von Bildern im Gottesdienst hatten die Auffassungen der orthodoxen Kirche entweder nicht im Blick oder wurden ihnen theologisch nicht gerecht. Allerdings scheint es bei beiden Kirchen eine unterschiedliche Akzentsetzung im Verständnis und Gebrauch von Bildern zu geben; doch fragen sich beide Seiten, inwieweit Frömmigkeitskulturen als kirchentrennend wahrgenommen werden müssen.« 404

Auch katholische Theologen haben auf die Bedeutung von negativer Theologie und Bilderverbot gerade heute hingewiesen: So propagiert etwa Höhn angesichts einer oft anzutreffenden Empfindung »postsäkularer Leere« eine »Rehabilitierung einer theologia negativa« (auch die moderne Kunst stehe nicht im Zeichen der Affirmation) und beruft sich dabei geschickterweise auf Thomas v. Aquin. 405 Erst allmählich werde heute die Aktualität dieses Ansatzes erkannt, der es erlaube, »ohne konfessionalistische Engführungen, dogmatische Borniertheit oder fundamentalistische Blockaden« mitEKD: Das Bild Christi in der orthodoxen und der evangelischen Frömmigkeit, Kommuniqué der 16. Begegnung im bilateralen Dialog zwischen dem Ökumenischen Patriarchat und der Evangelischen Kirche in Deutschland, S. 6 (www.kirchegeld.de/ download/Kommuniqué.pdf; auch abgedruckt in den Beiheften zur Ökumenischen Rundschau 113). 405 Höhn, Der fremde Gott. Glaube in postsäkularer Kultur, S. 85 f, bezieht sich auf Thomas, De potentia Dei, qu.7, a5–14. 404

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einander umzugehen. 406 Denn dieser Ansatz meide dogmatische Gewissheiten und halte der heutigen Bilderflut mit ihren digitalen Echtheitssimulationen ein Gefühl für die ikonische Differenz entgegen. 407 Gerade in Zeiten des »iconic turn« komme es darauf an, die Funktion der Repräsentation, des Zeigens auf etwas, wach zu halten und sich um eine Semantik des Bildhaften zu bemühen. 408 Höhn kritisiert die Wiederzulassung des tridentinischen Ritus, mit dem man »dem Trend nach mehr Sinnlichkeit im Religiösen nachgekommen« sei, als rückwärtsgewandte »lehramtlich betriebene dogmatisch-ästhetische Inszenierungskunst«, die »ein instrumentelles Verständnis von Ästhetik« verrate: »Auf diese Weise lassen sich vorhandene Plausibilitätslücken in der kirchlichen Verkündigung kaum kompensieren.« 409 Und schließlich propagiert Höhn einen »Paradigmenwechsel« von einer Substanzontologie zu einer relationalen Ontologie (!), »wobei die Wirklichkeit, um die es geht, durch und als eine Beziehung konstituiert zu denken ist«. Denn Gottes Wesen und Sein sei Liebe (1. Joh 4,8). »Das Selbstverhältnis Gottes realisiert sein Wesen als eine relationale Wirklichkeit, d. h. als ursprungsloses ›Woher‹ (Vater), als ungeschaffenes ›Woraufhin‹ (Sohn), als unüberbietbares ›Was‹ (Heiliger Geist) unbedingter Zuwendung«. 410 Und daher könne man auch noch über eine individualistische Mystik der »Entweltlichung, die sich in Ekstasen und Sondererfahrungen legitimiert« 411 und über alle Bilder und Sprache hinaus ist, eine an Paulus (1, Kor 12–14) orientierte gemeindezentrierte Christus-Mystik setzen, die die Liebe zum Inhalt hat.

2.3 Bilderverbote in arabisch-islamischen Kulturen 2.3.1 Bildniszerstörung als Reinigung »Das ideelle Wesen des Göttlichen ist nach islamischem Glauben bildlich nicht erfassbar, und die Sinnenwelt, die von der göttlichen Wahrheit durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt wird, ist bloßer Schein und der Dar406 407 408 409 410 411

Höhn, a. a. O., S. 87 f. Höhn, a. a. O., S. 223 f. Höhn, a. a. O., S. 202 f. Höhn, a. a. O., S. 82 f. Höhn, a. a. O., S. 139. Langer, Christliche Mystik im Mittelalter, S. 79 (Kritik der »Pneumatiker«).

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stellung nicht wert. Daher bleiben Gott und die Wirklichkeit […] der islamischen Bildkunst durchaus fremd. Der Islam kennt im Sinne des Christentums weder das Gottesbild, noch eine getreue Nachahmung der diesseitigen Welt.« 412

Zumindest der zweite Teil des letzten Satzes von Ipsiroglu muss heute wohl relativiert werden, wie sich zeigen wird. Doch gehen wir zurück: Ein weltgeschichtlich bedeutsames Ereignis trug sich im Jahre 610 n. Chr. zu, als Muhammad auf dem Berg Hira in der Nähe von Mekka die ersten göttlichen Offenbarungen empfing, die ihm der Erzengel Gabriel übermittelt haben soll (Koran, Sure 2,97 413). Die Offenbarung ging mündlich und Stück für Stück über Jahre hinweg vor sich (Muhammad konnte weder lesen noch schreiben). Muhammad rezitierte die Suren und ließ sie von Schreibern aufzeichnen. Muhammad sah sich in der Tradition der großen Propheten, betrachtete sich selbst aber als »Siegel der Propheten«, dem die letztgültige Offenbarung zuteil geworden war. Also erkennt der Koran auch die Schriften der Offenbarungsreligionen vor ihm im Wesentlichen an (K 6,92). »Herabgesandt hat Er auf Dich das Buch in Wahrheit, bestätigend, was ihm vorausging. Und herabsandte er die Tora und das Evangelium zuvor als eine Leitung für die Menschen und sandte (nun) die Unterscheidung.« (K 3,3)

Jesus (Isa) ist nämlich für Muhammad einer der größten Propheten, »unbefleckt« von Maria (Marjam) durch den Heiligen Geist empfangen (K, 21,91), doch nicht der Sohn Gottes. Das widerspricht der absoluten Transzendenz eines sich nur über das Wort offenbarenden Gottes; eine Inkarnation kann es nicht geben (K 4,163). Wer dies glaubt, macht sich der Sünde des Polytheismus (»shirk«: »Beigesellung« 414) schuldig: »Und ich folge der Religion meiner Väter Abraham, Isaak und Jakob. Und es ist nicht erlaubt, Allah etwas beizugesellen.« (K 12,38) Zur damaligen Zeit war die Kaaba in Mekka, die um einen schwarzen Meteoriten herum als eine Art Einfassung gebaut worden Ipsiroglu, Das Bild im Islam, S. 9. Ich folge der von Annemarie Schimmel herausgegebenen Koranübersetzung von Max Henning und zitiere zukünftig in der Form »K 2,97«, wobei ich die Nummerierung der kufischen Verszählung der offiziellen ägyptischen Koranausgabe übernehme. 414 Cook, Der Koran, S. 25. 412 413

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war, nämlich als Heiligtum verschiedenster heidnischer Kulte in Gebrauch. Muhammad war also überzeugt, »zu seinen der Sünde des Götzendienstes anheim gefallenen Landsleuten als Warner gesandt zu sein«, 415 und er begann zu predigen. Im Koran tauchen also zahlreiche Gestalten des Alten und Neuen Testaments auf, und für Schimmel lag dies »gewissermaßen in der Luft«. Sie schreibt Muhammad »eine mehr oder minder bewusste Übernahme dieser Stoffe von christlichen und jüdischen Mitbürgern« zu. (Die Könige Südarabiens waren nämlich schon im 6. Jahrhundert zum Judentum übergetreten; und verschiedentlich befanden sich jüdische Kolonien in Arabien. Und da es auch in der Einflusssphäre Irans und Ostroms und des nestorianischen und monophysitischen Christentums lag, wurde es zur damaligen Zeit auch von zahlreichen Christen verschiedenster Bekenntnisse bewohnt. 416) Für Muslime ist dies aber keine Übernahme fremden Gedankenguts, sondern eine Bestätigung und teilweise Korrektur der bereits ergangenen Offenbarungen. 417 Muhammad Abdallah Draz, Professor für Koranauslegung an der Universität Kairo, bestreitet jede Möglichkeit eines fremden Einflusses und glaubt auch, der Prophet habe nicht durch bloßes Nachdenken zu Erkenntnissen gelangen können, deren Grundlagen ihm unbekannt waren. »Nicht durch bloßes Denken können Fakten, gewusste und frühere Ereignisse beschrieben werden, – und doch ist der Koran immer in völliger Übereinstimmung mit den grundlegenden Gegebenheiten der Bibel, auch mit solchen, die Mohammed unbekannt waren.« 418

So wird Adam als Stammvater der Menschheit gesehen, aber Abraham (Ibrahim) als erster Muslim bezeichnet, denn anders als Adam unterwarf er sich dem Willen Gottes und war sogar bereit, seinen Sohn zu opfern. Der Koran berichtet aber auch eine Geschichte, die im Pentateuch fehlt: Abraham soll seinen Vater und sein Volk nach den Bildern gefragt haben, die sie verehrten, und sie auf ihren offenkundigen Irrtum hingewiesen haben. Er habe also alle Götzenbilder Schimmel (Hg.), Der Koran, Einführung, S. 7. Schimmel, a. a. O., S. 12. 417 Schimmel, a. a. O., S. 13. 418 Abdallah Draz, The Origin of Islam, in: Morgan (Hg.), Islam. The Straight Path. Islam Interpreted By Muslims, s. https://www.religion-online.org/book-chapter/ chapter-1-the-origin-of-islam-by- mohamad-abd-allah-draz/ (Übersetzung d. d. A.) 415 416

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bis auf eines zerschlagen, damit sie es diesem zuschrieben. »Pfui über Euch und über das, was Ihr außer Allah anbetet! Habt Ihr denn keine Einsicht?«, wird er zitiert, worauf man ihn verbrennen wollte. Doch »Wir sprachen: ›O Feuer, sei kühl und ein Frieden auf Abraham‹. Und Gott machte jede List gegen Abraham zunichte« (K 21, 52–70). Mit seinem späteren Sohn Ismael soll er dann in Mekka das Heiligtum der Kaaba gebaut haben, die allerdings in vorislamischer Zeit (Dschāhilīyya: Zeit der Unwissenheit) auch verschiedenen heidnischen Kulten diente. Daher geht es schon in der 2. Sure des Korans um »die Kuh« (gemeint ist das goldene Kalb), das man keinesfalls anbeten darf, denn diese Anbetung gebühre Gott allein: »Und als Wir mit Moses 40 Nächte lang den Bund schlossen; alsdann in seiner Abwesenheit nahmt Ihr Euch das Kalb und sündigtet.« – »Und als Moses zu seinem Volke sprach: ›O mein Volk, Ihr habt Euch dadurch versündigt, dass Ihr Euch das Kalb nahmt. Kehret um zu Eurem Schöpfer und schlagt (die Schuldigen unter Euch) tot. Dies wird Euch Gutes einbringen bei Eurem Schöpfer.‹ Und so kehrte Er sich wieder zu Euch, denn er ist der Vergeber, der Barmherzige.« – »Und doch gibt es Leute, die neben Allah Götzen setzen und sie lieben, wie man Allah lieben soll […].« (K 2,51 und 2,54 sowie 2,165)

Gott ist also barmherzig zu den Rechtgläubigen und unnachsichtig gegenüber denen, die sich der Sünde der »Beigesellung« schuldig machen: »Siehe, diejenigen, die sich das Kalb nahmen, wahrlich, einholen wird sie Zorn von ihrem Herrn.« (K 7,152) Es wird also streng unterschieden zwischen Freunden und Feinden Allahs. Erstere werden im irdischen Leben und im Jenseits belohnt werden, letztere erwartet Strafe spätestens im »Dschahannam«, dem Höllenfeuer. Da Muhammad zunächst in Mekka keine Gefolgschaft fand, zog er im Jahr 622 (dem Beginn der islamischen Zeitrechnung) mit seinen Anhängern nach Jathrib, das später nach ihm Medina (»Stadt des Propheten«) genannt wurde. Erst später kehrte er nach Mekka zurück und gewann die Stadt für sich, und es gehört geradezu zu einem der Gründungsmythen des Islam, dass er dort mit Hilfe seines Schwiegersohnes Ali die Kaaba erst von heidnischen Bildnissen reinigen musste (siehe Bild 11), um dort beten zu können. (Dabei soll er ein Bildnis von Maria mit dem Jesusknaben unangetastet gelassen haben. 419) 419

Grabar, Die Entstehung der islamischen Kunst, S. 87.

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Einerseits wird berichtet, dass bereits Muhammad, wie auch spätere arabische Potentaten (z. B. in Al-Andalus, dem maurischen Spanien) tolerant gegenüber Juden und Christen gewesen sein sollen. Muhammad z. B. soll Achtung und Freundschaft gegenüber den »Leuten des Buchs« gepredigt haben und in Medina zunächst noch die Gebetsrichtung (qibla) gen Jerusalem vorgegeben haben, die er erst später gen Mekka änderte. (Noch heute gibt es in Medina eine Moschee »der beiden Qibla«). Und er soll Christen in der Moschee, die sein Haus war, erlaubt haben zu beten. 420 Doch im Koran finden sich auch deutliche Abgrenzungen zu Judentum und Christentum, die sich aus dem Vorangegangenen schlüssig ergeben: Juden haben die Propheten ungerechterweise ermordet (K 4,155) und sind deshalb der Verdammnis anheimgefallen, und Christen beten zu drei Gottheiten: »Der Messias Jesus, der Sohn der Maria, ist der Gesandte Allahs und Sein Wort, das er in Maria legte, und Geist von ihm. So glaubet an Allah und an seinen Gesandten und sprechet nicht: ›Drei‹. Stehet ab davon, und gut ist’s Euch. Allah ist nur ein einiger Gott […].« (K 4,171) (vgl. auch K 5,73: »Wahrlich, ungläubig sind, die da sprechen: ›Siehe, Allah ist ein dritter von drei.‹«)

Jesus und Maria wurden als Zeichen Gottes erhöht (K 43, 50), doch die Christen beten sie, so der Vorwurf, neben Gott als göttlich an: »Und wenn Allah sprechen wird: ›O Jesus, Sohn der Maria, hast Du zu dem Menschen gesprochen: Nehmet mich und meine Mutter als zwei Götter neben Allah an?‹ Dann wird er sprechen: ›Preis sei Dir! Es steht mir nicht zu, etwas zu sprechen, das nicht wahr ist. Hätte ich es gesprochen, dann wüsstest Du es. Du weißt, was im meiner Seele ist; ich aber weiß nicht, was in Deiner Seele ist. Siehe, Du bist der Wisser der Geheimnisse.‹« (K 5,116) 421

420 Papadopoulo, Islamische Kunst, S. 28. Aus westlicher Sicht entstanden die Abgrenzungssuren zu Juden und Christen später, nachdem Muhammad weder von den Juden als Prophet noch von den Christen als Nachfolger Christi (Papadopoulo, ebd.) anerkannt worden war. 421 Ein gläubiger Muslim würde auf den Einwand der Christen, die Dreifaltigkeit bestehe nicht aus Vater, Sohn und Maria, bzw. auf den der Juden, sie hätten nie neben Gott Esra als Allahs Sohn angebetet (Sure 9,30), sagen, Allah habe aber immer recht, da der Koran als Verkörperung des göttlichen Wortes gilt. (»Allah ist wissend und weise«, K 48,4.)

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Bilderverbote in arabisch-islamischen Kulturen

Bild 11: Mohammed, auf den Schultern seines Schwiegersohnes Ali, entfernt heidnische Götzenbildnisse von der Kaaba (Ende 16. Jh.)

Beiden Religionen zusammen wirft Muhammad auch noch vor, dass sie Rabbinen und Mönche zu ihren Herren machen. (K 9,31) Der Koran propagiert also einen strikten Monotheismus. Die Einzigartigkeit Gottes wird auch in seinen 99 Namen deutlich, denen die 99 (manchmal auch 33) Perlen der islamischen Gebetskette entsprechen, mit einer zusätzlichen großen Perle für den Unaussprechlichen Großen Namen, vergleichbar mit JHWH und dem »unbekannten Gott« der Griechen. In der Tat gibt es im Koran viele teilweise anthropomorphe Namen, die alle nicht hinreichen, um den Einzigartigen Einzigen zu beschreiben: Der Erbarmer, der König, der Heilige, der Friede, der Mächtige und Prächtige, der Unterdrücker, der Vergebende, der Allweise, der Allhörende, der Allsehende, der Richter, der Gerechte, der Wohlwollende, der Langmütige, der Liebevolle, der Wahre und die Wahrheit, der Starke, der Unerschütterliche, der 185 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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Schöpfer des Lebens, des Todes, der Allmächtige, der Erste und der Letzte, der Verborgene, Gütige, der Rächer, der Nachsichtige, das Licht, der Ewige, der auf den geraden Weg führt, der voller Geduld ist, um nur einige zu nennen. 422 Der 100ste Name (große Perle) ist unaussprechlich. So groß war die Motivation des Korans und die Verheißung des göttlichen Allerbarmers für die rechtgläubigen Muslime, dass die Nachfolger Muhammads, die ersten Kalifen, einen arabischen Eroberungssturm entfachen konnten und in nur einem Jahrhundert ein Reich schufen, das sich im frühen 8. Jahrhundert vom heutigen Portugal bis nach Pakistan erstreckte. 423 Doch leider kam es schon in dieser frühen Zeit, da Muhammad seine Nachfolge nicht geregelt und nur überlebende Töchter hatte, zu Streitigkeiten. Denn die Schiiten wollten nur leibliche Nachkommen als Muhammads Nachfolger anerkennen, was die ersten drei Kalifen Abu Bakr, Omar und Uthman nicht waren. Erst Ali, der 4. Kalif, sowohl Vetter als auch Schwiegersohn Muhammads, wurde von ihnen anerkannt, und seine Söhne Hasan und Husein. Aber Ali und Hasan wurden ermordet, und Husain fiel in der Schlacht von Kerbala (Irak) im Kampf gegen die Ummajjaden und wurde zum verehrten Märtyrer der Schiiten, die heute ca. 10 % der Muslime stellen. Nach der Zeit der Fatimiden-Dynastie in Ägypten, die sich auf Muhammads Tochter Fatima zurückführte, sind sie heute vor allem im Iran und Irak und Jemen ansässig. Die Sunniten werfen den Schiiten bis heute Heiligen- und Gräberverehrung und so manchen laxen Umgang u. a. auch mit der Bilderfrage vor. Die schiitische Heterodoxie war nämlich bildtoleranter als die sunnitische Orthodoxie; Grabar spricht hier sogar von »Ikonophobie«, da man »die potentielle magische Macht von Bildern unmittelbar als Täuschung, als Übel deutete.« 424 Doch für beide Konfessionen sind der Koran, dessen endgültige Trutwin, Wege zum Licht, S. 217. Die Namen repräsentieren zum Teil menschliche Eigenschaften, obwohl die »Imago-Lehre«, nach der Gott den Menschen »nach seinem Bilde geschaffen« haben soll, im Koran fehlt. (»Allah blies in ihn von seinem Geiste«, K 32,9) Die Gefahr des gefährlichen Rückschlusses von menschlicher auf göttliche Gestalt war also zunächst explizit nicht gegeben. (Doch vgl. K 24,39: »Allah zahlt ihm seine Rechnung voll aus, denn Allah ist schnell im Rechnen.«) 423 Cook, Der Koran, S. 17. 424 Grabar, Die Entstehung der islamischen Kunst, S. 79 und 102. 422

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Bilderverbote in arabisch-islamischen Kulturen

Fassung unter den ersten drei Kalifen festgelegt wurde, und die später entstandenen Hadithe, zunächst mündlich tradierte Begebenheiten aus dem Leben Muhammads, verpflichtend. Hier gibt es allerdings Unterschiede zwischen den sunnitischen und schiitischen Sammlungen. (Letztere enthalten auch Geschichten aus dem Leben Fatimas, Alis und seiner Nachkommen, den Imamen.) Während in den ersten 100 Jahren des Islam sich das Reich der Kalifen von Turkmenistan bis Spanien ausdehnte und auf Indien übergriff, 425 wurden die Hadithe mündlich tradiert und gesammelt. Das Material mit Geschichten, meist auch mit Aussprüchen des Propheten, hatte im 2. und 3. islamischen Jahrhundert, also im 8. und 9. Jahrhundert westlicher Zeitrechnung, bereits einen Umfang von mehreren zehntausend Geschichten, war mündlich überliefert und dann von falschen Hadithen gereinigt worden, bevor sich bei den Sunniten 6 kanonische Sammlungen zwischen dem 9. und 10. Jahrhundert etablierten. Bei den Schiiten hingegen wurden zwischen dem 10. und 11. Jahrhundert die »Vier Bücher« (al-kutub al-arbaa) kanonisch. 426 Trotz der Unterschiede finden sich aber auch viele Gemeinsamkeiten, z. B. zunächst in der Bilderfrage, wobei schon im Koran zwischen mindestens drei Bezeichnungen für »Bild« zu unterscheiden ist: tamâthlîl (Plural von timthâl) als Bild, Abbild, bildliche Darstellung, Standbild, Statue, sowie sanam für Götzenbild (vor allem aus Metall) und sûra (Bild), das im Koran nur an einer Stelle verwendet wird, die der Imago-Lehre des Judentums und Christentums entspricht, aber ihr die Möglichkeit gefährlicher anthropomorpher Deutung versperrt: Bei der Erschaffung des Menschen habe Gott ihn in eine Gestalt (sûra) zusammengefügt »in der Form, die Ihm beliebte« (K 82,8). 427 (Eben nicht: »nach seinem Bilde.«) In den Hadithen finden sich dann auch weitere Begründungen und Einzelheiten zum Bilderverbot. Im Wesentlichen geht es hier um drei Motive: 1. Die Sinnenwelt ist von der göttlichen Wahrheit durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt, sie ist bloßer Schein und Trug und der Darstellung nicht wert, das Ideelle ist aber bildlich nicht erfassbar. Daher ist auch die getreue Nachahmung der diesseitigen Welt ver425 426 427

Papadopoulo, a. a. O., S. 30. Naef, Bilder und Bilderverbot im Islam, S. 13. a. a. O., S. 12.

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boten, wobei aber Pflanzen als Wesen ohne »Lebensodem« abgebildet werden dürfen. Figürliche Darstellungen können durch Enthauptung oder Verstümmelung theologisch annehmbar gemacht werden, denn das Bild gilt als Verrat am Lebendigen. 428 2. Der Maler eines Bildes ist erschaffend tätig, was nur Gott zugestanden wird. Einer der 99 Namen Allahs »musavvir« (vgl. K 59.24, nach der Gott allein Bildner ist), ist gleichzeitig der Begriff für »Maler«, und diese setzten sich mit figürlicher Malerei an die Stelle Gottes, der aber allein nur erschaffen kann und darf. Diese Sünde der Selbsterhebung von vielen Malern würde so zu einem Polytheismus führen, der unbedingt zu vermeiden ist. (Beim Fotografieren oder Abfilmen einer Realität werde der Mensch aber nicht schöpferisch tätig, weshalb diverse Fatwas es erlauben. 429) 3. Bilder sind als Unikate sehr teuer und bedeuten Luxus, den man als frommer Muslim vermeiden sollte, weil er vom Wesentlichen ablenkt. Allenfalls sind Bilder als Ergänzung und Illustration von Schrift erlaubt, sie dienen dann dem besseren Verständnis und haben sich dem Text unterzuordnen. Bilder, auf die man tritt oder auf denen man sitzt, wie Mosaiken oder Sofakissen, sind erlaubt, doch ein isoliert an der Wand hängendes Bild oder ein bemalter Vorhang ohne begleitende Geschichte, der es sich unterordnet, und schlimmer noch, eine dreidimensionale Skulptur (die »Schatten wirft«), ist ein Sakrileg, da es den Betrachter auf den schönen Schein fixiert und den Geist ablenkt, der in die Gefahr der Idolatrie geraten könnte. Diese Maßgaben haben für Ipsiroglu absolute Autorität und fordern Unterwerfung. Die dazu erwünschte Passivität ist auch in der Hinnahme eines unabänderlichen Schicksals vonnöten, man muss auch Übles ertragen und erdulden, da es von Gott kommt. 430 (Für Naef hingegen können die Hadithe ausgelegt werden, und so gibt es durchaus intrakulturelle Unterschiede im Hinblick auf den Umgang mit Bildern. Sie argumentiert gegen Papadopoulo, der als frankophoner Forscher dem Maghreb näher sei, in dem tatsächlich eine fast bilderlose Kultur zu beobachten gewesen sei. Doch je weiter

Naef, a. a. O., S. 22 und Ipsiroglu, a. a. O., S. 22. s. Naef, Bild und Bildverbot im Islam, S. 84 und 19 ff sowie 118 und 134, wo das Abfotografieren als mechanischer Vorgang beschrieben wird: Es sei einem Spiegelbild vergleichbar. Doch in Saudi-Arabien wurde das Verbot, im Land öffentlich zu fotografieren, erst 2006 aufgehoben (Naef, a. a. O., S. 121). 430 Ipsiroglu, a. a. O., S. 157. 428 429

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Bilderverbote in arabisch-islamischen Kulturen

man nach Osten komme, desto mehr Bilder – vor allem zum privaten Gebrauch – seien üblich gewesen. 431) So etwa waren in der Frühzeit des Islam die Schiiten durchaus bilderfreundlich, es gab in Persien eine vorislamische Maltradition im 3.–7. Jahrhundert, die nachwirkte, als es im 13. Jahrhundert zur persischen Miniaturmalerei (als Illustration von Texten) kam. Das vertiefte die Ressentiments und den Abscheu, denn es scheint keinen Propheten oder Heiligen gegeben zu haben, »der dem gotteslästerlichen Pinsel eines persischen Malers entkommen wäre«. 432 »Die zahlreichen Darstellungen Alis, die die in schiitischen Ländern in Moscheen zu finden sind, kommen Kultbildern gleich, und man kann sie durchaus als Gottesbilder bezeichnen. […] Tatsächlich wird auch dieses von den Schiiten keineswegs abgelehnt. […] Das Schiitentum fand in islamischen Ländern überall Anklang, aber es konnte im Iran, wo heidnische Vorstellungen und Sitten im nationalen Bewusstsein nie ganz ausgelöscht waren, einen besonders günstigen Nährboden finden, so dass die Mehrheit der Bevölkerung dort sich zur Schiʾ a bekannte.« 433 (so Ipsiroglu als Sunnit)

Nachdem im »Urislam die Darstellung lebender Wesen – mit Ausnahme der Bilder von islamisch-religiösem Wert – nicht nur toleriert, sondern sogar geliebt« wurde (doch Muhammad und seine Gefährten oder Engel nicht dargestellt wurden), gab es nun wieder Paläste und Privathäuser mit reichem Bilderschmuck, nur in Sakralbauten nahm man Rücksicht. Am strengsten in der Bilderfrage ist wohl der (sunnitische) wahabitische Islam in Saudi-Arabien, der sogar Fotografien und Puppen verbietet, sofern sie ein Gesicht haben. 434 Und am liberalsten sind wohl die Aleviten (von »Ali«), die im 13. Jahrhundert in der Türkei aus dem schiitischen Islam hervorgingen und in deren Gottesdiensten sogar verpönterweise Gesang und Tanz üblich waren, und die sich in ihren Gebeten nicht nach Mekka, sondern zueinander neigen, um die göttliche Immanenz im Anderen zu betonen. Auch Bilder und Alkoholkonsum sind ihnen erlaubt, was insgesamt zu vielen Anfeindungen und sogar zu Massakern führte. Als Bagdad im Jahr 1258 von den Mongolen erobert wurde und für etwa 200 Jahre Teil des mongolischen Weltreichs wurde, wechselten die Mäzene für Bildaufträge. 431 432 433 434

Naef, a. a. O., S. 69. Papadopoulo, a. a. O., S. 51. Ipsiroglu, a. a. O., S. 23. Naef, Bilder und Bilderverbot im Islam, S. 24.

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Denn nun galt es nicht mehr – obwohl die Mongolen den Islam annahmen – eine Weltabgewandtheit zu befördern, die dem chinesischen und japanischen Denken fremd war. Hier galt vielmehr der Imperativ einer Harmonie mit der Natur, der zu anderen Darstellungen führte. 435 Der sog. »Mongolenstil« prägte sich Mitte des 14. Jahrhunderts unter dem Eindruck der chinesischen Berg-Wasser-Malerei (von der noch die Rede sein wird) aus. »Eine Reihe nach chinesischen Vorlagen gemalter Kopien aus dieser Zeit zeugen davon, welch grenzenlose Bewunderung man den Chinesen zollte. […] Man entdeckte an den chinesischen Vorbildern die Natur, und nachdem man einmal gelernt hatte, nach »chinesischer Art« zu malen, begann man die Natur mit eigenen Augen zu sehen.« 436

Die Bildgestaltung wurde an einem anderen, nunmehr weniger weltabgewandten Sehen orientiert. Doch schon die Begegnung mit der griechischen Philosophie, insbesondere mit dem Thema des Sehens, wurde zu einem der Themen in der frühen islamischen Philosophie.

2.3.2 Al-Kindī, antike Theorien des Sehens und ihre Weiterentwicklung in der arabischen Philosophie Ohne den »Umweg« über die »arabische« Philosophie 437 und »Al-Andalus« wäre das Denken der Griechen dem europäischen Mittelalter fremd geblieben. Doch haben die arabischen Denker keineswegs nur Platon, Aristoteles und Plotin übersetzt und rezipiert und mit dem Islam zu harmonisieren gesucht: Es gingen auch neue kreative Impulse von ihnen aus, und dies soll exemplarisch an dem ersten genuin arabischen Philosophen, Al-Kindī, gezeigt werden, auch weil er sich intensiv mit einem Thema beschäftigte, das die Denker von Euklid bis Cusanus und darüber hinaus mehr als 2000 Jahre lang aktuell fanden, nämlich mit dem Thema des menschlichen Sehens. Er war es, der mit

Ipsiroglu, a. a. O., S. 51 ff und S. 60–63. Ipsiroglu, a. a. O., S. 63. 437 nach Lerch, Denker des Propheten, S. 42, ist diese inzwischen übliche Bezeichnung irreführend, obwohl das Arabische neben dem Persischen die Sprache war, in der man schrieb, doch viele der Denker seien Perser oder Berber gewesen. Doch »auf dem Hintergrund der ohnehin universalistischen Religion des Islam, der nur Gläubige kennt, keine Rassen oder Ethnien«, seien solche Benennungen »einigermaßen obsolet«. 435 436

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seiner spezifischen Lösung die Erfindung der Zentralperspektive in der florentinischen Renaissance möglich machte. Nach der Ermordung Alis und dem Tod seiner Nachkommen hatte sich in Damaskus seit 661 die (sunnitische) Ummajjaden-Dynastie etabliert, deren Kalifen nicht nur einen korangestützten universellen Machtanspruch demonstrierten, sondern auch eine erste Blütezeit für Dichtung, Philosophie und Wissenschaft (besonders Medizin) einleiteten. Diese hielt auch unter der sich ab 750 anschließenden Dynastie der Abassiden, die die Hauptstadt des islamischen Vielvölkerreichs nach Bagdad verlegten, weiter an. Die arabisch-islamische Philosophie ist in das Klima des sich auflösenden Hellenismus hineingeboren. Zuerst habe es, so Turki, ein »praktisches Interesse an medizinischem und astronomischem Wissen, das seit Galen mit der Philosophie in enger Verbindung stand«, gegeben, 438 doch »wahrscheinlich war auch Prestigedenken ein Motiv, der Versuch, Byzanz zu übertreffen, den islamischen Bereich zum wahren Erben hellenistischer Weisheit zu machen. Als Motiv sollte man auch nicht ausschließen, dass einige Förderer echtes Interesse für Naturwissenschaft und Philosophie um ihrer selbst willen hatten.« 439

Nicht nur die Elite war wegen der Fixierung auf Schrift und Buch belesen; überall sammelte man Handschriften und errichtete Bibliotheken. Die ersten Übersetzungen aus dem Griechischen, so Turki, geschahen durch syrische Christen, die zwischen der griechischen und arabischen Sprache vermitteln konnten und die übersetzten Werke nicht nur kommentierten und redigierten, sondern auch eigene Abhandlungen verfassten, wodurch die »arabische Sprache, die hauptsächlich als Sprache des Korans und der mit ihm verknüpften Religionswissenschaften sowie der Poesie und Literatur hervorgetreten war, nun zur Sprache der Naturwissenschaft und Philosophie« avancierte. 440 Als in Bagdad 810 das »Haus der Weisheit« (»bait al-ḥikma«) gegründet wurde, wurde es nach Yousefi zum Erben der bereits 271 gegründeten persischen Akademie in Gondischapur, einem der ältesten medizinischen Zentren der Welt, in dem nicht nur das persische, griechische und indische Wissen zusammenfloss, sondern auch NaTurki, Einführung in die arabisch-islamische Philosophie, S. 29. Watt/Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, in: Watt/Munir, Der Islam, Bd. II, S. 326. 440 Turki, a. a. O., S. 31. 438 439

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turwissenschaften, Philosophie und Theologie gelehrt wurden. 441 Nach Marmura gab es aber noch eine andere Schule, die am Übertragungsprozess griechischen Wissens in die arabische Kultur mitwirkte, die medizinische und philosophische Schule von Alexandria, die 718 nach Antiochia gezogen war und in der Mitte des 9. Jahrhunderts nach Bagdad übersiedelte. 442 Im »Haus der Weisheit« wurden viele Disziplinen unterrichtet. Es sollte zur »Errichtung eines Reiches der Weisheit und des Friedens« beitragen, 443 denn nach K 49,13 heißt es »O Ihr Menschen, wir erschufen Euch von einem Mann und einem Weib und machten Euch zu Völkern und Stämmen, auf dass Ihr liebevoll einander kennen möget.« 444 Die griechische Philosophie sollte aber auch in den Dienst der Theologie gestellt werden, »damit diese sich sowohl nach außen gegenüber der christlichen Konkurrenz behaupten könne, als auch nach innen, um den unterschiedlichen Sekten und Häresien manichäischer Provenienz besser begegnen zu können.« 445 Damit schlug die Stunde der Muʾ taziliten, der rationalen Theologen und Philosophen, die bestrebt waren, »die islamische Glaubenslehre nach logischen und rational strukturierten Grundsätzen zu erklären und nicht einfach als geoffenbartes Dogma hinzunehmen«. 446 »Das Menschenbild der Muʾ taziliten ist universalistisch. Für sie sind alle Menschen als Geschöpfe Allahs gleich. Hiernach ist der Mensch frei geboren und verfügt über einen freien Willen, weshalb er für seine Taten verantwortlich ist. Die Muʾ taziliten erheben die Vernunft (aql) zur obersten Instanz, welcher der Mensch prinzipiell verpflichtet ist. Mutakallimūn sind also Theologen, die sich mit einer rationalen Begründung der Offenbarungslehren beschäftigen. Sie sind aufgrund ihrer Logos-Theologie der Meinung, dass alle Ansichten Gottes stets vernünftig begründet und begründbar seien.« 447

Als Methode verwenden die Muʾ taziliten eine nicht erst durch die Griechen erfundene, sondern bereits ältere dialektische Methode, Yousefi, Einführung in die islamische Philosophie, S. 41 f. Watt /Marmura, Islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 326. 443 Yousefi, a. a. O., S. 41. 444 Für den letzten Halbsatz bin ich zur Übersetzung von Rudi Paret gewechselt. 445 Turki, a. a. O., S. 34 zitiert den leider nicht übersetzten al-Jabri, naḥnu wal–turāh (»Wir und das Kulturerbe«), S. 51. 446 a. a. O., S. 34. 447 Yousefi, a. a. O., S. 43. 441 442

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den kalam, der »mittels Überlegung und Gegenüberlegung sowie Rede und Gegenrede« logische Stimmigkeit und Folgerichtigkeit von Aussagen und Behauptungen sichern soll. 448 »Die Geschichte dieses Prinzips ist älter als sein Name. Bereits in der altägyptischen und altpersischen Dialektik ist dieses Grundprinzip späterer Denktraditionen anzutreffen. Es geht sowohl um das Polaritätsprinzip des ägyptischen Isisgottes Thot, einer Gottheit, deren Ideen durch Inschriften in Bauwerken und Papyrus-Aufzeichnungen gut belegt sind, als auch um das Dualitätsprinzip in den ›Gathas‹ des Sartoscht (Zarathustra), die ebenfalls erhalten sind.« 449

Da die Muʾ taziliten keine Trennung von Theorie und Praxis, von Erkenntnis und Handeln wollten, verbinden sie die Prinzipien Vernunft und Gerechtigkeit (»aql wa adl«). »Alle anderen Instanzen sind der Vernunft als oberstem Kriterium untergeordnet. Der menschliche Intellekt wird als Verpflichtung bedingungslosen Dialogs verstanden, der sich zwischen Geschichte und Gegenwart sowie Gegenwart und Zukunft bewegt.« 450

In diese »bemerkenswerte Phase in der Geschichte des Islam, in der ein Geist der freien Disputation und des freien Denkens, aber auch der Toleranz herrschte«, 451 wurde Abū Yaqūb bin Isḥāq al-Kindī (800–870) hineingeboren, der später den Ehrentitel »failasuf alarab« (»Philosoph der Araber«) erhielt. In Kufa im Irak als Sohn des dortigen Gouverneurs geboren, erhielt er in Basra und dann in Bagdad seine Ausbildung, wo er im »Haus der Weisheit« nicht nur eine universale Bildung erhielt, nebenbei auch als Physiker, Astronom, Astrologe, Mathematiker und Musiker, sondern »offenbar auch direkt an der Quelle antiker philosophischer Texte« saß, »da er mit einigen der Übersetzter persönliche Kontakte unterhielt«. 452 Ob er schließlich auch selber Texte übersetzte oder paraphrasierte, ist strittig. 453 Yousefi, a. a. O., S. 43; s. auch Turki, a. a. O., S. 36 ff. Yousefi, a. a. O., S. 43. 450 a. a. O., S. 44. 451 Turki, a. a. O., S. 37. 452 Lerch, Denker des Propheten, S. 43. 453 Yousefi, a. a. O., S. 52 glaubt dies, wohingegen Adamson, Al-Kindi. In: The Cambridge Companion to Arabic Philosophy, (Hg. Adamson/Taylor), S. 32–51 meint, dass Al-Kindi selbst keine Übersetzungen angefertigt habe und auch kein Griechisch konnte. 448 449

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Er blieb lange Zeit mit der muʾ tazilistischen Schule verbunden, denn er geht auf allen Ebenen dialektisch vor; und es geht ihm um eine Harmonisierung von Religion und Philosophie, da er die Aufgabe der Philosophie (»al falsafa«) in der Wahrheitssuche sieht und von einem pluralistischen Philosophieverständnis ausgeht. Denn keiner könne für sich alleine Besitzansprüche auf die absolute Wahrheit erheben: »Wir dürfen uns nicht schämen, die Wahrheit für gut zu erachten« und als solche »anzuerkennen, woher sie auch kommen mag. Auch wenn sie von Menschen kommt«, die uns fremd sind. »Es gibt nämlich nichts, was angemessener für denjenigen wäre, der nach der Wahrheit strebt, als die Wahrheit selbst. […] Auch wird niemand durch die Wahrheit gemindert, sondern jeder wird durch sie geehrt.« 454

Al-Kindī hielt gegen die aristotelische Auffassung von der Ewigkeit der Welt an der Schöpfungslehre fest, schaffte es aber, dies mit der aristotelischen Naturphilosophie zu begründen. 455 (Später hielten auch Avicenna (Ibn Sina) und Averroes (Ibn Ruschd) an der aristotelischen Auffassung fest.) Al-Kindi aber vertrat einen neuplatonisch gefilterten Aristotelismus, der es erlaubt, alle drei Gottesbilder, die den Traditionen des Aristotelismus, des Neuplatonismus und der abrahamitischen Religionen entstammen, miteinander zu verknüpfen und zu bekräftigen, da er – unter Verwendung der vier-UrsachenLehre des Aristoteles – in Gott sowohl eine Wirk- als auch eine Zweckursache sah: »Seiner Auffassung nach ist Gott der unbewegte Beweger, aber auch ein Handelnder, der seiner Schöpfung das Sein verleiht. In diesem Zusammenhang verwendet er den Ausdruck fayd (›Emanation‹), und er bekräftigt […] die neuplatonische Vorstellung, nach der Gott durch vermittelnde Ursachen auf die Welt einwirkt. Gottes Handeln ist Erschaffen, worunter er versteht, ›das Sein aus dem Nichts ins Sein zu bringen‹, und Gott ist Prinzip des Seins, ›das wahre Sein‹ (anniya), ebenso wie er das Prinzip des Handelns und des Einsseins ist.« 456

Al-Kindi, Die erste Philosophie, S. 65 (ich folge i. w. den Kürzungen Yousefis, a. a. O., S. 53). 455 Turki, a. a. O., S. 56. 456 Adamson, Al-Kindi und die frühe Rezeption der griechischen Philosophie, in: Eichner et al. (Hg.), Islamische Philosophie im Mittelalter, S. 149 zitiert die arabische Version von Al-Kindīs »Erster Philosophie«, S. 118.18 und S. 215.4. 454

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Damit verknüpft ist eine sehr strenge negative Theologie: Unter Verwendung der aristotelischen Kategorienlehre argumentiert Al-Kindī, dass alles das, was sich von etwas anderem sagen lässt (etwa Attribute, Eigenschaften), unmöglich von dem absolut Einen gesagt werden könne. »Wie Al-Kindi vorbringt, ›hat das wahrhaft Eine weder Materie noch Form, weder Quantität noch Qualität sowie auch keine Relation; und es lässt sich nicht durch eine der anderen Kategorien beschreiben. Es hat weder Genus noch spezifische Differenz‹, (ist infolgedessen undefinierbar) ›es hat nichts Individuelles und auch kein spezifisch Eigentümliches oder ein allgemeines Akzidenz. Es bewegt sich nicht. […] Es ist folglich nichts als reines Einssein.‹ […] Das Fazit lautet offenkundig, dass man von Gott überhaupt nichts wissen und gar nichts sagen kann.« 457

Dennoch nannten die im islamischen Rosenkranz (»rosary« 458) zu rezitierenden 99 Namen Gottes positive Attribute, die aber alle nicht hinreichen, ihn zu beschreiben, was mit der 100. Perle ausgedrückt werden sollte, der – in Analogie zum Altar für den unbekannten Gott der Griechen – kein Name entsprach. Dennoch weiß man aber, dass er »Eins« ist und der Ursprung aller geschaffenen Dinge, und darauf kam es Al-Kindī an. Originalität zeigt Al-Kindi z. B. dadurch, dass er den zwei Arten des Intellekts bei Aristoteles, die sich wie Akt und Potenz zueinander verhalten, eine dritte und vierte Dimension hinzufügt. 459 Hier sollen aber als Beleg für eigenständiges und weiterführendes Denken seine Überlegungen zum Sehen angeführt werden, da sie in unmittelbarem Zusammenhang mit der Bilderthematik stehen. In seiner »westöstlichen Geschichte des Blicks« weist Belting dem arabischen Denken eine »Optik des Lichts« zu, im Gegensatz zur »Optik des Blicks«, die er in der europäischen Renaissance ausmacht. In Florenz und Bagdad, die er als paradigmatische Orte und Zentren

457 Adamson, a. a. O., S. 146 zitiert wieder die arabische Ausgabe von Al-Kindis »Erster Philosophie«, al-Falsafa al-ula, S. 160, und 13–16. Der Einschub in Klammern ist von mir. 458 Glassé, The Concise Encyclopaedia of Islam, S. 337. 459 Abboud, Al-Kindi. Father of Arab Philosophy. (Vgl. auch die hervorragenden detaillierten Ausführungen und Begründungen bei Turki, a. a. O., S. 57–59).

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des Denkens nennt, hätten sich je andere Traditionen des Sehens entwickelt. 460 Wie konnte es dazu kommen? Diese je andere Prägung des Sehprozesses, man kann auch von aisthetischer Normierung sprechen, hat ihre antike Vorgeschichte, und ihr soll im Folgenden nachgegangen werden. Ob das Sehen ein aktiver oder passiver Prozess ist, war auch deshalb theologisch brisant, weil im Hintergrund die Frage der Willensfreiheit oder des im Volksislam verbreiteten Prädestinationsglaubens (»Allah lacht, wenn Menschen Pläne machen«, »Inschʾ allah«) stand. Die griechische Theorie des Sehens lieferte drei Zugriffe auf das Sehen, da medizinische, physikalische und physiologische Bemühungen um die Optik eine Erkenntnistheorie bewirkten, deren Mainstream auf das Empfangen optischer Daten eingegrenzt war. Für die Atomisten von Leusipp bis Lukrez galt, dass »alle Wahrnehmung durch unmittelbare Berührung mit den Sinnesorganen verursacht wird und deshalb ein materieller Ausfluss vom sichtbaren Gegenstand zum Auge gelangen muss«: »Wahrnehmung und Denken entstehen, wenn Bilder (eidola) von außen eindringen.« 461 Während bei Platon und Empedokles eine Sehfeuer- bzw. eine Sendestrahltheorie zu vermerken ist, die Aristoteles kritisiert, ist für letzteren wie für die Stoa (wie Lindberg sehr exakt nachgewiesen hat) die Gesichtswahrnehmung nicht dadurch möglich, dass »Teilchen des sichtbaren Gegenstands zum Auge ausgestrahlt würden, sondern durch eine vom Gegenstand hervorgerufene Änderung eines Mediums« (Luft, Auge), »welches dank seiner Struktur geeignet ist, solche Änderungen aufzunehmen. 462 Doch hatte die mathematische Erforschung des Sehens, als erstes bei Euklid (330 v. Chr.) mit seinen 7 Postulaten, auf denen er die Lehrsätze der Optik aufbaute, bereits angenommen, dass »die vom Auge ausgehenden geradlinigen Strahlen unbegrenzt auseinanderstreben«, einen Sehkegel mit Scheitelpunkt im Auge beschreiben, so dass die Dinge, die unter einem größeren Winkel gesehen werden, kleiner erscheinen: »Strahlen gehen in geraden Linien vom Auge aus, […] und

Belting, Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, z. B. S. 11 ff. und S. 40 ff. 461 Lindberg, Theories of Vision from Al-Kindi to Kepler, deutsche Ausgabe: Auge und Licht im Mittelalter, S. 18 f. 462 a. a. O., S. 33 f. 460

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um gesehen zu werden, muss ein Gegenstand einen Sehstrahl abschneiden.« 463 Die meisten Sätze des Euklid beschäftigen sich mit mathematischen Problemen der Perspektive, wobei fast vollständig die physikalischen Probleme übergangen werden. Sehen ist das Resultat von Sehstrahlen, die aus dem Auge hervorquellen, eine Theorie, die auch Ptolemäus (* 127 n. Chr.) in sein Konzept aufnimmt und physikalisch erweitert. 464 Wir haben es also hier bereits mit einer Sendetheorie zu tun, die im Gegensatz zu den üblichen Spielarten von Empfangstheorien das Sehen als einen aktiven Prozess deutet. »Eine vom Auge ausgehende Sehkraft, die sich ihre Gegenstände nacheinander sucht, wird umso schwächer, je weiter sie sich vom Zentrum des Sehfeldes entfernt.« 465 Weil die Empfangstheorien wie die des Aristoteles nicht mit den Gesetzen der Perspektive vereinbar sind, wird Sehen hier also als aktiver Vorgang gedeutet. Doch in der Antike hatte man Angst vor dem bösen Blick, war der frontale Blick – auch in den Spiegel – noch verpönt; die Medusa (Gorgo), deren Blick alles in Stein verwandelt, kann durch einen Spiegel getötet werden, der ihren schauerlichen Blick auf sie selbst zurückwirft. 466 In Spiegeln lauerte generell die Gefahr, im eigenen Blick das Leben oder das Selbst zu verlieren. Die Selbsterfahrung im Bild führt zum Tod wie bei Narziss, der sich selbstverliebt seinem eigenen Bild im Wasser zuneigt; 467 und nur der wirklich Sehende wie der blinde Teiresias war nicht durch das Augenlicht von der wahren Erkenntnis als Erkenntnis des Wahren abgelenkt. Die Leistung der arabischen Philosophie besteht nun nicht nur darin, dass sie das griechische, speziell hier das aristotelische und plotinische Erbe für die Nachwelt bewahrt und kommentiert hat, sondern auch wichtige eigene, teilweise kritische Gedanken einbrachte, und dies betraf auch die für die weitere Entwicklung so wichtige Optik. Auch der entscheidende Impuls für die Erfindung der Zentralperspektive im Florenz der Renaissance kam von hier. Viele Autoren gehen aber für die Erfindung der Zentralperspeka. a. O., S. 38. a. a. O., S. 40. 465 a. a. O., S. 54 f. 466 Rakoczy, Böser Blick, Macht des Auges und Neid der Götter: Eine Untersuchung zur Kraft des Blicks in der griechischen Literatur, S. 141. 467 Belting, Florenz und Bagdad – Eine westöstliche Geschichte des Blicks, S. 250 und 247. 463 464

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tive in der italienischen Renaissance direkt auf die griechische Antike zurück, in der die Emissionstheorie sich gegenüber der Intromissionstheorie bzw. Rezeptionstheorie noch nicht so recht durchsetzen konnte, 468 bzw. auf Meister Eckhart und Ockham, 469 umgehen und übergehen also wie so oft die entscheidende Umarbeitung der Lichtund Sehtheorie in der arabischen Optik. Das tut allerdings auch der Florentiner Humanist Leon Battista Alberti selber, der den Fluchtpunkt eingeführt hat und neben Brunelleschi als Erfinder der Zentralperspektive gilt, und auf den sich Sukale direkt bezieht. Dieser betont, dass wir die Welt, so wie sie unabhängig von uns ist, linearperspektivisch sehen und geht dabei direkt auf Euklid zurück. Da »die Emissionstheorie […] das Sehen von Bildern als Leistung der Subjektivität« deuten kann, ist sie für ihn die Theorie der Wahl. 470 Doch hatte Alberti sich selbst in seinen Schriften auf die »Alten« berufen, die erst in arabischen Übersetzungen nach der spanischen »Reconquista« zugänglich und dann in Toledo und andernorts ins Lateinische übersetzt wurden, also auf die Philosophen der Sehtheorie. Um an die griechische Antike anknüpfen zu können, unterwarf er sich sowohl in seinem Traktat über die Malerei als auch über Baukunst »fast bedingungslos einer antiken Terminologie, statt von einer Neuerfindung zu sprechen.« 471 Die Erfindung der Zentralperspektive und mit ihr einer neue Bedeutsamkeit des sehenden Subjekts war aber nicht so sehr von AlHazen vorbereitet, wie Belting meint: Die Erfindung des perspektivischen Bildes im »Westen« beruhe auf dessen Forschungen und der Erfindung der Camera obscura; Al-Hazen habe mitten in einer bilderlosen Kultur eine Wahrnehmungstheorie geschaffen, die die Voraussetzung für die westliche Perspektivmalerei schuf. 472 Zwar hatte AlHazen, von Al-Kindī beeinflusst, eigene optische Versuche angestellt und ein bedeutendes Lehrwerk veröffentlicht, das den gleichen Titel wie das Al-Kindīs trug: »De aspectibus«. Die seit der Antike bekannte Camera obscura (schon Aristoteles hatte darüber nachgedacht) hatte ihn zu optischen Versuchen und Theorien über das Auge angeregt,

Sukale, Bild und Bildbewusstsein, in: Hogrebe (Hg.), Subjektivität, S. 223 ff. Löffler, Über die Auswirkungen der Entdeckung der Zentralperspektive, http:// userpage.fu-berlin.de/miles/zp.htm. 470 Sukale, a. a. O., S. 26. 471 Belting, Florenz und Bagdad, S. 187 und 190. 472 a. a. O., S. 107–11. 468 469

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dessen Analogie mit der Lochkamera offensichtlich war. Doch als frommer Muslim war er nicht an der praktischen Seite, der Bildproduktion, interessiert. Es war vielmehr vor Al-Hazen, der die Kritik Avicennas und Averroes an der Sendetheorie des Sehens, also am aktiven Sehen, aufnahm, Al-Kindī. Auch dieser stellte selber optische Studien an und machte sich die Sendetheorie der Euklidischen Optik nicht nur zu eigen, sondern verbesserte sie auch. Damit musste er sich gegen die von Avicenna und Averroes favorisierte Empfangstheorie des Aristoteles, die zum Mainstream in der Optik wurde, aussprechen. 473 »Al Kindis ›De aspectibus‹ nehmen eine Kritik an den Lücken in Euklids Theorie vor und versuchen, sie zu füllen bzw. die Theorie zu verbessern. Seine Strategie besteht darin, die Empfangstheorie der Atomisten, die kombinierte Sende- und Empfangstheorie Platons und die ein Medium fordernde Theorie von Aristoteles zu widerlegen und dadurch zu beweisen, dass allein Euklids Theorie mit den bekannten Tatsachen der Gesichtswahrnehmung verträglich ist.« 474

Denn alle anderen Theorien enthalten die Vorstellung vom passiven Empfang, Al-Kindī aber startet einen grundlegenden Angriff auf die Empfangsidee: Neben der anatomischen Formung des Ohrs und Auges, die sich auch als Muschel und Kugel voneinander unterscheiden (nur das erstere ist auf Empfang gerichtet), ist die Sendetheorie die einzige, die »die Selektivität des Gesichtssinns und die Abhängigkeit der Sehschärfe von der Stelle im Gesichtsfeld erklären kann.« 475 Unhaltbar hingegen findet Al-Kindī Euklids Vorstellung eines Sehkegels, nach der getrennte einzelne Strahlen mit Zwischenräumen anzunehmen sind, denn Strahlen können nicht eindimensional sein, wenn sie Dreidimensionales abbilden sollen. (Al-Kindī sieht den zusammenhängenden Charakter des Sehkegels, von dem es nicht bloß einen gibt, denn von jedem Punkt auf der Augenoberfläche geht einer aus.) Für Lindberg war Al-Kindī der erste, der das oft implizit vorhandene Prinzip der punktweisen Auflösung explizit vertreten hat, wobei kein körperliches Ding vom Auge zum sichtbaren Gegenstand transportiert wird. »Der Strahl ist gemäß Galens Pneuma-

473 Lindberg, a. a. O., S. 47 f, sowie Tachau, Vision and Certitude in the Age of Ockham, S. XIV. 474 Lindberg, a. a. O., S. 53. 475 a. a. O., S. 54.

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Theorie eine Umwandlung der umgebenden Luft, die durch die Sehkraft des Auges hervorgerufen wird.« 476 Ganz anders bei Al-Hazen: Dieser entwickelte daraus eine Alternative zu den zusammenhängenden Formen, die nach den antiken Empfangstheorien in einem Stück übermittelt werden, was geradezu die Grundlage einer neuen Sehtheorie bilden sollte: Al-Hazen entwickelte eine neue Empfangstheorie des Sehens, und zwar nicht als Theorie von zusammenhängenden Bildern oder Formen. Er benutzte Al-Kindīs Idee einer punktweisen Auflösung eines sichtbaren Gegenstandes, ließ also jeden einzelnen Punkt des Gegenstandes einen Strahl aussenden, aber: das Sehen ist passiv. (Al-Hazens »De aspectibus« oder auch »Perspectiva« beginnt mit einer Darstellung der Schmerzen und Verletzungen, die das Auge erleidet, wenn man sehr grelles Licht schaut. 477) Zu dem Irrtum mag beigetragen haben, dass Belting sich bei der Interpretation Al-Hazens auf die 1529 in Basel herausgegebene lateinische Übersetzung von Friedrich Risner stützt, der Lindberg Verwirrungspotenzial bescheinigt. Wie Lindberg nachweist, hat Risner eigene Zwischenüberschriften gesetzt und dabei durch Verwendung platonischer Begriffe den Eindruck erweckt, als schwäche Al-Hazen seine Ablehnung der Sehstrahltheorie ab. Im Gegensatz zu Al-Kindī stand Al-Hazen aber auf der Seite der Empfangstheoretiker. 478) Das Licht ruft Wirkungen im Auge hervor: »Es ist eine Eigenschaft des Lichts, dass Auge zu beeinflussen, und es liegt in der Natur des Auges, vom Licht beeinflusst zu werden.« 479 Doch Al-Hazen macht Zugeständnisse: Die zum Auge kommenden Strahlen können ja nur dann empfangen werden, wenn das Auge sie auch empfangen kann, also auf das Objekt gerichtet ist. Damit nähert sich Al-Hazen gegen die so wirkmächtigen Aristoteles-Apologeten Avicenna und Averroes, die mit einer Empfangstheorie wütend gegen Al-Kindīs Sendetheorie agierten, wieder der gemischten Sende-Empfangstheorie Platons an, dessen Denken zusammen mit dem Plotins für das arabische Denken so folgenreich

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a. a. O., S. 68. Lindberg, a. a. O., S. 117. Belting, a. a. O., S. 14 ff, dazu Lindberg, a. a. O., S. 128. Lindberg, a. a. O., S. 122.

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Bild 12: 3 Fotos von Maschrabiyyas, klassisch und modern. Üblicherweise wurden gedrechselte Holzteile auf Stäbe oder Drähte gezogen. Eine moderne Version bietet die Front des Institut du Monde Arabe in Paris, wo der Lichteinfall noch zusätzlich durch Fotolinsen gesteuert wird, die sich bei großer Helligkeit enger stellen und bei schwachem Licht weiten. In den Innenräumen lässt das göttliche Licht dann die unterschiedlichsten Formen entstehen, was wie die Muqarnas als Symbol für die göttliche Schöpfungstätigkeit interpretiert werden kann. (s. u.). (Es ist kein Zufall, dass der Architekt des Pariser »Institut du Monde Arabe«, Jean Nouvel, eine theologisch korrekte Maschrabiyya für den neuen Louvre in Abu Dhabi konzipieren durfte.)

geworden ist. Ganz sicher ist auch Platons Mimesis-Ablehnung bedeutsam geworden. 480 Weltabgewandtheit – denn die Sinne können täuschen – und Lichtmetaphysik, da das Licht als Ausfluss des All-Einen gesehen wird, prägen hinfort das arabische Denken, indem man sich beim Sehen vom göttlichen Licht erfüllen lässt. Daher sieht Belting zu Recht die geschnitzten oder gemeißelten Fenstergitter im arabischen Raum Ich folge hier der Interpretation Lambert Wiesings in Wiesing, Artifizielle Präsenz, S. 125 ff, siehe auch Belting, a. a. O., S. 78.

480

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(»Maschrabiyyas«, oder »Moucharabiehs«) als eine symbolische Form für dieses Sehen, denn das göttliche Licht fällt so gefiltert in die Innenräume und produziert je nach Tageszeit andere Schatten, an denen man die Zeit ablesen kann Und sicherlich ist auch die Lichtführung in den Kuppeln der Moscheen auf diese Weise symbolisch zu deuten. Die arabische Theorie des Sehens ist also zu einer Optik des Lichts geworden (»Allah ist das Licht der Himmel und der Erde«, K 24,35). Belting spricht zu Recht von einer »Zähmung des Auges«, 481 – denn Al-Kindīs Theorie wurde nicht zum Mainstream islamischen Denkens, wohingegen seine Optik über den Arzt Hunain ibn Ishāq, der die abendländische und islamische Augenheilkunde maßgeblich beeinflusst hat, und den Andalusier Abu Jaʾ far Ahmad ibn Muhamad al Ghaibi († 1165) den Weg ins Abendland fand. Von diesem bezog dann Roger Bacon, der später von Oxford nach Paris ging, seine AlKindī -Kenntnisse, 482 die zu einer Theorie des aktiven Sehens bzw. in der Renaissance zu einer Theorie des Blicks wurden. Denn Al-Kindīs Idee einer punktweisen Auflösung und Rasterung des Sehfeldes machte es dann auch praktisch möglich, verkleinerte, aber perspektivisch richtige Bilder aus einer individuellen Perspektive zu fertigen. Das konnte nach Sukale zu einer neuen Subjekt-Objekt-Konfrontation und in der Folge durch die Nachbildung menschlichen Sehens zu einer neuen Bewusstwerdung des Subjekts führen. Al-Kindīs Lehrbuch De aspectibus wurde zwar im Islam ein populäres Lehrbuch und beeinflusste die Optik jahrhundertelang. Doch es hatte in den Verfechtern der aristotelischen Empfangstheorie ernsthafte Konkurrenten, nicht nur die wortgewaltigen Avicenna und Averroes. So z. B. heißt es in Al-Fārābīs »Musterstaat«: »Sehen ist eine Möglichkeit und Verlagerung der Materie«: Es komme dank 481 Belting, a. a. O., S. 66 ff. Waldenfels, Sinnesschwellen, S. 138 f bemerkt, dass es auch im »höfischen Sehen« des europäischen Mittelalters Normierungen gab, wie man sehen oder angeschaut werden durfte. 482 Für Tachau, Vision and Certitude in the Age of Ockham, S. 4 f war Bacon der erste Gelehrte im lateinischen Westen, der Al-Hazens Theorien gemeistert hatte, Al-Kindīs Werk gut kannte und der an einer Synthese der neuplatonischen und aristotelischen Sehtheorie arbeitete sowie eine Camera obscura zur Beobachtung von Sonnenflecken nachbaute. »Bacon was in many respects an innovative and even brilliant thinker who read widely in the Greek, Muslim and Jewish sources still reaching the Latin west for the first time in his lifetime […].«

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Bild 13: Jan de Vries, Perspective (1604)

der Tätigkeit des äußeren Lichts, nicht dank der Tätigkeit des Sehens, dazu, dass das Licht selbst, die Sonne, von der es ausstrahlt, und schließlich all die potentiell sichtbaren Gegenstände wirklich gesehen würden. 483 Und für Avicenna ist das Auge »wie ein Spiegel, und der gesehene Gegenstand ist wie das in einem Spiegel durch Vermittlung der Luft […] reflektierte Ding, und wenn Licht auf den sichtbaren Gegenstand fällt, dann projiziert es das Bild des Gegenstandes auf das Auge. […] Wenn ein Spiegel eine Seele besäße, so würde er sehen.« 484 Doch Avicenna bearbeitete auch Aspekte, die bei Aristoteles unerwähnt geblieben waren, z. B. die Aufnahme der Formen im 483 484

Lindberg, a. a. O., S. 89. nach Lindberg, a. a. O., S. 100.

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Auge und ihre anschließende Übertragung zum Sitz des Bewusstseins im Gehirn. Für Lindberg zeigte das erneute Erstarken der Empfangstheorien im Islam, dass gegen die mathematischen Interessen der Euklidischen Richtung die anatomischen und physiologischen Interessen der Naturforscher stärker waren. Natürlich passt eine passive Sehtheorie, die sich auf den Empfang des Lichts und seiner Wirkungen richtete, besser zum Mainstream des Islam, der sich gegen die vernunftgeleiteten Muʾ taziliten und ihre Vorstellung von Willensfreiheit wandte, u. a. wohl auch, weil sie eine kritische Hermeneutik zur Auslegung des Koran entwickelten. Sie unterschieden nämlich zwischen dem »zahir«, dem äußeren Schein, und seiner »batin«, der tieferen Bedeutung, und wollten vor die Kommentierung der heiligen Schrift Exegese setzen. 485 Sie hatten sich daher Widersacher aus dem Kreis der Orthodoxie geschaffen, besonders in der erstarkenden Gegenbewegung der Ashʾ ariten, die zwar an der Methode der Argumentationsführung der Muʾ taziliten festhallten wollten, doch mit ihrem Gründer Al-Asharī die Inhalte völlig verwarfen. »Insbesondere weist er jede Wirksamkeit und Bedeutung des logischen Denkens bei der metaphysischen Erkenntnisgewinnung zurück und sieht diese Gewissheit nur im Koran gegeben. In dieser Heiligen Schrift, die er für ein unausschöpfbares Gotteswerk hält, sieht Al-Ashari die objektiv gewordene Wahrheit, welche keiner Interpretation bedarf. Nach dieser Bewegung ist das im Koran geoffenbarte Wort absolut und eindeutig.« 486

Die Idee des aktiven Sehens war vor allem deshalb theologisch brisant, weil im Hintergrund das Problem des aktiven Handelns stand und mit ihm das Thema Willensfreiheit lauerte, die die Muʿ taziliten befürworteten. Dagegen formierte sich Widerstand, denn die (sunnitischen, also traditionalistischen) Ashʾ ariten wandten sich gegen jede Form rational einsehbarer Verursachung, u. a. um rational nicht erklärbare Wunder zu legitimieren. Nach Al-Ascharīs Vorstellung ist Gott nicht reiner Intellekt, sondern Wille, »Allmacht, die absolute und unbegrenzte Freiheit, derart, dass das Wahre und das Gute und das Schöne nur eine zufällige Schöpfung Gottes sind, die er anders hätte machen können und die er jederzeit zurückrufen kann.« 487

485 486 487

Yousefi, a. a. O., S. 44. Yousefi, ebd. Papadopoulo, a. a. O., S. 45.

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Diese absolut theozentrische Vorstellung (gegen den griechischen Humanismus), die später von Malebranche Okkasionalismus genannt wurde, hatte Folgen für die Prädestinationslehre: »Gott sieht zugleich auch das ganze Universum von innen und von außen, wie die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese ewige Sicht Gottes begreift das Schicksal mit ein. Alles steht im Buch der menschlichen Taten im voraus geschrieben und da Gott allmächtig ist, bedingt dies den Glauben an die Vorausbestimmung aller Ereignisse und damit den Fatalismus. […] Daraus entsteht auch die tiefe Überzeugung, dass der Mensch wie eine Marionette ist, deren Fäden Gott hält.« 488

Die Ashʾ ariten gehen aber sogar noch weiter und lehnen es sogar ab, die Materialität der gegenständlichen Welt anzuerkennen, um die Allmacht und Allgegenwärtigkeit Gottes zu betonen. Sie orientieren sich an Demokrit und Epikur und glauben, das einzig Wirkliche seien die Atome, aus denen jeder Gegenstand bestehe und die nach Gottes Willen nur einen Moment lang existierten, um dann durch Gottes Eingreifen ständig neu gruppiert werden zu können. Eine wie immer geartete materielle Realität wird damit zur Sinnestäuschung. 489

2.3.3 Al-Ghazālī 490 und die islamische Mystik Die islamische Mystik ist fast so alt wie der Islam selbst, und es hat auch berühmte Frauengestalten gegeben, die Allahs Nähe nicht auf rationalem Wege suchten. Nach Lerch kann »die islamische Mystik als Träger philosophischer Ideen« gelten; 491 und für Ipsiroglu ist es nur von den Lehren der Sufis her zu verstehen, wenn es auf islamischem Boden zu einer islamischen Malerei kommen konnte. Zwar bleibt die Wirklichkeit auch für den Sufi bloßer Schein. Doch »das Antlitz Gottes […] tut sich kund in seinen Schöpfungen, die nach sufischer Lehre seine Schatten und Spiegelungen sind; und wir können ihn in seinem Werk schauen und erkennen. […] Die Welt ist der Spiegel Gottes. Alles erscheint in ihm in einer spirituellen Lichttransparenz. Die Materie ebd. vgl. Leaman, Averroes, in: Niewöhner, KdRP, a. a. O., S. 151 ff. 490 Eigentlich muss man auf die geläufige Arabisierung seines Namens »Al-Ghazali« verzichten, da er Perser war. 491 Lerch, Denker des Propheten, S. 73. 488 489

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verklärt sich, das Wirkliche wird unwirklich, der Mystiker sieht nur noch Schemen, die in selbstleuchtenden Farben erglühen, Bilder aus einer inneren Schau, in denen er die Spiegelung des göttlichen Lichts auf der Erde erblickt.« 492

Dieses innerliche Schauen ist neben dem Denken ein zweiter möglicher Zugang zur transsubjektiven Welt. 493 Zunächst bestanden frühe asketische Traditionen. 494 Die frühen Asketen trugen bewusst kratzige Wolle (arab.: suf), aßen sehr wenig (manche nur zweimal im Monat), verzichteten häufig auf Schlaf, da sie in der Nacht beteten (so soll Abu Bakr nach Aussage seiner Frau 40 Jahre lang nicht in seinem Bett gelegen haben), lebten oft sogar zölibatär und legten keinerlei Wert auf ihre äußere Erscheinung (obwohl sie natürlich durch die Gebetszeiten an fünf rituelle Waschungen pro Tag gewohnt waren). 495 Schon der schiitische Imam Jaʾ far as-Sadiq hatte eine Definition der göttlichen Liebe als »göttliches Feuer, das den Menschen völlig verzehrt« gegeben, 496 die später von Mystikern oft wiederholt wurde, doch es war wohl die vielfach als Heilige verehrte Mystikerin Rabiʾ a al Adawiyya, die im 8. Jahrhundert die Wende von der Askese zu einer Liebeshaltung einleitete und »damit den Sufismus in eine echte Liebes-Mystik« verwandelt hat. Sie war eine freigelassene Sklavin aus Basra, »jene zweite unbefleckte Maria«, 497 von der berichtet wird, dass sie mit einer Fackel und einem Wassereimer in der Hand »Feuer ans Paradies legen und Wasser in die Hölle gießen« wollte, »damit diese beiden Schleier verschwinden und es deutlich wird, wer Gott aus Liebe und nicht aus Höllenfurcht oder Hoffnung aufs Paradies anbetet«. 498 »Rabiʾ as Gottesliebe war absolut. […] In solch vollkommener Liebe hat der Mystiker aufgehört zu existieren und ist sich selbst entworden. ›Ich bin Ipsiroglu, a. a. O., S. 47 und 46. Lerch, a. a. O., S. 165. 494 Melchert, Origins and Early Sufism, in: Ridgeon (Hg.), The Cambridge Companion to Sufism, S. 3. 495 Melchert, a. a. O., S. 4–7, sowie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, S. 62 f. Auf S. 17 betont sie, dass auch in der christlichen Mystik erst nach eine langen Zeit der Reinigung, nach der via purgativa, die via illuminativa erreicht werden konnte. 496 Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, S. 70. 497 Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, S. 66 f. 498 Smith, Rabiʾ a the Mystic and her Fellow Saints in Islam, S. 98. 492 493

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eins mit ihm und ganz und gar sein‹. Rabiʾ a hatte über die koranische Aussage nachgedacht, dass Gottes Liebe der des Menschen vorausgeht: ›Er liebt sie und sie lieben ihn.‹ (Sure 5/59) ›Ein paar Huris und Schlösser‹, wie sie dem Frommen im Paradies versprochen sind, sind mehr oder weniger Schleier, welche die ewige göttliche Schönheit verhüllen: ›Wenn er Deinen Sinn mit Paradies und Huris füllt, dann wisse, dass er dich fern von sich hält‹ […], denn Paradies und Hölle sind geschaffen, und daher von Gott verschieden.« 499

Da die Liebenden in der Einheit Gottes nicht länger mehr getrennte Existenzen haben, gibt es dort auch keine Unterscheidung mehr zwischen Mann und Frau. 500 Solche Einheitserfahrungen waren der Orthodoxie suspekt, musste doch zwischen dem Schöpfergott und den von ihm geschaffenen Menschen zum Zeichen seiner Größe ein unendlicher Abstand angenommen werden, weshalb auch die Sufi-Vorstellung von einer quasitrinitarischen Drei-Einheit des Liebenden und Geliebten in der Liebe (oder des Denkenden und Gedachten im Denken) suspekt waren. Es verwundert nicht, dass in Bagdad eine Sufi-Inquisition eingerichtet wurde 501 und dass Mystiker auch verfolgt und wegen Blasphemie hingerichtet wurden. »Das widerfuhr auch Al-Halladj, als er gewagt hatte, den Ausspruch, ›ana al-haqq‹, d. h. ›Ich bin die absolute Wahrheit‹ öffentlich zu äußern. Eine solche Aussage, die das Aufgehen des Menschen in Gott bezeugt, widerspricht diametral dem Prinzip der Einzigkeit Gottes und stellt die transzendente Stellung des Schöpfers gegenüber seiner Schöpfung in Frage.« 502

Und das, obwohl der Perser Al-Halladj in seinem Buch Kitāb alTawāsīn darauf hingewiesen hatte, dass zwischen dem Vorzeitlichen und dem in der Zeit Geschaffenen keinerlei Ähnlichkeit vorstellbar sei. 503 Doch in seinem Werk sind auch manche christologischen Aspekte untersucht worden, und er soll im Jahr 900 nach Indien und Ostasien gereist sein. 504 Doch die Ähnlichkeiten islamischer und 499 Schimmel, a. a. O., S. 66 f zitiert Fariduddin Attai, Tadhkirat al-auliya, (T) Bd. I, S. 204 und 73. 500 a. a. O., T Bd. I, S. 59. 501 Melchert, a. a. O., S. 16 berichtet von einer »Inquisition of 264/877–8, in which Ghulam Khalil, a popular preacher from Basra, procured the indictment of seventy odd Sufis for allegedly saying they no longer feared God but, rather, loved him.« Vgl. K 19,93: »Keiner darf sich dem Erbarmer anders nahen wie als Sklave.« 502 Turki, a. a. O., S. 149. 503 Diese Übersetzung wird zitiert von Lerch, Denker des Propheten, S. 83. 504 z. B. Schimmel, Der Sufismus, S. 34 und 32. Tatsächlich sollen Sufi-Prediger wie

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buddhistischer Mystik, aber z. B. auch mit der Advaita-Vedanta könnten auch älteren Datums sein. Im 9. Jahrhundert wurde jedenfalls die Lehre über die Vernichtung bzw. Auflösung des Selbst entwickelt, sowie eine Theorie von intuitiver Gotteserkenntnis, ab dem 12. Jh. wurden Sufi-Orden gegründet. Der Weg der Sufis folgt vier Stufen, die möglicherweise auf den indischen Raum verweisen: 1. Auslöschen sinnlicher Wahrnehmung, 2. Aufgabe des Verhaftetseins an individuelle Eigenschaften, 3. Sterben des Ego (»Sterben, bevor man stirbt«, zugunsten einer mystischen Gotteserfahrung, der »unio mystica«), 4. Auflösung in das göttliche Prinzip, wobei die letzten Stufen nicht erreicht werden mussten. 505 Nach einer 40-tägigen Vorbereitungsphase musste man durch einen Meister per Handschlag initiiert werden 506 und war dann Teil einer Initiationskette, die bis in die Zeit der vier rechtgeleiteten Kalifen, auf Ali oder Abu Bakr zurückging. Als Meilensteine des Sufismus sind Ibn Arabi und Ghazālī zu nennen, der »den Weg für den Anschluss des Sufismus an den sunnitischen Islam ebnete.« 507 (Melchert hat bemerkt, dass die Schia entscheidend für die Emergenz des Sufismus gewesen sei, nicht nur im Hinblick auf esoterische Elemente, sondern auch weil die Sufi-Idee von charismatischen Individuen durch frühe schiitische Vorstellungen vorgeprägt gewesen sei. 508) Ibn Arabi wurde 1165 im Kalifat Cordoba, in Murcia, geboren und starb 1240 in Damaskus. Er wirkte traditionsbildend und hat die islamische Mystik auch mit seiner Methodik 509 nachhaltig beeinflusst, denn er wurde unter den Sufi-Anhängern nicht nur der »Größte Meister« (al Schaikh al-akbar), und »der Prediger religiöser Toleranz« genannt, sondern ist nach Lerch auch der »Spinoza des Islam«, da er vor diesem Verfechter des Seinsmonismus in der Neu-

Al-Halladj für die Islamisierung Ostindiens verantwortlich sein, denn ihre Vorstellungen harmonierten aufs wunderbarste mit der viel älteren Hindu-Mystik; die Missionierung fand einen günstigen Boden. 505 Melchert, a. a. O., S. 10 ist eher nicht dieser Ansicht. 506 Schimmel, Der Sufismus, S. 18 ff. 507 Turki, a. a. O., S. 152. 508 Melchert, Origins and Early Sufism, in: Ridgeon (Hg.), The Cambridge Companion to Sufism, S. 15. 509 einen Einblick gibt Izutsu, der die Mystik Ibn Arabis in ihren einzelnen Stufen genau analysiert und mit der taoistischen Mystik vergleicht, s. Izutsu, Sufism and Taoism, S. 7–28.

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zeit bereits die These von der »Einheit des Seins« (al-Futûhât al Makkiyya) vertrat 510 und »das geistige Erbe des islamischen Ostens und des islamischen Westens miteinander verbunden« hat. 511 In Mekka wurde Ibn Arabi beim Umrunden der Kaaba eine gewaltige Vision zuteil, die in den Mekkanischen Offenbarungen ihren Niederschlag fand. Er soll »die göttliche Ipseität (huwiya) in der Gestalt des Buchstabens h in strahlendem Licht auf einem roten Teppich« geschaut haben, »einem h, zwischen dessen beiden Armen das Wort hu (»ER«) aufleuchtete und Strahlen nach allen Richtungen aussandte.« 512 »Eine solche Vision des Göttlichen in der Gestalt eines Buchstabens ist charakteristisch für eine Religion, die figürliche Darstellung und vor allem jede Darstellung des Göttlichen verbietet. Der Buchstabe ist tatsächlich die höchste Manifestation des Göttlichen im islamischen Denksystem.« 513

Man muss dabei bedenken, dass »die arabischen Buchstaben […] die Gefäße der Offenbarung sind, die göttlichen Namen und Attribute können nur mit Hilfe dieser Buchstaben ausgedrückt werden. Und doch stellen die Buchstaben etwas von Gott Verschiedenes dar; sie sind ›ein Schleier der Andersheit‹, den der Mystiker durchdringen muss. Denn solange er von den Buchstaben gefesselt ist, ist er […] gewissermaßen noch im Banne von Götzenbildern, er vollzieht Idolatrie, statt an jenem Ort zu weilen, wo es keine Buchstaben und Formen mehr gibt.« 514 Wie in vielen Religionen steht der erste Buchstabe des Alphabets, hier alif, mit dem Zahlwert 1 für den Schöpfergott, weist aber für Schiiten auch auf Ali, und das b auf die 14 unschuldigen Märtyrer der Schia. 515 »Besondere Wichtigkeit wird dabei der Verbindung lam – alif = la zugeschrieben, die, wenn man sie als ein Wort liest, la, »nicht, kein« bedeutet und damit das erste Wort des Glaubensbekenntnisses »Kein Gott …«. Obgleich das lam-alif aus zwei Buchstaben besteht, wurde es oft als ein Buchstabe betrachtet und mit besonderem mystischem Sinn erfüllt. Es ist meist Lerch, Denker des Propheten, S. 106. Ramahi, Der Mensch als Spiegelbild Gottes in der Mystik Ibn Arabis, S. 1. 512 Ibn Arabi, Mekkanische Offenbarungen, I 51–83, nach Corbin, Imagination créatrice et prière créatrice, S. 171. 513 Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, S. 595. 514 Schimmel, a. a. O., S. 578. 515 a. a. O., S. 581. 510 511

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eine Metapher für die sich eng umarmenden Liebenden, die zwei und gleichzeitig nur eines sind.« 516

Betrachte man hingegen das alif als Zeichen des Iblis, des Satans, und verbinde es mit dem Buchstaben n, der nafs, Triebseele bedeutet, ergäben beide zusammen ana, »Ich«, womit man auf das Übel des menschlichen »Ich« hinweisen kann. 517 Den Buchstaben werden also je andere Bedeutungen unterlegt, »die Gruppen von Einzelbuchstaben, die sich zu Beginn von 29 koranischen Suren befinden, inspirierten die Sufis zu erstaunlichen allegorischen Ausdeutungen«; 518 dazu kommen jeweils Zahlenwerte. (Die Araber hatten ja von den Indern die Zahlen übernommen und die Null hinzugefügt, was ein viel einfacheres Rechnen ermöglichte.) Im Zusammenhang mit der Emanationslehre ist es auch nicht verwunderlich, dass die Kabbala für viele Sufis interessant wurde: »Schon in vorislamischer Zeit hatten die arabischen Dichter verschiedene Körperteile, oder auch ihre Wohnplätze, mit Buchstaben verglichen – Vergleiche, die dann von den islamischen Dichtern in aller Welt übernommen und ausgearbeitet wurden.« 519

Ibn Arabi wurde vielleicht auch deshalb so populär, weil er auf dieser alten Tradition aufbaute und sie theologisch umdeutete, und selbst in fernen Grenzgebieten der islamischen Welt, wie in Indonesien, sind Manuskripte mit Spekulationen über Buchstabenmystik zutage gekommen.« 520 (Hier zeigen sich also Ähnlichkeiten zur jüdischen Mystik in der Kabbala, die ja ebenfalls in der Heimat Ibn Arabis, in Al-Andalus entstand.) Abū Hāmid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazālī sollte diese Mystik fortführen und mit einer rationalen Kritik an der rationalistischen Ausrichtung der Philosophie der falasifa verbinden, die AlKindī in Gang gesetzt hatte. Ghazālī wurde um das Jahr 1055 im Nordosten des heutigen Iran geboren. Als Kind einer Gelehrtenfamilie wurde er von einem mit seinem Vater befreundeten Sufi erzogen 521, lernte aber auch bei dem berühmten ashaʾ ritischen Theo516 517 518 519 520 521

a. a. O., S. 591. a. a. O., S. 590. a. a. O., S. 579. a. a. O., S. 579. ebd. Zakzouk, Abu Hamid Muhammad al-Ghazali, in: Niewöhner, KdRP, S. 112.

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logen al-Djuwajny. 522 Seine Karriere führte ihn bis zum höchsten Lehramt in Bagdad, doch er verließ die Professur im November 1095, um unter dem Vorwand einer Pilgerfahrt nach Mekka zu einem Sufi in Damaskus zu reisen und von dort an seiner privaten Schule zu lehren. 523 Auch wenn er später zurückkehrte, verstand er sich doch als einer der vom Propheten vorhergesagten Erneuerer der Religion. Denn seine Kritik richtete sich gegen bestimmte Haltungen der Philosophen, die laut Al-Fārābī die Glückseligkeit auf dem Weg der Apodiktik, des schlussfolgernden Erkennens mit Anspruch auf unbedingte Wahrheit erreichten und sich dem anderen Weg, dem der Offenbarungsreligion, überlegen fühlten. Denn das einfache Volk könne eben aufgrund seiner intellektuellen Mängel nur auf die Religion zurückgreifen, die ihnen zwar sagt, was tugendhaftes Verhalten sei, sie aber nicht über das »warum« aufkläre. 524 Ghazali betrachtet diese Lehre der falasifa als alternative Religion zum Islam. Genau wie später Derrida in der Apokalypseschrift stellt er Offenbarungswissen und Vernunftreligion gegenüber und betätigt sich als Rationalismuskritiker. Durch unkritische Nachahmung werde die Religion der falasifa wie die der Juden und Christen von einer Generation zur nächsten übertragen, was sogar zum Hochmut gegenüber den Religionsgelehrten des Islam führe. »Ihm geht es darum, zu zeigen, dass Rationalität allein nicht zu dem Wissen führen kann, das die falasifa für sich in Anspruch nehmen.« 525 Obwohl Ghazālī sich einige Teile der Lehre Avicennas durchaus aneignete, wurde er doch mit seinem Werk Inkohärenz der Philosophen (Tahafut al-Falasifa) zu einem scharfen Kritiker des philosophischen Aristotelismus, wobei er natürlich selber ein qualifizierter Philosoph war und in großer Kennerschaft kritisch Inkonsistenzen philosophischer Systeme aufzuzeigen wusste. Die Argumente der falasifa in der Metaphysik genügen nach Ghazālī nicht den eigenen hohen Ansprüchen auf Apodiktik. Vor allem geht aber »das aristotelische Konzept der falasifa davon aus, dass die ganze Welt rational erfahrbar ist und dass wir auch gewisse Aussagen über Gott, sein Wesen und seine Attribute machen können,

Hendrich, a. a. O., S. 86. Frank Griffel, Al-Ghazali als Kritiker, in: Heidrun Eichner et al (Hg.), Islamische Philosophie im Mittelalter, S. 289–313, hier: S. 292. 524 a. a. O., S. 296. 525 a. a. O., S. 297. 522 523

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selbst wenn ein ultimatives Verständnis von Gottes Wesen niemals erreicht werden kann.« 526 Doch für Ghazālī kann menschliche Rationalität nichts über Gottes Wesen aussagen. 527 Den Hintergrund von Ghazālīs Kritik bilden natürlich die orthodoxen Theologen, besonders die der Ashʾ arijjah, und er greift auch die Emanationslehre an, denn »die Ausführungen der Philosophen über die stufenmäßige Emanation vom ersten einfachen Prinzip bis hin zu der mannigfaltigen Materie sind nach Ghazālī willkürliche und irreführende Behauptungen.« 528 Dem liegt die radikale Kritik der Ashʾ ariten am Kausalitätsprinzip zugrunde, und Ghazālī präzisiert, dass zwischen Ursache und Wirkung zwar eine Gleichzeitigkeit festgestellt werden kann, die aber auch zufällig sein kann, denn ob und wie eine kausale Folge anzunehmen sei, können wir nur vermuten und nicht beweisen. Damit wurde Ghazālī wohl zum Vorgänger von Humes Kausalitätsargument, 529 denn »unsere Überzeugung bezüglich der Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung stellt bloß eine erfahrungsmäßige Erkenntnis dar; durch die Vernunft entsteht sie nicht.« Das deutet Abu Ridah als Bemühen, »Gott, als dem einzigen Schöpfer, Seine Rechte zu wahren.« 530 Ghazalis Kritik richtet sich vor allem – wegen der Emanationslehre – gegen Al-Fārābī und Ibn Sina. Er will zwanzig philosophische Theorien der falasifa widerlegen und erklärt siebzehn davon als »Abweichung vom rechten Glauben« (wie z. B. Ibn Sinas Theorie der Seele) und drei davon als »Ketzerei und Abfall vom Islam«, somit als Unglauben, z. B. die Auffassung von der Ewigkeit der Welt. 531 Für Spuhler war »mit dem Lebenswerk Ghazalis […] die schöpferische Periode der sunnitischen Theologie auf Jahrhunderte hin abgeschlossen […] Die Tradition beherrschte die islamische Theologie.« 532 In der heutigen Zeit wird diese Position z. B. von Abdelwahab a. a. O., S. 299. a. a. O., S. 299 f. 528 Abu Ridah, Al-Ghazali und seine Widerlegung der griechischen Philosophie, S. 135 und 175. 529 a. a. O., S. 174 f. 530 a. a. O., S. 176. 531 Hendrich, a. a. O., S. 87 f. 532 Spuhler, Der Islam. Ausbreitung und Entstehung einer Weltreligion, in: SourdelThomine/Spuhler (Hg.), Die Kunst des Islam, S. 50. 526 527

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Meddeb weitergeführt, der die Unübertrefflichkeit und Unfassbarkeit des Koran (idschaz) zu achten mahnt, dem Signifikanten (hier also der Schrift) einen hohen Stellenwert zuspricht und vor Verabsolutierungen des Signifikats, also der jeweiligen Gottesvorstellungen warnt. Meddeb behauptet »als Pointe des Islam die Verkörperung des Wortes Gottes in dem (von Stimme und Graph unterstützten) Buchstaben, während es sich in der christlichen Überlieferung »im Leib«, in der jüdischen als »Gesetzestafel« verkörpere. 533 Gegen Fanatismus und Dogmatismus gelte es, die symbolische Funktion des Korans wieder zu erlangen – und damit den hinweisenden Gestus auf einen sich menschlichem Begreifen entziehenden Gott, und »das hieße: auf die Unendlichkeit des Textes zu verweisen, und aus seiner Interpretation eine fortwährende, nie vollendete Aufgabe zu machen.« 534 Zurück zu Ghazālī: Neben dem durch Lernen und Studieren erworbenen Wissen gibt es für ihn noch ein unmittelbares Wissen, zu dem der mystische Weg führt. Doch die »mystischen Ekstasen verführen die Sufi, wie Ghazali feststellte, leicht zu subjektiven und einseitigen Aussagen«, weswegen die zweite Grundfunktion der Vernunft die kritische Beurteilung und Auswertung dieser mystischen Erlebnisse sein muss. 535 Man kann verstehen, dass der Sufismus dem orthodoxen Islam oft suspekt war. Ghazālīs Primat des Religiösen vor der Philosophie war zwar wie das Denken der Ashʾ ariten verantwortlich für Modelle einer »geistfeindliche Theokratie«; 536 innerislamisch würde man sagen: »rechte Unterwerfung unter den Willen Gottes«, was natürlich Averroes als seinen größten Kritiker auf den Plan rief. Dieser nämlich unternahm es, u. a. in seiner »Widerlegung der Widerlegung« (Tahafut al Tahafut), sowohl Avicenna als auch Ghazālī (als Mystiker) im Namen der falasifa zu kritisieren: 537 Letzterer folge keiner einheitlichen Lehre, sondern sei »mit den ashʾ aritschen Theologen […] Theologe, mit den Mystikern […] Mystiker, und mit den Philosophen […] Philosoph.« 538

533 534 535 536 537 538

Meddeb, Der Koran als Mythos, S. 22 Sp 4, vgl. Petermann, a. a. O., S. 172. Meddeb, a. a. O., S. 22, Sp 4, und Petermanmn, a. a. O., S. 173. Zakzouk, Ghazali, in Niewöhner, a. a. O., S. 122. Hendrich, a. a. O., S. 95. Leaman, Averroes, in: Niewöhner (Hg.), KdRP, S. 146. Nach Turki, a. a. O., S. 109.

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Doch man muss auch betonen, dass Ghazālī es zu seinen Lebzeiten geschafft hat, die Orthodoxie mit dem Sufismus zu versöhnen, indem er »dem Sufismus zum Heimatrecht im Islam verhalf«. 539 Heute ist der Sufismus auch bei vielen Sunniten anerkannt. Eine der bekanntesten Sufi-Gemeinschaften ist heute die der Mevlevis, die auf den im gesamten arabischen Raum geschätzten Sufi-Poeten Dschalāl ad-Dīn Muhammad ar-Rūmī (auch Mawlānā, arabisch Maulana – »Unser Herr«) zurückgeht, der nach Ghazālī lebte. Die Derwische dieses Ordens praktizieren ein Gebet (Dhikr) mit religiöser Musik und drehen sich dabei um die eigene Achse, um in tranceähnliche Zustände zu kommen. Es geht dabei immer um Transzendenzerfahrung, auch in den so überaus populären Liebesgedichten Rumis, in dem vom Liebenden (Sufi) und dem Geliebten (Gott) die Rede ist, und metaphorisch ist mit »Wein« die »Trunkenheit in Gott« 540 gemeint. Es geht Rumi um Liebe generell, denn »nur durch die Liebe ist es möglich, mit der Unendlichkeit, mit der Basis aller Existenz in Verbindung zu treten.« 541 Und in der Tat ist die Erfahrung der Auflösung des Ich im Du (wenn gleich auch nicht sofort im »ewigen Du«, wie Buber das nennt) ja eine Transzendenzerfahrung, die Erfahrung eines Aufgehens in einem Einheitsgefühl, das uns dem Zeit- und Raumempfinden entheben kann. Es geht also um eine kosmische Liebe, die in allen Geschöpfen wirkt. Für Öztürk bringt diese Liebe »die von ihr eroberten Seelen außerhalb der Normen zusammen, lässt sie sich umarmen, sich vereinigen. Deshalb gibt es bei jenen, die in das Fluidum der Liebe vordringen, kein Zanken, kein Streiten, kein Raufen. […] Sie werden zu Liebesgeschwistern. Für den Wahrheitssucher gibt es jenseits der Hautfarben, der Rassen und Religionen nur einen Verwandten: den Liebenden.« 542 Für Rumi mache die Liebe auch den Kern der Schöpfung aus. Zum Beleg einige Zitate aus Rumis Diwan: »Die Welt entstand und wurde geboren aus den vier Elementen. Die 4 Elemente sind aus der Liebe geboren.« – »Die Wärme der Welt entsteht durch die Feuer der Liebe. […] Die Liebe ist einzig, doch zeigt sie sich in unterschiedlichen Arten und Formen« – »Ist die Liebe nicht die Seele aller Wesen 539 540 541 542

Zakzouk, a. a. O., S. 125. Lerch, Denker des Propheten, S. 74 f. Öztürk, Rumi und die islamische Mystik, S. 106. Öztürk, a. a. O., S. 109 f.

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der Welt? Alles außer der Liebe stirbt, sie jedoch bleibt.« – »Was ist schon die Liebe?, werden einige sagen. Denen sollst Du antworten: Liebe ist Verzicht auf Verlangen, auf Wünsche, auf früheren Willen. Denn wer das Alte nicht aufgibt, nützt niemandem.« – »Liebende, die sich zu einer Seele vereinen, sterben in Liebe zueinander.« 543

Wenn in einer Seele keine Liebe wohne, so bestehe Religion aus bloßer Täuschung, so Öztürk. 544 Viele Sufis glauben, dass in allen Religionen eine grundlegende Wahrheit zu finden sei oder dass die großen Religionen von ihrem Geist her dasselbe seien. »Jenseits von richtig und falsch«, so Rumi, »liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.« 545 »Der Weg der Liebe verläuft jenseits aller 72 Konfessionen.« 546 Heute ist der Sufismus u. a. auch spirituelle Quelle der HizmetBewegung des in der Türkei seit einiger Zeit in Ungnade gefallenen Fetullah Güllen, denn er predigt eine allumfassende islamische Religion der Liebe und Toleranz. 547 Turki führt also nicht von ungefähr Bloch an, für den »die Mystik in den verschiedenen Kulturen eine wichtige Rolle im Widerstand gegen die Macht der Orthodoxie« spiele, »weil sie sich mehr an dem Freigeist als an Gesetzen orientiert, die an die Schrift gebunden sind.« 548 Dennoch muss man mit Schimmel betonen, dass der Sufismus ohne seine spirituelle Quelle, den Koran, nicht denkbar gewesen wäre und ein »eingeborenes Produkt des Islam« sei. 549 Und zudem, wie in vielen Religionen, kann diese Mystik als spirituelle Quelle der Rumi, Aus dem Diwan 3/426, 4/264, 7/229, 2/302, 5/123. a. a. O., S. 110, vgl. auch Ibn Arabi (spanischer Sufi aus Murcia), Abhandlung über die Liebe und Al Ghazali, Das Elixier der Glückseligkeit. 545 Dieses Rumi-Zitat findet sich z. B. in Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation, S. 31; vgl. auch David Loy, Nonduality (mit einem Vergleich von Derrida, Cusanus und Nagarjuna). 546 Rumi, Diwan 3/92. 547 Gülen, Hin zu einer globalen Kultur der Liebe und Toleranz, S. 187: »Alle namhaften, dauerhaften und profunden Formen des Denkens entstanden auf der Grundlage von Metaphysik und Spiritualität. Die ganze alte Welt gründete auf Schriften wie dem Koran, der Bibel, den Veden und Upanishaden. Antimaterialistische Denker, Wissenschaftler und Philosophen wie Kant, Descartes, Pascal, Hegel und Leibniz zu vergessen hieße einen ganz wesentlichen Strang des westlichen Denkens zu ignorieren.« Zum Sufismus s. S. 163–212. 548 Turki, a. a. O., S. 146 zitiert u. a. Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, S. 486. 549 Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, S. 47 ff und S. 25. 543 544

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Erneuerung dienen. Man darf aber auch nicht unerwähnt lassen, dass, so Schimmel, »eine Reihe moderner Bewegungen, die heute als ›fundamentalistisch‹ bezeichnet werden, aus den Sufi-Milieu stammen.« 550Als Beispiele mit Sufi-Herkunft nennt sie hier den Begründer der in Ägypten und den Nachbarländern so wirkmächtigen Muslim-Brüder, Hasan al-Banna, sowie Maududi, den Gründer der ichwan al-muslimin in Pakistan.

2.3.4 Lichtmetaphysik, Musterstaat und Prädetermination Für das Denken des Islam ist die Lehre »Plotins, des Ägypters« noch viel bedeutsamer geworden als für das Christentum. Zum einen kann hier seine Theorie von Ur-Einen (hen) als bedeutend angesehen werden, ebenso seine Lichtmetaphysik, in der das göttliche Licht, das die Welt durchwaltet, als Emanation und »Überfluss« des göttlichen Urgrunds gesehen wird. Dieses Eine und vollkommene Erste, das Gute schlechthin, strahlt und fließt in die Welt hinein: »So strahlt die Emanation des Einen bzw. höchsten Wesens auf alles Bestehende aus; ohne dadurch etwas von seiner Substanz zu verlieren, wie die Sonne ihre Licht und ihre Wärme auf die Erde ausstrahlt.« 551

Dieser Ansatz passte, denn im Koran besagt Sure 24,35: »Allah ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist gleich einer Nische, in der sich eine Lampe befindet […] Allah leitet zu Seinem Licht, wen Er will […].« (Weswegen die Nische in der islamischen Architektur eine besondere Rolle spielen sollte 552). Diese Lichtmetaphysik übernahm also Abu Nasr Al-Fārābī, 553 der zum eigentlichen Begründer der islamischen Philosophie wurde, 554 denn er systematisierte und ordnete die Wissenschaften und brachte in seinem System Metaphysik, Kosmologie, Psychologie, Erkenntnistheorie und Ethik in einen engen Zusammenhang mit seiSchimmel, Der Sufismus, S. 100. Turki, a. a. O., S. 64. 552 Zur Metaphorik der Nische s. Ghazalis sufische Schrift zur Nische der Lichter. 553 Nach Yousefi, a. a. O., S. 25 wurde er in Persien geboren, nach Turki, a. a. O., S. 60 in Transoxanien, dem heutigen Turkmenistan, und war türkischer Herkunft. Eigentlich muss man also auch hier auf die geläufige Arabisierung »Al-Farabi« verzichten. 554 vgl. Endress, Die arabisch-islamische Philosophie. Ein Forschungsbericht. In: Zeitschrift für Geschichte der arabisch-islamischen Wissenschaften, Bd. 5, S. 11 ff. 550 551

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nem politischen Denken, war aber auch in den Bereichen Mathematik, Logik und Grammatik zu Hause. So wurde er, als er hochbetagt von Bagdad nach Aleppo und Damaskus zog, wo er 950 starb, mit dem Titel »Zweiter Lehrer« (nach Aristoteles) geehrt. Wegweisend war für ihn wohl eine durch den Plotin-Schüler Porphyrios kommentierte und paraphrasierte Kurzfassung von Plotins Enneaden, die unter dem Titel »Die Theologie des Aristoteles« sehr wirkmächtig wurde und zunächst wegen des irreführenden Titels als Werk des Aristoteles galt (obwohl dieser, wie wir wissen, keine Emanationstheorie vertrat). Nach de Boer soll Fārābī diese Schrift für ein echtes Werk des Aristoteles gehalten haben, während er nach Marmura gezögert haben soll, die neuplatonische Theologie des Aristoteles als echt zu akzeptieren. 555 Jedenfalls kombinierte er diese Weltsicht mit Elementen der Kosmologie des Ptolemäus, löste aber die irdische Welt von der streng determinierten Emanationslehre ab und räumte Handlungsspielräume ein, denn »der Mensch muss sein Leben und seine Umwelt selbst ordnen und sie in Harmonie mit dem kosmischen Universum bringen.« 556 Das göttliche »Eine« emaniert in 10 Stufen aus der ersten Intelligenz in die supralunare Sphäre und ist dort noch in einer immaterialisierten Welt auf der Ebene der Fixsternsphäre und der darunter liegenden Planetensphären, bis schließlich der »intellectus agens« unterhalb der Mondsphäre als letzte Stufe den Umschlag in die Welt des Entstehens und Vergehens in der sublunaren Sphäre bewältigt und in die menschliche Vernunftseele fließt, aus der intellectus habitus, intellectus activus und intellectus potentialis 557 fließen, die schließlich auf Tiere, Pflanzen sowie die vier Elemente und die aus ihnen zusammengesetzten Körper einwirken. Dabei wird die »Lehre von der Bewegung bei Aristoteles zusammen mit dem abstrakten Modell des Ptolemäus in den Dienst der Emanationslehre gestellt und fungiert als Träger für den Ausströmungsfluss.« 558 (Wie man sieht, war auch eine ontologische Hierarchie impliziert.) 555 De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, S. 100 sowie Watt/Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 348. 556 Turki, a. a. O., S. 67. 557 Ferrari, Al-Farabi und der arabische Aristotelismus, in: Eichner/Perkams et al. (Hg.), Islamische Philosophie im Mittelalter, S. 229 unterscheidet hier potentiellen, aktuellen, erworbenen und aktiven Intellekt als vier »Potenzen der Erkenntnis«. 558 vgl. genauer Turki, a. a. O., S. 64 ff.

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Das Ziel des Erkennens ist es, die Stufe des reinen Denkens im intellectus agens zu erreichen, wobei nur der Philosoph/Prophet dem vollkommenen Einen am nächsten kommt, was auch der Grund ist, dass Al-Fārābī ihn (analog zu Platons Philosophenkönigen) als Lenker eines Staates und Imam für am geeignetsten hält. 559 Hier schließt sich also Al-Fārābīs politische Philosophie an, denn höchstes Glück im allgemeinen und menschliche Vollkommenheit als Ziel sind rückgebunden an die Gemeinschaft. Nach Ferrari hatte Al-Fārābī in einer Epoche des Zerfalls des Kalifats höchstes Interesse, eine gesellschaftliche Ordnung als Fundament des Gemeinwesens und der islamischen Religionsgemeinschaften zu schaffen, und orientierte sich an der Politeia und den Nomoi Platons. 560 »In der menschlichen Gemeinschaft hat, ebenso wie im Kosmos, jedes Mitglied seine bestimmten Platz und seine bestimmte Aufgabe. […] Ein gelungenes Leben außerhalb sozialen Regelwerks ist nicht möglich. Für sein Überleben ist jedes Individuum auf die anderen angewiesen.« 561

Al-Fārābī entwirft also einen »Musterstaat«, in dem nach Maßgabe der göttlichen Vernunft die Menschen harmonisch zusammenleben sollten, für Turki das »Modell einer metaphysischen und gesellschaftlichen Utopie, in der sowohl die Ziele des Individuums als auch die der Gemeinschaft mit dem kosmischen Universum im Einklang stehen«. 562 Als gemeinschaftsbildende Maßnahmen sind natürlich auch die fünf Pflichten (»Säulen«) des Islam zu verstehen: Neben dem Glaubensbekenntnis (Schahāda) führt das tägliche fünfmalige Gebet zu festgelegten Zeiten (wozu man astronomische Kenntnisse benötigte, die sich in Sonnenuhren und anderen Zeitmessern niederschlugen) die Muslime in Gebetshäusern und Moscheen auch körperlich eng zueinander, und die einzelnen Betenden wissen sich mit den zugleich in der ganzen Welt Betenden der Umma, der religiösen Gemeinschaft der Muslime, eng verbunden. Das Fasten im Monat der ersten Koranoffenbarung soll Einfühlung in die Situation der Hungernden auf der Welt ermöglichen, die Verpflichtung zum Almosengeben (Zakāt), Yousefi, a. a. O., S. 65, sowie Turki, a. a. O., S. 66. Das Konzept geht nach Yousefi, S. 66 aber über Platons Politeia hinaus, da es sich dort nur um Uniformierung gehandelt habe, hier aber »die Selbstaufklärung zur Grundlage eines gerechten Gemeinwesens« gemacht werde. 561 Ferrari, a. a. O., S. 228 f. 562 Turki, a. a. O., S. 67. 559 560

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manchmal in Form einer Art Steuer, aber auch individuell, soll an die Armen der Welt und die Verpflichtung, ihnen zu helfen, erinnern; und schließlich führt der Hadsch, die einmal im Leben vorgeschriebene Wallfahrt nach Mekka aus allen Ländern der Welt zu einer überwältigenden Einheitserfahrung. 563 Theologie (kalam) und Philosophie (falsafa) stehen also bei AlFārābī keineswegs – wie bei den Ashʾ ariten – im Widerspruch zueinander und münden ein in Recht (fiqh) und Sozialwissenschaften (al-ʾ ilm al-madani). Dabei ist der Philosoph »kein Eingeschlossener im Elfenbeinturm, sondern ein handelnder und beratender Mensch«, 564 und als solch ein Berater fühlt sich auch Al-Fārābī. Al-Fārābī beschreibt also »Struktur, Aufgaben und Funktion einer Zivilgesellschaft islamischer Prägung«, wobei er diese mit einem großen Körper vergleicht, in dem alle Organe aufeinander angewiesen sind. Dessen Herz, der durch die Umma, die religiöse Gemeinschaft, legitimierte Regent oder Imam müsse »weise, aufrichtig, gerecht, gesetzestreu, redegewandt sein und dürfe Unterdrückung und Ungerechtigkeit nicht dulden«. Fehlten einige dieser Eigenschaften, sei auch eine Aufteilung denkbar. 565 Der »Musterstaat« legte also den Grundstein für die weitere Ausarbeitung islamischen Rechts. Erwähnt werden sollte hier auch die im islamischen Herrschaftsbereich der damaligen Zeit geübte Toleranz gegenüber Juden und Christen als »Leuten der Schrift« (K 57/ 29), also mit schriftlicher Offenbarung. Sie galten nicht als ungläubig, schließlich hatte der Koran »das Frühere« bestätigt (mit »der Unterscheidung« einiger anderer Stellen im Koran, K 6,12 und K 2,89). Sie galten als andersgläubig (auch Jesus habe das alte Testament bestätigt und auf einen nach ihm kommenden Propheten namens Achmad hingewiesen). Sie konnten oft als »Dhimmis« gegen eine Kopfsteuer Schutzanspruch als Mitglieder der Gemeinschaft geltend machen, ihren Berufen nachgehen, waren allerdings von Staatsämtern ausgeschlossen. 566

Ferrari, a. a. O., S. 229. Goodman, Islamic Humanism, S. 8. 565 Yousefi, a. a. O., S. 65. Man lese Montesquieus Lettres Persannes! 566 Das Thema der Dhimmis behandelt ausführlich Khoury, Toleranz im Islam, S. 138–176. 563 564

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Damit legt Al-Fārābī die Basis für ein bis heute aktuelles transzendenzverwurzeltes Staatsverständnis (Islam bedeutet ja »Hingabe« bzw. auch »Unterwerfung«), in dem Staat und Religion nicht geschieden sind, sondern einander stützen. Die »westliche« Autonomie (im populären, nicht im Kant’schen Sinn!) sieht aus dieser Perspektive fast wie Dekadenz aus, denn der moralisch reife Muslim unterwirft sich dem Willen Gottes und erkennt den Sinn göttlicher Gesetzgebung, einer Theonomie für alles Seiende. Im Gegensatz zur »ignoranten Gesellschaft«, in der »Habgier, Maßlosigkeit, und Dekadenz« herrschen, ist hier eine »transzendenzverwurzelte und rational ausgerichtete Moral Basis der Politik«. 567 Das Konzept kann damit aber auch, so Yousefi, wegweisend für die heutige Moderne sein und »Einheit angesichts der Vielfalt« 568 verwirklichen helfen. Ibn Sina (»Avicenna«), einer der größten und bekanntesten Philosophen aus der Blütezeit der arabischen Philosophie, ist wesentlich von Al-Fārābī beeinflusst. 980, also 40 Jahre nach Al-Fārābīs Tod, in Persien geboren, entstammt er einer Kultur, die schon im Mithras- und Zarathustra-Kult immer empfänglich für Lichtmetaphorik war, und er gewinnt durch die Lektüre von Al-Fārābīs Werken Zugang zum Aristotelismus, wenngleich erst einmal in seiner neuplatonischen Färbung, und gab der »Metaphysik eine bis dahin beispiellose Einheit und Kohärenz«, 569 weshalb man ihn später »Fürst der Philosophen« nannte. Er arbeitete hochanerkannt als berühmter Arzt, war Autor eines im lateinischen Mittelalter und darüber hinaus bis ins 17. Jahrhundert geschätzten medizinischen Standardwerks, das nach der Erfindung des Buchdrucks das erste weltweit verbreitete Buch nach der Bibel wurde. 570 Er beschäftigte sich aber auch ganz allgemein mit Wissenschaft, und wie bei Al-Fārābī ist für ihn in seiner Philosophie die neuplatonische Emanationslehre der Ausgangspunkt. Eines seiner Hauptwerke, »Philosophie als Heilkunde« 571, sieht die Philosophie als Therapie für die menschliche Seele und betont die heilende Wirkung des Wissens. Yousefi, a. a. O., S. 65. a. a. O., S. 64. 569 Germann, Avicennas Metaphysik, in: Eichner et al. (Hg.), a. a. O., S. 254. 570 Yousefi, a. a. O., S. 84. 571 Avicenna, Buch von der Genesung der Seele. Es enthält als 2. Band »Die Philosophie«. 567 568

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Auch für ihn ist es das »Ur-Eine« (Plotins hen), das er mit dem Gott des Korans und der aristotelischen »ersten Ursache« gleichsetzt, aus dem alle Vielfalt hervorgeht und aus dem die Welt ihre Existenz und ihr Wesen erhält. 572 Avicenna hatte aber auch Zugang zu echten aristotelischen Schriften, und so ergab sich »ein Problem, das die Philosophie in Gestalt der unter dem Titel Metaphysik versammelten, ursprünglich aber gar nicht zusammengehörenden aristotelischen Schriften geerbt hatte«: 573 Als Gegenstand der Metaphysik werden nämlich die separaten Substanzen (der aristotelischen Substanzontologie), aber auch die Reflexion erster Ursachen und Prinzipien genannt; und damit auch ein Gott als allererste Ursache, aber ebenso das Seiende, insofern es Seiendes ist. Eine Harmonisierung bzw. Interpretation war also der Nachwelt überlassen, und die einzelnen Aspekte wurden dem islamischen Denken erst schrittweise verfügbar. Avicenna legte sich für den Gegenstand der Metaphysik ganz allgemein auf »Seiendes-als-Seiendes« als dem universalsten Begriff fest, denn mit der aristotelischen Methodik der analytica posteriora argumentierte er, dass man Ursachen und erste Ursachen nicht setzen, sondern erst beweisen müsse (was später Ibn Ruschd – Averroes – kritisieren sollte). 574 An den Dingen unterscheidet Avicenna Existenz und Essenz (was später Thomas von Aquin aufgreifen sollte 575): Sie haben eine extramentale, affirmative Existenz und gemäß ihrer wahren Natur eine spezifische intramentale, eigentümliche »Washeit« (Quiddität oder Essenz). Dabei ist im Stofflichen (»materia«, mit einer Verbindung zu mater, Mutter) die Möglichkeit der Formen (essentiae) immer schon enthalten. Alle Dinge sind also Komposita von Existenz und Essenz, 576 und sie können notwendigerweise oder kontingent existieren. Eine Unterscheidung von zwei Notwendigkeitstypen, einer absoluten und einer bedingten Notwendigkeit, macht deutlich, dass die Dinge gemäß letzterer aufgrund einer externen Ursache existieren, Hendrich, Arabisch-Islamische Philosophie, S. 80. Germann, a. a. O., S. 253. 574 a. a. O., S. 254. (Averroes wird hier nicht behandelt, da er für die Bilderfrage weniger relevant ist.) 575 Buschmann, Untersuchungen zum Problem der Materie bei Avicenna, S. 18 zeigt auch Verbindungen zu Albertus Magnus und zum »non aliud«-Argument des Cusanus auf. 576 ebd. 572 573

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wobei Avicenna der Auffassung ist, dass die Wirkursache für die Existenz eines Dinges mit diesem fortwährend koexistiert. 577 Im Gegensatz dazu steht ein durch sich selbst notwendiges Ding, in dem dann auch Existenz und Essenz zusammenfallen. Denn Avicenna verwendet die aus dem kalam bekannte Argumentation der Unmöglichkeit einer infiniten Ursachenkette. Also wird das nicht verursachte notwendig Seiende in seiner Washeit als ewig bestimmt. Es ist »Geber von Existenz, Wahrheit, reiner Intellekt und »dator formarum«. 578 »Alle anderen Seienden in der Welt sind kontingent, nur der Möglichkeit nach existent.« 579 Wie kommt nun die Emanationslehre ins Spiel? Die nunmehr als ewig erkannte erste Ursache des notwendig aus sich selbst heraus Seienden in ihrer Fülle und reinen Geistigkeit fließt in die Welt über und aktualisiert die im Stofflichen angelegten Möglichkeiten konkreter Formen von Quiddität, und zwar anders als bei Al-Fārābī auf jeder Stufe der Himmelssphären in je drei Dimensionen: in Seele, Intelligenz und Körper, bis sie schließlich auf der Ebene des 10. Intellekts, des intellectus agens, auf der Grenze zur sublunaren Sphäre die sublunare Wirklichkeit, also die Erde und ihre Bewohner erreicht und sie in ihrer Washeit hervorbringt. Das erste Seiende ist also sowohl transzendentes als auch immanentes Prinzip für die Welt. Nach Buschmann müsste es also bei Avicenna analog zum späteren Descartes »deus cogitat, ergo mundus est« heißen. 580 »Die Seele ist zunächst eine rein geistige Substanz, die erst im Akt der Entstehung des Körpers individualisiert und mit ihm verbunden wird. Nach dem Tod löst sie sich wieder vom Leib ab, bleibt aber erhalten und kehrt zu dem Ort zurück, von dem sie herabgestiegen ist. […] Bei der Erklärung der Welt und der sie tragenden Materie meint Ibn Sina, diese sei der Möglichkeit nach ein Substrat, in Wirklichkeit aber kann sie nur in den Körpern und nicht in ihrer Wesensform existieren. Insofern fungiert sie als ›Mutter des Seins‹ bzw. als ›Schoß der Formen‹, wie sie Bloch zu bezeichnen pflegt.« 581

Bloch hatte wegen der fehlenden Trennung von Stoff und Form bei Ibn Sina einen Materiemonismus angenommen, interpretiert ihn

577 578 579 580 581

Avicenna, Das Buch der Genesung, 6,2. Germann, a. a. O., S. 259 f, S. 265 f. Lerch, Denker des Propheten, S. 68. Buschmann, a. a. O., S. 19 f. Turki, a. a. O., S. 94 f.

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aber wohl zu Unrecht in Analogie zum marxistischen »Linkshegelianismus« »linksaristotelisch« als Materialisten. 582 (Buschmann zeigt durch Vergleich mit einer französischen und englischen Übersetzung und dem arabischen Original, dass die Avicenna-Übersetzungen durch Max Horten, die Bloch wohl einzig vorlagen und die durch Kommentare doppelt so lang wie das Original wurden, oft danebengehen, im Gegensatz zur lateinischen Übersetzung; dass zudem aber Bloch »auf der Suche nach geistigen Ahnen« wohl ein Interesse hatte, Avicenna zu seinem 1000. Geburtstag als frühen Materialisten auszumachen und für sich zu reklamieren. 583) Das Stoffliche ist bei Avicenna aber, anders als beim aristotelischen Dualismus – das mag Blochs Aufmerksamkeit erregt haben –, nicht von der Form zu unterscheiden, sondern auf jeder Emanationsstufe mit bestimmten Formen verbunden, weshalb »Gott als reines Sein und reine Notwendigkeit auch im Stofflichen anwesend (ist), und zwar durch die notwendige Verbindung von Stoff und Form. Das Universum besteht aus diesen notwendigen Verbindungen. Da sie aber gleichzeitig mit Gott, der sie hervorgebracht hat, existieren, müssen sie wie Gott auch ewig sein. Folglich besteht die Welt und das Stoffliche auch von Ewigkeit her.« 584

Man muss sich also eine Art creatio continua vorstellen, in der Gott gleichzeitig transzendent und immanent ist und »in den stoffgebundenen Formen aufscheint«. 585 Das aber ist für die Orthodoxie problematisch und sogar anstößig, denn diese notwendigerweise auch ewige Materie wie auch die zu Gott zurückgekehrten Seelen verletzen seine ewige Einzigartigkeit und können der »Sünde der Beigesellung« bezichtigt werden, weshalb Ibn Sinas Bücher auch verbrannt wurden. Das aber tat seinem Ruhm keinen Abbruch. 586 Ibn Sina unterschied allerdings zwei Arten von Ewigkeit: eine ontologische Ewigkeit und eine zeitliche. Da die Dinge im universalen göttlichen Geist vor ihrer realen Existenz vorhanden sind (Gott denkt sich also auch selber in seiner Essenz) und in reiner Potentialität »je-

582 Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, S. 500; im Gegensatz dazu s. Buschmann, Untersuchungen zum Problem der Materie bei Avicenna, S. 75. 583 Buschmann, a. a. O., S. 31–36, sowie 65–75. 584 Hendrich, a. a. O., S. 82. 585 ebd. 586 Lerch, Denker des Propheten, S. 66.

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derzeit als Konzepte in seinem Denken« 587 existieren (Berkeley!), sind sie also zunächst im platonischen Sinn ante res, dann immanent in rebus (im neuplatonisch-aristotelischen Sinn) und schließlich auch post rem in einer Art von existenzlosem Sein (womit Ibn Sina den mittelalterlichen Universalienstreit der lateinischen Scholastik angeregt hat 588). Es ist aber strittig, ob mit der Lehre von der göttlichen Emanation in die Welt und der intramentalen Präexistenz aller Konzepte vor ihrer Aktualisierung (sowie der »perfekten Prinzipienerkenntnis des notwendig Seienden im Hinblick auf alle kontingenten Dinge und Ereignisse«! 589) eine strenge Auffassung von Prädetermination verbunden sein muss. 590 Zwar ist die Lehre von der göttlichen Vorausbestimmung zu allen Zeiten zur Legitimation von Herrschaft verwendet worden, z. B. bei den drei ersten rechtgeleiteten Kalifen. (Man könnte also vielleicht ein Erkenntnisinteresse unterstellen.) Doch für die zweite Annahme spricht, dass Ibn Sina an anderer Stelle von der Pflicht persönlicher Vervollkommnung, z. B. durch Wissenszuwachs, spricht 591 und »die egoistischen Mechanismen im Menschen durch eine rechte Führung […] zügeln« will, wofür er »klare Strafen und Grenzen (fordert), welche die Menschen daran hindern, willkürlich zu handeln«. 592 Dabei entwickelt auch er Vorstellungen von einem idealen Gemeinwesen: »Für ihn sind Vergehen zu sanktionieren, welche die Ordnung des Ganzen zu stören drohen. […] Ibn Sina verlangt – und das ist die Kulmination seiner Ethik – eine Verfassung, in der sowohl allgemeine ethische Grundsätze niedergelegt werden als auch Gewohnheiten der Völker Berücksichtigung finden. […] Dies soll ein harmonisches Gleichgewicht in der Gesellschaft herbeiführen und den Menschen dazu verhelfen, einen ethischen Charakter auszubilden, in dem Weisheit, Enthaltsamkeit und Mut« (die griechischen Kardinaltugenden!) »eine verhaltensbestimmende Rolle ein-

Germann, a. a. O., S. 258. Lerch, Denker des Propheten, S. 70. 589 Germann, a. a. O., S. 269. 590 a. a. O., S. 271. 591 ebd. Germann bezieht sich u. a. auf Ivry, Destiny Revisited. Avicenna’s Concept of Determinism. 592 Yousefi, a. a. O., S. 86 f. 587 588

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nehmen. Die praktische Grundlage der friedlichen Koexistenz sieht Ibn Sina in einer gerechten Verwaltung der Gesellschaft.« 593

Doch im Sinne seiner ganzheitlichen Auffassung vom Menschen sieht Ibn Sina in seinem Kitab al-ischaratwa al-tanbikat (Buch der Zeichen und Ermahnungen, einer kurzen Enzyklopädie der mystischen Begriffe), dass »der Rationalismus nur eine Seite des geistigen Wesens des Menschen ausmacht« (my italics). Daneben sieht er die Notwendigkeit, auch eine »Kultur des Herzens« zu pflegen. 594

2.3.5 Ornamentik, Kalligraphie und islamische Kunst Überall im Koran ist die Rede von Zeichen, die Allah den Menschen schickt (dazu gehören auch die Schrift und die Propheten); und die Menschen sollen diese Zeichen lesen und recht verstehen. So konnte sich auf der Basis der bisher geschilderten Denksysteme eine ganz besondere islamische Kunst entwickeln. Doch »Sollten wir nicht den Schluss ziehen, dass das, was die Kunst prägte, die Existenz eines sozialen Ethos war – sozial hier in einem sehr weiten Sinn verstanden – und nicht so sehr die Existenz religiöser oder intellektueller und schon gar nicht ästhetischer Doktrinen?« Das fragt allen Ernstes Grabar als Kunsthistoriker in Bezug auf die frühislamische Kunst und beklagt, dass die sich mit der Kunst beschäftigenden Texte höchstens fragten: »Hier ist ein Bild. Wer hat es gemacht?« und »so gut wie nie […] mit der theoretischen Frage nach dem Verhältnis zwischen der Bildschöpfung und der Realität, die dem Bild zugrunde liegt«, beginnen. 595 Die Frage ist falsch gestellt und offenbart eine eurozentristische Forschungsperspektive, die eigene Selbstverständlichkeiten (hier: das an der Realität gemessene Abbilden) ins zu Erforschende projiziert und damit gerade am Eigentümlichen des Anderen vorbeigeht. Denn die (illusionäre) Realität war ja gerade nicht abzubilden, sie galt als nicht der Rede bzw. Abbildung wert, als bloßer Schein, und so konnte »die Kunst einer sich auf Religion gründenden Kultur« mit einer »überlieferten, ursprünglichen Vorstellung von der Transzendenz Gottes« ein »im wahrsten Sinne verschwommenes Bewusstsein von 593 594 595

a. a. O., S. 87 f. Lerch, a. a. O., S. 71. Grabar, Die Entstehung der islamischen Kunst, S. 81.

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der Irrealität der kreatürlichen Welt« entwickeln und »sich instinktiv auf das erlaubte freie Spiel des Abstrahierens richten.« 596 Es ist nachvollziehbar, dass mit der hohen Wertschätzung der Schrift als Träger der göttlichen Offenbarung sich in der islamischen Kunst eine besondere Kunst der Schönschrift (»Kalligraphie«) entwickelt hat, die zur Dekoration auch von großen Flächen verwendet werden konnte. Schließlich sollte der Koran nicht übersetzt, sondern nur in der Ursprache gelehrt werden, was zur weiten Verbreitung der arabischen Schrift beitrug und zum gemeinsamen Band verschiedenster Kulturen unter dem Dach des Islam wurde 597. Doch daneben – und das ist bemerkenswert – sind viele Einflüsse religionsphilosophischer Positionen für die charakteristische Besonderheit islamischer Kunst bedeutsam geworden, vom Platonismus über den aristotelischen horror vacui, über Plotins Emanationslehre, besonders im Zusammenhang mit Avicennas Vorstellung des 10. Intellekts als »Schoß der Formen«, 598 bis hin zum Occasionalismus und zum Sufismus. Für Ipsiroglu sind, wie bereits erwähnt, die Mystiker die Ursache, dass es bereits zur Zeit Muhammads überhaupt im Islam zur Malerei kommen konnte. 599 »Die Begegnung des islamischen Geistes mit […] der Lichtmetaphysik Plotins wird für das Schicksal des Bildes im islamischen Kulturbereich von entscheidender Bedeutung. Dieser Vorgang fand in den intellektuellen Kreisen der Muslime, vor allem aber in den Lehren der islamischen Mystiker, eine lebhafte Resonanz. Die tiefe Kluft zwischen Gott und dem Menschen, zwischen Himmel und Erde, wird nicht überwunden. An der Transzendenz Gottes zweifelt der Sufi (der Mystiker) nicht, und die Sinnenwelt ist auch für ihn nur ein Schein.« 600

Doch – wie wir bereits sahen – ist dieser Schein nach neuplatonischer Vorstellung Ausstrahlung des urseienden Göttlichen und hat, wenngleich auch nur nach Art eines platonischen Schattens, am Urbild teil. Zwar hat Gott sich in den Worten des Korans geoffenbart, doch der Weise kann ihn auch im Schein, bzw. durch den Schein hindurch, Sourdel-Thomine, Die Kunst des Islam, in: Sourdel-Thomine/Spuler (Hg.), Die Kunst des Islam, S. 72 f. 597 Kühnel, Islamische Schriftkunst, S. 7. 598 vgl. Papadopoulo, Islamische Kunst, S. 41–62. 599 Ipsiroglu, Das Bild im Islam, S. 45. 600 Ipsiroglu, a. a. O., S. 9. 596

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schauen. So wird »im Islam der Daseinsgrund des Bildes legitimiert«. Allerdings entsteht eine ganz spezifische Art von Bildern, im »Bereich zwischen Diesseits und Jenseits […], in einer Welt der geistigen Schau, in der die Eindrücke der Wirklichkeit sich zu einer inneren Sicht verwandeln und ins Unwirkliche entgleiten.« 601 So gibt es auch unwirkliche Darstellungen von Muhammad, es ranken sich um die Erzählungen aus dem Leben Muhammads in den Hadithen bildliche Darstellungen, in denen er meistens mit einem Schleier vor dem Gesicht dargestellt wird. Doch auch der Trick einer figürlichen Nichtdarstellung innerhalb einer Darstellung, z. B. durch Aussparung von Farbe (Muhammad ist durch Schleier und Feuermandorla zu erkennen, das Pendant zum christlichen Heiligenschein und zum buddhistischen Nimbus) galt wie andere figürliche Darstellungen als suspekt und anstößig und rief die Orthodoxie auf den Plan.

Bild 14 Muhammad auf dem Berg Hira 601

a. a. O., S. 9 f.

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Politisch korrekte Kunst war die des Ornaments und der geometrischen bzw. vegetabilen Formen, denn »Dinge mit Lebensodem« sollten ja nicht dargestellt werden. Geometrische Ornamentik, z. B. in den Kuppeln der Moscheen, galt der Schau als Inbegriff göttlicher Gesetzmäßigkeit, besonders wenn sie punktsymmetrisch von einem Zentrum aus ausstrahlte. In diesem Zusammenhang sind die Muqarnas zu nennen, die die Form der mit göttlichem Licht assoziierten Nische verbinden mit einer stalaktitenartig – oft aus Moscheekuppeln (aber auch in Privathäusern) herabwachsenden Emanation von Formen (das ist jedenfalls meine Deutung: Gott als »dator formarum«). Belting deutet sie zu Recht wie die Maschrabiyyas als symbolische Formen: »Ähnlich wie Alhazens mathematische Theorie die antiken Sehtheorien von anthropomorphen Vorstellungen säubert« soll »das Sehen von allzu viel Sinnlichkeit und Augenlust durch Geometrie gereinigt werden. […] In diesen körperlosen Ordnungen scheinen sich Raumgrenzen und Wände aufzulösen. Diese Wirkung kommt dadurch zustande, dass alle körperliche Substanz oder Materie hinter dem Licht und dem Dekor zurücktritt.« 602

Zusammen mit dem Einfallen des göttlichen Lichts regt dies zur Meditation über das Ewige als Ursprung aller Formen an und bewirkt eine Entrückung in transzendente Sphären. In frühen Ausführungen, z. B. in preiswertem Stuck, der es möglich machte, in Innenräumen noch ganz eigene neue Strukturen aufscheinen zu lassen und die Basisstruktur zu verhüllen, arbeitete man mit Ornamenten in vollständiger Flächenausfüllung, mit den erlaubten vegetabilen Formen, sowie mit Ranken und geometrischen Formen. Letztere müssen im Hinblick auf ihren Sinngehalt als Symbole göttlicher Gesetzmäßigkeit und überzeitlicher ewiger Ordnung gelten: »Damit kommen wir wieder zur platonischen Grundanschauung des Islam, denn wir haben hier genau die Vorstellung Platons von der Beziehung zwischen den ›schönen Formen‹, die ewige Wesen sind, und der Vielfalt der Objekte, aus denen sie zurückgestrahlt werden können, die aber niemals die ›Formen‹ erschöpfen. Die abstrakte islamische Kunst ist um so mehr im Sinne Platons, als die Formen, um die es geht, vollkommene mathematische Figuren sind, […] wie die ›fünf platonischen Körper‹.« 603

602 603

Belting, Florenz und Bagdad, S. 131. Papadopoulo, a. a. O., S. 193.

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Bild 15: Muqarna Kuppel in Isfahan

Die vielen sternförmigen Polygone z. B., besonders der aus zwei Quadraten entstehende achtzackige Stern, gingen unmittelbar zurück auf die von Platon als die schönsten bezeichneten »fundamentalen Dreiecke«: Ziehe man in beiden Quadraten die Diagonalen, so erhalte man schon acht dieser gleichschenklig-rechtwinkligen Dreiecke. Besonders platonisch war das aber dadurch, dass man die Gleichheit der Formen in jedem Material verfolgen konnte. 604 Man experimentierte nämlich – auch im Falle der Muqarnas – wie so oft mit anderen Materialien, 605 z. B. solchen, die weitere Verfeinerung ermöglichten, wie Schnitzwerk oder in Stein gemeißelten Formen, mit denen sich filigranere Wirkungen erreichen ließen, und auch das kann man als eine Umsetzung der »göttlichen Emanation der Formen« interpretieren. Belting hingegen spricht von einem »kosmischen Schauspiel, das in islamischen Innenräumen aufgeführt wird«. Die gezeigte Kuppel der Alhambra in Granada stelle das bewegte Himmelsgewölbe dar, werde durch die Muquarnas gleichsam in Rotation versetzt und symbolisiere auf diese Weise den Tagesverlauf des Lichts und den Wandel der Sterne: 604 605

ebd. vgl. allgemeiner Sourdel-Thomine, a. a. O., S. 75.

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Bild 16: Kuppel des Saals der zwei Schwestern; Alhambra/Granada

»Durch die Höhe entzieht sich die Kuppel unserem Blick. Ihre Schönheit ist sichtbar und bleibt dennoch (unserem Blick) verborgen. […] Man könnte sie für die himmlischen Sphären halten, denn sie scheinen aus Perlen zu bestehen und Himmelskörper abzubilden. […] Spanische Mathematiker können heute nachweisen, dass das gesamte Dekor der Alhambra, ob auf dem Boden oder an den Wänden, originelle Lösungen für mathematische Probleme verbirgt.« 606

In das Dekor gliedert sich auch oft wunderbar die arabische Schrift ein, wie z. B. im obigen Bild aus Isfahan deutlich wird. Die arabische Schrift ist keine lautierende Schrift, sie muss mit Vokalen zu Wörtern ergänzt werden. Es entstanden als diakritische Zeichen Punkte über den Buchstaben, deren Anzahl eine Art Intonation beim Lesen vorgab.607 In Moscheen gibt es keinerlei Bilder von lebenden Wesen, an ihre Stelle tritt die Kalligraphie, das Gemeinte wird durch Zeichen symbolisiert:

606 Belting, a. a. O., S. 132 f zitiert zum letzten Punkt einen Vortrag von José Montelinos auf einer Tagung der Academia Europea in Toledo im September 2007. Zum geometrischen Aufbau der Muqarnas, s. sein Kapitel auf S. 222–228. 607 Grabar, The Mediation of Ornament, S. 69 f.

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Bild 17: Foto des Innenraums der Hagia Sophia, Istanbul. Die vier Pfeiler im Zentrum zeigen keine Bilder der vier rechtgeleiteten Kalifen, sondern ihre Namen

Kalligraphen waren hochangesehen, die Schreibkunst galt als das vornehmste aller Gewerbe, und die Kalligraphen bekamen nach einer langen Ausbildung ein Diplom und stellten Schreibgerät und Tinte selbst her. 608 Mit der Erfindung des Papiers, das irgendwann den ägyptischen Papyrus ablöste, wandelte sich die Schrift. Von der frühen eckigen Kufi-Schrift zum flüssigeren Naskhi und zum andalusischen Maghribi wurden kunstvoll Buchstaben ineinander und nebeneinander gestellt, und zwar nicht nur für Koranverse. Auch hier wurde das Verbot figürlicher Darstellung umgangen, indem man aus Buchstaben und geheiligten Namen Vögel, Tiger oder sogar Gesichter – wiederum zum Ärger der Orthodoxie – zusammenstellte, in der auch die aus der Mystik bekannte Spielerei mit Zeichen ihren Niederschlag fand.

608

Kühnel, Islamische Schreibkunst, S. 82 f.

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Bild 18: Gesicht aus den Namen von Allah, Muhammad, ʿ Ali, Husain

Scheinbar willkürlich verteilte Punkte, die das Nichts zwischen den Atomen verdeutlichen sollen, tauchten später auch außerhalb der Schrift als Elemente am Rand anderer Darstellungen auf und entsprechen so dem, was Papadopoulo die Ästhetik des Atomismus nennt. (Grabar hingegen stellt fest, dass für »Schraffuren und Punkte auf Keramiken oder bestimmte Randentwürfe […] im Augenblick noch keine bestimmte Kategorie angegeben werden kann.« 609) Doch die occasionalistische Überzeugung der Ashʾ ariten von der nicht für Menschen fasslichen Gesetzlichkeit der Schöpfung und der Uneinsehbarkeit von Gottes Willen findet hier ihren Niederschlag. Und so finden sich neben geometrischen Dekors auch kleine, scheinbar zufällige nichtmathematische Formen in großer Anzahl, z. B. zwischen Blumen und am Rand von Ornamenten: »In der autonomen Welt des Kunstwerks finden sich beliebige nichtrationale Formen, die ohne erkennbare Ordnung verteilt sind. Sie stellen das dar, was wir ›auf Zufall beruhende Gruppen nicht rationaler Elemente‹ nennen, das heißt, ›dekorative Atome‹, deren Anordnung dem Zufall überlassen blieb. Dies ist die beste Verkörperung des Atomismus und des ashʾ aritschen Okkasionalismus.« 610

Doch ist die für den Islam so typische »Arabeske« für Papadopoulo keineswegs – und da gebe ich ihm recht – auf den Atomismus der Ashʾ ariten zurückzuführen, wie man es versucht hat, da eine Linie 609 610

Grabar, Die Entstehung der islamischen Kunst, S. 286. Papadopoulo, a. a. O., S. 47.

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ein sich bewegender Punkt ist. Wenn sich Punkte zufällig bewegten, würden sie nie eine mathematische Form ergeben, aber die Basis der Arabeske, die Spirale, komme als Formvorstellung von den Pythagoreern und Platonikern und symbolisiere in ihrer schraubenförmigen Bewegung »zugleich die mystische Bewegung, die von Gott zum Menschen herab und vom Menschen wieder aufsteigt zu Gott.« 611 (Man muss sich wundern, dass Grabar mit der »Idee der Arabeske« wenig anfangen kann. 612)

Bild 19 Arabeskenkuppel, Saih Luthfulla Moschee, Isfahan

Der ashʾ aritische Atomismus war nun entscheidend für eine Weiterentwicklung der islamischen Kunst: Da alle Atomkombinationen frei durch Zufall entstehen, kann der Künstler beliebig und frei Formen und Farben kombinieren und es werden Phantasiewesen möglich. Boden, Felsen oder Meere erhalten die unwahrscheinlichsten Farben und Formen, wodurch sie irreal werden und die Natur durchaus nicht nachbilden, was für Papadopoulo direkt zu der später folgenden ästhetischen Revolution im bildnerischen Schaffen führen sollte. Der Maler brauchte sich auch nicht um Gesetze der Perspektive zu küm611 612

a. a. O., S. 46. Grabar, a. a. O., S. 275.

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mern, die ja durchaus bekannt waren. (»Man sieht, dass alle Freiheit gegenüber der Wirklichkeit der Ästhetik der islamischen Malerei zutiefst entspricht.« 613) So ist für das absolut theozentrische Weltbild der Ashʾ ariten auch nicht die verpönte Zentralperspektive statthaft, die den Betrachter nach Art des menschlichen Sehens sehen lässt, sondern allenfalls die Überblicksperspektive (»God’s eye view«), die den Aufblick von oben zeigt, oft mit bewusst verfälschten Perspektiven im Bild selber, wie z. B. in der folgenden Aufsicht auf das alte Istanbul: In der Darstellung belebter Wesen, vor allem in Moscheen, war man aber streng, gemäß einem Hadith, nach dem die Engel nicht in ein Haus eintreten, in dem ein Hund ist, und nicht in eines, in dem sich

Bild 20: Istanbul aus der Vogelperspektive (1. Hälfte 16. Jh.) Man sieht links vom Goldenen Horn den Galaterturm, und rechts einander gegenüber die Hagia Sophia und Blaue Moschee, aber eine Multiperspektivität z. B. bei den Stadtmauern und verschiedene Perspektiven bei den Gebäuden, da die Zentralperspektive gemieden werden musste: Der Maler hätte sich sonst an die Stelle Gottes gesetzt. 613

ebd.

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Bilder befinden, wobei wohl die Zentralidee die Nachbildung belebter Wesen war, durch die der Künstler mit dem Schöpfergott konkurriert. Ihre suggestive Realpräsenz im Bild rief die zu unterdrückenden magischen Aspekte des Bildhaften wieder ins Bewusstsein, 614 und das musste unterbunden werden. Einer der entscheidenden Quellpunkte der bereits erwähnten umwälzenden ästhetischen Revolution war wohl, folgt man Papadopoulo, ein Hadith, nach dem Ibn Abbas von einem Maler gefragt wurde, ob er nicht belebte Wesen darstellen dürfte, und eine zustimmende Antwort bekam, mit der Auflage, er solle die Tiere enthaupten, damit sie nicht lebendig aussähen, und versuchen, dass sie Blumen ähnlich seien. 615 Und hier fanden die islamischen Maler die Lösung ihres Problems. In der Folge entstanden Rankenwerke mit Tierköpfen oder Schriftzüge mit menschlichen Gesichtern an den Enden der Haspen, und die Gesetzestreuen glaubten dieser Maßgabe Genüge zu tun, indem sie, z. B. in den seit dem 13. Jh. entstehenden persischen Miniaturen, den Dargestellten »den Hals abschnitten«, was mit einem Tintenstrich vollzogen wurde. Oder sie konnten mit einem Loch, das auf eine tödliche Wunde hinwies, dargestellt werden, wie die Marionetten, die erlaubt waren, denn sie galten zudem wegen ihrer Fäden als Symbole für Menschen unter Gottes Führung. 616 Daher wurde möglicherweise auch das Bild vom unverschleierten (!) Muhammad auf seinem nächtlichen Himmelsflug statthaft, denn die Engel geleiten ihn, und unten im Bild betrauern seine Gefährten seinen Weggang. Viele dieser Himmelfahrtsdarstellungen wurden angefeindet und zerstört, diese jedoch fand ihren Weg nach Amerika. (Es ist vielleicht hier noch anzumerken, dass mit der Eroberung Bagdads durch die Mongolen im Jahr 1258 – sie traten dann zum Islam über – die Auftraggeber andere waren, und die Ikonographie der Gestalten, wie man auch am folgenden Beispiel sieht, asiatischen Schönheitsidealen folgte: runde Gesichter, mandelförmige Augen, »ein Mund wie eine Pistazie«). 617 614 615 616 617

vgl. Papadopoulo, S. 54 f. nach Papadopoulo, a. a. O., S. 57. Papadopoulo, a. a. O., S. 45 und 57. Ipsiroglu, Das Bild im Islam, S. 51–84.

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Bild 21: Mohammeds Nachtflug (Ausschnitt)

Man lernte also, dass man das Verbot der Abbildung lebender Wesen umgehen kann, wenn man nicht die Absicht der Imitation des Realen und Lebendigen hat. (Muhammads Pferd Buraq im obigen Bildausschnitt hat z. B. einen Menschenkopf) »So war es nötig, dass der Maler die sichtbare Erscheinungswelt aufgab, also Perspektive, Tiefe, Licht und Unwahrscheinliches und Unmögliches in die Details seines Werkes mischte. Damit bewies er seinen echten Glauben und zeigte, dass er nie die Absicht hatte, das Leben nachzuahmen und es dem Schöpfer gleichzutun.« 618

Ein Bild musste also unähnlich und unwahrscheinlich sein, weswegen natürlich Porträtmalerei streng verboten war, wenn sie Ähnlichkeit beabsichtigte oder gar zuwege brachte. 619 Ein Ausweg war z. B. auch, a. a. O., S. 57. Im Kriminalroman des türkischen Nobelpreisträgers für Literatur, Orhan Pamuk, Rot ist mein Name, der möglicherweise refundamentalisierende Wirkung in der Bildfrage hatte, wird ein Porträt zur Zeit des osmanischen Reiches zum Anlass für einen Mord und eine Selbstblendung. Die Malerei der »Franken« mit Zentralperspektive und Porträts wird dort als gottlos gebrandmarkt. 618 619

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dass man mit Menschen entindividualisierte Genres darstellte, z. B. Krieger, Bauern, Weiße, Schwarze, Fürsten, Handwerker, sowie ihre typischen Tätigkeiten.

Bild 22: Typisierte Astronomen (2. Hälfte 16 Jh.)

Damit wurde die islamische Malerei schematisiert und abstrakt, zu einer Typologie des Begriffs. Es gab also erlaubte und unerlaubte Malerei, und als einige Sultane des Osmanischen Reiches sich porträtieren ließen – oft von christlichen Künstlern, z. B. als Geschenk für andere Machthaber – musste dies streng geheim gehalten werden. Das Osmanische Reich dauerte immerhin von 1281–1922 und nahm vom nordwestlichen Anatolien aus nicht nur Byzanz ein. (Die Hagia Sophia, damals noch christliche Basilika, wurde zur Moschee, und die Gesichter der Cherubim in der Kuppel wurden mit schwarzen Gesichtsmasken übermalt.) Es erstreckte sich auch im Norden über den Balkan bis hin nach Österreich, breitete sich im Osten bis um das Schwarze Meer herum aus, und reichte im Westen bis nach Nordafrika und Ägypten. 620 Es bestand also Anerkennungsbedürfnis der Sultane gegenüber den europäischen Machthabern. 620 Spuhler, Das osmanische Reich, in: Sourdel-Thomine / Spuler (Hg.), Die Kunst des Islam, S. 64–71.

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Als Sultan Selim II. sich von Bellini porträtieren ließ – auch noch mit einem Weinbecher in der Hand –, galt dies vielen als Zeichen der Dekadenz. Nicht nur war Porträtmalerei aus religiösen Gründen verboten; auch die Übernahme von bewusst vermiedenen Stilelementen abendländischer Malerei, wie »Perspektive, Modellierung, Licht und Schatten«, war aus Furcht, die Natur nachzubilden, verpönt, und gerade das galt wegen der sündhaften Nachbildung der sichtbaren Erscheinungen als »Ende der islamischen Ästhetik.« 621 Man hatte also vor allen gelernt, wie man das Bilderverbot umgehen kann, und auf dieser Grundlage war eine spezifisch islamische Kunst in Fortsetzung der frühen Ornamentik entstanden. Es gibt also Bilder im Islam, doch es ist nicht egal, was und wie etwas gezeigt wird. Die konformen Sujets legen einen Schwerpunkt auf die Abstraktion von Weltlichem, z. B. in einer geometrischen Ornamentik, die aber nicht einfach nur Dekoration ist, sondern z. B. in den Kuppeln von Moscheen mit der Bedeutung göttlicher Gesetzmäßigkeit unterlegt ist: Denn die Kunst »schwebt gleich dem Weltbild, von dem sie getragen wird, in einem Bereich zwischen Diesseits und Jenseits, in einer Welt der geistigen Schau, in der die äußeren Eindrücke der Wirklichkeit sich zu einer inneren Sicht wandeln […] und ins Unwirkliche entgleiten«. 622 Aber auch in der figürlichen Darstellung wurde schließlich, wie wir gesehen haben, abstrahiert. »Das Bild wird Gleichnis (mital), d. h. hinweisendes Zeichen. […] Ein größerer Gegensatz zur christlichen Kunst lässt sich schwer vorstellen. Erscheint dort das Höchste leibhaftig auf der Erde, so rückt hier die Wirklichkeit bis zu den untersten Seinsformen in eine unerreichbare Ferne, in jene Regionen, wo, wie Schiller sagt, ›die reinen Formen wohnen‹.« 623

Das Ornamentale hat hier seine ursprüngliche Bedeutung noch nicht verloren: Es ist »Zeichen und Sinnbild und bedeutet die Verdichtung einer in mystischer Schau erkannten Wahrheit«. So soll der Betrachter »zur inneren Schau und Kontemplation geführt werden«; und daher muss die Wirklichkeit entindividualisiert und entmaterialisiert werden, denn der Weise sieht die Welt nur als Schatten. Nur der Weltbesessene hält die Schatten(bilder) ganz im Sinne des Plato621 622 623

Papadopoulo, a. a. O., S. 60 f. Ipsiroglu, a. a. O., S. 47 und 10. Ipsiroglu, S. 10.

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nischen Höhlengleichnisses für wahr. 624 Die Geometrie hingegen erlaubt die Darstellung der wunderbaren Harmonie kosmischer Gesetze, Ornament wie Schrift sind Träger einer Botschaft, deren Entzifferung kulturelle Einübung voraussetzt. 625 Im Gegensatz zur darstellenden Geometrie einer Optik des Blicks im Abendland ist für Belting hier eine dargestellte Geometrie einer Optik des Lichts vorzufinden, 626 die sinnbildlich für göttliche Emanation steht und daher wie die Kalligraphie Verweisungscharakter hat. Der Blick ist »gezähmt«, 627 denn sowohl das, was wir sehen (dürfen), als auch wie wir es sehen (dürfen) (also keinesfalls aus einer individuellen subjektiven Perspektive!) leitet und prägt das Sehen. Auch die figürlichen Darstellungen folgten später dieser Tendenz zur Abstraktion und Verfremdung, um als annehmbar zu gelten. Nach dem Ende des osmanischen Reiches schaffte Kemal Atatürk das Kalifat endgültig ab und führte nicht nur für die inzwischen wieder kleiner gewordene Türkei eine säkulare Verfassung ein, sondern auch die europäischen Schriftzeichen, da er das Land an den »Westen« heranführen wollte. Als aber die türkischen Künstler seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts nach Paris kamen und im Zuge der Liberalisierung »nach der Natur malen« lernen wollten, hatte die Avantgarde dort bereits zu ihrer großen Enttäuschung das gegenständliche Abbilden verlassen und sich auf den Weg der Abstraktion begeben. 628 Doch die anderen Länder islamischen Glaubens – auch sie wurden selbständige Nationen – hielten bei aller Öffnung zum »Westen« hin – wie z. B. die strengste sunnitische Ausprägung im arabischen Wahabismus 629 – oft an ihren Bild-Traditionen fest.

2.3.6 Moderne Strömungen Zwar findet sich in den Propagandavideos des sog. »Islamischen Staats« (IS) die Aufforderung, »den Westen« für seine »Idolatrie« und Bildervergötzung zu strafen, und eine exemplarisch am (heid624 625 626 627 628 629

a. a. O., S. 109 und S. 48. Belting, S. 128. Belting, S. 43. Belting, S. 67 ff überschreibt ein Kapitel mit »Das gezähmte Auge«. Ipsiroglu, Das Bild im Islam, S. 168. »wahab« bedeutet wie »salaf« »wie ehedem«.

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nischen, durch hellenistische Kultur beeinflussten) Baal-Tempel in Palmyra in Syrien vollzogene Zerstörung, besonders der Plastiken, entsprach im Selbstverständnis der Handelnden genau dem Vorbild des Propheten beim »Reinigen« der Kaaba. Doch gleichzeitig ist auch innerislamisch seit Ende des 19. Jahrhunderts eine »Vermehrung der Bilder« in einer großen Bandbreite, vor allem auch im Alltag, festzustellen, denn die neuen Techniken der Produktion und Reproduktion und massenhaften Verbreitung von Bildern erlauben problemlos ihre Ubiquität. Diese völlig neue – und erschütternde – Situation stellte die Geistlichen vor die große Herausforderung, sich mit dieser neuen Realität, der Allgegenwart des Bildhaften auch im muslimischen Raum, zu arrangieren. So gibt es z. B. die Tendenz, »flache« und daher unähnliche Bilder zu erlauben, nur das, »was einen Schatten werfe« (also Statuen und plastische Darstellungen), sei zu verdammen. In bestimmten Gegenden zog das ein Verbot von Puppen nach sich, zumindest solche mit einem Gesicht, andernorts sind sie – eingedenk des bereits erwähnten Hadiths – als Ausnahmen erlaubt, da sie für die Erziehung der Mädchen wichtig seien. (Die islamische Variante der verbotenen Barbie, die verschleierte Fullah, wurde erlaubt. 630) Doch in der sunnitischen Türkei wie auch in Ägypten gab es, wenngleich anfangs gegen Protest, plastische Standbilder. Kemal Pascha (»Atatürk«) förderte die Bildhauerkunst ausdrücklich. Nachdem im Osmanischen Reich über 700 Jahre lang keine einzige Statue aufgestellt worden war, gehörte es für ihn »zu einem zivilisierten Volk, Denkmäler aufzustellen und Maler und Bildhauer zu beschäftigen.« 631 In der Tat fehlt die Atatürk-Statue heute in kaum einer türkischen Stadt. Doch im wahabitischen Saudi-Arabien erging auf Anfrage tatsächlich eine Fatwa, die das Tischfußballspiel mit plastisch ausgeformten »Kickern« unter Strafe stellte 632. Das Schachspiel aber war erlaubt worden, da ja die Figuren abstrakter geworden waren. 633 Vor dieser Zeit der »Vermehrung der Bilder« konnten »westliche Orientreisende […] noch erstaunt auf jede bildliche Darstellung hin-

Naef, a. a. O., S. 122 f. Naef, a. a. O., S. 95–98. 632 Naef, a. a. O., S. 122 zitiert Schammâʾ î 1988, S. 326. 633 Tilman Nagel, Ist Schachspielen religiös zulässig? in: Nagel, Die Festung des Glaubens, S. 325–327. 630 631

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weisen, die sie entdecken konnten«, und die Vorstellung verbreiten, »im Orient gebe es keinerlei Bilder, und die wenigen dort angetroffenen Spuren seien Ausnahmen, Verstöße gegen die religiösen Vorschriften« 634, doch zeigt eine Reise in ein beliebiges islamisches Land heute ein völlig anderes Bild: »Überall auf den Straßen sieht man Photographien von Kinostars, Sängern und Staatschefs sowie volkstümliche religiöse Darstellungen und riesige Kino- und Werbeplakate. In den Privatwohnungen sind Familienfotos allgegenwärtig; oft läuft der Fernseher den ganzen Tag, und Riten wie Beschneidung und Hochzeit werden auf Videokassetten aufgezeichnet und den Gästen vorgeführt.« 635

Wie bereits erwähnt, muss man hier ergänzen, dass Fotografie und Film als mechanisch bzw. maschinell, also nicht als durch einen musavvir schöpferisch entstandene Formen von Bildlichkeit gelten, und damit meist erlaubt sind. Die Fotografie schließlich ebnete dem Porträt den Weg, und Filmvorführungen (die ersten in Istanbul und Kairo) wurden überaus populär. Doch hatte man in Saudi-Arabien die Einrichtung eines Fernsehstudios erlaubt, um Filmsäle zu verhindern. Das rief dann den Widerstand und eine Demonstration der Geistlichkeit auf den Plan, wobei auch ein Prinz der Königsfamilie ums Leben kam. Um die Geistlichkeit von der Nützlichkeit des neuen Mediums zu überzeugen, wurden dann seit 1965 auch Koranlesungen im Fernsehen ausgestrahlt. 636 Amartya Sen hat darauf hingewiesen, dass viele der indischen Bollywood-Regisseure Muslime sind, 637 doch andererseits beklagt Dorothee Kreutzer als Muslima die »Kollision von Transparenz und Schleier« in der arabischen Welt »angesichts des westlichen Bildergebots« (wobei sie den Schleier als symbolischen Ort deutet). Sie mokiert sich über eine Titelzeile des »Spiegel« zum Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan: »Endlich ins Kino. Über 5 Jahre mussten die Einwohner Kabuls warten, bis sie wieder einen Film ansehen durften, bewegte Bilder.« Und zugleich kritisiert

Naef, Bilder und Bilderverbot im Islam, S. 7. ebd. 636 Naef, a. a. O., S. 109 f. 637 Sen, Identity and Violence, S. 47. Zum indischen Film s. auch Martig, Indische Mythologie und sozialkritischer Realismus, in Valentin (Hg.), Weltreligionen im Film, S. 197–209. 634 635

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sie, dass auch die ZEIT sich nicht zu schade ist, in einem Leitartikel »die Burka gegen den freien Nabel auszuspielen«. 638 Enthüllung und Verhüllung stehen sich also paradigmatisch für den jeweiligen Gottesbegriff gegenüber (wobei dessen Einheitlichkeit ja auch Fiktion ist): »Geht man der Bilderflut auf den Grund, so kommt man darauf, dass ein bestimmter Gottesbegriff eine bestimmte Semiotik setzt bzw. selbst ihr Ausdruck ist.« Daher könne man »den jeweiligen Gottesbegriff als transzendentales Signifikat und als transzendentalen Signifikanten das jeweilige Abbildungsverhältnis von Sprache und Schrift« einsetzen. 639 Denn »im Westen« werde die »Transparenzfiktion des Alphabets durch seine Naturalisierung« überall inszeniert, während dem Islam »die Verankerung der Wahrheit in der Materialität der Schrift« sehr bewusst sei, da jede Übersetzung aus dem Arabischen nur als Interpretation gelten könne und Muhammad ja ummî (d. h. des Schreibens und Lesens unkundig, im Sinne von ›unberührt‹ oder ›jungfräulich‹) gewesen sei. 640 Arabische Sprache und Schrift sind also der Niederschlag einer göttlichen Transzendenz, die sich so in die Welt hinein entäußert. (Kreutzer stellt ganz prinzipiell »Inlibration« gegen »Inkarnation« 641, und letztere muss unterbleiben. Natürlich kann man jede filmische Darstellung als – profane – Repräsentation einer »Verkörperung«, z. B. einer Romanfigur sehen. Das mag einer der Gründe sein, weshalb 1994 der ägyptische Film »Der Auswanderer. Über das Leben Josephs« verboten wurde, weil er »den Propheten Joseph personifizierte und dadurch gegen eine Fatwa aus dem Jahre 1983 verstieß«. 642 Der ägyptische Regisseur meinte in einem Interview mit der ägyptischen Tageszeitung Al-Hayât, dies 638 Kreutzer, Die Kollision von Transparenz und Schleier, in: Valentin, a. a. O., S. 89 bezieht sich auf den SPIEGEL-Artikel »Die unverschleierte Würde des Westens« in Nr. 52/2001, S. 50–66, hier S. 50 und auf einen Leitartikel von Josef Joffe in der ZEIT v. 27. 12. 2001 mit dem Zwischentitel »Bauchfrei ist besser als Burka«, wobei sie anmerkt, dass in beiden Kulturen der weibliche Körper als Schauplatz des Symbolischen konstruiert ist: »Das Pendant zum gesellschaftlichen Zwang zur Burka ist das internalisierte weibliche Körperbild, das seine Dysfunktionalität in Bulimie und Anorexie geltend macht« (FN 3, S. 97). 639 Kreutzer, a. a. O., S. 96. Leider zeigt Kreutzers kluger Aufsatz eine zu starke Polarisierung der Gegensätze auf, denn sie unterschlägt völlig, dass es in vielen religiösen Kulturen auch säkulare Tendenzen bis hin zum Agnostizismus gibt. 640 a. a. O., S. 97. 641 a. a. O., S. 96. 642 Le Monde v. 31. 12. 94, S. 9.

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sei ein Angriff auf den gesamten ägyptischen Film, worauf der Erlass vom Berufungsgericht in Kairo aufgehoben wurde. 643 Schon zu Beginn des 20. Jh. hatte es in Istanbul und Ägypten etliche Kinosäle gegeben, und der ägyptische Film war durchaus erfolgreich in der arabischen Welt. »Das einzige Tabu scheint in der Darstellung des Propheten auf der Leinwand bestanden zu haben. […] al-Ashar sprach eine Fatwa aus, die besagte, jegliche Darstellung Muhammeds und seiner nahen Angehörigen sei verboten. […] 1947 wurde das Zensurgesetz verschärft und verbot von da an nicht nur die Darstellung des Propheten, sondern auch seiner Familie, den ersten 4 Kalifen […] sowie seiner engsten Gefährten, selbst auf symbolische Art – wenn zum Beispiel nur ihr Schatten gezeigt wurde.« 644

So zeigt die arabische Version eines Muhammad-Films von 1976 niemals diesen selbst, man hört aber eine Stimme und sieht die Dinge aus seiner Perspektive. Aber bei der Vorführung der internationalen Version mit Anthony Quinn – vorsichtshalber in Washington – gab es eine Geiselnahme durch eine aus den Black Muslims hervorgegangene extremistische Gruppierung. 645 Und das bringt uns zum »Karikaturenstreit«. Der Streit um die Muhammad-Karikaturen, die im September 2005 in der dänischen rechtsgerichteten Zeitung Jyllands Posten erschienen sind und später in anderen Zeitungen abgedruckt wurden, wurden im sog. »Westen« viel zu oberflächlich unter der Überschrift »Presse- und Meinungsfreiheit« oder gar »Freiheit der Kunst« abgehandelt. 646 Nach Saleh waren es nicht »irgendwelche Bilder zu irgendeinem Anlass«. Man habe um das Abbildungsverbot gewusst (und vorher sogar bei strikten Imamen nachgefragt). Gewollt war »die Zuspitzung einer in Dänemark seit Jahren betriebenen, ausländer- und besonders islamfeindlichen, von […] Jyllands Posten unterstützten Stimmungsmache, aus der politisches Kapital geschlagen werden konnte«. 647 Al-Hayât v. 31. 3. 95, S. 19. Naef, a. a. O., S. 107 f. 645 ebd. 646 vgl. Debatin (Hg.), Der Karikaturenstreit und die Pressefreit, etwa die Beiträge von Meier (S. 29–34) und Weber (S. 41–44) sowie Pöttker, Öffentlichkeit kann wichtiger sein als religiöses Empfinden, S. 73–84. 647 Saleh, Der Karikaturenstreit – Chance für Reflexion und Veränderungen, in Baatz / Belting et al. (Hg.), Bilderstreit 2006: Pressefreiheit, Blasphemie? Globale Politik?, S. 36. 643 644

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Der dänischen Redaktion ging es nach Kermani darum, »eine Minderheit im eigenen Land über 4 Monate hinweg zu einer Reaktion zu provozieren, die zur Rechtfertigung dienen sollte, eben diese Minderheit noch weiter zu marginalisieren: Es ging nicht um das Recht auf Kritik und den Witz als die Speerspitze freier Meinungsäußerung. Hier wurde und wird gelacht über eine andere Kultur.« 648 »Jyllands Posten bezeichnete ihre Aktion ursprünglich als ›Test‹ zur Überprüfung der Meinungsfreiheit. […] Trotz geduldiger Bemühungen der muslimischen Dänen nach dem Abdruck der Karikaturen wurde jeder Dialog verweigert. Es gehe dabei um eine ›notwendige Provokation zur Verteidigung der Meinungsfreiheit‹. So unterstützte Ministerpräsident Rasmussen die Aktion und lehnte ein Treffen mit elf muslimischen Botschaftern ab. Diese Behandlung müsse man in einer Demokratie ertragen können.« 649

Doch Polarisierung und Feindbildklischees sind nur für bestimmte Parteien förderlich, weshalb Saleh darauf hinweist, dass grundsätzlich die Meinungs- und Pressefreiheit auch von Muslimen keineswegs in Frage gestellt wird: 650 »Die islamischen Quellen fordern übrigens – im modernen Sprachgebrauch gesagt – zu Zivilcourage auf. Es muss ungestraft möglich sein, Kritik zu üben, zu hinterfragen und dies auch mit Humor zu tun.« 651 (Was von autoritären Regimes und Terroristen eher nicht geteilt wird.)

Kermani übt Kritik an der Reaktion der Muslime weltweit in dem »Skandal, in dem beide Seiten versagt haben«: Ein »beträchtlicher Teil speziell der iranischen und arabischen Öffentlichkeit« habe nicht begriffen, »dass man nicht zur Gewalt greift, nur weil man sich ärgert oder beleidigt fühlt, und dass es in der globalisierten Welt weit effektivere Mittel gebe, die eigene Position zu vertreten«. 652 »Hätten die Muslime sich daran gehalten, sie hätten den aktuellen Konflikt für sich entscheiden können und nebenbei aller Welt die lächerliche PrinziKermani, Hassbilder und Massenhysterie, in: Baatz / Belting et al. (Hg.) a. a. O., S. 67. 649 Saleh, a. a. O., S. 37. 650 Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam enthält allerdings zum Passus der Meinungs- und Pressefreiheit den Zusatz »wenn das Ansehen Gottes nicht beschädigt wird«. Blasphemie muss also ausgeschlossen sein. 651 Saleh, a. a. O., S. 35. 652 Kermani, a. a. O., S. 63. 648

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pienlosigkeit des dänischen Ministerpräsidenten vorführen können, der beim ersten nicht verkauften Feta-Käse bereit war, seine Verachtung für die Muslime beiseite zu schieben und ›bittebitte Dialog‹ zu winseln. […] Aber wieder einmal hat sich gezeigt, dass viele Muslime zwar in der modernen Welt leben wollen, aber deren Spielregeln noch längst nicht begriffen haben.« 653

Auch Charlie Hebdo hat im Namen der in Frankreich traditionell gegen Religion gerichteten Aufklärung nicht nur den Islam, sondern auch andere Religionen verunglimpft, und zwar mit beispielhafter Insensitivität für große Bevölkerungsteile nicht nur unter den französischen Muslimen. Die Karikatur, besonders die politische, soll überspitzen und einen kritischen Impuls enthalten. Sie ist aber keineswegs ein Kind der Aufklärung, die in anderen Ländern so nicht stattgefunden habe, wie Schneider meint. 654 Man erinnere sich an die Darstellung von Luther als des Teufels Dudelsack oder an die in den christlichen Katakomben in Rom gefundene Wandzeichnung eines Gekreuzigten mit Eselskopf und der Unterschrift »Christus asinus est« (»asinus« hat im Lateinischen die gleiche Doppelbedeutung wie der deutsche »Esel«). Doch bot der Karikaturenstreit die – leider vertane – Chance, jenseits aller Empörung auf beiden Seiten tiefergehend die Frage zu diskutieren, wo kulturelle Sensibilitäten liegen – im »Westen« beispielsweise bei Enthauptungsvideos, die eine ultimative Menschenrechtsverletzung ja nicht nur darstellen, sondern auch (ganz im Sinne von Roland Barthes 655) bezeugen. In welcher Weise sollte man die oft nötige Kritik üben? Und will man im Namen der Meinungsfreiheit alle Bilder als »Kunst« legitimiert sehen oder doch bestimmte Grenzen setzen? (Wie es ja auch beim Verbot von Darstellungen des Missbrauchs von Kindern geschieht.) Es entbehrte nicht einer inneren Logik, als die Taliban die zwei riesengroßen Buddha-Statuen von Bamiyam in Afghanistan, Überreste des später noch zu schildernden Kushana-Reiches und UNESCO-Weltkulturerbe, zerschossen und zersprengten. Für sie waren es keine typisierten Darstellungen eines zur Erlösung bzw.

Kermani, a. a. O., S. 63 f. Schneider, Mit anderen Augen: »Die islamische Aufklärung ist historisch bedeutend älter, anderen Inhalts – und ohne sie ist die westlich-christliche nicht denkbar.« (taz zwei vom 14. 2. 06, S. 15) 655 s. das zweite Eingangsmotto zum Wesen der Fotografie zu Beginn dieses Buches. 653 654

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zur Erleuchtung gelangten Menschen mit hinweisendem Charakter auf das Jenseits des Bildes, sondern heidnische Bildnisse und damit falsche Götzen, da der wahre Gott stets verborgen ist. Und das zeigt, dass nicht nur interkulturell, sondern auch innerislamisch eine Auseinandersetzung über den Status von Bildnissen aller Art sinnvoll sein könnte. Aber schließlich gibt es auch in christlichen Kulturen, sogar innerhalb des Katholizismus, in der Bilderfrage eine gelebte Diversität.

2.4. Ikonik und anikonische Symbolik in ostasiatischen Religionen Der (auch) westlich gebildete japanische Philosoph Nishida hat einmal in einem frühen Aufsatz gesagt, westliches Denken sei »Denken des Seins, östliches Denken das des Nichts«. 656 Da es sowohl im buddhistischen Denken Strömungen des Realismus wie auch im westlichen Denken Nihilismus gab – wenngleich man sich hüten muss, diese Begriffe mit den uns geläufigen Konnotationen einfach zu übertragen –, kann dies wohl nur als Aussage über den Mainstream verstanden werden. Auch kann man nicht pauschal behaupten, »das« asiatische Denken sei weltabgewandter als das sog. »westliche«, und dafür ist das Hindu-Denken ein gutes Beispiel.

2.4.1 Inkarnation und Bildlichkeit in hinduistischen Kulturen Da das Christentum im sog. »Westen« seine Vorrangstellung eingebüßt habe und vielleicht auch mancherorts an Spiritualität verloren hat, konnte, so Hummel, asiatische Kultur und Religiosität einströmen, bzw. auch deren Versatzstücke (wie Yoga 657, Ayurveda etc.). In den USA wurden 1994 z. B. 800 in Betrieb befindliche hinduistische Tempel gezählt. 658 Nach einer Schätzung von 2016 sind

656 Nishida, Die morgenländischen und abendländischen Kulturformen in alter Zeit vom metaphysischen Standpunkte aus gesehen, in: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften Nr. 19 (1939), S. 15. 657 »Yoga« bedeutet in Sanskrit eigentlich »Einung« mit dem Göttlichen. 658 Rosen, Hinduism, S. XXXIV.

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fast eine Milliarde, ca. 13 % der Weltbevölkerung, dem Hinduismus zuzurechnen. 659 Es galt eine Zeitlang als »in«, eine Zeit in einem indischen Ashram zuzubringen (der Beatle George Harrison spielte danach ein indisches Instrument, eine Sitar) und bei einem Guru transzendentale Meditation (TM) zu lernen. Hummel sieht diese Bewegungen als Teil einer Gegenbewegung, die auf die Herausforderung des westlichen Kolonialismus und der christlichen Mission antwortet. 660 In Kalifornien und in der Schweiz wurden Maharishi- Universitäten gegründet, 661 die die Bewusstseinserweiterung mittels TM erforschen sollten und eine friedlichere Welt erzeugen helfen sollten. Denn zentraler Bestandteil des Hindu-Denkens ist die Ahimsa-Lehre von der Gewaltlosigkeit (»Nicht-Verletzung«), 662 und sie hängt eng mit der Vorstellung von Transmigration, d. h. von Seelenwanderung zusammen: Je nach moralischer Würdigkeit (»Karma« bedeutet eigentlich »Handlung«, aber auch die damit verknüpften Handlungsfolgen) gibt es nämlich Wiedergeburten in einer höheren oder auch niederen Lebensform (evtl. sogar als Frau oder Tier). Dadurch werden das Kastensystem und alle sozialen Unterschiede legitimiert. Aber auch die Achtung vor allen Lebewesen wird so begründet. (Nirgendwo ist der Vegetarismus stärker als in Indien, und die Tiere laufen frei herum. 663) Mall macht aber darauf aufmerksam, dass »Reinkarnation, Wiedergeburt, Wiederverkörperung, Seelenwanderung und Wiederauferstehung […] abendländische Etiketten« sind: »Das Hauptthema ist das Entstehen, Bestehen und Vergehen der Dinge, ja sogar der Welten schlechthin.« 664 Gab es in der Frühzeit des Hinduismus noch viele an der Natur orientierte Gottheiten (Wetter – wie Wind, Regen, Feuer –, Fruchtbarkeit; auch eine Muttergöttin Aditi wurde ver-

659 Nach Art. 25 Abs. 2 der indischen Verfassung sind dazu auch alle Religionen zu rechnen, die auf indischem Boden entstanden sind, und die Indien als ihr heiliges Land betrachten, also auch Buddhismus, Jainismus und Sikhismus. Erfolgreich gegen diese Vereinnahmung geklagt haben bisher nur die Sikhs. 660 Hummel, Indische Mission und neue Frömmigkeit im Westen, S. 7. 661 Hummel, a. a. O., S. 96. 662 Allerdings wird in der Bhagavad Gita u. U. auch ein gerechter Krieg gebilligt. 663 In extremer Form wird Ahimsa von der Sekte der Jainas praktiziert, deren Angehörige z. B. immer den Weg vor sich mit einem Besen freikehren, damit sie nicht versehentlich auf ein Tier treten. 664 Mall, Der Hinduismus, S. 40 f.

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ehrt 665), so muss man doch bereits zur vedischen Zeit, darauf macht Mall aufmerksam, einen dahinterstehenden Monotheismus annehmen, und er zitiert einen Vers aus dem Rigveda-Hymnus: »Das Wahre ist das Eine. Die Weisen benennen es verschieden.« Dieses Eine ist »das Ewige, das sich in seinen verschiedenen Aspekten der Natur und des menschlichen Lebens zeigt, ohne jedoch in ihnen ganz aufzugehen. […] Gott verliert durch die Vielfalt seiner Inkarnationen nicht seine Einheit, Einmaligkeit, Absolutheit und Singularität.« 666 Auch der Hinduismus ist eine Offenbarungsreligion: Die Veden (Veda = Wissen) als die ältesten religiösen Überlieferungen der Menschheit (mit einem Schöpfungsmythos, »Rigveda«, der oftmals erstaunliche Ähnlichkeit mit dem biblischen Schöpfungsbericht hat) wurden »Rishis« (Sehern) geoffenbart, die sie durch »geschaute Eingebung« von Gott empfingen und die zunächst mündlich durch Rezitation tradiert wurden. Rosen datiert sie auf ca. 6500 Jahre v. Chr. 667, und ihre schriftliche Fixierung dann etwa auf die Zeit zwischen 3000 und 1900 v. Chr. (Das Industal war damals neben China, Ägypten und Mesopotamien eine der vier ältesten Zivilisationen, die uns bis heute bekannt sind.) Der Rigveda ist zunächst »geprägt von der einfachen, diesseitig gerichteten Lebensanschauung einer Dorf- und Einsiedeleikultur.« 668 Doch schon im 10. Buch sind bereits »philosophische Betrachtungen über den Ursprung der Welt, Leben und Tod enthalten.« 669 Oft wurden die frühen vedischen Rituale »vom Familienoberhaupt am häuslichen Herd vollzogen, oder von Priestern am Opferplatz. Man kannte wie im alten Iran weder Götterbilder noch Tempel, sondern nur den Kult unter freiem Himmel.« Erst zu späterer Zeit wandelten sich »die vedischen Opferaltäre zu ausgeprägtem Tempelkult«, und es gab bildliche (menschenähnliche) Götterdarstellungen. 670 Da man sich die ganze Erscheinungswelt als Entfaltung aus dem mütterlichen Schoß der Natur vorstellte, als dessen Abbild eine Höhle unter einem Berg galt, enthielten die Tempel eine cella (Höhle oder Schoßkammer) mit einem figürlichen oder symbolischen Hauptidol. Darüber türmte sich

665 666 667 668 669 670

Stoddart, Grundzüge des Hinduismus, S. 29 ff. Mall, a. a. O., S. 9 und 1. Rosen, Hinduism, S. XXIV. Keilhauer, Hinduismus, S. 18. ebd. Keilhauer, a. a. O., S. 20 und S. 50 f.

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ein Götterberg, mit einer mehr und mehr unüberschaubaren Skulpturenfülle. 671 Doch bereits die Veden »gehen davon aus, dass es ein Absolutes, das Eine geben muss, welches im Sinne einer überweltlichen Kausalität die Welt, die anderen Menschen und alle anderen Dinge in ihr schafft«. 672 Die späteren Upanishaden (ab ca. 800 v. Chr., sie entstanden über mehrere Generationen hinweg) beinhalten vor allem Meditationserfahrungen, Auslegungen und Erörterungen, aber auch eine tiefsinnige Erlösungsmystik. Zusammen mit den kommentierenden Upanishaden begründen die Veden die Religion des Hinduismus. Mall vergleicht – wie Deussen 673 – die Veden und Upanishaden mit dem Alten und Neuen Testament des Christentums; 674 bei Rosen hingegen wird die (spätere) Bhagavad Gita mit dem Neuen Testament des Christentums verglichen, denn sie war damals wie das NT revolutionär: Die bis dahin vorherrschende Idee von Spiritualität habe nämlich dem Verzicht, der Weltabgewandtheit und der einsamen Kontemplation gegolten. Krishna, als eine der Inkarnationen Vishnus, aber machte Arjuna in diesem Lehrgedicht klar, dass Handeln höher zu bewerten ist als die Passivität des Nichthandelns, (aber nur wenn es in rechter Absicht, also für Gott geschehe, und nicht zu anderen Zwecken). 675 Mall schildert zwei Hauptströmungen der Upanishaden bezüglich ihres Generalthemas, der Realisation des Einen, des Göttlichen, des Absoluten (des Brahman) und des Atman, der ewigen Seele, des unsterblichen Selbst im Menschen. Eine wichtige Strömung vertrete 671 Keilhauer / Keilhauer, Die Bildsprache des Hinduismus. Die indische Götterwelt und ihre Symbolik, S. 14 ff. 672 Mall, a. a. O., S. 25. 673 Deussen hat die Sechzig Upanishaden des Veda 1905 übersetzt herausgebracht, Neudruck Bielefeld 1980. 674 Mall, Der Hinduismus, S. 17. Der Vergleich hinkt tatsächlich, denn die Aussagen des NT sind teilweise Revidierungen des AT (Auge um Auge – Zahn um Zahn / die andere Backe zum Schlag hinhalten) und begründen eine neue Religion auf der Basis des Judentums. 675 Rosen, a. a. O., S. 16 ff. Keilhauer, a. a. O., S. 55 f merkt noch einen wesentlichen Unterschied zur pantheistischen Upanishaden-Mystik an: Krishna lehre hier »als Erlösungsweg die liebende und vertrauensvolle Hingabe an einen persönlichen Erlösergott und die Weiterexistenz der Einzelseele nach dem Tode in Gottesnähe.« Sie vermutet, dass der Verfasser die pantheistischen Upanishadengedanken mit seinen eigenen theistischen Ansichten verquicken wollte.

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– im Gegensatz zu ihrem anthropomorphen Gegenstück – ihre strenge Nichtzweiheit (advaita, die Einheit des Gegensätzlichen). Neben der bildhaften Darstellung von pluralen göttlichen Inkarnationen und ihrer Verehrung gab es daher auch eine abstraktere Vorstellung von »Moksha« (Heil; Erlösung, Befreiung): sie bestand im Aufgehen der Einzelseele (Atman heißt eigentlich »Atmen«) in der universalen allumfassenden Seele, im Brahman. (Hier kann man also von einem Pan-en-theismus sprechen.) Dieses Brahman als das eigenschaftslose Eine ist das höchste Bewusstsein, 676 es thront jenseits alles Seins, obwohl es auch in uns wohnt. »Es ist also sowohl immanent als auch transzendent. […] Auf negative Bestimmungen bezugnehmend wird dieses Eine in den Upanishaden beschrieben als das, was weder durch Reden, noch durch Denken noch durch Sehen, sondern nur durch die Worte ›er ist‹ erfasst werden kann«. 677 Hier ist als bedeutendster Hindu-Philosoph und Mystiker der Brahmane Shankara (788–820) zu nennen, der die Philosophie der Advaita-Vedanta systematisierte und den Hinduismus auf der Basis der Upanishaden-Philosophie erneuerte. Er gilt als »eine der hervorragendsten Persönlichkeiten der indischen Geistesentwicklung und wird auch noch heute von einem Großteil der Gelehrten als höchste Autorität in philosophischen und theologischen Fragen angesehen.« 678 Ein Weg zur Erkenntnis des Wahren war, das Bewusstsein von den Gegenständen abzuziehen, d. h., die Sinnesorgane der Wahrnehmung und alle Tätigkeit von den Gegenständen abzulösen und in ihr Zentrum zurückzuziehen. 679 Shankaras Philosophie beschreibt einen absoluten Monismus, der auf der ersten Stufe noch relative Wahrheit und niederes Wissen annimmt (niederes Brahman): Man nimmt zwar eine Vielheit von Göttern an, aber man liebt und verehrt nur einen als höchsten, persönlichen Erlösergott. Auf dieser Stufe wird die Welt noch als real betrachtet. Auf der Stufe des höheren Wissens aber erscheint die Welt nur noch als Illusion (maya), während nun das einzig Reale, das Brahman, als absolut, unpersönlich und eigenschaftslos, mit der

Mall, a. a. O., S. 17 f. Mall, a. a. O., S. 18. 678 Keilhauer, a. a. O., S. 78. 679 Bauer, Die Heilslehre des Shankara Bhagavadpada: Eine Untersuchung seiner Erkenntnistheorie und seiner Methodik. 676 677

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Ikonik und anikonische Symbolik in ostasiatischen Religionen

Einzelseele identisch geworden ist, die so ins Stadium der absoluten Wahrheit gelangt. 680 Eine Wesensidentität des Brahman mit dem Atman wird in der negativen Theologie Shankaras als Nicht-Dualität (»tat twam asi«: das bist Du!) beschrieben, jenseits aller Formen, Namen und Eigenschaften. Damit geht Shankara für Mall weiter als jeder Monotheismus: »Shankara will sagen, dass, solange der Mensch das Göttliche personifiziert, er Gott nur als eine Steigerung des Empirisch-Persönlichen erfassen kann. Nur mit dem Wegfallen aller Anthropomorphismen kann das echt Absolute, von dem man sich kein Bild machen kann, erreicht werden.« 681

Genau dies war aber auch, wie ich gezeigt habe, der Weg großer Teile jüdischer und christlicher Mystik. Wenn man »die Uridentität realisiert hat, so ist diese Wahrheit der Sprache nicht mehr verfügbar. Alles, was noch gesagt werden kann, ist die Negation aller anderen Aussagen über Brahman, welche dieses positiv beschreiben wollen […]«. 682 (»neti, neti«: das nicht, und das auch nicht. 683) Dabei wird der Zustand der Befreiung des Einzelnen als das Höchste betrachtet, in dessen Vollkommenheit alle Bewegungen und Taten enden. 684 Es gibt also parallel zu dieser negativen Theologie auch starke mystische Strömungen im Hinduismus, man soll in einer kosmischen Einheit aufzugehen versuchen, was einer apersonalen unio mystica mit einem Erlöschen der Person vergleichbar ist, und dieser Gedanke der Advaita-Vedanta (Vedanta, das »Ende der Veden« ist also Metaphysik) führte zur späteren buddhistischen Nirwana-Lehre. (Der Begriff nibbāna findet sich schon in den Upanishaden. 685) Das Götter-Pantheon änderte sich in puranischer Zeit (etwa zur Zeitenwende; die »Puranas« – alte Erzählungen – gehören zu den Keilhauer, a. a. O., S. 78 f. Mall, a. a. O., S. 20. 682 Mall, a. a. O., S. 19. 683 Die »Neti, neti«-Meditation soll alles Wahrnehmbare als Schein und Täuschung (maya) entlarven. 684 Eine Vorahnung bzw. eine Vorbereitung auf dieses kosmische Einheitserleben wird im Tantrismus, der in Verbindung zur Verehrung der Muttergöttin Shakti steht, in der sexuellen Vereinigung (in Form eines rituellen Beischlafs) gesehen, was für »Westler« auf der Suche nach sexueller Befreiung attraktiv schien. Dem entsprechen in der indischen Ikonographie auch sehr freizügige Darstellungen von Sexualität. 685 Die Verbindung wird z. B. für den frühen Buddhismus bestätigt von Kalupahana, Buddhist Philosophy, S. 70. 680 681

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Bild 23: Trimurti-Skulptur, Elephanta Caves, Mumbai (5.–8. Jh. n. Chr.)

Traditionsschriften): Nun wurden als zentrale Gottheiten Brahma, Vishnu und Shiva verehrt und sind oft personalisiert dargestellt worden. (Ihnen vorgelagert ist noch Ishvara, der aber als schöpferisches Prinzip nicht in Erscheinung tritt.) Brahma, Vishnu und Shiva, die für Stoddart als »Betrachtungsweisen Gottes« aufgefasst werden können, 686 gelten als »Trimurti«, die Mall als »indische Dreifaltigkeit«, als »Hindutrinität« 687 bezeichnet. (Der Trinitätsgedanke trat nach Keilhauer aber schon sehr früh, in vedischer Zeit, auf 688 und kann keineswegs durch das frühe Christentum beeinflusst sein.) Brahma ist der Weltenschöpfer, Vishnu der Welterhalter und Shiva der Weltzerstörer, der dafür sorgt, dass alles wieder von vorne beginnen kann, also auch der große Verwandler.

686 687 688

Stoddart, Grundzüge des Hinduismus, S. 8.5 Mall, a. a. O., S. 42. Keilhauer, a. a. O., S. 24.

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Bild 24: Tanzender Shiva im Feuerkranz (10. Jh.)

(Bei einer Shiva-Trimurti werden alle drei Aspekte Shiva zugeschrieben, und die Trishula, ein Dreizack, gilt als symbolische Darstellung für die drei Aspekte des im Shivaismus verehrten Shiva. Die verschiedenen Aspekte sind aber nur unterschiedliche Manifestationen und Namen Gottes, der mit dem Absoluten identisch ist. 689) Der dargestellte Shiva Natarâjâ im Feuerkranz »tanzt auf dem besiegten Dämon des ungeschlachten Stoffes. Mit seiner äußersten Rechten hält er die Trommel, die den Pulsschlag der Schöpfung bedeutet. Mit der nach vorn gewandten Handfläche gewährt der Gott Frieden, er erhält, was er geschaffen hat. Mit der nach unten gerichteten Hand zeigt er auf den sich hebenden Fuß, Erlösung verheißend. In der äußersten Linken trägt er den Feuerbrand, der die Welt zerstören wird.« 690

689 690

a. a. O., S. 10, 78 und 111. Stoddart, a. a. O., S. 130.

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Denn so wie alle Zeiten (wie Tages- und Jahreszeiten) zyklisch wiederkehren, so gibt es auch mit Werden, Bestehen und Vergehen einen Daseinskreislauf (»samsara«) von Tod und Geburt. Auch Vishnu inkarniert sich: Es gibt insgesamt 10 Inkarnationen (»Avatâras«), die auch bildlich in Statuen oder Gemälden dargestellt werden, als Fisch, Schildkröte, Eber, Löwe, Zwerg etc. Nach Mall gibt es dabei bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit den Stufen der Evolution; 691 wobei die 9. Inkarnation der Buddha (vom Hindutum aus gesehen) ist. Die 10. Inkarnation, der Kalki-Avatâra, soll am Ende der Zeiten erscheinen, eine apokalyptische Heilserwartung, die es parallel auch in den abrahamitischen Religionen gibt. 692 Gerne im Bild verehrt wird auch Ganesha, der elefantenköpfige Sohn Vishnus (wobei der Elefantenkopf die Bedeutung des Beseitigers von Hindernissen hat: Das Bild ist in den meisten indischen Häusern zu finden.) 693 Die Götterbilder sind meist anthropomorph; aber oft mit mehreren Köpfen oder Armen dargestellt, um Kraft zu signalisieren, und werden als Emanation bzw. als Manifestation des Einen Absoluten verehrt. Bei den Keilhauers findet sich eine umfangreiche und symbolträchtige Beschreibung von Darstellungen der indischen Götterwelt mit jeweils typischen zeichenhaften Merkmalen, die die Zuordnung der jeweiligen Darstellung zum jeweils Dargestellten erleichtern 694, so dass man durchaus bei der Deutung dieser Bildsprache von einer Ikonographie in unserem Sinn sprechen kann. »Jedes Avatara, d. h. Herabsteigen, Fleischwerden Gottes, in dieser oder jener Gestalt, stellt eine Art Offenbarung Gottes dar. Der Hinduismus im Einklang mit seinen Offenbarungsurkunden berichtet nicht bloß von einer Einmaligkeit der göttlichen Offenbarung. Er spricht vielmehr von zahllosen Inkarnationen Gottes. Im Bhagavata-Purana heißt es: Gottes Inkarnationen sind die Ströme aus einem See. Der See ist unendlich lang und tief, und er trocknet niemals aus.« 695

Aber auch Erzählungen werden plastisch-anschaulich verbildlicht, z. B. in Reliefbändern. Die Verehrung einer Wunsch-Gottheit in Form einer Statue oder im Bild gehört heute entschieden zum Hinduismus hinzu, denn 691 692 693 694 695

Mall, a. a. O., S. 23 ff. Stoddart, Grundzüge des Hinduismus, S. 36 f. Keilhauer, a. a. O., S. 114. Keilhauer, a. a. O., S. 78 ff. Mall, a. a. O., S. 29.

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auf der 2. Welt- Hindu-Konferenz von 1979 konnte man sich zwar nicht auf eine gemeinsame Definition einigen, aber auf einen Kodex von Merkmalen. Danach ist ein Hindu, wer Gebete spricht, die Bhagavad Gita liest, eine persönliche Wunsch-Gottheit (»Murti«: Gottesstatue, Bild) verehrt, die heilige Silbe »Om« verwendet und das heilige Kraut Tulsi (das indische Basilikum) anbaut. 696 Doch der geschilderte Polytheismus ist bloß die Außenseite des Hinduismus; er muss eigentlich nach dem Gesagten eher als Henotheismus 697 bezeichnet werden, weil alle Göttergestalten nur als Manifestationen bzw. Verkörperungen der einen persönlichen oder überpersönlich gedachten Weltseele (Brahman) zu denken sind und durch seine Verkörperungen hindurch das All-Eine verehrt wird. Für Stoddart gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Inkarnation und Ikonodulie: »Im Hinduismus, ebenso im Buddhismus und im Christentum, spielt die Lehre von der Fleischwerdung Gottes eine wichtige Rolle. In jeder dieser Religionen ist dieser ›Inkarnationismus‹ von einer belehrenden und sakramentalen Ikonographie begleitet. Judentum und Islam, denen Inkarnationismus fremd ist, sind ›ikonoklastisch‹ (bilderfeindlich) oder ›anikonisch‹, wohingegen Hinduismus, Buddhismus und Christentum ›ikonodulisch‹ (bilderverehrend) sind.« 698

(Natürlich gibt es einen Zusammenhang. Ich habe aber bereits gezeigt, dass dies für das Christentum von Beginn an, wegen der auch dort vertretenen Strömungen negativer Theologie und der Reformation, durchaus nicht so pauschal gilt, und auch für den Buddhismus werde ich dies im Folgenden zeigen.) Die sechs orthodoxen Lehrrichtungen (»Dharshanas«) begründeten sechs philosophische Systeme, die man durchaus kontrovers – aber immer auf dem Boden der Veden und der Upanishaden – dis696 Michaels, Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, S. 30. Später formulierte Radnakrishnan, Philosoph und Staatspräsident von Indien (1888–1975): »Jeder, der nach Wahrheit strebt durch Studium und Nachdenken, durch Reinheit seines Lebens und Verhaltens und durch Hingabe an hohe Ideale, jeder, der glaubt, dass Religion nicht auf Autorität beruht, sondern auf Erfahrung, ist ein Hindu.« (Trutwin, Wege zum Licht, S. 276) 697 Henosis = Fleischwerdung. 698 Stoddart, a. a. O., S. 39 (Man kann wohl kaum »ikonoklastisch« und »anikonisch« gleichsetzen. (Das griechische klasma bedeutet zerstören und ist etwas anderes als bloße Bilderfeindlichkeit oder Bilderlosigkeit.) Auch die anderen Klassifikationsbegriffe werden zu undifferenziert nebeneinandergesetzt.)

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kutierte. (Wegen der durchgängigen Pluralität kann der Hinduismus als extrem tolerant gelten, er missioniert auch nicht.) Gemeinsam aber ist allen die Erlösungshoffnung. Und eine solche Befreiung führt dann für Hindus dazu, dass man aus dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt heraustreten kann und nicht mehr wiedergeboren werden muss. Die Weisen, die dies erreicht haben, werden als Heilige verehrt und stehen oberhalb und außerhalb des Kastensystems.

2.4.2. Zeichenlosigkeit und Unbeschreibbarkeit im frühen Buddhismus Der Buddhismus wird oft als eine Art Reformationsbewegung gegen den sinnenfreudigen Hinduismus gesehen. Siddharta Gautama, genannt Buddha (»der Erleuchtete«, »der Erwachte«) wurde als indischer Prinz geboren und war Zeitgenosse von Sokrates und Konfuzius, weshalb Jaspers diese Zeit als »Achsenzeit der Menschheit« bezeichnet hat – da der Durchbruch zur Philosophie zeitgleich und unabhängig voneinander an drei Orten stattfand. Buddha kehrte seiner früheren Existenz den Rücken und wollte den Weg zur Befreiung und Erlösung von der grundsätzlich leidhaften Existenz des Menschen für alle Weisen. (Im Gegensatz zum Hinayana-Buddhismus im Frühbuddhismus, der dies nur esoterischen Kreisen mit strenger Askese wie Priestern zubilligte (und der heute vor allem noch in Myanmar, Thailand, Kambodscha und Ceylon anzutreffen ist), versprach der spätere Mahayana-Buddhismus (dem heute ca. 180 Millionen Menschen angehören) Erlösung und Befreiung für alle. Buddha entschied sich nach langer strenger Askese für einen Weg zwischen Askese und Hedonismus, den »mittleren Weg« (Madhyamaka). 699 Das Hindu-System legitimierte und stabilisierte Ungleichheit moralisch durch die angenommene Anhäufung von Schuld in früheren Leben, sodass Befreiung von Schuld und Leid und dem Kreislauf der Wiedergeburten für viele unerreichbar schien. Jeder sollte sich – so die neue Botschaft – nun aus sich selbst heraus aus leidhafter Existenz befreien können und zum Buddha werden können. Buddha selbst wollte von sich keinerlei bildhafte Darstellungen, 699 Grundsätzliches zum Hinayana- und Mahayana-Buddhismus siehe bei Fuchs, Ewig üben, S. 19 ff.

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und es ist eine Ironie, dass gerade im Buddhismus die größten Bildnisse überhaupt entstanden. Lange Zeit wurden die Predigten Buddhas als Leitsätze (»Sutren«) mündlich überliefert und erst später, etwa im 1. Jahrhundert v. Chr. in Ceylon, schriftlich fixiert, meist in Pali, einem alten indischen, mit dem Sanskrit verwandten Dialekt. Da die Sutren auf Palmblätter geschrieben wurden und zusammengerollt in Körben aufbewahrt wurden, spricht man von drei Körben: 1. dem Korb der Ordensdisziplin, 2. dem Korb der Lehrreden des Buddha, 3. dem Korb der Lehrbegriffe mit den dogmatischen und theoretischen Lehren des Buddha und seiner Schüler. Zu den für unseren Zusammenhang wichtigen frühen Dogmen gehören die drei Dharma-Formeln und die »Zwölfgliedrige Kette« (2. Korb des Pali-Kanons, Udana I3). Die drei Dharma-Formeln sind ontologische Grundsätze, die die gesetzliche Ordnung des Universums betreffen, nämlich 1. die beständige und unaufhörliche Veränderung alles Seins 2. das Uneigentliche alles Existierenden betreffend, das nicht selbständig ist und daher immer auch als gleichzeitig nichtexistierend angenommen werden muss: Alles abhängig Existierende ist Illusion; und 3. das Nirwana als Zustand der absoluten Ruhe. »Für den Buddhismus ist das Wesen des Seienden das Nichts, das nicht die einfache Verneinung der Selbständigkeit der Gegenstände ist, sondern über dieses Nichts als Existenzbegriff hinaus weder Sein noch Nicht-Sein ist.« 700 Das »natürliche Bewusstsein glaubt aber fest und einseitig an die Existenz der Dinge und fixiert sich« 701 darauf. Durch Lösung von den »Anhaftungen« (auch z. B. durch Gier, Neid, Hass, Stolz – Ursache alles Leidens), durch Überwindung von Ichbezogenheit und von Verstandesfixierung soll der Zustand völliger Losgelöstheit, auch der Überwindung aller Dualismen, erreicht werden. Es ist vielleicht von Bedeutung, dass zu den uns geläufigen Sinnen hier auch als sechster der Geist, also das Denken 702 gehört, denn auch dieses muss man überwinden, um zu der beschriebenen Leere zu gelangen. Schon Buddha selbst nahm gegenüber dem geschriebenen Wort, der feststehenden Lehre eine Skepsis ein, die in dieser Radikalität in anderen Religionen nicht anzutreffen ist und jeden DogmatisFuchs, a. a. O., S. 20. a. a. O. 702 vgl. Nagarjuna, Mulamahyamikakarikas (MK), 9.1 ff. übersetzt in: Weber-Brosamer/Back, Die Philosophie der Leere, S. 36 f. 700 701

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mus verbietet. 703 Es steht dem angestrebten Ziel der »Leere« über jede Sprache hinaus entgegen. Die bereits erwähnte »zwölfgliedrige Kette der abhängigen Entstehung« gibt zunächst eine buddhistische Analyse des Daseins, das die Entstehung der Gesamtheit alles Leidens beschreibt. Es wird eine Kausalkette deutlich, die man auch umkehren kann. Ich führe der besseren Verständlichkeit halber die von Beeh und Fuchs 704 zitierten Übersetzungen zusammen: 1. Am Anfang steht Nichtwissen (Geistesblindheit), aus dem 2. formative Kräfte (intentionale Handlungen) entstehen, die 3. Bewusstsein entstehen lassen, was seinerseits 4. Name-Form (Bezeichnungen) entstehen lässt. Diese sind die Quelle für 5. die sechs Felder der Wahrnehmung, die 6. Kontakt (Berührung) und 7. Empfindung entstehen lassen. Nur so wird 8. Durst (Begehren) möglich, 9. dann Ergreifen, 10. Sein (Werden) und 11. Geburt und 12. damit dann auch Alter und Tod (bei Beeh noch ergänzt um »Schmerz, Klagen, Leid, Trübsal und Verzweiflung«) Die Fixierung auf (illusorische) Wahrnehmungen muss also überwunden werden (soviel zur Phänomenologie), aber auch die auf Sprache und Denken. Beeh zitiert den für die buddhistische Wahrnehmungstheorie zentralen Sanskrit-Begriff nimitta, der bei Übersetzung in unsere Sprachen in Symbol, Idee, Reflex, Vorstellung, Phänomen, Gegenstück und Objekt zerfällt, was »noch im Vorfeld von Sprache und Bild angesiedelt ist und […] vielleicht am ehesten dem Begriff der Repräsentation« 705 entspricht. Geistesblindheit ist also verantwortlich für die Entstehung eines Lebens mit Intentionalität, Sprache und Kultur, was nur zu Leiden und Verzweiflung (und zur Anhäufung von Bitterkeit!) führt. Das ist aber vermeidbar, denn die Kette lässt sich umgekehrt negiert durchlaufen und ergibt so einen Weg zur Aufhebung alles Leidens: Aus der Aufhebung von Unwissenheit ergibt sich dann die Aufhebung jeder Intentionalität, 703 vgl. auch Röllicke, Wann ist es Zeit, das Sutra zu zerreißen? in: ders. (Hg.), Denken der Religion. Hierhin passt auch der berühmte Ausspruch des Zen-Meisters Rinzai: »Wenn Du Buddha triffst, töte ihn«: »Jede Vorstellung, jedes Bild oder Konzept, das wir von Buddha haben, muss über Bord geworfen, abgetötet werden«, nur die eigene Erfahrung ist entscheidend. (Torini, Apophatische Theologie und göttliches Nichts, in: Elsas (Hg.), Tradition und Translation, S. 513) 704 Beeh, Bilderverbot, Zeichenlosigkeit und Unbeschreiblichkeit, in Horin 1, S. 110 und Fuchs, a. a. O., S. 21. 705 Beeh, a. a. O., S. 112.

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aller Bezeichnungen, von Wahrnehmung und Denken, von Kontakt, Empfinden, Begehren, usw. 706 Diese zwölfgliedrige Kette wird hier in einem tibetischen Mandala symbolisch dargestellt: Das ist nach Beeh ähnlich – aber positiv – im »Edlen achtfachen Weg« ausgedrückt 707: 1. Rechte Ansicht 2. Rechtes Wollen, 3. Rechte Rede, 4. Rechtes Handeln, 5. Rechtes Leben, 6. Rechte Anstrengung, 7. Rechte Achtsamkeit, 8. Rechte Sammlung/Versenkung. Dies beinhaltet die buddhistische Ethik des Mitleidens und wurde noch weiter zu Zwecken der Meditation in den »Drei Toren zur Erlösung« komprimiert: Leerheit, Zeichenlosigkeit und Wunschlosigkeit, eine Trias, die bei Conze ausführlich besprochen wird. 708 (1. Korb des Pali-Kanons, Mahāvagga I 6, 17 ff) »Wunschlosigkeit ist das Ende der praktischen, Zeichenlosigkeit das Ende der theoretischen Intentionalität. Die buddhistische Lehre von der Unterdrückung der Sinne möchte […] das Aufkommen alles Uneigentlichen vereiteln. Beides zusammen soll den Leidenschaften sozusagen die Angriffsfläche nehmen und das Leiden selbst vermeiden. […] Zeichenlosigkeit ist ein epistemologischer Begriff, Wunschlosigkeit ein mehr moralischer, und der Begriff der Leerheit vereinigt beides. […] Die Leerheit ist die Quelle der Weisheit. Als Zeichenlosigkeit ist sie die Quelle der Erkenntnis dessen, was ist, und als Wunschlosigkeit die Quelle des Handelns, wie es sein soll. […] Richtiges Denken und richtiges Handeln sind Ausflüsse einer zeichenlosen und wunschlosen, kurz: einer reinen Seele. Und das muss mit dem Wissen gemeint sein, dessen Fehlen die zwölfgliedrige Kette des bedingten Entstehens in Gang setzt. Was für die Voraussetzungen von Sprache und Bildern gilt, trifft nicht weniger für diese selbst zu. Leerheit, Wunschlosigkeit und Zeichenlosigkeit machen das Sprechen und den Gebrauch von Bildern überflüssig und schädlich.« 709

Im alltäglichen Leben bleiben natürlich zeichenhafte Prozesse erhalten, doch sie können sich nicht oder nur ganz unvollkommen auf Höheres beziehen. So werden z. B. Erzählungen vom Lebensweg Buddhas 710 oft bildlich dargestellt, angesichts einer oft analphabeti-

706 707 708 709 710

Beeh a. a. O., S. 113. s. z. B. bei Fuchs, a. a. O., S. 20 f. Conze, Buddhistisches Denken, 1990, S. 74 ff. Beeh, S. 113 f. z. B. in Auboyer, Buddha. Der Weg zur Erleuchtung, S. 15 und 250 ff.

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Bild 25: Das Rad des Lebens als Mandala, Wandmalerei in einem tibetischen Kloster (19./20. Jh.) Die obenstehende Wandmalerei in einem tibetischen Kloster (19./20. Jh.) zeigt mit einem »Lebensrad« das Wesentliche der Lehre Buddhas, der in der Nacht vor seiner Erleuchtung den ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens sah. Das zwölfgliedrige »Gesetz des Entstehens in Abhängigkeit« zeigt, wie Leiden entsteht, aber auch überwunden werden kann. Die Glieder der Kette sind im äußeren hellen Kreis dargestellt. Es beginnt oben rechts 1. mit einer blinden Greisin, einer Allegorie auf Unwissenheit, dann folgen 2. über Tatabsichten (Töpfer, der seine Gefäße formt), 3. Bewusstsein (ein Affe springt auf einen früchtetragenden Baum), 4. Name und Körper bzw. Form (Mensch im Boot, im Lebensstrom treibend), 5. Sechssinnenreich (Häuser mit meistens sechs Fenstern), 6. Berührung: Liebespaar, 7. Empfindungen (Pfeil, der das Auge eines Menschen durchbohrt), 8. Gier (Trinker), 9. Ergreifen: Früchtesammler, 10. Werden: schwangere Frau und 11. Geburt sowie 12. Alter und Tod (Leichenträger). Die drei oberen Segmente im Inneren zeigen positive Möglichkeiten der Wiedergeburt (bei gutem Karma), und zwar

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bei den Göttern (oben), bei friedlichen Menschen (links davon)und in der Welt des Kampfes bei den Titanen (rechts davon).Die unteren drei Segmente zeigen schlechte Wiedergeburten in der Welt der kalten und heißen Höllenqualen, bei den Tieren und bei den Totengeistern und Gespenstern. In jedem der Bereiche ist auch Buddha in immer anderer Gestalt zu finden; er macht auf seine Lehre und Hilfe aufmerksam, denn der Aufenthalt in allen diesen Bereichen muss nicht von Dauer sein, wenn man die in der Mitte allegorisch dargestellten Grundübel Gier, Hass und Verblendung meidet. 711

schen Bevölkerung (wie im Christentum des Mittelalters) ein wichtiges Element der Lehre. Der Buddhismus verbreitete sich von Indien nach China, von dort nach Japan und weiter in ganz Asien (und später sogar darüber hinaus 712). Zu bedenken ist, dass er dort auf jeweils andere Kulturen traf und entsprechend Wandlungen erfuhr. Für Lasalle wurde der Buddhismus in China nüchterner, da er nun »nicht mehr an die bilderreiche Fantasie der Inder gebunden« war. 713 Er traf dort nicht auf gänzlich Fremdes: Zwar war der Konfuzianismus weitgehend metaphysikfrei, 714 wurde aber seit Laotse durch den Daoismus ergänzt, der, so Lasalle, eine geistige Verwandtschaft mit dem Buddhismus 715 aufwies, »was seelisch günstige Aufnahmebedingungen im chinesischen Volke geschaffen hat« 716, und sich mit ihm problemlos und harmonisch verbinden konnte. Allerdings traf er dort auf eine Sprache, in der es – anders als in indogermanischen Sprachen – das Verb »sein« und seine Hypostasierung »Sein« nicht gab. 717 Konfuzius hatte in seiner Weisheitslehre ebenfalls auf der Enthaltung von aller Intentionalität und Ichhaftigkeit bestanden:

711 Vgl. Trutwin, Wege zum Licht, S. 392 und Seitz, Die Bildsprache des Buddhismus, S. 240. 712 zur Buddhismus-Rezeption in Amerika s. etwa Ralf Müller, Dogens Sprachdenken, S. 44–48. 713 Enomiya-Lassalle, Der Ochs und sein Hirte. Zen-Augenblicke, S. 83. 714 s. Roetz, Die chinesische Ethik der Achsenzeit. Eine Rekonstruktion unter dem Aspekt des Durchbruchs zum postkonventionellen Denken. 715 Enomiya-Lassalle, a. a. O., S. 44. 716 ebd. 717 vgl. Röllicke, Weder Istheit noch Ist-nicht-heit, weder Habhaftigkeit noch NichtHabhaftigkeit, in: Münnix (Hg.), Über-Setzen. Sprachenvielfalt und interkulturelle Hermeneutik, S. 180 ff.

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»Von 4 Dingen war der Meister völlig frei: Er war ohne (bevorzugte) Idee, ohne (vorherbestimmte) Notwendigkeit, ohne (starre) Position, ohne (partikuläres) Ich.« 718 Denn das chinesische Denken war seit alters her ein Prozessdenken, wie es sich bereits im ältesten Buch Chinas, dem I Ging genannten »Buch der Wandlungen« (ca. 3000 v. Chr.) artikulierte: Eine Sammlung von 64 Hexagrammen und zugehörigen Sprüchen beschrieb die Welt als ein Ganzes, dessen Formen aus der andauernden Wandlung zwischen den beiden entgegengesetzten Urkräften Yin und Yang entstanden und immer wieder neu entstehen. Der Weise muss sich in der Mitte zwischen den Extremen halten, darf sich von keiner Seite und partikularen Perspektiven vereinnahmen lassen und wird, da das disjunktive Denken zugunsten einer Gesamtschau überwunden werden muss, Gegensätze eher als komplementär denn als kontradiktorisch deuten. 719 So wird er sich den Entwicklungen anpassen können, 720 wobei es Konfuzius auch um eine Harmonielehre geht. Auch dem Daoismus geht es um die Überwindung der beschränkenden und ausschließenden Sichtweisen disjunktiven Denkens, und dieser »Weg« (dao) geht in die Leere: »Die große Fülle wie leer«. 721 Diese erfüllte Leere (mu) ist durchaus mit dem Nirwana vergleichbar. Das Dao (»Weg«) entzieht sich, ist als Urgrund von allem unterschieds- und bestimmungslos, da alle Unterschiede aus ihm erst entstehen. Dieses »Nichts« umfasst also wie im Buddhismus Sein und Nichtsein, es ist Nichtsprechen, »Aphasie«, da die Bestimmungen fehlen. Man muss zum Schweigen zurückkehren, um die Grundebene der Existenz wiederzufinden. Lassalle assoziiert hier die negative Theologie Meister Eckharts, 722 doch stellt der Daoismus weder die Seins- noch die Gottesfrage, das »Nichts« ist nicht substanziell, sondern als Nichtung und 718 Konfuzius, Gespräche, (lunyu) IX, 4, nach Jullien, Der Weise hängt an keiner Idee, S. 21. 719 Jullien, S. 126. 720 Jullien, S. 21 f. 721 Laotse, Tao-te-King, § 45. 722 Enomiya-Lassalle, a. a. O., S. 78: »Der Glaube tritt ins Schauen ein: Die Seele schaut durch ihre Tiefe das umfassende Sein«, ist also eine Interpretation der buddhistischen aus Sicht der christlichen Mystik. Auch kann man das tao, das te und das king wohl kaum trinitarisch deuten, wie dies Heinrich Beck tut, die Ähnlichkeiten sind nur oberflächlich.

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Befreiung gedacht. »Das Nichts aus Sicht der Transzendenz bei Eckhart ist etwas anderes als das Nichts aus der Sicht der Immanenz im Zen. Das Loslassen des eigenen Willens bei Eckhart meint die Ergebenheit in Gottes Willen, während im Zen jeglicher Wille aufgehoben wird« und in der Leere kein Ort für Ich-Bezogenheit ist. 723 Diese Unterschiedslosigkeit ist auch im buddhistischen Blumengirlanden-Sutra und im Herzsutra gedacht: »Das Einzelne ist alles. Alles ist das Einzelne« sowie »Die Farbe ist nicht verschieden von der Leere, die Leere ist nicht verschieden von der Farbe. Die Farbe ist die Leere, die Leere ist die Farbe.« 724 Das Einzelne der Phänomenwelt enthält alles, und gleichzeitig ist es nichts. »Man darf nie von einem Pol dieser Struktur abhängig sein, sondern muss den beweglichen Charakter der Wahrheit begreifen und den Mittleren Weg praktizieren, der sich weder dem Sein noch dem Nichts zuneigt. Die Lehre der phänomenalen Leerheit ermöglicht es, in dieser Welt das Reine Land zu begründen. Das Nirwana liegt nicht anderswo und ist nicht schwer zu erreichen, sondern unsere Welt ist unmittelbar das Nirwana.« 725

(So ist auch der »Himmel« für das chinesische Denken nichts Transzendentes, sondern die Gesamtheit aller ablaufenden Prozesse.) Solches Prozessbewusstsein passt überhaupt nicht zu der Bildauffassung, die sich im »Abendland« infolge der Platonischen Zweiweltentheorie von »Abbildern« oder »Repräsentationen« der zugrundeliegenden Urbilder entwickelt hatte, denn »ein statischer Wirklichkeitsbegriff, wie er allen Abbildtheorien im weitesten Sinne innewohnt«, 726 kann nicht einfach übertragen werden. Es ist vielmehr der zentrale Begriff des qì oder ki, der hier erhellend wirkt, und der ein ganzes Wortfeld 727 bezeichnet, das von »Atem, Hauch, Dampf, bis zu Kraft und Energie« reicht und es erlaubt, solche Themenfelder zusammenzudenken, die im westlichen Denken oft disparat sind, wie Medizin, Wetter, Ästhetik, Stimmungen sowie Phänomene der Elektrizität. Qi beschreibt einen rhythmischen Naturvorgang der Spannung und Entspannung, des Ergreifens und Loslassens und ist Radaj, Buddhisten denken anders, S. 15 gibt auch eine gute Übersucht über die verschiedenen buddhistischen Schulen einschließlich des tibetischen Buddhismus. 724 Nähere Interpretation s. bei Fuchs, a. a. O., S. 22 f. 725 Fuchs, a. a. O., S. 23. 726 Obert, Welt als Bild, S. 120. 727 Eine ausführliche Entfaltung dieses Wortfelds im Chinesischen und Japanischen findet sich bei Elberfeld, Sprache und Sprachen, S. 303–311. Rolf Elberfeld verdanke ich auch den Hinweis auf Mathias Obert. 723

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für das chinesische Naturdenken und die leibliche Existenz des Menschen in der Natur zentral. Der Begriff dient der »gedanklichen Durchdringung von Bewegtheiten, Verhältnissen und Bezügen […]. Der Qi-Gedanke steht für ein grundsätzliches Bemühen, das der parmenideisch-platonisch-aristotelischen Erarbeitung einer Wesensontologie diametral entgegengesetzt ist.« 728 Für Jullien geht es sogar um eine Alternative zum abendländischen Denken, das er auf die »griechische Logik der Wahrnehmung« zurückführt, denn hier gehe es um eine »Logik des Atmens«. 729 Leiblichkeit ist in jeder sinnhaften Wahrnehmung mitgegeben und Wirklichkeit wird weniger durch Anschauung erfahrbar als durch ein lebenspraktisches »sich-Einschwingen in die allbeherrschende Bewegtheit«, denn »dieses Geschehen ist weder präsentierbar noch repräsentierbar«: Ein Philosophieren über das Sein auf dem Boden ontischer Präsenz kann nicht stattfinden. 730 Es ist kein Zufall, dass sich in der Folge der stärkeren Praxisorientierung des Konfuzianismus in China, und zwar im 8.–11. Jahrhundert, der heute so wirkmächtige Chan- oder Zen-Buddhismus entwickeln konnte und dort zu dem wurde, was er heute – ab dem 12. und 13. Jahrhundert auch in Japan – ist. 731 Unabhängig von der Kenntnis der klassischen Sutren wird hier eine Buddhaschaft durch konstante Übungen angestrebt, die nicht allein wie im HinayanaBuddhismus elitären Kreisen vorbehalten war. Bodhidharma hatte zwar im 6. Jahrhundert aus Indien »Zenna«, d. h. Versenkungspraktiken der Yoga-Meditation nach China mitgebracht, doch hier ist als neu im Hinblick auf das Ziel der Wunschlosigkeit und Zeichenlosigkeit insbesondere die neu erdachte KoânMeditation zu erwähnen, eine Form des Umgangs mit Paradoxa, die zusammen mit körperlichen Übungen über die Widersprüche der Sprache hinausführen sollte und analytisch nicht mehr aufzulösen war. (»Du hast nichts in den Händen. Wirf es weg!« 732). Man konnte 728 Obert, Das Phänomen Qi und die Grundlegung der Ästhetik im vormodernen China, S. 167. 729 Jullien, Das große Bild hat keine Form, S. 14. 730 Obert, Welt als Bild, S. 48. 731 Eine intensive Einführung auch in leibliche Zen-Praktiken in Zen-Klöstern siehe bei Fuchs, a. a. O., S. 36–112 732 Schüler müssen unter Leitung eines Zen-Meisters 200–1000 Koâns bewältigen (exemplarisch bei Fuchs S. 76–100), darunter auch das berühmte »Mu von Jôshû«, das Fuchs auf S. 82 auflöst und interpretiert.

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unabhängig von intellektuellen Interpretationen buddhistischer Grundsätze direkt und authentisch lernen. 733 Es gehörte auch eine besondere Pädagogik dazu, denn es ging darum, Menschen den Weg zur Erleuchtung zu bahnen (übrigens engl. auch »enlightenment«, das gleiche Wort wie »Aufklärung«, mit ganz anderer Bedeutung!). Damit sollte ein dualistisch unterscheidendes Bewusstsein, das an der Sprache hängt, aufgehoben werden. Interessanterweise glaubt Schlieter, dass der indische Buddhismus ein starkes Motiv zur Überwindung der Sprache aus den Hyper-Nominalisierungen des Sanskrit gewinnt, in dem »umfangreiche Komposita-Konstruktionen im Satz gewissermaßen als einzelne Nomina betrachtet werden können«. 734 Da eine solche sehr abstrakte Sprache Einheitserfahrungen von Brahman und Atman geradezu versperrt, müssen Wege von der Sprache weg gebahnt werden. Da sich aber im prozessorientierten chinesischen Denken anders als im abendländischen, aus indoeuropäischen Wurzeln entstandenem Denken kein Substanzbegriff entwickelt hat, ist es sogar einfacher, die Leerheit aller Phänomene zu denken: Die Welt ist eigentlich Nichts, ist ohne Bestimmtheiten. Über die Sprache hinaus muss man sich diesem allumfassenden Nichts nähern, um zur Erleuchtung zu gelangen und eins mit allem zu werden.

2.4.3 Nagarjuna als Philosoph des Mahayana und als Boddhisatva Doch zunächst zurück zum indischen Buddhismus: Zentrale Figur im Mahayana-Buddhismus, der etwa seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. Mahayana-Sutren, wie z. B. die Prajnaparamita-Sutren (»Lehrtexte von der Vollkommenheit der Erkenntnis«) aufzeichnete, ist nicht mehr der historische Buddha, der sowieso auch frühere Inkarnationen hatte, die sog. »Vorzeit-Buddhas« (es sollen 24 gewesen sein), sondern der Bodhisattva, der sich um Erleuchtung bemüht und, wenn er sie erlangt hat, nicht sofort ins Nirwana eingeht. Er steht nämlich den Wesen, die nicht aus eigener Kraft zur Erlösung gelangen, hilfreich zur Seite. Ein solcher Bodhisattva mit Vorbildfunktion war sicherlich Fuchs, S. 75 Schlieter, Versprachlichung – Entsprachlichung: Untersuchungen zum philosophischen Stellenwert der Sprache im europäischen und buddhistischen Denken, S. 166. 733 734

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Nagarjuna, der auch als bedeutendster buddhistischer Philosoph nach Buddha gelten muss. Er war Zeitgenosse Plotins und lebte im 2. Jahrhundert nach Christus in Indien. Er konsolidierte und reformierte den Buddhismus seiner Zeit: »his primary objective was to reject the substantialist or essentialist thought that emerged in the Buddhist philosophical tradition […]. Nagarjuna probed into almost every aspect of their speculations, whether relating to epistemology, ontology, moral philosophy, or philosophy of language. He linked disjointed concepts and dissolved the hardened and the solidified. Concepts of identity and difference, substance and quality, self-nature and other nature, permanence and annihilation, even in their most subtle and imperceptible forms, never escaped his penetrating intellect.« 735

Jaspers zählt ihn in seinem Werk Die großen Philosophen ausdrücklich zu den »aus dem Ursprung denkenden Metaphysikern« und stellt ihn auf eine Ebene mit Plotin, Anselm und Spinoza. »Nach Buddhas Nirvana«, so zitiert Jaspers Nagarjuna, »nach 500 Jahren im nur nachgeahmten dharma, nachdem der Menschen Sinn allmählich stumpf geworden ist, erkennen sie nicht Buddhas Sinn und haften nur an Wort und Schriftzeichen.« 736 Wie konnte das geschehen?, fragt Jaspers. »Sie hören und sprechen von absoluter Leerheit und verstehen nicht ihren Grund. Sie sprechen etwa den zweifelnden Gedanken aus: wenn alles leer ist, wie kann man dann die Folgen von Gut und Böse unterscheiden? So können sie nur fragen in weltlicher Vorstellung, weil für sie kein Unterschied ist zwischen weltlicher und absoluter Wahrheit. Das heißt, was spekulativ gemeint war, denken sie auf der Ebene zweckhafter Verstandeseinsicht. Im objektivierenden Denken verlieren sie den Sinn der Lehre der Leerheit, weil sie, gebunden an bloße Sätze, Konsequenzen ziehen, die der Lehre fremd sind.« 737

Nagarjuna formuliert also in einem seiner Hauptwerke, den Mūlamadhyamakakārikā (MK) (»Grundverse über den mittleren Weg«) die Lehre von der zweifachen Wahrheit, die einmal weltlich verhüllt Kalupahana, Nagarjuna. The Philosophy of the Middle Way, S. 81. Jaspers zitiert Nagarjuna, Die mittlere Lehre des Nagarjuna, II,2 in deutscher Übersetzungen des tibetischen und des davon unterschiedenen chinesischen Textes (das Sanskrit-Original ist verloren) nach Walleser, Heidelberg 1911, und 1912). Der Passus stimmt nicht mit MK II 2 in der Übersetzung von Weber-Brosamer/Back überein. 737 Jaspers, Die großen Philosophen, S. 949. 735 736

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und dann als Wahrheit des höchsten Sinnes auftritt (wie bei Shankara, s. o.); und nur über das Falsche wird dieses Wahre erreicht. 738 Das Eine in zwei Wahrheiten führt zu gegensätzlichen Ansichten: Im Sinne des konventionellen, weltlichen Sprechens ist die eigentliche Wahrheit verhüllt, doch durch dieses alltägliche Sprechen hindurch muss man die »tiefe Wahrheit« (tattva) in der Lehre Buddhas erkennen, ohne die man das Nirwana nicht erlangen kann (MK 24, 8–10). Nach alter buddhistischer Lehre sind Nirwana und Samsara, der Kreislauf der Wiedergeburten, kontradiktorisch formuliert, denn im Nirwana als Befreiung von allen Bindungen verlöscht dieser Zwang zur Wiedergeburt. Es ist also nach dieser Lehre rein negativ definiert und transzendental. Doch Nagarjuna hat mit einer Reformulierung und Neuakzentuierung dieser Lehre bereits ein System im Kopf, dessen Hauptaspekte Schlieter so umreißt: 1. die Bestimmung der »Leerheit« (sunyata) bzw. des »Entstehens in Abhängigkeit«; 2. die Methode der reductio ad absurdum; 3. die zwei Wahrheitsebenen; 4. die Gleichsetzung von Samsara und Nirwana; 5. das Denken ohne Behauptung/These (pratijna); 6. das Schema vierfältiger Alternativen (catuskoti). 739 Nagarjuna beginnt seine MK mit einer Zueignung zu Buddha und seiner Lehre vom abhängigen Entstehen, die er als Kern von dessen Lehre ansieht, da sie alle »Entfaltung« des Leidhaften aufzulösen in der Lage ist. Diese Lehre vom abhängigen Entstehen wird in einem eigenen Kapitel der MK (26,1–12) behandelt. Die mittleren Glieder der zwölfgliedrigen Kette als Verursachung alles Leidens und Anhaftens untersucht Nagarjuna aber genauer und fügt nach MK 26,3 und »dem sechsfachen Sinnesbereich als Bedingung für den Sinneskontakt« zusätzliche Überlegungen zu Sehvermögen, Form, und Aufmerksamkeit ein, denn diese bringen das Bewusstsein hervor und wirken damit auf die Sprach-, Weltund Theorieentfaltung. Doch blieb es im Frühbuddhismus »nur bei einer Erklärung der konditionalen Verhältnisse der Leidensentstehung.« 740 Nagarjuna analysiert nun den Begriff des Entstehens tiefer und 738 Nagarjuna, Mulamadhyamakakarikas (MK), übersetzt in Weber-Brosamer /Back, Die Philosophie der Leere, S. 1–99. 739 Schlieter, Versprachlichung – Entsprachlichung, S. 229. 740 a. a. O., S. 230.

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legt seine immanenten Widersprüche frei, denn »nichts, das in Verhältnissen der Abhängigkeit ›entsteht‹, ›entstanden ist‹, oder ›nicht entstanden ist‹ (und somit ewig wäre), entsteht«. Nagarjuna schließt aber nicht wie Parmenides und Zenon auf die Unmöglichkeit des Entstehens angesichts der absoluten Existenz des Seienden, sondern, »dass Entstehen – wie alle sprachlichen Kategorien – nicht widerspruchsfrei auf ein wesentliches Sein bezogen werden kann«. Nagarjuna beschreibt das »Entstehen« als »falsche Ansicht« (MK 21, 14) und »täuschende Perspektive«: 741 »Für Dich mag gelten, dass Entstehen und Vergehen (doch) gesehen werden. Man sieht Entstehen und Vergehen jedoch nur aus Verblendung.« (MK 21,11) Denn: »Es gibt Entstandenes immer nur relational, d. h. in Bezug auf etwas anderes, […], mithin ›leer‹ von wesentlichem Selbstsein. Das ›Entstehen‹ in Abhängigkeit beschreibt also nur scheinhaft ein wirkliches Entstehen bzw. ein Entstehen von Wirklichem« und erweist sich damit als imaginäre Kategorie, weshalb Nagarjuna den gesamten »Konditionalnexus mit der ›Leerheit‹ (sunyata) gleichsetzt«. 742 Und es ist gerade diese Leerheit, die den mittleren Weg bildet. (MK 24,18) Jaspers kommentiert: »Werden die Dinge als an sich seiend betrachtet, also als wesenhaft existierend, so sind sie grundlos und bedingungslos, dann gibt es keine Ursache und keine Folge, kein Tun und keinen Täter, kein Entstehen und Vergehen. Werden die Dinge als nichtseiend betrachtet, so ist nichts als ein Zauberschein. Beiden gegenüber sieht Nagarjuna die Dinge in ihrer Leerheit. Sie sind weder jenes ewige Ansichsein noch sind sie Nichts. Auf dem »mittleren Weg« zwischen Sein und Nichtsein sind sie, aber sie sind leer.« 743

Damit lässt sich nun auch das oben bereits erwähnte Problem von Samsara und Nirwana lösen: Beide sind »in ein Beziehungsverhältnis, ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis gesetzt, denn sie definieren sich gegenseitig.« Das Aufhören des Kreislaufs der Wiedergeburten ist der Beginn des Nirwana, und umgekehrt. Wenn man also über Sein und Nichtsein des Nirwana reflektiert und in Rechnung stellt, dass »alle Qualifikationen und Bezeichnungen, Definitionen und Bestimmungen für Nirvana nicht zutreffen, dann sind Nirvana und Samsara unter der Maßgabe der Leerheit identisch.« 744 Damit wird 741 742 743 744

a. a. O., S. 232. Schlieter, a. a. O., S. 233. Jaspers, a. a. O., S. 939. Weber-Brosamer/Back, Die Philosophie der Leere, S. 95, vgl. MK 19 und 20.

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das klassische Nirwana aus seiner Transzendenz gelöst und ist allem Leben und Sprechen inhärent. In seinen 70 Versen über die Leere (Sunyatasaptati, SS) präzisiert Nagarjuna: »Though the Buddhas have spoken of duration, origination, destruction, being, non-being, low, moderate, and excellent by force of wordly convention, they have not done so in an absolute sense. Designations are insignificant, as self, non self and self-non-self, do not exist, because all expressible things are like Nirwana, empty, empty of own being. Since all things all together lack substance, either in causes or conditions in their totality or separately, therefore they are empty.« (SS 1–3) 745

Es ist für Nagarjuna überaus wichtig, dass diese Leerheit nicht ontologisch aufgefasst wird, da sich sonst alle »irreführenden Leitdifferenzen von Sein und Nichtsein restituieren«. Denn berücksichtigt man das fehlende ontologische Substrat aller Dharmas, kann man die Rede vom eigentlich unmöglichen Entstehen und Vergehen zulassen, »da alle Transformationen nicht das Wesen der jeweiligen Gegebenheit betreffen, sondern auf menschliche Perspektive zurückgeführt werden können« 746 und damit dem konventionellen – leeren – Sprechen vorbehalten sind. Dieses leere Sprechen versteht Nagarjuna nicht als Aufstellung von Thesen, sondern als »Vorgang des Zuerkennen-Gebens« bzw. »Bekanntgebens« oder »Zeigens«, und damit als hinweisend, »ohne dass damit irgendeine Existenz supponiert werden muss.« 747 Um dieses leere konventionelle Sprechen (mit binärer Logik) zu überwinden, greift Nagarjuna auf eine vierfache Verneinung (catuskoti) zurück, mit der er über alles Thetische der Sprache hinaus gelangt. Zur Zeit Nagarjunas stand die indische Logik schon in voller Blüte, und er konnte auf die indische Syllogistik zurückgreifen (die im Unterschied zur aristotelischen fünfgliedrig war, mit einem eher intensionalen Schließen, und keine extensionale Klassenlogik darstellte). 748 Er konnte sie überschreiten, denn er nutzte Widersprüche

745 zitiert nach Lindtners englischer Übersetzung der SS aus dem Tibetischen (das Sanskrit-Original ging verloren) in Lindtner, Nagarjuniana. Studies in the Writings and Philosophy of Nagarjuna, s. S. 35. 746 Schlieter, a. a. O., S. 236. 747 Schlieter, a. a. O., S. 253. 748 vgl. etwa Bochenski, Formale Logik, Teil VI, S. 481–517.

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zur Widerlegung von Positionen und nutzt die Methode des Tetralemmas: Position, Negation, Konjunktion und Disjunktion von Aussagen (mehr Möglichkeiten des Thetischen gibt es nicht) werden allesamt verneint, was ein Denken ohne eigene Thesen ermöglicht. In Bezug auf das Nirwana z. B. findet sich in den MK 4–16 folgende Argumentation: 1. Nirwana ist Seiendes (4–6), 2. Nirwana ist Nicht-Seiendes (7–10), 3. Nirwana ist zugleich Seiendes und Nicht-Seiendes (11–14), 4. Nirwana ist weder Seiendes noch Nicht-Seiendes (15–16). Alle vier Möglichkeiten weist er als unhaltbar und in sich widersprüchlich zurück. P, non P, P et non P sowie P vel non P werden also insgesamt verneint (was interessante Bezüge zum aristotelischen Satz vom Widerspruch und dem tertium non datur herstellt: Für Mall werden diese damit außer Kraft gesetzt oder zumindest relativiert. 749) »Im Grunde spiegeln diese Propositionen die Zurückweisung jeder Ontologie durch den Buddhismus wider. Das heißt, keine Attribution von Eigenschaften zu Objekten kann akzeptiert werden. Wir haben schon früher ausgeführt, woran das liegt: weil jede beobachtbare Realität immer nur einen Teil des Ganzen widerspiegeln kann, so dass letztlich das Ergebnis nichts weiter als relational ist und insofern unreal.« 750

Diese vierfache buddhistische Verneinung 751 ist ein Weg aus dem propositionalen Sprechen überhaupt, weshalb Buddha sich auf das Schweigen verlegte, Nagarjuna aber immer wieder versucht zu zeigen, dass alle vier Alternativen nichtig sind (und dies auch in anderen Zusammenhängen, vgl. MK 17–23). Und in der »Widerlegung der 16 falschen Ansichten« (MK 27 752) werden die vier jeweils nach dem Tetralemma möglichen Formulierungen zum Andauern des Selbst und der Welt bzw. zur Endlichkeit des Selbst und der Welt allesamt widerlegt. Mit unkonventionellen Mitteln (Paradoxie, InfinitesimalRegress, reductio ad absurdum, Tetralemma) wird so die konventionelle Ebene des Sprechens benutzt, um auf die höchste Wahrheit hinzuweisen. 753

749 Loh / Mall, Interkulturelle Logik, S. 176 beschreiben auch Vorstufen der Entwicklung hin zum Tetralemma, u. a. aus der siebenstufigen Prädikationslogik der Jaina. 750 ebd. 751 s. z. B. auch Tscherbatsky, Buddhist Logic. 752 in Weber-Brosamer/Back, Die Philosophie der Leere, S. 105. 753 Schlieter, a. a. O., S. 243 f.

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Nagarjuna will aber nicht, wie Jaspers meint, das »Nichtdenkbare denken und das Nichtsagbare sagen«. 754 Die von ihm an gleicher Stelle diagnostizierte Absicht des »Aussprechenwollens unbedingter Wahrheit« sieht Schlieter als eine Deutung »unter der Maßgabe der allgemeinen Logos-Ausrichtung der europäischen Tradition: Versprachlichung ist das Ziel, und auch in dem Fall, dass diese scheitert, liegt doch der Wille zur Versprachlichung vor.« 755 Das ist aber, wie wir sahen, mitnichten der Fall. Denn das konventionelle Sprechen mit den vier Alternativen (z. B. leer, nichtleer, sowohl leer als auch nichtleer, weder leer noch nichtleer) muss überschritten werden. Eine der meist zitierten Stellen buddhistischer Kommentar-Literatur seit fast 2000 Jahren 756 findet sich in der Vigrahavyavartani (VV) (»Streitschlichterin«), die Lindtner als »Appendix zum opus magnum« 757 bezeichnet. Sie zählt zunächst in den ersten 20 Versen Argumente der Gegner auf, um diese dann in weiteren 50 Versen zu entkräften: In Vers 29 heißt es: »Wenn ich eine positive Aussage getätigt hätte, wäre der Fehler der meinige. Aber ich habe keine solche positive Aussage. Deshalb gibt es hier keinen Fehler.« 758 Nach Schlieter lehnt Nagarjuna damit auch das logische Schema des (Positionen setzenden) Syllogismus ab, und Westerhoff gibt zu bedenken, dass ja natürlich die Thesen der MK und VV als buddhistische Lehrsätze vorliegen, aber »what Nagarjuna wants to say here is that he does not have any thesis of a particular kind, that is, that among the theses one should assert there is none which exists substantially, none which is to be interpreted according to the familiar realist semantics.« 759

In einer Welt, in der es konventionelle und substanzielle semantische Regeln gibt, könnte nämlich niemals das Konventionelle das Substanzielle überlagern. Substanzielles Sprechen mit realistischer Semantik aber kann es nicht geben. 760 Jaspers, a. a. O., S. 944. Schlieter, a. a. O., S. 228. 756 Westerhoff, The Dispeller of the Disputes. Nagarjuna’s Vigrahavyavartani, S. 63 gibt eine englische Übersetzung des ursprünglich in Sanskrit verfassten Textes. Eine deutsche Übersetzung findet sich bei Schlieter, a. a. O., S. 288–313. 757 Lindtner, a. a. O., S. 70. 758 Schlieter, a. a. O., S. 300. 759 Westerhoff, a. a. O., S. 64. 760 ebd. 754 755

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Denn wenn man einmal die »Leerheit« auch beim erkennenden Subjekt annimmt »und somit alle Ebenen – Subjekt, Objekt, Erkenntnisvoraussetzungen und Erkenntnisvorgänge – beruhigt (upasanta) sind«, 761 muss man »mithilfe der Logik eliminativer Kontradiktion auch die vermeintlich positiven Konzeptualisierungen (Glück, Reinheit)«, aber auch die Nicht-Ich-Lehre und die von der Leidhaftigkeit fallen lassen. Auch sie führen auf den Irrweg substanzialisierender Konzepte. 762 Denn auch der Komplex von Zeichen und Bezeichnetem, der Sprache und der durch sie angesprochenen Gegenstände, zeichnet sich durch Leerheit aus und verweist keineswegs mit einem Denotat im ontologischen Sinn auf etwas »Seiendes«. Es gibt kein ontologisches Substrat der Gegebenheiten, und die Idee einer tatsächlichen Referenz bzw. Denotation kann nur der Ebene des konventionellen Sprechens der (noch) verhüllten Wahrheit zugeschrieben werden. Nagarjuna versucht also, »die Wirksamkeit der Sprache allein auf der konventionellen Ebene zu verorten.« 763 Das Vorgehen kann dialektisch genannt werden, doch ist es im Unterschied etwa zur Hegel’schen Dialektik keine »Bewegung des Denkens durch Gegensatz und Widerspruch«, in der »die Negation der Negation das Positive hervortreibt«, denn »hier wird die Dialektik zum Mittel des Aufhebens des Denkens in das Undenkbare, das, am Maße des Denkbaren, weder Sein noch Nichts, ebenso sehr beides, aber auch nicht einmal in solchen Aussagen fassbar ist.« 764 Zur Erläuterung dieses buddhistischen Trends zur Entsprachlichung, der auch eine Entbildlichung umfasst, können die Untersuchungen Nagarjunas zur optischen Wahrnehmung, zu »Name und Gestalt« in den MK 26.3–26.6 und in den SS 48–53 herangezogen werden, denn mittels der Bildung von Name und Gestalt kommt dort der sechsfache Sinnesbereich zustande, sodann abhängig von Sehvermögen, Gestalt und Aufmerksamkeit, Erkennen, Berüh-

vgl. Nagarjuna MK VIII 9 zur eigentlichen Wirklichkeit: »Nicht von anderen abhängig, (in sich) ruhig, ohne unterscheidende Vorstellung, ohne Vielheit: Dies ist das Kennzeichen des Wirklichen.« 762 Schlieter, a. a. O., S. 239. 763 Schlieter, a. a. O., S. 252. 764 Jaspers, a. a. O., S. 953 f fügt auch einen Vergleich mit Nietzsche an, dessen Nihilismus sich aber »nicht offen machen will für eine von ihm geleugnete Transzendenz«, sondern den Aufstieg des Menschen zum Übermenschen will. 761

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ren und Empfindung, sodann Verlangen und Ergreifen, 765 wovon es sich aber insgesamt zu lösen gilt. Noch deutlicher auf Bilder bezogen heißt es in den SS: »The sense of sight is not inside the eye. It is not in form or in between. Therefore the image depending on form and eye is false. / If the eye does not see itself, how can it see form? Therefore eye and form are without self. The remaining sense-fields similarly.« 766

Wegen dieser Auffassung von der Leere auch der Bilder konnten sich wohl Bilder etablieren, die mit dieser Deutung einen völlig anderen Stellenwert als in anderen Religionen bekamen.

2.4.4 Die Ochsenbilder des Zen Wohl aus pädagogischer Absicht sind im chinesischen Zen-Buddhismus im Zusammenhang mit Prozessen der Koân-Meditation die berühmten Ochsenbilder entstanden, die man Kakuan Shien zuschreibt 767 und die bis heute den Weg zur Erleuchtung (und darüber hinaus) zeigen sollen. Doch Kakuan griff dabei auf ältere Darstellungen zurück und fügte zu den fünf bzw. acht bis dahin bekannten Bildern, bei denen der dunkle Ochse allmählich heller wird, bis er sich in einem leeren Kreis total verflüchtigt, noch zwei weitere hinzu, die er für wesentlich hielt. 768 Sie gehören bis heute zum Curriculum der Rinzai-Schule, in der die bereits beschriebene Koân-Meditation zentraler Bestandteil der Zen-Übungen war. (Im Gegensatz dazu präferierte die SôtôSchule 769 das Zazen, das Sitzen mit dem Gesicht zur Wand.) Da Lassalle oftmals zu sehr aus der Perspektive christlicher Mystik interpretiert, folge ich für die Interpretation den von Fuchs zitierten Autoren Ueda/Yanagida. 770

MK 26.3–26.5 in Weber-Brosamer/Back, Die Philosophie der Leere; S. 103. SS 51 f in der englischen Übersetzung von Lindtner, a. a. O., S. 57. 767 Fuchs, a. a. O., S. 55 f. 768 so Snela im Vorwort zu Enomiya-Lassalles Betrachtungen, a. a. O., S. 11. 769 Beide Schulen des Zen-Buddhismus kamen durch Eisai (Rinzai) und Dogen (Sôtô) nach Japan. Im Sôtô soll die Disziplin des Zazen als Ausdruck der Einheit von Körper und Geist das eigene Selbst abtöten, vgl. Fuchs, a. a. O., S. 53. 770 Da das Werk von Ueda/Yanagida nur auf Japanisch vorliegt, zitiere ich im Folgenden nach Fuchs. 765 766

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Die erste Szene zeigt einen Hirtenjungen, der einen nicht im Bild befindlichen Ochsen sucht, dessen Spuren er im zweiten Bild entdeckt. 771 Das Bild des Ochsen, das den Buddha-Geist versinnbildlicht, hat seine Ursprünge bereits in Indien. Während man aber in Indien Ochsen als heilige Tiere und Symbol der Erleuchtung sah, änderte sich im pragmatischen China sein heiliges Wesen: Dort waren Ochsen Teil des Alltagslebens, da Menschen mit ihnen lebten und arbeiteten: Der Ochse »drückt nur aus, was von Anfang an da ist, was im Alltag stets den Menschen begleitet. In der buddhistischen Terminologie weist er auf die »Buddha-Natur« hin. Auf den pädagogischen Charakter dieser Bilder bezogen, bedeutet der Ochse das zu verwirklichende Selbst, das eigentliche Selbst bzw. das »wahre Selbst«, wie es Ueda nennt. 772 Und dieses ist das selbstlose Selbst. Kakuans ironischer Kommentar zu diesem Bild: »Von Anfang an nicht verloren« weist darauf, dass man dieses Selbst immer schon in sich finden kann. Spuren helfen: So zeigt die Lehre die Richtung der Suche an, wie z. B. beim Erfassen der drei Dharma-Formeln oder der Sutren. »Trotzdem ist die theoretische Lehre bloß die Spur und nicht die Wahrheit selbst. Wenn der Übende beides verwechselt, wird die Lehre sogar schädlich für ihn. Denn er ist mit der Spur so zufrieden, dass er nicht mehr nach der Wahrheit sucht.« 773 Im 3. Bild erblickt man zunächst einen Teil des Ochsen, der jedoch davonläuft, sodass man ihn fangen (Bild 4) und zähmen muss (Bild 5). Der Übende trifft auf einen Teil seines echten und wahren Selbst, ist von ihm jedoch zuerst noch entfernt; er muss ihm durch Zen-Praxis näherkommen und ihm Zügel anlegen. Ein Kampf zwischen Ich und wahrem Ich weicht der Ruhe, wenn beide zur Einheit werden und im 6. Bild der Junge auf dem Ochsen – flötenspielend – 771 Kakuans zehn Ochsenbilder (»Jûgyûzu«), von Shûbun gestaltet, werden im Shôkokuji-Tempel in Kyoto seit dem 15. Jahrhundert aufbewahrt und wurden von anderen Künstlern leicht variiert. Die hier gezeigten sind – wegen der kreisförmigen Anordnung aller 10 Bilder – dem Lassalle-Band entnommen und von Tasuhiko Yokoo. (Es ist anzumerken, dass die von Lassalle herausgegebene und kommentierte Fassung chinesische Schriftzeichen neben den Ochsenbildern enthält, die in der Ausgabe von Fuchs nicht vorkommen, sowie eine sinngemäße deutsche Nachdichtung dieser Kommentare.) 772 Fuchs, a. a. O., S. 57–71. 773 Fuchs, a. a. O., S 59.

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Bild 26: Zwei »Ochsenbilder«

nach Hause reiten kann. Alle Meditationen werden von Atmung begleitet, die »mit dem inneren Auge verfolgt wird«. Man hat sich schließlich mit dem wahren Selbst harmonisiert, ist wieder zu Hause (Bild 7, ohne Ochse) und eins mit seiner Natur geworden. Man akzeptiert friedlich alles, was geschieht, reflektiert nicht mehr und fühlt sich sicher. Fuchs sieht diesen Zustand als Verwirklichung des Glaubens an und glaubt, dass die allen Menschen von Anfang an innewohnende Buddha-Natur Menschenwürde begründet. 774 Schließlich sind im 8. Bild nicht nur Ochse, sondern auch Mensch verschwunden, es bleibt nur ein leerer Kreis. »Jetzt erfährt man einen großen Sprung nach vorne. Die bisherige Entwicklung wird durch das ›Nichts‹ gründlich vernichtet. Im vorigen Bild erreichte der Junge eigentlich die Endphase seiner Suche. Das wahre Selbst verkörpert sich im Individuum. Was er tut, ist unmittelbar das Handeln des Dharmas. […] Er bleibt friedlich in der universalen Einheit. Doch diese Einheit muss aufgebrochen werden, um die wahre Freiheit des Selbst zu verwirklichen. Wenn man trotz der wunderbaren Harmonisierung mit der Welt noch ein Individuum bleibt, wird man nicht von sich selbst befreit. Das Ziel des Buddhismus ist es, die Befreiung von allem zu erlangen. Deshalb muss 774

Fuchs, a. a. O., S. 66.

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das ›große Ich‹ durch das Nichts ersetzt werden, das über das Sein und das Nichtsein oder die Weltlichkeit und die Heiligkeit hinausgeht.« 775

Im 9. Bild kehrt die Natur wieder, eine Landschaft, die kein Objekt menschlicher Wahrnehmung ist, denn ein Mensch fehlt, und damit jede Unterscheidung von Sehen und Gesehenwerden. Hier könnte vielleicht Nishidas Begriff der reinen Erfahrung erklären, dass nur ein Ich, das sich im Sehen seinem Gegenstand anverwandelt, in der Lage ist, es wirklich in sich aufzunehmen. Das Ich muss dazu ganz leer werden: »Eine Blume sehen, heißt zur Blume werden.« 776 Mit dieser Erfahrung im »Reinen Land« kann man sich dann als Boddhisatva den Menschen zuwenden und denen, die auf der Suche nach ihrem wahren Selbst sind, den Weg zur Erleuchtung bahnen. Diese Bilder sind nicht nur Erinnerungshilfe und Stütze bei Meditationen. Sie symbolisieren den Weg der Menschen und veranschaulichen die Lehre. Man muss dabei bedenken, dass nach der Etymologie das Schriftzeichen für »Bild«, xiang, in der chinesischen Silbenschrift zurückgeht auf das für »Elefant«. Bei Han Feizi finden sich dazu folgende Verse: »Selten treffen Menschen auf einen lebenden Elefanten (xiang), aber zu dem Skelett eines toten Elefanten gelangen sie. Gemäß seinem Umriss verschaffen sie sich einen Herzensanblick von seiner Lebendigkeit. Darum nennt man all das, womit Menschen sich in ihrem trachtenden Sinn einen Anblick verschaffen, xiang. Obwohl man nun nicht dazu gelangen mag, das dao zu hören und zu sehen, ergreift ein durchdringender Mensch doch seine sichtbaren Verdienste, indem er an dem Ort verweilt, wo er seine Gestalten sieht. Darum heißt es, Erscheinung dessen, das (selbst) keine Erscheinung hat, xiang dessen, das (selbst) kein Wesen hat.« 777

Der »Herzensanblick« ist also durch das Bild hindurch derjenige Blick, der an sich tote Zeichen mit Leben füllen kann. Röllicke kommentiert: »Es ist entscheidend, dass in der Etymologie des »Herzensanblicks« (xiang) des lebenden Elefanten vor seinem toten Skelett […] weder auf den Abbild- noch auf den Symbolcharakter solchen Fuchs, a. a. O., S. 67. Mine, zur ichlosen »reinen Erfahrung«: Die fundamentale Struktur von Nishidas »Logik des Ortes«, in: Münnix (Hg.), Wertetraditionen und Wertekonflikte. Ethik in Zeiten der Globalisierung, S. 179 ff. 777 Röllicke, »Selbst-Erweisung«. Der Ursprung des ziran-Gedankens in der chinesischen Philosophie des 4. und 3. Jahrhunderts vor Christus, S. 363. 775 776

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Ikonik und anikonische Symbolik in ostasiatischen Religionen

Sehens verwiesen ist, sondern auf dasjenige stets Verborgen- und Zurückgenommenbleibende, das in der Wandlung, dem Umschlagen von Himmel und Erde doch zugleich sichtbar wird, sich zeigt und begegnet.« 778 Derridas Begriff der »Spur« könnte hier also angemessener sein.

2.4.5 Anikonische Symbolik jenseits des Bildes Dies gilt nun auch für die zeichenhaften Versinnbildlichungen, die die Frühphase des Buddhismus begleiten. Seckel redet zwar von Symbolen, präzisiert aber: »das unerkennbare Nirwâna-Wesen des Buddha, seine unsichtbare Gegenwart muss und kann auf andere Weise evoziert, d. h. ins Bewusstsein gerufen werden, nämlich durch symbolische Zeichen, die zwar anschauliche Form haben, aber nicht ab-bilden, und die nur als ›Stützen‹ dienen für die geistige Schau dessen, was sie eigentlich meinen.« 779 Im Gegensatz zum Bilderverbot des Alten Testaments »Du sollst Dir kein Bildnis machen« hieße es nun eher: »Du kannst Dir kein Bildnis machen«, denn der Buddha steht jenseits aller Erscheinungsformen und transzendiert sogar die Weise des abhängigen Existierens aller – leeren – Phänomene im Kreislauf der Wiedergeburten: »a being who is a non-being«, »not being any definite any more«, »nothing at all (âkincana)«. 780 »Also ist er in seinem eigentlichen Wesen prinzipiell nicht anschaubar und deshalb nicht darstellbar, jede Gestalt würde ihn nur in un-eigentlicher, ja verfälschender Weise, nicht in seiner Wahrheit erfassen; ein personales Bild wäre sinnlos«. 781 Als »hilfreiches Mittel« (upâya-kaushalya), als »Sprungbrett in reinere Sphären abstrakter geistiger Einsicht« 782 war daher die Verwendung anschaulicher Symbole für das letztlich total Unanschauliche und Unerfassbare bereits eine Art Zugeständnis an das religiöse Bedürfnis der Laienanhänger. 783 Mit dem oben beschriebenen »Herzensanblick« konnte man durch diese Symbole hindurch gelangen.

778 779 780 781 782 783

Röllicke, a. a. O., S. 365. Seckel, Jenseits des Bildes, S. 7. Zimmer, Art of Indian Asia, Bd. I, S. 336, 79, 63. Seckel, a. a. O., S. 7. Zimmer, a. a. O., S. 232. Seckel, a. a. O., S. 8.

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So finden wir das achtspeichige Rad als Symbol des achtfachen Weges mit dem immer in Ruhe befindlichen Zentrum, die Swastika (Hakenkreuz) als Symbol des um ein Zentrum der Ruhe herum in Gang gesetzte Rad der Lehre, 784 die Triratna als Ineinander dreier Sonnenscheiben (als Symbol der »drei Juwelen«: Buddha, Lehre, Gemeinde), die Fußspuren des Buddha (Buddha-pâda), entweder abstrakt als kleines Symbol mit anderen Symbolen in Reliefs kombiniert oder riesengroß in Fels gehauen, sowie den Baum, unter dem Buddha zur Erleuchtung des Nirwana kam, mit einem leeren Sitz (»Diamantsitz«) darunter, dargestellt. Auch Sonnenschirme über einem leeren Platz sollen auf die Anwesenheit des erhabenen Buddha hinweisen, sein »Nimbus«, die Gloriole, ursprünglich ein Zeichen einer Sonnenscheibe, gilt als Äquivalent des christlichen Heiligenscheins und der islamischen Feuer-Mandorla. Die Lotusblume als Symbol einer reinen Schönheit, die sich aus schlammigem und trübem Wasser erhebt, gilt als Zeichen für die überweltliche Geburt des Buddha und seine spirituelle Reinheit. 785 Besonders aber zu erwähnen sind die Stûpas, 786 die ursprünglich als Bestattungshügel um einen Baum herum gebaut wurden und als Reliquie einen Teil der Asche Buddhas enthielten, später auch von besonders heiligmäßigen Mönchen, die die Buddha-Natur erlangt hatten. Als Tumulus-Grabmonumente symbolisieren sie die letzte Vollendung, das Eingehen ins »vollkommene Erlöschen« (pari-nirwâna). Auch wenn eine Buddha-Reliquie im Kern oft nicht möglich war, so konnten doch auch heilige Texte (»Wer die Lehre sieht, sieht mich«) als Wort-Leib des Buddha und später auch Bildnisse auf das Eigentliche verweisen. Auch der bloße Anblick von Stupas galt als Erinnerung an die Erlösung im Nirwana, ans Ende des Leidens und das höchste Glück. »Die Halbkugel symbolisiert den Kosmos, die runde Basis das Rad der Lehre, der Pfosten den Baum der Erleuchtung bzw. die Weltachse, die drei Ehrenschirme auf der Spitze des Pfostens spirituelle Macht und die drei Juwelen, Buddha, Dharma und Sangha.« 787

Seitz, Die Bildsprache des Buddhismus, S. 19. Seitz, a. a. O., S. 20 f. 786 Seitz, a. a. O., S. 46–59 gibt einen guten Überblick über die Entwicklung der Symbolik, Grundriss und Architektur bis hin zu den ersten Pagoden. 787 Seitz, a. a. O., S. 49. 784 785

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Das Wesentliche und Verehrungswürdige im Kern war also unsichtbar, den Blicken entzogen, auch wenn die Außenseite der späteren Stupa-Säulen oft bildreiche Reliefs schmückten, die das Leben Buddhas oder buddhistischer Könige erzählen. Sie wurden später zur inneren Achse der in China, Japan und Korea entstandenen Pagoden, die dann eine Kugel oder halbkugelige Schale mit der Asche am oberen Ende enthielten 788. Diese Pagoden sind um den Zentralpfeiler herum angeordnete Bauwerke mit 4, 8 oder 12-seitigen Stockwerkkonstruktionen und stellen ein architektonisches Welt-Bild dar. Auch wenn sich in den Innenräumen Bilder befinden: der innerste Kern als »apersonales, nur anikonisch repräsentierbares Numen« 789 ist den Blicken entzogen. Aber von ihm ausgehend entstehen alle Manifestationen des Buddha-Wesens. »Die wimmelnde Gestaltenfülle der Reliefs […] umgibt das Heiligtum, in dem der Buddha durch seine Reliquien anwesend ist, […] nur an der Peripherie und bildet den Grenzbereich zur profanen Welt«. (Damit entsprechen sie den orthodoxen Ikonostasen!) So »ermöglichten es die Symbole, inmitten der Menschenund Lebensfülle der illustrativen Szenen ein ausgespartes Zentrum der Leere, der Stille und der Versenkung zu schaffen, das dem religiösen Sinn der Buddhagestalt und der Lehre von seinem Eingehen ins Nirwana genau entsprach und suggestiver wirkte als eine Menschengestalt inmitten vieler anderer.« 790

2.4.6 Buddhabildnisse und buddhistisch-daoistische Kunst »Ein Körper für den Buddha« – unter dieser Überschrift beschreiben Trojanov und Hoskoté eine einschneidende Änderung buddhistischer Kultur unter dem Einfluss des Kushana-Reiches, das zu seiner Blütezeit unter Kaiser Kanishka nicht nur Nordindien und das heutige Afghanistan, sondern auch Pakistan und Teile des Irans und Chinas umfasste. Die Bevölkerung der Kushanas war ethnisch ungeheuer vielfältig und bestand aus Nachkommen einer Mischung von »Yuezhi (indogermanischen Nomaden aus Nordwestchina, die eine iranische Sprache sprachen) und der lokalen Bevölkerung, die bereits indische, 788 789 790

a. a. O., S. 57. Seckel, a. a. O., S. 48. a. a. O., S. 21.

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griechische, baktrische und skytische Vorfahren hatte.« 791 Die offene tolerante Gesellschaft der Kushanas ermöglichte dem Buddhismus zum ersten Mal den Kontakt mit nichtindogermanischen Kulturen: man musste sich mit unterschiedlichen religiösen Vorstellungen arrangieren und sich den Einflüssen des persischen Mithras-Kultes, des Zoroasmus und griechischer Götterbildnisse aussetzen und mit ihnen auseinandersetzen. »Im ersten Jahrhundert nach Christus wird Buddha zum ersten Mal figürlich abgebildet. Um die Tragweite dieser Neuerung zu verstehen, sollte bedacht werden, dass der Buddhismus ursprünglich eine bilderfeindliche Religion war. […] Der Erleuchtete hatte seinen Schülern ausdrücklich verboten, seiner mittels Bildern zu gedenken. Dieses Verbot war sieben Jahrhunderte lang befolgt worden.« 792

Für Trojanov und Hoskoté entstand so ein Dammbruch, und zeitgleich mit der Popularisierung des Mahayana-Buddhismus nicht nur ein neuer Stil, der Gandhara-Stil, sondern »im Grunde auch eine neue Religion« 793 und mit dem Konzept und der Figur des barmherzigen Beschützers auch ein bedeutender Laienbuddhismus. Im Rahmen zunehmender Ikonisierung, aber auch der immer stärker einwirkenden Bedürfnisse volkstümlicher Frömmigkeit – auch im Hinduismus und Jainismus entstanden etwa zeitgleich in Indien Bildnisse – entstanden dann im Mahayana-Buddhismus weitere ikonische, personale Buddha-Bilder in menschlicher Gestalt. 794 Doch da aus buddhistischer Sicht der menschliche Körper »aus einer zufälligen, sich stets wandelnden vergänglichen Anhäufung aus Daseinskonstituentien« besteht, die sich bei jeder Wiedergeburt neu und anders formieren, und da »ausschließende Subjektivität« fehlt, 795 kann die Intention der Buddhabildnisse nicht das Abbilden einer historischen Person und eine anatomisch wirklichkeitsgetreue Zeichnung eines individuellen, nicht dauerhaft gültigen und verbindlichen Bildes gewesen sein. Vielmehr muss er »überhöht, übermenschlich, und der Zeit enthoben« dargestellt werden, »um, dem Glauben entTrojanov/Hoskoté, Kampfabsage. Kulturen fließen zusammen, S. 177 f. a. a. O., S. 178. 793 a. a. O., S. 179. 794 Seckel, a. a. O., S. 31. 795 Seitz, a. a. O., S. 60, und Radaj, a. a. O., S. 14. Ausführlicher zur Lehre der fünf (vergänglichen und stets wandelbaren) Daseinskonstituentien, aus denen sich die empirische Person zusammensetzt, s. Seitz, a. a. O., S. 80. 791 792

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sprechend, die ›verborgene‹ Gestalt hinter der Gestalt, sein wahres Wesen zu vermitteln, – das ja vor allem in der Meditation, der entscheidenden Praxis, erfahren wird.« 796 Dabei gibt es neben einigen Sutren genaue ikonographische Handbücher, die die typisierende Darstellung des Buddha festlegen: Körperhaltung, Kleidung, Handgesten (Mudras) 797 und zugeordnete Symbole. Kirfel führt 32 Körpermerkmale an, die bereits in den Paliund Sanskrit-Sutren für beide große Richtungen des Buddhismus beschrieben werden, 798 und verweist auf einen weiteren Katalog von 80 sekundären Zeichen. 799 »Jede Einzelheit hat einen ikonographischen, ins Bild eingeschriebenen Aussagewert, der über die pure Abbildung hinausweist. […] Dabei behandelt die Ikonometrie die Spezialfrage der Körperproportionen. Für die einzelnen Gestalten sind verschiedene Maßverhältnisse vorgeschrieben, normativ gesetzte Symbolmaße, die nicht dem natürlichen Menschenkörper entsprechen. […] Sein Kopf zeigt eine halbkugelige Scheitelerhebung (skrt. Ushnida), Symbol seiner Erleuchtung und Weisheit: im Lauf der stilistischen und regionalen Entwicklung des Buddhabildnisses nimmt der Ushnida verschiedene Formen an, bleibt aber in der Bedeutung identisch.« 800

Kirfels ikonographisches Handbuch zeigt Normen der Darstellung nicht nur der 24 Vorzeit- und des Zukunftsbuddhas Maitreya, der 5000 Jahre nach dem historischen erwartet wird (sechs der Vorzeitbuddhas hat bereits der historische Buddha mit Namen aufgezählt): denn »immer, wenn das heilige Gesetz geschwunden war, erschien ein neuer Buddha, um es wieder aufzurichten. Die Zwischenzeiten zwischen je zwei Buddhas waren zunächst sehr lang, nahmen dann aber nach der Gegenwart immer mehr ab. Desgleichen wurde ihre Lebensdauer immer kürzer, bis sie schließlich nur mehr das normale Maß erreichte.« 801 Auch fünf transzendente Buddhas, die im Gegensatz zu den historischen zeitlos, den Naturgesetzen enthoben und stets präsent sind (sie werden den fünf Himmelsrichtungen N, S, W, O und Mitte und jeweils zu verwendenden Farben zugeordnet), werden mit Normen der Darstellung belegt. Gleiches gilt für das Heer der BodhiSeitz, a. a. O., S. 60. Eine genaue Deutung von 19 ein- und beidhändigen Mudras sowie von Sitz- und Standposen gibt Kirfel, Symbolik des Buddhismus, S. 34–39. 798 Kirfel, Symbolik des Buddhismus, S. 35 f. 799 Grünwedel, Buddhistische Kunst in Indien, S. 138 f. 800 Seitz, a. a. O., S. 60 f. 801 Kirfel, Symbolik des Buddhismus, S. 31. 796 797

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sattvas, die im Unterschied zu den Buddhas über die Lehre hinaus Heilsbeistand leisten können, 802 jeweils mit Zeichen, deren Sprache genau zu deuten ist, sodass eine reiche buddhistische Formensprache entsteht. (So z. B. ist Nagarjuna seinem Namen gemäß mit einer weißen Schlange dargestellt, die als Symbol für besondere Klugheit galt.) Zwar bezeichnet die Legendenbildung den historischen Buddha als göttlich, (einschließlich eines Verkündigungstraums, bei dem ein weißer Elefant eine Rolle spielte, unbefleckter Empfängnis (der »Heilige Geist blies«), Wandeln auf Wasser etc.), und sucht für den historischen Buddha nach einem »ersten Bildnis«, einem »vera icon«, als dessen Repliken viel spätere Bildnisse gelten könnten. Doch können auch diese Bilder – oft mit stark typisierter Physiognomie – als Symbole gelten, 803 denn oftmals wird »das personale Buddha-Bild, die der Verehrung dienende Statue, erst wahrhaft lebendig und im rituellen Sinn gültig, wenn in ihr oder ihrem Sockel Reliquien deponiert sind; sie werden von einem mandala-artig in Fächer aufgeteilten Steinkasten (yantragala) umschlossen. Das yantragala repräsentiert symbolisch die Macht und Gegenwart des Buddha und zugleich das kosmische Universum, über das die welttranszendierende Buddhastatue emporsteigt. In vielen buddhistischen Ländern enthalten Buddha-Statuen häufig heilige Texte und Formeln, die eine andere, nicht minder wesenshaltige Form des Buddha-Leibes sind.« 804

Das Außen der Gestalt umhüllt also wieder wie bei den Pagoden den Wesenskern und verweist keineswegs nur auf den historischen Buddha, sondern viel mehr noch auf die ewige Buddha-Natur, die jedem zuteil werden kann. »Vom Standpunkt des befreiten, erleuchteten Bewusstseins sind alle Bilder wesenlos, ohne wahre Realität, pratimâ – Bild, Bildnis – ist nur ein scheinhaftes Abbild temporärer Phänomene, ein partikularer Aspekt, eine ephemere Manifestation der in ihrer Totalität und Absolutheit nicht fassbaren Wirklichkeit und Wahrheit. Dem Bild wird also kein hoher Rang beigelegt, und die Sanskrit-Termini, wie z. B. pratibimba oder pratirûpa, haben neben ihrer neutralen Bedeutung »Abbild eines wirklichen Gegenstandes, Darstel-

Schumann, Buddhistische Bilderwelt, S. 81–160. Für Seckel, a. a. O., S. 37 »[…] sind die vollkommensten Buddha-Bilder durch ihre eigentümliche, überrealistische und formalisierte Gestaltungsweise so sehr aus der empirischen Realitätswelt, dem Samsâra- Bereich entrückt, dass sie in ihrer […] Transzendenz und Abstraktion wiederum den Charakter von Symbolen bekommen«. 804 a. a. O., S. 45. 802 803

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lung. Bildnis« eine deutlich abwertende Färbung: das Bild enthält keine Wahrheit, es ist ein Schatten oder eine Spiegelung, ein Trugbild, eine Kopie, vielleicht sogar eine Fälschung. In der bloß phänomenalen Erscheinung des Buddha wird sein wahres Wesen (buddhatâ) unfassbar.« 805

Bildlichkeit muss sich also in Bildlosigkeit wandeln, um dem Ziel der losgelösten »Leerheit« näherzukommen. Da kein Begriff von Person existiert (übrigens auch kein Begriff vom Begriff), existiert auch erst recht kein personaler Gott, und daher besteht bei den Buddha-Bildnissen auch keine Gefahr der Idolatrie. Der historische Buddha hat einen Weg gezeigt, wie jeder das abhängige illusionäre Sein der Phänomene transzendieren und zum Einssein mit allem gelangen kann, und dabei ist ein Bild »eher eine hinderliche Verhüllung und fesselnde Verdinglichung, die uns auf einer vorletzten und früheren Stufe festhält und uns die Freiheit des infinitesimalen Fortschreitens und des letzten, entscheidenden Durchbruchs raubt. 806 Was kein Schattenbild verursacht, hat wahres Sein«. 807 Es ergibt sich also eine Rangfolge: Bild – Symbol – Schriftzeichen, und diese führen immer abstrakter zu immer reinerer Wesensschau: Diese Rangfolge wird z. B. bei japanischen Tempelbannern ganz klar dadurch ausgedrückt, dass unten die Buddha- oder Bodhisattva-Figur steht und »darüber das zugehörige, noch gegenständliche Kultsymbol und zuoberst das abstrakte Siddham-Zeichen erscheint«. Das figürliche Bild gehört zur offenen, d. h. »exoterischen« Lehre und dient als hilfreiches Mittel, während die jenseits der Bildlichkeit stehenden Symbolzeichen esoterischen Charakter haben und nur den auf höhere Stufen gelangten Eingeweihten zugänglich sind. 808 Das bedeutet, dass anikonische Symbole und Schriftzeichen – auch die sind in China und Japan oft piktographischen Ursprungs, »präsentative Symbole« 809 – ihren Stellenwert nicht nur behalten, sondern sogar als höherwertig anzusehen sind. Sie weisen den Weg zur Entbildlichung und helfen beim Abbau anthropomorpher Vorstellungen des Göttlichen.

a. a. O., S. 39. a. a. O., S. 64. 807 a. a. O., S. 66. 808 a. a. O., S. 52. 809 Heise, Präsentative Symbole, beschäftigt sich intensiv mit japanischen Schriftzeichen. 805 806

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Hier muss die Lehre von den verschiedenen »Körpern« des Buddha genannt werden, die darauf explizit hinweist, denn sie unterscheidet den »Anpassungsleib«, der sich inkarniert hat in der Welt der Phänomene, vom »Verklärungsleib«, der nur dem schauenden Auge im Jenseits zugänglich ist und vom »absoluten Wesensleib«, der sich jeder Anschauung entzieht und sich jenseits aller Formen befindet, wo auch geistige Vorstellungsbilder und jede bildgestützte Meditation versagen. 810 Im Zen war man überzeugt, dass auch das Wesentliche eines Menschen, manchmal meditativ durch Mandalas symbolisiert, der Abbildbarkeit entzogen ist: »[…] gerade die Zen-Anhänger waren davon überzeugt, dass dies Wesentliche, das ›Herz‹ in seiner Identität mit der Leerheit, am besten in der nichtbildlichen, nicht gegenständlichen Form der ›Tusche-Spuren‹ eines Erleuchteten zur Manifestation gelangt – die auch durch den Sinngehalt ihrer Worte – dicht an die Grenze der Unsichtbarkeit, Gestaltlosigkeit oder Leere heranführen. […] Die Zen-Anhänger ließen Buddha-Bilder gelten und errichteten selbstverständlich Statuen in ihren Tempeln, aber sie nahmen ihnen gegenüber eine Haltung völliger innerer Unabhängigkeit ein: Bilder waren im Grunde irrelevant und eben deshalb tolerabel.« 811

Viel eher sind es die Zen-Gärten, die sinnbildhaft für Ewigkeit (Steine, Felsen) und Bewegung der Natur (Gewässer) stehen, in denen der geharkte Sand für flüchtige und verwehbare Spuren des Menschlichen in der Natur steht oder für Wellenlinien, die das unermessliche Meer symbolisieren. Hier kann es um Nishitanis meditative »Transdeszendenz«, einen Rückgang des Menschen in sich selbst gehen, aber auch, wie bei der Malerschule der Literati im kaiserlichen China, um Bilder als Anlass zur ethischen Reflexion. 812 Wie bereits gesagt, geht es aber seit dem Eintritt des Buddhismus in den chinesischen Raum nicht um ein Sehen, das zum Denken – und darüber hinaus – führen soll, sondern um ein Sich-Einschwingen in das Prozesshafte der Natur. Als paradigmatisch kann hier die Kunst des Tuschezeichnens in China und Japan genannt werden, aber natürlich gibt es auch Folgen für das Bilderschaffen, das man eher aus produktionsorientierter PerSeckel, a. a. O., S. 38. a. a. O., S. 64. 812 vgl. Welter, Monks, Rulers and Literati. The Political Ascendancy of Chan Buddhism. 810 811

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spektive sieht. Es geht also auch bei nichtsakraler Kunst keineswegs um ein Sehen oder Abbilden nach westlicher Vorstellung. Die chinesische Berg-Wasser-Malerei, die sich bereits entwickelt hatte, als der Buddhismus nach China kam, kann sich also nicht als »Sein« konstituieren und »als Gegenstand mit scharfen Kanten dem Auge oder dem Geist gegenüberstellen.« Sie kann auch »nicht dem Paradigma abendländischer Ästhetik genügen, nach dem sich eine Form mit Stoff verbindet und diesen in-formiert«, sondern auch sie ist ein Versuch, sich dem »nichtobjektivierbaren Quellgrund der Dinge zu nähern«. 813 Und das hat durchaus religiöse, und zwar buddhistisch-daoistische, Dimensionen: Diese reichen von Meditation über »mystische Hingebung« und »Auflösung des Selbst im Gefühl des Alls« 814 bis zum »Betrachten des Dao«, 815 da es mit bewusst unscharfen, perspektivlosen Bildern um Sichtbarmachung des Geistigen, des Unsagbaren und Gestaltlosen hinter den Gestalten geht. Das Bildnis ist also von Anfang an als Manifestation kosmischer Kräfte zu verstehen, die durch den Menschen hindurch wirken, weshalb Obert, der sich für die vormoderne chinesische Berg-WasserMalerei auf eine Fülle von zeitgenössischen Kommentatoren stützen kann, auch von der Performativität des Bildes redet und deutlich macht, dass semiotische Ansätze, die das Bild als Zeichen des Abgebildeten sehen, demgegenüber zu reduktiv sind und zu kurz greifen: 816 Sie gehen so am Wesentlichen vorbei. Denn es geht wie bei der Schreibkunst und ihrem kulturprägenden Umgang mit Pinsel und Tusche auch in der chinesischen Malerei um aisthetischen Lebensvollzug. 817 (Und hier muss man bewusst an beide Zweige der Aisthesis, an Wahrnehmung und Empfindung, denken.) Sie muss die Leiblichkeit des Künstlers einbeziehen, mit der er seinen Ort im lebendigen Kosmos finden und darüber hinaus den Weg des Dao gehen kann, das jenseits aller Bestimmungen liegt und dennoch der Urgrund von allem ist. Erstarrung in einer Form ist da nicht naturgemäß, und auch die Form der chinesischen Wand- und Rollbilder zeigt die prinzipielle

813 814 815 816 817

Jullien, Das große Bild hat keine Form, S. 9 f. So schon 1943 Fischer, Chinesische Landschaftsmalerei, S. 190. Obert, a. a. O., S. 74, FN 22. Obert, a. a. O., S. 85 ff und 58. Escande, L’art en Chine. La résonance intérieure.

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Unabgeschlossenheit, die zu einer Resonanz herausfordert, denn es können von den Betrachtern durchaus am unteren Ende der Bildrollen Ergänzungen oder Siegel angebracht werden. 818 »Buddhistische Kunst, namentlich in Plastik und Malerei, steht vor der paradoxen Aufgabe, etwas grundsätzlich Unanschauliches in anschauliche Gestalt zu fassen, wobei sie gleichzeitig die Erscheinungsformen transzendieren und doch bewahren, ja mit tieferem Sinn erfüllen muss. Dies ist umso schwerer, als das Phänomenale, obwohl es ja das Absolute repräsentiert und manifestiert, doch als wesenlos gilt und jede Form also im letzten Grunde uneigentlich ist. Form […] muss, besonders nach ostasiatischer Anschauung, so beschaffen sein, dass sie bis zum Jenseits aller Unterscheidungen aufsteigt, sie muss […] sich gleichsam von dem metaphysischen Grunde umgreifen lassen und ›offen‹ bleiben. […] Die Form – vor allem in religiöser Kunst – […] kommt ihrem Wesen und Sinne nach aus dem Formlosen und kehrt zu ihm zurück, zum Indeterminierbaren, zur Leere, in der freilich alle Form begründet ist.« 819

Das eingangs von Nishida erwähnte »Nichts« ist also nicht nichts. Eine »Ästhetik der Leere« – so auch in der japanischen Innenarchitektur – meint die Absenz von gegenständlich Seiendem, die man in der Vorstellung anstreben soll. Denn das Leerwerden ist eine Vorübung auf dem Weg zur eigentlichen vollkommenen Wirklichkeit, in der man in einer höheren kosmischen Einheit aufgehen kann.

2.5. Erstes Zwischenfazit »Ich bin Hindu, Moslem, Christ und Jude« soll der berühmteste Hindu aller Zeiten, Mahatma Gandhi, gesagt haben, 820 der 1947 mit gewaltlosem Widerstand die Macht der englischen Kolonialherren brechen konnte und Indiens Weg in die Unabhängigkeit ermöglichte. Gandhi hielt wie Martin Buber die christliche Bergpredigt für einen der wichtigen Texte der Menschheit. Man mag aus »westlicher« oder islamischer Sicht von solchem Synkretismus befremdet sein (obwohl auch der islamische Sufismus mit seiner Liebesethik tolerant gegenüber allen Religionen war und daher der Orthodoxie immer schon Obert, a. a. O., S. 85. Seckel, Buddhistische Kunst Ostasiens, S. 182. 820 Weshalb fehlt der Buddhismus? Weil Buddha aus Hindu-Sicht auch Hindu war, oder weil es im Buddhismus keinen Personbegriff bzw. keine Vorstellung von Seele gibt? 818 819

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Erstes Zwischenfazit

suspekt). Doch es handelt sich hier nicht um eine Religion des kleinsten gemeinsamen Nenners, die alle Unterschiede wegleugnet oder nivelliert. Denn gerade der Hinduismus ist aufgrund seiner grundsätzlichen Pluralität prädestiniert, Unterschiede gelten zu lassen und Anderes als Bereicherung zu sehen, und trotzdem durch die Unterschiede hindurch, die nicht als andersartig und als Gefahr abgewehrt werden müssen, das zugrundeliegende Eine im Auge zu behalten. Es mag mitspielen, dass in der buddhistischen Logik Gegensätze nicht als kontradiktorisch im Sinne der aristotelischen Logik, sondern als komplementär gesehen werden. 821 Vor diesem Hintergrund ist auch die sog. Ramakrishna-Mission des Neohinduismus zu sehen, denn Shrî Râmakrishna (1836–1886) war die erste geistige Autorität der Neuzeit, die die innere Einheit aller offenbarten und orthodoxen Religionen lehrte. Er hatte nicht nur die jeweiligen Heiligen Schriften studiert, sondern soll auch eine unmittelbare Erfahrung des Christentums und des Islam gehabt haben. Und auch Cusanus hatte von einem Zusammenfall der Gegensätze in einem jenseitigen Unendlichen, in Gott, gesprochen und von einer Religion »in rituum diversitate«. In der Tat habe ich gezeigt, dass die großen Religionen neben gravierenden Unterschieden auch viele frappierende Gemeinsamkeiten aufweisen, Überschneidungen, die uns das Verstehen erleichtern, weil die »anderen« Religionen sich nicht als total fremd erwiesen haben. Schöpfungsmythen, Heilserwartung und Hoffnung auf Erlösung, Vorstellungen von Transzendenz und Immanenz in unterschiedlicher Ausprägung, Versenkung in Gebet bzw. Meditation und vor allem die sich oft so ähnliche Mystik der Religionen, verbunden mit Zügen negativer Theologie, das sind Gemeinsamkeiten, die sich in unterschiedlicher Akzentuierung überall wiederfinden lassen. Gerade für die Mystik konnte ich zeigen, dass die großen abrahamitischen Religionen sich in dieser Frage auch untereinander beeinflusst haben, und auch die Ähnlichkeit des Sufismus mit der Advaita-Vedanta und der taoistischen Mystik ist bemerkenswert. 822 Ich konnte 821 vgl. Münnix, Kontradiktion und Komplementarität. Ist »die« Logik universal? In: Bickmann/Scheidgen et al. (Hg.), Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik, S. 265–280. 822 Izutsu stellt sogar in einer vergleichenden Analyse unglaubliche Ähnlichkeiten zwischen Sufismus (bei Ibn Arabi) und Taoismus (bei Lao-Tse und Tschuang-Tse) fest, sogar im Bereich der Existenz des Absoluten, wo Ibn Arabi sogar von »Atmen«

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Kein Bildnis machen? Bildauffassungen in religiösen Kulturen

auch zeigen, dass die Strömungen negativer Theologie unterschiedlich stark ausgeprägt sind: Während sie im Judentum und Islam vorherrschend sind und zu Bilderverboten bzw. auch zu Umgehungstechniken geführt haben, sind sie im Christentum – nicht nur wegen seiner Abkunft aus dem Judentum – durchaus immer schon umstritten gewesen, weshalb es heute Bildlosigkeit, Bildscheu und – in geringen Maßen – Bilderverehrung nebeneinander gibt. Die pauschalen Klischees vom bildervergötzenden und daher heidnischen »Westen« sind also eher unangebracht. Und auch im Buddhismus gibt es bei genauerem Hinsehen keineswegs Anbetung von Buddha-Abbildern: Die Bildnisse müssen in ihrer Zeichenfunktion gesehen werden und verweisen auf die in jedem Menschen angelegte Buddha-Natur, und damit auf ein Jenseits von Bild und Sprache. Und das ist tatsächlich meist auch im bilderfreundlichen Hinduismus der Fall, denn über jedes Bild, das als Verkörperung eines Gottes verehrt wird, kann man das dahinterstehende eine kosmische Urprinzip verehren, das die Inkarnationen des Göttlichen in Gang gesetzt hat. Stoddarts Klassifikation religiöser Kulturen als »ikonodul« bzw. »anikonisch« greift also bei weitem zu kurz. Denn es gibt schon innerhalb der jeweiligen Religionen oft große Bandbreiten und Verschiedenheiten im Umgang mit Bildern und den Zeichen, die sie ersetzen sollen; und nicht selten haben die Bildnisse auch Zeichenfunktion. Was genau ist im Bild präsent, und wie? Und was genau bedeuten Zeichen? Erlauben sie Zugang zu einer Sinndimension, die uns sonst verschlossen wäre, oder versperren sie uns bewusst etwas, das unerreichbar bleiben muss? Diese im Hintergrund stehenden Fragen sind auch von Bedeutung für den philosophischen Bilderstreit um Semiotik und/oder Phänomenologie, um Absenz oder Präsenz. Die Analyse hat auch gezeigt, dass »unser« meist zweidimensionaler Zeichenbegriff zu kurz greifen kann: Auf dem Hintergrund der (statischen) platonischen Zweiweltentheorie und den seit dem Höhlengleichnis paradigmatischen optischen Metaphern für Denk- und Erkenntnisprozesse hat sich ein Primat des Sehsinns für unsere Naturverhältnisse und unsere Naturerkenntnis entwickelt, den wir so in anderen Kulturen nicht voraussetzen können. Wir »sehen« uns als Subjekte Erkenntnisobjekten gegenüber und haben einen aktiven spricht. S. etwa S. 487 ff das Kapitel »The Self-Evolvement of Existence«. (S. 488: »The creative drive of Existence gushes forth out of the depth of Absolute. This is the phenomenon which Ibn Arabi calls the ›breath of the Merciful‹.«)

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Erstes Zwischenfazit

Blick entwickelt, der in Bildern mit zentralperspektivischen Darstellungen genau diese Art des Sehens imitieren wollte. Genau diese Art des aktiven Sehens aber galt im Islam als suspekt. Hier hat sich nach heftigen philosophischen Auseinandersetzungen keine Optik des Blicks, sondern eine des Lichts entwickelt, 823 denn man muss sich vom göttlichen Licht erfüllen lassen, wozu Plotins Lichtmetaphysik und sein Emanationsgedanke beigetragen haben. Es wird nun auch deutlich, weshalb postmoderne Denker in der Nachfolge Heideggers, der einem »Vernehmen des Seins« das Wort redet, eine Abkehr vom Visualprimat nach westlicher Vorstellung fordern. 824 Denn mit dem Paradigma der Pluralität muss man offen für andere kulturelle Prägungen auch im Bereich der Sinneswahrnehmungen werden und sich um Verstehen des Andersartigen bemühen. Doch wie wir sahen, kann es auch und schon im Bereich des Sehens unterschiedliche kulturelle Prägungen geben, deren Kenntnis für besseres Verstehen unerlässlich ist. Ich hatte bereits an anderer Stelle in Bezug auf eine postmoderne »Aisthesis als Moral der Sinne« gezeigt, dass eine vertikale und horizontale Dekonstruktion der sog. »Fünfsinne« zutage bringt, dass es nicht nur historische, sondern auch kulturelle Normierungen von Wahrnehmung gibt. 825 Allerdings geht Welsch, wie man sehen konnte, mit seiner Forderung nach einer »Kultur des Hörens« und seiner (guten) vergleichenden Analyse von Gesichts- und Gehörsinn (u. a. stellt er Gegenstands- gegen Sozialorientierung) nicht weit genug. (In frühen vedischen und ayurvedischen Schriften wird z. B. besonders der Geschmackssinn analysiert. 826) Offensichtlich ist, dass sich das Judentum durch das Bilderverbot zu einer Kultur des Hörens entwickelt hat und eine ganze Symbolkultur ersann, um der zutiefst heidnischen Vorstellung von Realpräsenz des Abgebildeten im Bild zu entgehen. Und bewegt man sich gar in den Bereich des prozesshaften chinesischen Denkens, so wird klar, dass die Rede von Abbild und Urbild, bzw. vom Zeichen als Hinweis auf ein wie auch immer geartetes Urbild kaum Sinn macht, denn es geht mit dem Paradigma des Atmens und propriozeptiven, eigenkörperlichen Wahrnehmun823 824 825 826

In diesem Punkt folge ich Belting, Florenz und Bagdad, a. a. O. s. Heidegger, Holzwege, S. 33 und Welsch, Grenzgänge der Ästhetik, S. 231–259. Münnix, Zum Ethos der Pluralität, S. 210–213. Jütte, Geschichte der Sinne von der Antike bis zum Cyberspace, S. 33.

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Kein Bildnis machen? Bildauffassungen in religiösen Kulturen

gen um ein Sich-Einschwingen in rhythmische Naturprozesse, in die man sich auch mit der Produktion von Bildern stellte. Auch hier steht unsere Art des Sehens und Abbildens keineswegs im Vordergrund, denn wir denken nicht ausschließlich in Kategorien des Wandelbaren. Ein zweidimensionaler Zeichenbegriff ist eher statisch zu denken. Während das »westliche« Sehen Distanzierungsleistungen (von Subjekt und Objekt) beinhaltet, ist das chinesische eher auf Einheit gerichtet und will die Harmonie mit der prozesshaften Natur nicht versperren, denn auch über sie führt ein Weg zur Transzendenz. Für das Philosophieren über und mit Bildern ergeben sich hier aus den geschilderten Zusammenhängen mit je anderen Zugängen zur Wirklichkeit, davon bin ich überzeugt, Vorprägungen für das jeweilige Bilddenken, die die Positionen im aktuellen philosophischen Bilderstreit beeinflussen. Hier muss ein ganz anderes Panorama entfaltet werden. Und von diesem ganz anderen Bilderstreit soll im folgenden Teil die Rede sein. Auch er kann in eine Art Kulturkampf ausarten, wie sich zeigen wird.

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3. Der philosophische Bilderstreit

3.1. Was ist ein Bild? 3.1.1. Der Mensch als homo pictor: Bilder als Existential In unserer alltäglichen Lebenswelt sind wir nicht erst seit dem sog. iconic/pictorial turn 1 von einer Bilderflut umgeben, die sich durch die neuen sozialen Medien noch einmal gesteigert hat. Und vielleicht verhält sich das Anwachsen der Bilderflut umgekehrt proportional zu unserer Fähigkeit zu sagen, was eigentlich ein Bild ist. Neben digitalen und auch digital bearbeiteten Bildern haben wir illustrierte Zeitschriften, Fotografien zu allen möglichen Zwecken, nicht nur wie früher zum Festhalten denkwürdiger und erinnerungswürdiger Augenblicke, Film- und Fernsehbilder, die durch neue Aufzeichnungs- und mediale Abrufmöglichkeiten ubiquitär und immer wieder neu verfügbar sind, Familienfotos in Clouds und vielfach geteilt in sozialen Netzwerken, Gemälde in Museen, Zeichnungen, Karikaturen, aber auch Gebrauchskunst, Fotos in Reise-, Möbel- und Modekatalogen, Piktogramme und andere visuelle Symbole wie Verkehrszeichen etc. sowie Videoaufzeichnungen zur Überwachung gefährlicher Orte und gefährdeter Objekte. Man kann sich aber auch im Netz Fotos von infrage kommenden Hotels ansehen oder alle Skulpturen, die ein bestimmter Bildhauer geschaffen hat, und mit Virtual Reality-Brillen kann man die Räume berühmter Museen begehen, ohne dorthin zu fahren. Das war nicht immer so. Doch Bilder begleiten den Menschen seit jeher. Seit frühesten Zeiten sind Funde von Zeichen in Fels und Malereien in Höhlen bezeugt, die über Beschreibung des Menschen als »homo faber« hinausDer »iconic turn« weist auf eine an der Hermeneutik orientierte Bildwissenschaft, der »pictorial turn« orientiert sich am Bildgebrauch in Alltagskultur und Wissenschaft. Vgl. Boehm, Iconic Turn. Ein Brief, sowie Mitchell, Pictorial Turn. Eine Antwort, in: Belting, Bilderfragen, S. 27 ff und 37 ff.

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Der philosophische Bilderstreit

gehen. Intelligenten Werkzeuggebrauch, das wissen wir heute, finden wir nicht nur bei den höheren, sondern auch niederen Tieren. Aber dass man sich Werkzeuge, wie Faustkeile, Farben und Spachtel, so herstellt und zurichtet, dass man damit kreativ etwas gestaltet, dem auch andere Bedeutung beilegen oder mit dem sie etwas verbinden können, das scheint ein Spezifikum menschlicher Existenz zu sein. Ein solches Merkmal nennt Heidegger »Existenzial«. Tiere verfertigen keine Bilder. Doch seit frühesten Zeiten ist für Menschen kreatives bildhaftes Gestalten bezeugt. So waren z. B. die altsteinzeitlichen Ureinwohner der Kanaren, die Guanchen (sie waren wohl Berber) bereits in der Lage, ein stark vereinfachtes Zeichen für »Mensch« in den Fels zu hauen oder zu malen und deuteten damit wohl an, dass an bestimmten Orten in der zerklüfteten unwirtlichen Felsenlandschaft Menschen zu Hause bzw. menschliche Siedlungen zu finden waren. Und die uns erhaltenen Höhlenmalereien in Spanien und Frankreich bezeugen bereits ein differenziertes ästhetisches Empfinden, denn man nutzte geschickt Unebenheiten der Höhlendecken, um plastische Wirkungen, z. B. bei der Darstellung eines Bisons oder Mammuts, zu erreichen, was durch Verwendung unterschiedlicher Farben im Dämmerlicht der Höhlen ziemlich echt wirken konnte. Mag nun eine Art Bildmagie mitgespielt haben (das zu jagende Wild sollte im Bild gebannt werden) oder die Konzentration auf die zu erjagende Mahlzeit oder didaktische Zwecke (um jagdunkundigen Personen jüngeren Alters schon einmal im Bild vorzuführen, was später gejagt werden soll) oder einfach die Freude an farbigen scheinbar lebensechten Darstellungen, 2 man ist immer wieder beeindruckt, dass diese altsteinzeitlichen Malereien und damit auch die Fähigkeit zur bildnerischen Kreativität schon so alt sind. Hans Jonas sieht in dieser menschlichen Fähigkeit geradezu ein Wesensmerkmal, an dem – in einer fiktiven Situation – Weltraumfahrer, wenn sie sich »in der ihnen völlig fremden Lebenswelt eines ihnen völlig fremden Planeten umtun und sich vergewissern wollen, ob es dort »Menschen« gibt, ebendies erkennen können. »Unsere Forscher betreten eine Höhle und bemerken an ihren Wänden Linien oder sonstige Konfigurationen, die künstlichen Ursprungs sein müssen, keiner strukturellen Funktion dienen und eine optische Ähnlichkeit mit der einen oder anderen draußen anzutreffenden Lebensform aufweisen. Die heutige Forschung sieht eher keinen Zusammenhang mit der Jagd, s. Bosinski, Das Bild in der Altsteinzeit, in: Sachs-Hombach (Hg.), Bildtheorien, S. 32.

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Von ihren Lippen bricht der Ausruf: Die haben ›Menschen‹ gemacht! Warum? Die Evidenz bedarf für ihre Gültigkeit nicht der Vollkommenheit der Altamira-Fresken. Die roheste kindischste Zeichnung wäre so beweiskräftig wie die Kunst des Michelangelo. Beweisend für was? Für die mehrals-tierische Natur ihres Erzeugers; und dafür, dass er ein potentiell sprechendes, denkendes, erfindendes, kurz, ein ›symbolisches‹ Wesen ist.« 3

In der Tat finden wir seit früherster Zeit in Fels gehauene Petroglyphen mit Symbolen (mangelnde anfängliche Werkzeugbeherrschung drängte zur Vereinfachung und Abstraktion), aber man findet auch ausdrucksstarke Bilder mit bemerkenswerter optischer Ähnlichkeit, wie z. B. das wiehernde Pferd aus Mas d’Azil (Ariège). 4 Diese Bilder überraschen mit der Genauigkeit der Beobachtung von Einzelheiten, und da die Modelle in der Höhle wohl kaum anwesend waren, bezeugen sie eine Verinnerlichung von Wahrnehmungseindrücken, die dann beim bildhaften Gestalten abrufbar waren. 5 Auch für Belting hängen diese inneren und die äußeren Bilder zusammen: »Der Doppelsinn innerer und äußerer Bilder ist vom Bildbegriff nicht zu trennen und verrät gerade dadurch seine anthropologische Fundierung. Ein »Bild« ist mehr als ein Produkt von Wahrnehmung. Es entsteht als das Resultat einer persönlichen oder kollektiven Symbolisierung. Alles, was in den Blick oder vor das innere Auge tritt, lässt sich auf diese Weise zu einem Bild klären oder in ein Bild verwandeln. […] Wir leben mit Bildern und verstehen die Welt in Bildern.« 6

Geht man einmal von der Intention des Abbildens aus, so müsse man gleichzeitig an innere und äußere Repräsentation von Bildern denken. Wir machen uns ein Bild und können dies zumindest in der deutschen Sprache auf doppelte Weise verstehen. (Das Englische unterscheidet zwischen image und picture, doch auch hier muss über den Zusammenhang nachgedacht werden.) Man kann in der Tat die Rolle des Bildhaften bzw. des Symbolischen für die Entwicklung menschlicher Kultur nicht hoch genug bewerten, denn was an Ideen »auf außerkörperlichen Trägern aufgezeichnet […] und so auch un-

Jonas, Homo Pictor. Von der Freiheit des Bildens, in: Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, S. 105 f. 4 Bosinski, a. a. O., S. 56. 5 a. a. O., S. 59. 6 Belting, Bildanthropologie, S. 11. 3

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abhängig von der physischen Präsenz sozusagen abrufbar« 7 bleibt, geht nicht mit dem Tod der Erzeuger verloren, sondern erst mit der Zerstörung der außerkörperlichen Träger. Und das bringt uns zu einer weiteren Äquivokation, die uns für gewöhnlich gar nicht auffällt: Denn mit unserem Begriffsgebrauch von »Bild« können wir durchaus auch in anderer Hinsicht Unterschiedliches meinen: Mit den Aussagen »Das Bild hat einen Riss«, »Das Bild zeigt eine Vase auf einem Tisch«, »Diese Bilder sollten Kinder nicht sehen« 8 oder »Das Bild ist der abgebildeten Person sehr ähnlich« werden jeweils unterschiedliche Aspekte des Bildes benannt, die man sprachlich zum genaueren Verständnis besser trennt: Einmal ist der materielle Träger des Bildes gemeint, also z. B. eine Leinwand, eine Filmrolle oder Fotopapier, zum zweiten meint man die im Bild erscheinende Darstellung (von Husserl zur besseren Unterscheidung vom Bildträger Bildobjekt genannt), und drittens kann man auch das Dargestellte (platonisch gesprochen: das Urbild) meinen (und meint damit aber eher keine platonische Idee, sondern das im Bild abgebildete Original). Darstellendes, Darstellung und Dargestelltes sind also voneinander zu unterscheiden. »Bildträger und Bildobjekte sehen anders aus: Bei einem Passbild sieht der Bildträger wie ein flaches Stück Papier aus; wenn man hingegen das Aussehen des Bildobjektes beschreiben würde, dann würde dies zu einer Beschreibung führen, die auch auf eine bestimmte Person passen könnte, obwohl das Bildobjekt nicht wie eine Person ein realer Gegenstand ist. Es besteht meist nicht die geringste Gefahr, dass der Betrachter meint, einen realen Gegenstand zu sehen«, denn »das, was man auf dem Bildträger als Bildobjekt sieht, ist nicht physikalisch anwesend und unterliegt deshalb auch nicht den Gesetzen der Physik, wie man schon daran sehen kann, dass das, was man auf einem Passbild sieht, im Gegensatz zu einem Menschen nicht älter wird.« 9

Für Jonas ist in der bildlichen Darstellung der Gegenstand in einer neuen, nichtpraktischen Weise angeeignet (wofür das Passbild gerade

Wuketits, Bild und Evolution. Bilder: des Menschen andere Sprache, in: SachsHombach, Bildtheorien, S. 18 f. 8 vgl. Wiesing, Die bildliche Kreatur – Zwischen Interpretation und Präsentation, in. Hoeps (Hg.), Handbuch der Bildtheologie, Bd. III, S. 382. Die genannte und inzwischen übliche Unterscheidung zwischen Bildträger und Bildobjekt findet sich erstmalig bei Husserl, Phantasie und Bildbewusstsein, S. 112. 9 Wiesing, ebd. 7

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kein gutes Beispiel ist). Tierische Artefakte hingegen hätten direkte physische Verwendung in der Verfolgung vitaler Interessen wie Ernährung, Fortpflanzung (Nestbau z. B.), Überwinterung, Versteck etc. Durch welche Eigenschaften wird ein Ding zum Bild eines anderen Dinges? Jonas hält fest, dass die Darstellung nicht von vollkommener Ähnlichkeit, also keine Kopie sein darf. Diese Unvollständigkeit lasse Freiheitsgrade beim Abbilden zu, ermögliche so Stilisierung und Ausdruck und hebe das Bild damit aus dem »Kausalverkehr der Dinge« in eine nichtdynamische Existenz. 10 Die freie bildnerische Gestaltung des in dieser Weise tätigen »homo pictor« als eines bilderverfertigenden Wesens setzt so eine kulturelle Evolution in Gang, die »gekennzeichnet (ist) durch die zunehmende Kreation und Verwendung von Bildern. Dabei stellt die Höhlenkunst der Eiszeit nicht den Anfang, sondern bereits einen ersten Höhepunkt menschlicher, also vom Menschen erzeugter Bilderwelten dar.« 11 Die von prähistorischen Menschen produzierten Bilder zeigen bereits oft eine bemerkenswerte Neigung zur Abstraktion und bezeugen so einen ästhetischen Gestaltungswillen. So konnte die Schrift als Bilderschrift beginnen 12 und der soziokulturellen Evolution des Menschen einen weiteren Schub versetzen. Denn »wenn der Kunst insgesamt im Grunde eine vitale Funktion des Gemeinschaftslebens zugeschrieben werden kann und sie in der soziokulturellen Evolution des Menschen für die Bildung von personaler bzw. gesellschaftlicher beziehungsweise kultureller Identität von Bedeutung war, […] dann gilt das für Bilder in besonderem Maße.« 13

»Hätte der Mensch keine Bilder«, so Wiesing, »so wäre er dazu verurteilt, in seinem Leben ausschließlich vergängliche und anwesende Dinge sehen zu müssen. Doch durch Bilder können« (ich ergänze: vor allem heutzutage) »verschiedene Menschen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten dasselbe sehen – und zwar nur durch Bilder«. 14

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s. Jonas, Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens, a. a. O., S. 107–114 Wuketits, a. a. O., S. 19. a. a. O., S. 23 f. ebd. Wiesing, a. a. O., S. 383.

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3.1.2 Platons Mimesisverbot und seine Folgen Es mag nun nach dem Gesagten verwundern, dass wir bei Platon ein dezidiertes Verbot von Kunst finden. Noch schlimmer: Es geht ihm (im letzten Buch der Politeia) auch um ein Verbot jeglicher Bildproduktion. Wie kann man das verstehen? Ein möglicher Schlüssel zum Verständnis lässt sich sicherlich in dem (späteren) Dialog Sophistes finden. Der Dialog soll vor 347 v. Chr. entstanden sein, und auch in ihm wird die Frage gestellt, was eigentlich ein Bild sei (Soph 239 d). Auf die Frage werden zunächst Beispiele genannt (»Bilder im Wasser und in Spiegeln, sodann die gemalten und die geformten, und was es für andere noch gibt« 15). Doch die für die Philosophie so konstitutive ti-esti-Frage zielt auf das »Allgemeine in dem Allem« (Soph 240a) und bringt eine klassifikatorische Unterscheidung auf: Die Nachahmungskunst (Mimesis) beinhalte die Kunst der Trugbilder (mimesis phantastike) und die der Ebenbilder (mimesis eikastike) (264c). Hier muss man auch auf zwei verschiedene Wortwurzeln hinweisen: eikon (die Wortwurzel für »Ikone«) und eidolon (»Bildchen«, Verkleinerungsform von eidos, lat. idea; von Homer auch für die schattenhaften Existenzen der Verstorbenen gebraucht 16, daher auch die Bezeichnung phantasma.) (Der Begriff Idol leitet sich von hier ab, ebenso Ideologie (eidos legein, das durch ein Bild Lesen der Wirklichkeit), wie auch die Idolenlehre Francis Bacons, in der es um falsche Bilder, nämlich Vorurteile, geht.) Eidola aber sind bei Platon vor allem die sichtbaren Bilder. 17 Trugbilder sind sie, wenn sie wie die täuschend echt gemalten Trauben des Zeuxis, von denen Plinius berichtet, Vögel anlocken, die sich voller Gier auf sie stürzen. 18 Als Hintergrund der Diskussion muss man sowohl die Ausebd. Mouroutsou, Είκών bei Platon: Die Metaphysik des Bildes, in: Neuber et al. (Hg.), Das Bild als Denkfigur, S. 34. 17 Mouroutsou, a. a. O., S. 35. 18 Von Platon erwähnt in Protagoras 318b und Gorgias 453c (allerdings nur im Zusammenhang eines Vergleichs von Malkunst und Redekunst). Plinius berichtet auch von einem anschließenden Wettstreit der Maler Parrhasios und Zeuxis: »Nun führt Parrhasios den siegessicheren Zeuxis vor ein Bild, das noch mit einem Vorhang bedeckt ist. In der Gewissheit, ein unübertreffliches Werk geschaffen zu haben, will Zeuxis den Vorhang beiseiteschieben, muss dabei aber bemerken, dass er nun seinerseits Opfer einer Täuschung geworden ist: Der Vorhang ist das Bild, das Parrhasios gemalt hat.« (Blümle/Wismer (Hg.), Hinter dem Vorhang. Verhüllung und Enthül15 16

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einandersetzung mit den Sophisten nennen, deren Rhetorik Sokrates-Platon die Erzeugung eines zwar schönen, aber falschen Scheins vorwirft, der mit der Verfertigung von schönen Reden und scheinbarer, oberflächlicher Erkenntnis genug hat. Als weiterer bedeutsamer Hintergrund muss aber auch die These des Parmenides gelten, nach der ein Zugleich von Sein und Nichtsein nicht denkbar ist. Es geht also um »trugbildnerische Kunst« (239d) und darum, dass das wirklich Seiende wahr und nicht bloß scheinbar sein muss. Das führt auf eine paradoxale Frage zum ontologischen Status von Bildern: »Also nichtseiend, also nicht wirklich ist das, was wir ein Bild nennen?« (240b) Es geht also bei diesem nichtseienden Sein um den falschen Schein, den Bilder (evtl. auch die schönen Sprachbilder der Sophisten) erwecken und der den Zugang zum Wahren verstellt. Wirklich berühmt und wirkmächtig geworden ist Platon aber gerade mit einer solchen bildhaften Rede in einem früheren Dialog, in der er zum Zwecke der Veranschaulichung die Situation des Menschen mit Gefangenen in einer Höhle vergleicht. In dem berühmten Höhlengleichnis (Pol, 7. Buch, 514a-517a) geht es um den Zugang zur Erkenntnis des Wahren, wohingegen die Gefangenen auf ihre Wahrnehmungserfahrungen fixiert sind. Sie sind nämlich so gefesselt, dass sie den Höhlenausgang und ein Feuer, das dort brennt, hinter sich haben und auf einer gegenüberliegenden unebenen Wand nur verzerrte Schattenbilder von Menschen und Gegenständen sehen, die auf einem Gang hinter ihnen herlaufen bzw. getragen werden und diese Schattenbilder für die eigentliche Realität halten. Es bedarf aber der Ab- und Umwendung weg vom bloß Wahrgenommenen in Richtung Höhlenausgang, um – durch Denken – stufenweise aus der Höhle und der Bindung an bloße Wahrnehmungen zu gelangen und im »Licht der Erkenntnis« die eigentlichen Urbilder der schattenhaften Abbilder zu sehen. Dies sind die berühmten platonischen Ideen, die allem Sein zugrunde liegen und, wie im Phaidon veranschaulicht wird, wie die Seele in dieser idealen Existenz selber unwandelbar, ewig und aller Zeit enthoben sind, während ihre Abbilder bzw. Nachbilder, also reale Menschen, Pferde, Kleider, etc. durchaus dem zeitlichen Wandel und den entsprechenden Verfallsprozessen unterworfen sind und in vielen Variationen existieren können (Phaid 78e). Das eigentliche, also »ideale« Sein ist daher ein geistiges Sein, in dem erst lung seit der Renaissance – von Tizian bis Christo, S. 40) Parrhasios muss also als Sieger gelten, Zeuxis hatte nur Tiere, Parrhasios aber einen Menschen getäuscht.

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alle wahre Erkenntnis als Erkenntnis des Wahren möglich ist (die Seele schaut mit den Augen des Geistes), und es ist Grundlage für alle bildhaften »Abschattungen« in der Wahrnehmungswelt. Wahre Erkenntnis aber geschieht, so das Höhlengleichnis, durch Denken (durch innere Schau), und nicht durch leibgebundenes Schauen; von diesem muss man sich gerade lösen und abwenden, wenn man sich nicht mit dem falschen Schein begnügen will. Der schöne Schein (man erinnere sich an die täuschend echt gemalten Trauben des Zeuxis und seinen Wettstreit mit Parrhasios) muss also desavouiert werden, um gerade aus Sorge um »unnachdenkliche Knaben« (Pol 234 b) diese mit der wahren Wirklichkeit in Kontakt zu bringen, denn sie könnten »bei einer aus der Ferne gemachten Wahrnehmung eines Gemäldes in den sehenden Glauben geschickt werden, es handele sich um das dargestellte, wirkliche Ding selbst, nicht aber um sein Nachbild«. 19 Denn die mimetische Kunst tauche »die Dinge als ein ›menschlicher Traum für Wachende‹ (Pol 266c) in einen Modus imaginärer Verkennung«. 20 Diese Supplementierung des Seienden aber ist gefährlich. Därmann verweist zur weiteren Erläuterung dieser Gefahr auf eine Stelle im Philebos (Phil 39c), wo unklar ist, ob es sich bei einer bildhaften Erscheinung um einen lebendigen Menschen oder um ein gut gemachtes Schnitzwerk handele. Im Gedächtnis könnten falsche Vorstellungen (»falsche Ikonen«) über das Gesehene hängenbleiben, Sein und Schein könnten durcheinandergeraten. Das führt Sokrates-Platon im Dialog Kratylos dazu zu fordern, ein Bild des Kratylos möge »im Gegenteil ganz und gar nicht alles einzelne so wiedergeben, wie das Abzubildende ist, wenn es ein Bild (eikón) sein soll«, denn sonst gäbe es »zwei Kratylos« (Krat 431 b,c). Es gibt also auch gute Bilder (vor allem die in bildhafter Rede, die Platon interessieren). Solche metaphorische Redeweise wurzelt in der alltäglichen Lebenswelt (der Höhle) und ihren vorphilosophischen Zusammenhängen und ist in der Lage, in die philosophische Reflexion zu führen, dient also didaktischen Zielen. Denn der Dialektiker erhebt in Bezug auf Bilder »höchste Ansprüche: Er schafft selber philosophische Bilder, indem er sinnliche Bilder transponiert.« 21 Eidola aber (auch sie können sprachliche Bilder sein, wie die der 19 20 21

Därmann, Tod und Bild, S. 87 bezieht sich auf ebendiese Politeia-Stelle 234b. ebd. Mouroutsou, a. a. O., S. 38 f.

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Sophisten) sind also immer zu prüfen, denn sie verfälschen, zielen auf Täuschung und nicht auf das wahre Sein. Das gilt besonders für jene Bildnisse, die Wiesing als eigentliches Feindbild des Platonischen Kunstverdikts ausmacht: die unter Einbeziehung menschlicher Perspektive verfertigten Großplastiken des Phidias. Denn er will nicht davon ausgehen, dass Platon ganz allgemein jede Form von Kunst (»heute auch Picasso, Poussin und Michelangelo) – und ganz allgemein Bilder – also heute auch Urlaubsfotos, Videoclips und Poster – verbieten will«, 22 und das ein für alle Mal. Seine Interpretation dreht den Spieß um, da er »Platon nicht liest, um zu erfahren, was er über Kunst sagt«, sondern um sich zu fragen, »für welche Phänomene, das, was er sagt, sinnvoll ist.« 23 Leider habe aber Schleiermacher die Eingangsfrage des 10. Buchs »Was ist Mimesis?« (in diesem Buch will Platon sein Kunstverdikt begründen) unvollständig und missverständlich mit »Darstellung« übersetzt, was Platons verborgene Kanonvorstellung nahezu unerkennbar werden lasse: Denn »Mimesis« sei ein Oberbegriff und entspreche im Deutschen einem weiten Begriff von Nachahmung, unter den Wiesing mindestens zwei verschiedene Phänomene subsumiert, das der Nachahmung durch Darstellung und das der Nachahmung durch Imitation. 24 Eine Nachahmung beinhaltet die künstliche Herstellung von Ähnlichkeit, doch in anderer Weise: »Eine Rolex-Imitation ist eine Uhr, hingegen ist das Bild einer Rolex keine Uhr.« Die Herstellung eines materiellen Gegenstandes mit physischer Ähnlichkeit, die Imitation, versuche, selbst das zu sein, was sie nachahme. 25 Platon behandle daher alle Formen der Mimesis, also auch Bilder, als wären sie falsche und billige Imitationen, meine also wohl Bildnisse, die als Imitationen hergestellt und behandelt würden, bei denen also »Imitation und Darstellung – wie im Begriff, so auch in der Realität – zusammenfallen.« Das »Musterbeispiel für eine bildliche Darstellung, die als Imitation betrachtet wird«, sieht Wiesing in der Athena Parthenos des Phidias. 26 Diese etwa 12 m hohe, aus Gold und Elfenbein gefertigte Monumentalplastik ist zwar nicht erhalten, doch gibt es genügend Be-

22 23 24 25 26

Wiesing, Artifizielle Präsenz, S. 127. Wiesing, a. a. O., S. 126. a. a. O., S. 130. a. a. O., S. 131. a. a. O., S. 136.

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schreibungen der zeitgenössischen Historiker: Sie wurde im Vorraum des Parthenon-Tempels auf der Akropolis aufgestellt und soll etwa auf einer ausgestreckten Hand eine 2 m hohe Nike-Plastik getragen haben. Sie wurde als Kultbild verehrt, da im griechischen Verständnis die Götter in ihren Tempeln wohnen, d. h. präsent sind. Es handelt sich also um eine Inkorporierung, die dem Gottesdienst vor dem Tempel diente. Nach Wiesing geht es hier nicht mehr »darum, den Schein von etwas zu erzeugen, sondern künstlich reale Präsenz zu schaffen«. 27 Das ist umso verwerflicher, als eine besondere neue Technik zum Einsatz kam: Wie bei Michelangelos David wurden die oberen Teile der Plastik größer geformt, als es nach menschlichen Proportionen der einzelnen Teile untereinander richtig gewesen wäre, es wurde also die Entfernung des Betrachters so einkalkuliert, dass ihm das Bildnis menschenähnlich und nicht perspektivisch verzerrt erscheinen musste. Ein korrektes Vorgehen hätte alle Teile der Skulptur in ihrer richtigen Proportion zueinander abgebildet. Die etwa zehn Jahre nach der Politeia getroffene Unterscheidung im Sophistes scheint das zu bestätigen: Die ebenbildnerische mimesis eikastike gibt auf angemessene Weise die Proportionen des Abgebildeten wieder, wohingegen die Täuschbildnerei (mimesis phantastike) die realen Proportionen verstellt 28 und sich nicht am Ansichseienden, sondern an einer an menschlicher Wahrnehmung gemessenen Erscheinung für Menschen orientiert. Diese Wahrnehmungswelt ist aber nur sekundär: Im Timaios, einem Monolog, wird vom Demiurgen, dem Weltenschöpfer erzählt, und die wahrnehmbare, erzeugte Welt wird als Bild (genauer: Abbild, Nachbild) des intelligiblen Paradigmas charakterisiert. Das klang bereits im Phaidon an, in dem jeder Gegenstand unserer alltäglichen Erfahrung (Pferde, Menschen, aber auch menschliche Artefakte) nach dem Vorbild einer objektiv existierenden Idee aus dem Bereich des eigentlichen Seins gefertigt ist. (Bilder solcher Gegenstände sind also Bilder von Bildern und eigentlich tertiär.) Im Timaios ereignet sich also eine »holistische Wende«, nach der alles Wahrzunehmende Bild bzw. Abbild ist. 29 Mit Platon beginnt so »Geschichte des Bildes als Denkfigur in 27 28 29

a. a. O., S. 138. Mouroutsou; a. a. O., S. 34 f, FN 4. a. a. O., S. 47.

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der Philosophie«. 30 Zumindest kann man das für die philosophische Tradition Europas feststellen, die nach Whitehead »aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.« 31 Die Zweiweltentheorie Platons ist im abendländischen Denken, also auch über Europa hinaus, ungeheuer wirkmächtig geworden. Besonders für die Thematik der Bilder sind hier weitreichende Reflexionen über die Jahrtausende hinweg angestoßen worden. Doch nicht nur in der Philosophie, auch in der alltäglichen Lebenspraxis waren bilderfeindliche Einflüsse manifest: So berichtet Pekáry unter Erforschung historischer Quellen von der Ablehnung der bildenden Künste in der Antike. Hier sollen exemplarisch nur zwei Autoren genannt werden: So berichtet z. B. Sallust in seinem Catilina von der Verweichlichung des Heeres bei Sullas Asienfeldzug: »hier gewöhnte sich der römische Soldat zum ersten Mal daran, zu huren und zu zechen, Bildwerke, Gemälde kunstvoll gearbeitete Gefäße zu bewundern, sie aus privatem und öffentlichem Besitz zu rauben, Tempel auszuplündern und alles zu schänden, möchte es heilig oder weltlich sein.« 32 Und Cicero sei der Überzeugung gewesen, dass »Leute, die Kunstwerke bewundern, schlicht dumm« seien. 33 Da ein Bildnis in erster Linie das Äußere und nichts Wesentliches zeige, sind statuae et imagines »nicht Abbilder des Geistes, sondern des Körpers.« 34 Die Bildpraxis der Griechen war oft eine andere, und sie wurde zunächst verachtet und änderte sich im antiken Rom erst in der Kaiserzeit. Neben den vielen Zeugnissen antiker Bilderverachtung gab es aber – als andere Seite der Medaille – auch die Hochachtung für das Intelligible. Die Ideen»schau« verursachte auch in der Sprache viele optische Metaphern für Denken und Erkennen, die uns in ihrer Sprachwurzel oft gar nicht mehr bewusst sind: Durchblick, Scharfblick, Aufklärung (franz. »lumières«, engl. »enlightenment«), view, etwas klar sehen, Hinsicht, Er-klärung, declaration, clarify, Perspektive (von per-spicere), point de vue, insight, etc. Alloa macht aber darauf aufmerksam, dass dies keineswegs ursächlich auf die Philosophie Platons zurückgeht und nennt z. B.

a. a. O., S. 33. Whitehead, Prozess und Realität, Teil II, S. 91. 32 Pekáry, Imago res mortua est. Untersuchungen zur Ablehnung der bildenden Kunst in der Antike, S. 17 zitiert Sallust, Catilina 11,5 f. 33 Pekáry, a. a. O., S. 32 zitiert Cicero, Parad 5,36. 34 Pekáry, a. a. O., S 101 zitiert Cicero, Arch 30. 30 31

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Der philosophische Bilderstreit

»auf Sanskrit vidyā, das zugleich ›Sicht‹ und ›Wissen‹ bedeutet, ferner veda (›ich habe gesehen‹), von dem sich auch die Veden ableiten. Die Spuren dieser Verquickung lassen sich durch sämtliche indogermanische Sprachen verfolgen […]. Ununterscheidbar ineinander verschränkt sind Visualität und Intellektualität in Beispielen wie dem griechischen histor, dem englischen wit (von dem der witness sein Wissen zieht) oder der deutschen Einsicht.« 35

Platon ist also nicht der Erfinder des abendländischen Okularzentrismus, wenngleich er ihn mit seiner bildhaften Sprache und seiner Urbild-Abbild-Theorie, auch für die Platoniker nach ihm, kräftig befeuert.

3.1.3 Das Bild vom Bild: Bildhaftes und Bildkritik bei Magritte Cézanne hat von sich und seiner Malerei gesagt, dass er »im Malen denkt.« 36 Merleau-Ponty erläutert, dass er sicherlich beim Malen keine Ansichten über die Welt äußert, sondern dass er sich malend einer »stummen Sprache« 37 bedient, »in dem Augenblick, wo sein Sehen zur Geste wird«. 38 Denn es geht wie beim Sprechen um Ausdruckshandlungen, mit denen man in diesem Falle die Möglichkeiten bildhafter Darstellung erkunden kann. Wenn nach Platon Bilder Bilder von Bildern, also im Hinblick auf die zugrundeliegende Idee ontologisch doppelt nachrangig sind, so soll diese These exemplarisch anhand von heutigen Bildern geprüft werden, die sich nicht mehr dem Paradigma des Abbildens verpflichtet fühlen, ja geradezu ein Programm entwickeln, diese Abbildhaftigkeit des Bildes zu unterlaufen, sich »vom Illusionismus zu lösen« und dabei »eigene(n) Dimensionen zu gewinnen«, was nach MerleauPonty »metaphysische Bedeutung« hat. 39 Dies muss Maler anregen, die Möglichkeiten von Bildern und ihren Sujets auch malerisch zu erkunden und damit zu experimentieren. Nur scheinbar geht es hier noch ums Abbilden, etwa im Surrealismus Magrittes, der in seiner Malerei viele klassische Bildauffassungen und Sehgewohnheiten konterkariert, sodass man durchaus von 35 36 37 38 39

Alloa, Das durchscheinende Bild, S. 18, FN 18. Dorival, Cézanne par ses lettres et ses témoins, in: ders., Paul Cézanne, S. 103 f. Merleau-Ponty, Die indirekte Sprache, in: ders., Die Prosa der Welt, S. 119 ff. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 301. Merleau-Ponty, ebd.

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einer Bildkritik im Medium der Malerei sprechen kann, die ihrerseits wiederum zum Denken anregt. Es gibt in dieser Malerei, so Magritte selber in seinem ersten Brief an Foucault, »Denken, das sieht und das als sichtbar beschrieben werden kann.« 40 Magritte hatte, wie er selber berichtete, durch die Begegnung mit de Chiricos »Lied der Liebe« (später malte er ein Bild gleichen Titels) eine entscheidende Prägung erfahren: Dies sei einer der ergreifendsten Augenblicke seines Lebens gewesen, denn seine Augen hätten »zum ersten Mal das Denken gesehen.« 41 Wie für andere Surrealisten sei de Chirico der erste gewesen, »der sich als erster ganz bewusst und mit Erfolg von den traditionellen Motiven der Malerei abwandte […]. Dieser radikale Aspektwechsel im Motiv hatte natürlich Auswirkung auf Bedeutung und Stellenwert der Malweise. Nicht mehr das Wie, sondern das Was wurde wichtig.« 42 Besonders stand Magritte unter dem Eindruck von de Chiricos pittura metafisica. Die Ordnung der Dinge in Raum und Zeit musste nicht mehr abgebildet werden, sondern sie konnten »herausgerissen aus zweckrationalen Zusammenhängen und frei von symbolischen Bedeutungen, diskontinuierlich« 43 ins Bild gesetzt werden und ihre eigenen Wirkungen entfalten. Magritte lehnte es konsequenterweise ab, als Künstler zu gelten, er sei »vielmehr ein denkender Mensch, der seine Gedanken durch die Malerei mitteile.« 44 Es ging spätestens seit den Impressionisten ja nicht mehr um eine genaue Repräsentation eines außerbildlichen Sachverhalts. Also nicht, wie Cézanne sich ausgedrückt hatte, um ein Malen nach der Natur, sondern parallel zu ihr. 45 Neben der Reflexion und Destruktion eines abbildhaften Repräsentationalismus ging es aber auch darum, noch nie Gesehenes sichtbar zu machen. Hier seien nur einige Aspekte hervorgehoben: Magrittes Bilderserie »So lebt der Mensch« (»La condition humaine«) zeigt in etlichen Variationen lauter Bilder von Bildern und abgedruckt in: Foucault, Dies ist keine Pfeife, S. 55. Blavier (Hg.), René Magritte. Sämtliche Schriften, S. 552. 42 Müller, René Magritte. Die Beschaffenheit des Menschen. Eine Kunst-Monographie, S. 15 f. 43 a. a. O., S. 18. 44 Müller, a. a. O., S. 9. 45 Müller, a. a. O., S. 24. 40 41

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hebt mit dem Titel durchaus im Sinne von Hans Jonas das bildnerische Schaffen als Spezifikum menschlicher Existenz ins Bewusstsein, hinterfragt aber zugleich die Möglichkeit statischer Bilder, eine prozesshafte Wirklichkeit zu erfassen: Wolken und Wellen wie auch Pferdekutschen bewegen sich weiter, sodass die Bilder (ohne Rahmen) sich nur scheinbar nahtlos in eine (wiederum nur momenthaft abbildbare) Wirklichkeit einfügen können. 46 Zudem, was für moderne Medienphilosophien relevant wird, verdecken die selbstgemachten Bilder die Realität, und es lässt sich im Medium der Bildlichkeit nicht, etwa durch Vergleich, feststellen, ob sie einer originär gegebenen Wirklichkeit entsprechen oder nicht (wobei diese ja ebenfalls – und zwar sehr echt – gemalt ist. Vor allem sind die Übergänge zwischen Bild und vermeintlicher Realität im Bild kaum wahrzunehmen, und so suggerieren sie täuschend echt eine Ununterscheidbarkeit von (Ab-) Bild und Urbild, wenn die Realität nicht prozesshaft gedacht bzw. wahrgenommen wird. Für Müller ist hier sogar ein Ineinander von Abbild und Bild gegeben, 47 das seinen eigentlichen Zweck erst bei näherem Hinsehen entfaltet. Vordergründig könnte man unter Einbeziehung des Bildtitels sagen: Der Mensch lebt so, dass er sich Bilder von der Welt macht (egal, ob mentale oder materielle), die den unmittelbaren Zugang zu ihr auch verstellen können. Weitergehend aber enthüllt sich die wahre Absicht des Bildes: Das Abbilden und Re-präsentieren selber wird zum Thema gemacht, und zwar kritisch, denn die vorbeiziehenden Wolken bzw. Wellen sind nur möglich, wenn die Arbeitszeit des Malers auf diesen einen unwiederbringlichen Moment reduziert werden kann, obwohl doch die bildliche Darstellung Dauer suggeriert. Zudem zeigen Bilder die vorgebliche Wirklichkeit notwendig immer nur ausschnitthaft; die Illusion von ganzheitlicher Wiedergabe des Sujets oder gar einer suggestiven Realpräsenz des Abgebildeten im Bild wird bewusst zerstört: Sowohl bei einer Landschaft als auch bei einem Frauenakt wird unter Auslassung einiger Aspekte des vermeintlichen Urbildes bzw. Originals das Sujet zerstückelt und in Teilansichten, dieses Mal gerahmt, um die Trennung zu verdeutlichen, zusammengeführt (siehe Bild 28).

46 47

Ausführlichere Interpretation s. Müller, a. a. O., S. 25–36 und 72–79. Müller, a. a. O., S. 52.

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Bild 27: René Magritte, So lebt der Mensch (1933)

Im Spiel mit der Illusion wird aber auch schlechterdings physikalisch Unmögliches phantasievoll ins Bild gesetzt, um den Glauben an den Abbildcharakter von Bildern, bzw. an die Repräsentation einer vorgeblichen Realität im Bild zu zerstören (siehe Bild 29). Eine weiße Karte gibt es nicht im Kartenspiel, und auch die »freie Hand« oder das »freie Spiel« 48 muss sich nicht an der Realität orientieren, die Imagination kann das uns Gewohnte bzw. auch unsere Leider im Deutschen mit »Blankovollmacht« übersetzt. Überhaupt muss man sich über die Übersetzungen von Magrittes Bildtiteln wundern: Das Château des Pyrenées, ein auf einem Felsbrocken in der Luft schwebendes Schloss, wird nicht gemäß der französischen Redewendung »chauteau en Espagne« mit »Luftschloss« übersetzt, obwohl es eindeutig auf Utopisches verweist, sondern wörtlich mit »Pyrenäenschloss«, was die anklingende Konnotation überhaupt nicht wiedergibt. (!) Hingegen ist Le soir qui tombe mit »Der hereinbrechende Abend« gut übersetzt: Ein auf eine Fensterscheibe gemaltes Bild eines Sonnenuntergangs zerbricht mit dieser, die Scherben zerbrechen und fallen nach innen in das Zimmer, und in der Fensteröffnung hinter dem vormaligen (vermeintlichen) Bild, das auch den Blick aus dem Fenster in eine Abendlandschaft hätte zeigen können, wird ein schwarzes Nichts sichtbar.

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Der philosophische Bilderstreit

Bild 28: René Magritte, Die Tiefen der Erde (1930)

Sehgewohnheiten kreativ überschreiten und auch etwas völlig Irreales ins Bild setzen, und das macht uns – wie auch im Falle der Verquickung von Innen und Außen bei einer Hausansicht – das, was wir erwarten würden und gemäß unserer Seherfahrungen als normal empfänden, erst richtig bewusst. Der Blick von außen in ein offenes Hausfenster (in éloge de la dialectique) zeigt nämlich nicht, wie erwartet, ein Interieur, sondern (möglicherweise gespiegelt?) die Außenansicht eines Hauses, möglicherweise desjenigen Hauses, von dem aus man selber in das andere hinein sieht, das von dieser Projektion ins »An-Sich-Seiende« aus auf uns zurückwirkt. Das Bild steht auch paradigmatisch für viele andere Bilder Magrittes, die ein Wechselspiel von Innen (Imagination) und Außen (reale Umwelt) thematisieren, wie so manche Traumbilder, die auch zugleich den Schlafenden im Bild zeigen, bis hin zu »Hegels Ferien«, ein Bild, das das völlig zusammenhanglose und kontingente Mit-

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Bild 29: René Magritte, La carte blanche (1965)

einander eines gefüllten Wasserglases auf einem aufgespannten Regenschirm zeigt. Magritte spielt auch, was für die in den nächsten Kapiteln folgende Problematik relevant werden wird, mit der Ersetzung von – sehr realistischen – Gegenstandsabbildungen durch Schriftzeichen, wie etwa im miroir magique, bei dem in einem Handspiegel keineswegs wie meist erwartet ein menschliches Ab- bzw. Spiegelbild zu sehen ist, sondern ein Schriftzug (»corps humain«), was klarmacht, dass (Schrift)-Zeichen eine Distanzierung gegenüber der bildhaften Darstellung bewirken. Oder er setzt völlig falsche Begriffe unter die jeweiligen Gegenstandsabbildungen (La clef des songes, wieder eine Bildreihe), wie um auszuprobieren, ob die im Bild präsenten bzw. (re) präsentierten Gegenstände oder die entsprechenden Zeichen wirk307 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

Der philosophische Bilderstreit

mächtiger sind: Was prägt unser Sehen und Vorstellen eher: das abstraktere Schriftbild oder eine gegenstandsfixierte Bilderschrift? Bei seinen bekanntesten Bildern schließlich (»Das ist keine Pfeife«: eben nur das Bild einer Pfeife. »Das ist ein Stück Käse«: eben nicht: nur das gerahmte Bild eines Käsestücks unter einer Käseglocke) dient die Schrift bzw. der Bildtitel dazu, die sehr echte Illusion einer perfekt vorgetäuschten Präsenz des Sujets – man meint fast, zugreifen zu können – zu konterkarieren und aufzubrechen. In Anlehnung an und Anspielung auf Foucaults Les mots et les choses macht sich Magritte mit Zeichnungen und sprachlichen Kommentaren Gedanken über Les mots et les images, 49 wobei sich zeigt, dass die von Husserl getroffene Unterscheidung zwischen Bildträger und darauf aufliegendem transparentem Bildinhalt im Französischen nicht nötig ist: In einem Bild (»tableau«) nämlich hätten die Wörter die gleiche Substanz wie die Bilder (»images«); und ein realer Gegenstand, der aber für die Malerei transzendent bleibt (wie z. B. das in Magrittes zugehöriger Zeichnung dargestellte Pferd) könne nie wie sein Name oder sein Bild (image) dienen. Auch die Begrenztheiten bildhafter (naturalistischer) Darstellung im Zweidimensionalen werden reflektiert, denn »ein Objekt lässt vermuten, dass es andere hinter ihm gibt«, was Magritte durch eine gezeichnete Mauer veranschaulicht. Und die Platzhalterfunktion von Wörtern bzw. Bildern (»image«) wird festgehalten, denn ein Wort könne für einen Gegenstand stehen, wie auch ein Bild für ein Wort im Satz eingesetzt werden kann, so wie z. B. die Bilder in Leselernfibeln an die Stelle der entsprechenden Worte im Satz treten könnten, wenn noch nicht genügend Buchstaben zum Entziffern der zugehörigen Worte zur Verfügung stehen. 50 Magritte verwendet auch bildhafte Symbole in seinen Bildern: So z. B. sind die zueinander geneigten Köpfe zweier »Liebenden« jeweils mit einem weißen Tuch verhüllt (das Thema kehrt in etlichen Bildern wieder), ein Symbol, das, so Sylvester, mit dem frühen Suizid seiner Mutter korreliert ist, die eines Nachts das Haus und ihre Kinder verließ und sich ertränkte. Nach 17 Tagen wurde sie mit ihrem weißen Nachthemd um den Kopf gefunden und ins Haus gebracht. 51 Magritte, Les mots et les images, in: La Révolution surréaliste 12 (1929). Übersetzung einiger Passagen d. d. A. 51 Sylvester, Magritte, S. 12 ff berichtet, dass Magritte diese Geschichte Scutenaire erzählte, der sie in seiner Magritte-Monographie überliefert hat. 49 50

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Das Verhüllte, Verborgene soll Magritte fasziniert haben, und das Thema des Ertrinkens hat er in mehreren Bildern verarbeitet: So z. B. imaginiert offenbar einer der bekannten Melonenmänner Magrittes bei einem Spaziergang in einer grauen Umgebung auf einem Weg entlang an einem Fluss mit Holzbrücke einen bleichen ertrunkenen Körper (Bildtitel: »Die Träumereien eines einsamen Spaziergängers«), was im Zusammenhang mit einem günstigen Ort den Suizid als Versuchung oder Gefahr, vielleicht aber auch nur als Möglichkeit in seinen Gedanken, ins Bild setzt. (Vermeintliche) Realität und Imagination sind hier zusammen dargestellt, die Realität scheint solche Imaginationen immer zu enthalten. (Auch »so lebt der Mensch«.) So wird in einer Variation von Magrittes berühmter Pfeife diese in ein Tafelbild mit Unterschrift gesetzt (»Ceci n’est pas une pipe«), dieses wird aber wiederum in ein anderes Bild gesetzt, in dessen linkem oberen Bildrand eine übergroße imaginierte Pfeife erscheint, vielleicht das Urbild der gemalten Pfeife in der Vorstellung, möglicherweise einer idealen Pfeife, also vielleicht auch der Idee von einer Pfeife (»Les deux mystères«). Diese ist aber wiederum gemalt und verweist auch wieder auf eine (von Magritte) vorgestellte Pfeife, so dass sich hier im Bild eine Signifikantenkette darstellt. Über dieses Bild hatte Foucault meditiert, nachdem ihm Magritte einen Brief zum Thema »Ähnlichkeit und Gleichartigkeit« 52 geschrieben hatte, und hatte die oben im Bild schwebende übergroße Pfeife als »einen Traum oder Idee von einer Pfeife« interpretiert; um dann später festzustellen: »Nirgendwo ist da eine Pfeife.« 53 Vielleicht sollten die Bilder immer auch begleitende Vorstellungen mit darstellen, wie in Magrittes Bild eines Malers, der ein Ei mit dem Blick fixiert und einen Vogel auf die Leinwand malt (»Hellsehen«, »clairvoyant«), solchermaßen das verwirklichend, was bei Bloch die »Ästhetik des Vorscheins« heißt. Denn damit wird das erkundet und bewusst gemacht, was als Möglichkeit in den Dingen angelegt ist. (»Sollte das Unsichtbare also manchmal sichtbar sein?«, fragt Magritte in seinem ersten Brief an Foucault. 54)

52 Seitter in seinem Nachwort zu Foucault, Dies ist keine Pfeife, S. 61. Beide Briefe Magrittes an Foucault sind auf S. 55–58 abgedruckt. 53 Foucault, Dies ist keine Pfeife, S. 8 und 21. 54 a. a. O., S. 56.

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Bereits Leonardo da Vinci hatte eine »Malwissenschaft« angeregt, 55 die nicht durch Worte spricht, »sondern durch Werke, die im Sichtbaren nach Art der natürlichen Dinge existieren und die sich dennoch durch jene allen Generationen der Welt mitteilt. Jene stumme Wissenschaft […] entstammt dem Auge und richtet sich an das Auge.« 56

Dabei tritt, und das kann man nun besonders für Magritte festhalten, »eine eigene Kraft der Inszenierung« zutage, und zwar durchaus systematisch, aber auch überaus phantasievoll und kreativ, die Grund für eine Pluralität von Interpretationen ist und diesen Bildern »Anrecht auf einen philosophischen Status« 57 verleiht. Denn als Reflexionsprodukte überschreiten sie das Medium des Bildhaften und führen zu einer Aufklärung über Sinn und Funktionen der materiellen Bilder. Wir machen uns ein Bild von Bildern, und das kann auf je unterschiedliche Art geschehen.

3.1.4 Zwei moderne Bildbegriffe im Vergleich: Wittgenstein und Bergson Zwei solche (moderne) Vorstellungen vom Bildhaften sollen wegen der weiter zur Debatte stehenden Kontroverse zwischen einer zeichenhaften und einer präsenzorientierten Bildauffassung hier gegeneinander gestellt werden: die Abbildtheorie des frühen Wittgenstein und Bergsons Reflexionen zur Wirklichkeit von Bildern. Beide verfügen über einen überaus weiten Bildbegriff, doch auf andere Weise. Wittgenstein hatte mit seiner frühen Idealsprachentheorie, wie er sie in seiner Dissertation, dem Tractatus logico-philosophicus (TLP), dargelegt hatte, die Sätze der Sprache als Abbild realer Sachverhalte dargestellt, in der Überzeugung, dass sich sämtliche Probleme durch Analyse von Sprachverwirrungen wohl klären lassen würden. Mit der Sprache und in unseren Gedanken bilden wir unablässig die Welt ab, machen uns (zunächst keine optischen) Bilder der Tatsachen (TLP 2.1), denn »die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte

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nach Delaunay, Du cubisme à l’art abstrait, S. 175. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 312. a. a. O., S. 301.

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ist die Welt.« (TLP 2.04) Anders aber als bei Platon bedeutet angemessenes Bildverstehen nicht, die eigentlichen geistigen Gehalte hinter den Bildern in den Blick zu nehmen, um das Wesentliche in geistiger »Schau« zu erkennen. Denn wir selbst sind es, die diese Bilder auf je unterschiedliche Art machen, und sie verweisen auf die Sachverhalte der uns als real gegebenen Welt. Aber die Welt, die wir in den Blick nehmen, ist immer nur unsere Welt: »Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen« (TLP 6.4.39), »wie auch beim Tod des Menschen die Welt sich nicht ändert, sondern aufhört.« (TLP 6.413) Dieser radikal subjektivistische Ansatz Wittgensteins relativiert den objektivistischen und positivistischen Schein der ersten Sätze des Tractatus. (»Die Welt ist alles, was der Fall ist.«) »Was der Solipsismus nämlich meint, ist ganz richtig, nur lässt es sich nicht sagen, sondern es zeigt sich. Dass die Welt meine Welt ist, zeigt sich darin, dass die Grenzen der Sprache (der Sprache, die allein ich verstehe) die Grenzen meiner Welt bedeuten. […] Ich bin meine Welt.« (TLP 5.62 und 5.63)

So wird deutlich, dass wir immer je in der Sprache und in unserer Weltsicht befangen sind und uns nicht wie weiland Dädalus mit selbstgefertigten Flügeln über dieses Labyrinth erheben können. Denn im »logischen Raum« aller denkmöglichen Relationen konstituieren wir selbst Zuordnungen, die für uns die Realität ausmachen. Wittgensteins »Bildtheorie des Denkens« 58 verweist also zum einen auf den Prozess, mit dem wir in unseren Aussagen über die Welt (und die können auch in bildhafter Form geschehen) isomorphe, strukturgleiche Zuordnungen nach Art einer Ähnlichkeitsabbildung etablieren. Zum anderen lässt sich keine Aussage über eine wie auch immer geartete objektive Richtigkeit solcher Abbilder treffen, denn diese Frage transzendiert den solipsistischen Horizont: »Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.« (TLP 7) Wittgenstein nimmt also in seiner Bildtheorie die menschliche Praxis des Bildens insgesamt in den Blick, und zwar spricht er mentale Bilder gleichermaßen wie sprachliche oder nichtsprachliche Symbole an. »Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit« (TLP 2.12); und auch Gedanken sind logische Bilder der Tatsachen: »Die Gesamtheit der wahren Gedanken sind ein Bild der Welt.« (TLP 3) Daher geht es hier um die Konstruktion von Bildern ganz allgemein, und »in der Tat ist die Theorie der logischen Abbildung eine 58

Stenius, Wittgensteins Traktat, S. 149.

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Der philosophische Bilderstreit

universelle Theorie der Darstellung, weil sie jede denkbare Bildform, sei sie mental oder physisch, einschließt: Fotografien, Diagramme, Landkarten, Gemälde, Plastiken, dreidimensionale Modelle, Filme, Partituren, Schallplattenaufzeichnungen, die Sprache selbst, Gedanken, Theorien, usw.« 59 Wittgenstein selbst hat dazu in seinen Diskussionen mit dem »Wiener Kreis« erklärt: »Als ich schrieb, ›der Satz ist das logische Bild der Tatsache‹, so meinte ich, ich kann in einen Satz ein Bild einfügen, und zwar ein gezeichnetes Bild, und dann im Satz fortfahren. Ich kann also ein Bild wie einen Satz gebrauchen.« »Wie ist das möglich? Die Antwort lautet: weil eben beide in gewisser Hinsicht übereinstimmen, und dieses Gemeinsame nenne ich Bild. Der Ausdruck Bild ist dabei schon in einem erweiterten Sinne genommen. Diesen Begriff des Bildes habe ich von zwei Seiten geerbt: erstens von dem gezeichneten Bild, zweitens von dem Bild des Mathematikers, das schon ein allgemeiner Begriff ist. Der Mathematiker spricht auch dort von Abbildung, wo der Maler diesen Ausdruck nicht verwenden würde. […] Das Wort ›Bild‹ hat etwas Gutes: Es hat mir und vielen anderen geholfen. Etwas klar zu machen, indem es auf etwas Gemeinsames hinweist und zeigt: Also darauf kommt es an! Wir haben dann das Gefühl: Aha, jetzt verstehe ich: Satz und Bild sind also von der gleichen Art.« 60

Ganz sicher kommt die Idee der isomorphen, also strukturerhaltenden Abbildung aus der Mathematik (Wittgenstein war in Cambridge mit dem Mathematiker Ramsey befreundet), und ein gutes Beispiel für eine solche strukturerhaltende Abbildung ist die bei Vermeer im Hintergrund eines Bildes gezeigte frühe Landkarte von Holland, die, wie wir wissen, im Jahre 1609 beauftragte wurde: »The New and Accurate Topography of all Holland and West Friesland«, die abweichend vom Original die Landmassen in Blau und das Wasser in Ocker wiedergegeben hat, 61 also eine andere als die übliche Codierung für das Lesen von Landkarten verwendet. Trotz dieser Verfremdung ist die Abbildung – falls korrekt, frühe Landkarten sind das nicht immer – isomorph, also im Sinne Wittgensteins eine korrekte Abbildung einer Abbildung.

Bezzel, Ludwig Wittgenstein, S. 68. Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, in: Wittgenstein, Schriften, Bd. 3, S. 185. 61 Brook, Vermeer’s Hat – The 17th Century and the Dawn of the Global World, S. 28. 59 60

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Bild 30: Jan Vermeer van Delft, Der Soldat und das lachende Mädchen (um 1657)

Das Gemeinsame von Satz und Bild ist natürlich die Repräsentationsleistung, der Verweischarakter, das Bezogensein auf eine Realität, die im Medium eines wie auch immer gearteten Symbolismus abgebildet werden soll bzw. wird und uns nie unmittelbar gegeben ist. So wie »im Pariser Gerichtssaal ein Automobilunglück mit Puppen dargestellt wird«, 62 haben wir verschiedene Möglichkeiten, Bilder für Sachverhalte zu finden:

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Wittgenstein, Tagebücher 1914–1916, in: Wittgenstein, Schriften, Bd. 1, S. 95.

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Der philosophische Bilderstreit

»Wenn in diesem Bild der rechte Mann den Menschen A vorstellt, und bezeichnet der linke den Menschen B, so könnte etwa das Ganze aussagen: »A ficht mit B«. Der Satz in Bilderschrift kann wahr oder falsch sein. Er hat einen Sinn unabhängig von seiner Wahr- oder Falschheit. An ihm muss sich alles Wesentliche demonstrieren lassen. Man kann sagen, wir haben zwar nicht die Gewissheit, dass wir alle Sachverhalte in Bildern aufs Papier bringen können, wohl aber die Gewissheit, dass wir alle logischen Eigenschaften der Sachverhalte in einer zweidimensionalen Schrift abbilden können.« 63

Dabei geht es nämlich generell um Zeichen: »Gegenstände kann man nur nennen, Zeichen vertreten sie«; und »der Konfiguration der einfachen Zeichen im Satzzeichen entspricht die Konfiguration der Gegenstände in der Sachlage« (TLP 3.221 und 3.21). Dabei ist »das Zeichen […] das sinnlich Wahrnehmbare am Symbol« (TLP 3.32). Und man kann sich mit den Sätzen verständigen, wenn man die Bedeutungen der einfachen Zeichen (der Wörter) erklärt bekommt (TLP 4.026). Dabei verweist aber 3.328 bereits auf Wittgensteins Spätphilosophie, u. a. in den Philosophischen Untersuchungen, in der er die Theorie einer logischen Idealsprache als zu idealisierend hinter sich ließ und sich einer Theorie der normalen Sprache zuwandte, denn hier wird bereits thematisiert, dass ein Zeichen bedeutungslos ist, wenn es nicht gebraucht wird. Die bereits im ersten Teil behandelte Identitätsthese von Bedeutung und Gebrauch kündigt sich also bereits hier an und führt wie auch der Bildbegriff in die pragmatische Philosophie der alltäglichen Sprache. (Nur dass es jetzt nicht mehr um das Ab-bilden, sondern um das Bilden geht und das Ganze in einen hermeneutischen Rahmen gestellt wird.) Ganz anders bei Bergson. 64 Die Sprache hat hier keine abbildende strukturerhaltende Funktion, sondern sie verzerrt, was Bergson beebd. Man muss sich hüten, monokausale Zuordnungen von Bildbegriffen aufgrund einer Religionszugehörigkeit zu treffen. Neben vielen anderen Einflussgrößen können diese bei der Präferenz bestimmter Bildtheorien mitspielen. Wittgensteins Familie war z. B. ursprünglich jüdischer Herkunft, wurde aber während ihres Aufstiegs im

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sonders am Aspekt der Zeit deutlich macht: Sprache verräumlicht, und zwar durchaus unangemessen; unsere »homogenisierte« Zeit mit lauter gleichlangen Stunden und Tagen, die wir auch noch mit einem Zahlenstrahl und der Vorstellung gleichmäßigen Fließens assoziieren oder mit Zifferblättern von Uhren, entspricht keineswegs der erlebten subjektiven Zeit, die sich dehnen oder schrumpfen kann. Es ist aber diese Dimension der subjektiv erlebten Zeit (»durée«: Dauer), die Bergson als Grundlage jeder Erfahrung erreichen will, und dafür muss man hinter die verobjektivierende und verräumlichende Sprache zurück. (»Wir projizieren die Zeit in den Raum, wir drücken die Dauer durch Ausgedehntes aus […].« 65) Dauer, das ist nicht die quantitative, messbare Zeit der Naturwissenschaften, sondern die wirkliche Zeit unserer gelebten Erfahrung, in der auch die ganze Vergangenheit in der Erinnerung aufgehoben ist; und späterhin wird Bergson sie nicht mehr nur dem Bewusstsein, sondern dem ganzen Universum zuschreiben, das sich wie dieses immer in einem zeitlichen Fließen befindet. 66 Die Sprache aber fixiert solche Verquickungen wie die von Zeit und Raum, und auch ihre Dualismen – wie Subjekt/Objekt, Materie/ Geist, Natur/Kultur, Begriff/Gegenstand etc. – sind wenig hilfreich: Sie blockieren den Zugang zur unmittelbaren Wirklichkeit, wenn wir sie unverstellt erleben und wahrnehmen wollen. (Sie sorgen auch dafür, dass Philosophie ein »Andenken gegen die Sprache« ist, »gegen die fixierenden, weil verräumlichenden Strukturzwänge der Sprache«, 67 obwohl sie sich ja selbst im Medium der Sprache abspielt.) Wiener Bürgertum protestantisch. Wittgenstein selbst wurde wegen seiner katholischen Mutter katholisch getauft und begraben, bezeichnete sich aber als »religiös unmusikalisch«. Doch sind mehrfache Erwähnungen der Mystik im Tractatus (»worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen«) festzuhalten, sowie auch seine Verwendung buddhistischer Metaphern (man müsse die Leiter wegwerfen, nachdem man auf ihr über seine Sätze hinausgestiegen ist, TLP 6.54). Bergson hingegen bekam auf Betreiben des Rabbis der jüdischen Gemeinde ein Stipendium, fühlte sich aber, wie wir durch Merleau-Ponty wissen, am Ende seines Lebens zum Katholizismus hingezogen. (Merleau-Ponty, Bergson im Werden, in: ders., Zeichen, S. 267 und 279.) 65 Bergson, Zeit und Freiheit, S. 78. 66 Deleuze, Bergson, S. 53 f. 67 Vrhunc, Bild und Wirklichkeit, S. 29. Bergson selber zu Beginn seines Vorworts zum Essai sur les données immédiates de la conscience: »[…] wir denken fast immer räumlich. Mit anderen Worten, die Sprache zwingt uns, unter unseren Vorstellungen

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Der philosophische Bilderstreit

Wirkliche Wahrnehmung muss also hinter die Sprache zurück und sich im dynamischen Medium der durée abspielen, wo sie dann im Wechselspiel von Wirken und Erfassen zu Bildern gelangt. Gegen den englischen Empirismus (Hume hatte Bilder als »flüchtige Kopien« bezeichnet, weil die Dinge unabhängig von den geistigen Bildern bestehen) und auch gegen den englischen Idealismus (Berkeley hatte erklärt, dass die Dinge nicht existieren, wenn sie nicht wahrgenommen werden) ist das Bild für Bergson »die konkrete Form, die sich in den Wirkverhältnissen unseres Wahrnehmens bildet, die sich keiner Repräsentation oder Interpretation verdankt, sondern die geschieht oder ›passiert‹«. 68 Man kann eher von einer »ursprünglichen Präsentation« sprechen, von einer Verdichtung, die in »einer ersten Fixierung der fließenden Wirklichkeit unseres Bewusstseinslebens« eine Form aufscheinen lässt. 69 »Für uns ist die Materie eine Gesamtheit von ›Bildern‹. Und unter ›Bild‹ verstehen wir eine Art der Existenz, die mehr ist, als was der Idealist ›Vorstellung‹ nennt, aber weniger als was der Realist ›Ding‹ nennt – eine Existenz, die halbwegs zwischen dem ›Ding‹ und der ›Vorstellung‹ liegt.« 70

Damit vereinigen Bilder beide Pole in sich und stellen eine neue aus dem Wahrnehmungsprozess entstandene Realität dar, wobei unsere Sinne und Vorstellungen sich schöpferisch und praktisch mit der Welt der Dinge auseinandersetzen, die auf uns wirkt. Diese Bilder sind ursprünglicher als jede Sprache und alle Zeichen, sie bieten sich uns dar, denn wir sehen uns umgeben von Bildern, »die ich wahrnehme, wenn ich meine Sinne öffne und nicht wahrnehme, wenn ich sie schließe.« 71 Gegen jede Abbildtheorie hält Bergson fest, dass man sich die Wahrnehmung nicht wie eine Art photographische Ansicht der Dinge vorstellen könne, »welche von einem bestimmten Punkt mit einem besonderen Apparat – unserem Wahrnehmungsorgan – aufgenommen wird, um alsdann in der Gehirnsubstanz in einem unbekannten dieselben scharfen und genauen Unterscheidungen, dieselbe Diskontinuität herzustellen wie zwischen den materiellen Gegenständen«, und gewöhnt uns daran, auch »die Erscheinungen, die keinen Raum einnehmen, im Raume nebeneinander zu ordnen«. 68 Vrhunc, a. a. O., S. 158. 69 a. a. O., S. 160. 70 ebd. 71 Bergson, Materie und Gedächtnis, S. 1.

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chemischen und psychischen Vorgang entwickelt zu werden« 72. Wenn man aber von einer »Aufnahme« sprechen wolle, so müsse sie nicht sekundär und nachrangig, sondern »von allen Punkten des Raumes« und »im Inneren der Dinge bereits aufgenommen und entwickelt sein«. 73 Es geht hier um eine vorprädikative, intuitive Dimension von Welterfassung, denn das Bild ist nicht nur der Umschlag vom Ereignis zur Form, es ist auch »die erste Vereinfachung der komplexen und vielfältigen Welt der Gegenstände und der sie erfassenden Wahrnehmungsprozesse«. 74 Denn wenn »Zentren der Indeterminiertheit«, als die Bergson freie Menschen sieht, sich auf Gegenstände der Welt richten, so bewirkt dies eine »Ausscheidung aller der Elemente in den Gegenständen […], an denen ihre Funktionen nicht interessiert sind«. 75 »Es wird sich also für uns alles so vollziehen, als ob wir das Licht, das von den Oberflächen ausgeht, auf sie zurückwürfen, ein Licht, das niemals sichtbar geworden wäre, wenn es sich ungestört fortgepflanzt hätte. Die uns umgebenden Bilder scheinen nun unserem Körper jene Seite, die ihn interessiert, und zwar diesmal in vollem Lichte zuzuwenden, sie geben von ihrem Gehalt das an uns ab, was wir im Vorübergehen festgehalten haben, weil wir einen Einfluss darauf auszuüben vermögen.« 76

In dieser Selbstdarstellung des jeweiligen Gegenstandes im Medium unseres Erfassens (die Dinge sind gleichsam von innen beleuchtet) ist sein Wirken im Modus der bildlichen Präsenz noch aufgehoben, und unser Körper als Schnittstelle von Materie und Geist steht dabei im Zentrum, da er nicht nur Wirkungen empfängt, sondern ihnen auch in einem tätigen Erfassen begegnet. »In seinen Bildern wird die Ma-

a. a. O., S. 23. Trotzdem verwendet Bergson die Metapher der »Aufnahme«, indem er beim »Weltbild« und bei der Erkenntnis von Welt von aneinander zu reihenden »Momentaufnahmen« spricht und sogar explizit in der Evolution créatrice vom »kinematographischen Wesen unseres gewöhnlichen Denkens« spricht (nach Vrhunc, a. a. O., S. 126), was Gilles Deleuze dazu veranlasst hat, seine Filmphilosophie (Kino I – Das Bewegungsbild und Kino II – Das Zeitbild) ausgehend von Bergson zu entwickeln (s. auch Grubacevic, Vom Bild des Denkens zum Denken des Bildes: die Bergson-Lektüren von Gilles Deleuze). 74 Vrhunc, Bild und Wirklichkeit, S. 165. 75 Bergson, Materie und Gedächtnis, S. 21. 76 ebd. 72 73

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terialität der Wirkungen zur geistigen Form umgewandelt.« 77 Dabei entstehen drei Arten von Bildern: neben den »images-perceptions«, den oben behandelten Wahrnehmungsbildern, die sie begleitenden, die »images affections« (Empfindungs- und Gefühlsbilder), sowie die sich sedimentierenden »images-souvenirs«, die als Erinnerungsbilder im Gedächtnis gespeichert werden. Diese Idee (Deleuze redet von der »virtuellen Koexistenz« des Gedächtnisses) betont die Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit, 78 denn Erinnerungen können jederzeit wieder aktiviert werden, steuern aber auch unbewusst unsere Aufmerksamkeit. (Es können aber auch Erinnerungen verdrängt werden, wenn sie z. B. »keinen Nutzen versprechen oder gefährlich sind.« 79) Und damit wird Wahrnehmung selektiv und individuell. Sie kann aber auch zu einer Verzerrung der Wirklichkeit führen: »Tatsächlich gibt es keine Wahrnehmung, die nicht mit Erinnerungen gesättigt ist. Dem, was unsere Sinne uns unmittelbar und gegenwärtig geben, mengen wir tausend und abertausend Elemente aus unserer vergangenen Erfahrung bei. Meistens verdrängen diese Erinnerungen unsere eigentlichen Wahrnehmungen, und es bleiben uns von diesen bloß noch Andeutungen, bloße ›Zeichen‹, die uns an frühere Bilder erinnern sollen. Wir erkaufen um diesen Preis das bequeme und rasche Funktionieren unserer Wahrnehmung; aber auch Täuschungen aller Art stammen aus dieser Quelle.« 80

Dazu kommt, dass durch Wahrnehmungsroutinen Bilder sich klischeehaft verfestigen können, denn das Handeln in praktischen Zusammenhängen gelingt besser, wenn unsere Welt- und Selbstauffassung vereinfacht wird und sich am Nützlichen orientiert. Dergestalt kann sich keine Individualität mehr entwickeln, man bleibt in einer unbewussten Allgemeinheit verwurzelt, von der man sich nicht distanzieren kann. Es gibt also einen für Bergson oft komischen, aber auch tragischen Prozess der Entindividualisierung, in dem auch die Sprache eine Rolle spielt, denn wir sehen nicht mehr »die Dinge selbst, wir lesen meist nur das Etikett, das ihnen aufgeklebt ist«. 81 Die Spra-

77 78 79 80 81

Vrhunc, a. a. O., S. 167. Deleuze, a. a. O., S. 69–79. a. a. O., S. 94. (Deleuze zitiert hier Bergson, Die seelische Energie, S. 96) Bergson, Materie und Gedächtnis, S. 18. Bergson, Das Lachen, S. 100 f.

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che verstärkt das noch, denn ihre »Wörter bezeichnen Arten«. 82 Festgelegte Begriffe aber vereinheitlichen alles zu Begreifende, und damit bewegen wir uns »in einem eigenen Reich allgemeiner Symbole, das als eine Welt für sich eine Zwischenwelt – zwischen uns und unserem Bewusstsein, zwischen uns und der Wirklichkeit – ausmacht.« Und die dort vorherrschende Allgemeinheit saugt jede Individualität auf. 83 Im Grunde sind es Symbolisierungstendenzen, die bereits in der Wahrnehmung wirken (aus einem Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion), »die den Bildern ihre Unmittelbarkeit als von den Prozessen des Lebens selbst erwirkte Spuren« 84 nehmen. Man muss also zu den Bildern an den Ort ihres Entstehens in unserer Wahrnehmung zurück. Wenn sich nämlich die Erkenntnis an den ursprünglichen Bildern orientiert, kann sie die vielfältigen Formen symbolischer Darstellung wieder rückgängig machen und so zu einem angemesseneren Weltverständnis gelangen. Und so ist es der Künstler, der uns das genaue Sehen wieder lehren kann.

3.1.5 Sind Bilder Zeichen? Zur Kontroverse von Bildsemiotik und Bildphänomenologie Belting hatte in seiner oben erwähnten Bildanthropologie Bilder als Produkte von Symbolisierungsleistungen bezeichnet. Das mag für frühe Petroglyphen stimmen, doch stimmt es generell? Wir haben am Beispiel Bergsons gesehen, dass dies durchaus strittig ist. Allerdings bezieht er sich weniger auf die gemachten Bilder (als Artefakte), von denen eingangs die Rede war, sondern auf diejenigen, die ihnen vorausliegen, ohne die unser Bildschaffen kaum vorstellbar wäre. Wir haben bei Wittgenstein einen extrem weiten Bildbegriff gesehen, der alle Arten von Bildern, solche der Sprache, mentale Vorstellungen sowie auch physische Artefakte, umfasst. Bergsons Bildbegriff ist von der Extension, d. h. von der Menge der betroffenen Bildarten her enger (da bei ihm zwar auch mentale Bilder in Betracht kommen, aber keine Sprachbilder), aber er ist gleichzeitig auch ursprünglicher und wahrnehmungsorientierter. Und wie wir sahen, unterscheiden

82 83 84

ebd. Vrhunc, Bild und Wirklichkeit, S. 192. Vrhunc, Bild und Wirklichkeit, S. 202.

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sich beide Positionen fundamental in der Bewertung von Zeichen bzw. Symbolen. Die beiden hier als paradigmatisch ausgewählten und kurz vorgestellten Bildauffassungen von Wittgenstein und Bergson stehen für zwei verschiedene Arten von Bilddeutung: Wittgensteins frühe Abbildtheorie, die er im Rahmen seiner Idealsprachentheorie entwickelt, verwendet ein quasi-platonisches Urbild-Abbild-Modell, wie es auch im zeitgleichen Logizismus von Whitehead und Russell favorisiert wurde. (Die logizistischen Mathematiker waren eigentlich alle Platoniker und von der idealen Existenz ihrer Gegenstände überzeugt.) Sprache und Bilder haben bei Wittgenstein beide die Funktion, die weltkonstituierenden Sachverhalte abzubilden, die sich strukturgleich in den Sätzen der Sprache projiziert finden. Diese wiederum müssen den erwähnten universalen logischen Prinzipien genügen, wobei den Elementartatsachen Elementarsätze entsprechen. Satzzeichen und logische Zeichen stellen eine Vereinfachung dar, sie erleichtern strukturelles und analytisches Denken. Da sie aber immer auf das verweisen, was sie be-zeichnen, können alle Abbilder als Zeichen für die Urbilder interpretiert werden. Bergson hingegen sieht nicht die objektivierende Wirkung von Zeichen, sondern ihre Entfremdungsfunktion: sie schieben sich zwischen den Menschen und sein subjektives Erleben bzw. Erfahren von Welt, und dieses geschieht in Bildern, die keineswegs nur mental sind, sondern sich in der materiellen Realität dem Denken anbieten. Wenn alles, was wir sehen, bereits Bild ist, sind Zeichen unnötig und stehen der unmittelbaren Gegebenheit der Welt im Wege. Das Problem der Strukturierung und Vereinfachung bewertet Bergson völlig anders, denn bei ihm steht die lebendige Präsenz des Erlebens im Vordergrund. Was aber folgt daraus für die vielen Arten von Bildern in unserer alltäglichen Umwelt? Nimmt man z. B. die Malerei, die vor allem mit Porträts und Landschaftsmotiven vor der Erfindung der Fotografie sehr lange Zeit neben der Plastik die einzige Form von Bildlichkeit im öffentlichen Raum war und auch heute noch für viele als paradigmatisch für Bildhaftigkeit gilt, so muss man sagen, dass sie lange Zeit die Funktion des Abbildens zu erfüllen hatte, d. h. den Auftrag der möglichst genauen Wiedergabe eines realen Originals oder Modells. Abbilder aber können als Zeichen dessen gelten, was sie re-präsentie320 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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ren, sie verweisen dann auf das lebende oder vielleicht auch inzwischen verstorbene und im Bild verewigte Vor-Bild, sie re-präsentieren eine Landschaftsansicht, vielleicht zu einer bestimmten Jahreszeit, oder eine historische Szenerie: Sie haben eine Referenz. Abbilder haben aber nicht den vollen realen Gehalt wie die Urbilder, die der Abbildung zugrunde gelegen haben, sie sind bloßer Ab-schein, bloße Ab-schattung des Realen. Es gibt aber Bilder, die so lebensecht scheinen, dass man ihre Abbildhaftigkeit vergisst. Muss z. B. ein überaus ansprechendes Landschaftsbild als Zeichen gesehen und gedeutet werden? Oder ist eine wahrnehmungsorientierte Sichtweise, die möglicherweise mehr ästhetischen Genuss bringt, angebrachter? Immerhin erscheint im Bild etwas Wahrzunehmendes, Sichtbares. In diesem Fall kann man das Bild wie einen Blick aus dem Fenster sehen, es wird transparent für das, was es in ihm zu sehen gibt. Und was zeigen modernere Bilder, die das Paradigma des Abbildens verlassen haben? Verweisen sie auf eine Idee oder auf eine tieferliegende Schicht von Wirklichkeit? Stehen sie für etwas? Oder sind sie einfach als optische Phänomene mit bestimmten Form- und Farbeigenschaften zu deuten bzw. auch zu genießen? Wie steht es mit Fotografien, Film- oder Fernsehbildern, wie mit digital produzierten Bildern? Für Wiesing zeigt sich hier eine ganz grundlegende Dichotomie im Umgang mit Bildern, denn die symbolische Deutung geht ganz anders an ein Bild heran als eine phänomenologische Betrachtung. Sieht man Bilder wie die Sprache als Zeichen oder Zeichensystem, redet man gar von »Bild-Linguistik«, 85 so müssen Bilder wie Sätze gelesen werden, um ihre Bedeutung zu erschließen. (Man schaut auch anders: Eine in der Form des Karl-Marx-Kopfes getippte Form des ›Kommunistischen Manifests‹ kann entweder diskursiv gelesen oder bilderkennend geschaut werden.) Der wahrnehmungsorientierte phänomenologische Ansatz betont hingegen den Eigenwert des Bildhaften, möchte die Unterschiede zwischen Bild und Schrift nicht nivellieren und verlangt das, was Waldenfels im Rückgang auf Ingarden »Sehendes Sehen« genannt hat, und zwar ohne die sinnenhaft-leibliche Natur der Wahrnehmung zu übergehen. Ich komme also auf die zu Beginn dieses 3. Teils vorgenommene Unterscheidung von Darstellendem (Bildträger), Darstellung (BildGroße, Bild-Linguistik. Grundbegriffe und Methoden der linguistischen Bildanalyse in Text- und Diskursumgebungen.

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objekt) und Dargestelltem (Bildsujet) zurück, mit der eine Äquivokation unterschiedlicher Aspekte des Begriffs »Bild« verhindert werden soll. Sieht man Bilder als Zeichen und somit wie die Linguistik als Bestandteil der Semiotik, so lässt sich die hier aus den Morris’schen Dimensionen der Semiotik entwickelte Trias von Zeichen (-inhalt), Zeichenträger und Zeichenreferenz, die über Saussures Dualismus von signifiant und signifié hinausgeht, auf das Schema zum Bildbegriff abbilden: Das Abgebildete, im Bild Dargestellte wird dann z. B. zur »Referenz«, zur verweisenden Bezugnahme des Bildes. (Und in der Tat gehen in einigen Publikationen diese Begriffe durcheinander.) Bildsemiotiker sind überzeugt davon, dass ihr ursprünglich in der Linguistik entwickeltes analytisches Instrumentarium auch für die Deutung von Bildern herangezogen werden kann und muss, Bildphänomenologen trennen beide Schemata strikt; für sie ist »die Gleichsetzung der erscheinenden Darstellung mit einem symbolisierten Inhalt […] ein Gleichsetzen des Nichtgleichen und daher ein metaphorischer Akt, der die triadische Struktur des Zeichens mit der triadischen Struktur des Bildes identifiziert. Diese metaphorische Rede vom Inhalt eines Bildes wird besonders deutlich, wenn man sich der Rezeptionsform des Bildes zuwendet.« 86

Beide Arten des Umgangs mit Bildern sind »kategorial verschieden«: 87 »Wenn das Bild einen Sinn hat und auf etwas Bezug nimmt, ist es in der Tat angemessen, die Rezeption des Bildes als ein Lesen des Bildes zu beschreiben; wenn hingegen das Bild ein Bildobjekt präsentiert, dann ist es ganz abwegig anzunehmen, dass Bilder gelesen werden, denn Bildobjekte werden nicht gelesen, sondern gesehen. Schaufenster werden auch nicht gelesen, sondern angeschaut.« 88

Beide Seiten werfen sich also gegenseitig einen Kategorienfehler vor. Wenn etwa Goodman glaubt, dass »ein Bild, um einen Gegenstand repräsentieren zu können, ein Symbol für ihn sein, für ihn stehen, auf ihn Bezug nehmen muss«, 89 so sei, so Wiesing, die eigentlich relevante Frage doch vielmehr, ob ein Bild immer eine Repräsentation und damit eine Bezugnahme sein muss. 90 (Dass Bilder als Zeichen 86 87 88 89 90

Wiesing, Artifizielle Präsenz, S. 33 f. a. a. O., S. 34. ebd. Goodman, Sprachen der Kunst, S. 17. Wiesing, a. a. O., S. 35.

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Semiotische Bildtheorien

verwendet werden können oder aber Zeichen enthalten können, ist unstrittig.) Während z. B. Scholz als moderner Vertreter der Bildsemiotik den Bildbegriff für einen »primär« semiotischen Begriff hält, ist diese Aussage für Kulenkampff falsch. 91 Für Sachs-Hombach jedenfalls beruht die Kontroverse auf Missverständnissen, 92 und auch für Herder ergibt sich »der Dissens der Phänomenologen mit den Bildsemiotikern […] oft aus unterschiedlichen Konzeptionen des Phänomens Bild, hauptsächlich aber aus den unterschiedlichen Konzeptionen des Phänomens Zeichen«. 93 Und nun ist zu fragen: Was ist eigentlich ein Zeichen? Und kann es wie bei den Bildbegriffen auch unterschiedlich weite Zeichenbegriffe geben, sodass man in dieser Kontroverse vielleicht gar nicht immer über die gleichen Gegenstandsbereiche redet?

3.2 Semiotische Bildtheorien Zeichen sind allgegenwärtig: Verkehrszeichen, Gesten, Wegweiser, Flussdiagramme, Kontostandsinformationen, Schriftzeichen (auch in der frühen Form der Bilderschriften), Noten, Choreographien, logische und mathematische Zeichen, Automarken, chemische Reaktionsgleichungen, Graphiken, Modelle (wie das der DNS oder des Atoms), Gaunerzinken, Blindenschrift, Stenographie, Landkarten und Stadtpläne, Fieber und andere Krankheitssymptome, Blockdiagramme, Uhren mit Zifferblättern oder Digitalanzeige, Ortsschilder, Uniformen mit Rangabzeichen, Roben, Talare, und auch Mode generell, Eheringe, Nationalflaggen, Zunftzeichen, Stadtsiegel etc. 94 Zeichen bedeuten etwas für jemanden, und natürlich haben sich auch Philosophen schon früh mit den Phänomenen und Funktionen von Zeichen beschäftigt. Schon in vorsokratischer Zeit unterschied Heraklit bei sprachlichen Zeichen »drei Bestandteile, die eine ›Einheit‹ bilden: ›Logos‹, im Sinne der Aussage über einen Vorgang, sofern er erkannt

Kulenkampff, Jens, Sind Bilder Zeichen?, in: Steinbrenner/Scholz/Ernst (Hg.), Symbole, Systeme, Welten. Studien zur Philosophie Nelson Goodmans, S. 185–202, hier S. 187. 92 Sachs-Hombach, Das Bild als kommunikatives Medium, S. 77. 93 Herder, Bild und Fiktion, S. 54. 94 s. Walther, Allgemeine Zeichenlehre, S. 59 91

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und ausgesagt wird, ›Epos‹ im Sinne des sprachlichen Vorgangs selbst, und ›Ergon‹ im Sinne eines empirischen Vorgangs, auf den sich ›Epos‹ bezieht. Heraklit geht davon aus, dass der ›Logos‹ das ›Epos‹ erzeugt, das seinerseits das ›Ergon‹ bezeichnet.« 95 Für das Verhältnis von signum und designatum ist sicherlich die platonische Zweiweltentheorie bedeutsam geworden, nach der Zeichen wie andere materielle Dinge auch als Abschattung des eigentlich, d. h. in idealer Weise, Existierenden gesehen werden. Bereites im Kratylos und im Sophistes findet sich eine rudimentäre Zeichentheorie, bei der zunächst sprachliche Zeichen im Vordergrund stehen. Auch Platon unterscheidet drei zusammengehörende Glieder, nämlich 1. das Zeichen selbst (semeion), 2. die Bedeutung des Zeichens (semainómenon), und 3. das bezeichnete Objekt (pragma). 96 Das Zeichen hat also eine Mittlerfunktion zwischen dem konkreten Bereich alltäglicher Erfahrung und dem Gemeinten, einer inhaltlich vorgestellten Bedeutung, z. B. eines Begriffs. Dabei sind die Zeichen willkürlich bestimmt, z. B. weisen die sprachlichen Zeichen »man«, »Mensch« und »homme« auf den Gattungsbegriff des Menschen, mit dem wir eine bestimmte Vorstellung verbinden, die – entweder als objektive Idee oder als intersubjektive Vorstellung – für Menschenrechtskonzeptionen von Belang ist. Doch auch für Aristoteles »steht das Sein ontologisch vor dem Zeichen und das Zeichen ›nur‹ für das Sein. […], d. h. der ›aristotelische Empirismus‹ trägt weiterhin seine platonische Erblast, weil das Zeichen immer noch seine Wahrheit am Sein als der Form haben soll«. 97 Zwar befindet sich das Allgemeine nicht in einer vorgängig gegebenen Sinnschicht (ante res), sondern in den Dingen selbst (in rebus), aber dieses Wesenhafte ist ideell gedacht, obgleich durch empirische Untersuchungen zu ermitteln. Allerdings ist durch den neuen Wahrheitsbegriff des Aristoteles (der adaequatio rei et intellectus, einer Korrespondenz zwischen Sachverhalt und Aussage) eine Zeitbestimmung für Aussagen nötig geworden, die ihren Gültigkeitsbereich abgrenzt, wodurch für Simon im Grunde schon der Aspekt des Zeicheninterpretanten, d. h. der des aktiven Zeichengebrauchs, ins Spiel kommt. 98 Natürlich sind damit metaphysische Prämissen

Walther, a. a. O., S. 10. a. a. O., S. 11. 97 Simon, Philosophie des Zeichens, S. 11. 98 ebd. Die entsprechenden Stellen finden sich im Organon, insbesondere in der Abhandlung »Über den Satz« (peri hermeneias). 95 96

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Semiotische Bildtheorien: Peirce

gesetzt, die noch für Leibniz’ Begriffsschrift, die characteristica universalis relevant bleiben und dann von John Locke in seinem »An Essay Concerning Human Understanding« hinterfragt werden. »Anschauungen ohne Begriffe sind blind«, sagt Kant. 99 Es ist der Beitrag des Geistes zum Prozess des Erkennens, der in der Semiotik als neuer Grundlagenwissenschaft eine zentrale Rolle spielt. Ich habe im Folgenden drei Semiotiker ausgewählt, deren Systeme für die Bildsemiotik von Belang sind: Peirce, Goodman und Eco, und stelle sie dann drei bildphänomenologischen Positionen gegenüber. Dabei sind auch ihre ontologischen Grundprämissen von Belang.

3.2.1 Die Neubegründung der Semiotik durch Charles S. Peirce (1839–1914) 3.2.1.1 Erkenntnis als Repräsentation »All thought is in signs«, 100 so Peirce. Und ausführlicher an anderer Stelle: »If we seek in the light of external facts, the only cases of thought which we can find are of thought in signs. Plainly, no other thought can be evidenced by external facts. But we have seen that only by external facts can thought be known at all. The only thought, then, which can possibly be cognized, is thought in signs. But thought which cannot be cognized does not exist. All thought, herefore, must necessarily be in signs.« 101

Mit dieser frühen Erkenntnis des sprach- und damit zeichengebundenen Denkens ist eine Entscheidung verbunden: nämlich die, dass es keinerlei unmittelbare Erkenntnis geben kann, sondern immer nur vermittelte. Peirce hatte sich schon in seiner Jugend mit Kants Kritik der reinen Vernunft beschäftigt, ein Werk, das ihm lebenslang als Referenzpunkt diente, auch wenn er auf charakteristische Weise darüber hinausging. »Die Ausführungen Kants sind besonders geeignet, die Positionen des Realismus und des Idealismus genauer zu charakterisieren. Für den Idealismus ist das Bewusstsein des Gegenstands rein eine Weise des SelbstbewusstKant KrV A 52. Die andere Hälfte des Zitats, »Gedanken ohne Inhalt sind leer«, stelle ich den phänomenologischen Bildtheorien voran. 100 Peirce, Collected Papers (CP) 5.253. 101 Peirce, CP 5.25q 99

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seins […]. Für den Realismus hingegen ist das Bewusstsein des Gegenstandes eine Weise des Selbstbewusstseins, die die Existenz von Gegenständen außerhalb des Bewusstseins voraussetzt.« 102

Ontologisch gesehen ist also beim Realismus die phänomenale Welt der Gegenstände und Sachverhalte primär, die des Bewusstseins sekundär, während beim Idealismus die geistige Welt fundamental und prägend ist. 103 Bei Kant ist Denken Erkenntnis durch Begriffe (KrV B 94), doch dieses Denken muss von Sinneserfahrungen »affiziert« werden; »Sein ist also nur für die Zeit des Denkens zu denken, und nicht als eine dem Denken vorausliegende Substanz« (so Kants DescartesKritik, und so verzichtet er auch in seiner Kategorientafel (KrV B 95, B 106) auf die Aristotelische Kategorie der Substanz). Diese seine Kategorien sind die zentrale Idee Kants (und die Rechtfertigung dafür, dass er seinen Ansatz mit der umwälzenden »Kopernikanischen Wende« vergleicht), denn erstmalig geht es bei Kant in der Erkenntnistheorie also nicht um die Erkenntnisobjekte, sondern um die Fähigkeit des Subjekts, die Realität nach bestimmten Prinzipien zu erkennen und sich Urteile zu bilden. Das bedeutet auch, so Kant kritisch, dass wir die »Dinge an sich« in ihrem Sosein gar nicht erkennen können, sondern sie uns nur vermittelst der in unserem Verstand angelegten Strukturen repräsentieren können. So ist die Realität also immer nur eine Realität für uns; über die eigentliche Realität ohne unsere unbewussten Strukturierungsleistungen können wir nichts sagen. Wir machen uns Bilder, die dem Eigentlichen nicht entsprechen. So sehr Peirce Kants Gedanken der Vermittlung (hier: durch Kategorien) billigt (und weiterführen wird), so sehr lehnt er jedoch die Idee einer an sich und in sich unerkennbaren Realität ab und entwickelt ein Gegenprogramm. »Peirce bekennt sich zu Kant im Sinne einer Einschränkung aller Begriffsgeltung auf mögliche Erfahrung und nennt das ›Pragmatismus‹ (5.525). Da er aber zugleich und gerade wegen dieser kritischen Restriktion unerkenn102 Klaus Oehler, Idee und Grundriss der Peirceschen Semiotik, in: Krampen (Hg.), Die Welt als Zeichen, S. 33. 103 Für Oehler (ebd.) hat aber diese Alternative spätestens seit Carnaps Scheinprobleme der Philosophie an Attraktivität eingebüßt, und – wie man sehen wird – finden sowohl Peirce als auch Merleau-Ponty Positionen, die über diese Alternative hinausgehen. Simon, a. a. O., S. 27.

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Semiotische Bildtheorien: Peirce

bare Dinge-an-sich ablehnt (5.452), so ergibt sich für ihn die Möglichkeit, ja die Unvermeidbarkeit einer realistischen Metaphysik […]. Denn das ›Reale‹ kann von uns nicht anders denn das ›Erkennbare‹ gedacht werden (5.275).« 104

Durch Zeichen und Zeichenkombinationen repräsentieren wir uns Dinge und Sachverhalte. Peirces Programm ist daher eine semiotische Transformation des neuzeitlichen Erkenntnisbegriffes »gewissermaßen von einem medium quod-Begriff in einen medium quo- Begriff«, denn »Erkenntnis ist für Peirce weder Affiziertwerden durch Dingean-sich, noch Intuition gegebener Daten, sondern Repräsentation der äußeren ›Tatsachen‹«. 105 Im Gegensatz zu Apel aber hebt für Schönrich Peirces Ansatz den repräsentationalistischen Zeichenbegriff auf: »Das Zeichen ist dem Denken nicht nachträglich aufgepfropft; Denken ist ab ovo zeichenvermittelt […], es ist von Haus aus ein objektiver Zeichenprozess.« 106 (my italics) Vielleicht kann man hier vermittelnd mithilfe von Cassirers Kritik am Dingbegriff argumentieren (der sich allerdings explizit nicht auf Peirce bezieht), dass mit der Abkehr von transzendenten Dimensionen der Begriff der Repräsentation einen Bedeutungswandel erfährt. 107 Denn Erkennbarkeit und Sein sind für Peirce wie für Berkeley »nicht nur metaphysisch dasselbe, sondern diese Termini sind synonym.« 108 Sein sinnkritischer Ansatz wendet sich gegen den »Begriff des absolut Unerkennbaren« (CP 5.265 und 5.310) Die Leugnung eines absolut unerkennbaren Dinges an sich ist für Apel die Aufhebung des Unterschieds von noumena und phainomena, 109 also auch die Absage an eine Zweiweltentheorie. Durch selbsterfundene Zeichen, die aber allgemeinverständlich sein müssen, z. B. durch Konventionen eingeübt, machen wir uns also ein Apel, Der Denkweg von Charles Sanders Peirce, S. 29 f bezieht sich mit der Nummerierung auf Peirce C(ollected) P(apers). 105 Apel, a. a. O., S. 46. 106 Schönrich, Zeichenhandeln. Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im Ausgang von Ch. S. Peirce, S. 69. 107 Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 376: »Jede besondere Phase der Erfahrung besitzt in der Tat, wie jetzt erkannt wird, »repräsentativen« Charakter, sofern sie auf eine andere hinausweist und schließlich im geregelten Fortschritt auf den Begriff der Erfahrung überhaupt hinführt.« 108 Peirce, CP 5.257. 109 Apel, a. a. O., S. 72 f. 104

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Bild. Da die Zeichen, um verständlich zu sein, von Anfang an in einer intersubjektiven Ebene verortet sein müssen, kann es auch keine private Sprache bzw. vorsprachliche Introspektion geben. Dieses externalistische Argument wird später Wittgenstein in seinem »Privatsprachenargument« aufgreifen. 110 Wir haben jedoch keine Gewissheit: Unsere Meinungen sind fehlbar, sie müssen an der Erfahrung und an anderen Meinungen geprüft werden, wir können allenfalls ihre Plausibilität nachzuweisen suchen, doch »in the long run«, darauf vertraut Peirce, werden sie der Realität gerecht werden. Dabei geht er von der alltäglichen Erfahrung aus, an der alles gemessen werden muss, die aber »schon immer durch Verallgemeinerung, in der Abfolge von Vermutungen, Bestätigungen und Folgerungen, überspannt wird«. 111 Damit sind auch – anders als bei Kant – alle Sorten logischen Schließens erfahrbar bzw. aus Erfahrung entstanden. Peirce führt drei Arten von Schlussverfahren an, die zu weiterer mittelbarer, d. h. vermittelter Erkenntnis führen: Deduktion, Induktion und Abduktion, und deutet so auch die Logik semiotisch: Bei der Deduktion werden die Prämissen »zu ihrer Konklusion deduziert«, 112 es wird also aus vorgegebenen Sätzen auf Folgen geschlossen, bei der Induktion wird durch Verallgemeinerung vom Besonderen aufs Allgemeine geschlossen, und bei der Abduktion (eher ungebräuchlich), deren gleichwertige Behandlung Peirce bei Aristoteles und seinen Nachfolgern vermisst, 113 handelt es sich um eine mögliche Erklärung einer völlig überraschenden Tatsache durch Hypothesen, die nur Wahrscheinlichkeitscharakter haben. 114 Dabei ist die Abduktion sogar grundlegend, »der erste Schritt im gesamten Prozess des Schließens«: 115 »Jede Vermutung ist analog zu einem innovatorischen oder abduktiven Schluss; jede Bestätigung entspricht einer Induktion und jede Folgerung einer Deduktion.« 116 Die Peirce’sche Semiotik hat daher für Pape einen Anfang in der 110 vgl. Münnix, Wittgenstein, Whorf and Linguistic Relativity. Is There A Way Out?, in: Münnix (Hg.), Über-Setzen. Sprachenvielfalt und interkulturelle Hermeneutik, S. 154–179, hier S. 159 ff. 111 Pape, Erfahrung und Wirklichkeit als Zeichenprozess, S. 21. 112 Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen (PLZ), S. 89. 113 Peirce, PLZ, S. 90–94. 114 Peirce, PLZ, S. 95. 115 Peirce, PLZ S. 96. 116 Pape, Erfahrung und Wirklichkeit als Zeichenprozess, S. 21.

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Semiotische Bildtheorien: Peirce

Welt und einen Anfang in der Wissenschaft: Ein »Ausgangspunkt im Wahrnehmen, Fühlen und Denken, in den einzelnen Hoffnungen, Gewissheiten und Meinungen ist […] der einzig sichere Grund von Erkenntnis, über den wir verfügen«, 117 vor allem sind nur auf der Basis geteilter Erfahrung Verständigung und Verständnis möglich, und darauf kann und muss jede wissenschaftliche Tätigkeit aufbauen, die Teilhabe an der Welt voraussetzt. Das Objekt der Erkenntnis ist die Wirklichkeit, weshalb implizit jede Erkenntnistheorie auch eine Theorie der Wirklichkeit beinhaltet. Deshalb hat Peirce von Anfang an, bereits in drei Abhandlungen 1868/69 das Problem der Erkenntnis nicht losgelöst von dem der Wirklichkeit behandelt. Die »Four Incapacities«, die vier Unvermögen des Menschen, formuliert Peirce also schon sehr früh, und sie bilden in mancher Hinsicht den Ausgangspunkt für seine Überlegungen: »1. We have no power of introspection, but all knowledge of the internal world is derived by hypothetical reasoning from our knowledge of external facts. 2. We have no power of intuition, but every cognition is determined logically by previous cognitions. 3. We have no power of thinking without signs. 4. We have no conception of the absolutely incognizable.« 118

Peirce entwickelt die Semiotik zu einer Grundlagenwissenschaft par excellence, ja zu der Grundlagenwissenschaft überhaupt, »auf der mit Ausnahme der Phänomenologie alle philosophischen Disziplinen aufbauen«, denn sogar Logik (»im Sinne einer Argumentationstheorie«) 119 und Linguistik sind nicht ohne Vermittlung von Zeichen möglich. Und er entwickelt seine Semiotik sogar bis hinein in eine Kommunikationstheorie, die dem intersubjektiven Charakter von Zeichen und Zeichensystemen Rechnung trägt. Denn über jeden dualen Zeichenbegriff hinaus ist für Peirce »ein Zeichen […] alles, was auf ein Zweites Ding, sein Objekt, hinsichtlich einer Qualität auf eine solche Weise bezogen ist, dass es ein Drittes

Pape, Einleitung zu Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen (PLZ), S. 7–37, hier S. 10 ff. 118 Peirce, CP 5.265. 119 s. Pape, Charles S. Peirce, S. 118. 117

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Ding, seinen Interpretanten, in die Beziehung zu demselben Objekt bringt.« 120 Hiermit ist eine Forderung nach einer Beziehung zwischen einer zeichenunabhängigen Wirklichkeit, dem Verstehen des Zeichens, und der Mitteilung des Verstandenen verbunden: »Die Aufgabe des Zeichens ist es, die Welt in Richtung auf ausgewählte unabhängige Objekte hinsichtlich ihrer Eigenschaften zugänglich zu machen.« 121 Diese Trichotomie zwischen dem Zeichen selbst, seinem Objektbezug und seiner Interpretation/Bedeutung ist fundamental, und damit gelten auch Gedanken als Zeichen, ja sogar Menschen als Zeicheninterpreten werden zu Zeichen: »Wenn sie sich sprechend und agierend austauschen, treten sie in das Verhältnis einander interpretierender Zeichen«, obwohl sie natürlich zugleich auch füreinander unabhängige Wirklichkeiten sind. 122 Pape erklärt diese allgemeine triadische Zeichendefinition anschaulich als »Beziehung eines Objekts (z. B. einer Kirche), eines Zeichenmaterials (z. B. des Fotos dieser Kirche), und seiner Interpretation (z. B. meiner Identifikation der Kirche bei einem Spaziergang aufgrund des Fotos).« 123 Und prinzipiell kann jeder Interpretant weiter interpretiert werden und damit selber zum Zeichen für weitere Deutungen werden, denn das bedeutet, »dass der Interpretant selbst ein Zeichen ist, das ein Zeichen desselben Objekts bestimmt und so fort ohne Ende.« 124 (Man könnte also die oben erwähnte Kirche auch als Repräsentant eines bestimmten Baustils identifizieren, als Werk eines besonderen Architekten, oder in ihrer Funktion als Ort einer besonderen Hochzeit oder bei Regen oder großer Hitze als Schutzraum begreifen, etc.) Damit ist die Eigenschaft der Transitivität für alle Zeichen gefordert, sodass sich eine offene Folge von interpretierenden Zeichen ergibt, wobei jedes nachfolgende interpretierende Zeichen das vorherige interpretiert und die Deutungen, wie man hoffen kann, immer besser werden. (Wie man sehen wird, hat Derrida diese Idee mit seiner Vorstellung einer Signifikantenkette aufgenommen und für seine Zwecke modifiziert.)

120 121 122 123 124

Peirce, CP 1.92, in der Übersetzung von Pape (in: Pape, Charles S. Peirce, S. 119). Pape, Charles S. Peirce, S. 119. ebd. Pape, a. a. O., S. 123. Peirce, PLZ, S. 64.

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Damit ist die regulative Idee Kants als Ziel alles Erkennens umgedeutet, denn sie ist nicht länger transzendental. Nagl diagnostiziert ein Abrücken von Kants Theorie der Erfahrung in zweifacher Hinsicht: Erstens habe Peirce Kants »Ding an sich« ersetzt »durch die Idee einer (verschiebbaren) Begrenztheit, einer Falsifizierbarkeit und ›Meliorisierbarkeit‹ unseres Wissens«, denn wir wissen zwar nicht endgültig, wie die Dinge wirklich sind, doch können wir, wenn wir voneinander lernen und unsere Hypothesen einer öffentlichen Debatte zuführen, »in the long run« zu einer Darstellung der Welt gelangen, wie sie »unabhängig von unseren bloß subjektiven Meinungen wirklich ist«. 125 (Hier hat wohl Thomas Nagel mit seiner Idee der Ultraobjektivität trotz aller menschlichen Perspektivität angesetzt. 126) Zweitens schlage Peirce vor, Kants »transzendentales Subjekt« (»das alle meine Vorstellungen muss begleiten können«) als erkenntniskonstituierende Ich-Instanz »semiotisch so umzudeuten, dass es […] zur Gänze zeichentheoretisch reformulierbar wird. Das menschliche Subjekt wird als komplexes Zeichen gesehen, das zwar seinerseits in einem semiotischen Kontinuum steht, andererseits aber in der Vielfalt seiner Relationen auch Anlaufstelle und Ort einer intersubjektiv vermittelten Konsistenz des Zeichenzusammenhangs ist: ›das Ich denke oder die Einheit des Denkens […] ist nichts als Konsistenz‹«. 127 Für Nagl ist aber Peirce »trotz wachsender Distanz zur Kantischen Philosophie in mindestens zweifacher Hinsicht zeit seines Lebens Kantianer geblieben: Erstens, insofern sein Begriff der Zeichenvermitteltheit alles Denkens gegen einen naiven Abbildrealismus gerichtet ist, also gegen eine Widerspiegelungs- oder ›Copy-Theory‹ der Wahrheit, die annimmt, dass Sprache nichts anderes leistet, als ein außersprachlich Gegebenes ›ikonisch‹ zu präsentieren.« 128

Zweitens macht Nagl einen anti-nominalistischen Impuls aus, denn Zeichen seien für Peirce nicht »bloße Worte« oder Namen, sondern bezögen sich auf Reales, hätten ihr Fundament in realer Erfahrung. Zwar seien sie von uns erfunden, aber deshalb noch kein Ausdruck 125 126 127 128

Ludwig Nagl, Charles Sanders Peirce, S. 26. vgl. Thomas Nagel, Der Blick von Nirgendwo, S. 17 ff. Nagl, a. a. O., S. 27. ebd.

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beliebiger Übereinkünfte, denn sie könnten (und sollten) sich in der Praxis bewähren. 129 3.2.1.2 Pragmatismus und objektiver Idealismus Idealisten glauben, dass wir alles, was wir erkennen, im Lichte von Ideen sehen. Wir brauchen die entsprechenden Begriffe, um etwas als etwas zu identifizieren. Die Zuordnung eines Einzelphänomens zu einem Gattungsbegriff, z. B. »Hund«, ist daher schon eine Form des Schließens. (Nach Eco kann Kant nicht erklären, wieso wir zu einem Urteil wie »das ist ein Hund« kommen.) Bei Peirce ist, wie wir sahen, solches Schließen anders als bei Kant schon Bestandteil der Wahrnehmung, und es liegt oft vor der Attribuierung eines passenden Begriffs (was Bloch zu einer von der klassischen Auffassung abweichenden Logik veranlasst hat: Ergriff vor Begriff). Eco gibt ein Beispiel für solche Abduktion im Falle von überraschenden Phänomenen: Wie uns heute klar ist, hat Marco Polo auf Java Nashörner gesehen, die er mit einem Begriff, den ihm seine Kultur bereithält, als »Einhörner« bezeichnet. Doch er notiert, dass diese »Einhörner« recht seltsam und unspezifisch sind, keineswegs weiß und schlank, sondern sehr hässlich, und dass sie »die Haut von Büffeln und Elefantenfüße« hätten, mit einem schwarzen und plumpen Horn und einem Kopf ähnlich dem eines Wildschweins. Marco Polo habe daraufhin den ihm bekannten Begriffsinhalt von »Einhorn« geändert, um dem Tier einen ihm vertrauten Namen geben zu können. 130 Da jedes Erkennen bei Peirce durch hypothetisches Schließen aus dem Erkennen äußerer Fakten und aus früheren Erkenntnissen entsteht, ist »die Peircesche Darstellung […] quasi eine Beschreibung dessen, was Marco Polo angesichts des Nashorns scheinbar ungeschickt versucht: Er hat weder eine ›platonische‹ Anschauung des unbekannten Tieres, noch versucht er dessen Bild und Begriff ex ovo zu konstruieren, sondern macht bricolage aus bereits vorhandenen Begriffen und entwirft eine neue Entität, indem er von dem ausgeht, was er über schon bekannte Entitäten bereits weiß. Im Grunde erscheint das Erkennen des Nashorns als abduktive Sequenz, die weit komplexer ist als die kanonische Sequenz […]. Ich würde von einer abgebrochenen Abduktion sprechen.« 131

129 130 131

Nagl, a. a. O., S. 28. Eco, Kant und das Schnabeltier, S. 73. Eco, a. a. O., S. 75 f.

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Was aber, so fragt Eco, wäre gewesen, wenn Marco Polo in Australien auf ein Schnabeltier getroffen wäre? So wie für Aristoteles das Kamel nicht in seine Begriffsschemata passte, so stellte dieses Ende des 18. Jahrhunderts entdeckte Tier, das zunächst als »watermole« (Wassermaulwurf) bezeichnet wurde, die Forschergemeinschaft vor Probleme, mit denen man sich 80 Jahre lang herumschlug. In England hielt man ein ausgestopftes Exemplar sogar für einen Scherz eines Tierpräparators, denn es passte in keine der vertrauten Klassifikationen: Obwohl es einen Schnabel hatte, war es kein Vogel, denn es hatte vier Beine. Obwohl es Eier legte, war es ein Säugetier, das seine Jungen säugte, aber keine Zitzen hatte. Dazu hatte es ein Fell und den Schwanz eines Bibers und auch noch Schwimmhäute an den Pfoten wie ein Wasservogel. 132 Das Beispiel soll deutlich machen, dass wir beim »outward clash«, bei der Begegnung mit überraschenden Phänomenen in der Realität, mit unseren Begriffsschemata und Theorien oft hilflos dastehen (Eco spricht sogar von einem »Schock«) und auf Vermutungen und Hypothesen angewiesen sind, mit welchem Namen oder welcher Erklärung ein Phänomen wohl passend zu be-zeichnen oder zu beschreiben sei. (Man denke an die Epizykeltheorie des Tycho von Brahe, der die Planetenbewegungen von der Erde aus zu beschreiben suchte, noch nachdem die Entdeckung von Kometen das aristotelische geozentrische Weltbild falsifiziert hatte.) Wir müssen also unsere Begriffe und Theorien an der Praxis prüfen (jedes Wahrnehmungsurteil beinhaltet schließlich schon eine Klassifikation, so Peirce 133), sie müssen zur Erfassung der Realität tauglich sein und notfalls angepasst werden. Unter der Überschrift »Pragmatismus – die Logik der Abduktion« führt Peirce aus: »[…] der Pragmatismus stellt eine bestimmte Maxime auf, die, wenn sie vernünftig ist, jede weitere Regel unnötig machen muss, was die Zuverlässigkeit, Hypothesen als Hypothesen zu klassifizieren, das heißt als Erklärungen von Phänomenen, die für hoffnungsvolle Vermutungen gehalten werden, betrifft […].« 134

Da die Abduktion als Folgerung verstanden werden kann und »eine Hypothese auf einen möglichen Grund oder eine mögliche Ursache zurückführt«, spricht Walther auch von einem Rückschluss oder 132 133 134

Eco, a. a. O., S. 108 f. Peirce, Lectures on Pragmatism (LP), Hg. Walther, S. 247. Peirce, LP, S. 263.

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einer »Retroduktion«, die man als beständige Rückkopplung deuten könnte: »der Schluss von den Folgen auf die Gründe, von den Wirkungen auf die Ursachen ist jedenfalls ein mindestens ebenso häufig auftretendes Verfahren wie der umgekehrte Schluss von den Gründen auf die Folgen, bzw. von den Ursachen auf die Wirkungen«, 135 während die Induktion »für die experimentelle Verifikation die entscheidende Rolle spielt« 136 und dann vom Einzelnen aufs Allgemeine schließt. Denn »in the long run« werde man, so Peirce, durch Kombination der Schlussverfahren zu angemessenen Bezeichnungen kommen (die mit einem fundamentum in re, nicht als bloße Namen verstanden werden) und mit Theorien durch kritische Prüfung an der Realität mit dem Denken dieser immer angemessener werden. Die von Peirce in diesem Zusammenhang formulierten drei »Schleifsteinsätze« 137 lassen also einen erkenntnistheoretischen Realismus erkennen: Dabei ist der Bezug zur Praxis über die Abduktion für Peirce fundamental. Jede Erkenntnis muss sich an der Praxis bewähren, und damit ist nicht bloß pure praktische Nützlichkeit gemeint, wie es Cassirer, offenbar in Unkenntnis der Peirce’schen Konzeption, am Pragmatismus kritisiert. 138 Vielmehr formuliert Peirce als Maxime: »Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Auswirkungen haben könnten, wir den Gegenständen unseres Begriffes in der Vorstellung zuschreiben. Dann ist unser Begriff jener Wirkungen das Ganze unseres Begriffes des Gegenstandes.« 139

Die rationale Bedeutung eines Begriffs oder Satzes liegt nämlich in der Zukunft, sie ist die »Form, in der der Satz auf das menschliche Verhalten anwendbar wird.« 140 Die noch nicht absehbare BegriffsverWalther, Einleitung zu Peirce, Lectures on Pragmatism, S. LXXVII. Walther, a. a. O., S. LXXIX. 137 Peirce, LP, S. 241 ff. 138 Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 421 f. »Indessen treffen freilich derartige Erwägungen nicht die feinere und subtilere Fassung, die der Pragmatismus insbesondere durch Dewey und seine Schule erhalten hat. Hier ist das Problem zum mindesten von jenen Unklarheiten und Zweideutigkeiten befreit, mit denen es in der populären philosophischen Diskussion behaftet bleibt.« (Zum Wahrheitsbegriff des Pragmatismus s. Teil I) 139 Peirce, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus (SPP) (Hg. Apel), S. 454 (Kursivsetzung von Peirce, um sich von James und der Popularisierung des Pragmatismusbegriffs abzusetzen) 140 Peirce, SSP, S. 442. 135 136

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wendung macht also die volle Bedeutung aus. Dazu gehört ein methodisches Verfahren, »den Konsequenzen, die den Begriffen zugehören, nachzugehen und sie zu vergleichen […], um die differenten Bedeutungen differenter Begriffe festzustellen«. 141 Peirce stellt sich eine Argumentationsgemeinschaft vor, die sich wie eine scientific community über Generationen hinweg entwickelt und zu immer besseren Urteilen über die Welt kommen kann. Diese Idee wird Popper in seiner späteren evolutionären Erkenntnistheorie aufnehmen und mit seinem kritischen Rationalismus auch die Methode der Falsifizierbarkeit gegen das empiristische Sinnkriterium setzen. In dem von Peirce 1870 gegründeten »metaphysical club«, in dem der Begriff »Pragmatismus« geboren wurde, war auch, anders als bei den Empiristen, spekulatives Denken zugelassen, und eines der Mitglieder war William James, der durch populäre publikumswirksame Vorträge den Begriff des Pragmatismus bekannt machte und dafür sorgte, dass er schließlich Weltgeltung erlangte. »James wie auch Dewey haben tatsächlich beinahe alle neuen Denkfiguren ihrer Philosophie – oft in nahezu wörtlicher Rezeption – den Ansätzen von Peirce zu verdanken«, 142 sie ließen aber die Semiotik weitgehend weg und setzen jeweils verschiedene neue Akzente, sodass Peirce seine Position später in »Pragmatizismus« umbenannte, »ein Wort, das hässlich genug ist, um vor Kindsräubern sicher zu sein«. 143 Ein weiteres Mitglied des »metaphysical club« war Chauncey Wright, begeisterter Anhänger der Evolutionstheorie, 144 was wohl der Quellpunkt dafür war, dass Peirce nach vielen Diskussionen später seine semiotische Erkenntnistheorie in eine evolutionäre Kosmologie einbettete. Wenn wir die Erfahrung der Wirklichkeit passend durch Zeichenprozesse mit Be-zeichnungen organisieren, kommen wir in Kontakt mit dem »unmittelbaren Objekt«, da die Zeichen sich ja auf etwas beziehen müssen. Das Zeichen wird vom Objekt motiviert (keineswegs im Sinne einer Kausalrelation). Es Peirce, SPP, S. 315. Apel, Der Denkweg von Charles Sanders Peirce, S. 25. 143 Peirce, SPP, S. 432 (James habe den Begriff aufgenommen, als er sah, dass sein »radikaler Empirizismus« im Wesentlichen der Definition, die der Verf. dem Pragmatismus gegeben hatte, entspricht, wenn auch mit einem gewissen Unterschied in der Blickrichtung. […] So fühlt der Verfasser nun, nachdem sein Sprössling »Pragmatismus« so befördert wurde, dass es Zeit ist, ihm den Abschiedskuss zu geben und ihm seinem höheren Schicksal zu überlassen […].«) 144 Peirce, LP, S. 75; s. auch Nagl, Charles Sanders Peirce, S. 13. 141 142

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»macht dabei ein Objekt vorstellig; das tut es zwar nur in einigen, durch das Zeichen herausgehobenen Aspekten, ›kollateral‹ wird aber mitgewusst, dass sich diese Aspekte auf ein ganzes Objekt beziehen. Diese Differenz zwischen ›Hinsicht‹ und Totalität im Objektbegriff führt zu Peirces Unterscheidung zwischen ›unmittelbarem‹ und ›dynamischem Objekt‹.« 145

Der im Zeichen, z. B. durch eine bestimmte Perspektive, repräsentierte aspekthafte Objektbezug kann also dynamisch erweitert werden. Denn das dynamische Objekt ist das Objekt selbst, unabhängig von irgendeiner Repräsentation durch Zeichen (z. B. durch Namen), das aber gleichwohl ermöglicht und bewirkt, dass ein Zeichen erzeugt werden kann. 146 Da die Zeichen in ihrem Objektbezug als angemessen intersubjektiv verstanden werden müssen, steht gemeinsam geteilte Erfahrung am Beginn der Semiose. Peirces semiotische Erkenntnistheorie kann also als realistisch bezeichnet werden. 147 Im Unterschied zur analytischen Philosophie spielen Alltagserfahrungen eine Rolle, 148 und die Phänomenologie ist Grundlagendisziplin. Doch sie ist vortheoretisch, ein wissenschaftliches Wirklichkeitsverständnis muss sich anschließen. 149 (Peirce war ja selber als Geodät – sein Brotberuf über längere Zeit – praktizierender Naturwissenschaftler). Wie nun lässt sich Peirces Pragmatismus mit einem objektiven Idealismus verbinden? Wie lässt sich ein Weg finden, der Realismus und Idealismus vereint oder über diese Alternative hinausgeht? »Für das alltägliche Bewusstsein unserer Lebenswelt existiert das Objekt der Erfahrung ausschließlich jenseits des Bewusstseins, für das reflexive Bewusstsein ist das Objekt als Objekt nicht möglich ohne die Tätigkeit des Bewusstseins, und insofern ist für das reflexive Bewusstsein das Objekt ein Produkt des Bewusstseins.« 150

Peirces innovative Kombination beider Positionen – Externalismus der Außenwelt und Prägung der Erkenntnisobjekte durch Zeichen-

Nagl, Charles Sanders Peirce, S. 30 f. Oehler, Idee und Grundriss der Peirceschen Semiotik, S. 24. 147 vgl. das Kapitel »Peirce’s Epistemological Realism in Almeder, The Philosophy of Charles S. Peirce, S. 109 ff. 148 Pape, Erfahrung und Wirklichkeit als Zeichenprozess, S. 22 f. 149 Pape, a. a. O., S. 19 und 22 f. 150 Oehler, a. a. O., S. 33. 145 146

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prozesse – ist nur dann »hopelessly inconsistent«, 151 wenn man den cartesischen Dualismus von Geist und Materie zugrunde legt, in dem dann entweder die Materie den Geist oder der Geist die Materie bestimmt. Doch davon geht Peirce ab, und hier kommt die bereits erwähnte evolutionäre Kosmologie ins Spiel: Nicht nur im Bereich des Geistes findet evolutionäre Entwicklung statt, auch im Kosmos generell, der als organistischer Prozess gesehen wird. Dabei beruft sich Peirce auf den von Spinozas Maxime deus sive natura 152 inspirierten Schelling, der bereits – vor Darwin – ein geistdurchwirktes prozesshaftes Naturgeschehen angenommen hatte. »The old dualistic notion of mind and matter, so prominent in Cartesianism, as two radically different kinds of substance, will hardly find defenders today. Rejecting this, we are driven to some form of hylopathy, otherwise called monism. […] The only intelligible theory of the universe is that of objective idealism, that matter is effete mind, inveterate habits becoming physical laws.« 153

Geist also steht am Beginn, wirkt in die Schöpfung hinein (Peirce verschließt sich durchaus nicht einem Common-Sense-Begriff göttlicher Wirkungsmacht 154) und artikuliert bzw. »erschöpft« sich in verschiedenen materiellen Formen. (Vielleicht kann man dies mit dem Prozess der Kristallbildung und -erstarrung veranschaulichen: Peirce selbst macht darauf aufmerksam, dass Denken (»thought«) »nicht notwendig an ein Gehirn gebunden (ist). Es erscheint in der Arbeit der Bienen, in den Kristallen und überall in der rein physischen Welt.« 155). So entsteht nicht nur eine evolutionäre Kosmologie, sondern auch »a Schelling-fashioned idealism which holds matter to be mere specialized and partially deadened mind«. 156 Almeder, The Philosophy of Charles S. Peirce, S. 148. Spinoza hatte in seiner Descartes-Kritik nur eine einzige Substanz gesetzt und einen pantheistischen Naturbegriff entwickelt, der ihn in Konflikt mit der Orthodoxie brachte. 153 Peirce, Collected Papers (CP) 6.248, s. auch 4.551 und 6.264 ff. 154 Auf Peirces Religionsphilosophie und seinen ungewöhnlichen Gottesbeweis kann hier nur verwiesen werden. Vgl. Estanislao Arroyabe, Peirce. Eine Einführung in sein Denken, Kap. »Gemeinschaft und Glaube«, S. 117 ff. sowie Pape, Charles S. Peirce, Kap. »Metaphysik: Die Evolution des Kosmos und die Stellung des Menschen«, S. 143 ff. 155 Peirce, CP 4.551. 156 Peirce, CP 6.102–8. Bereits Schelling war der Ansicht, dass materiellem Sein geistiges Sein zugrunde liege, die Objektwelt aber mehr als das Produkt des Ideellen sei. Er hatte eine organistische Vorstellung von der Natur, die im Menschen zum Geist 151 152

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Mit seiner Metaphysik der Evolution kreiert Peirce daher einen »modernen Idealismus«, der auf den Phänomenen der Alltagswelt und alltäglicher Erfahrung aufbaut, also die Existenz einer unabhängig vom menschlichen Geist vorhandenen Außenwelt anerkennt – unser Wissen ist also durchaus mitverursacht durch etwas außerhalb von uns selbst. Doch gleichwohl werden Zeichenprozesse als Stufen auf dem Weg zu einer objektiv gewussten Realität und immer besserer Wirklichkeitserkenntnis gedeutet. Almeder bemerkt noch, dass das Konzept nur stimmig ist, wenn man zwischen dem endlichen menschlichen Geist und dem absoluten Geist unterscheidet. 157 Denn, um mit Hegel zu schließen: »Das Wahre ist das Ganze.« 158 3.2.1.3 Kategorien und Relationen Seine pragmatische Orientierung an der phänomenalen Welt als »ground« und die sich daran anschließenden Zeichenprozesse führen Peirce – vielleicht in Orientierung an der klassischen Trias der Erkenntnistheorie Wahrnehmung/Verstand/Vernunft, vielleicht aber auch in Analogie zu Hegels dreischrittiger Dialektik – zur Formulierung von nur drei Kategorien. Kategorien können als Oberbegriffe nicht noch weiter auf andere Oberbegriffe zurückgeführt werden, sie geben an, welche Formen von Begriffen es geben kann, sie »beschreiben die allgemeinste Struktur der Realität«, sind aber nicht nur Elemente des Geistes, sondern auch »sich durchhaltende Grundzüge der Sache selbst«, weisen also einen »logisch-ontologischen Doppelaspekt« 159 auf. Peirce selber bemerkt: »Aristoteles sagt über Dinge, die so völlig ungleichartig sind, dass sie nichts gemeinsam haben, sie gehörten zu verschiedenen Kategorien.« 160 Bereits Trendelenburg, mit dessen Geschichte der Kategorienlehre sich Peirce intensiv beschäftigte, hatte die zehn aristotelischen Kategorien als solche der Sprache erkannt, finde (vgl. Teilhard de Chardins Versuch, Geist als »élan vital« (Bergson) einer sich evolutionär fortentwickelnden materiellen Welt zu deuten). 157 Almeder, a. a. O., S. 158. 158 Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede, S. 21. Peirce findet dieses Werk »fehlerhaft«, »obwohl es vielleicht das tiefgründigste Werk ist, das jemals geschrieben wurde.« (Peirce, PLZ, S. 54) 159 Oehler, a. a. O., S. 59. 160 Peirce, PLZ, S. 52: »Heute sind seine Analysekategorien völlig überholt«, denn die Grenzlinie zwischen Sprache und Denken sei noch nicht gezogen gewesen.

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denen jeweils bestimmte Satzteile oder Wortarten zugeordnet werden können, und genau das tut explizit auch Peirce. 161 Er arbeitet aber mit den Kategorien Kants, der Quantität, Qualität, Relation und Modalität als allgemeinste Oberbegriffe festhielt, bei denen je drei Subkategorien entstehen, deren dritte sich als Kombination der ersten und zweiten Subkategorie ergibt. 162 (So z. B. ergibt sich in der Kategorie Qualität der Urteile neben bejahenden und verneinenden Urteilen unendliche, also solche, deren Wahrheit und Falschheit man nicht definit feststellen kann; bei der Kategorie der Relation neben kategorischen und hypothetischen Urteilen auch als drittes disjunktive Urteile. 163) Peirce hielt Kants Begründung nicht für stichhaltig, was ihn zur Umstellung der Kant’schen Kategorien veranlasste. 1859 – noch nicht 20 Jahre alt – veröffentlichte er New Names and Symbols for Kant’s Categories und setzte sich von der kantischen Konzeption ab. Dieser hatte nämlich in KrV B 166 formuliert: »Entweder die Erfahrung macht diese Begriffe, oder diese Begriffe machen die Erfahrung möglich.« Da Kategorien für ihn von der Erfahrung unabhängig existieren, also a priori, entschied er sich für den zweiten Weg, bei dem wir die Welt erst durch die Verstandesbegriffe konstituieren. Peirce aber entschied sich für den von Kant selbst skizzierten und dann verworfenen Mittelweg (KrV B 167 f), denn für ihn muss die Welt nicht ideell konstituiert, sondern aus der Erfahrung erschlossen werden. 164 Die Kategorien sind also nicht länger transzendental als Bedingung der Möglichkeit jeder Erkenntnis. Zunächst hatte Peirce in einem frühen Aufsatz 1857 drei Klassen von Entitäten festgehalten: Abstraktion, Gedanken und Dinge; bzw. sich zu drei Welten bekannt: Abstraktion, Bewusstsein und Wahrnehmung. Später redete er von (Empfindungs-)Qualität, Relation und Interpretation, wobei er zu Beginn noch ganz traditionell von der Subjekt-Prädikat-Struktur von Urteilen ausging, deren Relation zueinander durch eine Kopula hergestellt wurde, 165 ein Konzept, das es nicht in allen Sprachen gibt und das er später zugunsten einer abstrakteren relationenlogischen Strukturierung verließ. 166 a. a. O., S. 52. Oehler, a. a. O., S. 45 bezieht sich hier auf Kants KrV B 110 f. 163 s. Kant, KrV § 9: Von der logischen Funktion des Verstandes in Urteilen, B 95. 164 Oehler, a. a. O., S. 59. 165 Oehler, a. a. O., S. 52 f. 166 zum Thema Kopula s. Derrida, Das Supplement der Kopula, in: ders., Randgänge der Philosophie, S. 175–204. 161 162

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Denn es gibt nach Peirce nur drei fundamental verschiedene Arten von Zeichen (als »human form« der Realität 167), mit denen wir uns die Objekte und Prozesse der Wirklichkeit repräsentieren, und sie lassen sich relationenlogisch nach der Anzahl ihrer Korrelate unterscheiden, wobei sich gleichzeitig Stufen der Semiose ergeben. Wir müssen von den Phänomenen ausgehen (weshalb Peirces Kategorien auch mit seinem Pragmatizismus in Zusammenhang stehen) und diese zunächst – ganz scholastisch – »wahrnehmen, unterscheiden und generalisieren«. 168 Zunächst sind Zeichen, z. B. sprachliche Zeichen wie »rot« oder Wegweiser, in Bezug auf sich selbst zu betrachten, und die Kategorie der unmittelbaren Empfindungsqualität eines Phänomens, z. B. einer Farbe oder eines Geschmacks, erlaubt uns »punktuellen momentanen Zugang zur Wirklichkeit«. 169 Auch Begriffe wie Zufall, Wesen, Gefühl, Frische, Spontaneität und Neuheit gehören in diese Klasse. 170 Peirce nennt diese Dimension des Unmittelbaren »Erstheit«: »Erstheit ist das, was so ist, wie es eindeutig und ohne irgendeine Beziehung auf etwas anderes ist.« 171 Denn »jedes Ding muss ein nichtrelatives Element besitzen.« 172 Diese Erstheit wäre vielleicht mit Hegels reinem Für-sich-Sein zu vergleichen, das sich noch nicht in Beziehung zu Anderem, Andersartigem gesetzt hat. »Die Phänomenologie untersucht die Kategorien in ihren Formen der Erstheit«, 173 aber es ist gar nicht so einfach, nur das Phänomen selbst wahrzunehmen und zu beschreiben, ohne z. B. schon zu deuten und zu interpretieren. Auch das Zeichen in seiner materiellen Struktur (z. B. Druckerschwärze auf Zeitungspapier oder Ölfarbe auf Leinwand) ist zunächst einmal für sich selbst in seinem Sosein zu betrachten. Peirce unterscheidet hier drei Subzeichen: Quali-, Sinund Legizeichen (in der heutigen Linguistik »tone«, »type« und »token« 174), die entweder sinnlich wahrnehmbar, individuell oder

Simon, Philosophie des Zeichens, S. 47 bezieht sich hier auf Peirce CP 1.538. Peirce, CP 5.42, ebenso in PLZ S. 41. 169 Oehler, a. a. O., S. 60. 170 Pape, Charles Sanders Peirce, S. 31. 171 Peirce, PLZ, S. 55. 172 a. a. O., S. 60. 173 Peirce PLZ S. 62 bezieht sich hier auf den Hegel’schen Begriff von »Phänomenologie«. 174 Walther, Allgemeine Zeichenlehre, S. 57 f. 167 168

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konventionell verwendet werden, wobei oft die Trennschärfe fehlt. 175 (Für Walther sind z. B. Kunstwerke Sinzeichen, da sie – singulär – über reine Wahrnehmungsempfindung hinaus immer individuell sind und tatsächlich existieren. 176) Setzt man nun das Zeichen in Bezug zu seinem Objekt, also dem, was es be-zeichnet, so entsteht »Zweitheit«: Sowohl die Zuordnung eines Einzelphänomens zu einem Allgemeinbegriff (»Das ist eine Ampel«) als auch die Verknüpfung zweier Phänomene untereinander (»Eine Ampel ist ein Verkehrszeichen«, »Diese Ampel ist defekt«) führen zu Aussagen, mit denen man Dinge – und die entsprechenden Zeichen ebenso – begrifflich voneinander unterscheidet. Peirce: »Zweitheit ist das, was so ist, wie es ist, weil eine zweite Entität so ist, wie sie ist, ohne Beziehung auf etwas Drittes« (PLZ 55). Anders bei der einstelligen Relation in »x ist rot« ist die der Zweitheit zugrunde liegende Relation (z. B. in »x ist Vater von y«) eine zweistellige Relation. Solche Relationen sind zudem transitiv, d. h. es lassen sich beliebig lange Ketten bilden. Man muss jedoch zur Klärung festhalten, dass »die Kategorien […] die Verknüpfungen zwischen Begriffen« klassifizieren »und nicht Verbindungen zwischen den Gegenständen, die unter diese Begriffe fallen«. Pape erklärt dies mit »der idealistischen Annahme, dass die Beziehung zwischen den Gegenständen von der Form der begrifflichen Verknüpfung her dargestellt werden kann«. 177 Peirce selbst redet auch von einem psycho-physischen Parallelismus, eine Annahme, die als metaphysisch verbucht werden kann: »Alles Bewusstsein, die gesamte wache Existenz besteht in einem Gefühl der Reaktion zwischen Ich und Nicht-ich […].« 178 Daher spricht Peirce an anderer Stelle auch zur Erläuterung der Zweitheit von einem »Kampf«, denn die Begegnung mit der Welt der Objekte (auch begrifflich) erzeugt ein »Gefühl des Widerstands«, das eine Reaktion, ein Handeln 179, eine Attribution erfordert. In der Konfrontation von ego und non-ego trifft eine innere Welt auf eine äußere, 180 eine fürsichseiende auf eine ansichseiende Welt, und es 175 weiter ausgeführt z. B. bei Spinks, Peirce and Triadomania, Kap. 3: »Peirce’s first trichotomy: signs in relation to themselves«, S. 54–59. 176 Walther, Allgemeine Zeichenlehre, Teil 1: Die Peircesche Basistheorie, S. 57. 177 Pape, a. a. O., S. 37. 178 Peirce, PLZ S. 55. 179 Peirce, LP, S. 51. 180 Peirce, LP S. 67.

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entsteht ein Wahrnehmungsurteil. Das Zeichen im Objektbezug kann in drei Formen auftreten: Hier unterscheidet Peirce (sicher seine berühmteste Unterscheidung) zwischen den Zeichenarten Ikon, Index und Symbol. (Auf diese Trichotomie wird noch eingegangen werden. 181) Nun verfolgt Peirce aber nicht wie z. B. de Saussure einen zweidimensionalen Zeichenbegriff, ein drittes Moment muss wesentlich hinzutreten, denn die Beziehung zwischen einem Zeichen und seinem Objekt muss gewusst werden, damit sie konkrete Folgen in der Praxis, also z. B. für unser Handeln, aber auch für unsere Begriffsverwendung haben kann. Es muss also ein Interpretant hinzukommen, denn ein Zeichen ist ein Etwas, das immer etwas für jemanden bezeichnet, sonst hätte es keine Bedeutung. Zeichen sind also nur dann vollständig beschrieben, »wenn ein Mittel ein Objekt für jemanden bezeichnet oder – anders ausgedrückt – wenn jemand ein Mittel zur Bezeichnung eines Objekts verwendet.« 182 Inneres und Äußeres, Zeichen und Zeichenobjekt werden also logisch überformt von der Kategorie der Drittheit: »Drittheit finden wir überall dort, wo ein Ding eine Zweitheit zwischen zwei Dingen erzeugt. In allen diesen Fällen wird man finden, dass das Denken eine Rolle spielt. Mit Denken ist etwas Ähnliches wie die Bedeutung eines Wortes gemeint, d. h. sie kann dies oder das bestimmen, ist jedoch nicht auf irgendetwas Existierendes beschränkt.« 183

Eine denkende Instanz, die versteht, was es bedeutet, wenn ein auf der Kreuzung stehendes x (Zeichen sind in Zeichenkontexte eingebunden) defekt ist, wird eine Verhaltensweise ausbilden, die verallgemeinerbar ist. Über diese Verallgemeinerbarkeit kann man auf Regeln schließen, sodass den drei Kategorien je eine der drei Modalitäten zugeordnet werden kann: Die Erstheit (scholastisch: haecceitas) ist reine Potentialität, die Zweitheit repräsentiert eine Wirklichkeit, und die Drittheit folgt mit Notwendigkeit. 184 (In den Lectures on Pragmatism identifiziert Peirce diese drei Kategorien auch mit »Gegenwärtigkeit«, »Kampf« und »Gesetz«. 185) 181 vgl. Spinks, Peirce and Triadomania, Kap. 3.2 »Peirce’s second trichotomy: signs in relation to their objects«, S. 60–73. 182 Walther, Allgemeine Zeichenlehre, S. 71. 183 Peirce, PLZ, S. 57. 184 vgl. Walther, Allgemeine Zeichenlehre, S. 79. 185 Peirce, LP, a) S. 41–47; b) S. 47–69; c) S. 69–81.

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Für den Interpretantenbezug ist es vor allem wichtig, dass er an dritter Stelle der Triade steht und eine echte Drittheit darstellt. 186 (Er kann je nach Komplexität die Form von Rhema (Einzelzeichen, Begriff, weder wahr noch falsch 187), Dicent (Satz, wahrheitsfähig, drückt einen Sachverhalt aus) oder Argument haben 188 (bringt logische Beziehungen zwischen Aussagen zum Ausdruck, sicher die vollständigste Form des Interpretanten, in den Formen Abduktion, Induktion und Deduktion). Und er kann mit den Zeichenklassen der anderen Zeichenaspekte kombiniert werden. Ein Zeichen ist also eine triadische Struktur, die an jedem ihrer Pole jeweils wieder triadisch aufgespalten wird. Nimmt man die drei Dimensionen der Semiotik von Morris (Syntax, Semantik und Pragmatik) zu Hilfe, so lassen sich die Peirce’schen Kategorien der Erstheit, Zweitheit und Drittheit in Bezug auf Bilder so interpretieren: Die Erstheit beschreibt ein Bild hinsichtlich seiner materiellen Eigenschaften (Gliederung des Bildzeichens in Form, Farbe, Material etc.), d. h., es handelt sich also beim reinen Zeichenmittel (»Signifikant« bei Saussure) um syntaktische Merkmale. »In der Zweitheit wird das Zeichen im Bild unter dem Aspekt betrachtet, wie es sich auf ein Objekt bezieht. Diese Beziehung erfasst die semantische Bezeichnungsfunktion des Zeichens.« 189 (Bei Saussure: »Signifikat«.) Und in der Drittheit kommt die pragmatische Interpretationsstruktur im Interpretanten zum Tragen: Hier braucht es einen Interpreten, der die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem herstellt. Reduziert man diese triadische Struktur auf Dyaden, wie es Semiotiker nach Peirce getan haben, bedeutet dies aus Peirce’scher Perspektive eine unzulässige Verkürzung. Drei möglichen Spielarten sind denkbar: 1. Reduktion des Objekts (Beispiel: Saussure und Eco als Vertreter eines strukturalistischen Zeichenkonzepts), 2. Reduk-

Walther, a. a. O., S. 71. Peirce, CP 2.250 nennt als Beispiel den Begriff »Ferkel«, der die Vorstellung von der Art eines möglichen Objekts evoziert, »zu der jedes einzelne Ferkel gehören würde, gleichgültig, wie sehr es sich von anderen Exemplaren derselben Art unterscheidet« (Pape, Charles S. Peirce, S. 129). 188 Spinks, Peirce and Triadomania, Kap. 3.3. »Peirce’s third trichotomy: signs in relation to their interpretants, S. 74–90. 189 Schelske, Die kulturelle Bedeutung von Bildern, S. 34. 186 187

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tion des Interpretanten (Beispiel: Goodman als Vertreter eines nominalistischen Modells), 3. Reduktion des Zeichenmittels (Beispiel: Husserl als Vertreter eines intentionalen Konzepts). 190 Die Subzeichentypen können untereinander kombiniert werden, aber nicht alle der formal möglichen 33 = 27 Zeichenklassen sind auch inhaltlich möglich. Es bleiben zehn Zeichenklassen, 191 die im Hinblick auf ihre »Semiotizität«, ihre Zeichenhaftigkeit bzw. Repräsentationsfähigkeit geordnet werden können, denn in der ersten Zeichenklasse (rein mittelorientiert: rhematisch-ikonisches Qualizeichen) haben wir den stärksten Weltbezug und die niedrigste Semiotizität, in der 10. Klasse hingegen (rein interpretantenorientiert: argumentischsymbolisches Legizeichen) die höchste Semiotizität und den geringsten Weltbezug: 192 Die Zeichenklassen werden abstrakter. 193 Wenn sogar Argumente komplexe Zeichen sind, die ihrerseits wieder interpretiert zum Objekt werden und Anlass für weitere Argumente sein können, sieht man, wie weit dieser Zeichenbegriff ist. Auch die Argumente, sogar Theorien stehen für etwas, sie repräsentieren Sachverhalte der Realität, die wir uns so denkend erschließen können. Zeichen sind trotzdem generell unbestimmt, sie erfassen nur einen Teil der materiellen Welt und sind »trotz allem das einzige Mittel, durch das wir ›Welt‹ und ›Umwelt‹ erfassen bzw. erkennen können«. 194 Die relationslogische Differenzierung unterschiedlicher Zeichenaspekte weist logische Formen auf, deren Begrifflichkeit »die Logik von einzelnen Aspekten des Denkens dieser Formen unabhängig machen« soll. Hierbei geht es Peirce um eine »unpsychologische Sicht der Logik«, sie ist nicht bloß eine Weise des individuellen Denkens, sie ist im Zeichen selbst verwirklicht. Für Pape ergibt sich daher sogar ein logischer Idealismus, denn in den materiellen Zeichen ma-

190 Schönrich, Semiotik zur Einführung, S. 32 f. (Die Beispiele werden bis S. 43 weiter ausgeführt.) 191 wunderbar übersichtlich von Walther, Allgemeine Zeichenlehre, S. 78 und 83, in einer graphischen Veranschaulichung dargestellt, s. auch Peirce PLZ, S. 133 und Schelske, Die kulturelle Bedeutung von Bildern, S. 51. 192 Walther, Allgemeine Zeichenlehre, S. 79. 193 Eine genauere Untersuchung der 10 Zeichenklassen findet sich auch bei Schwinn, Semantische Interpretation syntaktischer Kategorien und die Zeichentheorie von Charles S. Peirce, Teil 4 (S. 119–175). Peirce selbst gibt ein übersichtliches Schema aller Zeichentypen in PLZ S. 133. 194 Walther, a. a. O., S. 79.

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nifestiert bzw. verkörpert sich der präexistente Logos einer logischen Welt. 195 3.2.1.4 Ikon, Index und Symbol: Zur Typologie der Zeichen im Objektbezug Wenn Zeichen in ihrer wahrnehmbaren Form materialisierter Geist sind, nähern wir uns der Kernfrage, ob Bilder denn wohl Zeichen sind, und hier kommt nun die bekannteste Unterscheidung von Peirce ins Spiel. In Bezug auf das repräsentierte Objekt unterscheidet er nämlich drei Zeichenfunktionen: Ikon, Index und Symbol. Diese Trichotomie nennt Peirce »die fundamentalste«. 196 »Ein Ikon ist ein Zeichen, dessen zeichenkonstitutive Beschaffenheit eine Erstheit ist, das heißt, dass es unabhängig davon ist, ob es in einer existentiellen Beziehung zu einem Objekt steht, das durchaus nicht existieren kann. Ein reines Ikon kann nur in der Phantasie existieren, wenn es streng genommen überhaupt je existiert. Das Bild (image) eines Dreiecks im Geist eines Denkenden ist eine Repräsentation von allem, was ihm auch immer ähneln mag, und zwar ausschließlich deswegen, weil es die Qualität der Dreieckigkeit besitzt. Jedes materielle Bild, wie z. B. ein Gemälde, repräsentiert sein Objekt hauptsächlich auf konventionelle Art und Weise.« 197

Herder weist darauf hin, dass nach Peirce ein genuines (»reines«, s. o.) Ikon ein Zeichen ist, welches bloß auf sich selbst referiert, und daher eigentlich gar kein Zeichen ist. 198 Mit Nöth verwendet sie daher den Begriff des ›Hypoikons‹, das die ›praktische‹ Variante des Ikons darstellt, 199 und behandelt im Folgenden, wie allgemein üblich, dieses ›Hypoikon‹ als Ikon. Bilder, Diagramme, dyadische Analogien und Beispiele sind Ikons in diesem Sinne. 200 Sie bezeichnen nämlich durch Ähnlichkeit, 201 d. h., es gibt qualitative Entsprechungen, Übereinstimmungen in Struktur oder Form (z. B. bei Landkarten). Prototyp ist natürlich ein Porträt, das der dargestellten Person in vielen Einzelheiten ähnPape, a. a. O., S. 42 f und 48 f. Peirce, CP 2.275. 197 Peirce, PLZ S. 64. 198 Herder, Bild und Fiktion, S. 45. 199 Nöth, Warum Bilder Zeichen sind, in: Majetschak (Hg.), Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild, S. 56. 200 ebd. 201 Peirce, Semiotische Schriften, S. 346, s. auch Peirce, CP 1.558. 195 196

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lich sein sollte, aber auch konventionelle oder formale Eigenschaften können Ikons als solche legitimieren (Piktogramme; Baupläne, sogar chemische Formeln bzw. Reaktionsgleichungen). Auch kann z. B. ein Farbmuster alle diejenigen Objekte bezeichnen, die eine ähnliche Farbe besitzen, unabhängig davon, ob es ähnlich gefärbte Objekte gibt: Ob ein Objekt tatsächlich existiert oder nicht (wie ein Einhorn, ein Zentaur, ein Pegasus oder eine Romanfigur), ist dabei nicht von Belang: 202 Wir haben eine optische oder optisch generierte Vorstellung. Das Objekt wird also analog abgebildet oder imitiert (wie z. B. auch mit der lautmalerischen Bezeichnung »Kikeriki« in Kindersprache ein Hahn be-zeichnet wird 203) und muss zum mindesten eine Eigenschaft mit der Abbildung gemeinsam haben. Denn ein Ikon »ist ein Zeichen, das sich nur kraft der ihm eignenden Merkmale auf das Objekt bezieht«. 204 »Da iconische Zeichen unmittelbar wahrnehmbar oder vorstellbar sind, ohne einer verbalen Sprache zu bedürfen, sind sie auch unmittelbar kommunikativ. […] Genuine Icone, die unmittelbar wahrgenommen werden können, wie Stadtpläne, Landkarten, Fieberkurven, Schemata und Diagramme in Technik und Wissenschaft sind auch zur internationalen Verständigung besonders gut geeignet. Die Visualisierung unserer Umwelt hängt selbstverständlich ebenfalls mit der unmittelbar kommunikativen Wirkung nicht-verbaler Zeichen zusammen und stellt eine Iconisierung dar.« 205

Allerdings brauchen auch ikonische Zeichen oft Erklärungen (wie z. B. Blockdiagramme) und sind nicht immer unmittelbar einsichtig. Sie werden dann mit anderen Zeichen (z. B. in verbaler oder Schriftsprache) erläutert, können aber auch durch andere Ikone ersetzt werden, z. B. durch die Fotografie eines Gemäldes, die dann ein »degeneriertes Icon« darstellt. 206 Peirce hat aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch die Syntax einer verbalen Sprache ein Ikon ist, 207 da sie Strukturmomente abbildet, und selbstverständlich sind dann auch die optisch dargestellten und vereinfachenden, da auf die Struktur reduzierten Schlussfiguren der aristotelischen Syllogismen solche

202 203 204 205 206 207

Pape, Charles S. Peirce, S. 126. Nagl, Charles Sanders Peirce, S. 44. Peirce, CP 2.247. Walther, Allgemeine Zeichenlehre, S. 61. Walther, a. a. O., S. 62. nach Walther, ebd.

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Ikone. Und wegen des Abbildcharakters – auch im abstrakteren Sinn – zählt Peirce auch alltägliche oder wissenschaftliche Beobachtungen, mathematische Abstraktionen, ja sogar alle Formen des Denkens und der Kommunikation, aber auch algebraische Formeln, geometrische Verallgemeinerungen, Repräsentationen logischer Funktionen zu dieser Zeichenklasse 208 (ich stelle mir hier z. B. Wahrheitstafeln für logische Junktoren vor), die Peirce noch einmal dreifach unterteilt: 209 1.

2.

3.

Ikons, die ihren Referenten durch sensorische Eigenschaften ähneln (wie z. B. eine Passage von Beethovens Pastorale bestimmten typischen Vogelstimmen oder eben ein Porträt dem Porträtierten) Ikons, die zwar aus einzelnen nichtikonischen Zeichen bestehen (Pfeilen, Kreisen, Punkten etc.), deren Beziehung zueinander aber eine ähnliche Struktur wie die des Referenten aufweist (wie z. B. Umberto Ecos Beispiel eines Drudels, das einen Mexikaner von oben gesehen auf einem Fahrrad zeigen soll 210) Ikons, deren Bezug zum Referenten durch das Aufweisen von Parallelen hergestellt wird, wie bei Parabeln und Metaphern. Die Ähnlichkeit ist hier nur metaphorisch, es handelt sich also nicht um direkte, sondern um indirekte Repräsentation. (Herder wählt als Beispiel den Begriff »König der Tiere«, der sich umschreibend auf den Löwen beziehen soll. Doch das Beispiel macht auch deutlich, dass solche Ikons kulturabhängig je anders gedeutet werden können, z. B. in Kulturen, die aktuell keine Erfahrungen mit Löwen oder Königen haben. 211)

Man sieht, dass im Ikon (bzw. Hypoikon) relevante Ähnlichkeitsbeziehungen auf verschiedene Weise hervorgehoben werden können, sodass »nicht alle Ikons Bilder sind, aber trotzdem alle Bilder hauptsächlich ikonisch funktionieren«. 212 Ganz anders ein Index: Dieser ist nämlich dadurch ein Zeichen, »das sich dadurch auf ein Objekt bezieht, dass es wirklich von diesem Spinks, a. a. O., S. 62. Peirce CP (engl.) II, S. 157 ff. 210 Eco, Kant und das Schnabeltier, S. 446 f. (Eco merkt an, dass die Interpretation nicht eindeutig ist: man könnte z. B. ebenso gut Cyrano und Pinocchio, unter einem Schirm sitzend, herauslesen.) 211 vgl. Herder, Bild und Fiktion, S. 48 f. 212 Herder, a. a. O., S. 47. 208 209

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Objekt betroffen ist«, 213 ja sogar verursacht ist: Wir können hier z. B. an einen Fingerabdruck oder Fußspuren, die Anzeige eines Thermometers oder Symptome einer Krankheit denken, wie z. B. den typischen Tremor bei Parkinson. Hier ist eine direkte Einwirkung des Objekts festzuhalten. »›Sag bloß!‹ oder ›Hallo!‹ ist ein Index. Ein deutender Finger ist ein Index. […] Das indizierte Objekt muss tatsächlich vorhanden sein: das macht den Unterschied zwischen einem Index und einem Ikon aus.« 214

Anders als beim Ikon hängt also hier die indexikalische Objektbeziehung nicht von den internen Eigenschaften des Zeichens ab. Es muss also eine »existenzielle Relation« (CP 6.318) bestehen, die räumliche und zeitliche Beziehungen einschließen kann. Pape zählt alle Personal- und Demonstrativpronomina der natürlichen Sprachen zu den Indices, wenn sie als Sinzeichen verwendet werden, 215 und sie können mit hinweisenden Gesten verbunden werden (»celui-ci«, »over there«). Ohne Indices (z. B. Navigatoren) könnten wir unseren Weg nicht finden, uns nicht in einer fremden Stadt zurechtfinden. Der Wetterhahn auf dem Kirchturm indiziert nur dann zutreffend die Windrichtung, wenn der momentan wehende Wind ihn dreht, also wie bei Fußspuren im Sand ein Sachverhalt besteht, der das Zeichen verursacht hat. Eine Bildbeschriftung kann den Eigennamen der porträtierten Person nennen oder, wie im Falle von Malewitschs »weißem Quadrat« (»blanc« bedeutet auch »leer«), die programmatische Loslösung vom gegenständlichen Abbilden anzeigen. Die existenzielle Relation kann aber auch »Sinne, Erinnerungen und die Denkgewohnheiten einer Person einbeziehen« 216 (etwa wenn ein bestimmter Duft eine Erinnerung wachruft oder durch vergangene Erlebnisse bestimmte Themen miteinander assoziiert werden, die – wie z. B. bei Angsterfahrungen – sogar das Verhalten beeinflussen können). Jede Dokumentation (egal ob schriftlich oder bildlich) hängt von Indices ab, die auf das zugrunde liegende Faktum verweisen (Ort, Zeit, Name der Agentur, der Zeitung oder des Regisseurs, Autor etc., beglaubigende

213 214 215 216

Peirce, CP 2.248. Peirce, PLZ S. 65. Pape, Charles S. Peirce, S. 127. ebd.

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Fotos (mit Barthes: »es ist so gewesen« 217), Zeugenberichte, Kommentare. Nur so kann man Realität von Fiktion unterscheiden, d. h., Indices kennzeichnen den Bereich der Erfahrung der empirischen Wirklichkeit. 218 Ein echter, genuiner Index hängt mit seinem Objekt direkt zusammen. Ein hinweisend gebrauchtes »Kikeriki« (englisch »cockadoodledoo«, franz.: »coqueliquot«, in diesem Falle noch »cock« bzw. »coque« enthaltend) ist aber noch von der vorgelagerten Sprache abhängig, also – unabhängig von seinem ikonischen Anteil – eigentlich ein Index von einem Index, daher ein »degenerierter« Index. Die bei Kongressen üblichen Namensschilder sind z. B. nur dann genuine Indices, wenn sie direkte Verbindung zu der bezeichneten Person haben, d. h. an dieser befestigt sind. Sind sie an Tagungsmappen befestigt und vielleicht noch gar nicht ausgeteilt, sind sie in ihrer Funktion bloß indirekt. Im Sprachgebrauch werden aber der Einfachheit halber sowohl die genuinen als auch die degenerierten Indices »Index« genannt. Wie man bereits sah, gibt es Mischformen: So z. B. sind alle Fotos wegen der ikonischen Ähnlichkeit zum abgebildeten Objekt und wegen der gleichzeitig existierenden kausalen Abhängigkeit des belichteten Bildträgers vom Bildobjekt, sowohl Ikons als auch Indices. Und das gilt nun auch für die dritte Zeichenart im Objektbezug: das Symbol. Hier ist weder eine explizite noch eine direkte Verbindung mit dem Objekt, das es bezeichnet, feststellbar, also weder Ähnlichkeit noch direkte Kausalbeziehung sind das Kriterium. Das Symbol kann frei festgelegt werden und gilt dann durch Konventionen als verständlich, es wird »kraft eines Gesetzes« (CP 2.249) als mit dem Objekt verbunden interpretiert. So z. B. ist unsere normale Alltagssprache weit von einer natürlichen Ähnlichkeit oder Abbildhaftigkeit zu den Dingen entfernt (wie auch Wittgenstein in seiner Spätphilosophie eingesehen hat), die bezeichneten Objekt oder Sachverhalte werden aufgrund von intersubjektiv gewachsenen Sprachkonventionen verbindlich so und nicht anders bezeichnet. Symbole sind nicht denkbar sind ohne ihre Interpretation – nur dann be-deuten sie als solche etwas. – Daher gehören sie, in den Be217 218

Barthes, Die helle Kammer, S. 90. Walther, a. a. O., S. 62. Siehe auch CP 3.363.

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griffen der Kategorienlehre, dem Bereich der »Drittheit«, der Vermittlung, an. Sie »resultieren keineswegs aus basalen Zeichenelementen wie »icons« und »indices«. In mancher Hinsicht ist es eher umgekehrt: Indices und auch Ikone sind – obzwar sie uns den Weg weisen zur äußeren Realität, also zum »dynamischen« Objekt – letztlich nur denkbar als eingebettet in die Symbolstruktur der Sprache.« 219 So z. B. ist eine Justitia mit verbundenen Augen und Waage ein Symbol für Gerechtigkeit, ein Ehering soll die Bindung symbolisieren und die Farben der fünf olympischen Ringe die jeweils ihnen zugeordneten Kontinente (wenngleich die Analogie zu den Hautfarben hinkt). Der ältere Begriff des Symbols, der in der Geschichte und Kunstgeschichte, auch noch in der Hegel’schen Ästhetik eine Rolle spielt, (z. B. der Löwe als Symbol der Stärke, die Taube als Symbol des Friedens), weicht, wie Walther meint, nur scheinbar von der Peirce’schen Definition ab: »Obwohl man, ohne die Konventionen zu kennen, die genannten Symbole zu verstehen meint und vielleicht fast als ikonische Bezeichnungen auffasst, ist die Taube als Symbol des Friedens doch völlig frei gewählt und hat als Symbol mit dem Frieden weder eine direkte Verbindung […] noch irgendeine Ähnlichkeit; denn abstrakte Begriffe haben keine sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften, die abgebildet werden könnten.« 220 Symbole sind also arbiträr. »Ein Symbol ist ein Zeichen, dessen zeichenkonstitutive Beschaffenheit ausschließlich in der Tatsache besteht, dass es so interpretiert werden wird. Nehmen wir z. B. das Wort ›Eule‹. Es lässt sich vermuten, dass es, als es zunächst in seiner ursprünglichen Form verwendet wurde, für fähig befunden wurde, die Vorstellung des Vogels hervorzurufen, weil es ähnlich klang wie der Schrei des Vogels oder wie das Wort Heulen. 221 Wenn dem so ist, dann war es in seiner anfänglichen Verwendung ein Ikon. […] Was aber den täglichen Gebrauch betrifft, so ist der einzige Grund dafür, dass das Wort die Idee zu vermitteln in der Lage ist, der, dass sich der Sprecher gewiss ist, dass es so interpretiert werden wird. Dies gilt in der gleichen Weise für jedes Wort und jeden Satz der Sprache.« 222

Ein Symbol ist also kein individuelles, singuläres, zeitabhängiges, an konkrete Situationen und Objekte gebundenes, sondern ein allgemei219 220 221 222

Nagl, a. a. O., S. 45. Walther, a. a. O., S. 65. Im englischen Original heißt es übrigens entsprechend »owl« und »howl«. Peirce, PLZ, S. 65 f (Kursivierung im Original).

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nes Zeichen, das in der Zukunft auch immer wieder verwendbar und wiederholbar sein soll. Seine Bedeutung muss also im Interpretanten geläufig bleiben, denn ohne den Interpretanten würde es seinen Zeichencharakter verlieren. 223 Symbole sind Werkzeuge, die uns helfen, Gedanken und Verhalten zu rationalisieren (CP 4.448), und sie spielen daher in allen Zeichensystemen der Wissenschaften eine wichtige Rolle, wo sie oft auch für andere Symbole stehen und daher eigentlich als Symbole von Symbolen degenerierte Symbole sind. Weil eigentlich nur das Symbol ein genuines echtes Zeichen ist – wegen seines Charakters der Drittheit im Interpretantenbezug –, können allerdings auch Ikon und Index als Degenerationsstufen aufgefasst werden, denn wie beim Mittelbezug handelt es sich auch beim Objektbezug um eine »Generierungsfolge […]: denn ein Index beruht ebenso auf einem Icon, wie ein Symbol sowohl auf einem Index als auch auf einem Icon beruht«. 224 Auch zwischen Indices und Symbolen gibt es Mischformen: So z. B. weisen die Symbole »00« und der Wegweiser zur »A3« auf die hinter der Tür liegende Örtlichkeit bzw. die entsprechende Autobahn. Sprachen sind also »nicht in sich geschlossene Symbolstrukturen, sondern beziehen sich auf ein nur durch Indices und Ikone adressierbares Reales.« 225 Dabei sind im komplexen Interaktionsgefüge der Sprache die Zeichenarten nicht strikt voneinander zu trennen: Sie wirken zusammen. Auch bei Gesten müssen wir die bedeutsamen Regeln – transindexikalisch – gelernt haben (und sie sind teilweise kulturell verschieden), um sie verstehen zu können. Mit Blick auf die Peirce’sche Kategorienlehre könnte man sagen: Die Symbole, als Modi der Drittheit – des Gesetzes und der Konvention – sind weder in der Lage, die Indices aufzusaugen, die die Zweitheit – die Welt des ›outward clash‹ anzeigen, noch die Ikone in sich aufzuheben, die 223 Das gilt auch für die existentiellen Graphen, die keineswegs die aus der Mathematik bekannten Funktionsverläufe darstellen, sondern die logischen Junktoren, mit denen Aussagen verknüpft werden. (s. PLZ Appendix III, S. 171). Allerdings können Symbole auch ihre Bedeutung verlieren, wenn sie dem Bewusstsein des Interpretanten nicht mehr geläufig sind: Galt in früheren Zeiten – und auch noch im 17. Jahrhundert – die Perle, da man sich ihre Entstehung noch nicht erklären konnte, als »eine Art Ursache ihrer selbst« und somit als Symbol des Göttlichen, so ist heute diese symbolische Bedeutung weitgehend verloren. Diese ist aber entscheidend zur Interpretation von Vermeers Bild »Die Perlenwägerin«; s. Schlenke, VERMEER mit Spinoza gesehen, S. 51. 224 Walther, a. a. O., S. 67. 225 Nagl, a. a. O., S. 46.

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Exempel von Erstheit, also des Zeichenlimits, der Unmittelbarkeit sind. Trotzdem hängen diese drei Modi der Objektreferenz in konkreten Zeichenverwendungen zusammen. Das gilt auch für Bilder: Auch ein Bild wird »zum Bild« nur in einem transikonischen Kontext, das es »als Bild« erläutert. Es braucht Vermittlung, und auch hier kann man nicht heraus aus der komplexen, symbolisch geprägten Sprache.

Bild 31: Jan Vermeer van Delft, Die Perlenwägerin (um 1665)

Auch in Vermeers »Perlenwägerin« sind unterschiedliche Zeichenarten kombiniert: Sicher ist die Atelierecke mit dem Fenster Vermeers tatsächlichem Atelier ähnlich, da sie in vielen seiner Bilder auftaucht. (Er soll mit einer Camera obscura gearbeitet haben, hat also Bilder von Bildern hergestellt.) Und die Abbildung der jungen Frau sollte ihrem Urbild, wie der abgebildete Tisch, die Schatulle etc., 352 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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ähnlich sein. Diese Zeichen repräsentieren also ikonisch. Das etwas undeutliche Bild im Hintergrund ist seiner vertrauten Ikonographie zufolge eine Darstellung des Jüngsten Gerichts, steht aber auch für einen transzendenten jenseitigen Gott, der am Ende der Zeiten richten soll. Es handelt sich also um einen Index, wie auch der rote Streifen auf dem Bauch der jungen Frau, zusammen mit der gewölbten Kleidung, eine Schwangerschaft indiziert, die aber auch für die Immanenz der göttlichen Schöpfungskraft in der diesseitigen Welt steht. (Schlenke hat die Verbindungen zwischen Vermeer und Spinoza erforscht und das Bild aus dieser Perspektive interpretiert. 226) Diese symbolische Deutung, die nicht ohne sprachliche Begriffe möglich wäre, stellt also zwei Gottesbegriffe gegeneinander und will gegen den konventionellen Gottesbegriff die Immanenzvorstellung deus sive natura plausibel machen. Auch die Perle, die als causa sui galt, steht in ihrer runden Vollkommenheit und in ihrer Klarheit und Reinheit als Symbol für das Göttliche, 227 und nun ist es die junge Frau im Vordergrund, die abwägt und entscheidet, ob eine Perle in bestimmter Qualität in die Kette aufgenommen wird. Natürlich ist in der Terminologie von Peirce auch das Bild insgesamt, da es für einen Gedanken steht und ihn sozusagen materiell verkörpert, ein Zeichen. Gleiches gilt für die »Sonnenfinsternis« von George Grosz (siehe Bild 32): Das Kreuz in der Tischmitte mit den Farben der Weimarer Republik, der Lorbeerkranz und das Dollarzeichen in der verfinsterten Sonne sind symbolische Zeichen, die verfinsterte Sonne mit Corona sind ikonisch wie das Hindenburg ähnelnde Gesicht des Feldherrn; die Epauletten und Orden hingegen indizieren seinen militärischen Rang, der blutige Säbel eine vergangene, siegreich beendete Schlacht (der Lorbeerkranz hat als Symbol ikonische und indexikalische Elemente), der grüne Tisch hat nicht nur ikonische, sondern in seiner metaphorischen Bedeutung auch symbolische Funktion, ebenso wie der Esel mit Scheuklappen, zunächst ebenfalls ikonisch, der an einem Seil »über den Tisch gezogen« wird, sich nicht umschauen kann und Zeitungen zu fressen bekommt (Hugenberg-Presse!). Die subalternen Befehlsempfänger machen sich keinen Kopf, weil sie keinen ha226 227

Schlenke, VERMEER mit Spinoza gesehen, S. 14–18. Schlenke, Die Perle als Symbol einer göttlichen Immanenz, in: ders., a. a. O., S. 49–

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Bild 32: George Grosz, Die Sonnenfinsternis (1926)

ben; wer die Faust ballt, »steht mit einem Bein im Gefängnis«, man muss aufpassen, dass bei dem abschüssigen Boden, der in Richtung Tod und Gefängnis führt, der »Stuhl nicht wackelt«. Denn der Oberbefehlshaber (der »Sieger von Tannenberg«) scheint den Einflüsterungen von Groß- und Rüstungsindustrie zu erliegen (symbolisiert durch das Klischeebild eines Industriellen – hier sind Monokel und Zylinder ebenfalls Indices –, der symbolisch Waffen und eine Lokomotive unter dem Arm trägt). Natürlich ist es angesichts der Macht des Geldes (das die Sonne verdunkelnde Dollarzeichen) auch im übertragenen Sinne finster. Wie man sieht, sind hier auch viele Redewendungen ins Bild gesetzt, und das 1926 gemalte Bild exemplifiziert nicht nur einen komplexen kritischen Gedanken, sondern ist angesichts der nachfolgenden historischen Entwicklung geradezu prophe-

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tisch, weist aber mit seiner Aussage durch die Verwendung von Symbolen auch über die damalige historische Situation hinaus. Die Beispiele sollen zeigen, dass nicht, wie oft behauptet, nur die ikonischen Zeichen relevant für bildhafte Darstellungen sind. Alle Zeichenarten wirken sinnvoll zusammen und konstituieren einen Bildhorizont, der uns ohne Interpretanten nicht zu Bewusstsein käme und für immer verschlossen bliebe. 3.2.1.5 Kann man Bilder sehen? Abschließend geht es um eine Frage, die die semiotische Position in Bezug auf Bilder kennzeichnet: Was genau sehen wir, wenn wir etwas sehen? In seinen »Four Incapacities« hatte Peirce – gegen Descartes – die Möglichkeit unmittelbarer Anschauung und Intuition verneint. Erkenntnis ist – wie bei Kant – immer vermittelt. »Jede Wahrnehmung«, anders als bei Bergson, »ist immer schon zeichenhaft. Bewusstsein ist selbst immer schon ein Prozess der Zeichenerkennung. Somit erscheint Peirce das Wahrnehmungsfeld – die Bildwelten unserer Sinne – als Zeichenphänomen.« 228 Peirce selbst berichtet eine Erfahrung: »Wenn ich an einem schönen Frühlingsmorgen zum Fenster hinausschaue, sehe ich eine Azalee in voller Blüte. Nein, Nein! Das sehe ich nicht, obwohl das die einzige Möglichkeit ist, das zu beschreiben, was ich sehe. Das ist eine Proposition, ein Satz, eine Tatsache, während dasjenige, was ich wahrnehme, keine Proposition, kein Satz, keine Tatsache ist, sondern lediglich ein Bild, das ich zum Teil mit einer Tatsachenaussage verständlich mache.« 229

Das Sehen kann also nicht wie bei Bergson das Erfassen von Bildern sein, die sich uns präsentieren (vgl. CP 5.503). Wir erfahren weder einzelne Bilder noch isolierbare visuelle Sinneseindrücke, sondern »vielmehr visuelle Relationen, die in der Wahrnehmung oder körperlich handelnd zugängliche Eigenschaften offenlegen. Sich-Vorfinden- und Verstehen-in-diesen-Relationen wird für den Sehenden durch vergangene ebenso wie durch gegenwärtige Erfahrungen beeinflusst.« 230 Wahrnehmungen sind also schon immer »verstandesgetränkt«: Beziehungen zwischen visuellen 228 Krois, Was sind und was sollen die Bilder? In: Krois, Bildkörper und Körperschema, S. 294 f. 229 zitiert nach Krois, a. a. O., S. 296 f. 230 Pape, Das Denken der Bilder, in: Feist/Rath (Hg.), Et in imagine ego, S. 352.

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Erfahrungen sind für das Erkennen entscheidend maßgeblich. Peirce selber schreibt dazu: »Die Annahme, dass wir ein Bild vor uns haben, wenn wir sehen, ist nicht nur eine Hypothese, die nicht das geringste erklärt, sondern sie schafft in Wirklichkeit Schwierigkeiten, die neue Hypothesen verlangen, um diese Schwierigkeit wieder zu beseitigen. […] Ich gehe sogar so weit, zu behaupten, dass wir selbst in der tatsächlichen Wahrnehmung über keine Bilder verfügen. Haben wir also beim Sehen ein Bild vor uns, so ist es vom Verstand aufgrund dessen gebildet worden, was uns vorhergegangene Sinnesempfindungen eingegeben haben. Nimmt man an, dass diese Sinnesempfindungen Zeichen sind, so könnte der Verstand alle Erkenntnis der Außenwelt, die wir dem Sehen zuschreiben, durch Schlussfolgerungen aus diesen Zeichen erreichen […].« 231

Für Bilderfassung braucht man also keine Augen. 232 Was wir sehen, sind nämlich »nur interagierende Farben und Formen, hell oder dunkel, bewegt oder ruhend«. Wir können nur »etwas Gesehenes als etwas erkennen, falsch oder richtig«. 233 Auch Zeichen, so Brandt, kann man nicht sehen, z. B. auch Buchstaben nicht, wir erkennen nur bestimmte Formen und Farben als Buchstaben 234, und das macht den kulturell codierten Hintergrund der Zeichenerkenntnis deutlich, denn wir würden z. B. eher nicht die Bedeutung bestimmter Hieroglyphen als Zeichen für etwas erkennen. Dafür ist differenzierendes Wissen nötig. 235 Das gilt nun auch für Bilder: Zunächst muss ein Bild eine visuelle Empfindung verursachen. Es muss z. B. Farben oder Formen haben. Diese empfundene Farbe nennt Peirce ein Qualizeichen, da es auf die Qualitäten des Bildobjekts hinweist. Sobald Farbflecken, Punkte und Strukturen in Bildern Unterscheidungen ermöglichen, sind sie als Sinzeichen zu betrachten. So muss z. B. das Porträt der Mona Lisa als ein solches singuläres Zeichen, da individuell und unwiederholbar, Peirce CP 5.303. vgl. Krois, Für Bilder braucht man keine Augen. Zur Verkörperungstheorie des Ikonischen. 233 Brandt, Die Wirklichkeit des Bildes, S. 47. 234 a. a. O., S. 49. 235 Schon Schelling hatte die Theorieabhängigkeit alles dessen, was man sieht, angenommen: »nämlich dass, wer keine rechte Theorie hat, unmöglich auch eine rechte Erfahrung haben kann, und umgekehrt. Die Thatsache an sich ist nichts. Ganz anders erscheint sie sogar dem, der Begriffe hat, als dem, der begrifflos sie anblickt.« Schelling, nach Brandt, a. a. O., FN 60, S. 62. 231 232

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gesehen werden. Gleichzeitig aber folgt das Bild, vor allem mit dem Hintergrund, einer seit der Renaissance üblichen, kulturell verankerten Darstellungskonvention, der Zentralperspektive, die auch in vielen anderen Bildern verwendet wird und im Gegensatz zu den Bildern des Mittelalters steht, die die Größe von Personen nach ihrer Bedeutung staffelt. Das Bild ist also auch ein Legizeichen, und an diesem Beispiel sieht man, wie es die anderen – niedrigeren – Zeichenarten in sich enthält. Die Zentralperspektive »wurde kraft ihres unzweideutigen Hauptfluchtpunktes der optimalen Wahrnehmung zu einem Darstellungsimperativ, der den Menschen seit der Renaissance in einen verwissenschaftlichten Blick trieb, wodurch sich seine Individualisierung (im Sinzeichen) bei gleichzeitiger Kollektivierung (im Legizeichen) entwickeln konnte. Das Legizeichen drängt hier darauf, dass bildliche Veranschaulichungen kulturellen Darstellungscodes folgen, um ad hoc visuell kommunikativen Kontakt zum Betrachter herzustellen.« 236 Im Objektbezug muss man feststellen, dass die Mona Lisa ein Bildobjekt bezeichnet, nämlich die Gattin des Florentiners Piero Francesco del Giocondo, und falls Leonardo da Vinci nicht, wie es bei Auftragsbildern üblich war, allzu sehr geschönt hat, dürfen wir auch Ähnlichkeit annehmen. Das Ikonische indiziert aber auch, denn es verweist auf die vermutlich leibhaftige Präsenz des Modells als Ursache der bildhaften Darstellung, und man kann das Bild auch als Symbol deuten, z. B. für Schönheit. Und auch die Vorstellungen von Schönheit sind kulturell codiert. Man sah bereits bei den zuvor besprochenen zwei Bildern, wie sehr die Deutung von Bildern von historischen Situationen und kulturellen Konventionen abhängt, die uns als visuelle Gewohnheiten erst die Decodierung der Zeichen ermöglichen – oder auch nicht: Die Strukturen japanischer Zen-Gärten aus Felsen, Kieseln, geharktem Sand und Wasser sind den meisten Europäern in ihrer meditativen Bedeutung, auch in der Relation der Objekte zueinander, eher nicht zugänglich. Bei Peirce ist, wie wir gesehen haben, das ganze Denken ein Zeichenvorgang, und auch ein einzelner Gedanke (CP 2.203). Die Bedeutung eines Zeichens, auch eines bildhaften Zeichens, liegt darin, dass sich »die Bedeutung eines Zeichens oder Gedankens erst infolge eines weiteren Zeichens oder Gedankens näher bestimmen lässt. […] Diese Zeichenabfolge ließe sich ohne Ende der Semiose, d. h. des Interpre236

Schelske, Die kulturelle Bedeutung von Bildern, S. 36.

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tationsgeschehens, fortführen.« 237 In Bildern artikuliert sich also keine unmittelbare Seherfahrung, wir »sehen« sie nicht, müssen sie uns zeichenhaft gemäß der uns gewohnten Konventionen erschließen und deuten.

3.2.2 Welterzeugung durch Zeichensysteme bei Nelson Goodman (1906–1998) Eine andere Zeichentheorie als bei Peirce finden wir bei Nelson Goodman: »Sieht man von Goodmans dezidiertem Nominalismus ab, dann verhalten sie sich komplementär zueinander: Der Nachdruck, den Goodman auf den Systemaspekt legt, kann durchaus als Korrektiv der Zeichenprozessualität im Peirce’schen Ansatz wirken.« 238 Goodmans Positionen können aber auch in vielen Punkten als Gegenentwurf zum Peirce’schen System verstanden werden. Man möge selbst urteilen, und sein System soll hier also an zweiter Stelle behandelt werden. 3.2.2.1 Konstruktivismus und Pluralismus Goodman, der in Harvard 1928 graduierte, arbeitete bis 1940 an seiner Dissertation A Study of Qualities, leitete als Brotberuf eine Galerie in Boston und erhielt seine erste Professur erst 1946 an der Pennsylvania State University. Er strebte zeitlebens danach, Kunst und Wissenschaft näher zueinander zu bringen. Dabei hatte er einen »Erzfeind«: Henri Bergson, der zur damaligen Zeit auch in Amerika zu den berühmtesten und einflussreichsten Philosophen gehörte und nicht nur den Nobelpreis für Literatur erhielt, sondern wohl auch den ersten Verkehrsstau in der Geschichte des New Yorker Broadways verursachte. 239 Bergsons Interesse für Phänomenologie und allgemeine Erkenntnistheorie war verknüpft mit einer angeblich anti-wissenschaftlichen Haltung gegenüber der Philosophie und einer Abneigung gegenüber formalen Methoden, was ihm das Etikett des Antirationa-

237 238 239

Schelske, a. a. O., S. 20. Schönrich, Semiotik zur Einführung, S. 12. Cohnitz/Rossberg, Nelson Goodman, S. 12.

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listen eintrug, ein Ressentiment, das bis heute zwischen Phänomenologen und Vertretern der analytischen Philosophie weiterlebt. Goodman nämlich war beeinflusst vom Frege-Schüler Carnap und dessen logischem Empirismus. Frege hatte eine logische Begriffsschrift entwickelt und dem Programm des Logizismus seinen Startschuss verpasst: Da er eine logische (mengentheoretische) Begründung des Zahlbegriffs lieferte, konnte der Slogan »All mathematics is logic« gegen Kant wirkmächtig werden, der mathematische Sätze noch als synthetisch a priori klassifiziert hatte. Die moderne logische Notation machte es aber möglich, mathematische Sätze als solche der Logik zu analysieren, sodass die frühe analytische Philosophie in Amerika, mit Carnap als Führungsfigur (der als erster die symbolische Sprache von Russell/Whiteheads Principia Mathematica, der Bibel des Logizismus, verwendete), ein zentrales Motiv in der Ersetzung Kant’scher Transzendentalphilosophie fand. 240 Dieses starke Netzwerk früher analytischer Philosophen beherrschte die amerikanische Philosophie seit den 1950er Jahren und ging von zwei Grundannahmen aus: 1. In Bezug auf die Grundlagen menschlichen Wissens glaubten die logischen Empiristen nur an die Erfahrung, und jede Annahme, die nicht empirisch verifiziert werden konnte, galt als leer (Carnaps berühmtes »empiristisches Sinnkriterium«). Das traf z. B. auf die Behauptung der metaphysischen Realisten zu, die eine bewusstseinsunabhängige Existenz der Realität annahmen, als auch auf die der Idealisten, die gerade das Gegenteil für richtig hielten. Vor diesem Hintergrund nun wird die Gegnerschaft Goodmans zu Bergson deutlicher. In einem Aufsatz mit dem Titel »The Way the World Is« (später abgedruckt in »Problems and Projects«) lässt Goodman Bergson in einem fiktiven Dialog (sicher verkürzt) sagen: »All our descriptions are a sorry travesty. Science, language, perception, philosophy – none of these can be utterly faithful to the world as it is. All make abstractions and conventionalizations of one kind or another, all filter the world through the mind, through concepts, through the senses, through language; and all these filtering media in some way distort the world. It is not just that each gives only a partial truth, but that each introduces distortions of its own. We never achieve even in part a really faithful portrayal of the way the world is.« 241

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a. a. O., S. 19. Goodman, Problems and Projects (PP), S. 25.

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Das alles ist für Goodman grundfalsch. Wer sich keiner rationalen, logischen Sprache bedienen möchte, muss Irrationalist sein, sogar Mystiker, der dann angesichts des Unausdrückbaren der Realität hinter den Repräsentationen nur noch schweigen könne. Da für Bergson die Verwendung präziser Begriffe angeblich die tatsächliche Erfahrung verzerre und sogar ersticke, bezeichnet Goodman Bergson als »anti-intellectualist, as an arch enemy«. 242 Für Goodman nämlich gibt es die Welt (»the world as it is«) nicht. Es gibt nur viele, und sogar teilweise widersprüchliche Welten, in denen wir leben und die wir selber machen. Er radikalisiert also William James’ »pluralistisches Universum« und fragt unter Bezug auf Cassirers Symbolwelten: »In welchem Sinn genau gibt es viele Welten? Was unterscheidet echte von unechten Welten? Woraus bestehen sie? Wie werden sie erzeugt? Welche Rolle spielen Symbole bei ihrer Erzeugung? Und wie ist das Erschaffen von Welten auf das Erkennen bezogen?« 243 Einstein hatte die Relativitätstheorie entdeckt und Hilbert festgestellt, dass die euklidische Geometrie nur auf einer annähernd ebenen Erdoberfläche Gültigkeit hat und die hyperbolische und elliptische Geometrie (für ein je anderes Krümmungsmaß des Raumes, z. B. im Weltraum) entwickelt, sodass man hinfort von »Geometrien« im Plural sprach (und seit dem logisch-mathematischen Grundlagenstreit auch von »Logiken«). Wichtig ist also immer der Bezugsrahmen, in dem Sätze Gültigkeit haben: So seien etwa die Aussagen »Die Sonne bewegt sich immer« und »Die Sonne bewegt sich nie« beide wahr, aber innerhalb ihres jeweiligen Bezugsrahmens (Sonnensystem oder Fixsternhimmel), weshalb sich der (scheinbare) Widerspruch relativiere. 244 So ist es auch eine Sache des Bezugsrahmens, wie man die Bewegung eines Tischtennisballs beschreibt, wenn zwei Spieler in einem fahrenden Zug miteinander spielen: in Bezug auf die Platte, in Bezug auf den fahrenden Zug, in Bezug auf die zusätzliche Drehbewegung der Erde, in Bezug auf die zusätzliche Bewegung der Erde um die Sonne oder in Bezug auf die zusätzliche Bewegung der Sonne mit dem Fixsternhimmel. 245 Es sind jeweils andere Welten, in denen man dasselbe Phänomen beschreibt. 242 243 244 245

Goodman, PP, S. 31 und S. 17. Goodman, Weisen der Welterzeugung, S. 13 f. a. a. O., S. 14. Dieses Beispiel für verschiedenen Bezugsrahmen gibt Stephen Hawking mit den

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Da wir gerade beim Sternenhimmel sind: Wir machen die Sterne bzw. Sternbilder, indem wir einige herausheben und mit gedachten Linien verbinden, und diese Konstruktionen geben Ordnung und Struktur, die wir aber keineswegs schon in der Welt, »wie sie ist«, vorfinden. Und mit dieser Ordnung und Struktur wird die Welt für uns eine andere. 246 Eine Welt, in der die Erde als Mittelpunkt des Universums gilt, wie nach dem aristotelischen Weltbild, ist eine andere als nach Kopernikus. Und über diesen konstruktivistischen Ansatz gelingt es Goodman, die Verschiedenheit von Weltauffassungen (historisch, aber auch kulturell) mit der Vielfalt der Versionen und Sichtweisen in Malerei und Literatur zusammenzuführen. Auch sie sind, um einen Cassirer-Ausdruck zu verwenden, »Prägungen zum Sein«. Auch hier ist symbolische Produktivität am Werk, und man muss nun fragen, wie man angesichts einer solchen »Vielheit wirklicher Welten« »Termini wie ›real‹, ›unreal‹, ›fiktiv‹ und ›möglich‹ zu interpretieren« hat. 247 In der Tat werden im Konstruktivismus factum und fictum ununterscheidbar, und das ruft Kritiker auf den Plan, vor allem solche Philosophen seitens der rationalistischen Orthodoxie, die an einem absoluten Wahrheitsanspruch festhalten wollen und jeden Relativismus als Gefahr betrachten. So kritisiert Hans Albert: »Es geht nicht mehr um die zutreffende Darstellung wirklicher Zusammenhänge, sondern um die Fabrikation von Aussagesystemen, die aus irgendwelchen Gründen auf die Zustimmung einer Gemeinschaft rechnen können. Damit hat der Pragmatismus den Sieg über den Realismus davongetragen.« Und an anderer Stelle: »der moderne Konstruktivismus ist die gefährlichste moderne geistige Tendenz«. 248 Hier nun müssen sich Konstruktivis-

Tischtennisspielern im fahrenden Zug. Wie beschreibt man die Bewegung des Tischtennisballs: in Bezug auf die Tischtennisplatte? In Bezug auf den fahrenden Zug? In Bezug auf die Bewegung der Erde um die Sonne? In Bezug auf die Bewegung der Sonne im Fixsternhimmel? Und wie ist es, wenn man dem Tischtennisball noch einen Drall mitgibt? (Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, S. 32) 246 vgl. »On Star-Making« in: Goodman, Of Mind and Other Matters, S. 39 ff, s. auch Cohnitz/Rossberg, a. a. O., S. 191 ff. 247 Goodman, Weisen der Welterzeugung (WW), S. 14. 248 Albert, Hans, Der Mythos des Rahmens und der moderne Antirealismus. Zur Kritik des idealistischen Rückfalls im gegenwärtigen Denken, in: Gadenne/Wendel (Hg.), Rationalität und Kritik, S. 9–23, hier S. 15.

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ten ihrerseits einen pauschalen Irrationalismus-Vorwurf gefallen lassen. Fischer begründet, weshalb. 249 Für den Pragmatismus, z. B. bei James, auf den sich Goodman zu Beginn der WW beruft, ist es aber gerade die Pluralität des Wirklichen, die als real gelten muss und jeder Systematisierung wesensfremd ist, eine additive Welt des »UND«. Lange vor der postmodernen Übernahme des Pluralitätsparadigmas (vom amerikanischen Pragmatismus und von Nietzsches Rationalismuskritik her beeinflusst) wird hier also ein Pluralismus vertreten, der Goodman mit seinem konsequenten Pluralismus jeden Monismus angreifen lässt. Er bezeichnet sich selbst als »Irrealisten«, 250 da er die beiden Prämissen des Realismus ablehnt: 1. die Existenz einer wohlstrukturierten Welt unabhängig von unserem Denken und unseren Beschreibungen (ontologische Version), 2. die prinzipielle Erkennbarkeit dieser Welt, über die wir »objektives Wissen in Form zutreffender wahrer Darstellungen erlangen« 251 können (erkenntnistheoretische Version). Hingegen gilt für Konstruktivisten, ganz im Sinne des Kant’schen Konstitutionsgedankens, auf den sie sich gerne zurückführen (und besonders heute, zur Zeit des radikalen Konstruktivismus, der sich auf biologistische und hirnphysiologische Allianzen beruft), dass wir 1. eine von uns unabhängig gedachte Welt prinzipiell nicht erkennen können, und 2. die uns bekannte Welt mithilfe von mentalen Operationen (auch Schlussprozessen) mit Hilfe unserer Begriffe allererst erzeugen. »Die Idee von einer gegenüber unseren Vorstellungen unabhängigen Welt (Ontologie bzw. Metaphysik) ist obsolet.« 252 Es geht also um eine ganz grundsätzliche Attacke auf die Ontologie, wie sie auch für Peirce wichtig ist. Mit seinem fundamentalen Pluralismus geht Goodman aber auch anders als Carnap und Quine über den Gedanken der grundsätzlichen Übersetzbarkeit der Systeme und der Reduzierung auf eines (nämlich eines der Physik) hinaus, womit sie die Einheit der Fischer, Von der Wirklichkeit des Konstruktivismus zu den Weisen der Welterzeugung, Einführung in: Fischer/Schmidt (Hg.), Wirklichkeit und Welterzeugung. In Memoriam Nelson Goodman, S. 13–28, hier S. 14 f konstruiert einen modus barbara, nach dem aus den beiden Prämissen »Konstruktivismus ist Relativismus« und »Relativismus ist irrational« auf die Irrationalität des Konstruktivismus geschlossen wird. 250 so etwa in WW im Vorwort. 251 Fischer, a. a. O., S. 15. 252 Fischer, a. a. O., S. 16. 249

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Wissenschaften retten wollten. 253 Im Gegensatz dazu hält Goodman fest: »Ich glaube […], dass viele verschiedene Welt-Versionen unabhängig voneinander von Interesse und Wichtigkeit sind, ohne dass wir dabei im mindesten zu fordern oder vorauszusetzen hätten, sie ließen sich alle auf eine einzige grundlegende reduzieren. Der Pluralist, alles andere als anti-wissenschaftlich gesonnen, akzeptiert die Wissenschaften in ihrem vollen Umfang.« 254

Goodman, der die Physik für »fragmentarisch« und wandelbar hält, möchte auch Versionen akzeptieren, die von der Physik abweichen, und dies »bedeutet keine Aufweichung, sondern die Anerkennung, dass zwar andere, aber nicht weniger anspruchsvolle Maßstäbe als in den Wissenschaften dann angemessen sind, wenn es um die Einschätzung dessen geht, was in den perzeptiven, bildlichen oder literarischen Versionen übermittelt wird.« 255 Sein Konstruktivismus gilt daher auch der Anerkennung verschiedener kulturellen Welten mit möglicherweise anderen Vorstellungen von Wissenschaft. Und wie Cassirer sucht Goodman nicht in den Inhalten der verschiedenen Weltsysteme nach Einheit, sondern in der Form: »Mein Weg ist einer der analytischen Erforschung von Typen und Funktionen von Symbolen und Symbolsystemen. Weder im einen noch im anderen Fall sollte man ein eindeutiges Resultat erwarten: Universen von Welten, ebenso wie Welten selbst, können auf viele Weisen erbaut werden«. 256 Wie aber erzeugt und erkennt man Welten, »nachdem die falsche Hoffnung auf eine feste Grundlage verschwunden« ist »und die Welt ersetzt ist durch Welten, die nichts als Versionen sind, nachdem Substanz in Funktion aufgelöst 257 und das Gegebene als ein Genommenes erkannt wurde«? 258 Ganz sicher ist keine »Anything goes«-Beliebigkeit am Werke, sondern Anforderungen der Stringenz, Kohärenz und Methodengenauigkeit: 259 Es geht um Komposition und Dekomposition – Zerlegung und Zusammenführung (oft beides zugleich) –, um GewichCohnitz/Rossberg, a. a. O., S. 193. Goodman, WW, S. 17. 255 Goodman, a. a. O., S. 17 f. 256 a. a. O., S. 18. 257 ein deutlicher Verweis auf Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. 258 Goodman, WW, S. 19. 259 Goodman, a. a. O., S. 117: »Was ich bisher sagte, läuft offensichtlich auf einen radikalen Relativismus hin; doch ihm werden strenge Einschränkungen auferlegt […].« 253 254

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tung irrelevanter bzw. relevanter Strukturen, um verschiedene Ordnungskriterien, 260 die z. B. Zeitstrukturen oder Tonhöhen verschieden ordnen können (»Jahr der Ratte«, jüdische, christliche, muslimische Zeitrechnung; Zwölftonmusik, Pentatonik, etc.), um Tilgung unwesentlich gewordener Strukturen und Hinzufügen neuer Erklärungen (wie z. B. bei der alten Phlogiston-Theorie) und Ergänzung mit neuen, oft besseren, manchmal aber auch bloß anderen Theorie- oder Strukturelementen (wie z. B. bei verschiedenen Malstilen); manchmal aber auch mit Umgestaltungen (wie z. B. bei Variationen von Musikstücken), Verzerrungen und Deformationen (wie z. B. bei Picassos Bearbeitung von Velasquez’ Las meninas). 261 Zunächst kann für Welt-Versionen sprachlicher Natur mit Aussagen, z. B. die Schilderung eines Weltkrieges aus einer bestimmten Perspektive, Wahrheit ein relevantes Kriterium sein. Wahrheit kann aber hier nicht die Übereinstimmung mit »der« Wirklichkeit sein, vielmehr geht es um das Fürwahrhalten einer inneren Konsistenz, wenn man keinen hartnäckigen Überzeugungen widerspricht und keine der eigenen Vorschriften verletzt. Dazu können »langlebige Vorstellungen über Gesetze der Logik« gehören wie auch »kurzlebige Überlegungen zu jüngeren Beobachtungen«, aber auch »andere Überzeugungen und Vorurteile, die unterschiedlich tief verwurzelt sind«, 262 wie z. B. die Überzeugung, die Erde sei eine Scheibe. In verbalen Systemen ohne Propositionen und in nichtverbalen Systemen spiele die »Wahrheit« allerdings keine Rolle: Es erzeuge nur Verwirrung, wenn wir von Bildern (z. B. auch nichtdarstellenden Bildern der abstrakten Kunst, die bloß etwas zeigen) oder von bloßen Prädikaten sagen würden, sie seien wahr. Deshalb plädiert Goodman, der den pragmatischen Wahrheitsbegriff (James: »Wahrheit als Bewährung«) ablehnt, dafür, wie schon im letzten Teil der mit Elgin herausgegebenen Revisionen, den Wahrheitsbegriff zu ersetzen durch den der Richtigkeit, denn »Bilder werden unter ganz ähnlichen Gesichtspunkten erwogen wie die Begriffe einer Theorie: auf ihre Relevanz und die Aufschlüsse hin, die sie geben; auf ihre Kraft und ihre Angemessenheit«. 263 Man entsinne sich des Beispiels von Bambrough, Universals and Family Resemblances nach dem Südseeinsulaner Baumarten nach Funktionen klassifizieren und nicht nach den uns in der Botanik vertrauten morphologischen Gesichtspunkten. 261 Goodman, WW, S. 20–30. 262 ebd. 263 a. a. O., S. 33. 260

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Zwar betrachtet der Phänomenalist die Wahrnehmungswelt als fundamental, doch auch diese ist nur perspektivisch und daher nur relativ zu haben. Das kann zwar eine Befreiung sein und neue Forschungswege eröffnen, doch »wem alle Welten gleich willkommen sind, der wird keine erbauen. Die bloße Anerkennung der vielen verfügbaren Bezugsrahmen liefert uns keine Karte der Himmelsbewegungen; die Einsicht, dass alternative Grundlagen wählbar sind, bringt keine wissenschaftliche Theorie und kein philosophisches System hervor; das Bewusstsein von verschiedenen Sehweisen malt keine Bilder. Ein großzügiger Geist ist kein Ersatz für harte Arbeit.« 264

Wir müssen also an die Arbeit gehen und dafür Alternativen auswählen. (Kurz zuvor hatte Goodman erwähnt, dass er selbst in seiner eigenen Konzeption nur solche Versionen zulasse, die »den Ansprüchen eines harten und deflatorischen Nominalismus standhalten«.) Welten werden dabei ebenso sehr geschaffen wie gefunden (»Eine Entdeckung machen bedeutet häufig nicht etwa, dass man zu einer Proposition gelangt, die vorgebracht und verteidigt wird, sondern gleicht eher dem Fund eines passenden Teils, das sich in ein Puzzle einfügen lässt.« 265 Für Goodman sind alle Prozesse der Welterzeugung Teil des Erkennens, denn »zur Entdeckung von Gesetzen gehört es, sie zu entwerfen. Das Erkennen von Strukturen besteht in hohem Maße darin, sie zu erfinden und aufzuprägen. Begreifen und Schöpfen geht Hand in Hand.« 266 Goodman geht also über die Alternative »Entdecken – Erfinden«, die von Poincaré nicht nur für die Philosophie der Mathematik, sondern auch für jede Wissenschaftstheorie formulierte Dichotomie, hinaus, die den verborgenen Platonismus nicht nur in der Mathematik aufdecken sollte. Ebendiese »Fundamentalisten« will Goodman mit seiner Rede von der »Erfindung von Tatsachen« irritieren, nämlich jene, die genau wissen, dass »Fakten gefunden und nicht gemacht werden, dass Fakten die eine und einzig reale Welt konstituieren und dass Wissen darin besteht, an die Tatsachen zu glauben«. 267 Eben diese eine Welt aber gibt es nicht; es gibt nur verschiedenen

264 265 266 267

a. a. O., S. 36. ebd. a. a. O., S. 37. a. a. O., S. 114.

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Weltversionen – nicht nur historisch, sondern auch kulturell –, und wir sind es, die sie machen. Die Symbole der vielen Systeme, so Scholz, liefern keineswegs »passive Abbilder einer zu entdeckenden Welt, sondern gehen in die Konstitution dessen ein, worauf Bezug genommen wird: Sie sind mit anderen Worten weltkonstitutiv.« 268 3.2.2.2 Antimetaphysischer Nominalismus Wie lässt sich nun der bereits erwähnte Nominalismus in der Goodman’schen Konzeption verstehen? Schließlich muss man sowohl die Konstruktion vieler Weltversionen in WW – gegen die Vorstellung der einen, wirklichen und wahren Welt – als auch den Nominalismus mit einer strikt antimetaphysischen Haltung erklären. (Scholz hatte dies als »anti-absolutistischen Pluralismus« klassifiziert. 269) Hatte Peirce noch mit seinem Begriffsrealismus (mit fundamentum in re) eine idealistische Position vertreten und die universalientheoretische Position des Duns Scotus favorisiert, so findet sich bei Goodman demgegenüber ein strenger Nominalismus, der sich aus dem Antiplatonismus der am Empirismus orientierten frühen analytischen Philosophie speist. Im Streit um die Natur von allgemeinen Begriffen (»Universalien«) hatte Wilhelm von Ockham nach kritischer Beschäftigung mit Thomismus und Scotismus die Maxime ausgegeben »pluralitas non est ponenda sine necessitate« (in der Literatur bekannt als »Ockham’s razor«, das eine Fülle von ontologisch eigenständigen Substanzen einfach abschaffte). Und da der Pluralist Goodman sich im Aufbau einer nominalistischen Wissenschafts- und Zeichentheorie strengen logischen Kriterien unterwirft, bevorzugt er einfache Kriterien und will auf Unnötiges verzichten (»simplex sigillum veri« hatte Wittgenstein in TLP 5.4541 als Prinzip genannt). Es geht um die Frage, ob den Allgemeinbegriffen etwas in oder an den Gegenständen wesensmäßig, also von Natur aus entspricht oder ob die Verwendung allgemeiner »Namen« (oder Be-zeichnungen) nur dadurch gerechtfertigt ist, dass sie gewohnheitsmäßig eben so bezeichnen, und nicht

268 Scholz, In memoriam Nelson Goodman, in: Steinbrenner/Scholz/Ernst (Hg.), Symbole, Systeme, Welten, S. 23. 269 a. a. O., S. 18.

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anders, und dadurch im Nachhinein (»universalia sunt post res«) Vorstellungskomplexe wachrufen, die man mit den Begriffen verbindet, die dann nur als Namen (»label«) für bestimmte Gegenstandsbereiche per Konvention eingeführt werden. Eigenständige mentale Entitäten sind unnötig, Goodman lehnt sie ab, und damit notwendigerweise auch die Dimension des Interpretanten in der Peirce’schen Zeichentriade. Dieser strenge Nominalismus hat Folgen auch für die Definitionslehre: In der klassischen Vorstellung der Zuschreibung eines allgemeinen Begriffs (z. B. »Mensch«) auf ein Einzelobjekt definierte man eine Klasse von Gegenständen über gemeinsame Eigenschaften (animal rationale etwa). Bei Übereinstimmung mit diesen allgemeinen definierenden typischen Eigenschaften (»Essenz«) konnte das Einzelobjekt der Klasse dieser Gegenstände und damit auch dem entsprechenden Namen, bzw. der üblichen Bezeichnung, eben wegen dieser Wesenseigenschaften zugeordnet werden. (Bei Peirce hatte sich der Unterschied von Sin- und Legizeichen daraus entwickelt.) Zur Verdeutlichung der inneren Verbindung zwischen Konstruktivismus und Nominalismus sei die konstruktive Mathematik herangezogen: Bereits hier hatte man solche intensionalen Definitionen speziell für aktual unendliche Mengen durch Bezugnahme auf eine inhaltlich festgestellte gemeinsame Eigenschaft verworfen, da der Weg wichtig war: Gerade Zahlen etwa werden daher nicht durch eine gemeinsame Eigenschaft, etwa als Menge aller durch 2 teilbaren Zahlen, definiert, die dann der Vorstellung als aktual unendliche Menge gleichzeitig gegeben sind, sondern durch Angabe einer Erzeugungsvorschrift: z. B. »+ 2«, wobei dann nur noch das erste Element, auf das man rekurrieren muss, angegeben werden musste. (Die Aufzählbarkeit wird wichtig, und nur potentielle, d. h. an das menschliche Tun gebundene Unendlichkeit war zugelassen.) Und ebenfalls kritisieren musste man aus konstruktiver Sicht die klassische Definition einer Funktion, bei der man unter Angabe einer Argumentmenge (meist ebenfalls aktual unendlich) und Angabe einer Funktionsvorschrift eine oft ebenfalls aktual unendliche Wertemenge erzeugt. Dem Konstruktivismus ist aber das potentiell Unendliche, ans menschliche Handeln gebundene Tun wichtig, weshalb Lorenzen in seinem konstruktiven Aufbau der Analysis konsequent die klassische Definition einer Funktion etwa durch die einer approximativen konvergierenden Taylor-Reihe ersetzt, bei der die Funktion mit immer größerer Genauigkeit prozesshaft angenähert d. h. konstruiert 367 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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werden kann. 270 Damit sind dann keineswegs aktual unendliche Mengen gegeben, die sich über bestimmte Eigenschaften definieren. Es sind gerade diese Eigenschaften, die in der Folge aristotelischer Substanzphilosophie als eigenständige Substanzen oder nach Platon als ideelle apriorische Entitäten aufgefasst wurden, je nachdem ob sie als ante res oder in rebus galten. 271 Das Problem ist nicht nur für die Logik, sondern auch für die Semiotik relevant, denn Zeichen haben Bedeutungen: Z. B. kann der Begriff »Rappe« eine Menge von Wesen mit gleicher Eigenschaft bezeichnen. Und diese Eigenschaften, z. B. schwarz zu sein, kann man hypostasieren, also zu eigenständigen Entitäten hochstilisieren, indem man die Rappen (sofern die Pferde gemeint sind und nicht die Schweizer Münzen) als Elemente einer Klasse von Gegenständen mit der gemeinsamen Eigenschaft, schwarz zu sein, definiert. Solche Definitionen unter Angabe einer gemeinsamen essentiellen (inhaltlichen) Eigenschaft nennt man intensionale Definitionen. 272 Die entsprechenden Prädikate (in diesem Fall: schwarz zu sein) sind im besten Falle mentale Entitäten, die einem Paralleluniversum angehören, mit Hilfe dessen man Begriffs- bzw. Zeichenbedeutungen definiert. Genau dieses Universum mentaler Entitäten will Goodman nicht, für ihn ist der Grund einer gemeinsamen Bezeichnung nicht eine gemeinsame Eigenschaft, sondern der üblicherweise verwendete gemeinsame Name für bestimmte Ensembles von Gegenständen. (Bereits in seiner ersten umfangreichen Arbeit A Study of Qualities hatte er sich mit diesen Eigenschaften befasst. 273) Man versteht nun auch die »ontologische Sparsamkeit« Good270 Lorenzen, Differential und Integral, S. 128 ff. Lorenzen hatte bereits mit den Grundlagen der operativen Logik und Mathematik aus dem schematischen Operieren und dem positiven Konsequenzenkalkül eine konstruktive Logik mit Junktoren entwickelt, die neben den wahrheitsdefiniten auch die Möglichkeit unentscheidbarer Sätze enthielt, so dass das tertium non datur wie in der intuitionistischen Logik nicht allgemein galt. Lorenzens Clou war aber, dass er die klassische Logik als Teilmenge in eben diese »effektive« Logik einbettete, so dass für diese Teilmenge wahrheitsdefiniter, d. h. entscheidbarer Aussagen die Prinzipien der klassischen Logik weiterhin ihre Gültigkeit behielten, und zwar jenseits jeglicher platonistischer Vorstellungen. 271 für eine weitergehende Einführung s. Hottinger, Nelson Goodmans Nominalismus und Methodologie, S. 4–12. 272 Zweifellos war hier mit der Unterscheidung von Intension und Extension Freges Schrift Über Sinn und Bedeutung von Einfluss. 273 Die umfangreiche Arbeit A Study of Qualities erschien wegen ständiger Um- und Überarbeitung erst Jahrzehnte nach seiner Promotion zu diesem Thema.

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mans besser 274 und seine intensive Beschäftigung mit Definitionen, die schon in seinem mit Quine gemeinsam verfassten Aufsatz »Steps toward a Constructive Nominalism« 275 deutlich wurde und von Bedeutung für sein späteres System sein wird. Der gemeinsame Aufsatz beginnt so: »We do not believe in abstract entities. No one supposes that abstract entities – classes, relations, properties, etc. – exist in space time. But we mean more than this. We renounce them altogether. […] Moreover, even when a brand of empiricism is maintained which acknowledges repeatable sensory qualities as well as sensory events, the philosophy of mathematics still faces essentially the same problem that it does when all universals are repudiated.« 276

Man muss sich also auf das Endliche und das Konkrete konzentrieren, denn »der Platonismus, der die vollständige Mengenlehre einschließlich aktual unendlicher Mengen gebraucht, lässt eine ungeheure Zahl verschiedener Entitäten zu, die alle aus denselben Atomen gebildet wurden«. 277 »By renouncing abstract entities, we of course exclude all predicates that are not predicates of concrete individuals or explained in terms of concrete individuals. Moreover, we reject any statement or definition – even one that explains some predicates in terms of others – if it commits us to abstract entities. […] Our problem is solely to provide, where definitions are called for, definitions that are free of any terms or devices that are tainted by belief in the abstract.« 278

Ein solches Kriterium für konstruktiv akzeptable Definitionen hatte Goodman in seinem ersten Buch, The Structure of Appearance 279 mit der Idee der extensionalen Isomorphie formuliert: 274 Goodmans Mitautorin in den Revisionen, Catherine Elgin, schreibt im Vorwort zu der von ihr herausgegebenen The Philosophy of Nelson Goodman (Band 1: Nominalism, Constructivism, and Relativism in the Work of Nelson Goodman), S. XIV f: »An acceptable constructional system must be accurate and adequate. […] Adeaquate theories display cognitive virtues like simplicity, scope and fruitfulness.« 275 Journal of Symbolic Logic 12 (1947), S. 105–122, später abgedruckt in Goodman, Problems and Projects, (PP), S. 173–198. 276 Goodman, Problems and Projects, S 173 f. 277 a. a. O., S. 82 f. 278 Goodman, Problems and Projects (PP), S. 175 f. 279 Goodmans Dissertation A Study of Qualities enthält bereits nominalistische Prinzipien.

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»A constructional definition is correct, if the range of application of its definiens is the same as that of its definiendum. […] Nothing more is required that the two expressions have identical extensions.« 280

Das heißt also, um auf das frühere Beispiel der Definition eines Rappens zurückzukommen: Man braucht keinerlei Allgemeinbegriffe wie »Pferd« und »schwarz« mit abstrakten inhaltlich gegebenen Begriffsbedeutungen, die sich an gemeinsamen zoologischen oder physikalischen (Licht-) Eigenschaften festmachen – die ihrerseits wieder erklärungsbedürftig sind –, wenn man ein Kriterium festlegt, nach dem der Begriffsumfang (»Extension«) der Menge aller Rappen identisch sein soll mit dem Begriffsumfang der Menge aller schwarzen Pferde. Sind die so beschriebenen Mengen tatsächlich identisch, wozu auch die Übereinstimmung in der Elementanzahl gehört, hat man eine zulässige Definition gefunden, mit der »Rappen« ohne Rückgriff auf bestimmte »Wesens«eigenschaften als »schwarze Pferde« erklärt bzw. beschrieben werden können. Bedeutungsgleichheit (»Synonymie«) lässt sich also ohne Angabe einer inhaltlichen Bedeutung feststellen; die entsprechenden Definitionen von Begriffen sind oft nur Vereinbarungen für abkürzende Redeweisen. Aber auch wenn die Erfüllungsklasse so verschiedener Begriffe wie »Morgenstern« und »Abendstern« (das Beispiel stammt aus Freges Schrift Über Sinn und Bedeutung) übereinstimmt (es handelt sich ja jeweils um die Venus), ist der extensionalen Definition Genüge getan. Wir brauchen keine charakterisierenden bzw. definierenden Eigenschaften, wie auch bei einer Definition von Menschen, deren Erfüllungsklasse übereinstimmt mit der Klasse der »federlosen Zweibeiner«. (Wenn man einmal den gerupften Hahn des Diogenes ausnimmt, den dieser Platon als Antwort auf seinen Definitionsversuch präsentierte.) (Anders und schwieriger ist es sicher, Realdefinitionen, z. B. die des Elektrons, entsprechend umzuformen, ohne Eigenschaften zu verwenden.) Der implizit infinite Klassenkalkül, der Begriffsbedeutungen von Prädikaten intensional als mentale Entitäten sah, ist also so ersetzt durch einen relationslogischen Individuenkalkül, 281 der die ontologischen Schwierigkeiten der klassischen Definitionslehre umGoodman, The Structure of Appearance, S. 3. In seinem Aufsatz A World of Individuals, später angedruckt in PP, S. 168 ff, beschäftigt sich Goodman dezidiert mit Mathematik und Platonismus bzw. Nominalismus. 280 281

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geht. Und Begriffe, die allgemein geläufig sind, müssen auch gar nicht definiert werden, man kann ihrem Gebrauch in der Praxis vertrauen. Allerdings muss man anmerken, dass es bei einer rein extensionalen, d. h. nicht inhaltlichen Definition von Zeichenbedeutungen nur auf die Erfüllungsklassen derjenigen Gegenstände ankommt, auf die die Zeichen zutreffen. Stillschweigend vorausgesetzt werden die pragmatischen Entscheidungen, »welche Gegenstände zu den Zeichenvorkommnissen dieses Systems gehören, welche Zeichenvorkommnisse zu welchen Zeichentypen und welche Gegenstände zu welchen Gegenstandstypen gehören, und damit auch die Entscheidungen darüber, welche Zeichenvorkommnisse von welchen Gegenständen erfüllt werden.« 282 Sie werden bei Goodman völlig ausgeblendet und können wohl nicht gut ohne inhaltliche Kriterien getroffen werden. 283 (Das ist wohl auch der Grund, weshalb Goodman aus Gründen der »ontologischen Sparsamkeit« nur mit bereits vollständig interpretierten Zeichensystemen operiert und pragmatische Probleme, die bei der Analyse der Verwendung von Zeichen durch Personen entstehen, vernachlässigt.) So ergibt sich aber das Problem, dass eine extensionale Definition von Bedeutungen mithilfe von Begriffsumfängen, die doch eher statisch ist, Phänomene des Bedeutungswandels von Ausdrücken nur mit Änderung der Erfüllungsklassen erklären kann. Hier sind inhaltliche Beschreibungen doch hilfreicher. Das Problem allgemeiner Aussagen bzw. der Folgerung des Zutreffens allgemeiner Prädikate, wenn man wie Goodman von lauter Einzelfällen ausgeht, hatte Goodman schon länger beschäftigt; und es steht im engen Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum InFricke, Zeichenprozess und ästhetische Erfahrung, S. 84. Fricke glaubt also, dass Goodman seinen radikalen Nominalismus nicht durchhalten kann und plädiert daher im Rückgang auf Carnap und Morris für einen dualistischen Bedeutungsbegriff, der auch eine intensionale Dimension zulässt: »Die intensionale Bedeutung eines Prädikatsausdrucks ist der Begriff von dem semantischen Klassifikationsmerkmal, anhand dessen die Personen, die diesen Ausdruck zur Beschreibung von Gegenständen verwenden, darüber entscheiden, ob ein bestimmter Gegenstand diesen Ausdruck erfüllt oder nicht.« (S. 87) Es ist aber gar nicht nötig, solche inhaltlichen Eigenschaften als eigenständige mentale Entitäten zu begreifen; aus Frickes pragmatischer Perspektive können die inhaltlichen Bedeutungen eines Prädikatsausdrucks allein »auf empirischem Weg, d. h. durch die Untersuchung des vergangenen und gegenwärtigen Sprachgebrauchs einer Sprachgemeinschaft, durchgeführt werden.« (S. 90) 283 Fricke, a. a. O., S. 82–93. 282

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duktionsproblem, das er als Teil oder eine bestimmte Fassung des Universalienproblems sieht, denn die Induktion geht von beobachtbaren Einzelfällen aus, will aber auch für die nichtbeobachteten Einzelfälle ein verallgemeinerndes Gesetz finden, was Goodman als Projektion in die Zukunft über das Konkrete hinaus und als Voraussage (»forecast«) ansieht, denn allenfalls sei eine Theorie der berechtigten Fortsetzung möglich. 284 Hat eine solche Verallgemeinerung, z. B. dass alle Planetenbahnen kreisförmig seien, ein fundamentum in re? Ist sie in der Sache begründet? Das würde für eine über die Jetztzeit hinausgehende Real- oder Idealexistenz der entsprechenden Gesetzmäßigkeiten sprechen, was dem Konstruktivismus widerspräche. Jedenfalls geht man in der Praxis immer von den bis zu einem bestimmten Zeitpunkt und in bestimmten Horizonten gemachten Beobachtungen aus. Dabei ist für Goodman entscheidend die Angabe der notwendigen und hinreichenden Bedingungen, unter denen man von Einzelfällen auf allgemeinere Aussagen, die auch in der Zukunft Gültigkeit haben sollen, schließt. Goodman nennt dies das »Problem der irrealen Bedingungssätze«, und mit dieser Neufassung des Induktionsproblems (Ernst redet sogar von einer »Lösung« dieses Problems 285) wurde er bekannt, schon bevor er in Büchern seinen weiteren Theoriehorizont ausbreiten konnte. 286 Humes Erklärung der Induktion mit »Denkgewohnheiten« findet er »erfrischend subjektivistisch«, vernünftig, aber nicht völlig befriedigend. 287 Das »neue Rätsel der Induktion«, so Goodmans Formulierung, zeigt für Scholz, dass »syntaktische (formale) und semantische Bedingungen nicht geeignet sind, die Trennlinie zwischen gültigen und ungültigen induktiven Schlüssen zu ziehen. […] Die induktive Logik, wenn man überhaupt von einer solchen reden mag, kann nicht in der Weise formal sein, wie es die deduktive Logik ist.« 288 Denn Induktionsregeln sind Kodifizierungen einer vorgängigen Praxis, sie sind

Goodman, Fact, Fiction, and Forecast, S. 81 und 110. Ernst, Induktion, Exemplifikation und Welterzeugung, in: Steinbrenner/Scholz/ Ernst (Hg.), Symbole, Systeme, Welten, S. 102. 286 Der entsprechende Aufsatz ist heute zum ersten Teil von Fact, Fiction, and Forecast (FFF) geworden. 287 Goodman, FFF, S. 82. 288 Scholz, In memoriam Nelson Goodman, in: Steinbrenner/Scholz/Ernst (Hg.), Symbole, Systeme, Welten, S. 20. 284 285

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gerechtfertigt, wenn sie diese Praxis adäquat wiedergeben. 289 Damit liegt der Grund des Erkennens, z. B. allgemeiner Gesetzmäßigkeiten, nicht in einer vorgängig bestimmten Beschaffenheit der Welt, der unsere Erkenntnisse immer besser zu entsprechen hätten, sondern »in unserem erfolgreichen (Sprach-)Handeln aufgrund veränderlicher Standards«. 290 Goodman bringt seine Prämissen mit einem Satz auf den Punkt, der zum geflügelten Wort wurde: »Never mind mind, essence is not essential, and matter does not matter.« 291 Beim Aufbau von Zeichensystemen kann es nicht um Wesenseigenschaften und überindividuelle mentale Bedeutungen gehen, aber auch nicht um eindeutige Ableitungen aus einer vorgegebenen materiellen Basis: Es gibt nämlich »zahllose Welten, durch den Gebrauch von Symbolen aus dem Nichts erzeugt«. So beginnt Goodmans Ways of Worldmaking, und im Vorwort bekräftigt er, dass sein Buch »mit dem Rationalismus ebenso auf Kriegsfuß steht wie mit dem Empirismus, mit dem Materialismus ebenso wie mit dem Idealismus und dem Dualismus, mit dem Essentialismus ebenso wie mit dem Existenzialismus«. 292 Gleichwohl glaubt er, dass »das Buch zur Hauptströmung der modernen Philosophie gehört […], die nun schließlich dahin gekommen ist, die Struktur der Begriffe durch die Strukturen der verschiedenen Symbolsysteme der Wissenschaften, der Philosophie, der Künste, der Wahrnehmung und der alltäglichen Rede zu ersetzen«. 293 Wir sind es, die die Zeichen je unterschiedlich verwenden, damit ganze Zeichensysteme entwerfen und ihnen Bedeutungen zuschreiben. 3.2.2.3 Denotation, Exemplifikation und Ausdruck Welche Zeichenfunktionen lassen sich nun zu diesem Zweck unterscheiden? Für Goodman gehört »die Erforschung der Natur der Reebd. Scholz bezieht sich hier auf FFF, S. 64. Peter, Analytische Ästhetik, S. 38. 291 Goodman, WW, S. 120 (dort von Looser übersetzt mit »Scher dich nicht um den Geist, das Wesen ist unwesentlich, und die Materie fällt nicht ins Gewicht.« Somit werden u. a. Idealismus, Essentialismus und Materialismus abgelehnt. »Matter« heißt aber auch »Sache«; man könnte also auch übersetzen: »Die Sache tut nichts zur Sache.«) 292 Goodman, WW, S. 10. 293 ebd. 289 290

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präsentation an den Anfang jeder Untersuchung darüber, wie Symbole innerhalb und außerhalb der Künste funktionieren«. 294 Für eine derart allgemeine und weitgefasste Symboltheorie gehört gerade die Art, wie Zeichen in der Kunst funktionieren, zum Prüfstein. Denn auch in der Kunst passiert Erkenntnisfortschritt, da die Symbolisierung kognitiv effizient ist: Sie muss »grundsätzlich danach beurteilt werden, wie gut sie der kognitiven Absicht dient: nach der Feinheit ihrer Unterscheidungen und der Angemessenheit ihrer Anspielungen; nach ihrer Arbeitsweise im Erfassen, Erkunden und Durchdringen der Welt; danach, wie sie an der Schaffung, der Handhabung, der Erinnerung und der Transformation des Wissens beteiligt ist«. 295 Goodman untersucht die Strukturen der verschiedenen Zeichensysteme in Wissenschaft, Alltag und Kunst: »Die vielfältigen Weisen der Symbolisierung in den Künsten sind, das ist eine von Goodmans Pointen, bei unseren kognitiven Bemühungen von ebenso großer Bedeutung wie die Theorien, Formeln und Diagramme in den Wissenschaften. Kunstwerke sind ebenso wie wissenschaftliche Systematisierungen komplexe Symbole, die wir in unsrem Streben nach Erkenntnis und Verstehen schaffen, anwenden und interpretieren.« 296

Eine Typologie der Zeichen muss für Goodman, wie man sich vorstellen kann, anders als bei Peirce aussehen; und in der Tat beginnt Languages of Art bereits auf der ersten Seite mit einer Kritik der Peirceschen Zeichenart »Ikon«. Definiert man Ähnlichkeit als Übereinstimmung in einer oder mehreren Eigenschaften – und nicht etwa durch Isomorphie oder Verwechselbarkeit, denn dieser erstere Begriff von Ähnlichkeit wird nach Scholz häufig unausgesprochen bei Ähnlichkeitsauffassungen im Bereich des Bildhaften zugrunde gelegt –, so ergebe sich unmittelbar »die Verlegenheit, anzugeben, was Eigenschaften sind, was als Eigenschaft gilt, und was nicht«. 297 Obwohl sich Peirces »Ikon« in der Erstheit nicht ausschließlich auf Bilder bezieht, kritisiert Goodman es (zu Recht) im Rahmen visueller Repräsentation und hat wohl abbildende Bilder (wie z. B. Porträts) im Sinn: »Die naivste Auffassung von Repräsentation könnte man vielleicht folgenGoodman, Sprachen der Kunst, S. 15. Goodman, Kunst und Erkenntnis, in: Henrich / Iser (Hg.), Theorien der Kunst, S. 584 f (der Aufsatz stellt die ursprüngliche Form des Schlusskapitels von Languages of Art vor.) 296 Scholz, In memoriam Nelson Goodman, a. a. O., S. 21. 297 Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen, S. 53. 294 295

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dermaßen charakterisieren: ›A repräsentiert B dann und nur dann, wenn A B deutlich ähnlich ist.‹« Obwohl sich die Auffassung hartnäckig halte, könnten doch »kaum mehr Irrtümer in eine solche kurze Formel gepresst werden«. 298 Was ist eigentlich Ähnlichkeit? Auch Eco wird den unpräzisen Ähnlichkeitsbegriff bei Peirce kritisieren. Zumindest kann man sagen, dass die Ähnlichkeitsrelation, wenn sie denn eine Äquivalenzrelation sein soll – und das ist nicht zwingend –, nicht nur reflexiv und transitiv ist (aber das ist trivial: Selbstähnlichkeit und Ähnlichkeitsketten – bei denen der Grad der Ähnlichkeit abnehmen kann – sind eher nicht von Interesse). Die Äquivalenzrelation ist aber auch – anders als die Kausalrelation 299 – symmetrisch, denn wenn A B ähnele, müsse B auch A ebenso sehr ähneln – wie es z. B. bei Zwillingen oft der Fall ist. Das allerdings gilt für Repräsentationen nicht: Ein Gemälde kann einen Porträtierten repräsentieren, dieser aber nicht das Gemälde, und »keines der Autos, die vom Montageband kommen, ist ein Bild irgendeines der übrigen«. 300 Es ist allerdings misslich, dass Goodman hier den Bildbegriff offenbar im Sinne von Repräsentation verwendet, ohne ihn zu präzisieren (Abbild? Kopie?). Und es ist auch misslich, dass er bei der Reflexion des Zusammenhangs von (ähnlichem) Bild und Repräsentation nicht zwischen Bildträger und Darstellung unterscheidet: Wenn nach Goodman »ein Gemälde des Schlosses Marlborough von Constable jedem anderen Bild ähnlicher ist als dem Schloss, und doch […] das Schloss (repräsentiert) und nicht ein anderes Bild«, 301 so trifft das Argument ungeachtet verschiedener Grade von Ähnlichkeit, die noch zu spezifizieren wären, auf den materiellen Bildträger, also die bemalte Leinwand, zu. Doch man kann sicherlich sagen, dass es optische Ähnlichkeiten zwischen einigen Eigenschaften in der Darstellung und im abgebildeten Original festzustellen gibt, und solche Ähnlichkeit bestimmter Eigenschaften bzw. Merkmale könnte man auch umGoodman, Sprachen der Kunst, S. 15. vgl. das Kapitel über kausale Bildtheorien bei Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen, S. 82 ff. 300 a. a. O., S. 16. Allerdings ist der Schluss von der internen Ähnlichkeit zwischen Gegenständen auf bildhafte Repräsentationsfunktionen so nicht gezogen worden. Allenfalls könnte man sagen, dass ein Foto eines Prototyps alle anderen der gleichen Art repräsentiert. 301 Goodman, Sprachen der Kunst, ebd. 298 299

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gekehrt feststellen, weshalb wir auch Ähnlichkeitsbeziehungen erkennen können. (Allerdings will Goodman mit seinem extensionalen Individuenkalkül ja von solchen Eigenschaften nichts wissen.) Die Schwierigkeit scheint hier in der vorausgesetzten (und ebenfalls nicht symmetrischen) Urbild-Abbild-Relation und in einem so verstandenen Begriff der Re-Präsentation zu liegen. Das sieht Goodman genauso: Auch eine Vorstellung von Nachahmung hilft nicht weiter: Was genau, welcher Aspekt des Originals soll nachgeahmt bzw. kopiert werden? Denn die Weisen, in denen ein Gegenstand ist, sind vielfältig, nicht nur perspektivisch, und wenn man alle kopieren wollte (wie Picassos Versuche mit Multiperspektivität im Bild zeigen), so ergäbe sich kein realistisches Bild. 302 Optisches Kopieren aber in der »Weise, wie der Gegenstand sich für den Normalgesichtigen aus angemessener Entfernung, günstigem Blickwinkel, bei gutem Licht, ohne Hilfsmittel darbietet, nicht beeinflusst durch Gefühle, Abneigungen und Interessen und nicht gedanklich und interpretativ ausgeschmückt«, also durch ein unvoreingenommenes »unschuldiges Auge«, gibt es nicht. (Hier beruft sich Goodman auf Gombrichs Art and Illusion. 303) »Die Abbildtheorie der Repräsentation wird also zu Beginn durch ihr Unvermögen behindert, zu spezifizieren, was kopiert werden soll. Nicht ein Gegenstand in der Weise, wie er ist, noch in allen Weisen, noch in der Weise, wie er für das geistlose Auge aussieht. Darüber hinaus ist gerade an der Vorstellung etwas verkehrt, irgendeine der Weisen, in der ein Gegenstand ist, irgendeinen Aspekt von ihm, zu kopieren. […] Wenn wir einen Gegenstand repräsentieren, dann kopieren wir nicht solch ein Konstrukt, oder eine Interpretation – wir stellen sie her.« 304

Die Idee einer Kopie oder Nachahmung übersieht nach Goodman das Moment der Konstruktion: Sowohl Bilder (erklärt an Formen räumlicher Darstellung, deren Perspektiven keineswegs, wie wir glauben, den Gesetzen der Optik folgen) als auch Skulpturen (die wie Fotografien mit zu kurzer Belichtungszeit Bewegungen »einfrieren« und »Personen mumifizieren« oder aber als kolossale Plastiken nicht in normalen Proportionen, sondern so, wie sie dem menschlichen Auge als normal erscheinen sollen, erstellt werden und keineswegs origi-

302 303 304

a. a. O., S. 17 f. a. a. O., S. 18 f. a. a. O., S. 20.

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nalgetreu abbilden 305, machen Techniken erforderlich, die das vermeintliche Abbild gemäß unserer Sehgewohnheiten aufbereiten. Das gilt genauso für die Wissenschaften: Auch sie entwerfen gemäß unseren jeweiligen Denkgewohnheiten Symbolsysteme, die sich keineswegs als Blaupausen der einen wahren Welt verstehen, denn auch hier gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Nicht Entdeckung, sondern kreative Erfindung ist angesagt: »Die Natur ist ein Produkt aus Kunst und Diskurs«. 306 »Die Symbole der vielfältigen Systeme liefern keine passiven Abbilder einer zu entdeckenden Welt, sondern gehen in die Konstitution dessen ein, worauf Bezug genommen wird: Sie sind mit anderen Worten weltkonstitutiv. Wir sehen uns einer Vielfalt von wissenschaftlichen und künstlerischen Weltentwürfen gegenüber, von denen nicht nur einer beanspruchen kann, angemessen oder richtig zu sein.« 307

Goodman kritisiert also nicht nur Peirces Realismus, sondern auch seinen Begriff der Repräsentation, und insbesondere den des Icons, über den Begriff der Ähnlichkeit. Indexikalische Zeichen mit Kausalnexus kennt auch er, so z. B. untersucht er Zeit- und Temperaturmesser; 308 und das Symbol, bei Peirce arbiträr und konventionell und nur in der Drittheit vorhanden, ist für ihn der Oberbegriff. Symbolsysteme – Goodman möchte ebenfalls eine umfassende semiotische Theorie – haben für sich genommen keine Bedeutung, sie brauchen Bezugnahme. Diese Bezugnahme nennt Goodman Denotation: »Denotation ist der Kern der Repräsentation und unabhängig von Ähnlichkeit.« 309 Weiter wird der Begriff nicht definiert, zur Unzufriedenheit einiger Kommentatoren, doch für Goodman nur konsequent, da es sich um einen geläufigen Begriff handelt, nicht nur bei Cassirer (s. etwa Ecos Geschichte des Begriffs der Denotation von Aristoteles über die mittelalterliche Suppositionslehre bis hin zu Hobbes und Mill, der schon zwischen Denotation und Konnotation unterschied 310). Bilder und Beschreibungen können etwas repräsentieren, weil

305 306 307 308 309 310

a. a. O., S. 27–31. a. a. O., S. 42. Scholz, In memoriam Nelson Goodman, a. a. O., S. 23. Goodman, LA, S. 151 ff. Goodman, Sprachen der Kunst, S. 17. Eco, Kant und das Schnabeltier, Anhang I, S. 453 ff.

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sie denotieren, und damit ist die Denotation als notwendige Bedingung für Repräsentation festgehalten. »Bilder bestehen nicht aus Elementen eines Alphabets, […] und verbinden sich nicht mit anderen Bildern oder Wörtern zu Sätzen. 311 Doch denotieren Bilder und Termini gleichermaßen – passen als Etiketten auf – alles, was sie darstellen, benennen oder beschreiben.« 312

Der Begriff »Etikett« (»label«) passt zu Goodmans Nominalismus, wobei er im Bezug singuläre und allgemeine Denotation unterscheidet: Prädikate (»rot«) und bestimmte Bilder, z. B. in Tierlexika, denotieren allgemein, da sie für eine ganze Klasse von Gegenständen stehen, Eigennamen und Einzelporträts denotieren hingegen singulär, sie können wie Etiketten zugeordnet werden, da sie auf eine bestimmte Person verweisen. Ein klassischer Fall von Denotation sind die Buchstabenzeichen eines Wortes, die einen bestimmten Gegenstand bezeichnen. Gesten, Partituren und Choreographien, Fotografien denotieren, ebenso die Farbe Grau, die auch metaphorisch denotieren und für Tristesse stehen kann. Was aber, wenn rein abstrakte Bilder – anders als Mondrians Bild »Trafalgar Square«, das die geometrischen Verhältnisse des Londoner Platzes ziemlich genau abbildet – gar kein Sujet haben und sich auch nicht selbst denotieren, wie Malewitschs »schwarzes Quadrat« es tut? Oder, um ein sprachliches Beispiel zu verwenden: wie die Worte »kurz« und »vielsilbig«? Was, wenn Begriffe oder Sätze auf nichts, weder wörtlich noch metaphorisch, zutreffen? »Im Gegensatz zu Don-Quichote-Portraits und Kentauren-Bildern sind solche Werke keine buchstäblichen Etiketten auf leeren Gefäßen oder phantasievolle Etiketten auf vollen, sie sind gar keine Etiketten.« 313 In einer rein extensionalen Semantik ergeben sich nämlich Probleme bei Bedeutungsverschiedenheit von extensional gleichen Prädikatausdrücken, z. B. für solche Ausdrücke wie »Engel« oder »Einhorn«, die gar nichts denotieren und daher auch nicht Erfüllungsgegenstände von Prädikaten sein können. 314 311 Hier lässt Goodman die frühen piktographischen Schriften außer Acht, sowie das Phänomen von Comic-Bildergeschichten, auch Bilderfolgen können erzählen. 312 Goodman, WW, S. 127 (Kursivierung von mir). 313 a. a. O., S. 130. 314 Goodman ersinnt hier die Unterscheidung von primärer und sekundärer Extension. Ausdrücke wie »Engel« und »Einhorn« haben verschiedene Bedeutung, obwohl sie von denselben Gegenständen erfüllt werden (nämlich gar keinen). (Freges leere

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Ihre Erfüllungsklasse ist gleich, und zwar leer, was nach Goodmans Definition extensionaler Isomorphie bedeuten müsste, dass man die Gegenstände identifizieren können müsste. Für Kulenkampff ist das unsinnig: Rubens Kentaurenschlacht in Madrid und die New Yorker Teppiche der Jagd auf das Einhorn stellen durchaus Verschiedenes dar. 315 Goodman beschreibt für solche Fälle eine zweite, nicht denotative Zeichenfunktion, die Exemplifikation, die vor ihm noch kaum beschrieben worden war und vielen als Schlüssel zu Goodmans Zeichentheorie gilt. 316 (Die Kombination von Denotation und Exemplifikation geht wohl auf Wittgensteins Unterscheidung von Sagen und Zeigen zurück. 317) Am Beispiel eines Stoffmusters erklärt Goodman, wie ein materieller Gegenstand als »sample« Bezug nehmen kann auf eine Gesamtheit, die mit ihm vorstellbar wird, denn das Muster besitzt nicht nur bestimmte Eigenschaften, es zeigt sie auch vor. So gibt ein Gymnastiklehrer z. B. »Proben«, 318 Muster, für das, wozu er seine Schüler – meist sprachlich – animieren möchte, z. B. einen AufMenge steht Goodman nicht zur Verfügung, da er keine Mengen, sondern nur Individuen zulässt.) Betrachtet man aber Engelbilder und Einhornbilder, so sind die Erfüllungsgegenstände durchaus verschieden (vgl. Fricke, a. a. O., S. 92 f). 315 Kulenkampff, Von Einhörnern und Kentauren. Schwierigkeiten mit Goodmans Theorie der Darstellung, in: Nida-Rümelin (Hg.), Rationalität, Realismus, Revision, S. 762 f. Das Problem trifft auch für die entsprechenden Prädikate zu, die das Gleiche bedeuten müssten; und Goodman hat auf das Problem (in PP) mit einer weiteren Unterscheidung reagiert, nach der die »Prädikate ›Einhorn‹ und ›Kentaur‹ nicht dieselbe Bedeutung haben, weil gewisse zusammengesetzte Prädikate verschiedene Extensionen haben, die die Terme ›Einhorn‹ bzw. ›Kentaur‹ als Teil enthalten.« (a. a. O., S. 763) Für Kulenkampff fehlt bei Bildern »die nominalistische Intuition. Außerdem haben wir bei Wörtern den Eindruck, dass sie uns zu den Dingen hinführen, bei Bildern dagegen, dass sie uns die Dinge herbringen oder vorzeigen«; das sei ein »phänomenologischer Unterscheid, der verschwindet, wenn bildliche Darstellungen als Symbole aufgefasst werden«. Die Konsequenz für Kulenkampff ist, dass er bezweifelt, ob darstellende Bilder als Symbole aufgefasst werden können. Man kann aber auch einfach schließen, dass der strenge Nominalismus mit der Vorstellung von bloß extensional gegebenen Bedeutungen, den Goodman sowieso nicht durchhält, Ursache des Problems ist. 316 vgl. Fricke, a. a. O., S. 93 f. 317 Mersch, Die Sprache der Materialität: Etwas Zeigen und Sichzeigen bei Goodman und Wittgenstein, in: Steinbrenner/Scholz/Ernst (Hg.), Symbole, Systeme, Welten, S. 145 nennt als Beleg die TLP-Stellen 3.262, 4.022, 4.12.–4.1212, 4.126. 5.62. 6.12, 6.36 und 6.522. 318 Goodman, LA, S. 69.

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schwung am Barren. »When meaning is discussed we normally think of a relation going from sign to thing. […] But in some cases the relationship has the opposite direction.« 319 Während die Gesten eines Dirigenten Töne bzw. Rhythmen denotieren, kann die Probe« eines Orchesters die in der Partitur festgehaltene Musik exemplifizieren. Dabei ist Exemplifikation sehr selektiv: Ein Gegenstand instantiiert viele Prädikate, z. B. im Falle des Stoffmusters für einen Anzug Farben, Webarten, Qualität. Die Größe der Probe bzw. ein gezackter Rand werden eher nicht von Belang sein, d. h. einige Prädikate werden »umgebungs- und interessenabhängig herausgehoben«. 320 So können ein Stein, z. B. ein Bergkristall, der am Rande eines Wanderwegs lag und womöglich gar nichts exemplifizierte, oder auch eine Tortenattrappe, in verschiedenen Umgebungen unterschiedliche Symbolfunktionen haben: In einem geologischen Museum kann der Stein seine Farbe und Struktur exemplifizieren, für einen Juwelier spezifische Eigenschaften seiner möglichen Verarbeitung zu einem Schmuckstück, so wie die Tortenattrappe im Schaufenster eines Konditors 321 einige Eigenschaften einer möglichen (singulären) Hochzeitstorte (Aussehen, Form, Farbe, aber nicht: Geschmack) exemplifizieren kann, während sie als Deko-Objekt in den Auslagen von Geschäften für Hochzeitsmode und -bedarf oder in einem Kindermalkurs sicherlich andere Prädikate exemplifizieren wird. Ein impressionistisches Bild, z. B. die »Papageienallee« von Liebermann, kann in einem Kunstmuseum eine Stilrichtung exemplifizieren, für Spaziergänger auf der Papageienallee am Wannsee aber auch eine Erinnerung instantiieren, z. B. an Licht, Schatten und Wärme, und bestimmte Empfindungen hervorrufen, die vielleicht zur Entstehung des Gemäldes geführt haben. Wegen dieser kontextabhängigen Selektivität – es werden je andere Momente als bedeutsam herausgehoben – handelt es sich »nicht einfach um die Umkehrung der Denotationsrelation; die Exemplifikation ist vielmehr, technisch gesprochen, nur eine Subrelation der Konversen der Denotation.« 322

319 Søren Kjørup, The Approach of Goodman, in: Posner et al. (Hg.), Semiotik, Teilband 14.2, S. 2326. 320 Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen, S. 183; s. auch die gleiche Formulierung bei Goodman, LA, S. 65. 321 Das Beispiel stammt von Oliver Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen, S. 183. 322 a. a. O., S. 183 f.

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»Exemplifikation ist eine wesentliche Form der Symbolisierung in den Künsten« und »auch für die Wissenschaften entscheidend. […] Insofern als Symbole nur solche Eigenschaften exemplifizieren können, die sie besitzen, könnte es den Anschein haben, als sei der Bereich der Exemplifikation verhältnismäßig gering. Aber dies ist nicht der Fall. Alles, was als Probe dient, funktioniert als ein Symbol, indem es Eigenschaften exemplifiziert, deren Probe es ist.« 323

Für Ernst ist die Exemplifikation »der Schlüssel zum Verständnis von gegenstandsloser Kunst«, denn hier wird nichts repräsentiert bzw. denotiert. 324 Symbole können auch metaphorisch exemplifizieren, und sie tun dies sogar oft: So kann ein mathematischer Beweis metaphorisch eine Eigenschaft wie Eleganz exemplifizieren, ein Gemälde eine Eigenschaft wie Prägnanz. 325 Ausdruck braucht solche metaphorische Exemplifikation: 326 So sieht die Schauspielerin Liv Ullmann in Ingmar Bergmanns »Szenen einer Ehe«, während sie auf ihren selbstgewählten Filmtod wartet, auf ihre Armbanduhr – sie wird groß im Bild gezeigt – und sieht gelassen zu, wie ihre Zeit abläuft. Francis Bacons Gemälde des schreienden Papstes im Käfig denotiert Innozenz X., das Bild exemplifiziert aber auch bestimmte Symbole seines Standes (Habit, Pileolus, Stola, Thron), es gewinnt aber seine starke Ausdruckskraft durch metaphorische Exemplifikation: Der stumme Schrei eines jeden in Konventionen eingesperrten Menschen zeigt hinter der Fassade der Konvention eine zweite Ebene: die der psychischen Wirklichkeit. Doch »Werke drücken nur solche Eigenschaften aus, die sie metaphorisch exemplifizieren, wenn sie als ästhetische Symbole interpretiert werden«: 327 So drückt de Chircos Gemälde »Der Große Metaphysiker« eine Kritik aus: Zunächst denotiert die mit einem Mantel halb umhüllte Gestalt auf dem Sockel eine Menge oberflächlich ähnlicher Denkmäler. Der Kopf hat jedoch kein menschliches Gesicht, und der halb zur Seite fallende Umhang gibt den Blick in das Innere der Gestalt frei: sie ist keineswegs menschlich, sondern in ihrem Innersten aufgebaut 323 324 325 326 327

Goodman/Elgin, Revisionen, S. 36. Ernst, Induktion, Exemplifikation und Welterzeugung, a. a. O., S. 105. Goodman/Elgin, Revisionen, S. 36 Goodman/Elgin, ebd., S. 166. vgl. Goodman/Elgin, Revisionen, S. 37.

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Bild 33: Giorgio de Chirico, Der große Metaphysiker (1924–26)

und gestützt von allerlei Konstruktionswerkzeugen wie Reißschienen, Geodreieck, einigen notdürftig zusammengeschusterten Latten, die nur scheinbar Stabilität suggerieren. Die Gestalt ist, wie das Kunstwerk selbst, konstruiert. Was von außen für das Label »Metaphysik« steht, ist im Inneren bloß aus metaphorischen Symbolen für menschliches Konstruieren notdürftig zusammengeschustert, also Menschenwerk. Damit erweist sich de Chiricos »pittura metafisica« hier gerade als antimetaphysische Malerei: Sie bringt die konstruktivistische Kritik an einer vom Menschen unabhängig existenten, vorgängigen und objektiven Wirklichkeit zur Geltung. Alles ist Konstruktion. Und der starke Ausdruck von Grosz’ Selbstbildnis »The Painter of the Hole« entsteht durch metaphorische Exemplifikation einer 382 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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psychischen Ausnahmesituation, in der der zwangsweise ins Ausland emigrierte sonst sehr gesellschaftskritische Maler bar seiner Wurzeln nur noch die eigene innere Leere zu Papier, bzw. auf die Leinwand bringen kann. Die gebrochenen Farben exemplifizieren metaphorisch einen gebrochenen Menschen, der innerlich leer, nur noch als Hülle mit Augen, vor der Leinwand platziert wird, um als Exempel für seinen eigenen Zustand zu dienen, und die Ratten (die das sinkende Schiff verlassen werden) stehen metaphorisch für den drohenden Untergang. Mit den drei Zeichenfunktionen Denotation, Exemplifikation und Ausdruck beschreibt Goodman also unterschiedliche Aspekte der Wirkungsweise von Symbolen nicht nur sprachlicher, sondern auch bildhafter Art. Schwierigkeiten ergeben sich allerdings bei der Interpretation sprachlicher Symbole oder Metaphern, z. B. in der Lyrik, wie etwa bei Paul Celans »schwarzer Milch« in der »Todesfuge«. Sie denotiert nichts, aber was exemplifiziert sie, was drückt sie metaphorisch aus? Hier wird man mit einer nominalistischen Semantik ohne inhaltliche Begriffsbedeutungen kaum weiterkommen. (Und wie oben bereits erwähnt, befasst sich Goodman daher nur mit bereits vollständig interpretierten Zeichen.) 3.2.2.4 Notationssysteme In Languages of Art verfolgt Goodman das Interesse – anders als andere sprachanalytische Philosophen –, die Sprachen von Wissenschaft und Kunst nicht zu trennen. Man hat also keine »Theorie ästhetischer Sprachen zu erwarten, zu deren zentralem Anliegen eine Unterscheidung zwischen ästhetischen und anderen Arten von Sprachen, z. B. epistemischen Sprachen oder Wissenschaftssprachen, gehört.« 328 Im Gegenteil gibt es für ihn kein Zeichen oder Zeichensystem, dessen sich die Kunst nicht bedient oder bedienen könnte. 329 Es geht Goodman um eine allgemeine Symbol- oder Zeichentheorie, wie er im Vorwort zu LA betont: »my study ranges beyond the arts into matters pertaining to the sciences, technology, perception, and practice. […] The objective is an approach to a general theory of symbols.« 330 Damit will er ausdrücklich die vertraute Unterschei328 329 330

Fricke, a. a. O., S. 79. ebd. Goodman, LA, S. XI.

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dung zwischen Wissenschaft und Kunst unterlaufen, 331 denn sowohl wissenschaftliche Erkenntnis und Entwicklung von Theorien als auch das Herstellen von Kunstwerken erzeugt Welten. Der Unterschied bestehe im Anwendungsfeld der Zeichensysteme, und er markiere »auch keine Trennungslinie zwischen dem Wissenschaftlichen und Ästhetischen.« 332 Auch unsere Wahrnehmung raumzeitlicher Gestalten konstruiert:

An den obenstehenden Zeichnungen macht Goodman klar, dass wir uns »energisch und einfallsreich, bewusst und automatisch darum (bemühen), alles Erforderliche bereitzustellen, um getrennte Stücke zu einem einzigen Objekt oder Pseudoobjekt zusammenzufügen«, denn »Zusammenhang ist eine Standardforderung für die Einheit des Objekts«, 333 da für gewöhnlich unsere Erkenntnisobjekte keine raumzeitlichen Lücken haben. Wir interpolieren also bereits im Kognitiven, oft auch unbewusst, um diesen Zusammenhang herzustellen. Diese Idee des Zusammenhangs findet man auch im Begriff des Kontinuums der rationalen Zahlen, denn sie stellen keine abzählbar unendliche Menge dar, sondern es lassen sich zwischen je zwei rationalen Zahlen (z. B. in der Form von Dezimalbrüchen) beliebig viele weitere Zahlen angeben, sodass es keinerlei Lücken gibt, und seien sie auch noch so klein. Man sagt auch, die rationalen Zahlen liegen »dicht« auf dem Zahlenstrahl. Dieser »dichte« Zusammenhang 334 liefert Goodman nun ein Kriterium für die Unterscheidung verschiedener Zeichentypen. Bilder und Worte sind nämlich sehr unterschiedliche Zeichenarten. Wie lässt sich der Unterschied ohne den Begriff der Ähnlichvgl. auch Paul Feyerabends Wissenschaft a l s Kunst (Hervorhebung d. d. A.). Goodman, LA, S. 242. 333 Goodman, WW, S. 109. 334 Der Begriff der »dichten Beschreibung« in der Soziologie, z. B. bei Clifford Geertz, kann damit in Zusammenhang gebracht werden: Diese Beschreibung bekommt man aus der Innenperspektive von Kulturen, Lücken sind hier leicht zu füllen, was aus der Außenperspektive eher nicht so gut möglich ist. 331 332

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keit beschreiben? Goodmans Theorie der Notation stellt, so Scholz, »das systematische Herzstück« von Languages of Art dar und entwickelt ein »begriffliches Instrumentarium, das die Beschreibung und Klassifikation beliebiger Symbolsysteme ermöglicht«; 335 für Kjørup ist sie »his most important contribution to (technical) semiotics«. 336 Während es zwischen Worten und Gesten Lücken gibt, ist dies für viele piktorale Repräsentationen, z. B. in Gemälden, nicht der Fall. Die Theorie der Notation liefert also eine allgemeine Zeichentheorie, und ihre Kriterien erlauben es, unterschiedliche Arten von Symbolsystemen zu vergleichen und in ihrer Besonderheit gegeneinander abzugrenzen. Goodman geht zunächst von einem Kunstverständnis aus, das sich (extensional!) an den verschiedenen Kunstgattungen orientiert, und stellt sich die Frage, welche Zeichen oder Zeichensysteme in den jeweiligen Künsten zur Verfügung stehen; und daher sind, da sein Interesse den »Sprachen« gilt, die Kunstwerke ermöglichen, zunächst für ihn Künste interessant, die sich in einer Art Schrift notieren lassen. Sein Paradebeispiel ist dabei die Partitur eines Musikstücks, die mittels der Notenschrift und der Zusatzzeichen (Pausen, Tempi, etc.) die zu erzeugenden Töne, die von den Musikern zu spielen sind, sowohl hinsichtlich ihrer Länge als auch Reihenfolge denotiert. Es geht um eine umkehrbar eindeutige Beziehung, denn jede Aufführung des Musikstücks exemplifiziert die mit der Partitur vorgegebene Musik und gehört somit zur Erfüllungsklasse der Partitur. Damit diese Beziehung umkehrbar eindeutig ist, müssen zwei syntaktische und drei semantische Bedingungen erfüllt sein: 337 Ein Symbolsystem ist ein notationales System, wenn die Zeichen eindeutig sind (z. B.: einer Note dürfen nicht zwei Töne entsprechen) sowie sich als syntaktisch und semantisch disjunkt (d. h. elementfremd) und endlich differenziert erweisen. Diese Bedingungen sollen im Folgenden erläutert werden: Zunächst geht es – im Bereich der Syntax – um die formale

Scholz, In memoriam Nelson Goodman, a. a. O., S. 22. Søren Kjørup, The Approach of Goodman, in: Posner et al (Hg.), Semiotik, Teilband 14.2, S. 2322. 337 Die meines Wissens kürzeste und daher übersichtlichste Darstellung findet sich bei Kjørup, a. a. O., S. 2223 f. 335 336

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Struktur von Symbolen bzw. Symbolsystemen, deren Zeichen disjunkt und endlich differenziert sein müssen. Erstens also, um beim Beispiel der Notenschrift zu bleiben, darf keine Note der Partitur anderen Noten zugeordnet werden, und umgekehrt, da es bei der Zuordnung keine Überschneidungen geben darf. Die Notenzeichen müssen wohlunterschieden und endlich differenziert sein, d. h., dass wohl Zeichen für Zwischentöne durch Erhöhung oder Erniedrigung des Tonwerts um eine halbe Note möglich sind, aber keine Zeichen für weitere Zwischentöne angegeben werden können, so wie es auch der Klaviertastatur entspricht. Es gibt also bei endlicher Differenziertheit »Lücken«. Ist diese zweite Bedingung nicht erfüllt, sind also unendlich viele Zwischenzeichen angebbar wie bei den rationalen oder den reellen Zahlen, spricht Goodman von »syntaktischer Dichte«. Das ist auch der Grund, weshalb sich Goodman mit Zeit- und Temperaturmessern beschäftigt und unabhängig von ihrer Bedeutung zwei verschiedene Arten feststellt: Die endlich differenzierten Skalen, wie z. B. bei Uhren mit springenden Sekunden- oder Minutenzeigern oder bei digitalen Waagen, sind von den Skalen ohne endliche Differenziertheit zu unterscheiden, wie beim analogen Thermometer. Hier liegen also die Zeichen »dicht«, ohne Lücken, unabhängig von unserer begrenzten Fähigkeit, die Zeichen mit beliebiger Genauigkeit auszulesen. 338 Bei den semantischen Bedingungen muss es nach dem Vorausgegangenen um das »Referenzfeld« der Zeichensysteme gehen, also nicht um irgendwelche inhaltlichen Bedeutungen von Zeichen oder Zeichensystemen, sondern um ihre Extensionen, ihre Erfüllungsklassen: »Ein Symbolsystem besteht aus einem Symbolschema, das mit einem Bezugnahmegebiet korreliert wird. Obwohl wir gesehen haben, dass ein Symbol das, worauf es Bezug nimmt, denotieren kann oder nicht, geht es mir in diesem Kapitel um Denotation und nicht so sehr um die Exemplifikation. Aber »Denotation« muss hier etwas weiter als üblich verstanden werden, damit sie ein System abdeckt, in dem Partituren mit Aufführungen, die sie erfüllen, in Korrelation gesetzt werden, oder Worte mit ihrer Aussprache, aber auch ein System, in dem Worte mit dem korreliert werden, worauf sie zutreffen oder was sie benennen. Auch um dies im Gedächtnis zu behalten, werde ich ›erfüllt‹ als austauschbar mit ›wird denotiert von‹, ›hat als Er-

338

Goodman, LA, S. 151 ff, insbesondere S. 153.

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füllung(sgegenstand)‹ als austauschbar mit ›denotiert‹ und ›Erfüllungsklasse‹ als austauschbar mit ›Extension‹ gebrauchen.« 339

Nach dieser Klärung nun also zu den semantischen Bedingungen: Auch im Bereich der von der Partitur bezeichneten Töne, Tonlängen, Pausen, Tempi etc. muss es eindeutig Trennschärfe geben. Jedes Notenzeichen, das möglicherweise zwei Töne denotiert, muss ausgemerzt werden. Ebenso muss es bei Buchstaben eine eindeutige Zuordnung von Markierungen zum jeweiligen »Charakter« geben: In lateinischen Minuskeln undeutlich kursiv geschriebene »a«s und »d«s (Markierungen) müssen eindeutig und unverwechselbar einem der beiden Buchstabenzeichen des Alphabets zugerechnet werden können. 340 (Das ist die bereits erwähnte Unterscheidung zwischen »type« und »token«.) Die beiden weiteren Regeln entsprechen den syntaktischen Bedingungen für Notationssysteme, nur eben im Bereich der Referenz, nicht in Bezug auf das Symbolsystem selber: Die Erfüllungsklassen zweier verschiedener Notationssysteme müssen disjunkt sein, denn die Aufführungen einer Beethoven-Symphonie können keiner Mozart-Partitur zugeordnet werden, sondern immer nur der entsprechenden Beethoven-Partitur und umgekehrt. Ferner muss auch im Bereich der be-zeichneten Referenzobjekte (also z. B. im Bereich der von Noten bezeichneten Tonhöhen und Tonlängen) endliche Differenziertheit vorliegen. Ist diese letzte Bedingung nicht erfüllt, spricht Goodman von »semantischer Dichte«. (Beispiel wären die »blue notes« im Jazz, es gibt, z. B. im Blues, keine Notation für die stufenlosen Goodman, LA, S. 139 f. vgl. Goodman, LA, S. 130. Peirce hatte von »type« und »token« geredet, was Goodman zu platonistisch ist (vgl. Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen, S. 109). Denn mit »type« ist die idealtypische Form eines Zeichens gemeint, so wie es unabhängig von konkreten Ausführungen sein soll, mit »token« die es belegende und manchmal weniger vollkommene praktische Ausführung. Ich halte die Übersetzung der von Goodman gebrauchten Unterscheidung von »character« und »marks« durch »Charakter« und »Marken« (um die syntaktische formale Zeichenebene von der Erfüllungsebene zu trennen) wegen der nicht nur heute üblichen anderen Konnotationen für unglücklich, obwohl schon Leibniz von der »characteristica universalis« sprach. Doch schon im Englischen sind »character« und »marks« doppeldeutig (»mark« bedeutet z. B. auch Schulnote), und der Übersetzer hat mit »Charakter« und »Marken« zur weiteren Verwirrung deutschsprachiger Leser beigetragen, denn hier gibt es auch noch die Hochwassermarke, das Markenrecht und die Bestmarke im Sport. Wann immer möglich, verwende ich daher lieber »Markierungen« statt »Marken«, um den Ausführungsaspekt hervorzuheben. 339 340

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Verbindung zwischen zwei oder mehr Tönen, sie wird, z. B. von Trompetern, einfach gespielt und lässt sich wegen der prinzipiell unendlichen Differenziertheit höchstens andeutungsweise zeichenhaft darstellen 341.) Trotzdem müssen die verschiedenen Aufführungen einer Partitur nicht untereinander gleich sein, denn es ergeben sich, zum Beispiel bei der Wahl der Tempi und der Besetzung und Positionierung verschiedener Stimmen, noch genügend Freiräume für künstlerische Gestaltung: So kann der Klang völlig verschieden sein, wenn man werkgetreu mit alten Instrumenten spielt, oder Holz- und Blechbläser im Gegensatz zu den Streichern nur einfach und nicht mehrfach besetzt, oder die Position der Bässe von rechts außen nach oben hinten versetzt. Dennoch handelt es sich bei den verschiedenen Aufführungen um Exemplifikationen derselben Partitur. Über den Freiraum, den die Solo-Kadenzen für berühmte Solisten innerhalb von Konzerten lassen, geht aber die Freiheit noch hinaus, den manche barocke Partituren lassen. Hier werden gelegentlich neben dem Basso continuo des Cembalos die anderen Stimmen nur durch Akkorde bzw. Bezifferungen angedeutet, so dass die Ausführenden auf dieser Basis eigenständig Melodiestimmen entwickeln konnten. Neben der generell langsameren Ausführung der bis heute üblichen Tempobezeichnungen ist hier als strittig anzusehen, ob die jeweiligen Aus- und Aufführungen Notationssystemen folgen und dazu angetan sind, Exemplifikationen eines identischen Werks zu sein und zu seiner Identitätsbildung beizutragen. 342 Geht man aber von Goodmans idealtypischer Vorstellung einer Partitur aus, so kann man sagen, dass mit ihr ein vollständiges Notationssystem vorliegt, das die Identität des aufzuführenden Werks sichert. 343 Doch schon für unsere alphabetischen Schriftzeichen sind die Bedingungen eines notationalen Systems nicht mehr erfüllt: Syntak341 Gleichwohl wissen Jazzpianisten durch Verminderung der üblichen Akkorde, an welcher Stelle »blue notes« zu spielen wären, doch bemängelt man in Gershwins Rhapsody in Blue, der die Blues-Einflüsse in Partituren für klassische Orchestrierung brachte, das Spontane, und das geht auf Kosten des Ausdrucks. 342 Klein, Musikphilosophie, S. 154 f bezeichnet die Partitur mit Ingarden als »Schema mit Leerstellen« bzw. »Unbestimmtheitsrelationen«, die erst in den einzelnen Aufführungen beseitigt bzw. ausgefüllt werden: »Eine exakte Interpretation existiert so wenig wie ein Einhorn, auch wenn Goodman das nicht weiß.« (ebd.) 343 Die Phänomenologie Ingardens problematisiert hier den Werkbegriff und beschäftigt sich gerade auch mit Partituren (vgl. Klein, Musikphilosophie S 144 f). Hat Arthur Schnabel niemals Beethovens Hammerklaviersonate gespielt, weil er sie nie ohne

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tisch ist zwar Trennschärfe und endliche Differenziertheit der Buchstaben und Buchstabenverkettungen gegeben, 344 doch semantisch gibt es Vieldeutigkeiten, sowohl auf der Laut- als auch auf der Wortebene: So wird etwa der englische Buchstabe »u« nicht immer die gleiche Lautform denotieren (»butter«, aber »bullshit«), und auch bei den Wörtern gibt es Vieldeutigkeiten (»Mutter«, »Stoff«, »character«, »ass«). Doch die Theorie der notationalen Symbolsysteme erlaubt es Goodman, auch »andere wichtige Typen von Symbolsystemen dadurch zu unterscheiden, dass bestimmte Kombinationen dieser Bedingungen verletzt werden.« Denn nun kann man »die verschiedenartigen Symbolsysteme, wie sie in Kunst, Wissenschaft und im Leben in Gebrauch sind, analysieren, vergleichen und kontrastieren […]«. 345 Zu den Analysekriterien gehören auch die bereits im Zusammenhang mit den Zifferblättern und Temperaturanzeigen erwähnten Begriffe »analog« (syntaktisch dicht) und »digital« (disjunkt und endlich differenziert), die es nun auch gestatten, Goodmans Begriffe von »Symbolschema« und »Symbolsystem« zu unterscheiden: »Ein Symbolschema ist analog, wenn es syntaktisch dicht ist; ein System ist analog, wenn es semantisch und syntaktisch dicht ist. Analoge Systeme sind demnach sowohl syntaktisch als auch semantisch extrem undifferenziert. […] Ein digitales Schema ist dagegen durchgängig diskontinuierlich, und in einem digitalen System stehen die Charaktere eines solchen Schemas in einer Eins-zu-eins-Korrelation mit den Erfüllungsklassen einer ähnlich diskontinuierlichen Menge.« 346

Letzteres gilt z. B. für die Notenschrift und die ihr entsprechende (»sie erfüllende«) musikalische Umsetzung. Auch für Architekten ist eine solche Symbolsprache wichtig, wenn sie vermittels Bauzeichnungen eine eindeutige Bauausführung von Gebäuden sicherstellen soll. Hier ist z. B. die syntaktische und semantische Disjunktheit im Bereich des Erfüllungsgegenstandes (etwa eines Hauses) gegeben, denn Fenster, Türen, Lichtschächte, eine falsche Note gespielt hat? Nach Goodman müsste ja die Partitur falsche Töne a priori ausschließen (s. Klein, a. a. O., S. 219, FN 231). 344 vgl. Goodman, LA S. 137: »Die syntaktischen Erfordernisse der Disjunktivität und der endlichen Differenzierung werden durch unsere vertrauten alphabetischen, numerischen, binären, telegraphischen und elementaren musikalischen Notationen erfüllt […].« 345 Goodman, a. a. O., S. 151 346 a. a. O., S. 154 f.

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Treppenhäuser sind auch in der Ausführung deutlich voneinander getrennt, doch man kann im Bereich des Baumaterials nicht von (semantischer?) Differenziertheit sprechen, hier muss »Dichte« vorherrschen. Goodmans Untersuchung von Sprachen der Kunst bzw. eigentlich genauer: der sprachschriftlichen Fixierung von Kunstwerken zeigt also Systeme von Symbolen, die diesen Sprachen als notationale Systeme zugrunde liegen können, mit bestimmten Eigenschaften (also doch! das ist keine extensionale Semantik mehr! 347), die es erlauben, diese Symbolsysteme in der Kunst, aber auch in den Wissenschaften und im alltäglichen Gebrauch zu analysieren, voneinander zu unterscheiden und zu klassifizieren. 3.2.2.5 Bildkompetenz Mit diesem Handwerkszeug können nun bildliche Repräsentation und sprachliche Beschreibung durch einen syntaktischen Unterschied in der symbolischen Darstellungsweise unterschieden werden (ohne dass auf irgendwelche Referenzobjekte verwiesen werden muss). Ganz zu Beginn seiner Languages of Art hatte Goodman festgehalten: »›Symbol‹ wird hier als ein sehr allgemeiner und farbloser Ausdruck gebraucht. Er umfasst Buchstaben, Wörter, Texte, Bilder, Diagramme, Karten, Modelle und mehr […]. ›Sprachen‹ im Titel meines Buches sollte strenggenommen durch ›Symbolsysteme‹ ersetzt werden.« 348

Damit ist klar, dass Bilder eine besondere Art von Symbolen sind. Die oben beschriebene Theorie der Notation hat deutlich gemacht, dass die in Kunst, Wissenschaft und Alltag verwendeten Symbole sehr unterschiedlich sein können und in welcher Hinsicht sich etwa Gemälde von musikalischen Werken unterscheiden. (Das macht Goodman aber als Semiotiker keineswegs an unterschiedlichen Arten des ästhetischen Genusses fest, sondern ganz analytisch an den möglichen oder nicht möglichen »sprach«schriftlichen Fixierungen.) Goodmans Schülerin Elgin bringt es auf den Punkt: »Bildliche Systeme haben keine Alphabete. Sie sind syntaktisch dicht. Die genaue Farbe, 347 s. auch Brandt, Die Wirklichkeit des Bildes, S. 192, der die Zuweisung von Artefakten in die Klasse der Symbole, die Goodman mit einer bestimmten Qualität begründet, als Verletzung des Konzepts einer extensionalen Semantik bezeichnet. 348 Goodman, LA, S. 9.

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Dicke, Position und Schattierung jeder Linie in einer Zeichnung ist entscheidend für ihre Identität als ein bildliches Symbol.« 349 Damit ergibt sich, was Bilder (Goodman denkt paradigmatisch an Gemälde) nicht sind: Sie sind nicht durch ein Notationssystem zu beschreiben. Die Kategorien disjunkt und endlich differenziert lassen sich nicht anwenden. Das heißt nicht, dass ein notationales Schema für Bilder nicht denkbar wäre. 350 (Malen nach Zahlen? Das wäre immerhin disjunkt und endlich differenziert. Doch Goodman geht es ausschließlich um Kunst, obwohl er etwas Ähnliches insinuiert: »Eine elementare pikturale Charakterisierung […] gibt mehr oder weniger vollständig und mehr oder weniger genau an, welche Farbe das Bild an welchen Stellen hat.« 351) Doch sind natürlich nicht nur die Farben Strukturelemente eines Gemäldes. Zudem handelt es sich bei Werken der bildenden Kunst für gewöhnlich um Unikate, weshalb sich Goodman auch ausführlich mit den Themen Imitation, Kopie und Fälschung beschäftigt. 352 Gibt es möglicherweise Anleitungen dazu? Sind Kopien bzw. Fälschungen überhaupt immer als solche zu erkennen? (Auch angesichts der perfekten Vermeer-Fälschungen van Meegerens könne das Auge sich, so Goodman, vor allem durch Vergleich mehrerer Fälschungen verschiedener Bilder und Vergleich mit dem originalen Malstil Vermeers schulen, differenzierter wahrzunehmen und Kriterien für das Erkennen von Fälschungen zu entwickeln.) Denn es geht dabei auch um individuelle Malstile, und die können voneinander abweichen und gerade bei Fälschungen zum Tragen kommen. 353 Auch im Falle von Radierungen und Lithografien, die mehrere Kopien des Originals gestatten, gibt es die eine individuell hergestellte Platte, von der – in begrenzter Zahl – gedruckt werden kann. Die Abzüge können als Erfüllungsgegenstände gesehen werden. Doch im Normalfall ist bildende Kunst autographisch, und »ein Werk (wird) vorgängig mit (der Einer-Klasse von) einem individuellen Bild identifiziert«. 354 Es gibt keine Anleitungen für identische Reproduktionen, die alle Feinheiten zu erfassen in der Lage sind (»Keine

349 Elgin, Eine Neubestimmung der Ästhetik. Goodmans epistemische Wende, in: Steinbrenner/Scholz/Ernst (Hg.), Symbole, Systeme, Welten, S. 52. 350 Goodman, LA, S. 184 f. 351 a. a. O., S. 49. 352 a. a. O., S. 101–124. 353 Hauskeller, Nelson Goodman, in: ders., Was ist Kunst?, S. 91. 354 a. a. O., S. 186.

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Abweichung kann grundsätzlich für belanglos erklärt werden.« 355) und die das Werk exemplifizieren könnten. Bildzeichen sind nämlich nicht konventionell und endlich differenziert wie Notenzeichen einer Partitur, sondern arbiträr und unendlich differenziert, liegen also dicht. Und sie sind auch nicht immer disjunkt, wie beim Malen nach Zahlen, sondern oft in Überdeckungen und Verwischungen und Vermischungen gegeben. Zusammen mit der syntaktischen Dichte (man macht sich gar nicht mehr klar, dass die Begriffe »syntaktisch« und »semantisch« eigentlich aufs Bildliche übertragene sprachliche Kategorien sind) ist auch eine »Fülle« an Symbolismen als Merkmal des Ästhetischen zu beobachten. 356 Die für notationale Systeme entwickelten Kriterien taugen also zur Beschreibung typischer Formeigenschaften von Bildern: sie sind keinesfalls digitale, sondern analoge Phänomene. Dennoch soll man sie »lesen« können: Mit einem Seitenhieb auf die Phänomenologen schreibt Goodman: »Eine hartnäckige Tradition stellt die ästhetische Haltung als passive Kontemplation des unmittelbar Gegebenen dar, als direktes Auffassen des Präsentierten, und zwar unbelastet von irgendeiner Begriffsbildung, abgeschnitten von all den Echos der Vergangenheit […], jeglicher Initiative fern. Durch Purifikationsriten der Loslösung und des Interpretationsverzichts sollen wir eine ursprüngliche, reine Sicht der Welt suchen. Ich brauche die philosophischen Fehler und ästhetischen Absurditäten einer solchen Auffassung wohl kaum aufzuzählen, es sei denn jemand ginge soweit zu behaupten, die angemessene ästhetische Haltung einem Gedicht gegenüber bestehe darin, auf die bedruckte Seite zu starren, ohne sie zu lesen.« 357

Damit ist ganz klar: Bilder müssen wie sprachschriftliche Zeichen gelesen werden, denn es geht dabei »um das Identifizieren von Symbolsystemen und von Charakteren innerhalb dieser Systeme und das Identifizieren dessen, was diese Charaktere denotieren und exemplifizieren; es geht dabei um das Interpretieren von Werken und die Reorganisation der Welt mit Hilfe der Werke und der Werke mit Hilfe der Welt«. 358 Den jeweiligen Zeichen müssen Bedeutungen extensional beigelegt werden, und das ist ein »ruheloser, forschender, Scholz, a. a. O., S. 115. Goodman, a. a. O., S. 232. 357 a. a. O., S. 222 f. (implizit auch eine Kritik an Gombrichs bereits erwähntem »unschuldigen Auge« in Art and Illusion). 358 a. a. O., S. 223. 355 356

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erprobender« Prozess, »eher dynamisch als statisch«. 359 Dafür braucht man Bildkompetenz: Sachs-Hombach, der als Bildsemiotiker am Ähnlichkeitskriterium für Repräsentationen, also für abbildende Bilder, festhält, macht dabei zu Recht darauf aufmerksam, dass diese Bildkompetenz »teilweise kulturell geprägt« ist, denn so sei z. B. die perspektivische Bildkonzeption in einem bestimmten kulturellen Umfeld entstanden; 360 man müsse also Bilder nicht notwendigerweise nach diesen Standards betrachten, zumal sie ja auch wieder durch andere ersetzt wurden und eine okularzentrierte perspektivische Malerei ja auch im asiatischen Raum kaum »gelesen« werden kann, sondern nur eine bestimmte Sichtweise ins Bild setzt, die für Belting zu Recht eine symbolische Form der Darstellung ist. Goodman selbst gibt das Beispiel der Altägypter und der Japaner des 18. Jahrhunderts, die, durch ihre symbolischen Sehkonventionen geprägt, je anders sehen: Der Altägypter z. B. »ist eingebunden in die symbolischen Eigenarten seiner Kultur und Epoche und hält das schiefschultrige Bild des Menschen auf einem ägyptischen Bild für realistisch, weil für ihn, den Altägypter, die Menschen eben eingeschliffenermaßen so sind: Jeder Altägypter sieht, so Goodman in der Nachfolge Gombrichs, die Menschen als so windschiefe Gebilde, wie sie auf den Hieroglyphen und ägyptischen Gemälden abgebildet werden.« 361

Wenn das stimmt, ist das Sehen selbst also schon symbolisch imprägniert, und damit hat Goodman für Brandt »das transzendente Apriori einer Symbolgemeinschaft, die bis in die sinnliche Wahrnehmung hinein der jeweiligen Weltsymbolisierung dienstbar ist« 362, entwickelt: Unsere Symbolkonventionen prägen die Art, wie wir die Welt sehen, und ganz sicher kann man das für sprachliche Systeme sagen. (Wittgensteins »etwas als etwas sehen« – das übrigens auch für die Wahrnehmung und ihre Erfassung durch Begriffe relevant ist – muss hier mitgedacht werden.) So wird ein mittelalterlicher Betrachter eines Gemäldes, in dem Personen unterschiedlicher Größe zu ebd. Sachs-Hombach, Über Sinn und Reichweite der Ähnlichkeitstheorie, in: Steinbrenner/Scholz/Ernst (Hg.), Symbole, Systeme, Welten, S. 217. Vgl. dazu auch Goodman, LA, S. 25: »Perspektivisch gemalte Bilder müssen wie alle anderen gelesen werden; und die Fähigkeit zu lesen muss erworben werden. Das nur an orientalische Malerei gewöhnte Auge versteht ein perspektivisch gemaltes Bild nicht sofort […].« 361 Brandt, Die Wirklichkeit des Bildes, S. 197. 362 a. a. O., S. 194. 359 360

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sehen sind, nicht auf die unterschiedliche Körpergröße der abgebildeten Personen im Verhältnis zueinander geschlossen haben, und ganz sicher auch nicht auf eigentlich etwa gleichgroße, bloß perspektivisch je nach Nähe oder Ferne zum Betrachter verschieden groß erscheinende Personen, sondern er wird die unterschiedliche Größe der Gestalten als Zeichen ihres sozialen Ranges zu »lesen« gewusst haben. Scholz gibt dafür ein anschauliches Beispiel: Ein Gebilde wie o o »kann zwanglos als Bild (etwa von Augen, Kugeln, Rädern …), als sprachliches Zeichen (zwei Vorkommnisse des fünfzehnten Buchstabens unseres Alphabets), als kartographisches Symbol (etwa von zwei benachbarten Dörfern), eventuell sogar als Notensymbole (für zwei ganze Noten) und anders mehr verwendet werden.« (Ich ergänze: auch als Zeichen für eine bestimmte Örtlichkeit.) »Ob ein Ding ein Bild ist oder nicht, hängt also nicht allein von den Beschaffenheiten des Dinges ab, sondern vor allem auch davon, welches Zeichensystem als Bezugsrahmen dient.« 363

Man müsse also fragen, »wann oder unter welchen Bedingungen etwas ein Bild ist, wann etwas als Zeichen in einem bildlichen System fungiert«, 364 und vor allem muss man zur richtigen Interpretation in einer gegebenen Situation den richtigen Bezugsrahmen wählen. Das »Gebilde« oder »Bild« scheint hier nur nach Maßgabe des für die Interpretation zuständigen Zeichensystems als solches zu existieren. Das gilt auch für das von Goodman gerne verwendete Beispiel, in dem er ein Bild des Fujiyama von Hokusai und ein Diagramm, welches Börsenkurse in Abhängigkeit von der Zeit verzeichnet, vergleicht. Beide Darstellungen können sich gleichen, und die systemimmanenten Eigenschaften der Zeichen helfen der Interpretation zunächst nicht weiter. Doch hat der Farbholzschnitt zusätzlich zur gezackten Linie noch weitere Aspekte wie die stufenlose Farbabschattung des Himmels im Hintergrund, variierende Dicke der Linien etc. zu bieten, weist also mehr »relative Fülle« 365 als das bloße Diagramm auf und kann daher richtig, nämlich als Bildzeichen interpretiert werden, ohne dass damit schon eine abbildende Funktion gegeben sein muss. Unter dem Stichwort »Bildkompetenz« entwickelt Scholz daher im Anschluss an Wittgensteins Frage (und Überlegungen), was es denn heiße, ein Bild zu verstehen, verschiedene Stufen dieses Verstehens: Dem plastischen Verstehen (das auf Wahrnehmung aufruht) 363 364 365

Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen, S. 103. ebd. vgl. Scholz, a. a. O., S. 128.

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folgt ein Verstehen von etwas als Zeichen, bzw. dann als bildliches Zeichen. Darauf aufbauend müssen dann Bildinhalt und denotativer Sachbezug verstanden werden sowie anschließend die nichtdenotativen Bezüge, zu denen sich dann auch noch die kommunikativen Funktionen des Bildzeichens gesellen. 366 Denn natürlich sind Goodmans Symbolsysteme der Kommunikation, 367 auch über Kunst, dienlich und helfen einem besseren verstehenden Durchdringen der Welt. Für Brandt ist klar, dass Goodman von Anfang an eine allgemeine Symboltheorie für Wissenschaft und Kunst schaffen wollte; und da im Bereich der Sprache bereits eine Theorie in der Linguistik ausgearbeitet wurde, wie auch die einer mathematischen Formelsprache in den Naturwissenschaften, habe er die noch fehlende Kunst-Linguistik liefern wollen. Die Bildzeichen hätten also gerade da, wo bislang ihre differentia specifica angesiedelt wurde, den Sprachzeichen folgen müssen, und dafür habe er die Ähnlichkeit als Kriterium für Bildlichkeit eliminieren müssen. 368 Mit einer dem Symbol äußerlichen (objektiven) Realität als Bezugsinstanz hätte er ja seinen eigenen Ansatz der vom Menschen selbstgeschaffenen Welten konterkariert. »Das Lehrfundament erzwingt also die schon skizzierte Assimilation der natürlichen an die konventionellen, der piktoralen an die sprachlichen Zeichen oder Symbole. […] Diese Trennung der beiden Medien und die Betonung ihres Eigenrechts […] muss von Goodman eingeebnet werden.« 369

Erst »post festum« habe er dann »doch eine Differenz zwischen Worten und Bildern« einführen können bzw. müssen, und er tut dies, wie wir sahen, mit »syntaktischen« Kriterien. Allerdings ist diese Loslösung vom Ähnlichkeitskriterium, auch wenn sie systemimmanent für Goodman nötig gewesen sein sollte, gleichzeitig auch eine Loslösung vom Begriff der Repräsentation und vom Paradigma des Abbildens, von dem sich die Malerei sowieso seit Erfindung der Fotografie mehr und mehr gelöst hatte, sodass sie die entstehendem Freiräume kreativ für Abstraktionsprozesse nutzen konnte. Goodmans Theorie erlaubt, gerade auch über den Begriff der Exemplifikation, nun auch die Deutung von abstrakteren Bildern auf einen möglichen Sinngehalt hin. Und diese Exemplifikation zählt 366 367 368 369

Scholz, a. a. O., S. 163–188. Scholz, a. a. O., S. 237. Brandt, a. a. O., S. 188. a. a. O., S. 188 f.

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Goodman schließlich zusammen mit syntaktischer und semantischer Dichte sowie syntaktischer Fülle zu den vier Symptomen des Ästhetischen. 370 Im letzten Satz von Languages of Art hält Goodman fest – und man kann dem sicher zustimmen –, dass Symbole und Symbolsysteme (wie z. B. unsere Sprachen) in unseren Wahrnehmungen und Handlungen, in den Künsten und Wissenschaften wirksam sind, und damit auch im Erschaffen und Erfassen unserer Welten. Wenn aber eine ptolemäische Welt naturgemäß anders als eine kopernikanische Welt ist und beide nebeneinander bestehen können und alles sowieso nur Konstruktion ist: Sind wir dann nicht doch bereits auf dem Boden eines wie auch immer gearteten Idealismus angekommen?

3.2.3 Semiotik und Interpretation bei Umberto Eco (1932–2016) Eco, dessen frühes semiotisches Werk Einführung in die Semiotik zur gleichen Zeit wie Goodmans Sprachen der Kunst entstand, behandelte wie dieser die Bildthematik und wollte den engen semiotischen Ansatz der strukturalistischen Linguisten aufbrechen. Nach seiner Promotion arbeitete er zunächst in einem Mailänder Verlag, aber auch für Rundfunk und Fernsehen, »zwischen Wissenschaft, Fernsehen, Verlagsarbeit und Kunst«, 371 was seine Zeichenlehre mit einer idealistischen Interpretationstheorie in den Rahmen moderner Medien stellt. Er sieht sich nämlich in der Tradition des Neukantianismus, der mit Windelbands Lehrbuch zum »deutschen idealistischen Historismus« sogar Einfluss auf den italienischen Schulunterricht ge-

Goodman, LA, S. 232 f. Nerlich, Umberto Eco. Die Biographie, S. 37. Eine Professur für den von ihm selbst mitbegründeten Fachbereich – weltweit die erste Professur für Semiotik – erhielt er erst mit 43 Jahren in Bologna. Eine Hommage an Windelband findet sich nach Art scholastischer Studentenscherze auch im »Namen der Rose«: Die verschollene Poetik des Aristoteles ist im verbotenen Bereich der Klosterbibliothek in einem Konvolut aus vier Schriften einer Art Anthologie des Lachens versteckt und als einzige auf »charta lintea«, also auf Leinen, geschrieben. »Linum«, so Nerlich, a. a. O., S. 149, kann aber auch Synonym von »incunabula«, die Windel, sein, was aber auch den (geistigen) Ursprung bezeichnet, der Neukantianer also mit dem Wortspiel »linteus volumen« (»Windelband«) (»lumen!«) gewürdigt wird. Sicher war aber auch, wie Eco in seiner Geschichte der Semiotik in KS darlegt, Cassirers Symbolphilosophie von Einfluss. 370 371

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nommen hat, 372 aber auch in der Tradition von Peirce, den er gleichwohl – und auf andere Art als Goodman und mit einem anderen Ansatz – kritisiert. 373 Dies soll im Folgenden ausgeführt werden. 3.2.3.1 Die Theorie der Codes Ecos Arbeit bei der italienischen Rundfunkanstalt RAI zu Beginn des Fernsehens war sicher von Einfluss darauf, dass er seine Zeichenlehre in eine Kommunikationstheorie einbettet, in der es um die soziale Funktion von Zeichen geht. Denn wenn bedeutsame Inhalte von einem »Sender« als »Sendung« an einen »Empfänger« gelangen, muss es das Interesse von Semiotikern erregen, wie sie dies tun. Wenn ein Sender bedeutsame Informationen übermittelt, müssen diese Signale von einem Empfänger »decodiert«, also möglicherweise damit auch verstanden werden können. In Anbetracht der beiden Pioniere moderner Semiotik, Peirce und Saussure (der hier nicht behandelt wird, da er sich nur mit linguistischen Zeichen beschäftigte; er prägte übrigens auch die Beschäftigung mit Semiotik in Deutschland und Frankreich) entscheidet sich Eco zwar gegen die dualistische Zeichenkonzeption von signifiant und signifié (die pragmatische Ebene fehlt), vermerkt aber positiv, dass Saussures Konzeption eine semiotische Theorie der Kommunikation ermöglicht. Denn sein unscharf gedachtes Signifikat »als Mittelding zwischen einem mentalen Bild, einem Begriff und einer psychologischen Realität« hat »mit der geistigen Aktivität von jemandem zu tun […], der einen Signifikanten empfängt«, geht also, wenn man nicht in Begriffen der platonischen Ideenlehre, sondern nach-kantisch 374 denkt, als mentales Ereignis einen menschlichen Geist an. Das impliziert eine Auffassung vom Zeichen als Ausdruck auf einen anderen Menschen hin. 375 Seiner frühen grundlegenden Einführung zum Zeichenbegriff in Zeichen stellt Eco eine Geschichte von einem »Signor Sigma« voran, auch um zu zeigen, dass buchstäblich »alles« Zeichen ist, z. B. auch a. a. O., S. 332. So kritisiert er z. B. in Eco, Kant und das Schnabeltier (KS), S. 77 seine »Triadensucht«. 374 Kant hatte z. B., so auch Gadamer, das »Naturschöne« und das »Kunstschöne« in der Ästhetik durch die »Erfahrung des Erhabenen« und das »interesselose Wohlgefallen« subjektiviert. 375 Eco, Semiotik, S. 36 f. 372 373

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Telefonnummern, Uhren, mit deren Hilfe man Termine vereinbaren kann, Karteikarten, etc. Denn Signor Sigma befindet sich mit unklaren Bauchschmerzen in einer Bar und will von dort aus telefonisch einen Arzt kontaktieren, um sich helfen zu lassen. Auch die Krankheitssymptome sind Zeichen. (Der Arzt schließt nach Abtastung des Abdomens von den roten Flecken auf den Händen, kombiniert mit dem erfragten Alkoholkonsum, auf eine Lebererkrankung, er interpretiert die Zeichen – hoffentlich richtig.) Desgleichen sind Rezeptblöcke mit Anweisungen und meist unleserlichen Unterschriften Zeichen, Apotheken- und Bibliotheksordnungen, mit deren Hilfe man bestimmte Medikamente oder bestimmte Bücher findet, Zeichensysteme, wie auch Taxikennung, Wegbeschreibungen durch Karten und Symbole, Hupsignale, Krankenhausdokumentationen, Trinkgeld etc. Immer geht es aber auch darum, anderen etwas mitzuteilen, und dies nicht nur über sprachliche Medien. Und die Verwendung bestimmter vereinbarter oder konventionell vertrauter Codes (Telefonnummern, aber auch die von Wittgenstein geschilderte Kurzsprache von Bauarbeitern, die sich Anweisungen geben, begleitet von lautlichen Ausdrücken wie »stopp«, »höher«, »rechts«, auch beim Aufhängen von Bildern, bei Notenschriften oder Morsealphabeten, aber auch von Spül- und Waschmaschinensignalen) ermöglicht dann eine Decodierung des Signals auf der Seite des Empfängers. Allerdings sind auch künstliche nichtkonventionelle arbiträre Zeichen möglich, und damit hat Eco nicht nur ganz allgemein ein methodisches »Instrumentarium für die philosophische Erkenntnis der Welt«, sondern auch ein »form-analytisches Instrumentarium zur Erforschung der (künstlerischen) Kommunikation« 376 geschaffen. Ein Code muss in der Lage sein, bestimmte Inhalte zeichenhaft – seien sie sprach-schriftlich, akustisch, gestisch oder visueller Art – um nur einige Dimensionen zu nennen, so zu übermitteln, dass sie auf der Seite des Rezipienten verstehbar ankommen und angemessen interpretiert werden können, und dazu braucht es auf der Rezipientenseite Regeln, so z. B. zum Entziffern von Hieroglyphen, die dann Handlungsmöglichkeiten generieren können. Auch die visuelle Kommunikation ist keineswegs ein modernes Phänomen, sie ist auch in früheren Zeiten zu finden: In seiner Geschichte der Erfindungen beschreibt Eco z. B. die Kirchen als »riesige 376

Nerlich, a. a. O., S. 100.

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Bibeln von Stein, in denen jede Statue, jede Säule, jedes Ornament und die Anordnung dieser Bauelemente eine bestimmte symbolische Bedeutung hatte.« 377 Die Skulpturen und Ornamente der sakralen Bauten, und auch diese selbst, waren für ein leseunkundiges Publikum »das eigentliche Massenmedium der Epoche, das Eco auch unmissverständlich als Vorform der modernen audiovisuellen Massenmedien, des Rundfunks und des Fernsehens, versteht«. 378 Und die visuellen Botschaften konnten »gelesen« werden, weil die entsprechenden biblischen Geschichten zur Verfügung standen. Als Modebegriff ab der Mitte des letzten Jahrhunderts (Eco spricht auch von »Codewelle« seit dem Aufkommen der Informatik und ihren »binären Codes«) steht »Code« etymologisch für dreierlei Bedeutungen: paläographisch, institutionell und korrelativ, denn in seiner primären Bedeutung war »codex« im Altertum der Teil des Baumstamms, aus dem man Holztafeln geschnitten habe, um sie mit einer Wachsoberfläche mehrfach beschreibbar zu machen. (Der Ausdruck wurde später auch für beschriebenes Pergament verwendet.) Institutionell bedeutet »code« die Fixierung von Normen (»code civil« oder in Italien der »codice civile«, im Deutschen und Englischen etwa auch als schichtenspezifische »Benimmcodes«, »dress codes« üblich). Korrelative Codes, die hier im Folgenden interessieren sollen, 379 etablieren Äquivalenzen. Seit den fernsten Ursprüngen also habe der Begriff mit Signifikation und Kommunikation zu tun. Nach Eco handelt es sich bei diesem Prozess »um die untere Grenze der Semiotik«, 380 und es muss sich nicht allein um sprachliche Zeichen handeln. Ein Schwimmer in einem Benzintank hat z. B. die Funktion, mittels eines Zeigers auf dem Armaturenbrett eines Autos den Tankfüllstand anzuzeigen, was evtl. mit einer Handlungsanweisung verbunden sein kann. Doch »während dieses Prozesses können wir nicht sagen, der Schwimmer stehe für die Bewegung des Zeigers: Der Schwimmer steht nicht für etwas, sondern er ist Anregung, Ursache, Auslöser für die Bewegung des Zeigers.« 381 (Das wäre ein Peirce’scher »Index«.) Das Beispiel variiert Eco mit der Vorstellung einer TalsperEco, Zum Nutzen des Menschen, S. 113. Nerlich, a. a. O., S. 141; s. auch Eco, Zum Nutzen des Menschen, S. 315. 379 Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache (SPS), S. 243 f. Es gibt aber natürlich auch Mischformen, etwa wenn in einem Gesetzbuch für verschiedene Vergehen verschiedene Strafen angegeben werden. 380 Eco, Semiotik, S. 57. 381 ebd. 377 378

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re, die überzulaufen droht und programmierte (Warnblink-)Signale an den verantwortlichen Ingenieur sendet, damit evtl. kontrolliert Wasser abgelassen werden kann, wobei noch eine Fehlerkontrolle eingebaut werden kann. In jedem Fall handelt es sich um eine Botschaft, deren Information verschlüsselt durch einen »Kanal« geleitet wird und richtig »gelesen« werden muss. Es handelt sich um einen Mechanismus, der zum Zwecke der Kommunikation Transformationen zwischen zwei Systemen erlaubt. Anders als beim »genetischen Code«, wo es um Information auf mikrozellulärer Ebene ankommt – es handelt sich eher um Stimuli, die eine blinde Reaktion auslösen 382 –, soll es hier um optionale Codes mit einem menschlichen »Sender« gehen. So z. B. etabliert ein Morsecode ein System von Äquivalenzen zwischen Buchstaben von Wörtern und elektroakustischen Signalen verschiedener Länge, die auf der Empfängerseite entschlüsselt werden müssen, ebenso wie ein Bibliothekscode ein System darstellt, nach dem man bestimmte Bücher in bestimmten Räumen, bestimmten Regalen, auf bestimmten Regalbrettern finden kann. 383 Eco analysiert im Zusammenhang mit dem Begriff »Code« vier unterschiedliche Phänomene: a) eine Reihe von Signalen, die durch interne Kombinationsregeln beherrscht werden und daher ein syntaktisches System darstellen; b) eine Reihe von Zuständen, die zu einer Reihe von Kommunikationsinhalten werden können, die durch verschiedene Arten von Signalen übermittelt werden können, also als Komplex von Inhalten als semantisches System bezeichnet werden können; c) eine Anzahl möglicher Verhaltensreaktionen des Empfängers, die der Beweis dafür sind, dass die Botschaft richtig empfangen wurde; und d) eine Regel, die einige Elemente des ersten mit solchen des zweiten oder dritten Systems korreliert, wenn z. B. syntaktische und semantische Einheiten, sobald sie korreliert wurden, einer bestimmten Empfängerreaktion entsprechen sollen. Im engeren Sinne könne man, so Eco, eigentlich nur die letzte regelhafte Form »Code« Ausführlich beschrieben in Eco, SPS, S. 268 ff (S. 270: »[…] gleicht eher einem mathematischen System als einem juristischen deontischen Code, er wird von der Notwendigkeit regiert; offensichtlich kann er irren (Mutationen, Krebs), aber er ist nicht optional.« 383 Eco, SPS, S. 258: »So bedeutet der Ausdruck 1.2.5.33 das 33. Buch auf dem 5. Regal der zweiten Wand des ersten Raumes. […] Ein solcher Code hat ein Lexikon (eine Semantik) und auch Positionswerte (eine Syntax) und arbeitet auf einer sehr primitiven Ebene als Grammatik.« 382

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nennen, und so benennt er zur Unterscheidung die ersten drei Phänomene als System der beschriebenen Elemente als »S-Codes«, die vom »Code« korreliert werden, der so die Einbettung in einen Signifikations- und Kommunikationszusammenhang bewerkstelligt. 384 Doch hält er an anderer Stelle fest, dass die abstrakten Möglichkeiten von S-Codes, mit denen sich die Informationswissenschaften befassen, es nicht erlauben zu lügen, denn nur der Code stellt durch seine korrelative Funktion Propositionen her, Zeichen, die wahr oder falsch sein können, weil er z. B. Elemente einer Inhaltsebene mit denen einer Ausdrucksebene korreliert. Deshalb muss sich eine Theorie der Codes anders als bei Goodman mit einer intensionalen Semantik befassen, »während die Probleme, die mit der Extension eines Ausdrucks zusammenhängen, in den Bereich einer Theorie der Wahrheitswerte oder einer Theorie der Hinweisakte gehören«. 385 Eco spricht sogar vom »Extensions-Fehler«, denn die extensionale Betrachtungsweise (»Bedeutung« als Erfüllungsklasse, die aber durch den »Sinn« definiert werde und nicht umgekehrt 386) trage nicht zur Klärung des Begriffes »Signifikat« bei und ist daher nicht Bestandteil einer Theorie der Codes, so wie sie »auch Referenten nicht in ihre Überlegungen miteinbezieht«. 387 Da die Code-Theorie nur die Bedingungen untersucht, unter denen eine Botschaft kommuniziert und verstanden wird, ist es »im Rahmen einer Theorie der Codes nicht nötig, auf die Begriffe Extension oder mögliche Welten zurückzugreifen; die Codes setzen, sind sie von einer Gesellschaft akzeptiert, eine ›kulturelle‹ Welt, die – im ontologischen Sinn – weder wirklich noch möglich ist; ihre Existenz hängt an einer kulturellen Ordnung, nämlich der Art, wie eine Gesellschaft denkt, spricht und beim Sprechen die Bedeutung ihres Denkens durch andere Gedanken erläutert. Da Denken und Sprechen Aktivitäten sind, durch die eine Gesellschaft sich entwickelt, expandiert oder zusammenbricht, muss eine Theorie der Codes, auch wenn sie sich mit ›unmöglichen Welten‹ (wie ästhetischen Texten oder ideologischen Aussagen) befasst, sich unbedingt mit der Beschaffenheit solcher ›kultureller‹ Welten beschäftigen und steht damit vor dem grundsätzlichen Problem, wie mit Inhalten umzugehen sei.« 388

384 385 386 387 388

Eco, Semiotik, S. 62 ff. Eco, Semiotik, S. 89. a. a. O., S. 92. a. a. O., S. 95. a. a. O., S. 93.

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Das Signifikat eines Ausdrucks ist also keineswegs der bloße Referent, es muss semiotisch gesehen als kulturelle Einheit verstanden werden, dem der Code das System der Signifikanten korrespondieren lässt. Zwar gibt es das Wasser im Stauseebeispiel, doch muss ein bestimmter Referent, um wahrgenommen zu werden, unter eine »präetablierte Kategorie, ein kulturelles Konstrukt« subsumiert werden, 389 und das involviert eine Auffassung der Sprache als eines sozialen Phänomens. Die Codierungskonventionen ermöglichen Denotation, oft aber auch eine Fülle von Konnotationen, die man als Subcodes bezeichnen könnte, und ermöglichen ein komplexes Wechselspiel von Zeichen-Funktionen. 390 Die sind aber keineswegs kulturell invariant. Die Segmentierungen im Bereich semantischer Felder können durchaus verschieden ausfallen, wie Eco nicht nur an den Bezeichnungen für Farben verdeutlicht, auch Begriffsfelder wie »Baum, Holz, Wald« und »arbre, bois, forêt« sind keineswegs eins zu eins ineinander übersetzbar, sondern betreffen je andere sich je anders überschneidende Phänomenbereiche. Das lat. mus bedeutet Maus oder Ratte, Hindus unterscheiden nicht zwischen Rot und Orange, 391 etc. Je andere Kulturen können also das Erfahrungskontinuum je anders segmentieren, »was bedeutet, dass dieses Kontinuum eine Inhalts-Materie ist, die zu unterschiedlichen formalen Systemen strukturiert werden kann.« 392 Das führt vielleicht auch dazu, dass Eco bei der Komponentenanalyse semantischer Felder das von ihm so benannte »KF-Modell« von Katz und Fodor als Anregung nimmt, sechs von ihm diagnostizierte Mängel zu verbessern, u. a. die Weigerung, die Settings zu berücksichtigen, und die Beschränkung auf verbale und kategorematische Ausdrücke. Denn zum einen möchte Eco auch Zeichen außerhalb der Verbalsprache einbeziehen, 393 zum anderen hält er die Berücksichtigung von Kontexten und Situationen für unerlässlich: »Das KF-Modell weigert sich, settings zu berücksichtigen. Es ist deshalb unfähig, zu erklären, auf welche Weise ein bestimmter, in einer bestimmten Situation ausgesprochener oder in einen bestimmten Kontext eingefügter Ausdruck eine seiner möglichen Lesarten annimmt.« 394 389 390 391 392 393 394

a. a. O., S. 150: Näheres dazu im folgenden Kapitel über Zeichenerzeugung. a. a. O., S. 85 f. a. a. O., S. 108–115. a. a. O., S. 114. a. a. O., S. 152. a. a. O., S. 148.

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So z. B. könne der Satz »I vitelli dei romani sono belli«, je nachdem ob er im lateinischen oder italienischen Kontext gelesen wird, etwas völlig anderes bedeuten: »Die Vielzahl der Codes, Kontexte und Situationen zeigt uns, dass ein und dieselbe Botschaft von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus und in Bezug auf verschiedene Konventionensysteme decodiert werden kann.« 395 Eco modifiziert also sein ursprünglich aufgestelltes Schema der Kommunikation: Die vom Sender codierten Botschaften gehen als Informationsquellen durch einen Kanal an den Empfänger, der aber die Botschaft nur im intendierten Sinn richtig decodieren kann, wenn er sich die ausgedrücktem Inhalte auf ihre kontextellen Hintergründe bezieht 396; so wie man sich über den Begriff »Gruppe« auf einer Mathematikertagung anders als auf einem Soziologenkongress verständigen wird. Dabei lassen sich die im ersten Schema dem Sender noch vorgeschaltete Information der Quelle wie auch die Information der Botschaft »als Zustand der Unordnung im Vergleich zu einer darauffolgenden Ordnung definieren; als mehrdeutige Situation im Vergleich zu einer darauffolgenden Disambiguierung«, wobei optionale Resultate möglich sind. 397 Sender und Empfänger fallen hingegen nicht in das Gebiet der Theorie der Codes, werden aber wichtig in der Theorie der Zeichenerzeugung: »Signifikation beherrscht das ganze kulturelle Leben, selbst an der Untergrenze der Semiotik.« 398 3.2.3.2 Zeichenerzeugung und Signifikation Seiner Theorie der Kommunikation stellt Eco eine Theorie der Signifikation an die Seite, denn bevor wir sinnvoll Zeichen übermitteln, müssen wir sie allererst erzeugen, und sie helfen uns, die Gegebenheiten zu strukturieren und sie als das, was sie für uns sind, zeichenhaft, z. B. verbal oder mit »Zeich«-nungen, zu erfassen. Eco findet, dass eine Semiotik, die sich nur auf eine Theorie kommunikativer Akte reduziert, eine große Zahl von Phänomenen

a. a. O., S. 197 f. Das ursprüngliche Schema befindet sich in der Semiotik auf S. 58 (im Zusammenhang mit dem Stausee-Beispiel), das später modifizierte auf S. 199. 397 ebd. 398 Eco, Semiotik, S. 75 und S. 82. 395 396

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aus dem Bereich der Zeichen ausschließen wird. Er entscheidet sich daher gegenüber Saussures dualistischer Konzeption für das triadische Modell von Peirce (er bekennt, dass er schon früh Peirce »verfallen« war, obwohl er später u. a. seine »Triadensucht« kritisieren wird), weil es »semiotisch fruchtbarer« (auch für nichtsprachliche Zeichen) ist und die dialektische Beziehung zwischen einem Zeichen, seinem Objekt und seinem Interpretanten unabhängig von konkretem Kommunikationsverhalten ist. 399 Denn hier gehört es nicht zur Definition des Zeichens, dass es absichtlich emittiert und künstlich hervorgebracht wird: 400 Auch bestimmte Wolkenformationen können dann als Zeichen für ein nahendes Gewitter interpretiert werden. Eco kann also die dreidimensionale Zeichendefinition von Morris übernehmen, der zufolge nach vorher festgelegten sozialen Konventionen etwas ein Zeichen nur deshalb ist, weil es von einem Interpreten als Zeichen für etwas interpretiert wird. Wie man sieht, handelt es sich um einen intern relationalen Begriff. Allerdings möchte Eco diese Definition noch dahingehend modifizieren, dass es sich auch um mögliche Interpretationen durch mögliche Interpreten handeln darf. 401 Zeichen haben also auch unabhängig von real existierenden Interpreten eine Bedeutung, wie die Zeichen des menschlichen Lebens, die den Raumsonden im Hinblick auf mögliche extraterrestrische Bewohner des Weltalls beigegeben wurden. Seine Beschäftigung mit dem pragmatischen Ansatz von Peirce und seinem Prozessdenken veranlasst Eco auch, späterhin vom Zeichen nicht als einer statischen Entität zu reden, sondern von einer »Zeichenfunktion«: »Ein Zeichen ist alles, was sich als signifizierender Vertreter für etwas anderes auffassen lässt.« 402 Es geht also auch bei Peirces ikonischen, indexikalischen und symbolischen Zeichenfunktionen um ein Geschehen des Designierens, des Bedeutens; und Eco will nur dann, wenn der Prozesscharakter klar ist, weiterhin von »Zeichen« reden. Daher entwickelt er in seinem Hauptwerk, anders als in seinem frühen Buch zum Zeichenbegriff und in seiner »Einführung«, auch keine Typologie der Zeichen wie Peirce, sondern ein Typologie der

399 400 401 402

a. a. O., S. 36 f. a. a. O., S. 38. a. a. O., S. 39. Eco, Semiotik, S. 26.

404 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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Zeichenfunktionen, die zustande kommen, wenn zwei Funktive, Ausdruck und Inhalt, in wechselseitige Korrelation zueinander treten. 403 Die reine Ostension trägt nicht weit: Das Zeigen auf den Referenten – für Peirce ein indexikalisches Zeichen – macht zwar den Sachbezug sonnenklar. Man erinnere sich an Jonathan Swifts Gulliver, der auf seinen Reisen die schwebende Insel Laputa besucht, auf der man beschlossen hat, die Organe zu schonen und die Sprache Stück für Stück durch das reine Zeigen auf Gegenstände zu ersetzen, weswegen die »Weisen« für ihre komplexen Unterhaltungen immer ein großes Bündel mit Gegenständen auf dem Rücken tragen, das sie bei Konversationen vor sich ausbreiten, um die entsprechenden Gegenstände, von denen gerade die Rede sein soll, hochzuhalten. Die Designation geht aber, wie man ausprobieren kann, weit über diesen kuriosen Vorschlag hinaus, man braucht auch andere sprachliche Zeichen als die für bestimmte Gegenstände, um sich sinnvoll verständigen zu können. 404 Dem kognitiv-pragmatischen Aspekt von Peirces Zeichenlehre folgend, macht Eco an einem anschaulichen Beispiel klar, dass es bei der Zeichenerzeugung oft auch zunächst darum geht, unklare Befindlichkeiten oder Sachverhalte zu identifizieren: Sein »Signor Sigma«, der in einer Pariser Bar ein Unbehagen im Bauchraum verspürt, muss seinen kognitiven Apparat und seine Begrifflichkeit bemühen, um dieses interne Unbehagen und seinen Ort (Beschwerden? Magen? Leber? Darm?) zu klassifizieren, um dann anschließend von seinem Zustand sinnvoll Mitteilung machen zu können. Erst mit dieser Zuweisung von Bedeutsamkeit im kognitiven Prozess der Zeichenzuschreibung wird die Information für den Arzt sinnvoll, aber auch für den Zeichenproduzenten selber klarer. Man mag hier an Wittgensteins Privatsprachenargument denken, das eine rein interne Sprache zur Beschreibung innerer Zustände (gerade auch im Hinblick auf Schmerzzustände und Farbempfindungen 405) für unmöglich erklärt, da man sich externer Begrifflichkeit bedienen muss, die vorgängig ist und auf den Konventionen der Sprache beruht (dem »kommunikativen Apriori«, würde Apel mit seinem a. a. O., S. 334. Nagel, Die Bedeutung von Wörtern, in: ders., Was bedeutet das alles?, S. 37 macht dies an Sätzen deutlich wie »Ich wette, dass man in 200 Jahren auf dem Mars auch Tabak rauchen wird.« Hier ist Ostension unmöglich. 405 Näheres s. Münnix, Wittgenstein, Whorf, and Linguistic Relativity. Is There a Way Out? In: Münnix (Hg.) Über-Setzen, S. 159fff. 403 404

405 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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transzendentalpragmatischen Ansatz sagen). Die Produktion eines Signifikanten, eines bedeutsamen Zeichens, braucht also eine kognitive Struktur, mit der wir »etwas als etwas« sehen oder deuten können. (Auch dieses Thema hatte Wittgenstein in den PU bereits beschäftigt.) Hätte Marco Polo – so fragt Eco –, der auf seinen Reisen Richtung Asien ein Nashorn sah und es als »Einhorn« beschrieb, wäre er auf seinen Reisen bis nach Australien gekommen, wohl das seltsame Schnabeltier als das, was es ist, identifizieren können? 406 Das eierlegende Säugetier mit Schnabel, aber nicht gefiedert, und mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen (»duckbilled platypus«) beschäftigte die Forscher jahrzehntelang, weil es in keine der gängigen zoologischen Klassifikationen passte und nicht mit einem der gängigen Begriffszeichen be-zeichnet werden konnte. Wittgenstein hatte auch hier bemerkt, dass andere Völker (»Sprachspielgemeinschaften«) aufgrund anderer Regeln und Konventionen ganz andere Klassifikationen gebrauchen könnten, und folglich kritisiert Eco auch den Begriffsbaum des Porphyrios, der die ganze Scholastik hindurch und auch für spätere Zeiten kanonisch geworden war, 407 als einen völlig unzureichenden »Baum aus Differenzen«. Man braucht vielmehr über solche vereinfachenden Klassifikationssysteme hinaus Zugriff auf eine Art mentale Enzyklopädie, 408 um Phänomene mit passenden Begriffszeichen gemäß allgemeiner Bedeutungskonventionen belegen zu können. Dabei sind unsere Klassifikationssysteme gemacht und kulturell codiert, sie liegen nicht in den Dingen selbst, denen wir ein Begriffsnetz überstülpen, um sie für uns fassbar zu machen. (Das Ding an sich bleibt wie bei Kant transzendent! Peirces »dynamisches Objekt« ist uns nur in den Versuchen, es auf unsere Art zu fassen, gegeben.) »Sobald es vor uns steht, erzeugt das Sein Interpretationen; sobald wir über es sprechen können, ist es bereits interpretiert. Andere Möglichkeiten gibt es nicht. Diesem Zirkel entgeht nicht einmal Parmenides […].« 409

Der Sachbezug unserer semiotischen Äußerungen, der Referent, ist also immer schon in den Interpretanten hineingezogen und kann Eco, Kant und das Schnabeltier (KS), S. 74. Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 77–106 (»Porphyrios schlägt zurück«). 408 Eco, a. a. O., überschreibt seine Überlegungen mit »Wörterbuch versus Enzyklopädie«. 409 Eco, Kant und das Schnabeltier, S. 33. 406 407

406 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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nicht unabhängig von unserer semiotischen Tätigkeit gedacht werden, die, wie später ausgeführt, immer als perspektivisch bedingt zu sehen ist. 410 Unsere Begriffe sind Zeichen, die unsere Wahrnehmungserfahrungen be-zeichnen und so unsere komplexe Realität strukturieren, bedeutsam Gruppen von Phänomenen gemäß gemeinsamer Eigenschaften signifizieren und so kraft gesellschaftlicher Konventionen Kommunikation ermöglichen. Die geschilderte Zeichenerzeugung, Semiose, fasst also Zeichen als geschichtlichen Prozess von Bedeutungsschöpfung und Weltgestaltung auf, und diese Semiose ist prinzipiell unbegrenzt. Hier folgt Eco Peirces Idee einer Signifikantenkette, denn Zeichen können wiederum Zeichen für Zeichen werden, also neue Zeichen generieren, die neu zu interpretieren sind. Auch deshalb ist eine eindeutige Referenz im Universum der Zeichen unsinnig: Schon in der frühen Einführung in die Semiotik (Italienischer Titel: La struttura assente – die abwesende Struktur) hatte Eco auf eine fallacia referenziale hingewiesen. Heydrich spricht sogar von einem »exorzierten Referenten« 411, Mersch von »dem Fehlschluss, dass ›das Signifikat eines Signifikanten etwas mit dem korrespondierenden Gegenstand zu tun habe‹, weil das, worauf sich ein Zeichen bezieht, selbst wieder der Interpretation bedarf, usw. Darum erscheint es prinzipiell unmöglich, den Bezugspunkt einer Signifikation zu lokalisieren, denn am Grund des Zeichens findet sich niemals eine Wirklichkeit, höchstens neue Zeichen.« 412

vgl. Eco, Semiotik, S. 238 »Eine derartige Trichotomie postuliert das Vorhandensein eines Referenten als unterscheidenden Parameters, und eben das erlaubt die in diesem Buch dargelegte Theorie der Codes nicht.« 411 Eco, ES, S. 69 ff sowie Heydrich, EcoLogie – Salz in die semiotische Suppe, in: Kindt/Müller (Hg.), Ecos Echos, S. 84 und 88 ff. 412 Mersch, Jenseits der Dekonstruktion. Ecos Miniaturen und die phronetische Form der Kritik, in: Kindt/Müller (Hg.), Ecos Echos, S. 205 beklagt außerdem die zweimalige inadäquate Übersetzung von fallacia referenziale in ES, einmal mit »Referenten-Fehler« und einmal mit »Missverständnis der Referenz«, andernorts auch »Extensions-Fehler«, was schon keine Übersetzung mehr, sondern eine Interpretation ist. Heydrich, EcoLogie, a. a. O., S. 89 beklagt: »Die Abkopplung der Signifikate von ihren intentionalen Leistungen, ihrem Beitrag zu Wahrheitsbedingungen kappt den semantischen Lebensstrom der Semiotik.« Dagegen deutet Mersch, Umberto Eco, S. 90 die Abgrenzung von einer zu nominalistisch argumentierenden Zeichentheorie wie der Goodmans positiv, nämlich als eine »Autarkie« des Zeichenbegriffs durch die Loslösung vom bezeichneten Gegenstand. 410

407 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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Immer beziehen sich diese Zeichen als Zeichen für etwas auf etwas, und Eco fragt unter dem Titel »Die Semiotik und das Etwas«: »Was ist jenes Etwas, das uns veranlasst, Zeichen hervorzubringen?« »Jede Sprachphilosophie wird nicht nur mit einem terminus ad quem, sondern auch mit einem terminus a quo konfrontiert. Sie muss sich nicht nur fragen, worauf beziehen wir uns, wenn wir sprechen, und mit welcher Zuverlässigkeit? […], sondern auch: ›Was lässt uns sprechen?‹« 413

Weder strukturalistische Semiotik noch analytische Philosophie, so Eco, hätten sich dieses Problem je gestellt, erstere betrachte die verschiedenen Sprachen als Systeme, die bereits konstituiert und analysierbar seien, wenn ihre Benutzer sich ausdrücken wollen; zweitere untersuche nicht, »wie die Dinge wirklich sind, sondern fragt, was man folgern müsste, wenn eine Aussage als wahr aufgefasst würde«, begnüge sich also mit ihrem eigenen Wahrheitskonzept. 414 Nie wurde unsere vorsprachliche Beziehung zu den Dingen problematisiert, und deshalb muss Eco nun über Strukturalismus und analytische Philosophie hinausgehen. Erst Peirce habe dieses Problem zur Grundlage seiner gleichzeitig semiotischen, kognitiven und metaphysischen Theorie gemacht, denn es ist das »dynamische Objekt«, das in unserem »quasi-Geist« ein unmittelbares Objekt erzeugt, wobei Peirce von der Aufmerksamkeit sprach, die uns befähigt, den Geist auf ein Objekt zu richten und ein Element unter Vernachlässigung von anderem ins Auge zu fassen: »In gewisser Weise verharrt das dynamische Objekt immer wie ein Ding-an-sich, immer anwesend und nie erfassbar«, 415 es sei denn durch Versuche der Bildung von Zeichen, die vermittelnd für es stehen. Dieses Etwas weckt unsere Aufmerksamkeit, es ist als Noumenon »noch rohe Materie einer noch nicht vom Kategoriellen erhellten Anschauung« 416 und wird uns erst durch unsere Zeichenerzeugung verfügbar, mit der wir etwas als etwas Bestimmtes wahrnehmen können. Eco fragt also mit Leibniz und Heidegger: »Pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien?« und unterscheidet mit Heidegger zwischen

413 414 415 416

Eco, Kant und das Schnabeltier, S. 23. ebd. Eco, KS, S. 24. Eco, KS, S. 25.

408 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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Sein und Seiendem, denn erst durch die Semiose wird das unbestimmte Sein ins (bestimmte) Seiende überführt. 417 Zwar führt Eco das moderne, durch vergleichende Sprachanthropologie entstandene Argument an, die abendländische Metaphysik sei nur möglich geworden durch die Existenz der Kopula in indoeuropäischen Sprachen, »doch ist die Erfahrung des Seins bereits im ersten Schrei des Neugeborenen enthalten, mit dem er eben das Etwas, das sich ihm als Horizont darbietet, begrüßt oder wahrnimmt, sowie im ersten Vorwölben seiner Lippen zur Mutterbrust.« 418 Das Sein ist also nicht nur horizonthaft gegeben, es ist auch wie Fruchtwasser 419 und verfügt über eine »primäre Indexikalität«, es zeigt sich uns und bewirkt eine immer weiter sich entwickelnde Semiose, mit der wir lernen, uns in der Welt zurechtzufinden. Dabei sind von unserer Seite viele Perspektiven möglich: »Stets gebunden an die Art, wie wir biologisch, ethnisch, psychologisch und kulturell im Horizont des Seins verwurzelt sind«, implizieren »Aussagen über das, was ist und über das, was sein könnte«, bestimmte Blickwinkel. 420 Damit wird die Welt mehrdeutig, möglicherweise mit untereinander unverträglichen Deutungen, denen man aber doch allen eine ihnen eigene Wahrheit zusprechen muss. Dieses Übermaß an verschiedenen Wahrheiten, die alle ihre Berechtigung haben, ist aber möglicherweise nur vorübergehend, da diese womöglich irgendwann in ein System gebracht werden können. 421 Diese Zielperspektive gemahnt an die coincidentia oppositorum des Cusaners, der diese allerdings theologisch interpretierte: als Zusammenfall aller Gegensätze in einem jenseitigen Unendlichen, in Gott. Das ist vielleicht kein Zufall, denn Cusanus hatte in seiner docta ignorantia die mystischen Strömungen des Mittelalters aufgenommen, und auch Eco beschäftigt sich mit der entsprechenden negativen Theologie, u. a. am Beispiel des Neuplatonismus, und zitiert Plotins Enneaden (V,2.2): »Damit das Sein sei, ist es notwendig, dass das Eine nicht Sein sei«, es wird also als Grundlage des Seins schon vor das Sein gesetzt. 422 (Man beachte die Ähnlichkeit dieses Unerkennbaren, sich stets Entziehenden mit Derridas »différance«!) Man kann sich ihm nur annähern. 417 418 419 420 421 422

a. a. O., S. 31. Eco, KS, S. 30. a. a. O., S. 28. a. a. O., S. 56 f. a. a. O., S. 57. a. a. O., S. 36.

409 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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Einstweilen aber müssen wir mit dieser Multiperspektivität der Semiose und Vieldeutigkeit der Interpretationen des Seins leben. Eco geht dafür – poststrukturalistisch – auf einen Gründungsväter postmodernen Denkens zurück: auf Nietzsche. Eco zitiert den noch nicht dreißigjährigen Nietzsche aus Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, nach dem »der Intellekt, ausgehend von den Gesetzgebungen der Sprache, mit Fiktionen (spielt), die er als Wahrheit oder als Begriffssystem bezeichnet«. 423 Andere Lebewesen können anders wahrnehmen als wir; ein Kriterium »richtige Wahrnehmung« gibt es bei Nietzsche nicht, denn die Natur kennt »keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen, sondern nur ein für uns unzugängliches x«. 424 Wenn wir keinen extramentalen Referenten festmachen können, dann ist tatsächlich »Wahrheit« »›ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen‹, die dichterisch erzeugt wurden, und später zu Wissen erstarrten, ›Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind,‹ […], so dass wir uns daran gewöhnt haben, konventionsgemäß zu lügen, in einem Stil, der für alle bindend ist, und dabei unser Handeln von Abstraktionen beherrschen lassen, weil wir die Metaphern zu Schemata und Begriffen verkümmern ließen.« 425

Nietzsche kritisiert hier ein holistisches System, einen »starren Säulenbau, auf fließendem Wasser errichtet«, redet aber andernorts einer Pluralität des Wort, die Eco für die Möglichkeit unbegrenzter Semiose gelten lassen möchte 426. Ihm geht es dabei auch um die möglichen Welten, denn »im mehrdeutigen Horizont des Seins hätten die Dinge sich auch anders verhalten können; und nichts schließt aus, dass es eine Welt geben könnte, […] in der aus der Kreuzung eines Kamels und einer Lokomotive eine Quadratwurzel hervorgehen kann.« 427 Doch anders als Nietzsche möchte Eco eine Vernunft, die durch das Läuterungsfeuer postmoderner Rationalismuskritik gegangen ist, als wertvoll bewahren: Im Sinne von Vattimos Pensiero debole, an a. a. O., S. 59. ebd. 425 Eco, KS S 59 zitiert Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, S III, S. 314. 426 a. a. O., S. 56 f. 427 Eco, a. a. O., S. 67. 423 424

410 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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dem Eco mitgearbeitet hat, will er eine undogmatische »schwache« Vernunft, 428 die sich ihrer Grenzen bewusst ist, die sich aber zumindest die Möglichkeit der Falsifikation bewahrt hat. 429 Es ist festzuhalten, dass mit Ecos Doppelstrategie von Signifikation und Kommunikation das Universum der Zeichen in eine Kommunikationstheorie eingebettet wird, für Schalk eine dialektische Doppelung von System und Prozess, der auch für den Bereich der Interpretation eine Doppelstruktur von Dekodierung und Invention entspricht. 430 Und Ecos semiotische Kommunikationstheorie wird durch die Beschränkung auf die Inhalte der Signifikation erst möglich. 3.2.3.3.Hyperrealität und Interpretation Ein Zeichen muss sich nicht auf etwas real Existierendes beziehen. So beschreibt Eco unter der Überschrift »Reise ins Reich der Hyperrealität« ein Panoptikum von lärmend und aggressiv beworbenen Wachsfigurenkabinetten an der amerikanischen Westküste als »die Krippen Satans«: »Sie verquicken unterschiedslos historische Evokation, religiöse Feier und Glorifizierung von Personen des Kinos, der Märchen und Sagen, der bekanntesten Abenteuer […]. So dass man rechts etwa Dracula sehen kann, der gerade einen Sargdeckel öffnet, und links das eigene Gesicht neben Draculas Spiegelbild, während dahinter schemenhaft die Gestalten von Jack The Ripper oder von Jesus erscheinen, reflektiert über ausgetüftelte Brechungswinkel, Bögen und Perspektiven, so dass man schwer zu entscheiden vermag, was Realität und was Illusion ist.« 431

Anders als in Baudrillards Theorie der Virtualität, für den Hyperrealität die Ablösung und »Agonie« des Realen ist und sie als dessen Steigerungsform vollständig ersetzt, ist für Eco eine untrennbare Vermischung von Realität und mit ihr einhergehender Fiktion festzustellen, die er ebenfalls »Hyperrealität« nennt: »Wenn man zuerst Mozart und dann Tom Sawyer begegnet, […], nachdem man soeben der Bergpredigt beigewohnt hat, zu Füßen Jesu und seiner Jün428 vgl. Eco, KS, S. 61–63. Ausführlicher zu Vattimo s. Münnix, Zum Ethos der Pluralität, S. 86. 429 Eco, KS, S. 65. 430 Schalk, Umberto Eco und das Problem der Interpretation, S. 98 ff und 67. 431 Eco, Die Krippen Satans, in: Eco, Über Gott und die Welt, S 47 f.

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ger, dann ist das logische Unterscheidungsvermögen zwischen wirklicher Welt und möglichen Welten definitiv zersprungen. […] Kasperle und Fidel Castro gehören definitiv zur gleichen ontologischen Kategorie.« 432

In der Tat gehört ja auch alles zu unserer subjektiven und auch kulturellen Wirklichkeit, und speziell in Amerika, »das noch ein anderes sein muss als das der Pop Art oder der Mickey Mouse oder des Hollywood-Kinos«, findet er (in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts) »eine außer Rand und Band geratene Hyperrealität«: »Um von Dingen zu sprechen, die man als echt empfinden will, müssen sie echt erscheinen. Das ›ganz Wahre‹ wird identisch mit dem ›ganz Falschen‹. Das absolut Unwirkliche präsentiert sich als wirklich Vorhandenes.« Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen, das Echte und die Kopie (das Abbild) sind nicht auseinanderzuhalten. 433 Doch fehlt Fantasiefiguren die Referenz. Deshalb sind sie aber nicht ohne Bedeutung, und darauf kommt es an: Ecos weltberühmte Romane stellen auf anderer – sprachlicher, nicht optischer – Ebene eine andere Form von Hyperrealität dar und hängen eng mit seinem philosophischen Werk zusammen, sie exemplifizieren viele seiner Thesen in narrativer Form und sind nur vordergründig fiktiv. So geht es in Der Name der Rose um das Versagen der Aufklärung angesichts dogmatischer Macht und um die befreiende Kraft des Lachens, in Das Foucaultsche Pendel um die Ironisierung eines Kultes des »Anderen der Vernunft«, in der die Irrationalität fröhliche Urstände feiert, aber bewirkt, dass Realität und Fiktion nicht mehr unterscheidbar sind. In Baudolino, der Lügner geht es um eine historische Fälschung (Eco hatte in seiner Semiotik festgestellt, dass »die Semiotik im Grunde die Disziplin (sei), die alles untersucht, was man zum Lügen verwenden kann«. 434) Und immer geht es um Zeichen: Der ehemalige Inquisitor und Franziskanermönch William of Baskerville im Namen der Rose muss den Spuren Eco, a. a. O., S. 48. Eco, Die Festungen der Einsamkeit, in: Über Gott und die Welt, S. 40 f. Weiter, lange vor Trump: »Mithin ist der Grund dieser unserer Reise ins Reich der Hyperrealität die Suche nach Fällen, in denen die amerikanische Einbildungskraft das Wahre und Echte haben will, und, um es zu bekommen, das absolut Falsche erzeugen muss; womit dann die Grenzen von Spiel und Illusion verschwimmen. Das Kunstmuseum wird von der Schaubude angesteckt, und man genießt die Lüge in einer Situation der ›Fülle‹, des horror vacui.« 434 Eco, Semiotik, S. 26. 432 433

412 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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und Indizien von Morden in einem Kloster folgen, die er aufklären soll; die Arbeit des Detektivs und die des Semiotikers, so Mersch, sind miteinander korreliert, denn es geht um das Lesen von Zeichen. So lässt er seinen medievalen Detektiv sagen: »Ich habe nie an der Wahrheit der Zeichen gezweifelt, Adson, sie sind das einzige, was der Mensch hat, um sich in der Welt zurechtzufinden. Was ich nicht verstanden hatte, war die Wechselbeziehung zwischen den Zeichen. […] Wo ist da meine ganze Klugheit? Ich bin wie ein Besessener hinter einem Anschein von Ordnung hinterhergelaufen, während ich doch hätte wissen müssen, dass es in der Welt keine Ordnung gibt. […] Die Ordnung, die unser Geist sich vorstellt, ist wie ein Netz oder eine Leiter, die er sich zusammenbastelt, um irgendwo hinaufzugelangen […].« 435

Und natürlich sind auch die Namen Zeichen und wohlweislich gewählt: Der Name des Franziskanermönchs William of Baskerville verweist nicht nur auf den Franziskaner William of Ockham, der gegen platonische Ideenlehre und aristotelische Substanzontologie einen metaphysikkritischen Nominalismus vertrat, sondern natürlich auch auf Sherlock Holmes’ ersten Fall, und sein Adlatus, der Novize Adson von Melk, verweist natürlich auf Dr. Watson, aber auch auf die Chronik eines Mönches aus Kloster Melk in der Wachau, die Eco zur biographischen Identitätsformung seines Charakters benutzte. Im Foucaultschen Pendel (gemeint ist nicht nur der Physiker Léon Foucault, sondern auch der Systemkritiker Michel Foucault, der den dualistischen Zeichenbegriff Saussures dekonstruiert und damit dem von Eco als unlogisch kritisierten Analogiedenken das Wort redet) geht es u. a. um esoterische und kabbalistische Zahlenmystik und um ein uferloses Analogiedenken, das schließlich alles und gar nichts beweist und sich hermetisch verschließt. (Eco hatte nach dem Kindheitstrauma des italienischen Faschismus, aus dem auch sein politisches Engagement herrührt, die politischen Wirren um die Ermordung Aldo Moros durch die Brigate Rosse, den Zerfall der italienischen Parteien und den Aufstieg von Geheimbünden wie dem der Freimaurerloge P2 erlebt.) Es geht aber auch allgemeiner um eine von Eco zeitdiagnostisch dargestellte Pendelbewegung von Rationalismus und Irrationalismus: Eine Aufklärung, die an ihr Ende kommt, weil die kritische Vernunft sich nicht über sich selbst aufklären kann und dogmatisch erstarrt, hat einen Umschwung des Pendels ins Irratio-

435

Eco, Der Name der Rose, S. 625.

413 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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nale, das vermeintlich »Andere der Vernunft«, 436 zur Folge. Doch die Aufklärungskritik darf nicht zum Ende von Rationalität führen: Ecos Position einer kritischen, aber sich selbst bescheidenden und nicht hermetisch bzw. dogmatisch werdenden kritischen Vernunft kann so auf diesem Hintergrund verständlich werden, 437 und er muss daher zur italienischen Postmoderne gezählt werden, die sich als neue Welle aufklärerischer Vernunft darstellt. Man kann also »im Wald der Fiktionen« ein Universum aus fiktiven – in den genannten Beispielen: optischen und verbalen – Zeichen mit Bezug zu realen Welten konstruieren, um Positionen und auch Verstrickungen zu veranschaulichen, für die die Figuren exemplarisch stehen, denn es geht Eco auch um die Semantik möglicher Welten. 438 (Daher beschäftigt sich Eco auch mit Metapherntheorie. 439) Hinter den Fiktionen stehen also höhere Wahrheiten, die man erst über den Prozess der Interpretation finden muss. Doch welche Regeln gibt es für solche Interpretationen? Zeichen sind zumeist mehrdeutig, ihre Eindeutigkeit, wie sie vom Neopositivismus gerne gesehen worden wäre, ist ein Mythos. 440 Zur Veranschaulichung rekurriert Eco auf die Interpretation biblischer Texte, für die die Scholastik bereits im 7. Jahrhundert die Lehre von den vier Bedeutungen der Bibel entwickelt hatte, wie sie später von Dante übernommen worden sei: der wörtlichen, der allegorischen, der anagogischen und der moralischen Bedeutung heiliger Texte, und vermerkt ironisch: »Endlose Abhandlungen versuchten jahrhundertelang die Interpretationsregeln für die verschiedenen natürlichen Zeichen festzulegen, indem sie die Fälle aufzählen, in denen ein Wesen, beispielsweise ein Ziegenbock, je nach dem Zusammenhang entweder als Zeichen für Christus oder für den Teufel betrachtet werden konnte.« 441

Der Neopositivismus mit seiner Kritik an den mehrdeutigen und emotionalen Verwendungsweisen der Zeichen sei zwar fruchtbar für 436 Die Gebrüder Böhme nennen unter diesen Titel das im Zuge des Vernunftdenkens Verdrängte, etwa Leiblichkeit, Mythos und Gefühl. 437 Ausführlicher zu Ecos Romanen s. Münnix, Hat die Aufklärung versagt? Gibt es einen Rückschwung ins Irrationale? Umberto Ecos »Foucaultsches Pendel« und seine Lehren, in: Farokhifar/Neugebauer (Hg.), nachdenken Bd. 8, Rheinbach, i. V. 438 Heydrich, EcoLogie, in: Kindt/Müller (Hg.), Ecos Echos, S. 80. 439 Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 191 ff. 440 Eco, Zeichen, S. 157 ff. 441 a. a. O., S. 158.

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die exakten Wissenschaften gewesen, doch im menschlichen Leben sei anders als im abgeschlossenen Raum des Laboratoriums die Verwendung völlig eindeutiger Zeichen überaus selten, da man »die Sprache des Alltags, der Politik, der Gefühle, der Überzeugung und der Meinungen […] nicht auf die starren Parameter der physikalistischen Verifikation reduzieren kann.« 442 Eco rekurriert viel allgemeiner auf Peirce: »Ein Zeichen […] wendet sich an jemanden, erzeugt also im Geist dieses Menschen ein gleichwertiges oder vielleicht ein komplexeres Zeichen. Dieses Zeichen, das es erzeugt, werde ich den Interpretanten des ersten Zeichens nennen.« (CP 2.228)

Da aber für Peirce das geistige Leben eine Organisation von Zeichen sei, gebe es zwei Auffassungen des Interpretanten: eine erste, für die der Interpretant ein weiteres Zeichen ist, das das erste Zeichen übersetzt (CP 4.127), und eine zweite, die den Interpretanten als die Idee begreift, die von der Reihe der Zeichen erzeugt wird (z. B. CP 4.127– 5.283 ff). Dabei entsteht, wie bereits weiter oben beschrieben, aus dem ersten, unmittelbaren Interpretanten, dem Signifikat, und den von den Zeichen hervorgebrachten Wirkungen eine unendliche Zeichenkette (man muss »den Interpretanten durch ein anderes Zeichen benennen, dessen Interpretant wiederum durch ein weiteres Zeichen benannt wird«, usw.), »die von den ersten logischen Interpretanten (elementaren Vermutungen, die, da sie auf die Phänomene hindeuten, sie bezeichnen) bis zu den endgültigen logischen Interpretanten reicht. Das sind die Gewohnheiten, die Dispositionen zum Handeln und damit zum Eingreifen im Bereich der Dinge, auf die die ganze Semiose abzielt.« 443 Hier fühlt sich Eco dem Peirce’schen Pragmatismus nahe. Der so entstehenden prinzipiell unbegrenzten Semiose entspricht also auch eine prinzipiell unbegrenzte Interpretation. Schon in seinem allerersten Buch Das offene Kunstwerk hatte Eco die Mitarbeit des Rezipienten von Kunst gefordert. (»Offen sind diese Werke, sofern sie in ihrer Gestalt erst durch die Mitwirkung des Interpreten festgelegt werden.« Denn alle ästhetischen Zeichen sind dadurch bestimmt, »dass sie als Zeichen keine letzte Bestimmung er442 443

a. a. O., S. 160. a. a. O., S. 163.

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fahren und dadurch ihren Benutzern Spielräume eröffnen.« Für Bertram kann daher Ecos ästhetische Theorie als eine Art Rezeptionsästhetik aufgefasst werden. 444) In seinem späteren Hauptwerk zur Semiotik löst sich Eco aber von Peirce und kritisiert zunächst dessen oftmals unklare Trennung von Interpret und Interpretant, dem er ja unabhängig von konkreten Interpreten Bedeutung zumessen möchte: »Ein Interpretant ist das, was die Gültigkeit eines Zeichens garantiert, auch wenn kein Interpret da ist.« 445 Er lässt sich nach Eco auch auffassen als »Definition des Repräsentamens« (und somit als seine Intension). (Genau dies hatte Goodman strikt abgelehnt.) Es geht also um die Inhalte, die von Zeichen aufgerufen werden. 446 Das sieht nach Eco auf den ersten Blick so aus, »als könne man den Interpretanten gleichsetzen mit jeder codierten intensionalen Eigenschaft des Inhalts, das heißt mit der ganzen Skala der Denotationen und Konnotationen eines Signifikanten«. 447 Doch er vermerkt, wiederum im Sinne von Peirce, dass die von Goodman strikt abgelehnte Kategorie ›Interpretant‹ weit über Denotation und Konnotation hinausgeht und schließlich sogar ganze Diskurse mit Schlussfolgerungen enthalten könne. »Man muss den Interpretanten deshalb als eine Kategorie betrachten, die auch in den Rahmen einer Theorie der Zeichenerzeugung gehört, denn sie definiert viele Arten von Sätzen und Argumentationen, die, über die von Codes bereitgestellten Regeln hinaus, ein bestimmtes Zeichen erklären, entwickeln und interpretieren. In diesem Sinne sollte man sogar alle möglichen semiotischen Urteile, die man aufgrund eines Codes über eine bestimmte semantische Einheit abgeben kann, ebenso wie viele faktenbezogene Urteile als Interpretanten bezeichnen.« 448

Doch liefern sie auch korrekte Interpretationen? Zumindest ist klar, dass Eco sich von den strukturalistischen Vorgaben einer rein werkbezogenen Strukturanalyse löst und sich einer ästhetischen Kommunikation zuwendet, zu der die Interpreta-

444 445 446 447 448

Bertram, Ästhetik der Offenheit, in: Kindt/Müller (Hg.), Ecos Echos, S. 111 ff. Eco, Semiotik, S. 101. Verschiedene Arten von Interpretaten s. a. a. O., S. 103 f. ebd. a. a. O., S. 104 f (Hervorhebung d. d. A.).

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tionstätigkeit des Betrachters oder Lesers einbezogen wird: »Kunstwerke werden zu Kunstwerken erst dadurch, dass sie interpretiert werden.« 449 Für die Textinterpretation beschäftigt sich Eco ausgiebig mit den »Grenzen der Interpretation« und hält fest, dass es natürlich auch falsche Interpretationen geben kann. Für literarische Kunstwerke (doch man kann das auch auf andere Arten von Kunst, d. h. auf andere artifizielle Zeichen übertragen) unterscheidet Eco drei Intentionstypen: die (bewussten oder unbewussten) Intentionen des Autors, die des Werkes, das auch ein Eigenleben gewinnen kann, und die der Leser, denn man kann im Text nicht nur danach suchen, was der Autor wohl sagen wollte oder was das Werk unabhängig von den Intentionen des Autors sagt, sondern man kann auch nach dem suchen, was die Adressaten in Bezug auf ihre eigenen Signifikationssysteme und / oder eigenen Wünsche, Impulse, Vorlieben in ihm finden. 450 Der Streit um angeblich »objektive« Interpretationen und eine Vielzahl verschiedener subjektiver Interpretationen, die dann eine ganze Interpretationsgeschichte konstituieren können, ist auf diesem Hintergrund nicht unnatürlich, wurde doch »in einem strukturalistischen Klima eine Betrachtungsweise (präferiert), die den Text als Gegenstand analysierte, der bestimmte, mittels eines mehr oder weniger strengen Formalismus beschreibbare Strukturmerkmale besitzt«, 451 die eine angemessene Interpretation methodisch anleiten. In einem mit »Archäologie« überschriebenen Kapitel referiert Eco klassische Interpretationstheorien seit Aristoteles und macht darauf aufmerksam, dass es schon in der Rhetorik des Aristoteles sowie in der Semiotik des Augustinus 452 immer eine Bezugnahme auf den Interpreten gibt (der Signifikationsprozess werde im Hinblick auf die Vorstellung begriffen, welche das Zeichen im Geist des Interpretierenden hervorruft). Eco benennt hingegen, z. B. mit Ingarden, einen – poststrukturalistischen – Paradigmenwechsel, nach dem das Werk als ein »Skelett« oder »Schema« betrachtet wird, das die Adressaten ergänzen und interpretieren müssen. 453 Heute registriert

Schalk, Umberto Eco und das Problem der Interpretation, S. 18 f. Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 35. 451 Eco, a. a. O., S. 27. 452 Man mag hier an das Beispiel der Bauarbeiter denken, das Wittgenstein seinen PU voranstellt. 453 Eco, a. a. O., S. 31. 449 450

417 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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er ein »fast zwanghaftes Insistieren auf […] der Mitarbeit des Rezipienten«. 454 Obwohl die drei obengenannten Intentionstypen in der Praxis wohl ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen, hat Eco doch Sympathien für die rezeptionsorientierte Ästhetik, wie sie sich auch in seinem Konzept vom »offenen Kunstwerk« zeigt, das die Mitarbeit des Interpreten einfordert, denn nur so sei das Kunstwerk in seinem Geist existent. Reine Zeichen, die nicht interpretiert werden, verlören an Relevanz. Als Beispiel nennt er die jüdische Kabbala, die so angelegt sei, dass – vom göttlichen Verfasser gewollt und geplant – eine Vielzahl von möglichen Buchstaben- und Zahlenkombinationen zu unendlichen Interpretationen und Meditationen einlade, die aber doch auch »fundamentalistisch« univok interpretiert werden könne, so wie man auch Sophokles’ Ödipus als bloßen Kriminalroman lesen könne, in der Hoffnung, dass der Verbrecher eine angemessene Strafe findet. »Nicht immer ist das der intentio lectoris zugeschriebene Privileg eine Garantie für die Unendlichkeit der Interpretationen. Privilegiert man die intentio lectoris, so muss man auch mit einem Leser rechnen, der sich dafür entscheidet, den Text als nur mit einer Bedeutung ausgestattet zu lesen, auf der – möglicherweise unendlichen – Suche nach dieser Bedeutung. […] Wie lässt sich das Privileg des Lesers vereinbaren mit der Entscheidung eines fundamentalistischen Bibellesers?« 455

Das macht zwei Interpretationsweisen deutlich, die Eco gegeneinander stellt: Zum einen hatte ja Eco schon im Foucaultschen Pendel aus seinem Ressentiment gegen esoterische hermetische Diskurse keinen Hehl gemacht, die sich gegen jede Kritik verschließen und von der unbedingten Richtigkeit ihrer Interpretationen überzeugt sind. Dabei aber – Eco untersucht z. B. auch theoretisch alchimistische Diskurse und »Wunder-Sucht« 456 – folge man, (dies als Kritik an – Michel – Foucault) unlogischem Analogiedenken 457, sehe Ähnlichkeiten buchstäblich in allem und halte Verifikationsversuche für völlig unnötig. Eine Spur der bekämpften Hermetik sieht Eco auch in den Intera. a. O., S. 30. a. a. O., S. 37. 456 a. a. O., S. 99–129. 457 Foucault hatte in Die Ordnung der Dinge den dualistischen Zeichenbegriff mit der historischen Kategorie der Ähnlichkeit kritisiert, die noch in der Renaissance zum Begriff des Zeichens gehörte. S. Teil IV im Kapitel zu Foucault. 454 455

418 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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pretationstheorien, die sich bis heute im Hinblick auf Autoren- und Werktreue einem vermeintlichen Objektivismus und »der« »richtigen« Interpretation verpflichtet fühlen. Argumentiert man wie Eco rezeptionstheoretisch, eröffnet das aber keineswegs beliebigen und willkürlichen Interpretationen den Weg: Die Initiative des Lesers (auch von Bildern) besteht nämlich im Aufstellen einer Vermutung über die Werkintention, »die sich dem mit gesundem Menschenverstand ausgestatteten Leser erschließt« 458 und im Verlauf weiteren Lesens auch falsifiziert werden kann. Sie kann aber auch verborgene, bisher nicht oder wenig beachtete Aspekte des Werks aufdecken, 459 die zur mehrdimensionalen Interpretationsgeschichte des Werkes beitragen, auch die vielleicht sogar unbewussten Intentionen des Autors miterfassen und Falsifikationen ermöglichen: »Würde Jack The Ripper uns sagen, er habe seine Taten aufgrund einer Inspiration begangen, die ihn beim Lesen des Evangeliums überkam, so würden wir zu der Ansicht neigen, er habe das Neue Testament auf eine Weise interpretiert, die zumindest ungewöhnlich ist.« 460

Ein(e) Autor(in) initiiert also ein Werk, das sich in vielfältigen Interpretationen artikulieren kann und so seine Bedeutung konstituiert. Der unbegrenzten Semiose entspricht daher eine unbegrenzte (aber nicht beliebige) Menge von Interpretationen, und auch die aufeinander folgenden Interpretanten können als Kette von – komplexen – Zeichen gesehen werden. Und auch dies ist Semiose. 3.2.3.4 Bilder als visuelle Zeichen Nach dem Gesagten ist klar, dass die so populäre Peirce’sche Trichotomie von Icon, Index und Symbol für Eco nicht haltbar sein kann, da sie zum einen das Vorhandensein eines Referenten in einer objektiven Realität postuliert. 461 Zum anderen ist für Eco der Begriff der Ähnlichkeit, der dem Peirce’schen Icon zugrunde liegt, unscharf und zirkulär: »ikonisch ist das, was einem Objekt ähnlich ist, und ähnlich

Eco, GI, S. 48 f. vgl. hier Ecos Bemerkungen nicht nur zu individuellen Prädispositionen, sondern auch sein Kapitel zu »Präsupposition und Semiotik«, GI S. 360 ff. 460 Eco, Die Grenzen der Interpretation, S. 77. 461 Eco, Semiotik, S. 238. 458 459

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ist das, was ikonisch ist«. 462 Eco möchte die Unabhängigkeit der Semiotik von der Linguistik und ihrer Beschränkung auf bloße sprachliche Zeichen erweisen und beschäftigt sich daher mit Phänomenen des Bildhaften. Die im gleichen Jahr 1968 erschienenen Bücher von Goodman und Eco, in denen die Bilder diskutiert wurden (Languages of Art und Einführung in die Semiotik), eint das Bestreben, Peirces Idealismus zu widerlegen. Eco sieht anders als Peirce Hypoikone als Produkte von Konvention und Kultur und zweifelt an der Motiviertheit der Zeichen in Erkenntnisprozessen. 463 Allerdings verwirrt es, wenn »Philoikonisten« »die Ikonizität der Wahrnehmung mit der Ikonizität der sogenannten ikonischen Zeichen« konfundieren »und der zweiten die Fähigkeiten der ersten« zuschreiben. »Und schließlich war es bei dieser Diskussion dahin gekommen, dass man […] sowohl Ikone wie Hypoikone mit visuellen Entitäten identifizierte, nämlich entweder mit mentalen Bildern, oder mit jenen Zeichen, die wir […] als bildliche Darstellungen bezeichnen werden. Und auch das hat die Diskussion teilweise in die Irre geführt, obwohl allen klar sein musste, dass sowohl der Begriff Ikon als auch der Begriff Hypoikon sich auch auf nichtvisuelle Erfahrungen beziehen.« 464

Eco kritisiert, dass viele semiotische Probleme vorschnell in die Kategorie der ikonischen Zeichen eingeordnet worden seien. Z. B. sei der Unterschied zwischen dem Wort »Hund« und einer entsprechenden Abbildung nicht der zwischen arbiträren/konventionellen und ikonischen Zeichen. Denn »auch die Abbildung eines Hundes bedarf einer kulturellen Korrelierung, um einen Hund zu signifizieren.« 465 In einer »Kritik der Ikonizität« fordert Eco daher, man möge zunächst »einige naive Vorstellungen« von sogenannten ikonischen Zeichen eliminieren, nach denen diese die gleichen Eigenschaften wie ihr Gegenstand haben, dem sie ähnlich oder analog sind und von dem sie motiviert sind, und dass sie arbiträr codiert sind und wie sprachliche Zeichen in relevante codierte Einheiten aufgeschlüsselt werden können. 466 Morris selbst hatte schon festgestellt, dass »das Porträt einer 462 463 464 465 466

Eco, KS, S. 392. Eco, a. a. O., S. 386. Eco, KS, S. 386 f. Eco, Semiotik, S. 254 f. Eco, Semiotik, S. 255 f.

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Person in beträchtlichem Ausmaß ikonisch« sei, »aber nicht völlig, da die bemalte Leinwand nicht die Textur der Haut, die Fähigkeit zu reden und sich zu bewegen hat, die die porträtierte Person besitzt. Der Film ist noch ikonischer, aber wiederum nicht völlig.« 467 Und in seiner frühen Einführung in die Semiotik stellt Eco in Bezug auf das gleiche Beispiel fest, dass z. B. die Nasenlöcher nur dunkle Stellen sind, nicht etwa Löcher in der Leinwand; obwohl der »gesunde Menschenverstand« dieselbe Form der Augen, der Nase, des Mundes etc. feststellen kann. Morris selbst habe also seine erste Definition dahingehend korrigiert, dass das ikonische Zeichen in einigen Aspekten seinem Denotatum ähnlich sei. Folglich sei die Ikonizität eine des Grades. Doch dies ist Eco zu elastisch, wenn man bedenke, dass bei klanglicher Nachbildung eines Hahnenschreis als Icon sowohl »kikeriki« »coquerico« und »cock-a-doodle-doo« in Frage kommen (wobei im Französischen und Englischen noch das Tier im Lautbild genannt ist). 468 Doch welche Eigenschaften des bezeichneten Gegenstands hat das Abbild? »Man könnte sagen, sie besitzen zwar dieselbe Wahrnehmungsbedeutung, aber nicht dieselbe physische Wahrnehmungsgrundlage.« 469 »Eine erste Schlussfolgerung könnte also sein: 1) die ikonischen Zeichen »besitzen die Eigenschaften des dargestellten Gegenstandes« nicht; 2) sie reproduzieren einige Bedingungen der gewöhnlichen Wahrnehmung aufgrund von normalen Wahrnehmungscodes; 3) sie selektieren diejenigen Stimuli, die es mir erlauben können, eine Wahrnehmungsstruktur aufzubauen, die – auf Grund der Codes der erworbenen Erfahrung – dieselbe ›Bedeutung‹ wie die vom ikonischen Zeichen denotierte wirkliche Erfahrung besitzt.« 470

Aber Peirce – dies ist Ecos entscheidender Kritikpunkt – »gibt den Bezug auf Gegenstände nicht auf, und Ikonizität bleibt für ihn daher ein umfassender Terminus, unter den viele unterschiedliche Phänomene wie Vorstellungsbilder, Graphen oder Malereien fallen.« 471 Geometrische Ähnlichkeit und topologische Isomorphie sind aber für Eco Transformationen, die keineswegs – als Konsequenz von Re467 468 469 470 471

Morris, Zeichen, Sprache und Verhalten, Kap. 1.7. Eco, Semiotik, S. 256 f und Eco, Einführung in die Semiotik, S. 200 f. Eco, Semiotik, S. 257 f. Eco, Einführung in die Semiotik, S. 202. Eco, Semiotik, S. 264 f.

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geln und Kunstgriffen – etwas mit natürlicher Korrespondenz zu tun haben. 472 Und auch der Begriff der Analogie hilft nicht weiter: Macht man den Begriff zu einer überprüfbaren Kategorie, so wird er mit dem Begriff »ähnlich« synonym. Hier aber diagnostiziert Eco »eine klare petitio pincipii«: Wenn man nämlich, um eine Form der Analogie zu definieren, die keine geometrische Proportion ist, auf den Begriff Ikonizität zurückgeht, so ergibt sich absurderweise, »dass die Semiotik auf die Analogie zurückgreifen muss, um die Ikonizität zu erklären, während sie sich auf die Ikonizität beruft, um die Analogie zu erklären.« Und auch hier sind kulturelle Konventionen wirksam. 473 Für Eco sind die sog. »ikonischen Zeichen« hingegen a) visuelle Texte, denn die verbale Entsprechung (z. B. für die Darstellung eines Pferdes) wäre nicht ein Wort, sondern eine Beschreibung oder Geschichte, b) nicht weiter analysierbar in Zeichen oder Figuren, denn es gibt bei Kunstwerken so viele ikonische Sprachen wie persönliche Stile eines Autors. 474 »Die Einheiten, aus denen sich ein ikonischer Text zusammensetzt, werden – wenn überhaupt – durch den Kontext etabliert. Außerhalb des Kontextes sind diese sogenannten Zeichen überhaupt keine Zeichen, denn sie sind weder codiert, noch ähneln sie irgendetwas. Also ist der ikonische Text, da er den codierten Wert eines Zeichens etabliert, ein Akt der Code-Instaurierung.« 475

Eco gibt in ES zwei Beispiele, die zeigen, dass ein ikonischer Code ursprünglich arbiträr war, dann aber neue Sehkonventionen begründete: Zum einen geht es um Constables Bild »Wivenhoe Park«, mit dem er eine neue Technik entwickelte, die Anwesenheit des Lichtes (diffus, hinter Wolken) in der Landschaft wiederzugeben. Scheinbar fotographisch und naturalistisch, zeigen doch Fotographien von »Wivenhoe Park« etwas gänzlich anderes, und seine Technik der Farbkontraste wurde zunächst vom Publikum »durchaus nicht als Nachbildung der ›wirklichen‹ Lichtverhältnisse empfunden, sondern als launenhafte Willkür. Constable hatte also eine neue Art erfunden, unsere Wahrnehmung des Lichtes zu codieren und auf die Leinwand

472 473 474 475

ebd. a. a. O., S. 266 f. a. a. O., S. 286. Eco, Semiotik, S. 286 f.

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zu übertragen.« 476 (Gleiches gilt natürlich für die Impressionisten.) Und Dürers Nashorn, dargestellt mit dachziegelartigen Schuppen, die es in natura nicht hat, taucht für mindestens zwei Jahrhunderte in Büchern von Entdeckern und Zoologen auf, die wissen, dass Nashörner eine andere Haut haben, »denen es aber nicht gelingt, die Faltigkeit der Haut anders darzustellen als in Form von dachziegelartigen Platten, weil sie wissen, dass nur diese konventionalisierten graphischen Zeichen für den Empfänger des ikonischen Zeichens ›Nashorn‹ denotieren können.« 477 Eco merkt hier noch an, dass die starke Runzeligkeit der Haut in einer Fotografie, »die konventionellerweise nur die großen Farbmassen wiedergibt und die opaken Oberflächen vereinheitlicht«, nicht so herauskommt wie in der Dürer-Graphik, die also in dieser Hinsicht als realistischer gelten kann. Um vermeintlichen Realismus geht es Eco auch in KS am Beispiel eines Stilllebens von Chardin (»Salon de 1763«), das schon Diderot beschrieben hatte, und an diesem Beispiel entwickelt er seine Vorstellung von Ersatzreizen: »Dieses Porzellangefäß ist wirklich aus Porzellan. Diese Oliven sind vom Auge wirklich durch die Flüssigkeit getrennt, in der sie schwimmen. Man braucht diese Biskuits nur zu nehmen und zu essen, diese Pomeranze nur aufzuschneiden und auszupressen, dieses Glas Wein nur anzufassen und auszutrinken […] Chardin, das ist nicht weiße, rote und schwarze Farbe, […], das ist die eigentliche Substanz der Gegenstände […].« 478

Doch bemerkt Diderot, wenn er sich dem Bild nähert, eine Auflösung der »Magie« und dicke, aufeinander aufgetragene Farbschichten: »alles verschwimmt, verflacht und verschwindet. Entfernen Sie sich: alles erschafft und erzeugt sich wieder neu«. 479 Diderot stellt hier für Eco, »während er die Wunder der Ikonizität feiert, die nicht natürliche Natur der Hypoikonen fest«. 480 Denn die von den realen Objekten erzeugten Reize wirken – wie das echte Bierglas – aus verschiedenen Entfernungen, die von Eco so genannten ikonischen »Ersatzreize« (das Bild eines gefüllten Bierglases) hinEco, ES, S. 209. Eco, ES, S. 209–212 bezieht sich mit diesen Beispielen unter der Überschrift »Die Konvention regelt alle unsere Abbildungsoperationen« auf Gombrichs Art and Illusion (Kap. II) 478 Eco, KS, S. 404 f zitiert aus Diderots Ästhetischen Schriften, Bd. I, S. 453 f. 479 Diderot, ebd., S. 454. 480 Eco, KS, S. 405. 476 477

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gegen enthüllen bei näherer Betrachtung »ihre illusorische Natur, ihre Ausdruckssubstanz, die nicht die der von ihnen suggerierten Objekte ist«. 481 Und unter Berufung auf Merleau-Pontys Untersuchungen zur Perspektivität macht Eco ein Kriterium für Ersatzreize fest: »Der Ersatzreiz versucht, mir die Empfindung aufzudrängen, die ich hätte, wenn ich den Standpunkt dessen einnehmen würde, der ihn hervorgebracht hat. Ich habe vor mir den Umriss eines Hauses […]: Sehe ich, wenn ich meinen Standpunkt ändere, den Baum hinter dem Haus? Sehe ich ihn nicht, dann handelt es sich um einen Ersatzreiz. […] Der Ersatzreiz hindert mich daran, vom Gesichtspunkt meiner – als meine Körperlichkeit aufgefassten – Subjektivität aus zu sehen (oder zu fühlen); er vermittelt mir von den Dingen nur eine Perspektive […].« 482

Doch dies ist bereits eine phänomenologische Betrachtungsweise. Festzuhalten ist, dass Eco den – von Gibson inspirierten – Begriff des Ersatzreizes dem des ikonischen Zeichens vorzieht, denn 1. enthalte für ihn jedes Erkennen bereits ein Schließen, Peirces Icons sind aber in der »firstness« der Unmittelbarkeit, 2. untersuche er viele visuelle Phänomene, die gar keine Zeichen und auch nicht ähnlich sind, wie z. B. Spiegelbilder (die sind nicht ähnlich, sondern »gleich« und sie stehen nicht für etwas anderes: 483 Quelle und Empfänger fallen zusammen, sowie auch Ausdruck und Inhalt). Man kann sie auch nicht als Abbildung bezeichnen, weil es keinen materiellen Ausdruck gibt; es handelt sich also um »Pseudo-Abbilder«. Ähnliches gilt auch für diejenigen Bilder, die durch »Prothesen« wie Mikroskope und Teleskope in Okularen 484 entstehen, auch ihnen fehlt der materielle »Abdruck«, wie er bei Fotos und Filmen entsteht, weshalb Eco auch hier Zeichenfunktionen sieht. Fernsehbilder aber – zumindest in ihrem Grundkonzept als Live-Sendung im geschlossenen Kreislauf – seien eher wie Spiegelbilder, kein Zeichen für etwas, da die Stofflichkeit des Fernsehbildschirms genau das zeigt, was im selben Moment stattfindet und sich im gleichen Augenblick auflöst, in dem das Er-

ebd. Eco, KS, S. 406 f. 483 Eco, KS, S. 419: »Ein Zeichen ist etwas, das für etwas anderes in dessen Abwesenheit steht. Das Spiegelbild hingegen steht in Anwesenheit des gespiegelten Objekts für es. […] Soll ein Zeichen da sein, so muss man ein Zeichenexemplar in Beziehung zu einem Typus bilden können. Beim Spiegelbild hingegen koexistieren Typus und Exemplar.« 484 Eco, KS, S. 412 f. 481 482

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eignis beendet ist. 485 Man sieht 3.) dass einige ikonische Zeichen, da sie ikonische Codes instaurieren, gleichzeitig konventionell und motiviert sind, andere visuelle Phänomene hingegen offenbaren sich als überhaupt nicht ikonisch. Für Eco ist der einzig mögliche Schluss dieser: »Ikonizität ist kein Einzelphänomen, und auch kein ausschließlich semiotisches Phänomen. Sie ist eine unter einem Allzweck-Etikett zusammengebündelte Kollektion von Phänomenen. […] Akzeptiert man aber diesen Schluss, so wird ein methodologisches Prinzip ganz deutlich: Es ist der Zeichenbegriff selbst, der sich als unanwendbar herausstellt und den abgeleiteten Begriff des ›ikonischen Zeichens‹ so verwirrend macht.« 486

Ganz generell, auch im Bereich des Nichtikonischen, könne man gar nicht immer elementare Einheiten und feste Korrelationen feststellen, oft seien ›Zeichen‹ das transitorische Resultat prozessual und situationell bedingter Festsetzungen, sodass Eco generell eine Typologie der Zeichen als fehlerhaften Ansatz bezeichnet. Vielmehr müsse man eine Typologie der Erzeugungsmodi von Zeichen aufstellen, die dann die Art, wie Ausdrücke physisch erzeugt werden, registrieren und nicht die Art, wie sie semiotisch mit ihrem Inhalt korreliert werden. 487 So wird eine unbegrenzte Fülle ikonischer Codes möglich, die als ästhetische Idiolekte mit persönlichem Stil individuelle offene Kunstwerke produzieren, die offen für eine Vielzahl von Interpretationen sind. Sie sind nicht in diskrete Einheiten mit fester Bedeutung regelhaft zerlegbar, was auch verhindere, dass ein Kunstwerk wie z. B. die Mona Lisa sich duplizieren ließe. »Wenn Raffaels Malerei als nicht duplizierfähig erscheint, so liegt das daran, dass er beim Malen seine Regeln selbst erfand, dass er neue und unpräzise Zeichenfunktionen erzeugte und damit einen Code instaurierte. Die Schwierigkeit bei der Suche nach Erzeugungsregeln liegt hier darin, dass Eco, KS, S. 426. Eco, Semiotik, S. 287. 487 Eine Tabelle dieser Erzeugungsmodi findet sich in Eco, a. a. O., S. 291: Dem Erkennen ordnet Eco Abdrücke, Symptome und Anzeichen sowie Indizien zu, der Ostension Beispiele, Muster und fiktive Beispiele, die schon in den Bereich der Reproduktion präetablierter Einheiten hinüberspielen, wo sich Vektoren, Stilisierungen, kombinatorische und pseudo-kombinatorische (codierte und übercodierte) Einheiten ergeben, bis schließlich im Bereich des arbiträren Erfindens von Zeichen sich programmierte Reize, Kongruenzen, Projektionen und Graphen finden, die in der Regel untercodierte Texte darstellen und damit Freiraum für Interpretation bieten. 485 486

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[…] in einem Gemälde das Signal als ›kontinuierlich‹ und ›dicht‹ erscheint, ohne unterschiedliche Einheiten erkennen zu lassen. […] Es ist eben diese Qualität, die ein Gemälde zu einem ästhetischen Text macht.« 488

(Doch folgen die »ikonischen Stile bei nicht-ästhetischer Verwendung dieser Mittel wiederum Regelsystemen«; weshalb es »in der Massenkommunikation, der Photographie, dem Comic Strip und dem Film erkennbare ikonische Codes« gebe. 489 Verkehrszeichen, Piktogramme, Passfotos, Rückblenden etc. sind visuelle und auch reproduzierbare Gebrauchszeichen, die wir gewohnheitsmäßig deuten.) 3.2.3.5.Eine semiotische Kulturtheorie und ihr Mangel Nach dem Gesagten ist klar, dass die Semiotik in ganz umfassender Weise eine Tätigkeit des Menschen beschreibt, die in verschiedenen Kulturkreisen je anders geschehen kann. Eco wendet damit die transzendentale Semiotik von Peirce ins Kulturanthropologische. 490 »Kultur ist die Art und Weise, wie unter bestimmten historisch-anthropologischen Bedingungen auf allen Ebenen, von der Aufteilung in elementare Wahrnehmungseinheiten bis zu den ideologischen Systemen, der Inhalt segmentiert (und die Erkenntnis damit objektiviert) wird.« 491

Dabei entstehen kulturelle Einheiten als beobachtbare und handhabbare Entitäten: Innerhalb einer Kultur gibt es beobachtbare Manifestationen durch Interpretanten wie »geschriebene Wörter, physisch realisierte Zeichnungen, ausgedrückte Definitionen, Gesten und also auch besondere, bereits als zeichenhafte Entitäten konventionalisierte Verhaltensweisen«. 492 Dennoch möchte Eco die radikale These, Kultur insgesamt müsse als semiotisches Phänomen untersucht werden, modifizieren: In ihren extremen Formulierungen »Kultur ist nur Kommunikation« und »Kultur ist nichts weiter als ein System strukturierter Signifikationen« klingen sie gefährlich idealistisch, und gegen jeden Essentialismus will Eco deutlich machen, dass Kultur sehr erhellend und zum besseren Verständnis als Kommunikationsphänomen untersucht Eco, Semiotik, S. 242 f. Eco, Semiotik, S. 286. 490 Mersch, Jenseits der Dekonstruktion. Ecos Miniaturen und die phronetische Form der Kritik, in: Kindt/Müller (Hg.), Ecos Echos, S. 199–216, hier S. 203. 491 Eco, Zeichen, S. 186. 492 Eco, Zeichen, S. 178 f. 488 489

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werden sollte, das auf Signifikationssystemen beruht. 493 Denn »Gegenstände, Verhaltensweisen sowie Produktions- und Wertbeziehungen funktionieren sozial als solche, weil sie präzisen semiotischen Gesetzen gehorchen«. 494 Wenn etwa ein Auto Zeichen für einen bestimmten sozialen Status ist, so hat es diesen symbolischen Wert auch dann, wenn man es einfach als nützlichen Gegenstand verwendet. Die semantische Einheit »Auto« bezeichnet dann gleichzeitig auch ein semantisches Feld, dem »Geschwindigkeit«, »Bequemlichkeit«, »Reichtum« oder gar »Luxus« konnotiert sind, und wird somit zum Signifikanten auch für seine mögliche weitere Verwendung. Für Eco bedeutet das interessanterweise, dass die »Systeme der Signifikate (aufgefasst als Systeme kultureller Einheiten) als Strukturen organisiert sind, die denselben semiotischen Regeln folgen, wie sie für die Strukturen der Signifikanten gelten.« Die Zeichen bilden also die jeweiligen Strukturen (»semantische Felder und Achsen« von Oppositionen und Relationen) ab, weshalb man dann Kulturphänomene auch im Bereich der Zeichen untersuchen kann. 495 Diese Isomorphie lässt an Wittgensteins Abbildtheorie denken, der diese noch mit dem Anspruch verbindet, Sachprobleme durch logische Analyse der jeweiligen Sprachstrukturen klären zu können. Doch anders als Wittgenstein und spätere linguistische Positionen geht Eco doch mit seinem weiten Zeichenbegriff – ganz analog zu Derridas Ausweitung des Schriftbegriffs um »Kinematographie, Ikonographie, Choreographie etc.« – über diesen engen, an sprachliche Zeichen gebundenen Ansatz weit hinaus. »In der Kultur kann jede Entität zum semiotischen Phänomen werden. Die Gesetze der Signifikation sind die Gesetze der Kultur. Insofern erlaubt die Kultur, insofern sie ein System von Signifikationssystemen darstellt, einen beständigen Prozess kommunikativen Austausches. Kultur kann völlig unter einem semiotischen Gesichtspunkt untersucht werden.« 496

Allerdings geht es hier nicht um eine »abstrakte Theorie der reinen Kompetenz eines idealen Zeichenerzeugers«, um ein »kristallines und unwandelbares Modell«, sondern um ein »soziales Phänomen, das Wandlungen und Umstrukturierungen unterworfen ist und eher 493 494 495 496

Eco, a. a. O., S. 46. Eco, a. a. O., S. 52. Eco, a. a. O., S. 52 f. Eco, a. a. O., S. 54.

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einem Netz von partiellen und transitorischen Kompetenzen […] gleicht«. 497 Analog zu Heisenbergs Unschärferelation formuliert Eco daher eine Art Unbestimmtsheitsprinzip, denn anders als beim Kielwasser eines Schiffes, das im Meer verschwindet, sobald das Schiff vorbei ist, verändern etwa bei der Erforschung eines Waldes die Wagen- und Fußspuren die erforschte Landschaft, sie ist nicht länger unberührt, »so dass die Beschreibung, die der Forscher liefert, auch die ökologischen Veränderungen berücksichtigen muss, die von ihm selbst stammen«. 498 Eco vergleicht an dieser Stelle den Gegenstand der Untersuchung mit einer sorgfältig gepflegten Landschaft, in der der Mensch ständig die Form der Siedlungen, Häuser, Anpflanzungen, Kanäle usw. verändert. Was zu untersuchen bleibt, ist wie bei Cassirer die Form der symbolischen Aktivität, die, wie man an diesen Beispielen sieht, auch historische Dimensionen aufweist und Spuren in den Kulturen hinterlassen hat. Doch die jeweiligen Subjekte hinter den Kulturen bleiben unsichtbar. Am Ende seines Hauptwerkes zur Semiotik diagnostiziert Eco dies als Mangel: »Seit wir gesagt haben, dass die Arbeit der Zeichenerzeugung auch eine Form der Sozialkritik und der sozialen Praxis darstellt, lässt sich der Auftritt eines Phantoms, das unsere bisherigen Ausführungen in die Kulissen verwiesen hatten, nicht mehr verhindern. Wo ist im semiotischen Rahmen der Platz des handelnden Subjekts bei jedem Akt der Semiose?« 499

Eine Theorie der Sender-Empfänger-Beziehung müsste, so Eco, nicht bloß als methodologische Fiktion die Rolle des ›sprechenden‹, konkreten historischen Subjekts berücksichtigen. Nur unter zwei Voraussetzungen sieht Eco sein Vorgehen gerechtfertigt: (1) muss das Subjekt einer Äußerung »vor allem als einer der möglichen Referenten der Botschaft oder des Textes betrachtet werden«. Wenn sie Referenten als Inhalte untersucht, wird die Existenz physischer Dinge und Sachverhalte zwar nicht geleugnet, aber ihre Überprüfung (hinsichtlich Eigenschaften, Veränderungen, Wahrheit und Falschheit) wird anderen Disziplinen zugewiesen; (2) muss dieses Subjekt mit seinen Eigenschaften und Einstellungen »als Element des übermittelten In-

497 498 499

ebd. Eco, a. a. O., S. 55. Eco, Semiotik, S. 399.

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Semiotische Bildtheorien: Eco

halts gelesen oder interpretiert werden«. 500 Es wird also ins Signifikat hineingezogen. Das Subjekt »als eine Art, die Welt zu betrachten« bleibt transzendent und auch transzendental: »Die Semiotik kann das Subjekt jedes Aktes der Semiose nur in semiotischen Kategorien definieren; das Subjekt der Signifikation manifestiert sich also als das nie fertige System der Signifikationssysteme, die einander widerspiegeln. […] Jeder andere Versuch, eine Betrachtung des Subjekts in dem semiotischen Diskurs einzuführen, würde die Semiotik eine ihrer ›natürlichen‹ Grenzen überschreiten lassen.« 501

Die durch Semiose kommunizierenden empirischen Subjekte, auf die es Eco ankommt, lassen sich aber »vom semiotischen Standpunkt aus nur als Manifestationen dieses zweifachen (systematischen und prozesshaften) Aspekts der Semiose definieren und klassifizieren. Dies ist keine metaphysische, sondern eine methodologische Feststellung. Für die Physik sind Cäsar und Brutus durch eine Wechselbeziehung von Elementarteilchen definierte raum-zeitliche Ereignisse. […] Die Semiotik behandelt die Subjekte der semiosischen Akte in derselben Weise: Entweder lassen diese sich in Kategorien semiotischer Systeme erfassen, oder sie sind – für diese Betrachtungsweise – nicht existent.« 502

Trotzdem glaubt Eco die Semiotik »vor der Gefahr des Idealismus« gefeit, denn die Interpretanten, die für ihn anders als für Peirce materielle Ausdrücke sind, können physisch verifiziert werden, da das Universum der Signifikation soziale Existenz hat. Und damit ist eine Kultur gegeben, auch wenn das dahinter stehende Subjekt sich in der semiotischen Theorie entziehen muss. Für Mersch steht damit Ecos Philosophie zwischen dem klassischen Strukturalismus (auch Saussure hatte ein zweidimensionales Zeichenmodell) und dem amerikanischen Pragmatismus, »indem beide ebenso miteinander versöhnt werden, wie deren Fundamente aufgesprengt werden, um sie zu einem anderen hin zu überschreiten«. 503

a. a. O., S. 399 ff. a. a. O., S. 401 und 400. 502 a. a. O., S. 401 f. 503 Mersch, Jenseits der Dekonstruktion. Ecos Miniaturen und die phronetische Form der Kritik, in: Kindt/Müller (Hg.), Ecos Echos, S. 199–216, hier S. 209. 500 501

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Der philosophische Bilderstreit

3.3 Phänomenologische Bildtheorien »Gedanken ohne Inhalt sind leer.« Diese andere Hälfte des Kant’schen Diktums 504 sei der Behandlung der phänomenologischen Bildtheorien vorangestellt, mit der Ergänzung, dass es jeweils die Subjekte sind, die diese Begriffe – oder auch Zeichen – aufgrund eigener Wahrnehmungserfahrungen mit Inhalt und Bedeutung füllen können, um sie in das eigene Denk- bzw. Äußerungsrepertoire zu integrieren. Man muss festhalten, dass das phänomenologische Denken Vorläufer gehabt hat: Alloa geht so weit, in Aristoteles mit seiner Hinwendung zur Empirie einen Phänomenologen avant la lettre zu sehen, 505 hatte er doch gegen Platon die Meinung vertreten, dass das Wesen der Dinge in ihnen selber und nicht in einer jenseitigen Ideenschau zu entdecken sei. Ebenso kann man Herders sensualistische Position – er war nach eigenem Bekunden vom englischen Empirismus und vom französischen Materialismus inspiriert – nennen, denn er hatte bereits das Bild als Vorstellung eines Gegenstandes mit der Wahrnehmung verbunden. 506 Hier geht es nun um Deutung von Erfahrungen und Bilderfahrungen, denn Bildphänomene erscheinen – wie andere φαίνόμενα – und sind Objekte unserer Wahrnehmung bzw. Imagination. Dabei will die moderne Phänomenologie keineswegs die platonische Bewertung der Phänomenwelt als nachrangig übernehmen, denn die Phänomene sind unmittelbar das, was uns gegeben ist. Erstaunlicherweise finden sich starke Anklänge an Bergson, da das Bild sich beim historischen Herder »als Licht gibt«, genauer: in einem Zwischenbereich zwischen Bildträger und Subjekt, wo es »außer Licht« nichts gibt. Dabei machen wir uns dasjenige im Bildbewusstseinsakt zu eigen, »was im Konstruktivismus der Sinne als Sehen produziert wird. 507« Und dies ist ganz sicher kein semiotischer Ansatz. Dummett und Soldati haben aber darauf hingewiesen, dass analytische Philosophie und Phänomenologie ursprünglich gemeinsame Die andere Hälfte des Kant-Zitats »Anschauung ohne Begriffe ist blind«) war der Behandlung der Semiotik vorangestellt worden, da sie als gegen die Phänomenologie gerichtet verstanden werden kann. 505 Alloa, Das durchscheinende Bild, S. 63 ff spricht hier von »Protophänomenologie«. 506 Simon, Herders Bildtheorie, in: Neuber/Veressov (Hg.), Das Bild als Denkfigur, S. 139–152, hier S. 139 ff. 507 a. a. O., S. 148. 504

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Phänomenologische Bildtheorien: Husserl

Wurzeln gehabt und sich auch gegenseitig rezipiert hätten, 508 doch dann – seit dem linguistic turn und der weiteren Entwicklung der Phänomenologie in Richtung einer Existenzphilosophie bei Heidegger und Sartre – verschiedene Wege gegangen seien, um späterhin keinerlei Notiz mehr voneinander zu nehmen, ja sogar bis hin zu einer »fast vollständigen gegenseitigen Missachtung«. 509 Zu suspekt war den in der Regel sprachphilosophisch orientierten Analytikern nach Wittgenstein die Gründung in der unmittelbaren Erfahrung. Parallel zu den oben geschilderten drei bildsemiotischen Positionen sollen hier drei bildphänomenologische Positionen samt ihren ontologischen Implikationen vorgestellt werden, bei denen sich interessanterweise unter umgekehrten Vorzeichen wieder eine quasi-idealistische, eine materialistische und eine beide vermittelnde Position findet.

3.3.1 Zur Begründung der modernen Phänomenologie durch Edmund Husserl (1859–1938) Den Startschuss zur modernen Phänomenologie in Deutschland und Frankreich mit ihrer Hinwendung zur subjektiven Wahrnehmung von Lebenswelt in ihrer ganzen Phänomenalität in Deutschland und Frankreich gab Edmund Husserl, mit seiner Absicht, »zu den Dingen selbst« zu gehen und dem philosophischen Denken eine neue Unmittelbarkeit zugrunde zu legen. Ursprünglich als Assistent von Weierstraß in der mathematischen Grundlagenforschung zu Hause, wechselte er unter dem Einfluss Brentanos in die Philosophie, behielt aber vgl. Dummett, Ursprünge der analytischen Philosophie, und Soldati, Bedeutung und psychischer Gehalt. Eine Untersuchung zur sprachanalytischen Kritik von Husserls früher Phänomenologie. Auf S. 13 f berichtet Soldati von bemerkenswerten Ähnlichkeiten in der Philosophie Stouts mit der von Husserls Lehrer Brentano, auch mit der von Stumpf, Twardowski, Ehrenfels und Husserl selber, vom Briefwechsel des letzteren mit Frege über 15 Jahre hinweg, und darüber, dass Russell Husserls Logische Untersuchungen mit ins Gefängnis genommen habe. Auch Carnap habe in Der logische Aufbau der Welt noch explizit auf Husserls Lehre der ›phänomenologischen Enthaltung‹ zurückgegriffen; und Tarski habe in seiner berühmten Abhandlung zum Wahrheitsbegriff auf Husserls Lehre der ›semantischen Kategorien‹ hingewiesen. Chisholm hatte in seinem Werk Perceiving schon 1957 Brentanos Lehre der Intentionalität besprochen! Aber Husserl (und auch Brentano) fassen eben Gehalt nicht ausschließlich als sprachlichen Gehalt auf. 509 Soldati, a. a. O., S. 14. 508

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das Interesse an Letztbegründung, schon in seinem ersten philosophischen Hauptwerk, den epochemachenden Logische(n) Untersuchungen, bei. 510 (Der philosophisch-mathematische Grundlagenstreit war bereits mit Frege in die erste – logizistische – Phase getreten.) 3.3.1.1 »Objektivistischer Schein« und fundierende Subjektivität In seiner Krisis der Europäischen Wissenschaften hatte Husserl Nietzsches Begriff der Lebenswelt und dessen Rationalismuskritik aufgenommen, ohne jedoch in dessen Irrationalismus zu verfallen, und wirkte so wie dieser auch auf Wissenschaftskritiker wie etwa Feyerabend. Um Letztbegründung geht es auch hier, aber auch um mehr: Seine Krisisschrift hat auch einen politischen Hintergrund. In dem vorangegangenen Wiener Vortrag von 1935 betont er: »Die Krise des europäischen Denkens hat nur zwei Auswege: Den Untergang Europas in der Entfremdung gegen seinen eigenen rationalen Lebensstil, den Verfall in Geistfeindschaft und Barbarei, oder die Wiedergeburt Europas aus dem Geiste der Philosophie durch einen den Naturalismus endgültig überwindenden Heroismus der Vernunft.« 511

Die später daraus entstandene »Krisisschrift« mit dem Untertitel »Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie« bietet auch solchen Lesern »Zugang zur Philosophie Husserls, denen seine früheren Werke mehr oder weniger fremd geblieben waren«. 512 Sie soll daher auch hier einleitend am Anfang stehen. Husserl kritisiert bereits in § 2 die »positivistische Reduktion der 510 Nach Thomas, Husserl. Zur Genesis einer spätbürgerlichen Philosophie, S. 19 war Husserl schon 1886 zum Protestantismus konvertiert (folgerichtig, da »Elemente jüdischer Philosophie […] für die Phänomenologie Husserls ganz offensichtlich nicht prägend geworden« sind); er habe »mit dem Übertritt zum Protestantismus […] seinen persönlichen Frieden gefunden« (ebd., S. 30). Ihm wurde aber nach seinen philosophischen Stationen in Wien, Halle, Göttingen und zuletzt Freiburg ebendort 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft die Universitätsprofessur entzogen; er durfte Universität und Bibliotheken nicht mehr betreten (wobei sein Schüler Heidegger als damaliger Rektor eine unrühmliche Rolle spielte). Husserl war davon tief betroffen und stand den Nürnberger Gesetzen von 1935 fassungslos gegenüber (ebd. S. 44). Er emigrierte nicht und starb 1938 vor Beginn des Zweiten Weltkriegs in Freiburg. 511 Husserl, Die Philosophie in der Krisis der gegenwärtigen Menschheit, zitiert nach Thomas, a. a. O., S. 45. 512 Ströker, Einleitung zu Husserls Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, S. VII.

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Idee der Wissenschaft auf bloße Tatsachenwissenschaft« und den damit einhergehenden »Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit«. Zwar hätten die sog. »positiven« Wissenschaften (von engl. positive: sicher, gemeint sind die Naturwissenschaften) mit der ihnen zu verdankenden »prosperity«, dank ihrer lebenspraktisch so erfolgreichen technischen Umsetzungen – die Menschen geblendet, doch auch ein »gleichgültiges Sichabkehren von den Fragen, die für ein echtes Menschtum die entscheidenden sind«, bewirkt, nämlich den »Fragen nach Sinn oder Unsinn dieses ganzen menschlichen Daseins«. 513 Der Positivismus enthaupte sozusagen die Philosophie; die zweifellosen Erfolge der Tatsachenwissenschaften hätten ihnen zwar allgemeine Bewunderung verschafft, die Wissenschaftler aber auch »im spezialisierten Betriebe der positiven Wissenschaften immer mehr zu unphilosophischen Fachmännern« werden lassen, zu solchen also, die den Blick fürs Ganze verlieren. 514 So kritisierte Husserl den »objektivistischen Schein« der so erfolgreichen modernen Wissenschaften, die sich in eine Lebensferne begeben hätten, die sie von der alltäglichen Welt abschneide. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nämlich waren es die Strömungen von Naturalismus, Positivismus, Psychologismus und Historismus, die sich jeweils auf unterschiedliche Art zu verabsolutieren trachteten und universale Geltungsansprüche im Namen einer Wissenschaftlichkeit erhoben, der man in der Philosophie nacheifern wollte. Die Philosophie bildete also kein kritisches Gegengewicht mehr, sondern betrieb logische Grundlagenforschung und wollte damit aus einem Bedürfnis nach Anerkennung heraus dem positivistischen Ideal nacheifern. Stenger bewertet dies als »Philosophismus, der diesen Entgrenzungen mit formallogischen allgemein gültigen Erkenntnisprinzipien zu antworten suchte«: »Ein Gespräch zwischen diesen beiden Polen schien nicht mehr möglich, eine wissenschaftstheoretisch paradoxe Konstellation, die bis zum heutigen Tag ihre Blüten treibt. Was als Wissenschaft Geltung haben können soll, muss sich empirisch und datentechnisch verifizieren lassen, muss praktische Relevanz und Effizienz haben und ökonomisch erfolgreich sein. Was Philosophie heißen darf, muss sich der Erforschung der Grundbedingungen

513 514

Husserl, Krisisschrift, S. 3 f. Husserl, a. a. O., S. 4–10.

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menschlicher Erkenntnis widmen, will sie nicht in Weltanschauungen oder Subjektivismen abdriften.« 515

Die angestrebte Objektivität im Namen der »positiven« Wissenschaften ist für Husserl aber nur scheinhaft, und er verweist auf die lebensweltliche Verwurzelung der Wissenschaft treibenden Menschen 516 mit Erkenntnisinteressen und alltäglichen Problemen, die im Namen ihrer wissenschaftlichen Legitimation ihre Subjektivität ausblenden müssen, gleichwohl aber aus ihr zehren. Wie konnte es so weit kommen? Eine Gelenkstelle in dieser Entwicklung ist für Husserl Galilei, mit dessen kosmologischen Theorien (gegen Aristoteles) sich die Physik aus der Philosophie löste und eigenständig wurde. Galilei experimentierte und beobachtete zwar, war aber überzeugt, dass »das Buch der Natur in mathematischen Lettern« geschrieben sei, und verwendete mathematische Formelsprache für seine Theorien. Dies war also das neue Ideal für naturwissenschaftliche Theorien, die sich nun mit dem Nimbus mathematischer Exaktheit schmücken konnten. Die Mathematisierung der Natur wird wie von selbst »in eine Verwandlung hineingezogen, durch die sie geradezu zu einer Kunst wird. Nämlich zu einer bloßen Kunst durch eine rechnerische Technik nach technischen Regeln Ergebnisse zu gewinnen, deren wirklicher Wahrheitssinn nur in einem an den Themen selbst und wirklich geübten sachlicheinsichtigen Denken zu gewinnen ist. […] Das ursprüngliche Denken, das diesem technischen Verfahren eigentlich Sinn und den regelrechten Ergebnissen Wahrheit gibt […], ist hier ausgeschaltet.« 517

Die »ursprüngliche Sinngebung der Methode« sei verloren gegangen und damit das lebensweltliche Sinnfundament jeglicher Wissenschaft. Ein Denken »mit verwandelten Begriffen, mit ›symbolischen‹ Begriffen« ersetze das »erfahrende, entdeckende, konstruktive Theorien evtl. in höchster Genialität gestaltende Denken«. 518 Wasser erleben wir nie als H2O. 519 An die Stelle der vorwissenschaftlich anschaulichen und sinnenhaft erfahrbaren Natur tritt eine idealisierte Stenger, Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten, S. 142. Husserl, Krisisschrift, S. 74. 517 Husserl, a. a. O., S. 49. 518 a. a. O., S. 50 f. 519 Das Beispiel stammt von Niels Weidtmann, der es weiter ausführt. (Weidtmann, Phänomenales Bewusstsein und Intentionalität, in: Frank/Weidtmann (Hg.), Husserl und die Philosophie des Geistes, S. 89–111, hier: S. 104.) 515 516

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Natur, und es beginnt »eine […] sich vollziehende Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten für die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt – unsere alltägliche Lebenswelt«. 520 Lebensweltliche Bezüge geraten dabei in den Hintergrund, wie in der Geometrie, die sich von der praktischen Sinnstiftung der Landvermessungskunst löste und immer weiter idealisierte. Es sind diese Trends zur Idealisierung und die damit einhergehende »Weltverlorenheit der positiven Wissenschaften«, 521 die Husserl kritisiert. Denn Rationalität ist nicht freischwebend, sie ist ohne Subjekte nicht denkbar, und diese sind nicht ohne Lebenswelt denkbar. Deshalb ist Husserl die Abgrenzung vom Psychologismus auch in der Logik so wichtig, und er hatte sich schon in seiner ersten philosophischen Veröffentlichung, den Logischen Untersuchungen (LU), damit beschäftigt. »During the second half of the nineteenth century the discipline of psychology, in spite of pioneering work of, amongst others, Herbart, Lotze, Wundt, and Stumpf, had not yet clearly distinguished itself from philosophy, and had by no means declared its independence from it. Symptomatically, for example, all psychologists just mentioned occupied chairs of philosophy, and all of them wrote about ethics, logic, and metaphysics, as well as about topics belonging unproblematically within empirical or experimental psychology.« 522

So wird in den Debatten der damaligen Zeit die Logik als ein Teil der Psychologie dargestellt, die sich von dieser wie ein Teil vom Ganzen bzw. wie die Kunst zur Wissenschaft verhalte. Denn »die Logik ist eine psychologische Disziplin, so gewiss das Erkennen nur in der Psyche vorkommt und das Denken, das sich in ihm vollendet, ein psychisches Geschehen ist«. 523 Doch es geht Husserl in der Logik nicht um zufällige, sondern notwendige Regeln des Denkens, »nicht wie wir denken, sondern, wie wir denken sollen« zeichne die Logik als normative Wissenschaft aus, und es sei »ebenso ungereimt, die Moral vom Leben herzunehmen«. 524 a. a. O., S. 52 f. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 161. 522 Bell, Husserl, S. 4. 523 Die Psychologismuskritik Husserls befindet sich erstmalig in den Logischen Untersuchungen, Band I, S. 50–191, hier S. 51 f, wo er sich u. a. auf Lipps Grundzüge der Logik von 1893 (Zitat in FN 2) bezieht. 524 Husserl, Logische Untersuchungen I, S. 53. 520 521

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Husserl will mehr als die bloß empirische Gemeingültigkeit von oft anzutreffenden Gesetzmäßigkeiten des Denkens oder von Denkweisen mit lediglich relativer Gültigkeit. 525 Seine mathematische Vorbildung treibt ihn zur Begründung und Verankerung des lebensweltlich bedeutsamen Tuns, und zwar in einer transzendentalen Subjektivität. Das zieht ihn zu Descartes und seinen Rückgang auf das wirklich Unbezweifelbare im ego cogito. Dieser hatte auf dem cogito aufbauend das Modell einer mathesis universalis, einer universalen Wissenschaft, entwickelt, für die er das Bild eines Baumes entworfen hatte, in dessen Ästen sich lebensdienliche Wissenschaften wie Medizin, Dioptrik, Technik, Mechanik, aber auch Ethik aus dem Stamm heraus ausdifferenzieren, und dessen Wurzeln in der Metaphysik verankert sind. 526 Es ist wohl diese Kombination eines Grundes in rationaler Subjektivität und ihm folgender lebensdienlicher Wissenschaft, die Husserl an Descartes fasziniert. Und es gibt noch einen Grund: Bei Descartes tritt die Logik der Erfahrung neben die der Mathematik, 527 denn es gibt Fragen, die durch Experiment entschieden werden müssen. Das neue Ideal ist das Begreifen der Phänomene (nicht wie in der Scholastik das Ergründen der Wesenheiten der Dinge). Aus der Wechselbeziehung von Prinzipien (jede wissenschaftliche Induktion setzt ein Modell voraus) und Folgerungen aus Experimenten sieht Descartes das Wesen und den Fortschritt der Wissenschaften begründet. 528 Und so will Husserl auch nicht einen naiven unreflektierten Begriff von Lebenswelt, sondern eine Wissenschaft von der Lebenswelt, 529 in der von Erfahrungen geprägte Subjekte sich mit den sie umgebenden Phänomenen in Beziehung setzen. Denn die phainomena sind anders als bei Platon nicht bloß sekundäre Abbilder des Eigentlichen, sie sind zunächst alles, was wir haben, und Phänomene

Husserl, a. a. O., S. 110–124. s. Münnix, Mit Rationalismus gegen Hexen- und Teufelswahn. Descartes’ (Be-) Gründung der modernen Vernunft, in: EU 2/1997 (»Vernunft oder Vernünfte?«), S. 13–18, hier S. 16. 527 Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Geschichte der neueren Philosophie, S. 470. 528 Cassirer, a. a. O., S. 478. (Vgl. Husserl, Krisisschrift, S. 88: »Man übersehe nicht den neuen Begriff von ›Phänomen‹, der zum ersten Mal mit der Cartesischen Epoché erwächst.«) 529 Husserl spricht in der Krisisschrift § 51 von einer »Ontologie der Lebenswelt«. 525 526

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für uns, sie erscheinen uns. Es geht also um unsere je eigenen Wahrnehmungserfahrungen. In einem Punkt geht Husserl aber tiefer als der Rationalist Descartes. Zur Erfahrung gehört bei Husserl nicht nur äußere Erfahrung (auch Wahrnehmung und Einsehen gehört zu Descartes’ cogito 530), sondern auch inneres Erleben. Descartes nämlich habe die transzendentale Subjektivität, die Husserl als Begründungsinstanz vorschwebt, gerade verfehlt: 531 Descartes’ »vordringliches Interesse am Objektivismus« (K § 19) habe dazu geführt, dass er das, was er »schon in Händen hatte, sich wieder entgleiten ließ« (§ 17). 532 Denn sein cogito ist nicht individuell, subjektiv, das, was später Heidegger das »Jemeinige« nennen wird. Descartes hatte nicht den ganzen Menschen einschließlich seines Leibes im Auge gehabt und – wie übrigens später auch Kant – streng zwischen mens sive animus sive intellectus unterschieden (§ 18). Doch für Husserl ist es vielmehr zunächst der Erlebnisstrom, durch den ein Subjekt sich als Subjekt bewusst wird. (In der V. Cartesianischen Meditation beschreibt er die »Eigenheitlichkeit als die Sphäre der Aktualitäten und Potentialitäten des Erlebnisstromes«. 533) »Um es anders zu sagen: Jenseits der Gegenstellung von ›Rationalität‹ und ›Psychologie‹ entwickelt Husserl so etwas wie einen Forschungsblick, der Erlebnisqualitäten und -formen und Rationalitätsgründe und -formen hinsichtlich ihrer Bedingungsstruktur radikalisiert. Als Ergebnis tritt die Phänomenologie auf, und ihr Markenzeichen wird sein, nicht mehr nur Forschung mit vorausgesetzter Vernunft zu betreiben, sondern die Vernunft selber zum Forschungsthema zu erheben.« 534

Es geht also damit auch ganz generell um eine Erforschung des Bewusstseins und seiner Strukturen, in denen unser Verhältnis zur objektiven Welt gründet, für Quentin Lauer ein »triumph of subjectivity«, der schließlich sogar einen Übergang zum Existentialismus ermöglicht habe. 535

Descartes, Prinzipien der Philosophie, S. 8. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 26 ff. 532 Husserl, Krisisschrift, § 19 und § 17, S. 82 f und 89 f. 533 Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 103 ff (§ 46). 534 Stenger, a. a. O., S. 143. 535 Lauer, The Triumph of Subjectivity. An Introduction to Transcendental Phenomenology, S. 175 ff. 530 531

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3.3.1.2 Phänomenologische Reduktionen und Epoché Um die »ursprüngliche Sinngebung der Methode […] von aller unbefragten Traditionalität« zu befreien, ist also eine Rückbesinnung auf den »Urboden, die unmittelbar anschauliche Welt«, nötig. 536 Bisherige Rückbesinnung sei bisher immer bei einer idealisierten Natur stehen geblieben, doch habe diese Idealisierung durch »das freie Umphantasieren dieser Welt« eine Methodik geschaffen, die sich vererbt und zur »Sinnüberdeckung und Sinnverwandlung« führe und zur »Verflachung, Verunklärung bei der Übernahme andererseits schon präzisierter Ideen, die nun andere Weisen der Vagheit annehmen: […] als entleerte und zu bloßen Wortbegriffen verdunkelte Ideen.« 537 So könne es passieren, dass jede neue Entdeckung zugleich auch Verdeckung sei, und ein sinnentleertes technisches Denken und Tun entstehe. 538 »In der geometrischen und naturwissenschaftlichen Mathematisierung messen wir so der Lebenswelt ein wohlpassendes Ideenkleid an, das der sogenannten objektivwissenschaftlichen Wahrheiten, […] was wie den Wissenschaftlern, so den Gebildeten als die ›objektiv wirkliche und wahre‹ Natur die Lebenswelt vertritt, sie verkleidet. Das Ideenkleid macht es, dass wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist.« 539

Er ist daher nötig, gemäß dem Vorbild des Descartes, auf einen unbezweifelbaren Grund des Ganzen zurückzugehen, auf die »Naivität des Lebens«, und so die »Naivität der Wissenschaften und der traditionellen objektivistischen Philosophie zu überwinden«, 540 denn »es fehlte also und fehlt noch fortgesetzt die wirkliche Evidenz, in welcher der Erkennend-Leistende sich selbst Rechenschaft geben kann über alle durch Sedimentierung bzw. Traditionalisierung verschlossenen Sinnes-Implikationen, also über die beständigen Voraussetzungen seiner Gebilde, Begriffe, Sätze, Theorien.« 541

Dieser radikale Rückgang soll also auch Theorien und zu Selbstverständlichkeiten geronnene Überzeugungen hinterfragen, wie z. B. unsere Formen von Raum und Zeit, und ist daher der Dekonstruktion 536 537 538 539 540 541

Husserl, Krisisschrift, S. 50 und 53. a. a. O., S. 51 ff und 81. a. a. O., S. 57 und 61. a. a. O., S. 55. (Hervorhebungen durch Husserl) a. a. O., S. 64. a. a. O., S. 56.

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Derridas vergleichbar. Und schon in den Logischen Untersuchungen wird deutlich, dass zu diesen zu dekonstruierenden Theorien auch der »Irrtum der Bildertheorie«, die Theorie der Repräsentation gehört, nach der sich Gegenstände im Bewusstsein abbilden, sich »draußen« das Ding selbst befinde, im Bewusstsein aber als sein Stellvertreter ein Bild sei. Das Bild projiziert also kein Abbild seiner selbst nach innen. Die »rohe Sprechweise von inneren Bildern« (LU II/1 421 ff) dürfe in der deskriptiven Psychologie (und erst recht in der reinen Phänomenologie) nicht geduldet werden. Und damit übertrage sich diese Kritik auch auf den Repräsentations- bzw. Abbildgedanken in der Zeichentheorie (LU II/1 424). Dazu gehört auch notwendig eine Dekonstruktion der objektiven Zeit, will man den Weg zum Phänomen des inneren Zeitbewusstseins finden. 542 Die eigentliche Theorie der phänomenologischen Reduktion wird dann im ersten Band der Ideen ausgearbeitet. 543 Hier nun geht es um »Wesensschau«. (Der Schlachtruf »zu den Sachen selbst!« trifft also wohl nur auf die erste, die deskriptive Phase Husserls zu.) Gemäß dem Cartesischen Vorgehen 544 geht es um Ausschaltung des Zufälligen, Unwesentlichen, um Abbau von Vorurteilen und Vormeinungen. (Das ist ganz im Sinne von Bacons Idolenlehre, der – 30 Jahre vor Descartes geboren – mit seiner Erkenntniskritik und der Analyse von vier Arten von Vorurteilen (idolae) auch an vierter Stelle idolae theatri, hinderliche Vorurteile im Wissenschaftsbetrieb, eliminieren will, speziell solche, die auf Aristoteles zurückgehen. 545) Diese erste Stufe eines Rückgangs nennt Husserl Epoché und meint damit eine radikal skeptische Haltung, die »das Universum aller seiner bisherigen Überzeugungen in Frage stellt, vorweg jeden Urteilsgebrauch von denselben verwehrt, und auch jede Stellungnahme zu ihrer Gültigkeit oder Ungültigkeit.« 546 Diese Urteilsenthaltung sieht also alle bisherigen Denkgebilde rein als Phänomene, von denen auch alle theoretischen und praktischen Interessen abgezogen werden müssen. 547 Husserl redet auch von »Einklammerung«, denn vom Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, S. 4–9. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch, § 26–62. 544 vgl. Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, S. 26–28. 545 Bacon, Novum Organon I, § 38–69. 546 Husserl, Krisisschrift, S. 83 547 Fasching, Phänomenologische Reduktion und Mushin, S. 33. 542 543

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Kontingenten muss abgesehen werden, es muss gleichsam »außer Kraft« gesetzt werden, auch wenn es weiter noch da ist. 548 Dem entspricht »mit der Ansetzung des Nichtseins« die hypothetische Annahme einer Gegenthese, »die also die Mitunterlage des Zweifelsversuchs bildet«. 549 Während diese erste Stufe der Reduktion das cogito und seine »Entkleidung« betrifft, bezieht sich die zweite, die phänomenologische Reduktion, auf das cogitatum: 550 Denn mit ihr wird jede beurteilbare Gegenständlichkeit des Mundanen »eingeklammert«, alle auf diese natürliche Welt bezogenen Wissenschaften sollen ausgeschaltet werden, indem man das, was sie als gültig beanspruchen, nicht einfach übernimmt, des weiteren sogar »diese ganze natürliche Welt, die beständig ›für uns da‹, ›vorhanden‹ ist, und die immerfort dableiben wird, als bewusstseinsmäßige ›Wirklichkeit‹, auch wenn es uns beliebt, sie einzuklammern«. 551 »In order that meaning be given to the war cry of phenomenology in its struggle with positivism ›to things themselves‹ it was necessary to develop precisely those techniques that would enable the subject to eliminate, both from consciousness and its object those elements of contingency that make doubt possible.« 552

Die Kommentatoren sind sich uneins, wie viele Stufen phänomenologischer Reduktion es de facto bei Husserl gibt: Brauner z. B. spricht von deskriptiver, eidetischer (Zeitbegriff!), transzendentaler und absoluter Reduktion, wobei letztere auf »einen absoluten sinngebenden Grund« führen soll. 553 (Die Begriffe wählt er parallel zu den in Husserls Denken auffindbaren Phasen.) Lauer hingegen macht sechs Stufen aus (als »basic phenomenological techniques«) und betont, dass Husserl sein Leben lang nach weiteren Formen gesucht hat, die seine Schüler dann irgendwann nicht mehr mitmachten: 1. die psychologische Reduktion, die hinter die Idealisierungen des Bewusstseins zurückgehen soll (was auch wichtig im Kampf gegen den Psychologismus gewesen sei), 2. die eidetische Reduktion als Rückbau von ideellen Konstrukten (interessant: Der Rückbau einer sich dogmatiHusserl, Ideen I, S. 63. a. a. O., S. 63 f. 550 Lauer, The Triumph of Subjectivity, S. 52. 551 Husserl, Ideen I, S. 65. 552 Lauer, a. a. O., S. 47. 553 Brauner, Die Phänomenologie Edmund Husserls und ihre Bedeutung für soziologische Theorien, S. 31 und 29. 548 549

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sierenden und universalisierenden Ontologie macht auch regionale Ontologien möglich! 554), 3. Ideation oder Ideierung (auch eidetische Variation zwecks »Wesensschau«), 4. Phänomenologische Reduktion als »Reinigung« des Subjekts von phänomenalen Gewissheiten, 5. Übergang vom reinen Subjekt zum transzendentalen Ego (denn das solchermaßen von Ballast befreite Subjekt werde zur apriorischen Quelle aller Objektivität), und 6. schließlich »final reduction: a pure flow of consciousness. […] The ultimate aim of all phenomenological method is an intuition of essence.« 555 Das ist auch der Grund, weshalb Fasching eine Parallele zum Zen-Buddhismus zieht: Auch in Zazen-Meditationen (die das Sitzen mit dem Gesicht zu einer leeren Wand praktizieren) gehe es um ein graduelles Leerwerden (sunyata), bis hin zu einer Stufe, die mit »Mushin« (»Nicht-Geist«) bezeichnet wird, »ein Zustand des Seiner-nicht-bewusst-Seins bzw. Sich-nicht-Objektivierens«. 556 (Es handelt sich in beiden Fällen um einen negativen, Ontifikationen abbauenden Schritt, wobei hier wie dort dieses Negative produktiven (d. h. freilegenden, positiven) Charakter hat. Die Gegenstandslosigkeit als Selbstlosigkeit führe auf ein Geschehen des Anwesens von Wirklichkeit: Ein sich aller Inhalte entkleidendes Bewusstsein befindet sich schließlich im Fluss mit allem, nur dass es bei Husserl noch originäre Wesens»schau« geben soll, während die Zen-Meditation den Geist auch von der Fixierung auf das Sehen weglenken muss. Doch für Fasching gerät »das Sehenwollen der Phänomenologen im letzten […] an einen Punkt, der jenseits des Bereichs des Sehens liegt, der nicht mehr als Gegenstand fassbar ist. Die Schau gerät an ihre Grenze.« 557 Das reine Erscheinen soll zum Erscheinen gebracht werden. Husserls Grundanliegen ist die Rehabilitierung des seit Platon als sekundär verachteten Phänomenalen, denn »das Erscheinen ist unhintergehbares Urgeschehen der Wirklichkeit«. 558 Das macht die Phänomenologie als Wissenschaft von den Phänomenen zur Grundwissenschaft. 559 554 Husserl, Ideen I, § 9 (S. 23 ff): »Region und regionale Eidetik«, sowie auch § 149 (S. 344 ff): (»Die vernunfttheoretischen Probleme der regionalen Ontologien«). 555 Lauer, The Triumph of Subjectivity, S. 50–62. 556 Fasching, a. a. O., S. 11. 557 ebd. 558 Fasching, a. a. O., S. 22 ff. 559 Brauner, a. a. O., S. 27.

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Am Ende der Reduktionen steht das reine und transzendentale Subjekt, ohne das keinerlei Sinngebung in der Lebenswelt möglich wäre, nämlich die wie bei Descartes »absolut apodiktische Evidenz ›Ich bin‹ steht (mir) zu Gebote. […] Also mein gesamtes erfahrendes, denkendes, wertendes und sonstiges Aktleben verbleibt mir, und es läuft ja auch weiter, nur dass das, was mir darin als ›die‹ Welt, als die für mich seiende und geltende vor Augen stand, zum bloßen ›Phänomen‹ geworden ist, und zwar hinsichtlich aller ihr zugehörigen Bestimmungen.« 560

Während Husserl sich mit seiner Wissenschaft von den Phänomenen als Empiriker sieht (nämlich mit einer Erforschung des Bewusstseins und seiner Korrelate) und dabei empirische gegen dogmatische Wissenschaften setzt – andererseits aber auch »Tatsachenwissenschaften gegen »Wesenswissenschaften« 561 –, gibt es, wie man sah, aber auch Züge einer idealistischen Metaphysik, 562 und das wird beim Thema Weltkonstitution noch deutlicher werden. Seine Phänomenologie als Metaphysikkritik nämlich schließt, darauf legt er Wert, »nur jede naive, mit widersinnigen Dingen operierende Metaphysik aus, nicht aber Metaphysik überhaupt.« 563 3.3.1.3 Das intentionale Bewusstsein Wie ist es möglich, dass die am Boden der Reduktionen als Residuum verbleibende reine Subjektivität Bedingung der Möglichkeit für jede Objektivität ist? Eine besondere es charakterisierende Eigenschaft des subjektiven Bewusstseins tritt mit der reduktiven Analyse zutage: die Grundstruktur der Intentionalität. Husserl übernimmt den Begriff der Intentionalität, der eigentlich bereits antike und scholastische Wurzeln hat, 564 von seinem WieHusserl, Krisisschrift, S. 85. Husserl, Ideen I, § 7 (S. 20 f) 562 Brauner, a. a. O., S. 29 f. Hingegen trägt § 55 in Husserl, Ideen I, (S. 120 ff) die Überschrift »Alle Realität nur seiend durch ›Sinngebung‹. Kein ›subjektiver Idealismus‹ (!)«. 563 Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 160. 564 Caston, Intentionality in Ancient Philosophy, in: Zalta (Hg.), Stanford Encyclopedia of Philosophy. (http://plato.stanford.edu/entries/intentionality-ancient/). Alloa, Das durchscheinende Bild, S. 11 und 70 vermerkt, dass eine Relektüre von Aristoteles’ De anima, wie sie schon Brentano betrieb, aber auch der Husserl-Schüler Heidegger (der später Aristoteles zur Einführung in die Husserl’sche Phänomenologie be560 561

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ner Lehrer Brentano und baut ihn weiter aus, sodass er zu einem der Grundbegriffe seiner Phänomenologie wird. Brentano hatte als zentrale Eigenschaft des Mentalen eine »Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt« ausgemacht: »In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urtheile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, im Hasse gehasst, in dem Begehren begehrt, usw.« 565 Es ist diese Gerichtetheit des Bewusstseins, die sich auf etwas bezieht und für Inhalte des Mentalen sorgt. Bereits in den »Logischen Untersuchungen« macht Husserl deutlich, was alles zu solchem Bewusstsein gehört: Über Descartes’ cogito hinausgehend (der hatte dazu »Einsehen, Wollen, Einbilden und Wahrnehmen« 566 gezählt) nennt Husserl »Wahrnehmungen, Phantasie- und Bildvorstellungen, die Akte des begrifflichen Denkens, die Vermutungen und Zweifel, die Freuden und Schmerzen, die Hoffnungen und Befürchtungen, die Wünsche und Wollungen, u. dgl., so wie sie in unserem Bewusstsein vonstattengehen, Erlebnisse oder Bewusstseinsinhalte« (LU II/1 347). 567 Alle intentionalen Erlebnisse zusammen machen das Bewusstsein aus, und dazu gehören auch die objektiv schwer zu fassenden Qualia, ganz subjektive Empfindungen wie z. B. der Geschmack eines besonderen Rotweins. Weidtmann weist auf diese unhintergehbare und von außen nicht zu beschreibende Dimension von Subjektivität hin, die nur von innen erlebt werden kann. »Jede bloß messende Beschreibung stellt deshalb eine Abstraktion dar, die den Gegenstand nie in seiner Fülle zu fassen vermag. […] Nun ist der intentionale Gegenstand freilich immer einem Subjekt gegeben. Man könnte daraus folgern, auch der intentionale Gehalt des Bewusstseins sei ›bloß subjektiv‹. Das freilich würde Husserls Anliegen geradezu auf den nutzte), Aristoteles als Phänomenologen avant la lettre ausweisen kann, da dieser nicht nur die Grundstruktur der Intentionalität, Bewusstsein von etwas zu sein, bereits formuliert, sondern auch φαίνόμενα in seiner Platon-Kritik nicht als sekundär, sondern als Grundlage aller Forschung sieht und Lebensweltorientierung anmahnt. Doch diese Verwandtschaft war Husserl nicht bewusst, er hatte eher einen »persönlichen Hang zu Platon, dessen Gedanken einer Einsicht in die Idee er als Vorbild seiner eidetischen Wesensschau ansah«. (ebd., S. 69) 565 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, S. 124. 566 Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, S. 8. 567 In LU II/1 § 86 erörtert Husserl drei Begriffe von Bewusstsein, reflektiert ihren Zusammenhang und kritisiert den Rückgang Brentanos auf auf die scholastische Vorstellung von »mentaler Inexistenz« bei psychischen Akten oder intentionalen Erlebnissen.

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Der philosophische Bilderstreit

Kopf stellen.« 568 Denn es geht um die Erforschung des Bewusstseins und seiner Korrelate. Intentionalität als Grundstruktur des Bewusstseins bedeutet also, »Bewusstsein von etwas zu sein«, im expliziten cogito gilt zum Beispiel: »Wahrnehmen ist Wahrnehmen von etwas, etwa einem Dinge; ein Urteilen ist Urteilen von einem Sachverhalt; ein Werten von einem Wertverhalt; Wünschen auf einen Wunschverhalt, usw. Handeln geht auf Handlung, Tun auf Tat, ein Lieben auf Geliebtes, sich Freuen auf Erfreuliches usw. In jedem aktuellen cogito richtet sich ein von dem reinen Ich ausstrahlender ›Blick‹ auf den Gegenstand des jeweiligen Bewusstseinskorrelats, auf das Ding, den Sachverhalt usw. und vollzieht das sehr verschiedenartige Bewusstsein von ihm.« 569

Husserl unterscheidet also zwischen intentionalem Akt (und nennt diesen in Bezug auf das cogito »Noesis«) und dem im Akt gewussten cogitatum, das er »Noema« nennt. Die intentionalen Akte stehen aber nicht isoliert für sich: Der »Strom« des Bewusstseins verweist auf die grundlegende Zeitstruktur des inneren Erlebens, sodass auch auf vergangene Eindrücke zurückgegangen werden kann. 570 Diese Fähigkeit, Erlebtes aus der Erinnerung zurückzurufen und mit den aktuellen Wahrnehmungs- oder auch Vorstellungsakten zu korrelieren, nennt Husserl Retention: Vergangene intentionale Akte, also Vorstellungen, Wünsche etc., besonders kürzliche, können zurück und im Bewusstsein verfügbar gehalten werden, sind also im Bewusstsein kopräsent und haben die jeweiligen intentionalen Inhalte zum Gegenstand, wenn auch nicht mehr so unmittelbar. Husserl spricht hier von »Abschattungen« früherer intentionaler Akte, denn eine Reihe von Retentionen trägt »sozusagen in Form einer Abschattungsreihe das Erbe der Vergangenheit in sich«. 571 Diese Fähigkeit der Appräsentation erlaubt es uns z. B., über momentane Hörwahrnehmungen einzelner Töne hinaus eine Melodie zu erkennen oder wiederzuerkennen. Aufgrund von sedimentierten Erfahrungen stellt das intentionale Bewusstsein 568 Weidtmann, Phänomenales Bewusstsein und Intentionalität, in: Frank /Weidtmann (Hg.) Husserl und die Philosophie des Geistes, S. 109. 569 Husserl, Ideen I, S. 188. 570 Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, S. 8. 571 Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, S. 32.

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aber auch einen Horizont für weitere zukünftige Aktintentionalität bereit: Es gibt nicht nur die Aktualität, sondern auch die Potentialität des intentionalen Lebens, was Husserl als »weitere(n) Grundzug der Intentionalität« hervorhebt: »zu jeder äußeren Wahrnehmung gehört die Verweisung von den eigentlich wahrgenommenen Seiten des Wahrnehmungsgegenstandes auf die mitgemeinten, noch nicht wahrgenommenen, sondern nur erwartungsmäßig und zunächst in unanschaulicher Leere antizipierten Seiten – als die nunmehr wahrnehmungsmäßig kommenden, eine stetige Protention, die mit jeder Wahrnehmungsphase neuen Sinn hat.« 572

Diese Fähigkeit der Protention erlaubt uns, z. B. unter Kenntnis der typischen Kompositionstechniken Mozarts, auf der Basis früherer Erfahrungen das Ende einer Melodie zu antizipieren und zu erwarten. Und gleiches gilt natürlich für in die Zukunft gerichtete Wünsche, »Wollungen«, Hoffnungen, Schmerzempfindungserwartungen (wie bei der Abfolge der Symptome eines jährlich wiederkehrenden grippalen Infekts). Denn Husserl wollte ja das intentionale Bewusstsein nicht wie Descartes einseitig kognitiv auslegen, sondern wirklich auf dem Boden der innerlich erlebten Subjektivität landen. Dabei sind unsere Bewusstseinserlebnisse zeitlich geordnet: Wenn ich z. B. einen Unfall zwischen einem Auto und einem Radfahrer beobachte, findet eine ganze Sukzession von intentionalen Erlebnissen statt: »Ich urteile, dass der PKW-Fahrer den Radfahrer mit seinem Auto anfuhr, ich zweifle, ob der PKW-Fahrer das Halteschild bemerkt hat, ich hoffe, der Radfahrer möge nicht schwer verletzt sein. Ich erwarte, dass die herbeieilende Ambulanz dem Radfahrer helfen kann, usw. Mein Sehen und Hören, d. h. meine Wahrnehmungen, meine Urteile, meine Wünsche und Erwartungen etc., aber auch die sinnlichen Empfindungen wie Farbempfindungen und Geräuschempfindungen sind Erlebnisse meines Bewusstseins. Werde ich vor Gericht als Zeuge gehört, so wiedererinnere ich das Sehen, Hören, Urteilen, Wünschen, Erwarten, also die Erlebnisse, die mit der Beobachtung des Unfalls zusammenhängen […].« 573

572 Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 46. Ein gutes Beispiel für Protention veranschaulicht Magrittes Bild »Hellsehen«, bei dem der im Bild befindliche Maler ein Ei ansieht und – im Sinne von Blochs Ästhetik des Vorscheins einen Raubvogel auf die Leinwand malt. 573 Süßbauer, Intentionalität, Sachverhalt, Noema, S. 63.

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Es ist dieser Begriff von »Erlebnis«, der Husserl schon in »Logische Untersuchungen« beschäftigt und der verdeutlicht, dass hier keine substanzontologische Auffassung von Bewusstsein vorliegt. Wir befinden uns vielmehr in einem Erlebnisstrom, 574 dessen intentionale Strukturen auf die Welt gerichtet sind, um »strömende Wahrnehmungsgegenwart«. 575 Gleichzeitig aber steht das Ich in sich, es entwickelt Habitualitäten zu bleibenden Typen der Dingerfahrung: »Träger von Habitualitäten kann es aber nur sein, weil es durch seine mannigfachen Noesen hindurch als identisches verharrt, genauer: weil es als jeweilige Funktionsgegenwart der Noesen zugleich auch stehende und beharrende Funktionsgegenwart ist, weil es, anders gesagt, sich nicht in den einzelnen Noesen verliert, sondern ›Verharren in Selbsterhaltung‹ oder ›Selbstaufbewahrung‹ unter ›Fortpflanzung des Selbsterwerbes im Selbst‹ ist, oder weil es, noch einmal anders gesagt, als stehend-strömendes ›in sich und mit sich in innerer Kontinuität‹ ist.« 576

Dieses scheinbare Paradox erklärt Held damit, dass jedem Vorkommnis im intentionalen Wahrnehmungsleben eine Zeitstelle in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft zugewiesen wird, das bei seinem Durchgang durch das »Jetzt als stehende und bleibende Form aktueller Anwesenheit« den Stempel der einen Gegenwart aufgeprägt bekommt und nur so zum verflossenen Jetzt, zum gegenwärtig Gewesenen des Bewusstseins werden kann. 577 Diese lebendige Urgegenwart ist die Seinsweise des transzendentalen Ich, das eine Selbstzeitigung durch noetische Akte erlebt und sich dabei gleichzeitig auch als leibliches Ich erfährt. 578 Das führt zur Urkonstitution von Identität und Individualität. Es geht dabei auch um »die noetischen Mannigfaltigkeiten des Bewusstseins und deren synthetische Einheit«: Zwar vollziehe sich »in noematischer Hinsicht Auslegung, Verdeutlichung und evtl. Klärung des bewusstseinsmäßig Vermeinten, des gegenständlichen Sinnes«. Doch sei intentionale Analyse »geleitet von der Grunderkenntnis, dass jedes cogito als Bewusstsein zwar im weitesten Sinne Brauner, a. a. O., S. 32. Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, S. 17. 576 Held, Lebendige Gegenwart, S. 88 konnte Manuskripte des Husserl-Archivs Köln einsehen und bezieht sich hier auf Ms A V5, S. 11 (1933) und auf Ms C16 VII, S. 6 (ebenfalls 1933). 577 Held, Lebendige Gegenwart, S. 31 f. 578 Held, a. a. O., S. VII f und X. 574 575

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Meinung seines Gemeinten ist, aber dass dieses Gemeinte in jedem Moment mehr ist […] als was im jeweiligen Moment als explizit Gemeintes vorliegt.« 579 Denn kein Bewusstsein ohne Bewusstes: Die bewusstseinsimmanenten Inhalte gehören als andere Seite der Aktintentionalität mit hinzu, denn wir haben immer etwas »im Sinn«, 580 wir »zielen« immer auf etwas »ab«. 581 Das Woraufhin der bewusstseinsmäßigen Gerichtetheit konstituiert also zugleich auch die Noemata. Und auch hier ereignet sich Horizonthaftes: Zum Beispiel sind die je wechselnden Perspektiven für Seherfahrungen zu erforschen, und »das bloß unanschaulich Mitgemeinte (wie die Rückseite)« kann sich erhellen »durch Vergegenwärtigung der potentiellen Wahrnehmungen, die das Unsichtliche sichtlich machen würden«. 582 Also besteht auch für die Noemata ein offener Erwartungshorizont, der dem Horizont des Noetischen entspricht, auch wenn die Phänomenologie alles Gegenständliche ausschließlich in diesem Bereich als Bewusstseinskorrelat erforscht. Es ergibt sich also auch eine Ontologie der Bezugsgegenstände. Doch ist die Beziehung auf Gegenständliches keineswegs als Relation zu denken. Es ist für Süßbauer wichtig festzuhalten, dass es sich bei der Intentionalität um ein einstelliges Attribut gewisser Erlebnisse handelt. So habe Husserl schon in den Cartesianischen Meditationen festgehalten: »Intentionalität als Grundeigenheit meines psychischen Lebens bezeichnet eine reale, mir als Menschen wie jedem Menschen hinsichtlich seiner rein psychischen Innerlichkeit zugehörige Eigenheit […].« 583 Keinesfalls darf man sich eine zweistellige Relation zwischen dem Bewusstsein und seinen externen Korrelaten vorstellen, die möglichst noch als innere Bilder bzw. Abbilder von außen nach innen projiziert werden: »Die rohe Sprechweise von inneren Bildern« sei, wie bereits zitiert, »überhaupt zu vermeiden« (LU II/1). Alloa sieht darin »ikonoklastische Anwandlungen […] als AusHusserl, Cartesianische Meditationen, S. 49. Husserl, Ideen I, S. 185. 581 In den Logischen Untersuchungen II/1, S. 378 verwendet Husserl den bildhaften Vergleich des »Abzielens«, des Zielens auf etwas für die Aktintentionalität. 582 a. a. O., S. 50. 583 Süßbauer, a. a. O., S. 371 zitiert Husserl, CM S. 84. 579 580

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druck einer grundlegenden Skepsis gegenüber allen dualen Mentalismen«, denn es werde nun deutlich, »dass sich der Husserl’sche Erscheinungsbegriff mit demjenigen einer Zweiweltenlehre […] nicht vereinbaren lässt«. Überhaupt sei auffällig, »wie Husserl die originäre Anschauung von jeglicher Form von symbolischer […] Auffassung scharf abtrennt, in der er immer noch Relikte eines solchen Zweiwelten-Repräsentationalismus vermutet«: »Die Polemik gegen den Bildbegriff taucht nahezu exakt an all jenen Stellen auf, an denen Bilder mit Repräsentanten oder Zeichen gleichgesetzt werden. Als das Paradigma originärer und leibhaftiger Anschauung – so lautet die lapidare Empfehlung – dürfe der Wahrnehmung kein ›Zeichen – oder Bildbewusstsein‹ unterschoben werden.« 584

Es muss um Unvermittelheit und Unmittelbarkeit der inneren Erlebnisse gehen. Das Ich ist also ein lebendiges Gegenwärtigungszentrum, für Fasching »die Rettung des Subjektiven vor dessen Marginalisierung in einer objektivierten Welt«. 585 Man kann nun sehen, wieso ein subjektives Bewusstsein durch die Grundstruktur des intentionalen Gerichtetseins nicht nur als Ort, sondern auch als Quelle alles Objektiven aufgefasst werden kann: Das Objektive ist dem Subjektiven immanent. Damit erweist sich, dass Husserl mit seiner Konzeption des intentionalen Bewusstseins noch hinter den cartesischen Dualismus zurückgeht, der von Kant später als Gegensatz von Subjektivem und Objektivem gedeutet wurde. Fasching geht sogar so weit, dieses »Einander-nicht-äußerlich-Sein von Bewusstsein und Wirklichkeit« mit den »in vielen mystischen Traditionen berichteten Erfahrungen der Nichtdualität von Subjekt und Objekt« zu parallelisieren. 586 3.3.1.4 Erfahrung und Weltkonstitution Mit den noetischen Akten und den entsprechenden Noemata sind wir immer noch im Bereich des Bewusstseins. Wie aber soll eine Ontologie der Lebenswelt über Erforschung der Bewusstseinskorrelate möglich sein, ohne dass wir eine Art Repräsentation der Objektwelt im Bewusstsein annehmen? Wie kann subjektive Erfahrung zu einer ob584 Alloa, a. a. O., S. 181. Den Begriff »Ikonoklasmus« in Bezug auf Husserl verwendet auch Därmann, Tod und Bild, S. 207. 585 Fasching, a. a. O., S. 24 f. 586 a. a. O., S. 11.

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jektiven Welt führen, die wir mit anderen Menschen teilen? Husserls transzendentale Egologie sieht ja zunächst nur das monadische Ich für sich. Kann man aus diesem Solipsismus überhaupt entkommen? Wie kann man aus der Genesis der noetischen Prozesse heraus überhaupt Geltung für irgendetwas beanspruchen, das über meinen kleinen Kreis von Subjektivität hinausgeht und nicht als fiktiv gelten muss? Husserl selbst fragt: »Aber wie kann dieses ganze, in der Immanenz des Bewusstseinslebens verlaufende Spiel objektive Bedeutung gewinnen? Wie kann die Evidenz […] mehr beanspruchen als ein Bewusstseinscharakter in mir zu sein?« 587 Zunächst muss man sehen, dass Husserl die Intentionalität als »Bewusstsein von etwas« ausdrücklich von der Beziehung auf Gegenständliches unterscheidet. 588 Er hatte bereits in den Logischen Untersuchungen festgehalten, dass die Wahrnehmung gegenüber der Imagination dadurch charakterisiert ist, »dass in ihr der Gegenstand ›selbst‹ und nicht bloß ›im Bilde‹ erscheint. […] Die Imagination erfüllt sich durch die eigenartige Synthesis der Bildähnlichkeit, die Wahrnehmung durch die Synthesis der sachlichen Identität, die Sache bestätigt sich durch sich ›selbst‹, indem sie sich von verschiedenen Seiten zeigt und dabei immerfort die eine und selbe ist.« (LU II/ 2,56) Doch »der Gegenstand ist nicht wirklich gegeben, er ist nämlich nicht voll und ganz als derjenige gegeben, welcher er selber ist. Er erscheint nur ›von der Vorderseite‹, nur ›perspektivisch verkürzt und abgeschattet‹ u. dgl. […] Wäre die Wahrnehmung überall, was sie prätendiert, wirkliche und echte Selbstdarstellung des Gegenstandes, so gäbe es, da ihr eigentümliches Wesen sich in diesem Selbstdarstellen erschöpft, für jeden Gegenstand nur eine einzige Wahrnehmung.« (LU II/2, 56 f)

Da es viele inhaltlich verschiedene Einzelwahrnehmungen eines und desselben Gegenstandes gibt, muss man als Leistung des erkennenden Bewusstseins ein genetisch-synthetisches Tätigsein hervorheben, das die Gegenstände als solche erst konstituiert. 589 Für viele Interpreten hat sich Husserl damit auf den Weg in den Idealismus gemacht. Doch gegen Kants Lehre vom stets unerreichbaren und unerkennbaren »Ding an sich« formuliert Husserl:

587 588 589

Husserl, Cartesianische Meditationen, S 85. Husserl, Ideen I, S. 268. Süßbauer, Intentionalität, Sachverhalt, Noema, S. 373.

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»Es ist also ein prinzipieller Irrtum zu meinen, es komme die Wahrnehmung (und in ihrer Weise jede andersartige Dinganschauung) an das Ding selbst nicht heran. Dieses sei an sich und in seinem Ansich-Sein uns nicht gegeben. […] Diese Ansicht ist aber widersinnig […].« 590

Auch wenn das »Sich-Geben in Abschattungen« (man mag hier an Platons Schattenbilder in der Höhle denken) zum Sein des Raumdinges gehört, so gibt es (anders als bei Platon) »keine wahre Welt hinter der phänomenalen«. 591 Auch Süßbauer möchte eine realistische Deutung versuchen. Für ihn hat sich mit der Konstitutionslehre, die Husserl ja spätestens seit den Ideen I verfolgt, eigentlich dessen Rede von Intentionalität »nur als bildliche Umschreibung in Analogie«, »nur als eine façon de parler« erwiesen. Denn es sind eher die deskriptiven und genetischsynthetischen Leistungen des Bewusstseins, durch die sich die Selbstgebung der Gegenstände als solche für uns vollzieht. Süßbauer betont zudem, dass Wahrnehmungserfahrungen, und damit auch jedes Gegenstandsbewusstsein – was bei Kant eher marginalisiert wird – nur durch unsere psychophysischen Empfindungen zustande kommen, die an einen leiblichen Organismus gebunden und ihrerseits verursacht sind. 592 Mit »Leib« ist im Gegensatz zum »Körper« immer der beseelte Leib gemeint; er ist von innen erlebbar, aber als Teil der Objektwelt auch »von außen« erfahrbar (zum Beispiel bei Selbstberührungen) und in die Kausalkräfte der äußeren Natur eingestellt. Er ist sich also als Subjekt (für die Welt) und als Objekt (in der Welt) erfahrbar. In dieser Doppelfunktionalität muss der Leib gleichsam als »Umschlagstelle zwischen Innen und Außen, bzw. zwischen Subjekt und Welt« eine Mittlerposition einnehmen. 593 Dabei sind die leiblich gebundenen Wahrnehmungsempfindungen aber nicht rezeptiv, spätestens seit den Ideen II befasst sich Husserl mit Kinästhesen: »Nunmehr resultieren die Sinneseindrücke aus einem Sichbewegen des Körpers, der Arme, des Kopfes, der Augen. Da ich im Verlauf einer bewussten Wahrnehmung diese ganz zielgerichtet bewege, um meine Eindrücke zu Husserl, Ideen I, S. 89. Fasching, a. a. O., S. 44. 592 Süßbauer, a. a. O., S. 373. 593 Breyer, Intersubjektive Erfüllungen. Zur Funktion der Aufmerksamkeit in der transzendentalen Genesis der Fremderfahrung, in: Römer (Hg.), Subjektivität und Intersubjektivität in der Phänomenologie, S. 151–162, hier S. 156. 590 591

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ergänzen oder zu vervollständigen, sind sie immer mit dem Bewusstsein des Sichbewegens verknüpft. […] Visuelle, akustische, taktile Sinnesfelder verändern sich jeweils mit der Veränderung des kinästhetischen Organs.« 594

Wahrnehmungserfahrungen geschehen also in Sukzession, und sie sind gebunden an leibliche Erfahrungen des Sehens, Hörens, Tastens (»Be-greifens«) usw. Objektwahrnehmung ist für Husserl zunächst ein sinnlicher Akt und »Urmodus der Anschauung« (auch er privilegiert ganz abendländisch das Sehen; doch Prechtl hält »Anschauung« auch für einen Analogiebegriff 595). Ihr Gegenstand ist als er selbst und gegenwärtig vorstellig. 596 In der Wahrnehmung steht der Gegenstand »als leibhafter da, er steht, genauer gesprochen, als aktuell gegenwärtiger, als selbstgebender im aktuellen Jetzt da«. 597 Und auch wenn er sich konkret nur in »Abschattungen« gibt, synthetisiert das erkennende Bewusstsein die sukzessiven Wahrnehmungserfahrungen (sie sind in der Selbstgebung des Gegenstandes ja implizit mit enthalten) und konstituiert so die Identität der jeweiligen Gegenstände. Es handelt sich also um Ver-gegenständlichung, um eine »Objektivierung« der Erkenntnisobjekte unserer Wahrnehmungserfahrungen. Neben der Erfahrung der Objektwelt gehört für Husserl auch das Urteilen als prädikativ-synthetische Leistung mit zur Erkenntnis hinzu, wobei ja bereits das Identitätsurteil ein Urteil ist. Doch geht es darüber hinaus auch um Prädikationen, mit denen Erkenntnisobjekte zueinander in Beziehung zu setzen sind, wenn Sachverhalte erfasst werden sollen. Die »gegenständliche Evidenz« ist dabei Vorbedingung »möglichen evidenten Urteilens«. 598 Dabei identifiziert Husserl »Evidenz« mit Selbstgegebenheit: »Sollen die Urteile evidente Urteile sein, so genügt es nicht, dass irgendwie irgendwelche Gegenstände vorgegeben sind, und dass sich das Urteilen auf sie richtet, dabei bloß den Regeln und Prinzipien genügend, die in Hinsicht Prechtl, Edmund Husserl, S. 89 f. Prechtl, Edmund Husserl, S. 66: »An Husserls Verwendung der Begriffe ›Anschauung‹ und ›Intuition‹ wird ersichtlich, dass er beide nicht auf den Bereich der sinnlichen Anschauung […] begrenzt versteht, sondern jede Bewusstseinsart meint, die […] die ihr entsprechenden Gegenstände im Modus des ›Selbst-da‹ zur Gegebenheit bringt.« 596 Husserl, Krisisschrift, S. 107, sowie Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung, S. 86. 597 Husserl, Ding und Raum, Hua XVI, S. 14. 598 Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 11. 594 595

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auf seine Form durch die Logik vorgezeichnet sind. Vielmehr stellt das Gelingen der Erkenntnisleistung auch seine Anforderungen an die Weise der Vorgegebenheit der Gegenstände selbst in inhaltlicher Beziehung. Sie müssen ihrerseits so vorgegeben sein, dass ihre Gegebenheit von sich aus Erkenntnis, und das heißt evidentes Urteilen, möglich macht. Sie müssen selbst evident, als sie selbst gegeben sein.« 599

Damit haben die Urteile Geltung. So werden nicht nur genetischsynthetisch einzelne Erkenntnisobjekte, sondern auf der zweiten Stufe auch Sachverhalte konstituiert (die Gegenstände sind dabei nur »Urteilssubstrate«, 600 wie die Urteile beim logischen Schließen). Wenn nach Wittgenstein die Welt alles das ist, »was der Fall ist« (der berühmte erste Satz des Tractatus, TLP 1), handelt es sich damit um Weltkonstitution. Doch zur Welt gehören auch andere Subjekte, die ebenfalls über einen Eigenleib verfügen, und es muss nun auch um Intersubjektivität gehen, denn erst die intersubjektive Kommunikation ist wirklich sinnstiftend für die Welt. 601 Die Beschränkung auf die begrenzten Perspektiven eines einzelnen Subjekts kann weder für die Objektwahrnehmung noch die der Wirklichkeit insgesamt hinreichen. Nun gehört zur Objektwahrnehmung auch die Wahrnehmung fremder Körper, denen wir aufgrund der Ähnlichkeit in Bewegung und Verhalten ein Leibbewusstsein appräsentieren, d. h. »ich verstehe seine Bewegung als seine Kinästhesen, ich übertrage mein kinästhetisches Bewusstsein auf einen anderen Körper. Damit unterschiebe ich diesem ein eigenständiges transzendentales Ego. […] So ist mir mit jedem anderen Körper ein anders Ich mitgegenwärtig.« 602 (Einfühlung kann zu Verstehensprozessen führen, doch eine Schaufensterpuppe ohne Kinästhesen wird schnell als andersartig erfasst.) Dieses aufgefundene Alter Ego ist ebenfalls weltkonstituierend und hat eigene Perspektiven auf die Gegenstände der Wahrnehmung und die Welt als Ganzes. Wallner macht nun ein »Intersubjektivitätsparadox« aus, denn der Andere ist sowohl konstituiertes Objekt in der Welt (von mir aus gesehen) als auch konstituierendes Subjekt für die Welt (aus seiner Binnenperspektive). Ich bin also zugleich empirisches

a. a. O., S. 12. ebd. 601 Pugliese, Lebenswelt als theoretisches und praktisches Korrelat, in: Römer (Hg.), a. a. O., S. 109–122, hier S. 112. 602 Prechtl, a. a. O., S. 101. 599 600

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Subjekt (für den anderen) und transzendentales Subjekt (für mich selbst). Erscheint der Andere aber als von mir konstituiertes Objekt in der Welt, damit als innerweltlicher Gegenstand, wie kann er dann ein Alter ego sein? Der prinzipielle egologische Ansatz Husserls, so die Kritik, sei nicht in der Lage, »die prinzipielle Selbständigkeit des Anderen qua Alter ego, qua fremder Subjektivität, zu fassen«. 603 Doch Zahavi hält dagegen, dass an der Konstitution wahrer Objektivität bzw. Transzendenz notwendig immer mehrere transzendentale Ich beteiligt sein müssen. D. h., dass ich Objektivität und Transzendenz im strengen Sinn nur dann erfahren kann, wenn ich ein seinerseits erfahrendes alter ego erfahre. Denn allein dann, wenn ich die Welt als eine auch von anderen Subjekten wahrnehmbare erfahre, ist sie mir als objektive – d. h. nicht auf meine Akte reduzierbare – gegeben. 604 »Für die Objektivität der Welt bedeutet das eine Vielzahl von Weltperspektiven, die sich zu einer Einheit zusammenschließen. Die Einheitsbildung vollzieht sich in einem Prozess synthetischer Identifizierung der verschiedenen gegenständlichen Sinneinheiten. Erst durch die synthetische Differenzierung wird die intersubjektiv begründete Objektivität der Welt erreicht.« 605

Der Andere ist also sowohl konstituiert als auch konstituierend. 606 Die wechselseitige Konstitution von Ich und Du muss aber anders als bei Buber begründet werden. (Dessen Gründung in einem dialogischen »Zwischen«, dem Reich der Begegnung, käme wohl für Husserl mit seinem strengen fundierungslogischen Anspruch einer petitio principii gleich, denn dieses Zwischen wird und soll sich ja erst erweisen. 607) Husserls Lösung ist die Annahme eines »Ur-Ich«, 608 in dessen Horizont die Mitsubjekte als ebenfalls mit-konstutierende mit603 Wallner, Husserls »Paradoxie der Intersubjektivität«, in: Römer (Hg.), a. a. O., S. 95–108, hier S. 99. 604 Zahavi, Husserl und die transzendentale Intersubjektivität. Eine Antwort auf die sprachpragmatische Kritik, S. 27 f. 605 Prechtl, a. a. O., S. 102. Daher beschäftigt Husserl sich auch intensiv mit den Themen Motivation (u. a. im 2. Kapitel von Die Konstitution der geistigen Welt, S. 42– 111) und Einfühlung (und hatte sogar seine Doktorandin Edith Stein auf dieses letztere Thema angesetzt). 606 Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, II, S. 369 f. 607 Vgl. Wallner, a. a. O., S. 102 sowie Theunissen, Der Andere, S. 273. 608 Husserl, Krisisschrift § 56: »Ich als Ur-Ich konstituiere meinen Horizont der trans-

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gedacht sind, doch dem hat Waldenfels entgegengehalten, so werde die Welt, dadurch dass Husserl alles Fremde aus dem Ich hervortreten lässt, zu einer Welt, in der alles nur noch für es ist. 609 Diesem Appropriationsvorwurf hält Wallner entgegen, dass es sich nicht um einen ontologischen, sondern methodischen Primat dieses Ur-Ich handele; und gerade mit der nicht-ursprünglichen Gegebenheitsweise des Anderen erkenne man die genuine Fremdheit des Anderen durchaus an. Schließlich habe Husserl selbst überlegt, dass das Eigenwesentliche des Anderen bloß Moment meines Eigenwesens wäre, wenn es in direkter Weise zugänglich wäre. 610 »Der von Husserl entdeckte methodische Primat des Ur-Ich unterminiert also nicht die Selbständigkeit und Fremdheit des alter ego, da jener nur besagt, dass ich es bin, der die Selbständigkeit und die Fremdheit des anderen erfasst.« 611

Die Tatsache, dass ich den Anderen (als konstituierend) konstituiere, widerspricht also nicht der Fremdheit und Selbständigkeit des Anderen, doch eine Spannung bleibt, da Husserl »den Anderen einerseits als selbständig und andererseits als Korrelatphänomen der ersten transzendentalen Subjektivität« fasst. 612 Insofern ist für Wallner die scheinbar widersprüchliche Doppelbestimmung des fremden Anderen als konstituiert und konstituierend »notwendig für eine nichtsolipsistisch verstandene Phänomenologie«. 613 Über die Anerkennung des Anderen als Anderen hinaus aber braucht es, so Breyer, Aufmerksamkeit, auch eine »Sprache der Aufmerksamkeit, die keine kategoriale Sprache ist, sondern eine sinnliche, wahrnehmende«. Denn wenn die anschauliche Komponente fehle, wenn man ein Gegenüber nur aufgrund kategorialer Festlegungen anerkenne, sei Anerkennung nicht mehr als »Achtung ohne Aufmerksamkeit«. 614 zendentalen Anderen als die Mitsubjekte der die Welt konstituierenden transzendentalen Intersubjektivität.« 609 Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs, S. S. 111 und 83. 610 Wallner, a. a. O., S. 104 und Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 139. 611 Wallner, a. a. O., S. 104. 612 a. a. O., S. 105 613 a. a. O., S. 106. 614 Breyer, Intersubjektive Erfüllungen. Zur Funktion der Aufmerksamkeit in der transzendentalen Genesis der Fremderfahrung, in: Römer (Hg.), a. a. O., S. 161 und Waldenfels, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit beim frühen Husserl, in: Philosophische Rundschau 52 (2005), S. 302–310, hier S. 309.

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»Das alte Motiv der Anerkennung kommt der Aufmerksamkeit nahe, aber ohne die Überraschungen der Aufmerksamkeit, die das jeweilige Selbstund Fremdbild erschüttern, läuft die Anerkennung auf eine bloße Wiedererkennung hinaus.« 615

Breyer fordert daher mit Waldenfels ein »Ethos der Attentivität«, ein »Ethos des Zusehens, des Zuhörens und des Lesens« mit einer vorprädikativen, prädiskursiven und pränormativen Dimension des Sich-aufeinander-Einlassens. 616 Und hier kann sich auch eine Sozialontologie anschließen. 617 Die gemeinsam von den Mit-Subjekten konstituierte Intersubjektivität wird nie in Zweifel gezogen, in der Tat ist ja – gegen den Solipsismusvorwurf – auch die von ihr konstituierte Lebenswelt als Ganze von Anfang an da und bleibt da, sie muss nur – da Sinnhaftigkeit nicht verstanden würde, wenn man sie einfach voraussetzte – aus methodischen Gründen »eingeklammert«, d. h. außer Kraft gesetzt werden, 618 damit ein Rückgang in den fundierenden Grund möglich wird. Die scheinbare Paradoxie einer immer schon vorhandenen Lebenswelt als Vorbedingung und Horizont für die sich in ihr entfaltenden Subjekte, die diese aber immer erst gemeinsam konstituieren, entschärft Pugliese mit der Unterscheidung zwischen einer empirischen und transzendentalen Betrachtungsweise: »Empirisch gesehen besteht die Welt nämlich vor der jeweiligen historischen und kulturellen Begegnung der Subjekte und stellt dadurch den vorhandenen Raum ihres Austausches dar. Die transzendentale Perspektive deckt hingegen die notwendigen Sinngebungen auf, die von den Subjekten ausgehen und die Gegebenheit der Lebenswelt allererst hervorbringen.« 619

Waldenfels, ebd. Breyer, a. a. O., S. 161. 617 In § 51 von Die Konstitution der geistigen Welt denkt Husserl über »Die Person im Personenverband« nach. Es ist vielleicht weniger bekannt, dass Husserl eine Sozialontologie entwickelt hat, die idealiter in der Idee der »Liebesgemeinschaft« kulminiert. Über sein Konzept der Einfühlung und »Sozialitäten der Gleich- und Unterordnung« hinaus hat er auch eine Staatsphilosophie entwickelt, in der dem Staat die Aufgabe zukommt, Garant dieser allgemeinen Entwicklungsbewegung zu sein, indem er Konflikte schlichtet und Rechtssicherheit garantiert. Vgl. dazu Schuhmann, Husserls Staatsphilosophie, Teil I und II. 618 ebd. 619 Pugliese, Lebenswelt als theoretisches und praktisches Korrelat, in: Römer (Hg.), a. a. O., S. 112. 615 616

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Der philosophische Bilderstreit

Es verbleibt die Aufgabe der Hermeneutik, und daher muss man mit Stenger – aus der Sicht der interkulturellen Philosophie – nun doch einen ernsthaften Einwand festhalten: Auch wenn der Andere in Analogie zu meinen eigenen originären Leiberfahrungen als alter ego erfasst wird, kann er doch, zumindest ohne intensiven intersubjektiven Austausch, in seiner spezifischen Eigenart nicht erfasst werden, denn »was ich erfasse ist das Andere, ein Allgemeines von Andersheit. […] Was sich zeigt, ist eben bloß ein Ausdruck«, hinter dem sich »ein völlig anderes Kultur- und Weltverständnis verbergen könnte«. Stenger führt als Beispiele die völlig andere Bedeutung des Lächelns in Japan an, sowie die kulturspezifisch andere Bedeutung von »Natur«. Husserl identifiziere »Natur« und »Naturbezug« mit »Objekt« und »Objektbezug«. 620 (Und erweist sich damit übrigens klar, wie bereits in Teil I dargelegt, als in cartesischer Tradition stehend.) Was aber, so fragt Stenger, »wenn ›Natur‹ in einer wichtigen Hinsicht gar nicht im Modus der Gegenständlichkeit erfahren wird und auch gar nicht wahrgenommen werden kann – wie dies etwa die japanische Naturerfahrung und Ästhetik eindrucksvoll demonstrieren –, sondern als ein Geschehen gesehen wird, an dem der Mensch wesensmäßig Anteil hat, so dass er als Teil der Natur erst den Sinn seines Menschseins erfährt?« 621

Hier könnte auch die oben geforderte Aufmerksamkeit für Differenzen an Grenzen stoßen, da man oft dazu neigt, das Eigene unbefragt zu verallgemeinern. (»Notwendig stellen wir«, so Husserl, »(die Welt) in dem Stil vor, in dem wir die Welt schon haben und bisher hatten«. 622) 3.3.1.5 Bildbewusstsein und Bildwelt Auch für die Bildwahrnehmung braucht es Intentionalität. Wie bereits erwähnt, hat sich Husserl schon früh massiv gegen die Abbildvorstellung in Bezug auf innere Bilder nach Art einer Projektion des Äußeren ins Bewusstsein gewehrt hat; in der Tat ist die Unterscheidung von Innen und Außen ja mit dem Begriff der Intentionalität und der Vorstellung der bewusstseinsimmanenten Gegenstände und Sachverhalte fraglich geworden. 620 621 622

Stenger, Philosophie der Interkulturalität, S. 191 ff. ebd. Husserl, Hua VI, 28 f.

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Därmann konstatiert hier einen »ikonoklastischen Kampf Husserls gegen eine Gleichsetzung von Wahrnehmung und innerer Abbildlichkeit«, gegen das »repräsentationslogische Original-AbbildDenken«. 623 »Indem Husserl dem Wahrnehmungsbewusstsein den bloßen Abbildcharakter streitig macht, gibt er der Bildlichkeit ihre Eigenfunktion zurück.« 624

Doch im Bereich materieller Bilder hinterfragt Husserl das Abbilden (und Repräsentieren) zunächst nicht und orientiert sich an einer traditionellen Bildvorstellung. Es geht ihm aber um das immanente Bildbewusstsein, weniger um einen bildtranszendenten Gegenstand, da »die Bezugnahme auf ein reales individuelles Vorbild dem Bildbewusstsein nicht wesentlich ist«. 625 (Die Phantasie erlaubt auch die Darstellung von Kentauren.) Bereits in § 111 der Ideen I (von 1913) wird das Bild bzw. das Bildbewusstsein zum Thema. Husserl beschäftigt sich hier mit den intentionalen Akten des Wahrnehmens, Erinnerns (hier fällt bereits der Begriff der reproduktiven Vergegenwärtigung) und der Phantasie. 626 Auf der Basis dieser phänomenologischen Betrachtung entwickelt Husserl bereits hier seine Trias (ganz anders als die von Morris und Peirce für die Semiotik entwickelte), und zwar am Beispiel eines Kupferstichs von Dürer, der in seinem Zimmer gehangen haben soll: 627 »Korrelat der normalen Wahrnehmung ist das Ding ›Kupferstichblatt‹. […] Dem perzeptiven Bewusstsein erscheinen in den schwarzen Linien farblose Figuren ›Ritter auf dem Pferd‹, ›Tod‹ und ›Teufel‹. Diesen sind wir aber in der ästhetischen Betrachtung nicht als Objekten zugewendet, zugewendet sind wir dem ›im Bilde‹ Dargestellten, genauer, den ›abgebildeten‹ Realitäten, dem Ritter aus Fleisch und Blut, etc.« 628

Das Bild selbst scheint also transparent: Wir nehmen eher nicht das materielle Substrat »Kupferstichblatt« und auch nicht auf ihm die »schwarzen Linien« wahr, sondern schauen wie durch ein Fenster Därmann, Tod und Bild, S. 19. Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 209. 625 Haardt, Bildbewusstsein und ästhetische Erfahrung bei Edmund Husserl, in: Kämpf /Schott (Hg.), Der Mensch als homo pictor?, S. 105–113, hier S. 106. 626 Husserl, Ideen I, S. 224 f. 627 Waldenfels, Bildhaftes Sehen, in: Kapust/Waldenfels (Hg.), Kunst. Bild. Wahrnehmung. Blick, S. 31–50, hier S. 33 628 Husserl, a. a. O., S. 226. 623 624

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hindurch auf die abgebildete Realität, doch außer bei den sog. »Trompe l’oeils«, die ihren Bildcharakter bewusst verbergen, sind Verwechslungen eigentlich eher nicht intendiert. Das ergibt – wie bei Phantasiebildern – eine eigenartige Zwischenstellung des Bildes zwischen Schein und Sein: »Das abbildende Bildobjekt steht weder als seiend noch als nichtseiend noch in irgendeiner Setzungsmodalität vor uns.« 629 Es gibt also das materielle Bildding, die abbildende Darstellung, »Bildobjekt« genannt (für Wiesing ein dezidiert antisemiotischer Begriff« 630), und die Referenz auf das Dargestellte – von Husserl auch Bildsujet 631 genannt –, und diese drei Dimensionen des Bildhaften geraten in »Widerstreit« 632 miteinander, wenn sie zu Verwechslungen Anlass geben. Wie können wir angesichts solcher fast transparenter Bilder, deren Bildhaftigkeit uns eher bewusst würde, wenn sie opak wären, wenn wir nicht durch sie hindurch sehen würden bzw. könnten, zu einem Bewusstsein ihrer Bildlichkeit gelangen? »Wie kann man etwas sehen« (»das eigentliche Bild der Imagination«), »dem man ansieht, dass es nicht da ist? 633 (Später nimmt Husserl als Beispiel eine Madonna von Raffael und geht dann zu einem Foto seiner Tochter über, das schwarz-weiß ist bzw. Graustufen aufweist, einen Riss haben kann etc. (PB 28/26). Für Haardt ist es bemerkenswert, dass Husserl die ikonographische Ebene der Bilddeutung überspringt und so z. B. nicht verständlich wird, wieso »die menschenähnliche ein Stundenglas in der Hand haltende Gestalt hinter dem Ritter als Todesdarstellung identifiziert werden kann«. 634 In seiner erst viel später zugänglichen Vorlesung vom WS 1904/5 zu »Phantasie und Bildbewusstsein« führte Husserl die Zusammenhänge weiter und differenzierter aus. Es geht ihm um den intentionalen Akt der Bildwahrnehmung, also um Bildanschauung, und da sind symbolische oder signitive Reebd. Wiesing, Artifizielle Präsenz, S. 30 f. 631 vgl. auch Husserl, Phantasie und Bildbewusstsein, S. 25. 632 Husserl, Phantasie und Bildbewusstsein, S. 53 f/51 f. Ich zitiere zukünftig diese Ausgabe (mit einer Einleitung von Marbach), die insgesamt weniger umfangreich ist als die in Husserliana XXIII enthaltenen Ausführungen zu »Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung« als »PB«. Da die Seitenzahlen voneinander abweichen, gebe ich zusätzlich danach die Seitenzahlen der Hua-Ausgabe an. 633 Die Frage stammt von Wiesing, Phänomene im Bild, S. 44. 634 Haardt, a. a. O., S. 107. 629 630

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ferenzen (von denen er sich bereits in den Logischen Untersuchungen, da sie auf Konventionen beruhen, distanziert) eher hinderlich, ja sie wirken dem Bildschauen sogar entgegen. »Das Bildobjekt bedeutet nichts, nämlich nichts in der Weise eines Symbols, es weist nicht von sich weg, aus sich heraus […], als ob die Intention des Bildes und des Abgebildeten sich nebeneinanderlegen und ein Hinweis des einen auf das andere erfolgen würde, sondern in sich hinein.« (PB 39/37) (my italics) »Der meinende Blick wird bei der symbolischen Vorstellung von dem Symbol hinweggewiesen; bei der bildlichen Vorstellung auf das Bild hingewiesen. Um uns den Gegenstand vorstellig zu machen, sollen wir uns in das Bild hineinschauen; in dem, was darin Träger der Bildfunktion ist, sollen wir den Gegenstand dargestellt finden, je lebendiger wir dies erfahren, umso mehr ist uns das Sujet im Bild lebendig, und ist darin veranschaulicht, vergegenwärtigt.« (PB 36 f/34 f)

Semiotische Analysen von Bildern »tendieren dazu, nicht wirklich ›ins Bild zu schauen‹, sondern alles als etwas dem Bild Äußerlichen – etwa Kultur, Gesellschaft oder Geschichte – anzusehen«. 635 Denn »im Bildbewusstsein sind wir daran interessiert, wie sich etwas im Bilde darstellt«, und je mehr wir uns in ein Bild hineinsehen, »umso eher geht der Zeichencharakter verloren«. 636 Für Lotz besteht die Leistung des frühen Husserl vor allem darin, »[1] eine einfache Zweiteilung der Bildintentionalität (Repräsentant – Repräsentiertes) durchbrochen und [2] eine eidetische Trennung von Zeichen- und Bildbewusstsein entwickelt zu haben«. 637 Zeichenhafte Verweisungen werden also als nachrangig aufgefasst, das Bildobjekt »stellt dar, es vergegenwärtigt, verbildlicht, veranschaulicht. Das Sujet blickt uns gleichsam durch diese Züge an« (PB 32/30). Dieses Geschehen ist aber fiktiv: »Bei einem vollkommenen Porträt, das die Person nach allen Merkmalen (die irgend Merkmale sein können) vollkommen darstellt, ja schon bei einem Porträt, das dies in sehr ungenügender Weise tut, ist uns so zumute, als wäre die Person selber da. Aber die Person selbst gehört in einen anderen Zusammenhang wie das Bildobjekt.« (PB 34/32)

635 Lotz, Christian, Im Bilde sein. Husserls Phänomenologie des Bildbewusstseins, in: Neuber et al. (Hg.), Das Bild als Denkfigur, S. 167–181, hier: S. 175. 636 Lotz, a. a. O., S. 175 und S. 173. 637 Lotz, a. a. O., S. 169.

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Daher unterscheidet Husserl zwischen Fiktum, Faktum und Imaginatum. Das Faktum ist das Bildding, der materielle Bildträger, das perzeptive Fiktum das Bildobjekt, das trotz seiner Irrealität sichtbar ist, und das Imaginatum stellt den Bezug zum Dargestellten her. So kann man in einem Bild mit einem 1 � 1 m großen Rahmen etwa einen Gegenstand von 100 m Länge sehen. Für Wiesing verhindert »diese sichtbare Unmöglichkeit […], dass man bei der bildlichen Imagination jemals so unmittelbar bei der Sache ist wie beim Sehen.« 638 Das Bildobjekt ist als »Fiktum ein Wahrnehmungsobjekt, aber ein Scheinobjekt« (PB 56/54), es eignet ihm eine »artifizielle Präsenz«. 639 Da es mit der wirklichen Gegenwart streitet, ist es »als bloßes Bild, wie sehr es auch erscheint, ein Nichts« (PB 48 /46). Das Bild, obgleich fast transparent, bietet sich – vermittelt durch das Bildding, den Bildträger – im Bildobjekt der Wahrnehmung dar, es bringt die Erscheinung des Sujets hervor. Die das Bild erfassenden intentionalen Akte konstituieren den Bildinhalt für uns, sodass wir das Bild als Bild erfassen, und Husserls Dynamisierung der ontologischen Dreiteilung schließlich deutet das Bildsehen als Prozess, in dem »Bildding und Bildobjekt […] ersetzt (werden) durch die sie konstituierenden Bewusstseinsleistungen, nämlich Phantasiebewusstsein und Wahrnehmungsbewusstsein.« 640 Bildbewusstsein also konstituiert sich prozesshaft. 641 Für Därmann ist »diese schöpferische und hervorbringende Leistung der Intentionalität beinahe wie eine immaterielle Malerei ohne Pinsel und Leinwand«; und sie findet schon in den Logischen Untersuchungen »erste tastende Versuche hin zu einem erweiterten Bildbegriff«: 642 »Der Wahrnehmungsakt verwandelt sich derart in eine im Entstehen begriffene, deutende, verbildlichende (und also nicht abbildende) schöpferische »Realisation« der Erscheinung des Erscheinenden, einer Darstellung des sich Darstellenden.« 643 Bereits in den Logischen Untersuchungen habe sich die Frage nach dem gemeinten

Wiesing, Phänomene im Bild, S. 50. Wiesing, Artifizielle Präsenz, S. 36. 640 Lotz, a. a. O., S. 176. 641 Lotz, a. a. O., S. 168. 642 Därmann, a. a. O., S. 194 f. 643 Därmann, a. a. O., S. 194 bezieht sich u. a. auf LU II/1 (in der Hua-Notation XIX/1 S. 81, 169, 395, 397, 399) 638 639

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Gegenstand verschoben auf die Frage, »wie sich das Bild als solches in einem intentionalen Bewusstsein konstituiert«. 644 Die Wahrnehmung bildet das Bildobjekt beim Bildsehen also nicht in sich ab, sie konstituiert es vielmehr erst als solches. Es ist weder materiell noch immateriell und doch keine Illusion. Doch erst in seinen späteren Schriften, etwa ab 1918, löst sich Husserl vom Paradigma des Abbildens (s. PB 211/514). Husserl vergleicht nämlich die bildliche Darstellung mit einer Theaterinszenierung, in der das Bühnenbild (das erst aufgebaut werden muss) als Staffage dient; es sind fiktive Möbel, Häuser etc., die auch den Schein des Realen erwecken, die durch die Darsteller in eine fiktive Handlung einbezogen werden, in die wir uns mit unserer Phantasie hineindenken. In seiner »Revision der früheren Theorie des Bildbewusstseins als Abbildlichkeit, näher ausgeführt am Schauspiel« (PB 211 f/514 f), so seine Überschrift, geht es ihm um »Bildlichkeit im Sinn der perzeptiven Phantasie als unmittelbare Imagination«. Die Darstellung des Schauspielers mit seiner äußeren Erscheinung, seinem Mienenspiel, seiner Gestik und seinen Tätigkeiten (die übrigens sein Werk sind) bringt ein »Bild« zur Erscheinung, das den Charakter des »als-ob« hat, illusionär ist, und wir nehmen diese Scheinwelt nicht in der Weise der normalen Wahrnehmung wahr, wir messen sie auch nicht an irgendeiner äußeren Realität, da von vorneherein klar ist, dass die Darsteller »quasi-Wirklichkeiten« darstellen. Und in diese Bildwelten können wir uns hinein phantasieren (PB 214 f/517 f). Die Kunst – auch die erzählende Kunst – bietet also eine Fülle von perzeptiven Fiktionen (auch rein fiktiven, Husserl erwähnt die phantastischen Märchen von E. T. A. Hoffmann, und zu seiner Zeit löste sich ja auch die Malerei von der Darstellung des Gegenständlichen). Hatte Husserl früher in Bezug auf das Erinnern von »reproduktiver« Phantasie gesprochen, da in der Retention intentionale Noesen (und die entsprechenden Noemata) zurückgerufen werden, um einen Wahrnehmungshorizont auch für zukünftige Wahrnehmung zu konstituieren, so geht es nun nicht mehr um Re-Produktion; es geht eigentlich – wie beim Theater – um Produktion. Husserl unterscheidet die reproduktive Phantasie denn auch von der eikonischen Phantasie, die »gar kein aktuelles Wirklichkeitsbewusstsein erweckt« (PB 168 f/ 383 f). »Die pure Phantasie« leistet dann ein »Umschaffen der vor644

a. a. O., S. 204.

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schwebenden Dinge« (Hua XXIII 533; die Stelle fehlt leider in PB). Die Wahrnehmung des Betrachters 645 wird hier also im Falle der entstehenden »quasi-Wirklichkeiten« in eine umfassende Phantasieauffassung eingebettet. Husserl entgrenzt also schließlich den traditionellen Bildbegriff, der so »nicht mehr von ontologischen Vorgegebenheiten abhängig« 646 ist. Und damit geht es beim Bildbewusstsein um eine universale Konstitutionsleistung des intentionalen Bewusstseins. Mit Lacoue-Labarthe kann man daher festhalten, dass Husserl »den Mimetismus dem klassischen Denken der imitatio entreißt und im Licht einer rigorosen Mimetologie neu durchdenkt«. 647 Das Bilden steht nun im Zentrum. Waldenfels sieht hier »eine bahnbrechende Erneuerung der Bildkonzeption«, da Husserl mit der »Dekonstruktion einer erkenntnistheoretischen Bildtheorie, in der die äußeren, realen Dinge durch innere Bilddinge verdoppelt werden«, ein »Bildbewusstsein (aufweist), in dem die Intentionalität eine spezifische Form annimmt«. 648 »Deshalb hat die phänomenologische Bildbetrachtung teil an der phänomenologischen Epoché, die den normalen Blick anhält, und an der phänomenologischen Reduktion, die vom Gesehenen auf das Sehen, von Seh- und Bildgehalten auf das Blickereignis zurückgeht. […] Ohne diese entscheidende Weichenstellung droht die Phänomenologie des Bildes in einer Bilderbuch- oder einer Kunstbuchphänomenologie zu enden, die sich an Sichtbares hält, ohne die Sichtbarkeit und Bildlichkeit selbst zu thematisieren.« 649

3.3.2 Imagination und Imaginäres bei Jean-Paul Sartre (1905–1980) Sartre verlor seinen Vater früh und wuchs im Hause seines Großvaters Charles Schweitzer im Elsass auf, fühlte sich nirgendwo richtig zugehörig, wusste aber schon früh, dass er wie sein Großvater 645 Lotz, a. a. O., verwendet leider häufig den Begriff des Rezipienten, der aber nicht passiv ist, wie der Begriff suggeriert, sondern höchst aktiv. 646 Lotz, a. a. O., S. 180. 647 Lacoue-Labarthe, Die Fiktion des Politischen, S. 123. 648 Waldenfels, Bildhaftes Sehen, in: Kapust/Waldenfels (Hg.), Kunst. Bild. Wahrnehmung. Blick, S. 32. 649 ebd.

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»schreiben« würde 650. In der französischen linksintellektuellen Szene und weit darüber hinaus gelangte er zu ungeheurer Publizität und prägte mit seinem Existentialismus das Lebensgefühl einer ganzen Generation. Sein Denken bewegt sich, wie man sehen wird, zwischen Husserl und Heidegger, Hegel und Marx und hat mit der Kombination der Begriffe Imagination und Entwurf neue Aktualität für die Theorie digitaler Bildlichkeit ghewonnen. 3.3.2.1 Existenzphänomenologie und Entwurf »Wohl keine Philosophie hat das französische Denken der 40er und 50er Jahre stärker geprägt als die Phänomenologie. Sie bildet den dauerhaften Kern dessen, was der Öffentlichkeit in der pathetischeren Gestalt des Existentialismus bekannt wurde. Dabei ist die Phänomenologie […] kein bloßer Ableger, sondern durchaus ein Eigenprodukt. Frankreich hat Husserl und Heidegger gefunden, aber seinen Husserl und Heidegger, gemäß eigenen Traditionen. Ein glücklicher Umstand ist es, dass auf diese Weise die Phänomenologie fortlebte und sich fortentwickelte, nachdem sie in Deutschland von den politischen Machthabern weitgehend zum Schweigen verurteilt worden war.« 651

Sartre selbst berichtet, dass die ursprünglich kritische Bewegung des Cartesianismus, die letzten Endes über die Kraft des cogito zur Aufklärung und zur Französischen Revolution 652 geführt hatte, sich erschöpft hatte, denn eine Philosophie bleibe nur so lange wirksam »wie die Praxis, der sie entstammt, vorhanden ist und sie trägt und erhellt«. 653 Eine philosophische Krise, als Ausdruck einer sozialen Krise, sei durch die »Erstarrung der Philosophie« eingetreten, »bedingt durch Widersprüche, welche die Gesellschaft zerrütten«. 654 Der etablierte Idealismus konnte mit seiner Lebensferne vielen der damaligen Philosophen angesichts einer »morschen Gesellschaft« 655 nicht mehr genügen: »Was uns jedoch interessierte, das waren die wirklichen Menschen mit ihrer Arbeit und ihren Sorgen, Zur weiteren Biographie s. z. B. Biemel, Jean-Paul Sartre in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 7–23. 651 Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, S. 15. 652 vgl. etwa Glucksmann, Descartes c’est la France, dt: Die Cartesianische Revolution. Die Geburt Frankreichs aus dem Geist der Philosophie. 653 Sartre, Marxismus und Existentialismus, S. 8. 654 a. a. O., S. 10 und S. 9. 655 a. a. O., S. 9. 650

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wir forderten eine Philosophie, die das alles berücksichtigte und sich von allem Rechenschaft gab.« 656 Bergson hatte das Klima einer antiidealistischen Philosophie vorbereitet, Jean Wahls Buch Hin zum Konkreten machte Furore, nicht ohne die Dialektik der Hegel’schen Phänomenologie ihrer idealistischen Züge zu entkleiden; 657 und es war »gewiss kein Zufall, dass in Frankreich die Einbürgerung der Phänomenologie mit einer Renaissance des Hegelianismus und auch des Marxismus zusammengeht«. Doch »ähnlich wie im Falle Hegels blieben die philosophisch wichtigsten Schriften von Marx, Engels und Lenin jahrzehntelang unübersetzt«. 658 Und Marx war ohne Hegel nicht verständlich. Sartre stellte fest, dass das philosophische Establishment die StudentInnen von diesen Schriften fernhalten wollte, 659 und führte schon im Studium wöchentliche Gespräche mit dem bereits älteren japanischen Philosophen Shūzō Kuki, der nach seinem Abschluss in Tokyo in Heidelberg, Marburg und dann Freiburg studiert hatte und Sartre später einen Kontakt zu Heidegger vermittelte. 660 Für Sartres Zeitgenossen Merleau-Ponty war die Phänomenologie nicht so sehr eine neue Philosophie, als etwas, auf das sie längst gefasst waren, 661 und es ging nach einer Zeit des offiziellen Neukantianismus nun um »die drei H«: Hegel, Husserl und Heidegger. 662 Bereits das erste große Hauptwerk Sartres Das Sein und das Nichts (Untertitel: »Versuch einer phänomenologischen Ontologie«) beginnt mit einem impliziten Bezug auf Husserl: »Das moderne Denken hat einen beachtlichen Fortschritt gemacht, indem es das Existierende auf die Reihe der Erscheinungen, die es manifestieren, reduzierte. Man wollte damit eine gewisse Zahl von Dualismen überwinden, die das philosophische Denken in Verlegenheit gebracht hatten, und sie durch den Monismus des Phänomens ersetzen.« (SN 9)

Zuerst habe man sich des Dualismus entledigt, der »im Existierenden das Innere dem Äußeren entgegensetzt« – gegen die zwei Substanzen

a. a. O., S. 19. Waldenfels, a. a. O., S. 28. 658 a. a. O., S. 28 und 30. 659 Sartre, Marxismus und Existentialismus, S. 17 f. 660 Light, Shūzō Kuki and Jean-Paul Sartre. Influence and Counter-Influence in the Early History of Existential Phenomenology, S. 4 ff. 661 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 4. 662 Hastedt, Sartre, S. 33. 656 657

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des Descartes –; und in der Tat wird für Sartre Husserls Begriff der Intentionalität »fundamental«. Dadurch, dass das Bewusstsein immer gerichtet und Bewusstsein von etwas ist, hat es kein »Drinnen«: »Es ist nichts als das Draußen seiner selbst, und diese absolute Flucht, diese Weigerung, Substanz zu sein, konstituieren es als ein Bewusstsein.« 663 Es ist absolut notwendig, dass das Bewusstsein als Bewusstsein von etwas anderem als von sich selbst existiert, denn wie Husserl rechnet Sartre vorreflexive Dimensionen hinzu. 664 Schließlich sei Sein mit Heidegger In-der-Welt-sein (und dieses im Sinne von Bewegung gedacht), 665 und da wir uns »nicht in irgendeinem Schlupfwinkel« entdecken werden, »sondern auf der Straße, in der Stadt, mitten in der Menge, Ding unter Dingen, Mensch unter Menschen«, 666 ist es Schluss mit dem, was Nietzsche »die Illusion der Hinterwelt« genannt hat: Es gibt kein eigentliches Sein hinter dem Sein, sondern nur Phänomene, und zwar im Sein. Sartre unterscheidet hier zwischen dem »Phänomen des Seins«, das das ist, was erscheint, und dem »Sein des Phänomens«, das transphänomenal ist und das »die Bedingung jeder Enthüllung (ist): es ist das Sein zum Enthüllen und nicht enthülltes Sein«. (SN 16) 667 Das entspricht Heideggers ontisch-ontologischer Differenz (vgl. Teil 4.1), in der das Sein auch nicht hinter oder vor dem Seienden angesetzt wird. Der Dualismus von »Drinnen und Draußen« zu Beginn von SN ist strategisch geschickt gewählt, denn mit ihm kann Sartre auf weitere Dualismen anspielen: Auch der Dualismus von Sein und Erscheinung ist hinfällig, ebenso wie der von Erscheinung und Wesen (SN 11): 668 Die Erscheinungen sind im Sein, und Husserls Gedanke der Selbstgebung macht deutlich, dass sie im Sein ihr Wesen enthüllen, nicht erst in einem jenseitigen bloß gedachten ideellen Sein, von dem sie unendlich getrennt sind. Es gibt allerdings zwei Existenztypen, und hier adaptiert Sartre die Hegel’sche Begrifflichkeit: die an sich seienden Dinge, die allenSartre, Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls. Die Intentionalität, in: ders., Die Transzendenz des Ego, S. 35. 664 Sartre, a. a. O., S. 36 f. 665 a. a. O., S. 35. 666 a. a. O., S. 37. 667 Schumacher, Philosophie der Freiheit, in: ders. (Hg.), Das Sein und Das Nichts, S. 1–20, hier S. 9. 668 vgl. Damast, Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S. 36–62. 663

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falls für uns, aber nicht für sich sind, also kein Bewusstsein haben, in reiner Positivität, und das sie nichtende transzendierende für sich seiende Bewusstsein. (Im Sinne Heideggers wird das »Nichts« als Nichtung verstanden.) Denn das für sich seiende Bewusstsein ist nicht im Zustand reiner Innerlichkeit, es muss sich auf Ziele hin entwerfen und über seinen Jetztzustand immerfort hinausgehen. Das ist auch der Grund, weshalb die Intentionalität und mit ihr Sartres Theorie der Imagination so zentral ist, die er schon in seiner Examensarbeit entwickelt hatte. Anders als bei Descartes und Kant 669 ist das cogito hier persönlich und basiert auf einem präreflexiven cogito 670, das Sartre ICH (moi) nennt, im Unterschied zum reflexiven Ich (je), das als aktive Seite »nur auf dem Niveau der Menschheit erscheint« und nur eine Seite des ICH ist. 671 Dieses Ego ist nicht wie bei Husserl transzendental, aber es ist transzendent, 672 denn es wird »immer von dem, was es hervorbringt, überschritten […], obwohl es unter einem anderen Gesichtspunkt, das ist, was es hervorbringt«. 673 Es ist immer causa sui, Ursprung seiner selbst (das ist die Formulierung, mit der in der theologischen Tradition das Göttliche belegt wurde), es schafft sich selbst, denn »alles was das Ego hervorbringt, wirkt auf es ein; man muss hinzufügen: und nur das, was es hervorbringt«. 674 In seinem berühmten Vortrag Ist der Existentialismus ein Humanismus? hatte Sartre deutlich gemacht, dass der Mensch keineswegs den Plan eines Schöpfergottes a. a. O., S. 43 und 45. a. a. O., S. 80 f. Allerdings kritisiert Sartre auch, dass der spätere Husserl (ab den Cartesianischen Meditationen) das Ich in den Rang einer absoluten Monade erhebe und dem Solipsismus nicht entgehe. Den Idealismusvorwurf untersucht Damast, J.-P. Sartre und das Problem des Idealismus, S. 203 ff genauer und stellt fest, dass Sartre einen äußerst undifferenzierten Idealismusbegriff hat und sich im Wesentlichen auf die Beziehung von Sein und Erkennen bzw. Denken stützt. Seine Überlegungen seien wohl gegen die Vertreter des Neukantianismus in Frankreich, Brunschvicg und Lachelier, gerichtet (S. 206). Wir haben bereits gesehen, dass es bei Husserl die vom am Grund der Reduktionen entdeckten transzendentalen Subjekt ausgehende Konstitution des alter ego ist, die hier aus idealismuskritischer Perspektive zum Angriffspunkt werden kann. 671 Sartre, Die Transzendenz des Ego, S. 43. Die gleiche Unterscheidung finden wir bei Lacan sowie bei James und Mead (»me« / »I«). 672 Zu Sartres Husserl-Kritik in Bezug auf das transzendentale Subjekt s. näher Damast, a. a. O., S. 160–165 sowie Hengelbrock, a. a. O., S. 23–39. 673 Sartre, Die Transzendenz des Ego, S. 73. 674 a. a. O., S. 75. 669 670

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verwirkliche, 675 es gebe keine menschliche »Natur«, die ihn zu einer bestimmten Existenz bestimme. Gegen den christlichen Existentialismus eines Karl Jaspers oder Gabriel Marcel z. B. denkt er einen atheistischen Existentialismus: »Wenn der Mensch, so wie ihn der Existentialist begreift, nicht definierbar ist, so darum, weil er anfangs überhaupt nichts ist. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Also gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, um sie zu entwerfen. […] Der Mensch ist zuerst ein Entwurf, der sich subjektiv lebt […], nichts existiert dem Entwurf vorweg, nichts ist im Himmel, und der Mensch wird zuerst das sein, was er zu sein geplant hat […].« 676

Der Mensch ist also von nichts determiniert und muss sich in aller Freiheit mit Hilfe seiner Vorstellungskraft auf Ziele hin entwerfen, um sich dementsprechend durch seine Akte zu verwirklichen: Er macht sich selbst. Dafür muss das Ich seine gegenwärtigen Zustände negieren, um sich von ihnen absetzen zu können. (Für Sartre werden sowohl das Noch-Nicht der vorgestellten Zukunft als auch Abwesenheit und Nichtexistenz unter die Rubrik »Nichts« gefasst.) Das »Für-Sich« ist im Gegensatz zum Sein der Dinge »als das Sein gekennzeichnet, durch das die Negation in die Welt kommt«, weil »der Seinsmodus des Für-Sich die Negation seiner selbst zu sein hat, wie Sartre sagt: Nicht zu sein, was es ist; zu sein, was es nicht ist.« 677 Formallogisch ist das unsinnig, doch Sartre denkt im Sinne der Dialektik die Gegensätze dynamisiert und zeitlich: Das »nicht« ist immer ein »noch nicht«. Im Gegensatz zum An-Sich der Dinge (absolute »Kontingenz, bezugslose Identität, Überflüssigkeit« 678) hat das für sich Seiende die Möglichkeit der Differenz: Es kann aus den Kausalketten des an sich Seienden ausbrechen und sich davon absetzen. (Husserl hatte diesen grundlegenden Unterschied als Gegensatz von Immanenz und Transzendenz bezeichnet. 679) Man sehe hingegen den interessanten Versuch Thomas v. Aquins, menschliche Freiheit (liberum arbitrium) mit göttlichem Vorherwissen zusammenzudenken (Summa theologiae, qu. 22). 676 Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus? Drei Essays, S. 11. 677 Caws, Der Ursprung der Negation, in: Schumacher (Hg.), Das Sein und das Nichts, S. 45–62, hier S. 46. 678 Hengelbrock, Jean-Paul Sartre. Freiheit als Notwendigkeit, S. 53. 679 Husserl, Ideen I, S. 76. 675

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Der philosophische Bilderstreit

»Die permanente Möglichkeit des Nicht-seins außer uns und in uns« (SN 53) eröffnet einen neuen ontologischen Raum: Das »In-derWelt-Sein« wird in »(menschliches) Sein« und »Welt« aufgespalten; die Negation vollendet diese Spaltung und muss in doppelter Weise als die in jeder Bewusstseinsintention sich vollziehende Absetzungsnegation und gleichzeitig als bestimmende Überschreitungsnegation verstanden werden. 680 Dabei ist die konkrete Negation diejenige, die sich mit Hilfe des Bewusstseins auf Vorgegebenes, z. B. eine bestimmte Situation, beziehen kann, und daher zumindest inhaltlich als Fremdbestimmung interpretiert werden kann. Doch die bestimmende Negation mit ihrem überschreitenden Zukunftsentwurf muss als Selbstbestimmung aufgefasst werden. Dabei spielt die Fähigkeit des Bewusstseins zur Imagination die zentrale Rolle: Wäre das Bewusstsein nur bloß wahrnehmendes Bewusstsein, könnte es sich in der Welt auflösen. Nur das Bildbewusstsein ermöglicht in der jeweiligen Situation über die Visualisierung von Imaginärem eine transzendierende »Nichtung« der Welt, die Sartre unter Berufung auf Descartes (SN 84) als Freiheit auffasst. 681 Ganz anders als bei Hegel ist Freiheit hier nicht Einsicht in die Notwendigkeit der geschichtlichen Entwicklung (was Sartre auch zu einer Kritik der Dialektik führen wird), sondern die Notwendigkeit der Freiheit erweist sich als Bedingung jeder Entwicklung. Diese Freiheit ist die Kehrseite der Nichtung von Welt, denn in der »Annihilation«, in der (noch) Abwesendes vorausgesetzt wird, manifestiere sich »eine Kraft der Negation, Existenz zu verweigern«, 682 die sie gleichwohl zu einer positiven Kraft werden lässt, denn sie ist gemäß der beiden angeführten Arten von Negation sicherlich sowohl negative Freiheit (von etwas) als auch positive Freiheit (für etwas). »Das Nichts muss sein, um die Kraft der existentiellen Verweigerung zu besitzen, es muss einen Weg finden, sich am Sein zu beteiligen – oder, um es anders zu formulieren, es muss ein Sein geben, durch welches das Nichts zu den Dingen kommt.« 683

Das Nichts ist also nichts Jenseitiges (SN 51). Das Nichts muss intramundan sein: 680 681 682 683

Lutz-Müller, Sartres Theorie der Negation, S. 248 f. s. auch Hengelbrock, a. a. O., S. 58. Caws, a. a. O., S. 49. a. a. O., S. 50.

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Phänomenologische Bildtheorien: Sartre

»So bewirkt das Auftauchen des Menschen im Milieu des Seins, das ihn ›umschließt‹, dass sich eine Welt enthüllt. Aber das wesentliche und ursprüngliche Moment dieses Auftauchens ist die Negation. So haben wir also das erste Ziel unserer Untersuchung erreicht: der Mensch ist das Sein, durch das das Nichts zur Welt kommt.« (SN 83)

Die welttranszendierende Freiheit zum Entwurf des noch-nicht Seienden bei der Visualisierung von Zielen ist aber gekoppelt mit Angst (angoisse): Wir sind nicht frei, nicht mehr frei zu sein (SN 764), d. h. das Für-sich muss immer neu gemacht werden, wir sind unsere eigene Zukunft im Modus des Nicht-seins und müssen uns immer neu wählen als der, der wir sein wollen. Damit sind wir aber auch voll verantwortlich, und das nicht nur für uns selbst: »Tatsächlich gibt es nicht eine unserer Handlungen, die, indem sie den Menschen schafft, der wir sein wollen, nicht gleichzeitig ein Bild des Menschen schafft, so wie wir meinen, dass er sein soll. Wählen, dies oder jenes zu sein, heißt gleichzeitig den Wert dessen, was wir wählen, bejahen, denn wir können nie das Schlechte wählen. Was wir wählen, ist immer das Gute, und nichts kann für uns gut sein, wenn es nicht gut für alle ist.« 684

Hartmann beschreibt diese ethische Lehre als »kantianiserend«. 685 Wenn damit die Forderung der Nichtverzweckbarkeit (2. Formulierung des kategorischen Imperativs) gemeint sein sollte, so muss man anmerken, dass nicht aus einem objektiven oder intersubjektiven »gut für alle« der Maßstab für die eigenen Werte herrühren kann (wie man interpretieren kann, wenn man die Stelle aus dem Zusammenhang reißt), das wäre Fremdbestimmung und keine Freiheit. Vielmehr muss die Projektion nicht von außen nach innen, sondern andersherum laufen: Was für uns gut scheint, müssen wir auch für alle als gut bewerten. Wenn damit aber der später in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten hergeleitete Zusammenhang von Autonomie und Freiheit gemeint ist, muss man anmerken, dass es sich für Kant nur um eine innere Freiheit handelt, denn die »Autonomie der selbstgesetzgebenden Vernunft« muss sich auf der Basis der Entgegensetzung von mundus intelligibilis und mundus sensibilis mit Hilfe der Vernunft gegen die sinnenhafte Dimension des Menschen mit seinen Trieben und Neigungen behaupten, eine Hierarchisierung, die noch in Freuds »psychischem Apparat« wiederkehrt, in dem das 684 685

Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus? Drei Essays, S. 12. Hartmann, Sartres Sozialphilosophie, S. 38.

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Der philosophische Bilderstreit

»Ich« das »Es« bemeistern muss. Tatsächlich muss sich bei Kant der ethisch gut handelnde Mensch einem selbstformulierten Prüfprinzip von objektiver Geltung unterwerfen, wovon bei Sartre keine Rede sein kann. 3.3.2.2 Intersubjektivität und Dialektik Dieser radikal subjektivistische Ansatz wird relativiert durch Sartres Philosophie der Intersubjektivität. Bereits in seiner frühen Schrift Die Transzendenz des Ego hatte er Husserls Konzept des transzendentalen Subjekts kritisiert. Der Solipsismus, d. h. »die Gefahr eines Weltverlustes und einer monadischen Einsamkeit«, 686 die entsteht, wenn man eine Philosophie, wie Descartes, auf ein subjektives cogito gründet (denn wir können uns der Realität der Außenwelt und anderer Subjekte nicht sicher sein), muss unbedingt umgangen werden. Solange man glaubt, die »fundamentale Verbindung zum Anderen werde durch die Erkenntnis realisiert« (SN 424), bleibt die Cartesische Subjekt-Objekt-Spaltung ja bestehen. Sartre selbst konstatiert: »Die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts hat offenbar begriffen, dass man dem Solipsismus nicht entgehen konnte, wenn man das Ich-Selbst und den Anderen zunächst unter dem Gesichtspunkt zweier getrennter Substanzen betrachtete: jede Vereinigung dieser Substanzen muss ja für unmöglich gehalten werden.« 687 (ebd.)

Nehme man aber wie Heidegger nicht die Erkenntnistheorie als Anfang der Philosophie, finde man sich immer schon im Da-Sein, in einer Mit-Welt vor, denn »die Existenz des Anderen […] hat die Natur eines kontingenten und unreduzierbaren Faktums. Man begegnet dem Anderen, man konstituiert ihn nicht.« (SN 452) Wirklich »genial« ist aber für Sartre die »Intuition« in Hegels Phänomenologie des Geistes, nach der ich in meinem Sein vom Anderen abhänge: »Ich bin, sagt er, ein Fürsichsein, das nur durch einen anderen für sich ist.« (SN 432) Hier ist nun der Ort, zum besseren Verständnis auf Hegels Konzeption des Selbstbewusstseins einzugehen, die besonders mit dem zentralen Kapitel über die Herr-Knecht-Problematik nicht nur den Marxismus, sondern auch die französische Nachkriegsphilosophie be686 687

Hastedt, a. a. O., S. 69. ebd.

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Phänomenologische Bildtheorien: Sartre

sonders beeinflusst hat, das Alexandre Kojève in seiner epochemachenden Hegel-Vorlesung in den Mittelpunkt gestellt hatte. 688 Denn bei Hegel ist das reine für sich seiende Bewusstsein am Beginn der dialektischen Entwicklung des Geistes noch gar kein Selbstbewusstsein. Das Selbstbewusstsein ist nämlich »an und für sich, indem und dadurch, dass es für ein anderes an und für sich ist, d. h. es ist nur als ein Anerkanntes.« 689 Das einfache Fürsichsein ist sich selbst gleich »durch das Ausschließen alles andern aus sich; […] und es ist in dieser Unmittelbarkeit oder in diesem Sein seines Fürsichseins Einzelnes«; »sein Wesen und absoluter Gegenstand ist ihm Ich.« 690 (»Was anderes für es ist, ist als unwesentlicher, mit dem Charakter des Negativen bezeichneter Gegenstand.« 691) Das Fürsich aber kommt außer sich und sieht sich nach dieser (verobjektivierenden) Entäußerung in der Welt der Objekte anderen für sich seienden Entitäten gegenüber und kann sich erst aus dieser Außenperspektive heraus durch Vergleichung mit anderen Subjekten in seiner Spezifität und in Unterschiedenheit von anderem objekthaft Seiendem begreifen. Erst in der abstraktiven Synthesis, der ersten Einheit von an sich Seiendem und für sich Seiendem, entsteht auf einer höheren Stufe Selbstbewusstsein als Bewusstsein von Ichheit. (»Indem ein Selbstbewusstsein der Gegenstand ist, ist er ebensowohl Ich wie Gegenstand. – Hiermit ist schon der Begriff des Geistes für uns vorhanden.« 692) Das Ich spiegelt sich also in anderen für sich seienden Existenzen und kommt erst so zum Bewusstsein seiner selbst im Selbstbewusstsein. (Diese sich fortsetzende Triade eines Für-Sich, das sich ins Ansichseiende entäußert, sich so selbst im Anderen sieht, um auf einer höheren Stufe des Geistes – der alle Entgegensetzungen im doppelten Sinn des Wortes in sich aufhebt – wieder zu sich zurückzufinden, 693 macht für Hegel die Progression des Zeitgeistes »auf der jedesmaligen Stufe seiner EntWaldenfels, Phänomenologie in Frankreich, S. 28 f. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 141. 690 a. a. O., S. 143. 691 ebd. 692 a. a. O., S. 140. 693 a. a. O., S. 142: »Dieses doppelsinnige Aufheben seines doppelsinnigen Andersseins ist ebenso eine doppelsinnige Rückkehr in sich selbst; denn erstlich erhält es durch das Aufheben sich selbst zurück, denn es wird sich wieder gleich durch das Aufheben seines Andersseins; zweitens aber gibt es das andere Selbstbewusstsein ihm wieder ebenso zurück, es hebt dies sein Sein im andern auf, entlässt also das andere wieder frei.« 688 689

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wicklung« aus; und diese dialektische Eigendynamik des Geistes sieht den Menschen nur als Durchgangspunkt der Weltgeschichte, was Sartre als Totalisierung kritisieren muss, SN 433) Der Andere ist hier kein konkreter Anderer, obwohl »die Bewusstseine […] in einer gegenseitigen Verschränkung des Seins direkt aufeinander bezogen (sind)«; und so wählt Sartre unter Einbeziehung der leiblichen Dimensionen das Phänomen des Blicks (»regard«) und erklärt u. a. am Beispiel der Scham, dass man sich erst im Blick des Anderen, im Angeblicktwerden, seiner selbst bewusst wird. Damit ist man zwar immer (auch) noch Wahrnehmungsobjekt, aber die leibhaftige Anwesenheit des Anderen »verweist auf eine fundamentale Verbundenheit […] und realisiert sich in Situationen, wo ich mich vom Anderen angeblickt fühle«. 694 Dieser Blick verobjektiviert und entfremdet; er legt mich auf das fest, was ich momentan bin, und weist mir einen Platz zu »innerhalb einer Welt, die nicht länger mehr die meine ist […], bis ich schließlich dazu übergehe, meinerseits den Anderen in den Blick zu nehmen und zum Objekt zu degradieren«. 695 Die wechselseitige Objektivation ist auch wieder wechselseitige Negation des fürsichseienden Subjektiven, aber »der Andere erscheint uns in der alltäglichen Realität« (SN 458), und er bewirkt eine »Dezentrierung der Welt, die die Zentrierung, die ich in der gleichen Zeit herstelle, unterminiert« (SN 462). Mein Universum ist für den Anderen Objekt, aber man kann nicht »Objekt für ein Objekt sein […], es bedarf der radikalen Verwandlung des Anderen, die ihn der Gegenständlichkeit entkommen ließe.« (SN 464) Mein Angeblicktwerden macht den anderen also notwendigerweise zum Subjekt, und vice versa, denn »der Blick des Anderen (ist) als notwendige Bedingung meiner Objektivität Zerstörung jeder Objektivität für mich« (SN 485). (Hastedt fragt, ob Sartre nicht, wenn er »Heideggers Grundidee […] mit Hegel überblendet, doch wieder in Subjekt-Objekt-Kategorien verfällt und ob er »den gerade erreichten Durchbruch nicht gleich wieder verspielt, weil er echte Begegnungen mit dem Anderen gar nicht kennt«. 696) Sartre deutet die Beziehung zum Anderen vom Konflikt her und

694 695 696

Waldenfels, a. a. O., S. 89 (vgl. SN 457). ebd. Hastedt, a. a. O., S. 70 f.

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kann, z. B. auch in Liebesbeziehungen, nur in den Kategorien Sadismus und Masochismus (SN 662) denken: »Während ich versuche, mich vom Zugriff des Anderen zu befreien, versucht der Andere, sich von meinem zu befreien; während ich danach trachte, den Anderen zu unterwerfen, trachtet der Andere danach, mich zu unterwerfen.« (SN 638 f)

Diese dialektische wechselseitige Verklammerung kann aber nicht zu einem totalisierenden »Wir« führen, in dem Subjekt und Objekt ihr Fürsich- und Ansichsein verlieren und sich in einer höheren Einheit »aufgehoben« fühlen, es gibt außerhalb des – nur momenthaften – Sexualaktes nur das Objekt-Wir (SN 723 ff) und das Subjekt-Wir (SN 736 ff). Mein Blick verliert nämlich seine Macht, die Anderen zu Objekten zu machen, wenn wir, ich und die Anderen, schon selbst Blick-Objekte eines externen Dritten werden (SN 479). Und umgekehrt kann man durch die Erfahrung des gemeinsamen Angeschautwerdens nicht isoliert und verdinglicht werden. Solche Wir-Erfahrungen verweisen nur auf eine Erfahrung des Gemeinsam-Objekte-Seins oder des gemeinsamen Subjekt-Seins, und Sartre sieht nur »zwei radikal verschiedene Formen der Erfahrung des Wir, und diese beiden Formen entsprechen genau dem Erblickend-Sein und dem Erblickt-sein«, 697 die die grundlegenden Beziehungen des Für-sich zum Anderen konstituieren. Es gibt also keine abstraktive Synthesis, in der die Einzelnen »aufgehoben« wären, wohl aber erfährt man »plötzlich in der Welt des Dritten die Existenz von einer objektiven Gestalt-Situation […], in der der Andere und ich als äquivalente, solidarische Strukturen fungieren« (SN 726): »Ganz gleich, ob ein Einzelner sich als Individuum oder als Teil einer Gruppe erlebt, immer verdankt er diese Erfahrung einem äußeren Gegenüber.« 698 697 Waldenfels, a. a. O., S. 90 kritisiert u. a. »eine deutliche Einseitigkeit«: »Warum steht am Anfang der sprachlose Blick? Warum der Blick eines Fremden, der mich überrascht? Warum gerade der distanzierende oder gar feindliche und nicht der teilnehmende Blick?« Auch werde der Primat des Sehens unbefragt hingenommen, und die Argumentation sei nicht einleuchtend, »denn das Nichts, das dem Für-Sich anfänglich zugesprochen wurde, ist ein relatives Nichts, es besagt ›Nicht-Ding‹ und lässt sich nicht einfach in ein ›Nicht-Ich‹ transponieren. Die absolute Entgegensetzung braucht andere Gründe, sie erwächst aus dem Anspruch, die Subjektivität rein und unbegrenzt zu verwirklichen (SN 346 f), ein Anspruch, der durch eine phänomenologische Analyse des Blicks schwerlich erhärtet werden kann […].« 698 Möbuß, Sartre, S. 69.

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Im Blick des Dritten entdeckt man die ›Klasse‹ und übernimmt mit dem Wir-Bewusstsein eine »kollektive Entfremdung« (SN 733). Das ›Klassenbewusstsein‹ ist nämlich die Übernahme eines besonderen Wir aufgrund einer deutlich strukturierten kollektiven Situation, auf die man selbst keinen Einfluss nehmen konnte (SN 731). Suhr vermerkt, dass Sartre Hegels Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft vor allem in einer Kurzfassung für Schüler las (Bewusstseinslehre für die Mittelklasse von 1809 699); und es ist nun deutlich geworden, dass Sartre sich als Atheist von den Linkshegelianern angezogen fühlen musste und den Antagonismus einer herrschenden und einer beherrschten Klasse ins Auge fasste. Dass nach Marx, der nach eigenem Bekunden mit seinem Materialismus »Hegel vom Kopf auf die Füße« gestellt hatte, »die Ideen der herrschenden Klasse die herrschenden Ideen« sind, bestätigte sich für Sartre schon zu Beginn seines Studiums, denn die kommunistischen Studenten »hüteten sich sehr, sich auf den Marxismus zu berufen oder ihn gar in ihren Seminararbeiten zu erwähnen; sie wären bei allen Prüfungen durchgefallen«. 700 Für ihn und seine ebenfalls aus dem Bürgertum stammenden KommilitonInnen (zu denen auch seine spätere Partnerin Simone de Beauvoir gehörte) war aber keineswegs die Lage der Arbeiterklasse relevant, von der man »nur eine rein theoretische Kenntnis, aber keine Erfahrung« besaß: »Nein: Es war […] das Proletariat als Inkarnation und Vehikel einer Idee …« 701 Von hier ergibt sich der Gedanke der Be-freiung, und für den freien Entwurf seines Selbst ist die jeweilige Situation und das, was dazu geführt hat, also die jeweilige Vergangenheit einer Person, mitkonstitutiv (SN 856 f). Fornet-Betancourt erklärt dies am Beispiel eines Gefangenen, der sich auf das noch nicht Seiende hin entwerfen muss, also sich als frei auf den Straßen der Stadt imaginiert und so die Gegebenheit seines Gefangenseins als einen Mangel an Freiheitsbewegung erfahren kann. 702 Man kann nämlich das Zukünftige nur auf der Basis des Vergangenen entwerfen, das nicht einfach vorbei ist: »Unsere Vergangenheit begleitet uns immer, sie sucht uns heim; sie bleibt uns gegenwärtig«, 703 und wir können ihr durch unseren EntIn: Hegel, Nürnberger Schriften (nach Suhr, Sartre, S. 129). Sartre, Marxismus und Existentialismus, S. 17. 701 a. a. O., S. 18 f. 702 Fornet-Betancourt, Philosophie der Befreiung. Phänomenologische Ontologie bei Jean-Paul Sartre, S. 247. 703 ebd. 699 700

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wurf einen Sinn geben: »Wesen ist gewesen sein« (être est avoir été, deutsch im Original). Es kommt nur darauf an, was ich daraus mache: »Die Bedeutung meiner Vergangenheit hängt einzig und allein von der Wahl meiner selbst ab.« 704 Doch diese Wahl ist für viele in der Realität nur eingeschränkt möglich. Sartre, für den Intellektuelle automatisch Linksintellektuelle zu sein hatten, 705 wurde also Mitglied der kommunistischen Partei, aus der er erst anlässlich der russischen Besetzung Ungarns wieder austrat, und sein Engagement für die Unterdrückten sowie seine schonungslose Kritik am französischen Kolonialismus und an den Kriegen in Indochina und Algerien 706 brachten ihn – gegen den Terror der verhassten Bourgeoisie – auf Konfrontationskurs mit der offiziellen französischen Politik de Gaulles. 1968 stand er gegen das »Establishment« auf der Seite der Studentenrevolte und galt trotz mancher Verirrungen 707 doch als die intellektuelle Autorität und kritische Instanz im Frankreich seiner Zeit. 3.3.2.3 Husserl »vom Kopf auf die Füße gestellt« Für den freien Entwurf seiner selbst ist das intentionale Bewusstsein Husserls, hier als die Fähigkeit, Ziele zu imaginieren, zentral. Auch der Schlachtruf der Phänomenologen »Zu den Sachen selbst« war von einer antiidealistischen Warte aus neu und inspirierend. Doch hatte Husserl seit den »Ideen« im Ausgang von der alltäglichen Existenz der von Kultur und Wissenschaft geprägten Lebenswelt phänomenologische Reduktionen durchgeführt, die von allem Kontingenten und Inkonsistenten absehen sollten, um gegen die Sinnkrise zu den Sinna. a. O., S. 248. Sartre, Der Intellektuelle und die Revolution, S. 11. 706 a. a. O., S. 5 f: »die im Namen eines heuchlerischen Humanismus und Christentums geführt wurden und nur den Profit der Herrenmenschen auf Kosten der ›Untermenschen‹ zu sichern hatten« (so Reblitz im Vorwort). Sartre selbst: »Unsere Opfer kennen uns durch ihre Wunden und ihre Ketten: das macht ihr Zeugnis unwiderlegbar. Es genügt, dass sie uns zeigen, was wir aus ihnen gemacht haben, um zu erkennen, was wir aus uns gemacht haben. Ist das nützlich? Ja, weil Europa in Gefahr ist, zu krepieren. […] Ihr, die ihr so liberal, so menschlich seid, die ihr die Liebe zur Kultur bis zur Preziosität treibt, ihr scheint zu vergessen, dass ihr Kolonien habt, und dass man dort in Eurem Namen mordet […].« 707 So begeisterte er sich für den Stalinismus, predigte nach 1968 den Maoismus und besuchte den deutschen RAF-Terroristen (der »Rote Armee Fraktion«) Andreas Baader im Gefängnis. 704 705

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fundamenten dieser Welt zurückzufinden. Eine dieser Reduktionsstufen war die Ideierung, die Wesensschau, von der sich die Sinnhaftigkeit der Lebenswelt erschließen sollte. Bei Sartre ist es gerade umgekehrt: Es gibt kein wie auch immer geartetes objektives »Wesen«; jeder Einzelne muss sich sein Wesen in Freiheit selbst wählen und durch seine Akte erschaffen. Man muss also von der Existenz, von der jeweiligen Ichheit ausgehen; die Existenz geht der Essenz immer voraus. 708 Das bedeutet, dass »der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert«, 709 denn es gibt kein »Wesen« des Menschen, keine spezifisch menschliche »Natur«, obgleich man diese Idee überall wiederfinde, »bei Diderot, bei Voltaire und selbst bei Kant«. 710 Im 18. Jahrhundert sei zwar »in den atheistischen Lehren der Philosophen der Begriff Gottes abgeschafft« worden, »aber nicht ebenso sehr die Idee, dass die Essenz der Existenz vorangehe«. 711 Der atheistische Existentialismus, als dessen Repräsentant Sartre sich versteht, will, dass es mindestens ein Wesen (klarer: ens) 712 gibt, bei dem die Essenz der Existenz vorausgeht, das nicht durch irgendwelche Begriffsdefinitionen festgelegt wird, die ihm sagen, wie er zu sein hat, um Mensch, bzw. menschlich zu sein. Seine Wahl liegt in seinem Ermessen: »Er wird so sein wie er sich geschaffen haben wird«, auch »darum, weil er anfangs überhaupt nichts ist«. 713 In dieser Subjektivität konstituiert der Mensch sich selbst, als Produkt seiner freien Wahlakte, und eben darin liegt für Sartre die besondere Würde des Menschen im Vergleich zu den Dingen. Denn diese Theorie macht den Menschen nicht zum Gegenstand und entfremdet ihn in dieser Verobjektivierung, d. h. entfernt ihn von sich selbst. Er wird nicht zum Erfüllungsgehilfen dessen, was andere oder allgemeine Normvorstellungen von ihm erwarten: Der Mensch erfindet sich selbst, 714 und zwar in der jeweiligen geschichtlichen Situation immer neu. Ganz anders das transzendentale Ich bei Husserl: Es ist als das Residuum der phänomenologischen Reduktionen wie das cartesische Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus? Drei Essays, S. 9. a. a. O., S. 11. 710 a. a. O., S. 10 f. 711 a. a. O., S. 10. 712 Es ist anzumerken, dass »Wesen« im Deutschen sowohl ens als auch essentia bedeuten kann, was sich aus dem Zusammenhang erschließen muss. 713 ebd. 714 a. a. O., S. 25 und 17. 708 709

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cogito und das Kant’sche »Ichdenke« nicht individuell, es ist eine Gedankenfigur und vom empirischen Ego »radikal verschieden«. Auch ist »der Andere […] nie diese empirische Persönlichkeit, die sich in meiner Erfahrung vorfindet« (SN 426). Zwar verweist das transzendentale Subjekt von Anfang an auf andere Subjekte, aber nicht in ihrer Konkretion, sondern abstrakt, »als auf Bedeutungen«. Wir bleiben somit jeweils in unserer Interiorität befangen, der Andere erscheint uns als ein transzendentaler Begriff (SN 427 f). Husserl hat also für Sartre »das Sein auf eine Reihe von Bedeutungen reduziert« und kann ebenso wenig wie Kant dem Solipsismus entgehen (SN 428 f). Das transzendentale Subjekt, das »stark dem Kant’schen Subjekt ähnelt« (SN 426), kommt wie dieses also gar nicht in Kontakt mit der eigentlichen (realen) Wirklichkeit, diese bleibt transzendent. Hier muss angemerkt werden, dass gemäß Berkeleys esse est percipi für Sartre als »idealistisch« eine Bestimmung von »Sein« (bzw. »sein«) gilt, die dieses »als ›gedacht-‹, ›gesetzt-‹, ›erfasst-‹ oder – am besten – ›erkannt-werden‹« versteht, denn »›der‹ Idealismus soll die Überzeugung vom Primat der Erkenntnis beinhalten«. 715 Sartre hat hier also einen sehr eingeschränkten Begriff von Idealismus. Die »reelle« Transzendenz des Seienden auf Ziele hin kehrt das Verhältnis von Essenz und Existenz um, denn Sartre bleibt nicht im Bereich des Bewusstseins und denkt mit diesem Begriff Intentionalität und Entwurf zusammen, während bei Husserl ›Transzendenz‹ ein »immanenter, innerhalb des Ego sich konstituierender Seinscharakter« 716 bleibt. Der Prototyp eines solchen in der realen geschichtlichen Existenz sich frei auf ein anderes Wesen hin entwerfenden Menschen ist für Sartre der Revolutionär, den Sartre im 2. Teil von Materialismus und Revolution beschreibt 717, aber auch, wie wir später sehen werden, der Künstler. Sartre ist von der sog. »sozialen Frage« und u. a. der Situation der Arbeiterklasse schon, wie Hartmann berichtet, in jüngeren Jahren stark beeindruckt worden und habe sich als völlig vertraut mit marxistischen Begriffen und Denkschemata gezeigt, und als »soziale Zielvorstellung […] eine Negation der Negation« von Marx Damast, Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S. 155. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 117. 717 Sartre, Materialismus und Revolution, in: ders., Ist der Existentialismus ein Humanismus? Drei Essays, S. 77 ff. 715 716

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übernommen, 718 eine notwendige Überwindung der den Menschen entfremdenden Instanzen. Bei Entfremdung und Unterdrückung erscheint das Soziale als Leistung des dagegen handelnden Menschen, als »Leistung des Revolutionärs«, dem sich konkrete Imperative ergeben, vor allem im Negativen, in dem, was zu beseitigen ist. »In dieser Figur des Revolutionärs […] verkörpert sich eine Einheit von Sozialem und Ethischem.« 719 Sartre fand bei Marx und in dem von ihm »grundsätzlich« gebilligten 720 historischem Materialismus (»Histomat«) eine Theorie geschichtlicher Prozesshaftigkeit vor, mit der Marx Hegel »vom Kopf auf die Füße« gestellt haben wollte, denn die Hegel’sche Dialektik war eine Geistdialektik, deren Sinngebung Marx zwar beeindruckte, deren Antagonismen er aber in den Bereich realer gesellschaftlicher – und das heißt geschichtlicher, ökonomischer Verhältnisse, d. h. mit Bezug auf ihre »materielle Basis« verlegte: die Produktionsverhältnisse und die mit ihnen gegebene Klassengesellschaft von für sich seienden »Herren« und verdinglichten »Knechten«. Die Hegel’sche Geist-Dialektik wird so zu einer anthropologischen, ontologisierenden und geschichtsdeutenden Dialektik. Den dialektischen Materialismus (»Diamat«) allerdings kritisiert Sartre scharf, und zwar in nicht weniger als drei Schriften, in Materialismus und Revolution, in Marxismus und Existentialismus und schließlich in der Kritik der dialektischen Vernunft. Dabei unterlaufen ihm leider auch Fehler: Er kritisiert den »rationalistischen Optimismus« eines Materialisten, der überzeugt sei, dass alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche vernünftig ist. 721 Die hier zitierte Ansicht »eines Materialisten« (ohne Quellenangabe) ist aber eine berühmte Stelle aus Hegels Rechtsphilosophie, 722 und die dort behauptete Begriffsäquivalenz von Vernunft und Wirklichkeit (als wechselseitige Inklusion der Begriffsumfänge) gilt im Falle der zweiten Begriffsinklusion nur unter der Prämisse des Idealismus, wenn man nämlich »Wirklichkeit« vorab als »be-geistete« Wirklichkeit begreift. Und diese Position ist alles andere als materialistisch.

718 719 720 721 722

Hartmann, Sartres Sozialphilosophie, S. 38 f. Hartmann, a. a. O., S. 40. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, S. 15. Sartre, Materialismus und Revolution, a. a. O., S. 56. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 11.

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Näher zu beleuchten aber ist nun seine Kritik der Dialektik, und Sartre unterscheidet (wohl in eigener Sache) zwischen dogmatischer und kritischer Dialektik. Sartre stößt hier auf einen internen Widerspruch, nach dem die Dialektik als Totalisierungsgesetz zwar von Kollektiven und Gesellschaften (im Plural) redet, aber nur von einer Geschichte, einer Realität, die sich den Individuen aufzwingt. 723 Die ursprünglich offenen Begriffe des Marxismus seien jedoch zu geschlossenen geworden, sie sind »Diktate«; 724 der lebendige Marxismus aber müsse heuristisch sein. 725 Jeglicher Determinismus von außen aber muss im Namen der menschlichen Freiheit ausgeschlossen sein; denn er nähme wie jede Fremdbestimmung der menschlichen Existenz jenen Sinn, der in der Verwirklichung des Eigenen liegt. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst. Und so lange, wie der Marxismus als dialektischer Materialismus nicht in diesem Sinne menschlich ist, bzw. dem Menschen Gestaltungsräume zubilligt, muss der Existentialismus diesen ersetzen 726, so lange ist er der wahre Humanismus. Im Gegensatz zum klassischen »bürgerlichen« 727 Humanismus mit seinem »Menschheitskultus«, den Sartre kritisiert, weil er den Menschen als einen Zweck nimmt, ein telos vorgibt, das ihm sagt, was und wie er als Mensch zu sein hat, vertritt Sartre einen existentialistischen Humanismus, der dem Menschen – und zwar jedem einzelnen, nicht nur dem Revolutionär – die Überschreitung, die Transzendenz seines eigenen Daseins zubilligt. 728 Es ist klar, dass dieser existentialistische Humanismus auf der Seite des »sozialistischen Humanismus« auf Gegenwind stoßen musste, er billige dem einzelnen Individuum (das nicht ohne seine gesellschaftlichen Verhältnisse zu denken sei) gegenüber der Gemeinschaft zu viel Bedeutung zu 729 und müsse durch den sozialistischen Humanismus überwunden werden. Beide Aspekte, den des existentialistischen und den des sozialisa. a. O., S. 37. Sartre, Marxismus und Existentialismus, S. 26. 725 Sartre, Marxismus und Existentialismus, S. 24 f. 726 Sartre, a. a. O., S. 31. 727 Sartre, a. a. O., S. 19. 728 Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus?, S. 35. 729 So etwa aus polnischer Perspektive 1964 Schaff, Marx oder Sartre? Versuch einer Philosophie des Menschen, S. 21 ff. 723 724

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tischen Humanismus überschreitend, kritisiert schließlich Derrida und moniert eine verkürzte Heidegger-Lektüre Sartres. Heidegger habe sich in seinem »Humanismusbrief« direkt nach dem Erscheinen von Sartres Das Sein und das Nichts gegen eine anthropologistisch verengte Lektüre von Sein und Zeit gewehrt: So sei z. B. aus »Dasein« »réalité humaine« geworden. 730 Sartre hatte in der Tat geglaubt, mit seiner Umkehrung von Essenz und Existenz Heidegger zu kritisieren: »Wer sagt, dass das Dasein (réalité humaine) – auch wenn es mein Dasein ist – qua ontologische Struktur ›mit-ist‹, der sagt, dass es qua Natur mit-ist, das heißt wesenhaft und allgemein« (SN 448). Heidegger habe aber, so wieder Derrida, zu Recht daran erinnert, dass »Anthropologie und Humanismus nicht das Milieu seines Denkens und der Horizont seiner Fragen waren. Gerade gegen den Humanismus ist die ›Destruktion‹ der Metaphysik und der klassischen Ontologie gerichtet«, 731 so Derrida. Heidegger, wie noch ausgeführt werden wird, wollte aber gerade das abendländische Denken des Seins – auch in Bezug auf den Begriff des Menschen – überschreiten, das alles aus ersten Gründen abzuleiten bemüht ist. 732 Heideggers Intervention habe aber leider bei Sartre nicht zu genauerer Lektüre geführt, und Derrida nimmt Sartres Philosophie zum Anlass, eine Amalgamierung von »Hegel, Husserl und […] auch Heidegger mit der alten humanistischen Metaphysik« zu beklagen, und dergestalt eine ungerechtfertigte Verbannung von »Hegel, Husserl und Heidegger in die Finsternis der humanistischen Metaphysik«, 733 die diese auf ihre Weise auch kritisiert hätten. Derrida, Fines hominis, in: ders., Randgänge der Philosophie, S. 133–157, hier S. 138. Derrida spielt hier geschickt mit den beiden Bedeutungen von »finis« als Ende (der Tod wurde oft als Bedeutung von Sartres »Nichts« im Titel von SN angenommen) und als Ziel bzw. Zweck und redet von den »deux fins de l’homme«. 731 Derrida, a. a. O., S. 141. 732 Heidegger, Brief über den Humanismus, in: ders., Wegmarken, S. 153: »Jeder Humanismus gründet entweder in einer Metaphysik oder er macht sich selbst zum Grund einer solchen. Jede Bestimmung des Wesens des Menschen, die schon die Auslegung des Seienden ohne die Frage der Wahrheit des Seins voraussetzt […] ist metaphysisch. Darum zeigt sich, und zwar im Hinblick auf die Art, wie das Wesen des Menschen bestimmt wird, das Eigentümliche aller Metaphysik darin, dass sie ›humanistisch‹ ist. Demgemäß bleibt jeder Humanismus metaphysisch.« S. auch Hastedt, a. a. O., S. 103–111 zum »Humanismusstreit«, in dem sich Heidegger gegen einseitige Subjektorientierung wandte. 733 Derrida, a. a. O., S. 141 f. »Ich bediene mich absichtlich des Wortes ›Amalgam‹, das in seinem Gebrauch die alchimistische Anwendung, die hier die erste ist, mit der strategischen und taktischen auf dem Gebiet der Ideologie vereint.« (!), s. weiterge730

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3.3.2.4 Imagination und Imaginäres Sartres frühe Schriften zum Bildbegriff sind unabhängig von seinem Marxismus bedeutsam, wenngleich sie im Rahmen seines Gesamtkonzeptes eine zentrale Funktion haben. Denn gerade heute hat der erkenntnistheoretische Konstruktivismus dafür gesorgt, dass Faktum und Fiktum weniger unterscheidbar werden, sich die Grenzen von Realität und Konstruktion verwischen; und auf der Seite der alltäglichen Erfahrung sind es die digitalen Medienbilder – wie z. B. in Computerspielen –, die Erlebnisse im Bereich digitaler Welten attraktiv machen, in denen die Simulation die Realität ersetzt und genau das produziert, was Baudrillard »Hyperrealität« nennt. Nachdenken über das Imaginäre als Entwurf ist also geboten, auch wenn Sartre zu seiner Zeit keineswegs eine Ahnung von dieser Entwicklung haben konnte. Es wurde bereits erwähnt, wie zentral für Sartre im Zusammenhang mit Intentionalität und Entwurf die Fähigkeit des Menschen zur Imagination wurde, und in der Tat untersucht Sartre dieses Themenfeld bereits in seiner Diplomarbeit L’imagination. Und so sehr Sartre Husserls transzendentales Subjekt kritisiert, hier hebt er die eminente Bedeutung des Husserl’schen Bildbegriffs hervor. Wie es sich für eine französische Abschlussarbeit gehört, handelt er zuvor die ganze französische Schulphilosophie, beginnend mit Descartes, im Hinblick auf die jeweiligen Bildbegriffe ab, und zwar negativ. Allerdings verwundert es, dass Kants Theorie der Einbildungskraft nicht vertreten ist, denn auch sie hätte Sartre kritisieren können. Denn Kant hat sie in der 2. Auflage der KrV zu einem passiven Vermögen gemacht, während sie doch bei Sartre unbedingt aktiv, sogar proaktiv, in die Zukunft hinein wirkend, sein muss. An den genannten Philosophen – aber auch an Humes englischem Empirismus 734 – kritisiert Sartre, dass sie allesamt Vorstellungsbilder als bewusstseinsimmanent, als intramental, gesehen hätten. Drei Wege hätten sich Mitte des 18. Jahrhunderts herauskrishend Christina Howells, Sartre and Derrida. The Promises of the Subject, in: Fagant et al. (Hg.), Negotiating the Legacy, s. auch unter www.alan-shapiro.com/sartre-andderrida-the-promises-of-the-subject-by-christina-howells. 734 Sartre, Die Imagination, in: ders., Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays, S. 107 f stellt fest, dass Humes Empirismus sich bemüht habe, »das ganze Denken auf ein System von Bildern zurückzuführen […]; im Geist existieren nur Eindrücke und Kopien dieser Eindrücke […].«

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tallisiert, und Sartre untersucht paradigmatisch die Cartesianer, Hume und Leibniz und mit ihnen »die drei großen Strömungen der klassischen Philosophie« in dieser Frage: Mit Descartes’ berühmten Vorstellungsbild von Wachs, das seine Form verändern kann und dennoch »Wachs« bleibt, macht Sartre deutlich, dass zwischen Imagination und Denken immer eine Kluft bleibt. Die mechanistische Wahrnehmungstheorie lässt Bilder als Ideen entstehen, »die von der Seele anlässlich einer Affektion des Körpers erzeugt« werden. 735 Da das Bild also durch mechanische Einflüsse des eigenen Körpers zustande kommt, gehört es zur res extensa, obwohl es mit der Empfindung identisch ist. 736 Hingegen ist für den Empirismus Humes keinerlei eingeborene Idee denkbar, alle Inhalte des Denkens müssen in der sinnenhaften Erfahrung begründet sein. Vorstellungen denkt sich Hume daher als »copies« (Nachbilder) oder »images« (Abbilder) von Sinneseindrücken, sodass (innere) Bilder als ein »Verblassen der Wahrnehmung, ein Echo, das ihr in der Zeit folgt«, gefasst werden. Auch Bergson mache aus ihnen »einen Schatten, der die Wahrnehmung verdoppelt: In beiden Fällen ist es eine exakte Nachahmung des Dinges, opak und undurchdringlich wie das Ding, steif erstarrt und selbst Ding«. 737 Bergson fällt zwar nicht wie die Erstgenanten der von Sartre so genannten »Immanenzillusion« anheim, sieht also nicht das Bewusstsein als einen großen Bildbehälter mit geistimmanenten Kopien, 738 denn »alle uns umgebenden Dinge (werden) Bilder genannt«, Bergson dehnt seinen Bildbegriff »auf jede Art von Realität aus: nicht nur das Objekt der aktuellen Erkenntnis ist Bild, sondern jedes mögliche Objekt einer Vorstellung (›représentation‹)«. Denn gegen Berkeley hatte Bergson behauptet, dass ein Bild sein könne, ohne wahrgenommen zu sein, es könne »präsent sein, ohne repräsentiert zu sein«. Sartre fasst zusammen: »Für den Bergson’schen Realismus ist

Sartre, Die Imagination, a. a. O., S. 200. Ganz ähnlich, so Sartre, beschreibe Leibniz die Welt der Imagination als einen reinen Mechanismus, wo man nicht zwischen Bildern im engeren Sinn und Empfindungen unterscheiden kann, weil die einen wie die anderen Zustände des Körpers ausdrücken. (Sartre, Die Imagination, a. a. O., S. 200). S. auch Bonnemann, Der Spielraum des Imaginären, S. 44 sowie Fornet-Betancourt, a. a. O., S. 14. 737 a. a. O., S. 140. (Sartres ausführliche Auseinandersetzung mit Bergsons Bildbegriff findet sich auf den Seiten 133–160). 738 Leyssen, Sartres Bilddenken. Ein alternativer Bildbegriff und seine Rolle in Sartres L’imaginaire, in: Neuber/Veressov (Hg.), Das Bild als Denkfigur, S. 273–284, hier S. 275. 735 736

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das Ding das Bild, ist die Materie die Gesamtheit der Bilder.« 739 Doch auch bei ihm ist das Bild ein Ding. Daher ist für Sartre das Erscheinen von Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie »das große Ereignis der Vorkriegsphilosophie«. 740 Denn Husserls bereits in den Logischen Untersuchungen entwickelter Begriff der Intentionalität, nach dem Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist, ist dazu angetan, »die Irrtümer eines bestimmten Immanentismus zu bekämpfen, der die Welt mit den Bewusstseinsinhalten konstituieren will«. 741 Man wisse nun, so Sartre, dass man die ganze vorphänomenologische Literatur zum Bildbegriff außer Acht lassen und »wieder bei null anfangen« könne und vor allem versuchen müsse, »eine intuitive Sicht der intentionalen Struktur des Bildes zu erlangen«. 742 »Man sieht die unmittelbaren Konsequenzen für das Bild: auch das Bild ist Bild von etwas. Wir haben es also mit einer intentionalen Beziehung eines bestimmten Bewusstseins zu einem bestimmten Objekt zu tun. Mit einem Wort, das Bild hört auf, ein psychischer Inhalt zu sein; es ist nicht im Bewusstsein als konstituierendes Element.« 743

Vor allem will Sartre im Anschluss, und damit über Husserls Bildbewusstsein hinausgehend, auch die Beziehungen von den mentalen, d. h. Vorstellungsbildern, von denen er selbst auch ausgegangen ist, zu den materiellen Bildern (»Gemälde, Foto usw.«), die Husserl nur marginal behandelt hatte, erörtern und, wie man sehen wird, zusammen behandeln. Gegen Bergson und die beschriebene Tradition vor ihm hält Sartre am Ende seines frühen Werkes zum Vorstellungsbild fest: »Es gibt keine Bilder im Bewusstsein, und es kann auch keine geben. Sondern das Bild ist ein bestimmter Bewusstseinstyp. Das Bild ist ein Akt und kein Ding. Das Bild ist Bewusstsein von etwas.« 744 Das Bild ist für Sartre also kein Objekt mit einem bestimmten Ort, sondern es ist »eine besondere Art und Weise, wie sich das Bewusstsein ein Objekt präsentieren kann«. 745 Und

739 740 741 742 743 744 745

Sartre, Die Imagination, a. a. O., S. 134 f. a. a. O., S. 222. a. a. O., S. 227. a. a. O., S. 240. a. a. O., S. 229. Sartre, Die Imagination, a. a. O., S. 242. Leyssen, a. a. O., S. 275.

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»man wird ebenfalls das Bildbewusstsein mit dem Zeichenbewusstsein vergleichen müssen, um die Psychologie endgültig von jenem unzulässigen Irrtum zu befreien, der aus dem Bild ein Zeichen und aus dem Zeichen ein Bild macht.« 746

Seine positive Ausfaltung gewinnt Sartres Bildbegriff mit dem sich vier Jahre später anschließenden zweiten frühen Werk, Das Imaginäre. Dieses gilt Sartre unter Verwendung der Terminologie Husserls als »noematisches Korrelat« zur irrealisierenden Vorstellungskraft, der Imagination. 747 Zunächst nennt Sartre vier Charakteristika der zu beschreibenden Vorstellungen (ich verwende die von Waldenfels formulierte Kurzfassung, wobei der erste Punkt nach dem Vorangegangenen bereits klar sein dürfte): »1) Die Vorstellung ist Bewusstsein von einem bestimmten Objekt, das im Bild auftritt und nicht etwa von dem Bild selbst, wie es in der ›ImmanenzIllusion‹ erscheint. 2) Das Vorgestellte ist Gegenstand einer Quasi-Beobachtung, da es aufgrund einer ›wesenhaften Armut‹ nie mehr zu erkennen gibt, als was man weiß; es hat nicht die Unerschöpflichkeit des Wahrnehmungsobjekts. 3) Das Vorstellungsbewusstsein setzt sein Objekt als ein Nichts; die beiden entscheidenden Formen, wie dies geschieht, sind zwei Arten der Negation, die Setzung als nichtexistent (z. B. Husserls Kentaur) oder als abwesend (z. B. der Freund in Berlin). Das abwesende Objekt ist hier anschaulich ›als abwesend gegeben‹, die Vorstellung enthält ein ›gewisses Nichts‹. 4) Dementsprechend verkörpert die Vorstellung, im Gegensatz zur Passivität der Wahrnehmung, eine schöpferische Spontaneität.« 748

Damit setzt sich Sartre nun von Husserl ab, denn bei diesem ist das Bildbewusstsein der Perzeption zugehörig, und man kann natürlich bezweifeln, ob die Wahrnehmung wirklich passiv ist. Reine Rezeption wäre aber Determination des wahrnehmenden Bewusstseins, und davon muss Sartre die Imagination streng trennen, wenn sie die Funktion des freien Entwurfs übernehmen soll. Diese Trennung bildet für Wiesing »das Fundament der gesamten Phänomenologie Sartres«:

Sartre, a. a. O., S. 140. Sartre, Das Imaginäre, S. 42. 748 Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, S. 76 f, bezieht sich auf Sartre, a. a. O., S. 44–61. 746 747

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»Genau diese kategoriale Eigenständigkeit ist dafür verantwortlich, dass es nie zu einer Verwechslung von Wahrnehmung und Phantasien kommt und kommen kann: So stark die Vergegenwärtigung einer Sache durch ein Bild auch sein mag, es sind keine Wahrnehmungen, die das Bewusstsein auf ein Bildobjekt richten. Für Sartre besteht zwischen dem Hineinsehen einer Gestalt in Wolken oder in Kaffeesatz und dem Betrachten eines Fotos nur ein gradueller Unterschied. Eigentlich entsteht in beiden Fällen das Bildobjektbewusstsein nur durch Einbildung.« 749

Sartre schließt eine Betrachtung über die »Familie der Vorstellung« an, d. h. eine Untersuchung derjenigen Bildphänomene der Gegenstandswelt, die auch noch unter den Begriff »image« fallen, wie z. B. Porträts, Spiegelreflexe, Karikaturen etc. 750 Dabei stellt Sartre fest, dass intramentale Vorstellungen, Karikaturen, Fotografien »lauter Arten derselben Gattung sind«, denn immer muss eine Intention ein abwesendes Objekt ›vergegenwärtigen‹ wollen; auch »ein äußerer Gegenstand, der als Bild fungiert, kann diese Funktion nicht ohne eine ihn als solches interpretierende Intention ausüben«. 751 Ein Porträt Karls VIII. z. B., »im Zustand verminderten Lebens unter Ausfall vieler Bestimmungen (Dreidimensionalität, Beweglichkeit, manchmal Farbe usw.)« wird als Bild erfasst, mittels des Gemäldes sehen wir aber ihn, nicht das Gemälde. Und erstaunlicherweise verwendet der Atheist Sartre zur Erhellung der Verbindung zwischen Bild und Modell (oder, wenn man so will: zwischen Abbild und Urbild) eine neuplatonische Formulierung (siehe Teil 2.2), die zur philosophischtheologischen Legitimation der orthodoxen Ikonenmalerei wurde: »Die erste zwischen Bild und Modell gesetzte Verbindung ist eine Verbindung der Emanation. Das Original hat den ontologischen Vorrang. Aber es inkarniert sich, es steigt ins Bild herab. Dies erklärt die Haltung der Primitiven ihren Abbildungen gegenüber ebenso wie gewisse Praktiken der schwarzen Kunst. […] Es handelt sich übrigens nicht um eine heute verschwundene Denkweise. Die Struktur des Bildes ist bei uns irrational geblieben, und wir haben uns hier wie fast überall darauf beschränkt, rationale Konstruktionen auf vorlogischen Geschichten zu errichten.« 752 (my italics)

Es bietet sich nun natürlich an, diese Deutung des imaginären Objekts auch zur Abgrenzung vom Zeichenbegriff zu verwenden: Ein 749 750 751 752

Wiesing, Phänomene im Bild, S. 46. Sartre, a. a. O., S. 62. Sartre, a. a. O., S. 65 und 64. Sartre, a. a. O., S. 71 f.

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Zeichen affirmiert nicht die Präsenz eines imaginären Objekts, sondern verweist auf dessen Abwesenheit. Das Gemälde also gibt seinen Gegenstand, das Zeichen, nicht. Und es be-zeichne durch Übereinkunft, die später durch Gewohnheit verstärkt wird, was für Bilder undenkbar ist, denn sie wirkten durch Ähnlichkeit und beeindruckten unmittelbar. 753 Schematische Zeichnungen, wie z. B. Karikaturen, nehmen eine Zwischenstellung zwischen Zeichen und Bild ein; doch sie sind trotzdem keine Zeichen, denn wir sehen etwas in die Zeichnung hinein, wie wenn wir »Gesichter im Feuer« oder »Felsen in Menschengestalt« 754 »sehen«. Selbst wenn Schemazeichnungen in der Ausführung sehr sparsam sein sollten, genügen einige typische Züge, um unsere Imagination anzuwerfen. In der vorstellenden Haltung nämlich »befinden wir uns ja einem Objekt gegenüber, das sich als denen analog gibt, die uns in der Wahrnehmung erscheinen können«. 755 Durch dieses Analogon kann man sich eine anwesende Materie als Repräsentanten des abwesenden Objekts imaginieren. 756 Das erklärt auch die negierende Kraft der Imagination, denn »das Wirkliche wird nicht für es selbst genommen, sondern als ›Analogon‹, durch welches das Abwesende ›präsentifiziert‹ werden kann. Auf diese Weise schaffen reale Objekte dem Abwesenden oder Inexistenten Raum.« 757 Dies wiederum schafft nun Raum für das, was Sartre »imaginäres Leben« nennt: Sieht man einmal von der »Pathologie der Imagination«, von Halluzinationen und auch von Träumen ab, so betreten wir mit einer imaginären Welt ein Ensemble irrealer Objekte, die wir spontan erzeugen können, weil und wenn wir daran denken. Wir erzeugen also virtuelle Realitäten. Zwar sind die vorstellenden Intentionen real, doch sind die Materie des Objekts sowie alle Raum- und Zeitbestimmungen, denen es unterworfen ist, irreal. 758 Diese Zeit entspricht nicht der Zeit der Wahrnehmung; »sie läuft nicht ab, sie kann sich nach Belieben entfalten oder zusammenziehen, indem sie die gleiche bleibt. […] Nichts trennt das irreale Objekt sicherer von mir: Die imaginäre Welt ist völlig isoliert; ich kann sie nur betreten,

753 754 755 756 757 758

a. a. O., S. 67–72. a. a. O., S. 86. a. a. O., S. 194. Leyssen, a. a. O., S. 282. a. a. O., S. 283. Sartre, Das Imaginäre, S. 206 ff.

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wenn ich mich irrealisiere« 759 (in manchen Computerspielen z. B. durch selbstgewählte Avatare). Nur das Gefühl verhält sich gegenüber dem Irrealen genauso wie gegenüber dem Realen. 760 Im Schlusskapitel fasst Sartre noch einmal zusammen, »dass die Imagination eine konstitutive Funktion des Bewusstseins ist […]. Die irrealisierende Imagination ist nicht nur von der realisierenden Wahrnehmung zu unterscheiden, sondern völlig zu trennen; denn die Bildung eines vorstellenden Bewusstseins bedeutet die Annihilierung (annéantissement) des wahrnehmenden Bewusstseins und umgekehrt.« 761 Und das hat Folgen für die Kunst: Der letzte Teil des Schlusskapitels, überschrieben »Das Kunstwerk«, macht deutlich, dass das irreale Bildobjekt nicht erscheint, solange wir den Bildträger fokussieren, da »es sich einem realisierenden Bewusstsein nicht geben kann«. Der Maler hat ein materielles Analogon seiner Vorstellung konstituiert, und daher muss »das Gemälde als ein materielles Ding verstanden werden, das von Zeit zu Zeit (jedes Mal wenn ein Betrachter die vorstellende Haltung einnimmt) von einem Irrealen heimgesucht wird, das eben das gemalte Objekt ist.« 762 »Die Kunst Giacomettis ist der eines Taschenspielers verwandt; wir sind die, die er narrt, und die, die ihm helfen. Er arbeitet nach dem, was er sieht, vor allem aber nach dem, was wir sehen werden. Sein Ziel ist nicht, uns vor ein Bild zu stellen, sondern Trugbilder zu erschaffen, die, obwohl sie sich immer nur für das ausgeben, was sie sind, doch in uns die Gefühle und Einstellungen hervorrufen, die sich normalerweise aus der Begegnung mit wirklichen Menschen ergeben. […] Er hat längst erkannt, dass die Künstler im Imaginären arbeiten […].« 763

Kunstrezeption ist also auch eine Form der Imagination. 764

Sartre, a. a. O., S. 215 f. a. a. O., S. 226. 761 Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, S. 78. (Diese Okklusionsthese hatte Sartre aber schon früher vertreten, s. Sartre, Das Imaginäre, S. 199.) 762 a. a. O., S. 293. 763 Sartre, Die Gemälde Giacomettis, in: ders.: Porträts und Perspektiven, S. 288 f. 764 Bonnemann, Der Spielraum des Imaginären, S. 32. Bonnemann kritisiert eine Engführung im Bereich des Schönen, da das Naturschöne ausgeschlossen ist: »Das Reale ist niemals schön« (SN 361), Schönheit existiert nur im Imaginären. Die Trennung des Guten vom Schönen schließe jede moralische Bewertung der Kunst oder durch die Kunst aus. »Ein ästhetischer Standpunkt, der weiter von einer Theorie der engagierten Literatur entfernt wäre, ist kaum denkbar« (a. a. O., S. 153). 759 760

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3.3.2.5 Vergegenwärtigung im Bild Sartres Künstlerporträts sind weniger bekannt, doch gerade in ihnen erfüllt sich wie in seinen Romanen Jean Wahls Schlachtruf »vers le concrète« auf besondere Weise. Möbuß zeigt eindrucksvoll, wie sehr Sartres literarisches Werk mit seiner Philosophie verwoben ist. 765Aber auch seine Beschäftigung mit der bildenden Kunst ist beeindruckend. In Qu’est-ce que la littérature? trifft er eine auch für die zur Debatte stehende Kontroverse relevante Unterscheidung: Mit Farben und Tönen zu arbeiten sei etwas anderes als sich mit Worten auszudrücken, denn Farben und Formen seien keine Zeichen, die auf etwas anderes verwiesen. »Da gibt es das Grün, und da das Rot, das ist alles; das sind Dinge, sie exitieren aus sich selbst heraus. Es stimmt, dass man ihnen per Konvention den Wert von Zeichen beilegen kann. […] Es liegt aber ganz fern, die Farben und die Töne wie eine Sprache aufzufassen. […] Der Maler will keine Zeichen auf seine Leinwand bannen, er will eine Sache erschaffen, und wenn er rot, gelb und grün zusammenstellt, gibt es keinen Grund, weshalb ihr Miteinander eine definierbare Bedeutung besitzen sollte.« 766

Denn der Maler erschafft ein imaginäres Haus auf der Leinwand (Sartre redet in diesem Zusammenhang tatsächlich von »transsubstantiation«), und nicht das Zeichen eines Hauses; im Gegensatz zum Schriftsteller hat man es hier bei Bildern nicht mit Bedeutungen zu tun. 767 Der Künstler ist für Sartre infolgedessen wie der Revolutionär ein Prototyp für »Entwurf«, und natürlich interessieren ihn vor allem solche Künstler, die sich auf neue Wege begeben haben. Mit seiner bereits in SN skizzierten und in der Kritik der dialektischen Vernunft weiterentwickelten Methode der existentiellen Psychoanalyse (für die ihm der Ansatz Freuds ungeeignet zu sein scheint, da in ihm die Individualität eines Entwurfs nicht zum Tragen kommt 768) und seiner »regressiv-progressiven Methode, 769 die zugleich analytisch-synthe-

Möbuß, Sartre. Sartre, Qu’est-ce que la littérature?, in: ders., Situations II, S. 60 f. Übersetzung d. d. A. 767 Sartre, a. a. O., S. 62 f. 768 Möbuß, Sartre, S. 135–156, hier S. 137, unter Berufung u. a. auf SN 958. 769 ausführlich beschrieben in Sartre, Marxismus und Existentialismus, S. 70–131. 765 766

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tisch ist und zwischen Objekt und Epoche hin und her geht, 770 untersucht er die Beziehung zwischen Künstler und Werk, bzw. das, was ein Künstler aus sich und seinen Gegebenheiten gemacht hat, aber auch die Wirkung, die das Werk gehabt hat bzw. haben soll. 771 Seine genaue Untersuchung von Leben und Werk Tintorettos soll hier exemplarisch angeführt werden: 772 Jacopo Robusti, genannt Tintoretto, war kleinwüchsig und fühlte sich in seiner Heimatstadt Venedig als Sohn eines Färbers immer ungeliebt (was Sartre in Zusammenhang damit bringt, dass in seinen Bildern oft Randfiguren der Gesellschaft auftauchen.) »Dieser krämerhafte Maler«, der nie das Gepäck der Hofmaler besaß, schien im Vergleich zu seinen Konkurrenten eher ungebildet. 773 Venedig aber liebte die eleganten, doch auswärtigen Maler »Veronese« und Tizian, in dessen Malerwerkstatt Tintoretto lernen wollte. Tizian setzte ihn aber wegen zu großer Genialität mit zwölf Jahren auf die Straße, und da der solchermaßen stigmatisierte Tintoretto – seine Begabung stand schon früh fest – doch unbedingt Maler werden wollte, musste er seine Ausbildung in einer weniger renommierten Malerwerkstatt fortsetzen, war mit zwanzig als Meister »auf dem Markt«, musste seinen Lebensunterhalt verdienen und sich gegen die populären auswärtigen Maler behaupten, was dazu führte, dass er viele Auftragsarbeiten à la Veronese oder nach Art Tizians für weniger Geld annahm. Nebenher aber entwickelte er eine eigene Maltechnik. Sartres Philosophie des Blicks findet hier ihre Anwendung: Sartre stellt nämlich fest, dass Tintoretto beginnt, die Blicke der Betrachter, z. B. bei den Porträts seiner Heimatstadt Venedig, zu lenken, um auf dem Bild so etwas wie Tiefe zu erzeugen. (Wittmann spricht mit Sartre von einer ›école de vision‹ : Die Anleitung zum Sehen werde mit dem Bild mitgeliefert; Tintoretto male exakt das Gegenteil dessen, was die Usancen der Zeit festlegten, experimentierte mit Perspektiven wie die zeitgleich in Florenz

770 Sartre, Marxismus und Existentialismus, S. 118 ff beschreibt sie hier als »existentialistische Approximationsmethode«. 771 Maler, Sartres Individualhermeneutik, S. 80. 772 Sartre, Der Eingeschlossene von Venedig, in: Sartre, Porträts und Perspektiven, S. 122–276. 773 a. a. O., S. 257 und 255.

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wirkenden Maler, denen er aber voraus war und suchte im Rahmen des Möglichen die Befreiung von Konventionen. 774) Sartre untersuchte 17 verschiedene Bilder Tintorettos aus verschiedenen Epochen, verglich sie miteinander und setzte sie mit seiner besonderen Situation in Beziehung. Im Gegensatz zu Freud, dessen Determinismus er kritisiert, geht es ihm bei seiner »existentiellen Psychoanalyse« nicht um allgemeine Kategorien der Ichdeutung, sondern um das »universel singulier«, und er geht auch nicht nur in die Vergangenheit zurück bzw. bleibt dabei stehen: Mit seiner existentiellen Psychoanalyse deckt er die meist aus der Kindheit stammenden »Fixierungen« auf, »die eigentlichen Urentscheidungen, durch die ein Mensch das ist, was er ist«, 775 und untersucht die prägenden Gegebenheiten (»situations«) und vor allem die Hemmnisse, in denen und gegen die sich ein Künstler behaupten und durchsetzen musste, um dann auch die Wirkung dieser neuen Kunst zu analysieren. »[…] Das ist die Revolution. Zum ersten Mal in der Geschichte, zwischen 1540 und 1545, […] hört ein Tafelbild auf, eine flache Oberfläche zu sein und wird von einem imaginären Raum heimgesucht, um zu einem vom Maler montierten Kurs zu werden […].« 776

Sartre entdeckt auf der »flachen Oberfläche« der Tintoretto-Bilder tatsächlich die Illusion einer dritten Dimension. Für Wittmann sind die Tintoretto-Studien daher in direktem Zusammenhang mit den Frühwerken zur Imagination und zum Imaginären zu sehen. 777 Besonders ein Bild soll hier angeführt werden, weil es so ungewöhnlich ist: das des vom Himmel stürzenden, keineswegs bloß standesgemäß schwebenden Schutzpatrons von Venedig, des Evangelisten Markus, das im Venedig der damaligen Zeit einen Skandal verursacht haben soll. Denn der Evangelist stürzt kopfüber, mit dem Evangelium in der einen Hand, um einen in Fesseln am Boden liegenden Slaven vor dem Märtyrertod zu bewahren, und ist dabei auch noch nicht wie üblich lichtumflossen, sondern im Schatten. Der Zweck seines Ausflugs, die Ausführung und das Ergebnis werden 774 Wittmann, Sartre und die Kunst, S. 157 bezieht sich u. a. auf Sartre, Saint Marc et son double, a. a. O., S. 190. 775 Schulz, Metaphysik des Schwebens, S. 124. 776 Sartre, Saint Marc et son double. Le Séquestré de Venise, in: Sicard (Hg.), Sartre et les Arts, S. 179 (Obliques 24/25); Übersetzung d. d. A. 777 Wittmann, Sartre und die Kunst, S. 142.

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gleichzeitig gezeigt, die Fesseln des am Boden Liegenden sind schon zerbrochen, der Betrachter ist den auf dem Bild versammelten Personen voraus, die das noch nicht begriffen haben. 778 »In Erstaunen versetzen, durch Überraschung wirken: das war von jeher seine Technik gewesen. Diesmal ist er selbst jedoch der erste, der die Fassung verliert: seine Zeitgenossen stehen zwar sprachlos, aber zugleich auch entrüstet vor dem Werk. Er findet erbitterte Verleumder und keine erbitterten Verteidiger […], seine Erfolgsserie bricht ab.« 779

In Sartres Analyse des Werks tritt noch einmal Erstaunliches zutage, denn wenn der Betrachter des Bildes etwas zurücktritt, sehe er, wie die anderen Betrachter vor ihm den im Bild angelegten Halbkreis der Zuschauer zu einem vollen Kreis ergänzen; ihr Blickgeschehen wird zum Teil des Bildes. Sartres Beschreibung des »Blicks« wird dabei erweitert, Tintoretto macht nach Sartre »aus dem Blick einen Bestandteil des Bildes«, 780 und es entspricht seinen Intentionen, die Betrachter zur imaginativen Deutung des Bildes miteinzubeziehen. Tintoretto war 30 Jahre alt und wurde von Tizian mit Hass verfolgt. Um Erfolg zu haben, arbeitete er verbissen drauf los, verwendete bei Ausschreibungen von Malaufträgen teilweise unlautere Mittel und machte sich dadurch noch unbeliebter. Jedermann sei überzeugt gewesen, so Sartre, die Malerei habe mit Tizian ihre höchste Vervollkommnung erreicht, doch bei diesem ersticke die Malerei unter Blumen, verleugne sich durch ihre eigene Vollkommenheit und mache eine Wiedergeburt nötig. »Niemand auf der Welt, weder vor noch nach ihm« habe leidenschaftlicher als Tintoretto nach Neuem gesucht. 781 Dazu braucht es, »und sei es nur, um schaffen, um kaufen und verkaufen zu können«, eine unabdingbare Freiheit. 782 Sartre, der sich eigentlich eher von moderner Kunst angezogen

778 Sartre, Saint Marc et son double, a. a. O., S. 175 f; sowie Wittmann, Sartre und die Kunst, S. 146. (Wittmann merkt an, dass Sartres Analyse dies in Tintorettos Bild von St. Georg mit dem Drachen noch viel weitergehender entdeckt, da dieser die gleichzeitige Darstellung verschiedener Zeitpunkte im Bild dort noch weiter getrieben habe.) 779 Sartre, Der Eingeschlossene von Venedig, in: ders., Porträts und Perspektiven, S. 236. 780 Wittmann, a. a. O., S. 155. Hier finden sich auch Untersuchungen zu Sartres ausführlichen Analysen anderer Tintoretto-Bilder. 781 a. a. O., S. 249. 782 a. a. O., S. 259.

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Der philosophische Bilderstreit

fühlte, sei besonders von bestimmten Sujets angesprochen worden, so hat Simone de Beauvoir berichtet: »Sartre reagierte auf Darstellung und Ausdruck der Personen, bis zu dem Punkt, dass er an den Werken Guido Renis Gefallen fand.« 783

Simone de Beauvoir beschrieb seine Haltung als eine »Ästhetik der Opposition«; Bauer stellt eine Reaktion auf Bilder fest, die auf expressionistische Weise den menschlichen Körper in Stress und Schmerz zeigen. 784 Hier sollen als weitere Veranschaulichung von Sartres Bildphilosophie seine Beschreibungen der Gemälde Lapoujades und Giacomettis angeführt werden. Lapoujade ist bereits jenseits der figürlichen Kunst, Nachbildung ist also kein Thema mehr. Die »Desintegration des Figürlichen« durch Picasso, Braque etc. hinterließ »nur ein Gewimmel von Farben und Rhythmen, Wrackteile«. Lapoujade habe sich, indem er diese Bestandteile zu neuen Ganzheiten zusammenfügte, für die »Wiederherstellung der Welt« entschieden, wobei es um die »beständige Wiederherstellung einer bestimmten Gegenwart« gehe: 785 Lapoujade hat Massen gemalt. Wie bei van Goghs wogenden Kornfeldern wird aber nicht abgebildet, schon gar nicht detailgetreu, sondern mit den Farbflecken und der mit ihnen erreichten Rhythmisierung des Geschehens auf der Leinwand gewinnt eine Erfahrung, eine Stimmung, Gestalt, sie wird uns gegenwärtig. Auch der Gegenwart von Massen kann man »nur Gestalt verleihen, wenn man auf eine figürliche Wiedergabe verzichtet« und der Imagination Raum lässt, aber dieser Maler malt nicht von außen, 786 denn er ist selber Teil der Erfahrung, die er vermittelt. Wie bei Tintorettos Bildern wird eine Erfahrung, ein Geschehen gegenwärtig, in das wir selbst eingebunden sind. Daher bezeichnet Sartre Lapoujade auch als »Maler ohne Vorrechte«, denn anders als frühere Maler malt er nicht auf einem Podium, sieht er das Abzubildende nicht als Objekt seiner Tätigkeit, sondern er will seine Solidarität mit den anderen Menschen kundtun. 787

783 784 785 786 787

De Beauvoir, La force de l’age, S. 91. De Beauvoir, La force de l’age, S. 83 und Bauer, Sartre and the Artist, S. 118 f. Sartre, Der Maler ohne Vorrechte, in: ders., Porträts und Perspektiven, S. 295. a. a. O., S. 304. Sartre, Der Maler ohne Vorrechte, in: ders., Porträts und Perspektiven, S. 306.

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Phänomenologische Bildtheorien: Sartre

»Die erstaunlichste und doch einfachste Wahrheit ist die, dass, indem Lapoujade zur Abstraktheit griff, der Mensch zwangsläufig, im Namen der Kunst selbst, wieder auf seinen Bildern erschien. Nicht, wie es lange Zeit hindurch üblich gewesen war, als Fürst oder Prälat: bescheiden, anonym, in geduldig-zähem Kampf um das tägliche Brot und gegen die Unterdrückung.« 788

Dieser Mensch sei »überall in seinen Bildern […] gegenwärtig«. Dazu gehört auch, dass es Folterer und ihre Helfershelfer gibt und ihre Opfer: »Die große Masse besteht aus Gefolterten oder für die Folter Bestimmten.« 789 Und damit ruft Sartre auch wieder die Leiden der Unterdrückten in den Kolonien in Erinnerung. Einen anderen Aspekt seiner Philosophie entdeckt Sartre in Giacomettis Skulpturen und Gemälden: Hier ist es die Einsamkeit, z. B. von vier Gestalten auf einem Sockel, der Abstand bzw. die Leere zwischen ihnen, die ihn ergreift und die er mit einer Erinnerung an seine zwei Monate Kriegsgefangenschaft bzw. an die Zeit danach verknüpft: Nach einer Zeit des Zusammengepferchtseins in absoluter Nähe zum jeweils anderen überfiel ihn die Angst, wieder mit der respektvollen Distanz des Bürgertums leben zu müssen, er fühlte sich verloren und »konnte nicht verstehen, wie diese behäbigen, dickbäuchigen Häuser solche Wüsten in sich bergen konnten«. 790 Zwar sei eine Ausstellung Giacomettis »ein ganzes Volk«, doch die Menschen sehen sich nicht, »sie gehen – unwiederbringlich allein – aneinander vorbei, und dennoch gehören sie zusammen: sie werden sich für immer aus den Augen verlieren, aber sie verlören sich nicht, wenn sie sich gesucht hätten«. Damit verweist Sartre auf das dialektische Verhältnis zwischen der Einsamkeit und der Zusammengehörigkeit der Menschen. Allein das gesprochene Wort könne diesen »negativen Begriff der Leere« überbrücken, »jedes Geschöpf sondert seine eigene Leere ab«. 791 (Man erinnere sich an das Für-sich als Nichts bzw. als Nichtung, als Negation.) Und wenn Giacometti male, möchte er ebenso, »dass wir den imaginären Raum, den der Rahmen umschließt, als eine wirkliche Leere fühlen«. Diese Leere erhält hier einen Stellenwert, wie er Sartres »néant« in SN zukam. Nachdem 500 Jahre lang die Bilder zum Bersten voll waren, beginne Giacometti 788 789 790 791

ebd. a. a. O., S. 307. Sartre, Die Gemälde Giacomettis, in: ders., Porträts und Perspektiven, S. 277 f. a. a. O., S. 278 f.

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Der philosophische Bilderstreit

damit, die Welt aus seinen Gemälden zu verbannen. Beim Porträtieren seines Bruders Diego zeige er diesen »ganz allein, in einem Schuppen verloren«. 792 Zwar stehe Diego vor einer Mauer, doch »diese Bezüge würden gleichzeitig wieder entwertet durch das Nichts, das sich zwischen sie schiebt«. Giacometti verzichte auf Begrenzungslinien: »es gibt ein Sein, und plötzlich gibt es keines mehr: aber zwischen dem Sein und dem Nichts ist keinerlei Übergang denkbar.« 793 Wenn Giacometti Gegenstände, wie z. B. Schuhe, aber nicht umgrenze, rechne er damit, dass wir sie begrenzen, ebenso wie unser Blick ergänzt und eine aus Erfahrung gewonnene Kontinuität wieder herstellt, wenn Giacometti nur Andeutungen von Körperteilen macht oder gar welche auslässt. 794 In seiner Theorie des Imaginären hatte Sartre von der »wesensmäßigen Armut« des irrealen Objektes geschrieben, denn im Gegensatz zu realen Objekten seien sie nicht individuiert, 795 und es manifestiere sich ein Spielraum für die Imagination. »Das irreale Objekt existiert, es existiert zwar als irreal, als untätig; aber seine Existenz ist unleugbar. […] Nur ist dieses so gut präzisierte, so gut definierte Irreale leer […].« 796 Erst der Betrachter nämlich, wenn er mit dem Künstler die Sphäre des Imaginären teilt, verleiht den Gemälden ihre Bedeutung. 797 Kunst ist für Sartre also keineswegs l’art pour l’art, auch Bilder sind Bilder von etwas, und sie veranschaulichen nicht nur Sartres Philosophie des Imaginären und des Blicks, sondern spiegeln auch Kernbegriffe seiner Philosophie. Im Sartre-Jahr 2005 (100. Geburtstag, 25. Todestag) wurde Sartre als Jahrhundertfigur mit einer Ausstellung in der Neuen Nationalbibliothek in Paris gewürdigt. Gleichzeitig aber rief der linke (!) Nouvel Observateur zum Autodafé auf, und ein Literaturkritiker sprach angesichts der Neuauflage von Sartres Theaterstücken von »Muff aus dem ideologischen Wandschrank der 50er Jahre«. 798 Doch egal wie a. a. O., S. 281 f. a. a. O., S. 282 f. 794 a. a. O., S. 284. 795 Sartre, Das Imaginäre, S. 216. 796 Sartre, Das Imaginäre, S. 226 f. 797 Wittmann, Sartre und die Kunst, S. 131. 798 Mönninger, Ritualmord an Sartre, in: ZEIT (6. 4. 2005); https://www.zeit.de/2005/ 15/Ritualmord_an_Sartre 792 793

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Phänomenologische Bildtheorien: Merleau-Ponty

man zu Marxismus und Existentialismus stehen mag: Festzuhalten ist, dass seine Philosophie des Imaginären als visualisierender Entwurf originär und produktiv ist. »Die Imagination setzt ihr Objekt als ein Nichts«, so Sartres berühmte Definition 799; und gerade im Hinblick auf die aktuellen Phänomene digitaler Bildlichkeit und virtueller Realität birgt dies weiterhin reflexives Potential.

3.3.3 Sichtbares und Unsichtbares bei Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) Maurice Merleau-Ponty wurde in Rochefort (Charente) in ein katholisches Milieu hineingeboren, verlor wie Sartre seinen Vater früh und machte seinen Schulabschluss in Paris. Auf der École Normale Supérieure traf er Sartre und Simone de Beauvoir und freundete sich mit ihnen an. Er wurde zum Chefredakteur der von Sartre geründeten Zeitschrift Les Temps Modernes, wurde dieses Postens aber enthoben, als anlässlich des Koreakrieges politische Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen auftraten. Anders als Sartre schlug er eine akademische Laufbahn ein, hatte zeitweilig eine Professur für Kinderpsychologie inne (die er aber philosophisch auslegte, wie etwa an seinem Buch Keime der Vernunft deutlich wird), und wechselte dann zu einer Professur in Philosophie nach Paris. Er war ebenfalls von Husserl inspiriert, schlug aber einen anderen Weg als Sartre ein. 3.3.3.1 Zum Primat der Wahrnehmung Merleau-Ponty gehörte zu dem Hörern der Pariser Vorträge von Husserl, die später unter dem Namen Cartesianische Meditationen erscheinen sollten, und er war der erste auswärtige Besucher des neugegründeten Husserl-Archivs in Löwen. Und doch sollte er über Husserl – und Heidegger – hinausgehen. Letzterer hatte nämlich mit seiner abstrakten Rede von »Jemeinigkeit« die Leiblichkeit des Menschen völlig ausgeblendet, während Husserl immerhin den Leib als zentrale Schnittstelle zur Außenwelt hervorgehoben hatte. Doch um Wahrnehmung wirklich zu beschreiben – der spätere Husserl hatte das Konzept der Phänomen-Beschreibungen verlassen, über seine reduktiven Verfahren eine »eidetische Wesensschau« angestrebt und 799

Wiesing, Artifizielle Präsenz, S. 112.

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eine Wende zum transzendentalen Ich vollzogen –, ist der Rückgang auf die leibliche Gebundenheit jeder Wahrnehmung unerlässlich. Immerhin, so Taylor in seiner Würdigung, ist die Wahrnehmung unsere »erste Öffnung zur Welt und der unaufhebbare Hintergrund aller anderen Tätigkeiten«, 800 auch wenn dies »in der wissenschaftlichen und philosophischen Kultur unserer Zeit systematisch verdrängt« 801 werde. Merleau-Ponty hatte ebenfalls wie Husserl das Bewusstsein einer Krise – Husserls späte Krisisschrift war noch nicht bekannt –, die ihm sowohl in den Wissenschaften als auch in der Philosophie Raum zu greifen schien: »Auf der einen Seite steht eine objektivistische und naturalistische Sichtweise, die an alle menschlichen Phänomene von außen herantritt und bei einer Natur an sich endet, auf der anderen Seite eine subjektivistische und kritizistische Sichtweise, die alle Phänomene von innen her erschließen will und bei einem reinen Bewusstsein endet. Der lebendige Bezug zwischen Bewusstsein und Natur wird zerrieben zwischen äußerer wissenschaftlicher Explikation und innerer philosophischer Reflexion.« 802

Merleau-Ponty kritisiert beide Richtungen: »Die Philosophie des reinen Objekts und des reinen Subjekts sind gleichermaßen terroristisch.« 803 Doch niemals bestreitet Merleau-Ponty die Bedeutung des Subjekts oder des Bewusstseins, und genauso wenig die Bedeutung empirischer Forschungen. Husserls Phänomenologie (wie auch die ersten beiden Kapitel von Bergsons Matière et Mémoire) inspirierten Merleau-Ponty zu einem dritten Weg. Zwar hatte Husserl dem Leib eine ausgezeichnete Stellung unter den Dingen (!) eingeräumt, »indem er betont, dass der Leib nie nur Gegenstand, nie völlig konstituiert sein kann«, doch bei der Reduktion wird »das reale Ich, d. h. das leibliche Ich als Umgebungsobjekt des reinen Ichs« bezeichnet. »Anders ausgedrückt: bei der theoretischen Trennung von eigentlich Ichlichem und Ichfremdem wird der Leib zum Ichfremden gezählt und fällt somit unter die Gesetzmäßigkeit der Kausalität.« 804 Merleau-

800 Taylor, Charles, Leibliches Handeln, in: Métraux/Waldenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft, S. 194–217, hier S. 195. 801 a. a. O., S. 211. 802 Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, S. 149. 803 Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik, S. 118. 804 Frostholm, Leib und Unbewusstes. Freuds Begriff des Unbewussten interpretiert durch den Leib-Begriff Merleau-Pontys, S. 13.

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Phänomenologische Bildtheorien: Merleau-Ponty

Ponty aber entwickelt sowohl Husserls Leibbegriff weiter als auch seinen Begriff von Intentionalität, denn nun wird die Intentionalität des Leibes zum Thema 805; auch er ist, wie z. B. in der Sexualität (PW 185 ff), gerichtet auf etwas außerhalb seiner selbst, zwar nicht bewusst, aber unbewusst oder besser noch vor-bewusst. Unter der Überschrift »das Problem des Leibes« schildert Merleau-Ponty einen Prozess fortschreitender Verdrängung des Leiblichen: »Unsere Wahrnehmung gelangt zu den Gegenständen, und einmal konstituiert, erscheint der Gegenstand als der Grund all unserer wirklichen und möglichen Erfahrungen von ihm.« (PW 91) »Besessen vom Sein« fasst man, die Wahrnehmungserfahrung vergessend, das Sein »nunmehr allein noch als Gegenstand und leitet es ab aus Beziehungen zwischen Gegenständen. Meinen Leib, der mein Gesichtspunkt für die Welt ist, betrachte ich als einen unter den Gegenständen dieser Welt. Ich verdränge das Bewusstsein, das ich von meinem Blick als Mittel der Erkenntnis hatte und betrachte meine Augen als Stücke der Materie. Sie finden ihren Ort im selben objektiven Raum, in dem ich jedes äußere Objekt zu situieren suche […].« (PW 94 f)

Die Lösung von der eigenen Erfahrung markiert den Übergang zur Idee, die nun ihre universale Gültigkeit für jedermann unabhängig von der Erfahrung behaupten kann: »Ich befasse mich nicht mehr mit meinem Leib, noch mit Zeit und Welt, so wie ich sie im vorprädikativen Wissen, in meiner inneren Kommunikation mit ihnen sehe.« (PW 95) Schließlich sprechen wir nur noch von Ideen und verlieren »endlich jede Berührung mit der perzeptiven Erfahrung« (PW 96). Alle Erfahrung erstarrt, und deshalb fordert Merleau-Ponty: »Wir müssen die Alternative, nichts vom Subjekt, oder aber nichts vom Objekt verstehen zu können, zu durchbrechen suchen. Wir müssen den Ursprungsort des Gegenstandes im Innersten unserer Erfahrung selbst aufsuchen, das Erscheinen des Seins zu beschreiben und das Paradox zu verstehen suchen, wie für uns etwas an sich zu sein vermag.« (PW 96)

Unser Leib ist nämlich situiert, was wir gerne vergessen, z. B. in Raum und Zeit, und daher eignet z. B. der räumlichen Situiertheit entsprechend jeder Wahrnehmung auch eine unhintergehbare Perspektivität, die uns immer nur eine Seite der Dinge sehen lässt. Zwar sind andere mögliche Perspektiven horizonthaft mitgegeben, doch wir sind immer nur in der Lage, die Dinge in »Abschattungen« (Mer805

Frostholm, a. a. O., S. 10 und 16 f, s. auch PW 165.

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leau-Ponty verwendet Husserls Begrifflichkeit) wahrzunehmen, nie in ihrer vollen Realität, ihrem »Ansichsein«. Diese Perspektivität ist uns nicht immer bewusst, aber sie ist wie der »blinde Fleck« an der Stelle, von der aus wir sehen (PW 117), die Bedingung, unter der leiblich gebundene Wahrnehmung überhaupt nur zu haben ist. (»Sagt man, das Haus sei nirgendwoher gesehen, sagt man damit nicht am Ende, es sei unsichtbar?« PW 91) Und nur durch Bewegung unseres Eigenleibes und das Bewusstsein des Identischen sind wir in der Lage, zu der Überzeugung zu gelangen, dass verschiedene Perspektiven eines Dinges zusammenhängen bzw. sogar einem einzigen Ding zugehören (PW 239). Wahrnehmung ist also keineswegs das Resultat äußerer Reize (PW 59), sondern das Ergebnis unseres leiblichen (und daher notwendig perspektivischen) Gerichtetseins auf die Dinge, die sich uns unter Umständen auch nur zeigen, indem sie sich gegenseitig verdecken: »Immer nämlich sehen wir nur von irgendwoher, ohne aber dass das Sehen in seine Perspektive sich einschlösse« (PW 91). Merleau-Pontys ausführliche Untersuchungen zum Thema Perspektivität befassen sich auch mit der Zentralperspektive in der Malerei, denn die bildnerische Raumarchitektur scheint dem Aufbau unseres Wahrnehmungsfeldes »aufs schönste« zu entsprechen. 806 Doch ist die klassische Kunst wirklich so objektiv und wirklichkeitsgetreu? Diese Zentralperspektive ist für Merleau-Ponty ganz und gar »Darstellungsmittel«, »in Wirklichkeit ganz und gar geschaffen« und keineswegs »ein Funktionsgesetz der Wahrnehmung«. 807 Vielmehr entstammt sie einer »Kulturordnung«; sie ist »eine vom Menschen erfundene Manier […], die Wahrnehmungswelt vor sich hin zu projizieren, und nicht das genaue Abbild dieser Welt«. 808 Denn in Wirklichkeit verdecken und widerstreiten die Dinge einander, sind nicht für eine schauende Wahrnehmung hintereinander aufbereitet, sondern simultan: Beim Sehen ist man »überflutet von einem Horizont sichtbarer Dinge, die inkompossibel« sind mit dem gerade ins Auge Gefassten, »die aber gerade dadurch mit ihnen gleichzeitig« sind. Man macht die Erfahrung einer »Welt von wim-

806 Waldenfels, Das Zerspringen des Seins. Ontologische Auslegung der Erfahrung am Leitfaden der Malerei, in: Métraux/Waldenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft, S. 144–161, hier S. 145. 807 Merleau-Ponty, Die indirekte Sprache, in: ders., Die Prosa der Welt, S. 72 f. 808 a. a. O., S. 73.

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Phänomenologische Bildtheorien: Merleau-Ponty

melnden, exklusiven Dingen […], die jedes für sich den Blick ansprechen und die insgesamt nur in einem zeitlichen Durchlauf erfasst werden können – wobei jeder Gewinn zugleich ein Verlust ist.« 809 Die Zentralperspektive bringt Ordnung in das Ganze: »Nun aber konstruiere ich eine Darstellung, in der jedes aufhört, die ganze Sicht für sich zu beanspruchen, in der ein jedes Zugeständnisse macht und darin einwilligt, nicht mehr Raum auf dem Papier einzunehmen, als ihm von den anderen überlassen wird. Als mein Blick Tiefe, Höhe und Breite unbefangen durchstreifte, war er keinem Gesichtspunkt unterworfen, weil er einen nach dem anderen aufnahm und dann wieder aufgab; jetzt aber verzichte ich auf diese Ubiquität und bin bereit, in meiner Zeichnung nur das darzustellen, was ein unbewegliches Auge von einem bestimmten Standort aus sehen könnte, wäre es auf einen ein für alle Mal gewählten, bestimmten ›Fluchtpunkt‹ mit einer bestimmten ›Horizontlinie‹ fixiert.« 810

Solchermaßen wird der Blick gelenkt; die Zentralperspektive als Technik ist »die Verwirklichung und Erfindung einer beherrschten Welt, die ganz und gar in unserem Besitz ist«. 811 Für Waldenfels ist das eine »Domestikation des Blicks auf Kosten der Leibhaftigkeit und Lebhaftigkeit der Dinge« im Gegensatz zu überquellenden »barocke (n) Welt« (von Merleau-Ponty »monde sauvage« oder être brut« genannt), und er fragt, was denn mit dem passiere, was in den Schatten gestellt und an den Rand gedrängt werde, und wer überhaupt dabei mit welcher ordnenden Hand agiere, bzw. auswähle, was für uns wie sichtbar wird. 812 Solche Bilder stellen also auch, wenn man mit Bergson interpretieren möchte, eine weitere Form der Verräumlichung von Zeit dar, wie sie für abendländisches Denken nicht selten ist. Der von MerleauPonty bewunderte Cézanne hatte also durchaus Grund, über die Zentralperspektive hinauszugehen und sich eine andere Art von Tiefe zu erarbeiten. Auch die Zeit ist uns nicht als abstrakte Größe gegeben: Wir erfahren sie »im Rückgang zu den Sachen selbst« zuallererst in der Bewegung unseres Leibes, die ein gestaffeltes Hintereinander (auch dies eine Verräumlichung) bzw. Nacheinander unserer Wahrnehmungserfahrungen erzeugt. Schließlich sind wir auch mit unserem 809 810 811 812

a. a. O., S. 74. ebd. a. a. O., S. 75. Waldenfels, Das Zerspringen des Seins, a. a. O., S. 150 f.

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Leib nicht außerhalb der Zeit: Er altert und ist in die genetischen Prozesse der Welt hineingestellt. Diesen Gedanken der Zeitlichkeit unserer Erfahrung hatte bereits Husserl nach seiner »genetischen Wende« für die Phänomenologie entwickelt und mit seinen Gedanken zu Retention und Protention konkretisiert. Da der Leib »zur Welt« ist (im Heidegger’schen Sinn), ist er in eine anhaltende Genesis gestellt und bewegt sich unter anderen Leibern und Dingen. Doch der Leib hat eine Erfahrungsgeschichte, sie ist ihm eingeschrieben: Sedimentierungen, Habitualitäten, implizites Wissen gestalten (wie bei Bergson) die aktuellen leiblichen Wahrnehmungsbezüge mit (PW 172–177 und 182–188). Die Retentionen vergangener Wahrnehmungserfahrungen und die in die Zukunft weisenden intentionalen Erwartungshaltungen bilden also den Rahmen für das im Hier und Jetzt sich aktuell vollziehende Wahrnehmungsgeschehen, denn keine Wahrnehmung bleibt allein auf einen Jetztzeitpunkt beschränkt; und nur in diesen Bezügen kann sich Wahrgenommenes als dieses oder jenes zeigen, 813 und nur hier, auf diesem Hintergrund, kann sich eine Bedeutung formieren bzw. Sinn ausbilden und Wissen entstehen. »Alles verweist mich so auf das Präsenzfeld zurück als das Feld der originären Erfahrung, wo die Zeit mit ihren Dimensionen leibhaftig erscheint, in letzter Evidenz und ohne eingeschobenen Abstand. Hier ist es, wo wir eine Zukunft in die Gegenwart und in die Vergangenheit hinübergleiten sehen.« (PW 473)

Die Zeit mit ihrem Präsenzfeld als »Geflecht von Intentionalitäten« (PW 474) spielt für dieses leiblich inkarnierte Bewusstsein somit eine viel wesentlichere Rolle als für Husserl, denn jede »Gegenwart (ist) stets nur gegenwärtig zwischen zwei Horizonten der Abwesenheit, dem der Vergangenheit und dem der Zukunft« (PW 43), und dabei geht es um subjektrelative, erlebte Zeit. »Mit Merleau-Ponty muss damit nicht nur die räumlich-kontextuelle, sondern ebenso die zeitliche Extension der Wahrnehmung dargelegt werden. Auf diesem irreduziblen Zusammenhalt beharrend spricht er von einer Quasi-Synthese, die nicht nur Elemente in ihrem Nebeneinander umklammert, sondern auch in einen zeitlichen Verlauf bringt. Weder das Nebeneinander noch das Nacheinander wären dabei nachträgliche Ordnungsmus-

813

Laner, Revisionen der Zeitlichkeit, S. 314.

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ter der Wahrnehmung, sondern strukturieren jedes Wahrgenommene als sich immer schon vollziehende passive Synthesis mit.« 814

Alle anderen darauf aufbauenden Synthesisleistungen – wie Begriffsbildung (die Zuordnung vielfältiger Einzelerscheinungen unter einen allgemeinen Begriff ist eigentlich ein Subsumptionsschluss), Urteil als Synthesis von Begriffen, Reflexion über Urteile und ihre Folgen – sind dann schon sprachlich gebunden und damit im Austausch mit den Mitsubjekten abzugleichen. Hier ist nun der Ort, auch die Sprache, bzw. das Sprechen, was wir gerne vergessen, wie Mimik und Gestik (PW 218 ff) als leiblich gebundenen Ausdruck zu beschreiben, denn der »Wortleib (ist) das materielle Instrument des sprachlichen Ausdrucks« und das Sprechen daher eine Verbindung von Motorik und Intelligenz (PW 230). Diejenigen Philosophien, die die Sprache von dieser Einbindung abtrennen und in der Formalisierung der Sprache sich über dieselbe aufklären wollen, hält Merleau-Ponty für »Hirngespinste«. 815 Bereits in der frühen Phänomenologie hatte Merleau-Ponty unter der Überschrift »Der Leib als Ausdruck und die Sprache« festgehalten, dass die lebendige Sprache berufen ist, der Kommunikation »eine geistige Landschaft« zu erschließen, denn »in Gestalt der verfügbaren Bedeutungen, d. h. aufgrund vorangegangener Ausdrucksakte, besitzen die sprechenden Subjekte eine gemeinsame Welt« (PW 221). Doch »das Wunder des Ausdrucks« (PW 229 ff) geht über den Bereich der Sprache weit hinaus (Merleau-Ponty erwähnt am Ende des Kapitels Cézanne (PW 223), denn er sieht auch Bilder als Ausdrucksgeschehen); und das Thema wird ihn in seinen späteren Schriften weiter beschäftigen. 3.3.3.2 Inkarnierter Sinn In seinem ersten Buch Die Struktur des Verhaltens hatte MerleauPonty ein eindrucksvolles Beispiel für die Leibbezogenheit eines Handlungsfeldes gegeben: »Der Fußballplatz ist für den Spieler in Aktion kein ›Objekt‹, d. h. der ideelle Zielpunkt, der eine unendliche Mannigfaltigkeit perspektivischer Ansichten zulässt und in all seinen erscheinungsmäßigen Umformungen den gleia. a. O., S. 319. Merleau-Ponty, Das Hirngespinst einer reinen Sprache, in: ders., Die Prosa der Welt, S. 27 ff. 814 815

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Der philosophische Bilderstreit

chen Wert behauptet. Er ist von Kraftlinien durchzogen (›Seitenlinie‹, Linien, die den Strafraum abgrenzen) – in Abschnitte gegliedert (z. B. die ›Lücken‹ zwischen den Gegnern), die eine Aktion von ganz bestimmter Art herbeirufen, sie auslösen und tragen, gleichsam ohne Wissen des Spielers. Der Spielplatz ist ihm nicht gegeben, sondern er ist gegenwärtig als der immanente Zielpunkt seiner praktischen Intentionen; der Spieler bezieht ihn in seinen Körper mit ein und spürt z. B. die Richtung des ›Tores‹ ebenso unmittelbar wie die Vertikale und Horizontale seines eigenen Leibes.« 816

Auch der Orgelspieler hat sein Instrument als Handlungsfeld internalisiert, 817 um darauf und damit sinnhaft agieren zu können (auch hier ist leibliche Intentionalität am Werke). Merleau-Ponty spricht von einem »Leibwissen« (PW 174) und macht mit diesen Beispielen deutlich, dass – gegen Descartes – im Leib Subjekt und Objekt, Subjektivität und Objektivität immer schon verschränkt und kaum zu trennen sind. Sein Ziel schon in diesem frühen Buch ist die Auflösung der »Alternative von Ansich und Fürsich«, die »Alternative einer Philosophie, die äußerlich verbundene Glieder nebeneinander ordnet, und einer anderen Philosophie, die die inneren Beziehungen des Denkens in allen Phänomenen wiederfindet« 818. Für Laner relativiert Merleau-Ponty damit in gewisser Weise den phänomenologischen Vorrang der Ich-Perspektive. 819 Denn mit dem Begriff des Verhaltens hat Merleau-Ponty jenen Zwischen- Bereich gefunden, der, weder Ding noch Idee, die sinnhafte Bezogenheit des Menschen auf seine Umwelt hin zu erfassen ermöglicht. Seine Beispiele machen deutlich, dass zur Erklärung solchen Verhaltens der Behaviorismus mit seinem Reiz-Reaktions-Modell und vor allem der Reflexlehre (»Reflexologie«) völlig unzureichend ist. Denn es ist keineswegs bloß der optische Reiz (einer Note oder, im Falle des Schreibmaschinenschreibens, die Buchstaben eines Wortes, die zu einer bestimmten motorischen Reaktion, nämlich der Umsetzung der vorgegebenen Zeichen in eine Melodie oder ein getipptes Wort, Anlass geben. (»Der Mensch reagiert nicht auf isolierte Gegenstände und Reize […], er nimmt vielmehr schon im Körper selbst Physiognomien auf […]« 820). Der Orgelspieler kann sogar nach dem Erwerb gewisser motorischer

816 817 818 819 820

Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, S. 193. Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, S. 136 f. a. a. O., S. 142 f. Laner, Revisionen der Zeitlichkeit, S. 279. Bermes, Maurice Merleau-Ponty, S. 44.

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Phänomenologische Bildtheorien: Merleau-Ponty

Gewohnheiten improvisieren, sich also mit Hilfe des Instruments ausdrücken: »es gelingt ihm, in dem Raum, in dem seine Hände und Füße spielen, Abschnitte, Richtungszeichen und Bewegungskurven ›wiederzuerkennen‹, die nicht genau bestimmten Notengruppen entsprechen, sondern Ausdruckswerten. […] Der Verlauf der Melodie, die graphische Gestaltung des Musiktextes und der Ablauf der Körperbewegungen partizipieren an einer und derselben Struktur und haben gemeinsam ein und denselben Bedeutungskern«. 821

Hier kommt Merleau-Ponty die aus der Psychologie heraus entstandene Gestalttheorie zupass, denn nach ihr wird der Mensch als offenes System gesehen, dessen Wahrnehmung, Gefühle und Verhaltensweisen sich zu bestimmten Mustern ordnen, sodass Interaktion mit der Welt im Sinne eines dynamischen Feldes interpretiert werden kann. Besonders für Goldstein, den Merleau-Ponty in Die Struktur des Verhaltens oft zitiert, geht es dabei um eine ganzheitliche Theorie des Organismus. Der Behaviorismus hingegen funktioniere nach einem mechanistischen Modell, das die Innerlichkeit ignoriere (»Black Box«) und den Bereich der Dinge nicht verlasse und daher das »Wesentliche an dem Phänomen« verpasse: »Das Verhalten ist kein Ding, aber auch keine Idee, es ist nicht die Hülle eines reinen Bewusstseins, und als Zeuge eines Verhaltens bin ich kein reines Bewusstsein. Genau das meinten wir, als wir sagten, es sei eine Gestalt.« 822 Das Verhalten ist nämlich nicht wie im Behaviorismus als Wirkung der physikalischen Welt von dieser verursacht 823 und kann insbesondere nicht erschöpfend als Reflex auf diese Welt verstanden werden. Denn zur natürlichen Struktur des psycho-physischen Subjekts gehört ein »Körperschema« (PW 21), das in jedes Verhalten mit eingeht und sich in ihm artikuliert, und hier können sich »die genannten Kategorien von Reiz und Reaktion oder auch von Innen und Außen allererst bilden«. 824 Merleau-Ponty orientiert sich auch an einem biologischen Modell, das er bei Uexküll findet, 825 denn dieser hatte für die theoretische 821 822 823 824 825

Merleau-Ponty, a. a. O., S. 137. Merleau-Ponty, a. a. O., S. 143. a. a. O., S. 149. Bermes, Maurice Merleau-Ponty, S. 44. Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, S. 182.

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Der philosophische Bilderstreit

Biologie als erster einen Umwelt-Begriff formuliert. In seiner biologischen Raum-Zeit-Lehre ist das empirische Subjekt – wie seine Objekte – in »Funktionskreise« seiner Umwelt planmäßig eingepasst. Zwischen den rezeptorischen Organen des Tieres und der sogenannten »Merkwelt« und den effektorischen Organen und der »Wirkwelt« des Tieres besteht eine enge Korrelation (z. B. in einem Spinnennetz), und dies ist der Grundgedanke von Uexkülls Funktionenkreis-Lehre. Uexküll spricht vom »Hüllen- oder Gehäuse-Charakter jeder Umwelt«, 826 für die er das suggestive Bild der »Seifenblase« findet, die »erfüllt ist von allen jenen Merkmalen, die nur dem Subjekt zugänglich sind«. 827 Innerhalb dieser »Seifenblase« – auch Merleau-Ponty verwendet diesen an die Leibniz’sche Monade erinnernden Begriff 828 – konstituiert sich ein systemisches Aufeinander-Bezogensein vom Rezeptivität und Aktivität. Und damit wird diese Umwelt für Merleau-Ponty zu einem Feld der Bedeutungen, die sich ergeben durch eine offene Dialektik zwischen Umwelt und sinnerzeugendem Verhalten. Denn auch der Fußballspieler verändert mit jedem seiner Manöver »den Aspekt des Spielfeldes und zeichnet darin neue Kraftlinien ein, wo dann ihrerseits die Handlung verläuft und sich realisiert, indem sie das phänomenale Feld erneut verändert«. 829 Für Uexküll ging es um die Frage, wie »eine Disziplin, die sich mit dem Phänomen des Lebendigen in der Natur befasst, den extremen Positionen einer vitalistischen Psychologie und einer mechanistischen Physiologie entgehen kann, ohne sein Forschungsobjekt an diese Disziplinen zu verlieren«. 830 Uexkülls Alternative ist für Merleau-Ponty interessant und wird von ihm daher aufgenommen und weitergeführt: Die philosophiegeschichtlich »traditionelle Dichotomie von Leib und Seele und ihre unheilvollen Reduktionen« 831 werden strukturell umgedeutet, da sie nun eine »allgemeine ORDNUNG zum Ausdruck bringen, unter der Organismus und Umwelt korrespondieren«. 832 Damit geht es bei »Struktur« und »Gestalt« um die ursprüngliche Organisation der Wirklichkeit, sodass im Verhalten Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 219. Ders., Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, S. 22. 828 Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, S. 149. 829 a. a. O., S. 194. 830 Boer, Maurice Merleau-Ponty – Die Entwicklung seines Strukturdenkens, S. 81. 831 Boer, ebd. 832 Boer, a. a. O., S. 82 bezieht sich hier auf Uexküll, Theorie der Biologie, S. 128 und 148. Majuskeln im Original. 826 827

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eine spontane Selbstorganisation möglich wird. Denn das entstehende Verhalten ist dergestalt »neutral gegenüber der Unterscheidung von Psychischem und Physiologischem«; das Bewusstsein tritt nicht von außen hinzu oder liegt bereits fertig vor, sondern »entwickelt sich aus dem Verhalten selber […] als eine seiner Strukturen«. 833 Waldenfels gibt eine ausführliche Analyse verschiedener Stufen von Strukturen der Selbstorganisation höherer und niederer Ordnung, die miteinander verflochten sind und aufeinander aufbauen, sodass man sogar von einer Hierarchie dieser Strukturen sprechen kann. Für ihn entsteht so eine »integrative Verhaltenstheorie, in der Struktur, Gestalt, Sinn, Bedeutung, Norm und Ordnung eine entscheidende Rolle spielen«. 834 Die Beziehung zur Welt ist also ein offener, wenn auch stummer Dialog: »Der Mensch spricht zur Welt, die Welt spricht aber auch zum Menschen. Der sinnlich-sinnstiftende Mensch befragt gleichsam die sinnlich-sinnhafte Welt, und die Welt antwortet, doch die Frage antizipiert schon in einem gewissen Sinne die Antwort« (PW 160 f). Wir erfahren und verstehen die Welt als eine, in der wir leiblich verankert sind – jeder Leib hat seine Welt –, die aber gleichzeitig vorgängig ist und uns übersteigt, die aber doch nur Welt ist kraft leiblich gebundener und in sinnhaftem Verhalten eingebetteter Wahrnehmung. Damit muss der Begriff der Empfindung neu gefasst werden: Bereits zu Beginn der PW hatte Merleau-Ponty den Empfindungsbegriff von Physiologie und Psychologie scharf zurückgewiesen. Sie kann nicht mehr als verursacht von Außenreizen verstanden werden, die vom Leib mechanistisch zu verarbeiten sind, oder als diejenige Instanz im Bewusstsein, die diesen Außenreiz erst mit Sinn belegt. Die Empfindung bleibt »das intentionale Geflecht« (PW 76), es ist jenseits aller Vereinseitigungen »lebendige Kommunikation« (PW 76), ja sogar »Kommunion« (PW 249) des sinnhaft Empfindenden mit dem sinnlich Empfundenen (PW 251), und zwar bereits präreflexiv. Und dies impliziert nun auch einen neuen Bewusstseinsbegriff, in dem die Welt nicht zum bloßen idealistischen Bewusstseinskorrelat verkommen und auch nicht, wie bei Husserl, durch immer weitere phänomenologische Reduktionen aus dem Blick geraten darf. Diese 833 834

Waldenfels, a. a. O., S. 152 f. Waldenfels, a. a. O., S. 154 ff und 152.

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Welt ist vielmehr »als Heimat des Handelns, Wahrnehmens und Denkens wiederzuentdecken«. 835 Merleau-Ponty befreite das Bewusstsein »aus seiner einseitig intellektualistischen Auslegung, indem er es auf die präreflexiven Strukturen zurückdrängte«. 836 Denn das Bewusstsein ist auf der Ebene der Einpassung (Uexküll) des Organismus in die Umwelt leiblich koexistent mit dieser, MerleauPonty redet sogar mit einem Paul Claudel entlehnten Wortspiel von »co-naissance«, einer gleichzeitigen Geburt. 837 Das zunächst apersonale Bewusstsein 838 ruht auf einem »schweigenden Cogito«, einer präreflexiven Ebene auf, in der seine Inhalte erst durch Interaktion mit der unmittelbaren Umwelt Gestalt annehmen und Strukturen entstehen lassen. Dieses Bewusstsein ist leiblich gebunden; und die Kategorien von Subjekt und Objekt müssen sich erst in ihm herausbilden. Es aktualisiert sich immer dort, »wo die einheitliche Beziehung zwischen Lebenssubjekt und Umwelt in doppelter Richtung, rezeptiv und motorisch, durch den Leib besteht. Diese Art von Bewusstsein ist bei den Dingen, nicht sofern sie Dinge sind, sondern bestimmte Bedeutungsmomente eines strukturierten Umfeldes, das sich primär als Aktionsfeld darstellt.« 839 Somit wird der Leib selbst – anders als bei Husserl – zum transzendentalen Motiv. »Spricht Merleau-Ponty von Konstitution, so meint er damit den Aufweis einer bereits anonym vollzogenen, leiblich vermittelten Konstitution, die sich einer analytischen und leibfernen Reflexion entzieht und erst recht nicht in einem transzendentalen Bewusstsein aufgehoben werden kann. Merleau-Ponty bewegt sich in dem Spannungsfeld einer Rekonstitution von bereits Konstituiertem, ohne diese Ambiguität reflexiv aufzulösen.« 840

Diese Ambiguität von Sinn und Sinnlichkeit erweist den Leib als Vollzugsort jeder Bedeutungskonstitution, sodass er auch »der Ursprungsort von Subjekt und Objekt, Ich und Welt ist«. 841 Gegen die cartesische Substanzontologie, in der sich das reflexiv gewonnene Cogito als reines Selbst von allen präreflexiven Voraussetzungen abBermes, a. a. O., S. 91. Boer, a. a. O., S. 97 bezieht sich auf Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, S. 233 und 255 ff. 837 Merleau-Ponty, a. a. O., S. 229. 838 Boer, a. a. O., S. 97. 839 Boer, a. a. O., S. 97 f. 840 Bermes, Maurice Merleau-Ponty, S. 67 f. 841 a. a. O., S. 69. 835 836

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hebt, ist dieser genetische Bewusstseinsbegriff zurückgebunden »an die Ambivalenz der lebendigen Bedeutungen und die Strukturen der vitalen Leistungen«. 842 Max Scheler hatte in seinen phänomenologischen Untersuchungen – im Gegensatz zur Umwelteingebundenheit der Tiere – Menschwerdung als die »Erhebung zur Weltoffenheit kraft des Geistes« und eine »Fernstellung der Umwelt zur Welt« kraft der dem Menschen eigenen Fähigkeit zur Begriffsbildung beschrieben. Im Gegensatz dazu ist es bei Merleau-Ponty die Offenheit eines in Interaktion mit der Umwelt stehenden und entstehenden Verhaltens, das »die Verwirklichung der Wahr-Nehmung erst möglich macht« (PW 345). Diese hat bereits den Charakter der Weltoffenheit; sie wird nicht erst durch den Geist bewirkt. Und es ist nun diese Ebene der Interaktion mit der Umwelt, in der sich, da die Welt »nicht nur meine Welt ist« (PW 390), auch das Verhalten des Anderen abzeichnet, das sich auf eben diese Welt richtet (PW 390). In einer »menschlichen Atmosphäre« sedimentieren sich nämlich die menschlichen Akte äußerlich – so entsteht Kultur –, doch »der erste aller Kulturgegenstände« in einer nicht von mir geprägten Welt ist der Leib eines Anderen, insofern er ein sich ebenfalls verhaltender Leib ist. (PW 399 f) Besonders für frühkindliches, aber auch für späteres Verhalten gilt: »[…] Mein Leib ist es, der den Leib des Anderen wahrnimmt, und er findet in ihm so etwas wie eine wunderbare Fortsetzung seiner eigenen Intentionen, eine vertraute Weise des Umgangs mit der Welt; und wie die Teile meines Leibes ein zusammenhängendes System bilden, bilden somit auch der fremde Leib und der meinige ein einziges Ganzes […].« (PW 405)

Die Intersubjektivität wird besonders durch das »Kulturobjekt« der Sprache vertieft, es bildet sich auch im Symbolischen ein gemeinsamer Boden für das »Sein zu zweien« (PW 406). Im Gegensatz zu Sartre, bei dem das Blickgeschehen zur gegenseitigen Verobjektivierung, Verdinglichung und Distanzierung führt, geht Merleau-Ponty von der Wirklichkeit zwischenleiblichen Verhaltens aus, denn »der Andere als Anderer (wird) in einer gemeinsamen Situation zugänglich«, auch wenn er zugleich doch in gewisser Weise abwesend bleibt, »der Andere (wird) nicht vollständig integriert – er bleibt der

842

Boer, a. a. O., S. 98 f.

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Andere.« 843 (Hier klingt Lévinas an, der Husserls Pariser Vorträge ins Französische übersetzt hatte.) Obwohl sich im Dialog eine gemeinsame Welt bilden kann, bleibt doch jeder auf seine Funktionskreise verwiesen und findet Verankerung in seiner Welt, sodass MerleauPonty auch von der »Komödie eines Solipsismus zu vielen«, der unüberwindlich bleibt, spricht (PW 409 ff). Um daher abschließend noch einmal auf das sinnhafte Verhalten des Organisten in seiner »Seifenblase« zurückzukommen: »Mit den symbolischen Gestalten«, z. B. in einer Notenschrift, tritt – anders als bei Tieren – »ein Verhalten auf, das den Reiz für sich ausdrückt«, das diese Notenschrift entsprechend der habitualisierten Strukturen des Verhaltens umsetzt, und »das auf die Adäquation von Bezeichnendem und Bezeichnetem, von Intention und Intendiertem ausgeht. Hier hat das je eigene Verhalten nicht nur eine Bedeutung, es ist Bedeutung.« 844 So ist die Bedeutung ›inkarniert‹, d. h. »eingelassen in das Material, das sie durchformt«. 845 Die Saussure’schen Dimensionen von signifiant und signifié werden identifiziert, die Unterschiede zwischen dem Zeichen und seiner Referenz (Goodman würde sagen: seiner Erfüllungsklasse) werden eingeebnet (»Kommunion«) und damit auch die im Zeichenbegriff bewusst angelegte Distanz zum Bezeichneten, was für den Bildbegriff Folgen haben wird. 3.3.3.3 »Entrelacement« zwischen Empirismus und Idealismus Bezogen auf Marx’ Diktum, er habe »Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt«, kontert Merleau-Ponty im Vorwort zu PW: »Was Marx sagt, dass die Geschichte nicht auf dem Kopfe geht, ist wahr, doch nicht minder wahr ist es, dass sie nicht mit den Füßen denkt.« (PW 16) Bereits im Vorwort zu PW hatte Merleau-Ponty gegen die »Vorurteile bestimmter Wahrnehmungstheorien« polemisiert, gegen die sich seine Überlegungen richteten. Dabei handelt es sich vor allem um zwei »Standpunkte, die Merleau-Ponty recht global als ›Empirismus‹ und ›Intellektualismus‹ bzw. als ›Realismus‹ und ›Idealismus‹ bezeichnet, ohne dass im Einzelnen immer mit der wünschenswerten Klarheit differenziert würde.« 846 (Für Bermes verbietet es sich, Mer843 844 845 846

Bermes, a. a. O., S. 93. Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, S. 138. Waldenfels, a. a. O., S. 154. Pilz, Maurice Merleau-Ponty. Ontologie und Wissenschaftskritik, S. 37.

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leau-Pontys »simplifizierende Gegenüberstellung von Empirismus und Idealismus«, da er auf dem Weg zu einer neuen Philosophie gewesen sei, »allzu schnell als historisch überholt oder philologisch unangemessen zu bezeichnen«. 847) Es geht Merleau-Ponty darum, das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Natur zu erhellen, das seit Descartes mit seiner Aufspaltung der Welt in nur zwei Substanzen, res cogitans und res extensa, einen kanonisch gewordenen Dualismus zur Folge hatte, der noch bis in die Hegel’sche Dialektik – und darüber hinaus – wirksam war und oft immer noch ist. Zudem ist Descartes auch für das mechanistische Denken in vielen Wissenschaften verantwortlich, das bis in den Marxismus hinein gewirkt hat. Merleau-Ponty möchte versuchen, »die Perspektive des Idealismus, in der nichts ist, es sei denn als Gegenstand für das Bewusstsein, ins Verhältnis zu setzen zur Perspektive des Realismus, der gemäß alles Bewusstsein verwoben ist ins Geflecht der objektiven Welt und der Geschehnisse an sich; oder endlich, nochmal anders ausgedrückt, zu begreifen, wie es kommt, dass Welt und Mensch zweierlei Weisen der Forschung zugänglich sind, der erklärenden und der reflexiven.« (PW 487)

Zwar ist Merleau-Ponty überzeugt, dass Leiblichkeit, Temporalisierung und Geschichtlichkeit Basis jeder Phänomenologie sein müssen, doch er wendet sich gegen jede Vereinseitigung. Daher setzt er sich ausführlich mit den Ansätzen der empirischen Psychologie seiner Zeit auseinander und kritisiert, dass große Teile der Psychologie das Bewusstsein als »ein Stück dieser Welt« (PW 62) begreifen. »Das Bewusstsein wird als ein Objekt unter anderen Objekten gedacht, das den naturwissenschaftlichen Gesetzen blindlings folgt, wie es auch in einer Terminologie zu erklären ist, die keinen Unterschied zwischen Welt und Bewusstsein kennt.« 848 Zweitens beschreibe der Empirist die Empfindungen, »so wie man die Fauna eines fernen Landes beschreibt – ohne irgend daran zu denken, dass er ja selbst wahrnimmt, selbst wahrnehmendes Subjekt ist.« (PW 244) Subjektivität und Perspektivität, obwohl sie gerade Bedingungen jeder menschlichen Erkenntnis sind, werden ignoriert. Und drittens vergesse, ganz im Sinne Husserls, das wissenschaftliche Denken seinen Ursprung und seine Verwurzelung in der Lebenswelt. 849 847 848 849

a. a. O., S. 40. Bermes, a. a. O., S. 41 f. vgl. Bermes, a. a. O., S. 41 f.

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Das gilt nun leider auch für die vorgeblich objektive und wissenschaftliche Begrifflichkeit des Marxismus, die Merleau-Ponty an vielen Stellen, z. B. in Die Abenteuer der Dialektik, kritisiert. Nachdem er zusammen mit Sartre nach dem Krieg in einer Gruppe (»socialisme et liberté«) aktiv war, wendet er sich anlässlich des Korea-Krieges vom Kommunismus ab, der »von der historischen Verantwortung zur bloßen Disziplin […], vom Marxismus zum Aberglauben« übergehe. 850 Das liegt besonders an der totalisierenden Tendenz, denn man könne nicht vorab über Menschenleben urteilen, die noch gar nicht gelebt seien. »Die marxistische Orthodoxie […] begnügt sich damit, die Dinge und die Verhältnisse zwischen Personen gegenüberzustellen; der Dialektik eine Dosis Naturalismus beizumischen, die – wie abgemessen sie auch sei – jene alsbald auflöst; die Dialektik im Objekt, im Sein, wozu sie am wenigsten fähig ist, zu situieren. Daher der kommunistische Eklektizismus, dieses unbeständige Gemisch aus Hegelianismus und Szientivismus, das es der Orthodoxie gestattet, im Namen ›philosophischer‹ Prinzipien alles abzulehnen, was die Wissenschaften vom Menschen seit Engels zu sagen versuchen können, und doch mit ›wissenschaftlichem Sozialismus‹ zu antworten, wenn man philosophisch spricht.« 851

Der marxistische Materialismus beruft sich auf eine wissenschaftliche und praktische Ökonomie als Basis aller gesellschaftlichen Verhältnisse und des entsprechenden Klassenbewusstseins und leitet dies aus Erfahrungen ab, die aber verallgemeinert und extrapoliert werden. (»Alle Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen.«) Und das kann kritisiert werden. Seine Marxismuskritik verbindet Merleau-Ponty, nicht nur in Die Abenteuer der Dialektik, mit einer teilweise scharfen Sartre-Kritik: Obwohl dieser wohl »besser gerüstet« sei als irgendjemand anders, »den Kommunismus […] zu verstehen und zu erklären, tut er es deshalb gerade nicht, weil, seiner Auffassung nach, der eigentliche Sinn des Kommunismus jenseits aller dialektischen Fehlvorstellungen in dem kategorischen Willen liegt, das ins Sein zu bringen, das niemals gewesen ist«. 852 Dennoch mache er keinen Unterschied zwischen Marx, den Ideologien des Sowjetkommunismus und seinem

850 851 852

Merleau-Ponty, Marxismus und Aberglaube, in: ders., Zeichen, S. 387. Merleau-Ponty, Abenteuer der Dialektik, S. 80. a. a. O., S. 119.

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eigenen Denken, obwohl er die Dialektik und die Geschichtsphilosophie durch eine Philosophie der absoluten Schöpfung im Unbekannten ersetze. 853 Dabei bleibe er »innerhalb der Subjektsphilosophie«, gleichzeitig aber bleibe er »ein ausgemachter Realist, weil seine Argumentation beherrscht ist von den Kategorien der reinen Tatsache«. 854 Sartre habe niemals etwas anders anerkannt als das reine Für-sich-Sein und sein unabweisbares Korrelat: das reine Sein-ansich. Das Zwischen komme bei ihm nicht vor; obwohl es bei ihm um Aktion ginge, fehle »eine Theorie der Aktion […], die ganz und gar im Zwischenbereich liegt«. 855 Er sei vorgeblich »Marxist, also Realist«, 856 gleichzeitig bleibe er aber Bewusstseinsphilosoph. Der empiristische Zugang zur Wahrnehmung – bis hin zur marxistischen Widerspiegelungstheorie – setzt einen oberflächlich erkennbaren, objektiv feststellbaren kausalen – und reduktiven – Mechanismus (einer Projektion von außen nach innen) und löst die Wahrnehmungsempfindungen ab von leibgebundener Affektivität und Motorik, sie werden dann nur noch zur bloßen Rezeption einer Qualität. Das aber führt zur Entfremdung: »Der also entstellte lebendige Leib war nicht mehr mein Leib, sichtbarer Ausdruck eines konkreten Ich, sondern nur mehr ein Gegenstand unter anderen.« So wurde »der lebendige Leib zu einem Äußerlichen ohne Innerlichkeit« und »die Subjektivität zu einem Innerlichen ohne Äußerlichkeit, zu einem unbeteiligten Zuschauer«. (PW 79)

Der von Merleau-Ponty so genannte Intellektualismus hingegen ordnet anders als der Empirismus die Wahrnehmung der Operation des Denkens (von innen nach außen) unter. Die »intellektualistische oder idealistische Philosophie (rückt) das Subjekt der Wahrnehmung und Handlung in den Vordergrund. Doch […] der Schwerpunkt der Theorie scheint nur verschoben vom Objekt zum Subjekt«: 857 »So erfahren die sämtlichen Thesen des Empirismus einen Umsturz: der Zustand des Bewusstseins wird zum Bewusstsein eines Zustandes, Passivität zur Setzung der Passivität, die Welt wird zum Korrelat einer Weltvorstellung und existiert nur mehr für einen sie Konstituierenden.« (PW 245)

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a. a. O., S. 120 und 122. a. a. O., S. 130 und 141. a. a. O., S. 170 und 229. a. a. O., S. 192. Bermes, a. a. O., S. 45.

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Beides ist für Merleau-Ponty falsch: »Der Empirismus sieht nicht, dass wir nichts suchten, wüssten wir nicht, was wir suchen; der Intellektualismus sieht nicht, dass wir gleichfalls nichts suchten, wüssten wir, was wir suchen.« (PW 49) Der Intellektualismus/Idealismus sieht die Welt immer nur als Konstrukt des Bewusstseins, bleibt also intramental und kann Wahrheit nur als interne Stimmigkeit, nicht als Prüfung an einer wie auch immer gearteten Realität sehen, die als korrespondierend nur angenommen werden kann, über die sich ansonsten aber nichts sagen lässt. Beide Positionen sehen »die Welt als einen endgültig gegliederten Kosmos einzelner Dinge und Sachverhalte«, aber »im Empirismus ist diese These Ausgangspunkt der Überlegungen, im Intellektualismus Ziel der Konstruktion«. 858 Doch »die intellektualistische Analyse (ist) weniger falsch, als abstrakt« (PW 152), sie stützt sich auf eine »Symbolfunktion« oder »Repräsentationsfunktion« (hier beruft Merleau-Ponty sich auf Cassirers Philosophie der symbolischen Formen); ihr »Unrecht« sei nur, dass sie sich loslöse »von den Materialen, in denen sie sich verwirklicht«, sodass Gemeinsamkeit nur noch im Sinn, nicht mehr im Sein gesucht werden könne. 859 Auch Kant, der ja eigentlich Empirismus und Rationalismus versöhnen wollte, blieb »Intellektualist«: Die Gegenstände der Wahrnehmung werden vom Bewusstsein, z. B. durch Kants Kategorien, konstituiert, und das lässt keinen Raum mehr für die Ebene des wahrnehmenden Leibes. Dem Intellektualismus, der »reflexiven Analyse« ist aber die phänomenale Dichte der Erscheinungen nicht zugänglich, er versteht Wahrnehmung als aktive Leistung des subjektiven Bewusstseins, des »Intellekts«, und ist gar nicht mehr offen für eine Wahrnehmung, die in der Mitte zwischen Subjekt und Welt angesiedelt ist. 860 Dennoch versagt sich Merleau-Ponty nicht der reflexiven Analyse, denn nur durch sie kann der unreflektierte Untergrund in das Bewusstsein der Philosophen kommen, »den sie voraussetzt, aus dem sie sich nährt und der für sie so etwas wie eine ursprünglich Vergangenheit konstituiert« (PW 283). »Dem Empirismus mangelte es an der Möglichkeit einer Einsicht in den inneren Verband zwischen dem Gegenstand und dem von ihm ausgelösten Akt. Dem Intellektualismus mangelt es an der Möglichkeit einer Einsicht in 858 859 860

a. a. O., S. 46. ebd. Laner, Revisionen der Zeitlichkeit, S. 285.

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die Kontingenz der Anlässe des Denkens. Im einen Falle ist das Bewusstsein zu arm, im anderen Falle zu reich, um es begreiflich zu machen, dass ein Phänomen vermöchte, es zu erregen.« (PW 49/52)

Der Empirismus mit seiner Tendenz zur universalen Objektivierung mit Absolutheitsanspruch überspringe, so Pilz, die Dimension des wahrnehmenden Subjekts, während der Intellektualismus (MerleauPonty nennt Descartes, Kant und Husserl) einem Subjektbegriff der Innerlichkeit (»nicht nur weltlos, sondern auch zeitlos«) fröne, der eine Zweiweltentheorie als gefährliche Konsequenz nach sich ziehe. 861 Denn zum einen habe »die Annahme eines transzendentalen Subjekts […] eine völlige Trennung von Subjekt und Objekt zur Folge« und das führe »zu einer Ontologie, die sich auf die Alternative von Für-sich und An-sich gründet«. 862 Eine Ontologie des Menschen könne aber wie bei Heidegger nicht von einem ›weltlosen‹, isolierten Subjekt ausgehen, und zudem sei das Problem der ›Koexistenz‹ mit anderen unlösbar geworden. 863 Zum anderen aber ist das transzendentale Ich nicht nur weltlos, sondern auch zeitlos, also eine Abstraktion, die mit der wirklichen Erfahrung wenig zu tun hat. Das wird auch deutlich im Unterschied zur Kant’schen Raumvorstellung, die dieser sich als euklidischen Raum denkt, und dem präobjektiven gelebten Raum Merleau-Pontys, der »nicht im Denken, sondern in der Existenz des Menschen« gründet, »die wesentlich als leibliche Existenz begriffen wird«. 864 Merleau-Ponty ist überzeugt, dass er mit seiner Philosophie des inkarnierten Subjekts diese Dualismen überwunden hat, bei denen die Idealisierung des Objekts und die Verobjektivierung des lebendigen Leibes Hand in Hand gehen (PW 96). Gegenüber den bloß empirischen Wissenschaften, bei denen das Bewusstsein als eine Art Behälter angenommen, wird, in dem die Wahrnehmungserfahrungen sich sammeln und durch eine Art Gärung zu Wissen werden (Popper hat dies in Bezug auf Locke die »Kübeltheorie des Geistes« genannt), und einem idealistischen Philosophieren, das die Welt aus einem Bewusstsein heraus konstituiert (immerhin war es bei Kant schon vorgeprägt und keine tabula rasa), kann man also im Rückgang auf die Phänomene ein Zwischenreich 861 862 863 864

Pilz, a. a. O., S. 38 f und 41 ff. a. a. O., S. 42. a. a. O., S. 43. Pilz, a. a. O., S. 48.

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Der philosophische Bilderstreit

für die Untersuchung finden, das dem Denken erst einen sicheren Grund geben kann, damit es wirklich sinnhaft werden kann. »Während der Empirismus nur auf die Kraft des Sinnlichen vertraut, hofft der Intellektualismus die Lösung der Probleme einzig in einem sinngebenden Bewusstsein zu finden. Doch wie der Sinn zur Sinnlichkeit kommt, bleibt genauso unbedacht, wie die Sinnfrage nie den Fragenden einschließt. Empirismus und Intellektualismus stehen demnach für zwei verfehlte Theorien, Sinn und Sinnlichkeit in Einklang zu bringen. Merleau-Pontys anfängliche Problemstellung, die Aufklärung des Verhältnisses […] zwischen Bewusstsein und Natur, lässt sich umformulieren in die Fragestellung, wie Sinn und Sinnlichkeit zusammen auftreten resp. gedacht werden können.« 865

So muss man sich zwischen Intellektualismus und Empirismus positionieren und die »Alternative, entweder nichts vom Subjekt oder aber nichts vom Objekt verstehen zu können, zu durchbrechen suchen« (PW 96); und die »Verflechtung«, die er im Aufweis des leiblichen Verwobenseins mit der Welt aufgewiesen hat, ist daher nicht nur eine Verflechtung von Subjekt und Objekt, sondern auch eine Verflechtung (»entrelacement« 866) von Empirismus und (modifizierter) Subjektphilosophie: Sowohl die materielle Basis aller Wahrnehmungserfahrungen (»Fuß«) als auch das sich aus diesen ergebende Denken (»Kopf«) sind von Bedeutung können sich wegen dieser Verflechtung nicht voneinander lösen und verabsolutieren, bzw. sich gegenseitig als sekundär oder marginal betrachten. 3.3.3.4 Sichtbares und Unsichtbares Die Beziehung des Menschen zur Welt auf der Basis leiblich gebundener Wahrnehmungserfahrungen bleibt Merleau-Pontys Thema, und er wählt ganz im Sinne der abendländischen Tradition das Sehen als Paradigma. Die Malerei gewinnt daher für Merleau-Ponty (schon in der PW) besondere Bedeutung, denn nur der Maler kann seinen »Blick auf den Dingen ruhen lassen, ohne zu irgendeiner Einschätzung verpflichtet zu sein«. 867 Es kann sich hier also um ein ganz un-

Bermes, a. a. O., S. 48. S. u. a. Kapitelüberschrift in Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 172 ff. 867 Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 277 f. 865 866

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Phänomenologische Bildtheorien: Merleau-Ponty

voreingenommenes Sehen handeln, denn oft geht in unser Sehen Wissen mit ein, nicht nur, wenn wir »etwas als etwas« sehen, sondern auch, wenn wir Dinge bereits zu kennen glauben. (Waldenfels spricht hier mit Imdahl von einem manchmal automatischen »wiedererkennenden« und auf der anderen Seite von einem »sehenden« Sehen; und es ist das letztere, um das es Merleau-Ponty geht. 868) »Auf der einen Seite ist die Welt das, was wir sehen, und auf der anderen Seite müssen wir dennoch lernen sie zu sehen«, 869 denn »nichts ist schwerer zu wissen, als was wir eigentlich sehen«, so bereits der frühe Merleau-Ponty (PW 82). Daher fasziniert ihn Cézannes konsequente Ausrichtung auf das Sichtbare und sein lebenslanges Bemühen, das zu malen, was man sieht, und nicht, was man denkt, um sich damit trotz fehlender Anerkennung von den Kunstrichtungen seiner Zeit 870 abzusetzen. »Diese Arbeit am Sehen eröffnete einen neuen Zugang zur Wirklichkeit, der frei von Rationalisierungen des Sehens wie Zentralperspektive und wissenschaftlichen Schemata war. Diese Art der Anschauung sollte die gewohnten Sehweisen außer Kraft setzen, die uns nur Klischees der sichtbaren Wirklichkeit vermitteln. Die Reduktion auf den rein visuellen Aspekt der Wahrnehmung ermöglichte ein ursprüngliches Sehen, das sich durch seine Unabschließbarkeit auszeichnet […].« 871

Diese Seherfahrung ist nur möglich durch »ausschließliche Konzentration auf die Arbeit des Auges«, 872 das sich für die Darstellung auch von konventionell gewordenen Sichtweisen zu lösen versuchen muss, wie sie eine Zeitlang mit der Technik der Zentralperspektive üblich war. Merleau-Ponty rühmt unter Berufung auf Leonardo da Vinci das »Wunder der Allseitigkeit«, das durch die Zentralperspektive zerstört wurde: »durch sie wird der Ort des Sehenden angegeben, von dem aus allein so und nicht anders gesehen werden kann. Hingegen umfasst das Sehen selbst auch

868 Waldenfels, Ordnungen des Unsichtbaren, in: Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, S. 233–252, hier S. 235. 869 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 18. 870 Merleau-Ponty berichtet, dass Cézanne in seinem Kampf um ein von üblichen Darstellungskonventionen abweichendes originäres Sehen schon glaubte, an einer Sehstörung zu leiden. (Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, in: Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, S. 39–59, hier S. 39. 871 Orlikowski, Merleau-Pontys Weg zur Welt der rohen Wahrnehmung, S. 20. 872 a. a. O., S. 21.

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Der philosophische Bilderstreit

entfernte Raumstellen, die nicht – wie es in der Perspektive der Fall ist – deformiert zu werden brauchen.« 873

Der domestizierte und gelenkte Blick auf Gegenstände in einer konstruierten Subjekt-Objekt-Opposition zwischen Bild und Betrachter muss aufgegeben werden, denn die Welt ist nicht vor uns hin projiziert, sondern um uns herum. Und die künstliche »Stillstellung des Blicks« muss dekonstruiert werden, der normale bzw. gegenstandsbezogene Blick sowie das vorgeformte Wissen über die Realität müssen zugunsten eines »sehenden Sehens« »eingeklammert« werden, 874 sodass Waldenfels von einer »ikonischen Epoché« sprechen kann, denn man gelangt so vom Gesehenen zum Sehen selbst. 875 Denn das Sehen muss zu einer »monde sauvage«, zu einem »être brut«, zu einem »wilden«, noch nicht gezähmten Sein (man hört Lévi-Strauss) jenseits der gewohnten Formen zurückfinden. In der Malerei artikuliert sich dieses originäre Sehen, das Sichtbares für uns im Bild sichtbar macht. Das Thema Kunst (vor allem Malerei) und Sehen hat MerleauPonty daher auch explizit in seinen beiden letzten Veröffentlichungen beschäftigt: Das Auge und der Geist, sein Essay über Malerei, erschien noch zu seinen Lebzeiten, Das Sichtbare und das Unsichtbare blieb hingegen leider Fragment und erschien erst posthum nach seinem frühen Tod. Gerade dieses Buch aber verdeutlicht, dass er auf dem Weg zu einer neuen Ontologie war und seine früheren Veröffentlichungen erneut durchdacht und modifiziert hatte. Merleau-Ponty entdeckt nämlich hinter, neben und sogar mitten im Sichtbaren das Unsichtbare, und zwar in verschiedenen Dimensionen: »Als Arbeit an der Sichtbarmachung trägt die Malerei eine Spur des Unsichtbaren in sich, denn das Sehen des Malers ist zugleich ein Nicht-Sehen. Er praktiziert das Ausblenden und Absehen von den Gegenständen, während er malt. […] Der Maler muss die Fülle des Wirklichen ausblenden, um sie sichtbar zu machen.« 876

Auch für den Betrachter eines fertigen Gemäldes gibt es ein primäres und ein sekundäres Sehen, das neue Dimensionen entdeckt: So entMerleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 234. Orlikowski, a. a. O., S. 21. 875 Waldenfels, Bildhaftes Sehen. Merleau-Ponty auf den Spuren der Malerei, in: Kapust/Waldenfels (Hg.), Kunst. Bild. Wahrnehmung. Blick, S. 32. 876 Orlikowski, a. a. O., S. 29. 873 874

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Phänomenologische Bildtheorien: Merleau-Ponty

Bild 34: Hans Holbein d. J., Die Gesandten (1533)

deckt man in einem Doppelporträt Holbeins (des Jüngeren) mit dem Titel Die Gesandten von 1533 im ersten frontalen Blick zwei edel gekleidete Herren aus der Zeit Heinrichs des VIII., die offenbar »angesehen« und von hohem Rang sind. Doch am mittleren unteren Bildrand befindet sich ein Gegenstand, der erst mit einem zweiten Blick von links unten, also erst nach einem Perspektiv- bzw. Blickwechsel, als ein verzerrter Totenschädel und damit als ein memento mori zu erkennen ist. »Durch diesen eindringlichen, verstörenden Effekt des zweiten Blicks wird das unbeteiligte distanzierte Subjekt aus seiner Zuschauerrolle herausgerissen und zu seinem eigentlichen Sein als endliches Dasein zurückgeführt. […] Ferner kann herausgestellt werden, dass das Gemälde […] das Werk

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Der philosophische Bilderstreit

der phänomenologischen Reduktion selbst zur Darstellung bringt: Es macht nämlich sichtbar, wie ein thematisierendes Sehen durch einen zweiten Blick abgelöst wird und somit ein ›Tiefenphänomen‹ zur Erscheinung bringt, das die verborgene Rückseite der sichtbaren Welt mitberücksichtigt.« 877

Merleau-Ponty selbst gibt noch andere Beispiele: In dem Bild der »Hl. Anna selbdritt« (mit Kind und Enkel, Maria und Jesus) des von ihm geschätzten Leonardo da Vinci gebe es im Mantel der Hl. Anna im Spiel von Licht und Schatten auf den zweiten Blick, ebenfalls unter schräger Perspektive, einen Geier zu sehen. 878 (Da man damals glaubte, es gebe nur weibliche Tiere dieser Art, solle dies möglicherweise auf die jungfräuliche Geburt hinweisen.) Und in Rembrandts Nachtwache sei die Hand, die »auf uns weist, tatsächlich da, wenn ihr Schatten auf dem Körper des Hauptmanns sie uns gleichzeitig im Profil zeigt. An der Kreuzung dieser beiden Ansichten, die unvereinbar und dennoch zugleich da sind, tritt die Räumlichkeit des Hauptmanns auf«, und es sind solche »Schattenspiele […], die uns Dinge und einen Raum sehen lassen«. 879 »Aber sie wirken in ihnen ohne sie, sie verbergen sich, um das Ding zu zeigen. Um das Ding zu sehen, braucht man die Schattenspiele nicht zu bemerken. Das im profanen Sinne Sichtbare vergisst seine Voraussetzungen, es beruht auf einer umfassenden Sichtbarkeit, die nachgeschaffen werden muss, und die die in ihr gefangenen Phantome freisetzt.« 880

Doch noch in einer viel fundamentaleren Weise ist Sehen gleichzeitig Nichtsehen: 881 Unter Verweis auf das bereits in PW implizit beschriebene Phänomen des blinden Flecks im Augenhintergrund wird dieser punctum caecum nun explizit genannt: Es ereignet sich eine unbewusste Nichtsichtbarkeit mitten im Sehen, 882 und diese ist, wie der Standpunkt, von dem aus wir sehen, als Bedingung der Möglichkeit, überhaupt etwas zu sehen, transzendental.

A. a. O., S. 40 ff. Orlikowski weiß zu berichten, dass Lacan in einem Seminar von 1964 über Merleau-Ponty und die Analyse des »Blicks« dieses Bild verwendet hat; s. auch North, The Ambassadors’ Secret: Holbein and the World of the Renaissance. 878 Merleau-Ponty, Die indirekte Sprache, in: ders., Die Prosa der Welt, S. 94. 879 Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 285. 880 ebd. 881 Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, S. 201. 882 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 286 und 311. 877

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Phänomenologische Bildtheorien: Merleau-Ponty

»Das Unsichtbare ist da, ohne Objekt zu sein, es ist die reine Transzendenz / ohne ontische Maske. Und die sichtbaren Dinge sind schließlich ebenfalls nur um einen abwesenden Kern zentriert.« 883

Diese Transzendenz ist »da als Sein, dem Nichts unterlegt ist«. 884 »Das Positive und das Negative sind die beiden Seiten des Seins«, und Merleau-Ponty will eine Lehre des Negativen in Bezug auf diese Phänomene verfassen. 885 Prinzipiell ist dem Sehen und dem Bewusstsein (Merleau-Ponty überträgt die Metapher des »blinden Flecks« auf das Bewusstsein) dasjenige nicht zugänglich, »wodurch sich das Sehen des Übrigen in ihm vorbereitet. […] Es sieht das nicht, was bewirkt, dass es sieht, und das ist seine Bindung an das Sein, seine Leiblichkeit, die Existenzialien, durch die die Welt sichtbar wird, das ist das Fleisch, in dem das Objekt entsteht.« 886 (Diesen Begriff des Fleisches, »chair«, verwendet Merleau-Ponty als eine Verallgemeinerung des Leiblichen auf der Ebene des être brut, des wilden, »rohen« Seins: Der Leib wird nun vom corps propre zum allgemeinen Milieu. 887) Es geht hier also um die unsichtbaren Tiefenstrukturen des Seins, die einem überfliegenden Denken, wie z. B. dem empirisch-analytischen wissenschaftlichen Denken, entgehen, welches sich auf die Gegenstände nur im allgemeinen bezieht und »über sie verfügen will, statt sie zu bewohnen«. 888 (Dieses überfliegende Denken wirft MerleauPonty auch Sartre vor, denn er hat einen anderen Existenzbegriff. 889) Stattdessen muss es darum gehen, das Verborgene zu entbergen, um den Tiefen-Sinn freizulegen, denn das Sichtbare erhält seine Prägnanz, seine Plastizität erst auf dem Hintergrund des Unsichtbaren. »Das Unsichtbare ist ein ›innerer Rahmen‹, der vom Sichtbaren zugleich gezeigt und verborgen wird. Seine Präsenz ist wie eine Leere, eine Absenz

a. a. O., S. 291. a. a. O., S. 299. 885 a. a. O., S. 285. 886 a. a. O., S. 313. 887 a. a. O., S. 193: »Was wir Fleisch nennen, diese von innen her bearbeitete Masse, hat in keiner Philosophie einen Namen. Als formendes Milieu von Objekt und Subjekt ist das Fleisch kein Seinsatom, kein hartes Ansich […]. Man darf sich das Fleisch nicht von den Substanzen Körper und Geist aus denken, denn dann wäre es eine Einheit von Gegensätzen, sondern man muss es, wie gesagt, als Element und als konkretes Emblem einer allgemeinen Seinsart denken.« Vgl. Waldenfels, a. a. O., S. 200. 888 Orlikowski, a. a. O., S. 61. 889 Merleau-Ponty, a. a. O., S. 98. 883 884

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Der philosophische Bilderstreit

im Sichtbaren. Das Unsichtbare gibt dem Sichtbaren seine bedeutungsvolle Präsenz, sein aktives Wesen.« 890

Merleau-Ponty nennt vier Kategorien bzw. »Schichten« des Unsichtbaren: »1) das, was nicht aktuell sichtbar ist, aber es sein könnte (verborgene oder inaktuelle Aspekte des Dinges – verborgene oder ›anderswo‹ angesiedelte Dinge 2) was auf das Sichtbare bezogen ist, aber dennoch nicht als Ding gesehen werden kann (die Existentialien des Sichtbaren, seine Dimensionen, sein nicht-figurativer Gliederbau 3) was nur taktil oder kinästhetisch usw. existiert 4) die λεκτά, das Cogito.«891

Während die beiden letzten Schichten des Unsichtbaren einen Ausgriff des bloß Sichtbaren auf andere Sinne und auf Sprache und Denken thematisieren, ist zur zweiten Dimension über die Metapher des »blinden Flecks« hinaus noch einiges zu sagen, was auch die sich wandelnde Ontologie belegt, die Waldenfels als »Vertiefung früherer Fragestellungen«, Merleau-Ponty selbst aber als »indirekte Ontologie« 892 bezeichnet: Strukturierungen erscheinen nun, so Waldenfels, – unter dem Einfluss Saussures – weniger als subjektive Leistungen: »sie werden in das Sein verlegt, und die Strukturierung nimmt die Form einer Ontogenese an. […] Der Begriff der Inkarnation bildet weiterhin den Angelpunkt des Denkens, aber sie greift nun stärker auf die Welt über, die sich selber leibhaftig darstellt.« 893 Waldenfels beleuchtet drei Aspekte dieses Wandels im Bereich des Unsichtbaren: 1. »Bedeutung, Sinn, Wesen, Begriff werden nun strikt von Gestalt und Struktur her gedacht als Abweichungen und Differenzen innerhalb eines Feldes.« 894 Vor dieser Strukturierung gibt es keine positive 890 Zanfi, Caterina, Henri Bergson und Maurice Merleau-Ponty – Das Bild zwischen Phänomenologie und Ontologie, in: Neuber/Vressov (Hg.), Das Bild als Denkfigur, S. 285–300, hier S. 297. Zanfi weist auch darauf hin, dass sich Merleau-Pontys frühe Bergson-Kritik am »être perceptiv« und an der Verdinglichung des Bildbegriffs in der Spätphilosophie wandelt, da nun das »Fleisch«, das Gewebe der Welt (»tissu du monde«) zugrunde gelegt werde. Und Merleau-Ponty hatte nun ebenfalls von »Strahlung des Sichtbaren« und »innerer Belebtheit der Dinge« gesprochen (Das Auge und der Geist, S. 306). 891 a. a. O., S. 323 f. 892 Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, S. 199; Merleau-Ponty, a. a. O., S. 233. 893 Waldenfels, a. a. O., S. 198 f. 894 Merleau-Ponty, a. a. O., S. 291.

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Phänomenologische Bildtheorien: Merleau-Ponty

Anschauung, sondern nur »structures du vide«, und auch das »charnière«, das die Einzelmomente verbindende »Scharnier«, bleibt verborgen. 895 2. »Die zentrale Instanz der Sinnbildung liegt nicht mehr im Bereich von Bewusstseinsintentionen, die etwas vor-stellen, sondern in einem fundamentaleren Differenzierungsgeschehen.« 896 Man kann also von einer Dezentrierung des Subjekts sprechen. 3. Das »Zwischen« umgreift nun alle Gegensätze, die sich aus ihm erst herausdifferenzieren müssen. Der Leibbegriff weitet sich daher aus, nicht nur »zu einer ›Zwischenleiblichkeit‹ (intercorporéité), sondern auch zu einem ›Leib der Welt‹ (chair du monde), einer Radikalisierung der ›leibhaftigen Gegenwart‹, die Husserl den Dingen in der Wahrnehmung zuspricht.« Bereits früher hatte Merleau-Ponty den Leib als »Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen« (PW 181 f) bezeichnet: »Er verkörpert, was seine Intentionen bedeuten, ohne dass dahinter die separate Instanz eines Geistes, einer Seele oder eines sinngebenden Bewusstseins auftaucht.« 897 Besonders sinnfällig wird das im leiblichen Begehren, das Merleau-Ponty auch in seiner der späten Phase zuzurechnenden Vorlesung über die Natur beschäftigt. Hier nun sieht er den Leib explizit als Symbolismus, denn »das Fleisch ist Urpräsentierbarkeit des Nichturpräsentierten als solchem, Sichtbarkeit des Unsichtbaren«. 898 Entsprechend seiner Ausweitung des »Zwischen« in den Bereich vor aller Ausdifferenzierung von Gegensätzen fragt er aber, ob man denn nicht zwei Symbolismen unterscheiden müsse, einen der Sprache, »wo das Zeichen und die Bedeutung von einem Geist überflogen werden, der uns aus der Natur heraustreten« lasse, und einen Symbolismus »der Ungeteiltheit, wo das Symbol und das Symbolisierte blind miteinander verbunden sind, weil ihr Sinnzusammenhang durch den Aufbau des Leibes vorgegeben ist«. 899 Bedeutung war, bereits in der PW, gebunden an die leiblich gebundene Strukturierung und Formwerdung in der Wahrnehmung, und zwar ohne einen dahinterstehenden Geist, aufgewiesen worden. Hier, in seinen späten Vorlesungen über Die Natur, werden also erneut, und zwar nur für den leiblichen Ausdruck, die beiden Dimensionen des Saussure’schen

895 896 897 898 899

ebd. Alle drei Punkte ausführlicher: Waldenfels, a. a. O., S. 199 f. Waldenfels, Bildhaftes Sehen, a. a. O., S. 37. Merleau-Ponty, Die Natur, S. 286. a. a. O., S. 289 f.

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Der philosophische Bilderstreit

Zeichenbegriffs vereint. (Waldenfels sieht generell eine »eigenwillige Rezeption der strukturalen Linguistik von Ferdinand de Saussure«. 900) »Man muss diese Idee des Seins besser herausarbeiten, d. h., das, was bewirkt, dass diese Seinsarten, die Natur, der Mensch, ›ineinander verschränkt‹ sind, dass sie zusammen auf der Seite dessen sind, was nicht nichts ist, insbesondere muss das Verhältnis vom Positiven zum Negativen, vom Sichtbaren zum Unsichtbaren in ihnen genauer geklärt werden. Und dieses innerlich von Negativität durchwirkte Sein dem Sein der klassischen Ontologie gegenüberstellen.« 901

Es handelt sich also um eine »natürliche Negativität«: 902 »Das Unsichtbare, der Geist, ist keine andere Positivität: Es ist die Kehrseite oder die andere Seite des Sichtbaren.« 903 Damit verlässt Merleau-Ponty »den Boden einer Philosophie, die einseitig auf anschauliche Präsenz ausgeht«: 904 Das Sein ist nunmehr als Ineinander von Abwesenheit und Anwesenheit beschrieben, und die unaufhebbare Abwesenheit des Unsichtbaren, Verborgenen hat sich als zur Welt gehörig herausgestellt. (Hier klingt Heideggers Rede von »Entbergung« und »Lichtung« des Seins an.) Es lässt sich also in Merleau-Pontys spätem Denken so etwas wie eine via negativa, ein Denken des Entzugs feststellen; Orlikowski redet sogar von »einer negativen Theologie« und widmet ein ganzes Kapitel der Frage, ob man Merleau-Ponty zur Bewegung der sog. »theologischen Wende« der französischen Phänomenologie zurechnen müsse (und nennt hier u. a. Lévinas und Ricoeur). 905 Immerhin ist seine Begrifflichkeit manchmal auffallend (christlich) religiös konnotiert: »Inkarnation«, »Kommunion«, »Transsubstantiation« 906, und nun auch noch, allerdings in etwas anderer Bedeutung, »Fleisch«. Und er hatte bereits in PW das Eintauchen des Bewusstseins in die Waldenfels, Bildhaftes Sehen, a. a. O., S. 40. Merleau-Ponty, Die Natur, S. 291. 902 Orlikowski, a. a. O., S. 166. 903 Merleau-Ponty, Die Natur, S. 290. 904 Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, S. 200. 905 Orlikowski, a. a. O., S. 149–163, hier: S. 157. 906 Obwohl Merleau-Ponty kein Substanzdenker ist, ist der Ausdruck kein Zufall oder Versehen: In Die Prosa der Welt bemerkt er in Bezug auf die ganzen Lebensumstände eines Malers in deutlicher Analogie zur Eucharistie: »sie gehören zum Brot, das der Maler weihen wird, zur Nahrung, von der seine Malerei zehrt.« (Die indirekte Sprache, S. 95) 900 901

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Phänomenologische Bildtheorien: Merleau-Ponty

Sinnlichkeit als »ein Vermögen der Bezauberung von gleichsam sakramentaler Bedeutung« bezeichnet. (PW 251) Doch mit Janicaud (Le tournant théologique de la phénoménologie française) ist sie der Meinung, dass man zwischen den genannten Autoren und Merleau-Ponty einen Unterschied machen müsste. Zwar gehöre Merleau-Pontys Beitrag in den Kontext einer Neuerörterung von Transzendenzformen und trage bei »zu einem Wandel innerhalb der französischen Phänomenologie, der mit dem Merkmal einer ouverture à l’invisible gekennzeichnet« sei. 907 Doch sie glaubt, dass Merleau-Ponty »gerade aufgrund des Rückgangs auf eine unableitbare rohe Erfahrung eine übergeordnete Frage nach Gott bewusst ausklammert.« 908 Aus der geschilderten Richtung, z. B. von Henry, wird seine Philosophie denn auch als »Verabsolutierung des Sinnlichen« kritisiert, aber dies führt in eine theologische Diskussion über Immanenz- und Transzendenzvorstellungen. (Immerhin hatte der von Merleau-Ponty ab und an erwähnte Antipode von Descartes, Spinoza, mit dem Pantheismus eines deus sive natura eine Immanenzvorstellung vertreten und nur eine einzige Substanz gesetzt. 909) Es fragt sich allerdings, ob eine Phänomenologie des Unsichtbaren noch Phänomenologie ist, bzw. ob es sich hier überhaupt noch um Phänomene handelt. (Das wäre Definitionssache: Für Wiesing wird im Sinne Husserls »ein reales, empirisches Vorkommnis« zum Phänomen, »sobald es zum Inhalt eines Bewusstseins wird«. 910) In seinem Husserl-Aufsatz Der Philosoph und sein Schatten hatte Merleau-Ponty festgehalten, dass »die letzte Aufgabe der Phänomenologie als Philosophie des Bewusstseins« darin bestehe, »ihren Bezug zur Nicht-Phänomenologie zu verstehen«. 911 Für Waldenfels führt daher Merleau-Pontys Bewegung der Selbstüberschreitung an den Rand der Phänomenologie, 912 für Orlikowski erweist sich die aufOrlikowski, S. 149 f und 141. a. a. O., S. 152. 909 Für die Annahme einer Immanenzvorstellung spricht auch, dass Merleau-Ponty einen Ausspruch des Dichters Paul Claudel, Gott sei nicht über, sondern unter uns, so interpretiert: »Er meint damit, dass wir ihn nicht als ein übersinnliches Modell finden, dem wir uns zu unterwerfen hätten,« (das offenbar der genannte Henry im Sinn hatte) »sondern als ein anderes Wir-Selbst, das sich mit unserer ganzen Finsternis vereint und sie beglaubigt.« (Die indirekte Sprache, a. a. O., S. 103) 910 Wiesing, Lambert, Merleau-Pontys Phänomenologie des Bildes, a. a. O., S. 265. 911 Merleau-Ponty, Der Philosoph und sein Schatten, in: ders., Zeichen, S. 233–264, hier S. 260. 912 Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, S. 204. 907 908

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Der philosophische Bilderstreit

gezeigte »Möglichkeit einer Phänomenologie des Unsichtbaren als eine fruchtbare Weiterentwicklung innerhalb der phänomenologischen Bewegung«. 913 3.3.3.5 Verkörperung von »Sicht« Für Merleau-Pontys Bildphilosophie wird nun die geschilderte Ontologie des Sichtbaren und Unsichtbaren von zentraler Bedeutung. Zusammen mit dem Phänomen des Ausdrucks, das ihn schon in PW beschäftigt hatte und das nun erneut durchdacht wird – das Neue am Ausdruck: es bleibt Implizites, Ungesagtes –, 914 sieht er nämlich das Bild als Ausdrucksgeschehen, in dem der Maler (er bleibt auf bildende Kunst fokussiert) das auf seine Weise Gesehene sichtbar macht und dabei auch Unsichtbares zu Gesicht bringt. Die Malerei hatte ihm immer schon, so Waldenfels, »als Leitfaden durch das Labyrinth der Phänomene« gedient, und die »Schlüsselthemen Perzeption, Expression und Vision« 915 gehen nun auch in seinen Bildbegriff ein. Für Merleau-Ponty ist das Bild nicht wie für Husserl Widerstreit zwischen (Bild-)Subjekt und (Bild-)Objekt, ein Widerspiel von Anwesenheit und Abwesenheit, und auch keine imaginäre Projektionsfläche. Anders als Husserl, dessen Blickwende auf das Bildbewusstsein die Bildwerdung als Bewusstseinsleistung fasst, 916 und auch anders als »Sartre, der die subjektive Bildauffassung bis zur imaginären Nichtung des Realen steigert und damit zwischen Realem und Imaginärem […] eine Kluft aufreißt«, 917 interessiert Merleau-Ponty die Frage, »wie Materie in Sinn verwandelt wird und daher das Bild vielmehr als Realisierung eines Ausdrucks verstanden werden muss«, und wie sich im Bild Sichtbarkeit verkörpern kann, die auch die unsichtbaren Tiefenstrukturen der Wirklichkeit sichtbar macht. 918 Der Maler bringt dabei »seinen Leib ein«, in einem »Geflecht aus Sehen und Bewegung«, als Sehender nähert er sich der Welt durch

Orlikowski, a. a. O., S. 173. Merleau-Ponty, Die indirekte Sprache, a. a. O., S. 117. 915 Waldenfels, Bildhaftes Sehen, a. a. O., S. 31. 916 Waldenfels, a. a. O., S. 33. 917 ebd. 918 Kapust, Antje, Phänomenologische Bildpositionen, in: Sachs-Hombach, Bildtheorien, S. 255–283, hier S. 262. 913 914

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Phänomenologische Bildtheorien: Merleau-Ponty

den Blick 919 und verleiht durch seine Gesten 920 auch »demjenigen sichtbare Existenz, was das profane Sehen für unsichtbar hält«, und dabei ereignet sich eine »Entstehung, Genese und Metamorphose des Seins« 921 in seinem gestaltenden Ausdruck. Das Bild ist also »fern davon, bloßes Produkt eines annihilierenden negativen Bewusstseinsaktes zu sein« wie bei Sartre; es »enthüllt im Gegenteil seine positive ontologische Beschaffenheit. Das Imaginäre und das Reale […] sind intim miteinander verwoben.« 922 Das Sehen des Malers ist »in actu« »fortwährende Geburt«, 923 denn es ist schöpferisch: Es muss eine Transformation, ja sogar eine »Deformation«, eine »kohärente Verformung« 924 des lebendig Gesehenen in ein künstliches Medium, ein in der Regel zweidimensionales Medium zuwege bringen, und das gilt übrigens auch für diejenige Malerei, die sich vom reinen Abbilden löst und eine höhere Wahrheit zum Ausdruck bringen kann: »›Wie immer in der Kunst: lügen, um wahr zu sein‹, schreibt Sartre mit Recht. […] Um uns also zufriedenzustellen, wie es das Kunstwerk kann – das sich üblicherweise auch nur an einen unserer Sinne wendet und nie die Art von Präsenz vermittelt, wie es das Gelebte tut, muss es eine Kraft haben, die aus ihm nicht eine unterkühlte Existenz macht, sondern eine sublime Existenz, die wahrer ist als die Wahrheit. Die moderne Malerei, wie allgemein das moderne Denken, zwingt uns zu verstehen, was eine Wahrheit ist, die nicht den Dingen gleicht, die ohne äußerliches Modell, ohne prädestinierte Ausdrucksmittel besteht und dennoch Wahrheit ist.« 925

Doch auch im vorgeblich reinen Abbilden ist Ausdruck, auch die klassische Malerei ist Schöpfung, »und dies genau in dem Augenblick, wo sie Darstellung einer Wirklichkeit sein will«; 926 und damit kann die Malerei über die Fotographie hinausgehen: So erzeugt etwa Goyas

Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 278 f. a. a. O., S. 301: »Eine Philosophie, die noch zu schaffen ist, beseelt den Maler – nicht, wenn er Ansichten über die Welt äußert, sondern in dem Augenblick, in dem sein Sehen zur Geste wird, wenn er, wie Cézanne sagt, ›im Malen denkt‹.« (MerleauPonty bezieht sich auf die bereits genannte Cézanne-Monographie von Dorival, Cézanne par ses lettres et ses témoins, S. 103 f.) 921 Merleau-Ponty, a. a. O., S. 284 f. 922 Zanfi, a. a. O., S. 298. 923 a. a. O., S. 298 und 287. 924 Merleau-Ponty, Die indirekte Sprache, a. a. O., S. 131. 925 Merleau-Ponty, Die indirekte Sprache, a. a. O., S. 86. 926 a. a. O., S. 75. 919 920

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Der philosophische Bilderstreit

Porträt des Fürstenkindes Don Manuel Osorio durch die im Bild beigegebenen Utensilien eines Vogelkäfigs und eines Raben an der Leine nicht nur durch die wenig kindgemäße Kleidung den Eindruck des Gefangenseins, des Eingesperrtseins in Konventionen, und auch die Existenz einer Instinktnatur im Gegensatz zu allem Gezähmten wird durch die wilde Katze, die auf den im Käfig eingesperrten Vogel lauert, angedeutet. So ist der Maler, solange er malt, »offen für jenes unwiderrufliche Individuelle, das sich ihm seit seinem ersten Lebenstag präsentiert hat als das, was er offenbar machen musste« 927; gleichzeitig aber kann er gerade damit überindividuell werden: obwohl ein Gemälde in der Zeit als Ausdruckshandlung entsteht, kann es eben dadurch – im Sinn einer höheren Wahrheit – zeitlos werden. Für Laner wird das Bild »zum Zeugnis des zeitlichen Seins schlechthin«, doch kann es in der ästhetischen Erfahrung zu einem Bruch mit der leiblich gebundenen Intentionalität und Geschichtlichkeit des Bildes kommen: es könne Transzendenz zum Ausdruck kommen. 928 Merleau-Ponty selbst zitiert dazu Malraux: »Welcher Genius ist nicht fasziniert durch dieses Äußerste der Malerei, durch diesen Appell, durch den die Zeit aus den Fugen gerät? Dies ist der Augenblick der Besitzergreifung der Welt. Könnte die Malerei noch weiter gehen, so würde der alte Frans Hals zum Gott.« 929

Es geht in der Tat um kreative Ver-wirklichung, um schöpferischen Ausdruck, und dabei bedeutet »Ausdruck« nicht »ein nach außenDrücken des Inneren«, Ausdruck sind die »expressiven Verhaltensweisen des Zur-Welt-seienden Leibes«, und in ihnen realisiert sich bereits Bedeutung, sie ist leiblich, im »Fleisch« »inkarniert«. (Springstübe vermerkt hier, dass dieser Ausdruck nicht als Zeichen im linguistischen Sinn verstanden werden kann; 930 und auch Merleau-Ponty selbst hatte festgehalten, dass Ausdrucksakte keine Summe von Zeichen sind. 931) a. a. O., S. 87. Laner, Revisionen der Zeitlichkeit, S. 31, 354 und 358. 929 Merleau-Ponty, Die indirekte Sprache, a. a. O., S. 87 zitiert im ganzen Essay, so auch hier, André Malraux, La Création artistique (Bd. 2 der Psychologie de l’art), S. 150. 930 Springstübe, Über Wahrnehmung und Ausdruck in der Philosophie MerleauPontys, S. 56 f. 931 Merleau-Ponty, a. a. O., S. 90. 927 928

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Phänomenologische Bildtheorien: Merleau-Ponty

Leider aber interpretiert Springstübe an anderer Stelle MerleauPonty vorschnell mit Cassirers Symbolbegriff und moniert MerleauPontys »unklaren Bedeutungsbegriff« 932: Zwar hatte Cassirer, durchaus in Nähe zu Merleau-Pontys Wahrnehmungs- und Strukturtheorie, den Prozess der Formwerdung von Symbolisierungen betont und von einem »symbolischen Prozess« gesprochen, doch bleibt Cassirer bei einem zweidimensionalen Symbolbegriff und einer Repräsentationsauffassung des Bildlichen: »Der Name oder das Bild eines Gottes ist eine Repräsentation; der Gott ist nicht in dem Bild präsent, sondern er wird damit dargestellt.« 933 Mit der Unterscheidung seiner Schülerin Susanne Langer zwischen diskursiven und präsentativen Symbolen und Springstübes Übertragung auf den Bildbegriff Merleau-Pontys wird Springstübe diesem aber gerade nicht gerecht. Zwar beschäftigt sich Merleau-Ponty, auch in seiner für Sartre gekürzten Fassung von »Die indirekte Sprache« in Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, 934 wie Langer mit einem Vergleich von sprachlichem und bildhaftem Gestalten, doch kann das Bild gerade bei Merleau-Ponty nicht als Repräsentationsleistung und auch nicht als präsentatives Symbol gesehen werden, auch wenn es natürlich richtig ist, dass Bilder wie präsentative Symbole eine ganzheitliche Struktur besitzen und ihr Ausdrucksrepertoire nicht auf »Vokabeln mit linguistischer Bedeutung« oder einem »Sprachsystem etwa in Form einer Grammatik« 935 beruht. Das ist auch die Meinung des von Springstübe in anderem Zusammenhang zitierten John Michael Krois, der in seiner Verkörperungstheorie des Ikonischen – nach einer ausgiebigen Beschäftigung mit semiotischen Bildtheorien – festgehalten hatte, dass »reine symbolische Theorien […] bei der Referenz-Beziehung zu Objekten (bleiben). Der Ausdruckswert von Bildern ist aber etwas Elementares und hängt nicht von dieser Art symbolischer Bedeutung ab.« 936 Springstübe, a. a. O., S. 122–143 und S. 184. a. a. O., S. 179. Springstübe verweist damit auf Cassirers Philosophie der symbolischen Formen III, S. 102 f. 934 in: Merleau-Ponty, Zeichen, S. 53–116. 935 Springstübe, a. a. O., S. 147 und 151. 936 Krois, Für Bilder braucht man keine Augen. Zur Verkörperungstheorie des Ikonischen, in: ders., Bildkörper und Körperschema, S. 132–161, hier S. 159. (Entscheidend sei, die Bilder im Raum wahrnehmen zu können; und der Sinn von Bildern als Objekt hänge auf verschiedene Weise von der Verkörperung des Menschen ab (S. 158 und 152).) (Interessant ist, dass er Bilder von Blindgeborenen zeigt, die aufgrund von Körperwahrnehmung Umrisse zeichnen können.) 932 933

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Der philosophische Bilderstreit

Merleau-Pontys Rede von einer »Sprache« der Malerei (auch ein Ansatzpunkt von Springstübes Kritik), z. B. in »Die indirekte Sprache«, ist metaphorisch und benutzt das beiden gemeinsame Phänomen des Ausdrucks als Vehikel der Übertragung. Im Unterschied zur gesprochenen Sprache, wo man auf feste kulturell codierte Bedeutungen zurückgreifen kann, müsse sich aber jeder Maler seine (Form-) Sprache immer wieder neu erarbeiten, 937 der Ausdruck ist also noch viel grundlegender schöpferisch als bei Werken der Literatur. Hier verkörpert sich ein Werk in der Sprache, 938 beim Malen hingegen verkörpert sich Sicht im Sichtbaren, es handelt sich also um eine »stumme Sprache«, die jedes Mal wieder neu entstehen bzw. geschaffen muss. Und natürlich gibt es auch Elemente dieser jeweiligen »Sprache« eines Malers: z. B. »Licht, Beleuchtung, Schatten, Reflexe und Farbe, alle diese Gegenstände seines Forschens sind nicht im vollen Sinne wirkliche Wesen: Sie haben, gleich Phantomen, nur eine visuelle Existenz, Ja, sie befinden sich sogar lediglich auf der Schwelle des profanen Sehens und werden im Allgemeinen nicht gesehen. Der Blick des Malers befragt sie, wie sie bewirken, dass plötzlich etwas da ist, und dieses Etwas dazu dient, jene zauberkräftige Welt zu bilden, um uns das Sichtbare sehen zu lassen.« 939

Das Unsichtbare ist also präsent, und Wiesing beleuchtet es noch auf andere Art und Weise, indem er auf das bildtheoretische Dreieck von Darstellendem (Bildträger), Dargestelltem (Bildobjekt, d. h. Bildinhalt) und Dargestelltem (Bildsujet) abhebt, das von Bildsemiotikern so gern mit dem semiotischen Dreieck (Zeichenträger – z. B. eine Buchseite –, Zeichen und Referenz) identifiziert wird. Das »Darstellende« nun wird hinter dem, was wir im Bild sehen, unsichtbar, es entzieht sich und muss sich entziehen. »Die Sichtbarkeit des Dargestellten verlangt eine Unsichtbarkeit des Darstellenden. […] Zu den festen Topoi phänomenologischer Bildtheorien gehört, das Bild als eine transparente Fläche zu beschreiben. Schaut man auf ein Bild, so durchschaut man die Oberfläche und richtet den Blick auf ein Merleau-Ponty, Die indirekte Sprache, a. a. O., S. 119. ebd. 939 Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 285. Waldenfels, Bildhaftes Sehen, a. a. O., S. 35, nennt als weitere Bestandteile einer »pikturalen Syntax« (die sich bereits in den Gestalten der perzeptiven Syntax vorbereitet habe): Linien, Farbkontraste, Bewegungen, Perspektiven, Gestalten, Flächigkeit, räumliche Tiefe, voluminöse Dichte u. ä. 937 938

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Phänomenologische Bildtheorien: Merleau-Ponty

hinter dem Bild liegendes imaginäres Etwas. […] Das Funktionieren dieses Vorgangs setzt voraus, dass das Bild als anwesendes materielles Medium selbst übersehen wird«, es »muss für das Sehen des Dargestellten in eine funktionelle Unsichtbarkeit eintauchen.« 940

Man muss also vom Bildträger absehen, um im Bild etwas sehen zu können. Das entspricht der ersten Art von Unsichtbarkeit, die Merleau-Ponty beschrieben hat, und die erfordert einen Blickwechsel (»genauso wie im Vexierbild der Hase im Blätterwald steckt und doch nicht darin steckt, solange man es nicht aus einem bestimmten Blickwinkel heraus betrachtet.« 941). Auch das Bild ist Bild von etwas: Das Material, »mit dem Bilder einen intentionalen Bezug auf etwas aufbauen, sind sichtbare Formen, die immer dann, wenn sie funktionieren, unsichtbar sind.« 942 Doch im »Darstellenden« kann man nun nicht bloß den (materiellen) Bildträger sehen, auch der Maler, von dem merkwürdigerweise in diesem bildtheoretischen Dreieck abgesehen wird, gehört zur Kategorie des Darstellenden, und auch er verschwindet hinter – oder in – seinem Bild, auch wenn seine spezielle Art der Vision im Bild sichtbar wird. Und diese Sichtweisen machen das Gesehene auf je besondere Art sichtbar, auch wenn sie selbst nicht sichtbar sind. (Auch hier also eine Präsentation des Nichtpräsentierbaren. 943) Diese je besonderen Sichtweisen können unter den Begriff des Stils gefasst werden, denn um überhaupt etwas im Bild zeigen zu können, sind Stilisierungen nötig, und damit führt das Bild die Tätigkeit des leiblichen Sehens fort, 944 denn auch im Wahrnehmen waren ja bereits Stilisierungs- bzw. Strukturierungsleistungen aufgezeigt worden. Stil ist »der autonome Entwurf einer Ordnung der Sichtbarkeit«, er generiert Sichtbarkeit, was einer »völligen Befreiung des Bildes von semiotischen Zwecken« 945 gleichkommt. Stil ist etwas, was sich jeder Maler – evtl. auch unter Berücksichtigung anderer Sichtweisen und Stilisierungen anderer Maler – selbst erarbeiten muss. (Von Cézanne weiß man, dass er, wenn er in Paris war, jeden

940 Wiesing, Merleau-Pontys Phänomenologie des Bildes, in: Giuliani (Hg.), Merleau-Ponty und die Kulturwissenschaften, S. 265–282, hier S. 267. 941 Merleau-Ponty, Die indirekte Sprache, a. a. O., S. 112. 942 Wiesing, a. a. O., S. 272. 943 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 261. 944 Wiesing, a. a. O., S. 273 und 276. 945 Wiesing, a. a. O., S. 281.

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Der philosophische Bilderstreit

Tag in den Louvre ging.) Und so ist das Museum auch für uns, die Betrachter, eine Schule des Sehens: Wir können durch Vergleichung verschiedener Weisen von Stilisierung ein Formgefühl dafür bekommen, was Stilisierungen überhaupt leisten und auf welche Weisen man die Welt sichtbar werden lassen kann. Diese Zusammenschau von Bildern »als Momente einer einzige Bemühung« ist aber für Merleau-Ponty »nicht nur förderlich«, denn »diese Totenstadtstille, dieser Pygmäenrespekt« seien »nicht das wahre Milieu der Kunst«, das »triste Licht des Louvre-Museums« rücke die Bilder in eine Lebensferne, die mit der Weise ihres Entstehens nichts mehr zu tun haben. 946 (»Man sollte ins Museum gehen wie die Maler: in der Freude am Dialog, und nicht so, wie wir anderen hingehen, wir Liebhaber, mit einer Ehrfurcht, die letztlich nicht ganz echt ist.« 947) Während wir bei Sartre etwas ins Bild hineinschauen, berichtet Merleau-Ponty, bereits in Das Sichtbare und das Unsichtbare, von einer seltsamen Blickumkehr (Waldenfels: eine »überraschende Volte« 948), die Derrida aufnehmen wird: Es kann dem Betrachter nämlich so scheinen, als ob etwas aus dem Bild heraus uns anschaut. Da der Mensch als Betrachter (und auch jeder Maler) sowohl sehend als auch sichtbar ist, kann es zu einer Überkreuzung der Blicke kommen, »ebenso wie auf zwei voreinander stehenden Spiegeln […] Sehender und Sichtbares sich wechselseitig vertauschen und man nicht mehr weiß, wer sieht und wer gesehen wird, und wer malt und gemalt wird«. 949 Merleau-Ponty berichtet in diesem Zusammenhang auch eine Äußerung Paul Klees, der sich von den Dingen, etwa den Bäumen im Wald, angeblickt gefühlt habe. 950 (Diese Blickumkehr hatte auch Cusanus benutzt, um mit einem Bild, dessen Augen dem Betrachter folgen, gleichnishaft die visio dei mit einer Erfahrung das Sehens – hier: Gottes – und des gleichzeitigen Gesehenwerdens – genitivus subjectivus und genitivus objectivus – zu veranschaulichen (s. Teil II, 2.). Doch Waldenfels hält fest, dass dieser »Wechselblick« das Sehen und Gesehenwerden personalisiere, was Merleau-Ponty

Viel ausführlicher bei Merleau-Ponty, Die indirekte Sprache, a. a. O., S. 92–94. a. a. O., S. 93. 948 Waldenfels, Bildhaftes Sehen, a. a. O., S. 45. 949 Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 183. Der Zusatz »wer malt und wer gemalt wird« findet sich in Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 286. 950 Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 286. 946 947

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Phänomenologische Bildtheorien: Merleau-Ponty

nicht tue, 951 und verortet in diesem Wechselblick auch eine archaische Form von Bildmagie. 952) Dass die Bilder auf uns zurückschauen, lässt sich mit der Denkfigur der Hegel’schen Dialektik interpretieren. Merleau-Ponty benutzt selbst den Hegel’schen Begriff der »Entäußerung« 953: Der Maler entäußert sich durch sein Sehen in die ansichseiende Wirklichkeit, kann durch selbstgewählte Stilisierungen, u. U. auch durch Verwendung sedimentierter Ausdrucksformen, das Gesehene in einem Bild sichtbar machen und sich so in gewisser Weise selbst im Bild anschauen. Der ereignishafte Vollzug hat »subjektkonstituierenden Charakter« 954 (so wie van Gogh immer weiter malen musste, »um sich zu finden« 955), es ist im Hegel’schen Sinne eine prozesshafte Selbstverwirklichung durch immer neue Arbeit (Hegels Arbeitsbegriff), nur dass, wie Merleau-Ponty bemerkt, nicht der Weltgeist durch uns hindurch wirkt, »in uns ohne uns«, »hier sind wir der Weltgeist«, und zwar an jenem Ort, »wo das Innere sich veräußert; jener Umschlag oder jenes Umschlagen, das bewirkt, dass wir in den Anderen übergehen und der Andere in uns.« Nicht nur für die Produzenten, auch für die Rezipienten von Bilderfahrungen können sich so neue Sichtweisen auf die Welt ergeben, die Sinn sichtbar machen können, denn »die malerische Sichtweise greift auf die natürlich Anschauung zurück«. 956 So sind auch wir selber als Zu-schauer in einer zeitlichen Bewegung verortet, die uns – von den ersten Höhlenmalereien an – die kulturell und geschichtlich geprägten Weisen des Sehens und Gestaltens von Welt vor Augen führt – man kann hier von vertikaler und horizontaler Prägung reden –, uns aber andererseits nicht nur zu Zeugen, sondern auch zu Teilhabern von immer neuen Arten von Weltsicht werden lässt, und dies ist ein offener Prozess.

951 952 953 954 955 956

Waldenfels, a. a. O., S. 47. a. a. O., S. 46. Merleau-Ponty, Die indirekte Sprache, a. a. O., S. 96 f. Laner, a. a. O., S. 54. Merleau-Ponty, a. a. O., S. 79. Waldenfels, Bildhaftes Sehen, a. a. O., S. 34.

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Der philosophische Bilderstreit

3.4 Zweites Zwischenfazit Der an Aristoteles geschulte Thomas v. Aquin hat in seiner Summa Theologiae betont, dass »es zwei Bewegungen der Seele zu einem Bild hin gibt: Die eine nämlich ist eine Bewegung zum Bild selbst als einem bestimmten Ding […], die andere zum Bild als einem Bild von etwas anderem.« 957 (Und wir wissen nun bereits, dass im Hintergrund die Diskussion der durch Plotin beeinflussten Bildtheologie des Johannes Damaszenus stand). Alloa spricht in der Folge von einem »Doppelparadigma, das sich im Querschnitt des abendländischen Blicks auf Bilder als bestimmend erweist« und das Bilder je nach Positionalität entweder der Ordnung der Dinge oder der Ordnung der Zeichen zuordnet. 958 Das impliziert aber auch unterschiedliche methodische Zugänge, und die Sache geht tiefer. Man konnte nunmehr in der vorangegangenen Schilderung der semiotischen und der phänomenologischen Bild- bzw. Zeichentheorien und ihrer jeweiligen ontologischen Hintergründe den Eindruck gewinnen, dass es bei der Kontroverse zwischen Bildsemiotik und Bildphänomenologie doch noch um mehr geht als um die eingangs vermuteten Missverständnisse und je unterschiedlich weiten Bildbzw. Zeichenbegriffe. Diese haben sich in der Tat gezeigt: Ist bei Goodman der Begriff des (materiellen) Bildes durch seine Theorie der Exemplifikation auch auf nichtgegenständliche Bilder ausgeweitet, wodurch das Abbilden überschritten wird, wird bei Bergson sogar die ganze materielle Realität zum Bild, und bei Wittgenstein, Husserl und Sartre gehören selbstverständlich mentale Bilder dazu. Auch die Zeichenbegriffe differieren, je nachdem, ob man von Verweis oder Bezugnahme ausgeht oder wie Eco von einer bloßen Entsprechung zwischen Inhalts- und Ausdrucksebene. Bei Peirce waren sogar Vorstellungen und Argumente komplexe Zeichen. Man kann sich also mit Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeiten sowohl für den Bild- als auch für den Zeichenbegriff ein zusammenhängendes Cluster sich überschneidender Extensionsbereiche vorstellen. Gerade auf dem Hintergrund der religionsphilosophischen Betrachtungen zur Rolle von Bildern bzw. Zeichen aber wird zusätzlich deutlich, dass auch je andere ontologische Prämissen eine Rolle spielen. Handelt es sich z. B. bei dem im Bild Abgebildeten (wenn es denn 957 958

Aquin, S Th III qu.25a.3co, übersetzt von Alloa, Das durchscheinende Bild, S. 30. Alloa, Das durchscheinende Bild, S. 10.

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um Abbildung gehen soll) eher um Präsenz oder Absenz des Dargestellten? Ich habe die verschiedenen semiotischen und phänomenologischen Positionen weiter ausgeführt, damit ihre jeweiligen Hintergrundannahmen erkennbar werden. Peirce z. B. geht aus von einem pragmatistischen Ansatz, landet aber doch mit seiner Semiotik im objektiven Idealismus. Mit seiner Idee einer unbegrenzten Semiose und der Kette von Verweisungen im Interpretanten aber werden Bedeutungen bereits bei ihm »flüssig«. Goodmans Gegenposition zeigt mit ihrem nominalistischen, strikt antimetaphysischen Ansatz eine Bedeutungslehre, die nur extensional operieren kann und Bedeutungswandel allenfalls durch andere Erfüllungsklassen erfassen kann. Jede intensionale Untersuchung von Sinn muss unterbleiben, jeder Interpretant ist unsinnig. Seine Theorie notationaler Systeme ist sicher verdienstvoll, erlaubt sie es doch, Kriterien für Bildlichkeit im Unterschied zu anderen Zeichenarten zu entwickeln, ohne auf die Ähnlichkeitstheorie von Peirce Bezug zu nehmen. Der Bildbegriff wird so ausgeweitet, denn nun sind auch nichtgegenständliche Bilder, die sich vom Paradigma des Abbildens lösen, Gegenstand der Reflexion. Als Bezugsrahmen ergeben sich aber durch Goodmans Konstruktivismus verschiedene mögliche Welten. Das gilt auch für Umberto Eco, der eine Vielfalt virtueller Welten mit bedenkt und infolgedessen an der Dimension der außersystemischen Referenz von Zeichen nicht interessiert ist. Mit seiner Doppelstrategie von Signifikation und Kodierung ist er vorrangig an (bildlicher und außerbildlicher) Kommunikation interessiert. Seine Beschäftigung mit Peirce führt zur Übernahme und Modifikation der Interpretantenkette, und sicherlich hat er den weitesten Zeichenbegriff, da alles, was Elemente einer Inhaltsebene mit denen einer Ausdrucksebene verknüpft, also alles, was als bedeutsam kommuniziert werden kann, ihm als Zeichen gilt. Seine frühe Beschäftigung mit einem auf offene Interpretation hin angelegten offenen Kunstwerk führte ihn zu einem semiotischen Kulturbegriff, wobei er es aber als ausgesprochenen Mangel empfindet, dass das im Hintergrund agierende Subjekt nicht zum Thema semiotischer Kulturtheorien werden kann. Solche den konkreten Menschen ignorierenden Theorien sind genau der Zielpunkt von Husserls Wissenschaftskritik. Seine Rede vom »objektivistischen Schein« muss auch die TheoretikerInnen der Semiotik treffen, die sich in der Nachfolge der sprachanalytischen Philosophie um eine Zeichenkonzeption bemühen, die ihnen (und 533 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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vielen anderen auch) als neue Universalwissenschaft nicht nur der Philosophie gelten. Husserls Begriff der Intentionalität schließt ausdrücklich auch emotionale Dimensionen ein; seine Betonung des Leiblichen als Schnittstelle zur Welt der Phänomene macht ebenfalls Schule: mit beiden Bereichen betreten aber zwei in großen Teilen der Philosophiegeschichte – besonders im Idealismus – verdrängte und als unwissenschaftlich abqualifizierte Themen erneut die philosophische Bühne. Beides wird von Sartre und Merleau-Ponty aufgenommen und weitergeführt. So gesehen, kann man die Phänomenologie gerade auch mit Heidegger, der die Beschränktheiten des abendländischen Denkens sehr deutlich sieht, durchaus als Vorläufer postmoderner Rationalismuskritik sehen. Damit werden Sartre und Merleau-Ponty aber keinesfalls irrational: gerade für die Bildreflexion bringt die größere Offenheit für die Phänomene, auch des Bildhaften, wirklich neue Impulse; Bilder werden nicht wie in dem semiotischen Theorien als Zeichen neben anderen Zeichen gedeutet und als eine Art Sprache, die gelesen werden muss; die unverstellte Wahrnehmung hat Vorrang. Bei Sartre führt mit die einer Existentialontologie gekoppelte Phänomenologie zu einer auch politisch fundierten Philosophie der freien Kreativität, bei der die Fähigkeit zur Imagination zentral ist, bei Merleau-Pontys Beschäftigung mit Wahrnehmung zu einem leiblich inkarnierten Sinn, der die Struktur unseres Verhaltens regelt. Mit seiner Entdeckung des Unsichtbaren hinter allem Sichtbaren, also z. B. auch von Sichtweisen, die im Bild sichtbar werden können, fügt er der Bildphänomenologie eine neue Dimension hinzu. Eine weitere Ebene des Konflikts zwischen Bildsemiotikern und -phänomenologen soll nicht unterschlagen werden: Wie man sehen konnte, hat die Untersuchung von semiotischer und phänomenologischer Bildbetrachtung nun auch exemplarisch zwei unterschiedliche innerphilosophische Kulturen erhellt, die mit je anderen Ansätzen arbeiten. Und diese können sich konflikthaft begegnen: Mehr und mehr nämlich publizieren im Zuge der Globalisierung auch nichtenglische europäische AutorInnen in Englisch (nach Eco die neue lingua franca unsere Zeit), und philosophische Kongresse finden – auch auf deutschem Boden – in Englisch statt. Das lockt auch amerikanische PhilosophInnen auf diese Kongresse nach Europa, es findet also auch hier eine Art Globalisierung und damit gelegentlich eine Kulturbegegnung der anderen Art statt. Man beobachtet aber u. a., dass man hier oft keine Offenheit gegenüber andersartigen, d. h. vom Eigenen abweichenden philosophischen Methoden walten lässt. 534 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

Zweites Zwischenfazit

Die Methode der eigenen philosophischen Sozialisation, z. B. die postanalytische und postempirische in der Nachfolge von Quine und Putnam, wird oft absolut gesetzt und alles andere an diesem Paradigma gemessen bzw. als unphilosophisch abgewertet. 959 Eine ähnliche Absolutsetzung des Eigenen konnte man aber auch in den siebziger Jahren in Deutschland beobachten: Wer nicht im Sinne der »Kritischen Theorie« (der Frankfurter Schule) kritisch war, galt in etlichen Diskursen als unkritisch und war damit philosophisch abqualifiziert. (Gleiches gilt aber übrigens – cum grano salis – oft auch in der Ethik für Utilitaristen und Deontologen.) Damit finden wir auch innerphilosophisch genau die Strukturen vor, gegen die wir uns in der interkulturellen Philosophie wehren: Das Andere wird zugunsten des Eigenen abqualifiziert, dieses aber dogmatisch als das einzig Wahre behauptet. Oft findet zwischen Vertretern analytischer oder postanalytischer Traditionen, die aus dem Objektivitätsanspruch ihrer Denkmethodik einen universalen Anspruch herleiten, und Vertretern phänomenologischer Positionen keinerlei Diskussion statt, letztere werden als unwissenschaftlich nicht in Betracht gezogen. Es ist vielleicht weniger bekannt, dass Descartes in Die Prinzipien der Philosophie eine Alternative zu seinem cogito, ergo sum erwogen hat, nämlich video vel ambulo, ergo sum. 960 Der Gedanke hat etwas für sich: Sehend und gehend erkunden wir die Welt (das Gehen sorgt für den Wechsel der Perspektiven zwecks vollständigerer Sicht), und dieses leiblich gebundene Sehen und Gehen ist uns möglicherweise näher als das durch Begriffe vermittelte Denken darüber. Doch Beschreibung und Analyse der uns erscheinenden Phänomene ist ohne begriffliche Sprache nicht möglich: Um noch einmal Kant zu zitieren: Anschauung ohne Begriffe ist blind (womit jedoch keineswegs die Phänomenologen getroffen wären), aber Gedanken ohne Wahrnehmungsinhalte sind leer. Es wäre demnach zu fragen, ob bildtheoretisch zwischen den Anhängern des So konnte man beobachten, dass bei Tagungen zum Thema Emotion oder Normativität »den Amerikanern« nur Argumente und keinesfalls phänomenologischen Beschreibungen und Analysen als philosophisch galten; ein amerikanischer Philosoph verließ sogar empört – in Unkenntnis kontinentaler phänomenologischer Traditionen – den Raum. Andererseits kann man beobachten, dass PhilosophInnen asiatischer Provenienz phänomenologische Analysen besonders interessiert verfolgen. Man könnte also auch hier von einem »Clash of Civilizations« reden. 960 Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, S. 8. 959

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unvermittelten Zugangs zu den Dingen und denen einer zeichenhaften Vermittlungsebene nicht doch eine Art Komplementarität herzustellen wäre. Ich habe je drei Positionen von Semiotik und Phänomenologie untersucht, die für die Bildphilosophie relevant sind, und dabei ist deutlich geworden, dass man die Phänomenologie nicht einfach auf die Seite der bloßen Wahrnehmung schlagen darf, ebenso wenig, wie die Symboltheorien auf die Seite des oft sprachphilosophisch orientierten analytischen bzw. postanalytischen Denkens. Schließlich will auch der Peirce’sche Pragmatismus in der Lebenswelt wurzeln, auch wenn er schlussendlich in einem objektiven Idealismus landet. Auch die jeweiligen ontologischen Prämissen wollte ich deutlich machen, denn man findet bei den Anhängern der Bildsemiotik gelegentlich einen zeichentheoretischen Eklektizismus, der z. B. das Peirce’sche Ikon mit dem Begriff der syntaktischen Dichte bei Goodman kombiniert – möglicherweise in Unkenntnis der internen Unstimmigkeiten beider Systeme. Und auch im Hinblick auf bildphänomenologische Positionen ist mir schon die Aussage begegnet, dass es hier ja nur um unsichtbare Bilder gehe. Für die Analyse von Bildern bieten die drei Semiotiker ein erhellendes Instrumentarium, sehen Bilder aber in ihrer Funktion eingebettet in eine allgemeine Zeichen- oder Kommunikationstheorie, sie müssen »gelesen«, entziffert« oder »decodiert« werden. Die vom Pragmatismus beeinflussten Bildsemiotiker werfen den Phänomenologen wegen ihrer zu starken Fixierung auf Wahrnehmung einen zu starken Subjektivismus vor; doch wird Umberto Eco das »Fehlen des Subjekts« als Mangel bewusst. Es wird, wie in vielen nachpositivistischen Denkkulturen, immer noch ausgeblendet. Es ist in seiner Funktion als Produzent von Zeichen aber relevant, bleibt jedoch ansonsten transzendent, als Bedingung der Möglichkeit von Zeichenerzeugung sogar transzendental. Husserl kann hier wunderbar weiterführen, denn er kritisiert den vermeintlichen Objektivismus sogar in den »exakten« Wissenschaften als Fiktion, bleibt aber mit seinem transzendentalen Subjekt für die Bildsemiotiker doch zu sehr Bewusstseinsphilosoph. Sartre, der Husserls latenten Idealismus »vom Kopf auf die Füße stellt«, da »die Existenz der Essenz« voranzugehen hat, bleibt zunächst bei einer Untersuchung der Imagination und des Imaginären, betont aber dann die Rolle der Imagination in ihrer Anwendung bei der Rezeption Und Produktion von Kunst. Erst Merleau-Ponty stellt mit seiner Leibphilosophie die Weichen in der Wahrnehmungsphilosophie anders und möchte einem »entrelace536 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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ment«, einer Verstrickung von Empirismus und Rationalismus das Wort reden. Für die Bildphilosophie bedeutet das, dass er mit seiner Verkörperungstheorie auch die Materialität des Bildhaften in ihrer Wirkung auf die Rezipienten von Kunst in den Blick rückt. Auch bei Eco in seinem Konzept des offenen Kunstwerks und seinen prinzipiell offenen Interpretations- und Interaktionsmöglichkeiten der Avantgarde-Kunst finden wir diese Rezipientenorientierung. Sachs-Hombach hat in dieser Kontroverse – jede Seite hält die andere für einseitig und zu subjektiv oder zu objektiv – als Kompromissvorschlag den Begriff des »wahrnehmungsnahen Zeichens«, 961 als die er Bilder gesehen wissen möchte, eingebracht. Bereits oben wurde angedeutet, dass die je verschiedenen Bildauffassungen in verschiedenen Kulturkreisen in engem Zusammenhang mit religionsphilosophischen Grundprämissen stehen können und Prädispositionen erzeugen können, die Vertreter verschiedener Kulturkreise zu bestimmten Bildpositionen gelangen lassen. Aus der Sicht der kulturell je verschiedenen Bildauffassungen semiotischer Art in jüdischen, islamischen und teilweise auch protestantischen Kulturkreisen jedoch sind diese Zeichen keineswegs wahrnehmungsnah, sie sollen bzw. dürfen es nicht sein, die Wahrnehmung soll ja gerade von den Sinnen weg über sich selbst hinausgelenkt werden und kann bestenfalls in der Mystik in eine Art intellektuelle Anschauung (Schelling!) münden. Das mag vielleicht auch als Grund gelten, weshalb die asiatische Malerei keine Zentralperspektive entwickelt hat und sie in der islamischen Kunst ebenso wie die Porträtmalerei als Sakrileg galt, erstere als zu starke Berücksichtigung des individuellen je einzelnen Standpunktes, zweitere als Frevel am Lebendigen. Ein weitergehender Lösungsvorschlag für diesen Streit findet sich bei Günter Abel, der sich bewusst von der Sachs-Hombach-Lösung abSachs-Hombach, Das Bild als kommunikatives Medium, S. 73 ff. So auch bei Herder, Bild und Fiktion, S. 53. Sachs-Hombach, Über Sinn und Reichweite der Ähnlichkeitstheorie, in: Steinbrenner/ Scholz/Ernst (Hg.), Symbole, Systeme, Welten, S. 219, hatte dort unter Rückgang auf die Ähnlichkeitstheorie definiert: »Ein Zeichen ist einem anderen Gegenstand ähnlich (und damit ein Bild), wenn der phänomenale Inhalt der Wahrnehmung des Zeichenträgers unter einer bestimmten Perspektive und hinsichtlich der für die Repräsentationsbeziehung relevanten Dimensionen wesentliche Eigenschaften mit dem phänomenalen Inhalt der Wahrnehmung dieses Gegenstandes gemeinsam hat.«

961

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Der philosophische Bilderstreit

setzt. 962 Er will eine »vereinheitlichte Theorie der zeichen- und phänomenbezogenen Aspekte«, in der Zeichen und Phänomen nicht als zwei gegeneinander isolierbare Größen und Prozesse« konzipiert werden. 963 So bestechend auch die von ihm in Zeichen der Wirklichkeit vorgeschlagene Lösung durch die Aufhebung der Unterscheidung von Zeichen und Phänomen sich lesen mag, denn beide müssen seiner Ansicht nach – aus der Sicht der Rezeptionsästhetik – interpretiert werden, so trägt sie doch den kulturell unterschiedlichen Bildauffassungen noch nicht genügend Rechnung. Die Lösung unterläuft zwar herkömmliche Dichotomien, z. B. auch, indem Abel die anschauliche Organisationskraft der Bilder jenseits sprachlicher und propositionaler Kategorien würdigt, um seine Zeichen- und Interpretationslehre »in das Feld der nichtsprachlichen Zeichen- und Interpretationssysteme zu erweitern und deren Logik und Ästhetik zu erfassen und darzustellen.« 964 Eine Lösung, in der beide Positionen, die Bildsemiotik und die Bildphänomenologie, sich als komplementär und in einer umfassenderen Theorie – im doppelten Hegel’schen Sinn – aufgehoben empfinden könnten, ist dies aber leider nicht, und sie trägt auch nicht den verschiedenen Bildauffassungen verschiedener Kulturen Rechnung. Das Konzept bleibt zu stark in einer Metaphysik der Präsenz befangen, wie sie seit Heidegger und in seiner Nachfolge von postmodernen Autoren als »Ontotheologie« kritisiert worden ist, einer Metaphysik, die alles aus ersten Gründen und Prinzipien ableitet und daher auch »Deduktionsmetaphysik« genannt worden ist, da sie sich so den Anspruch auf Gültigkeit sichern möchte. Sie ist typisch für den Mainstream westlichen Denkens geworden und dem Denken anderer Kulturkreise eher fremd, weshalb Derrida alternativ eine Absenzmetaphysik entwickelt, die nichtdogmatisch ist und sich bewusst an der negativen Theologie orientiert. Eher schon scheint mir Jens Heises Begriff des »präsentativen Symbolismus« geeignet, den er im Anschluss an die Cassirer-Schülerin Susanne Langer weiter ausführt. Diese hatte zwischen präsentativen und diskursiven Medien unterschieden und mit dem Begriff des präsentativen Symbolismus auf einen Rationalitätsmodus hingewiesen, der »die Intelligenz nicht einseitig auf Diskursivität festlegt und jede andere Vorstellung in ein irrationales Reich des Gefühls und 962 963 964

Abel, Zeichen der Wirklichkeit, S. 360. Abel, a. a. O., S. 358 und 360, FN 12. a. a. O., S. 364

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Instinkts verbannt«. 965 Damit schließt sie »die präsentativen Formen an die philosophischen Themen an, die vor allem durch den diskursiven Symbolismus geprägt waren«. 966 Das Besondere an Heises Ansatz ist nun, dass er unter Verweis auf piktographische Schriftzeichen in asiatischen Kulturen eine Art Kulturvergleich vornimmt, indem er unter der Überschrift »Ost« und »West« eine Typologie symbolischer Welten entwickelt. 967 Zwar ist immer noch das Symbol der Oberbegriff, unter den alles geordnet wird, doch »auf dem Weg einer Dezentrierung des Diskursiven werden symbolische Formen jenseits der Sprache des Bewussten, der Neuzeit und sogar der Kultur sichtbar, die wir abendländisch nennen«. 968 Allerdings hat Heise nicht die aktuelle bildphilosophische Kontroverse im Blick, die uns hier beschäftigt hat. Auf die Bedeutung der Bilderschriften aber hatte aber schon der von Heise zitierte Derrida hingewiesen, der in seiner Ausweitung des Schriftbegriffs auch verschiedene Formen von Bildlichkeit einbeziehen möchte. Ich verfolge also im Kommenden die »Spur« Derridas, denn es hatte sich ja gerade angesichts des asiatischen Prozessdenkens herausgestellt, dass jeder Gedanke von Repräsentation unangemessen ist. Es muss daher auf der Suche nach einem Kompromiss um einen anderen Zeichenbegriff gehen, und die Spuren dafür sind bereits gelegt. Lambert Wiesing hat in dieser Situation des aktuellen Bilderstreites festgestellt, dass Bilder ausgesprochen oft als Zeichen verwendet werden: »Und damit hat man ein Problem, in das sich insbesondere phänomenologische Bildtheorien hineinmanövriert haben. Es ist zu wenig, wenn heute nur wiederholt wird, […] dass Bilder keine Zeichen sein müssen. […] Doch in der Tat hat man den Eindruck, dass in phänomenologischen Bildtheorien vielleicht zu lange Zeit die bloß negierende Haltung gegenüber einer Semiotik des Bildes vorherrschend war. […] Was im Streit zwischen wahrnehmungstheoretischen und semiotischen Bildtheorien vermisst wird, ist eine Semiotik des Bildes auf phänomenologischer Grundlage.« 969

Heise, Präsentative Symbole. Elemente einer Philosophie der Kulturen – Europa und Japan, S. 7 f. 966 ebd. 967 a. a. O., S. 149–174. 968 a. a. O., S. 9. 969 Wiesing, Die bildliche Kreatur – zwischen Interpretation und Präsentation, in: 965

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Der philosophische Bilderstreit

Anders als Wiesing, der damit einer praxisorientierten Semiotik das Wort reden möchte, die auf Basis der eigenen Erfahrungen bei der Verwendung von Bildern als Zeichen »beschreibt, was mit Bildern gemacht wird, wenn mit ihnen auf etwas Bezug genommen wird«, 970 möchte ich eine andere Lösung für die ins Auge gefasste »Semiotik des Bildes auf phänomenologischer Grundlage« vorschlagen und verfolge dabei den Begriff der Spur im Zusammenhang mit einem etwas anders gearteten Zeichenbegriff, der schon bei Peirce und bei Eco ansatzweise zum Tragen kam. Eine solche Lösung lässt sich bei Derrida entwickeln, der in seiner Philosophie des Visuellen sowohl phänomenologisch als auch semiotisch gelesen werden kann und zudem geeignet ist, eine interkulturell akzeptable Lösung der bildtheoretischen Kontroverse liefern zu können. Leider wird er viel zu oft in bloß partieller Textkenntnis aus der Perspektive der (literarischen) Textdekonstruktion gelesen oder fällt dem Klischeewort von der »postmodernen Beliebigkeit« zum Opfer. 971 Dekonstruktion ist aber wie bei Husserl und Heidegger von Anfang an der Aisthesis verschwistert: Das Dekonstruieren (das nicht Destruktion bedeutet!) ermöglicht das Rückbauen (Husserls »Einklammerung«) rationaler Konstrukte, wie sie für »westliches« Denken typisch sind, und das Freilegen ihrer Fundamente, 972 um das Denken so für die offene und vorurteilslose Wahrnehmung des kulturell Anderen zu öffnen. Zudem findet Derrida in der Mystik der verschiedenen religiösen Kulturen eine Anregung, auch für die Ontologie allgemein eine Entzugsfigur zu formulieren: Auch das Sein insgesamt entzieht sich, ist für unseren Verstand nie in seiner Totalität fassbar, es gibt immer eine alle Dualitäten übersteigende »différance«, zu der allenfalls »Spuren« führen können. Um Derridas Positionen und ihre Genese – durchaus auch aus dem europäischen Denken heraus – besser verstehbar zu machen, Hoeps (Hg.), Handbuch der Bildtheologie, Bd. III (»Zwischen Zeichen und Präsenz«), S. 379–393, hier S. 381. 970 ebd. 971 Hassan, Postmoderne heute, in: Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne, S. 53 redet sogar voller Unverständnis von »Karnevalisierung der Vernunft« und »Derridada und Lacancan«. 972 Ein typisches Beispiel ist Derridas Apokalypseschrift, in der er einen Aufsatz Kants der Offenbarung des Johannes gegenüberstellt und in seiner Kantlektüre zu einer Rationalismuskritik findet, die die Hermetik des Systems aufzubrechen in der Lage ist.

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Zweites Zwischenfazit

folgt nun abschließend noch ein Teil zur postmodernen Differenzphilosophie, der über Heidegger und Foucault zum besseren Verständnis von Derridas Philosophie und Bildposition führen soll. Letztere möchte ich als eine interkulturell akzeptable Lösung der bildphilosophischen Kontroverse vorschlagen.

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4. Differenzphilosophie als Vermittlung?

»Die« postmoderne Differenzphilosophie – es handelt sich um eine Bewegung in verschiedenen Ländern – ist viel stigmatisiert und wenig verstanden worden. Zu bedrohlich schien das bereits von Heidegger angekündigte und von ihm an einigen Beispielen auch schon durchgeführte Anliegen der Dekonstruktion vertrauter Denkstrukturen. Heidegger war zwar Schüler Husserls, aber durch die Beschäftigung mit Daoismus und Buddhismus für einige vorgeblich universale Strukturen des sich selbst absolut setzenden abendländischen Denkens hellsichtig geworden und kann als einer der Gründungsväter postmodernen Denkens bezeichnet werden. Als weitere Inspirationsquellen müssen Nietzsches Rationalismus- und Metaphysikkritik und der amerikanische Pragmatismus genannt werden, auf die wohl das postmoderne Paradigma der Pluralität zurückgeht. Doch das Klischeewort von der »postmodernen Beliebigkeit« machte die Runde. (Ich habe aber gezeigt, dass ein Konzept der Multiperspektivität nicht in Relativismus führen muss und dass die postmoderne Ethik sehr anspruchsvoll und alles andere als beliebig ist- sie dreht sich u. a. um die Begriffe Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit. 1) Zunehmende Pluralisierung und Fragmentarisierung, so meine Kritik, kann zwar zur Implosion des Sozialen führen. Sie macht aber auch deutlich, dass es verschiedene Welten und entsprechende Denkwelten mit Daseinsberechtigung gibt. Das Anliegen der Dekonstruktion ist also auch eng der postmodernen Forderung nach verbesserter Aisthesis verschwistert, das eine bessere Wahrnehmung des Fremden und der in diesem Zusammenhang auftauchenden andersartigen Phänomene erhofft. Insofern kann das postmoderne Differenzdenken einen Weg in die interkulturelle Philosophie bahnen, mit dem Anliegen, dieses an-

1 Münnix, Zum Ethos der Pluralität, S. 125–186 sowie 84–108; s. auch Münnix, Anything goes? Zum Schlagwort von der »Postmodernen Beliebigkeit«, in: Fuchs / Farokhifar /Schütte (Hg.), Freiheit, Moral, Beliebigkeit. Was sollen wir tun?, S. 43–60.

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Heideggers Kritik am Systemdenken und seine Philosophie des Kunstwerks

dersartige Fremde nicht nur wahrnehmen, sondern auch besser verstehen zu können. Jacques Derrida betrat 1967 die philosophische Bühne mit gleich drei Büchern bei prominenten Verlagen 2, die allesamt zu Gründungsdokumenten der französischen Postmoderne wurden. Um kurzsichtigen Verdikten (wie »Karnevalisierung der Vernunft«, »Derridada und Lacancan« 3, s. o.) entgegenzuwirken, soll im Folgenden zum besseren Verständnis eine Linie von Heidegger über Foucault bis hin zu Derrida aufgezeigt werden. (Natürlich gibt es weitere Einflussgrößen und Diskursbeteiligte, aber diese drei beschäftigen sich explizit auch mit Bildern). So soll der Sinn von Dekonstruktionen (die keineswegs Destruktionen sind) im weiteren Fortgang aufgezeigt und das Differenzdenken auch in der Kunst plausibel gemacht werden.

4.1. Heideggers Kritik am Systemdenken und seine Philosophie des Kunstwerks 4.1.1 Heideggers Kritik der »abendländischen« Metaphysik Heidegger übernimmt als Schüler Husserls den phänomenologischen Ansatz seines Lehrers, gibt ihm aber mit der »Hermeneutik der Faktizität« eine andere Richtung. In seiner Nietzsche-Interpretation stellt Heidegger fest, dass Nietzsches Bemerkung, der Mensch sei das nicht fest-gestellte Tier, noch gar nicht hinreichend verstanden worden sei: »Der Mensch ist das noch nicht festgestellte Tier: das animal rationale ist noch nicht in sein volles Wesen gebracht. (…) der bisherige Mensch (muss) über sich hinausgebracht werden.« 4 Heidegger hatte in seinem Vortrag »Was ist das – die Philosophie?« kritisiert, dass im Verlauf der Geistesgeschichte festgeschrieben wurde, was als Ratio zu gelten habe, und die »begrifflich aufeinander bezogene Abgrenzung von Rationalität und Irrationalität« 5 wiederum voraussetze, was Rationalität sei. Doch Heidegger entdeckt zwischen Rationalität und Irrationalität eine dritte Dimension: Mag Das waren die Husserl-Kritik »Die Stimme und das Phänomen«, »Die Schrift und die Differenz« und die »Grammatologie«. Für die Namensgebung der Bewegung sorgte dann Lyotard mit seiner »Condition postmoderne«. 3 Hassan, Postmoderne heute, in: Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne, S. 53. 4 Heidegger, Was heißt Denken?, S. 38 f. 5 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, S. 10. 2

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Differenzphilosophie als Vermittlung?

auch die Philosophie als eigentliche Verwalterin der ratio gelten; das wovon sie handelt, »berührt uns in unserem Wesen« und »geht uns selbst an, und es kann durchaus sein, dass diese Affektion durchaus nichts mit dem zu tun hat, was man Affekte und Gefühle, kurz das Irrationale, nennt.« 6 Das ist keinesfalls, wie es auch »der« Postmoderne – z. B. von Habermas 7 – unterstellt wurde, anti-aufklärerisch, denn die aufklärerische Vernunft muss sich – nicht nur nach Adorno – am Ende auch selbst hinterfragen und sich über sich selbst aufklären. Man kann diese Rationalismuskritik daher auch als eine neue Welle der Aufklärung sehen. 8 Nicht nur, dass die abendländische Vernunft über logos und ratio bis hin zur heutigen instrumentellen Vernunft sich schrittweise verengt hat, weshalb Kunnemann von »Trichterrationalität« spricht 9, in ihrem Inneren ist auch ein System von Einschlüssen und Ausschlüssen festzustellen, das durch künstliche Dichotomien wirksam wird. Durch seine Beschäftigung mit dem ostasiatischen Denken wird Heidegger auch hellsichtig für ein besonderes Merkmal abendländischer Metaphysik: »Weil Sein für alle Metaphysik seit dem Anfang des abendländischen Denkens besagt: Anwesenheit, muss das Sein, wenn es in höchster Instanz gedacht werden soll, als das reine Anwesen gedacht werden, d. h. als die anwesende Anwesenheit, als die bleibende Gegenwart, als das stehende Jetzt«. 10 Heidegger kritisiert aber, dass in dieser Metaphysik das Sein als aller Zeit enthoben, quasi ewig gedacht werden muss, nämlich unabhängig von allen geschichtlichen Veränderungen. 11 Für Heidegger zeigt sich, dass hier im innersten Kern abendländischen Denkens eine Metaphysik wirksam ist, die »im Wesen des Seins etwas Wesenhaftes ungedacht« lässt (ebd.). Diese Metaphysik erweckt und befestigt nach Heidegger den a. a. O., S. 9 f. Habermas wehrt sich gegen die »Abwertung der Aufklärung als Ausgeburt einer terroristischen Vernunft«, und hält- vor allem gegen Lyotard – jede Aufklärungskritik für »neokonservativ«. S. Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne, S. 189. Später hat er sich mit Derrida getroffen, er steht ihm heute positiver gegenüber und betont sogar seine »klärende Wirkung«. (Habermas, Ach Europa, S. 40–64). 8 vgl. Münnix, Zum Ethos der Pluralität. Postmoderne und Multiperspektivität als Programm, S. 24 f 9 vgl. Kunnemann, Der Wahrheitstrichter. Habermas und die Postmoderne. 10 Heidegger, Was heißt Denken? S. 63. (Wie wir sahen, kann Heidegger sich da nur auf den mainstream »abendländischen« Denkens beziehen.) 11 a. a. O., S. 64. 6 7

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Glauben, als sei mit ihr die Frage nach dem Sein gedacht und geklärt. Doch »das Aussagen der Metaphysik bewegt sich von ihrem Beginn bis in ihre Vollendung in einer durchgängigen Verwechselung von Seiendem und Sein … Fast scheint es, als sei die Metaphysik durch die Art, wie sie das Seiende denkt, dahin gewiesen, ohne ihr Wissen die Schranke zu sein, die die dem Menschen den anfänglichen Bezug des Seins zum Menschenwesen verwehrt. Wie aber, wenn das Ausbleiben dieses Bezuges und die Vergessenheit dieses Ausbleibens von weither das moderne Weltalter bestimmten?« 12

Seit Aristoteles habe sich die Philosophie immer wieder mit der zentralen Frage »Was ist das Seiende?« beschäftigt, und habe es doch immer wieder verfehlt. 13 Abstraktionen – wie bei Husserl – erreichten das wirkliche Leben nicht. Das »Sein« sei als Abstraktum im Verlauf der Geschichte des Denkens »als physis, logos, Substanz, Objektivität, Subjektivität, Wille etc. bestimmt worden«. 14 Heidegger geht es aber um die ontisch-ontologische Differenz von Sein und Seiendem, von »Vorhandenem« und »Zuhandenem«, weshalb ein »Schritt zurück aus der Vergessenheit der Differenz als solcher« nötig wird. 15 Da diese Seinsvergessenheit uns vom Eigentlichen entfremdet, muss das Denken an die Wahrheit des Seins als Rückgang in den Grund der Metaphysik verstanden werden. 16 Doch damit ist nicht die Denkfigur der rationalen Begründung gemeint, die Heidegger wie auch den Verbleib im Bereich des Ontischen (immer werde Seiendes mit Seiendem erklärt) als »Ontotheologie« kritisiert: Ein Streben nach Gründen und Begründungen im Rückgang auf – wie wir sahen ewige – erste Prinzipien des Seins, das wir in unserer Denkkultur als Legitimierung zu bemühen gewohnt sind, verliert nicht nur den Blick für die Verschiedenheit des Seienden 17, was man für jede Deduktionsmetaphysik und jedes Systemdenken festhalten kann, da beide sich nicht genug mit Differenzen in der Phänomenwelt

Heidegger, Einleitung zu: Was ist Metaphysik? In: Heidegger, Wegmarken, S. 365 f (in der 1. Auflage S. 199 f). 13 Hervorhebung d. d. A.; s. Heidegger, Was ist das – die Philosophie? S. 24 zitiert Aristoteles Met 2 1, 1028, b2 s99. 14 Heidegger, Identität und Differenz, S. 64. 15 a. a. O., S. 64 f (vgl FN 14). 16 Heidegger, Einleitung zu: Was ist Metaphysik? a. a. O., S. 375 (209). 17 Münnix, Ethos der Pluralität, S. 25 12

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beschäftigen. Solches Denken muss auch zwangsläufig das eigentliche Sein verfehlen. Doch Heidegger bleibt – wie auch in seiner Sprache: der Mensch, das Geschick – metaphysischen Denkstrukturen verhaftet, und das ist ihm auch bewusst: »Die Überwindung der Metaphysik beseitigt die Metaphysik nicht«, denn ein Denken, das an die Wahrheit des Seins denkt, begnügt sich zwar nicht mehr mit klassischen Metaphysik, aber es denkt auch nicht gegen sie, »es gräbt ihr den Boden«, es ist »Andenken an das Sein selbst«. 18 So sollen das »ist« und das »Sein« aus ihrer statischen Starrheit herausgelöst und der Vergegenständlichung entrissen werden. 19 Husserls »eidetische Reduktion« geht Heidegger nicht weit genug, denn dieser bleibe noch zu sehr den Strukturen dualistischen Denkens verhaftet. Heidegger möchte »eine Aneignung und Verwandlung des Überlieferten. Solche Aneignung der Geschichte ist mit dem Titel Dekonstruktion gemeint.« 20 Nach Heidegger bedeutet dies keineswegs Destruktion, sondern »Abbauen, Abtragen und auf die Seite stellen. Dekonstruktion heißt: Unser Ohr öffnen, frei machen für das, was sich uns in der Überlieferung als Sein des Seienden zuspricht.« 21 Die positive Haltung einer Offenheit »für das Sein« bedeutet dann: »Sich von der Haltung des vorstellenden Denkens absetzen«, den »Absprung« zu wagen, weg aus der geläufigen Vorstellung vom Menschen als dem »animal rationale, das in der Neuzeit zum Subjekt für seine Objekte geworden ist.« 22 Denn Mensch und Sein können sich verfehlen und dies nur vermeiden, »indem sie jene Heidegger, Einleitung zu: Was ist Metaphysik?, a. a. O., S. 363 (197). Franzen, Von der Existentialontologie zur Seinsgeschichte, S. 106 kritisiert eine problematische Unstimmigkeit in Heideggers früher und später Philosophie: war in »Sein und Zeit« das ungegenständliche Sein vor dem Seienden und hatte einen Ort, »nämlich das Dasein, d. h. die Subjektivität«, so »hat es sich in Heideggers Spätdenken verselbständigt.« Das führe dazu, dass »durch die Betonung der Wechselseitigkeit von Sein und Seiendem […] die ontologische Differenz in Gefahr (gerät), ihre Grundsätzlichkeit einzubüßen.« Deshalb »wird nun diese Differenz ihrerseits […] zum Ersten erhoben und dem Seienden wie auch dem Sein noch vorgeordnet.« Entsprechend wird nun, statt von Seinsvergessenheit, von der Vergessenheit der Differenz geredet.) 20 Heidegger, Sein und Zeit, § 6. 21 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, S. 32 ff. Die Opposition und wechselseitige Konstitution von Subjekt und Objekt ergab sich im »westlichen« Denken ja erst durch die Kantsche Interpretation der Cartesischen Substanzen res cogitans und res extensa, eine Dualität, die schon Leibniz mit dem Begriff der Kraft kritisiert hatte. 22 Heidegger, Identität und Differenz, S. 24. 18 19

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Bestimmungen verlieren, die ihnen die Metaphysik geliehen hat.« 23 Diese Dekonstruktion ist Befreiung, denn so kann man »aus der Bahn des Denkens im Spielraum der Überlieferung ausbrechen«, einen »Schritt zurück« gehen und offen werden für andere Denkweisen in einer globalisierten Welt.« 24 Und mit diesem Gedanken der Dekonstruktion wird Heidegger wie bereits oben ausgeführt neben Nietzsche und den Denkern des amerikanischen Pragmatismus 25 zu einem der Väter postmodernen Denkens, das – bei aller berechtigten Kritik 26 – mit seinem Paradigma der Pluralität ein Weg zur interkulturellen Philosophie sein kann.

4.1.2 Kritik am Dingbegriff Für Nietzsche ist Wahrheit nicht im Bereich starrer abstrakter Begrifflichkeit zu finden, die dem lebendigen Leben nie adäquat sein kann 27, sondern kann allenfalls in der Kunst aufscheinen. Heideggers Kunstwerkaufsatz geht aber über Nietzsches Rationalismuskritik weit hinaus. Zunächst geht es Heidegger um eine Kritik am Dingbegriff, den er als metaphysische Präsupposition kritisiert. (Man kann daher m. E. den Kunstwerkaufsatz bereits den »gekehrten Heidegger« zuschreiben und es nicht bloß als Fortführung des frühen Hauptwerks Sein und Zeit verstehen.) Die traditionelle Ästhetik, die erst seit Baumgarten als ordentliche philosophische Disziplin gelte, sei »eine metaphysische Kunstlehre« 28 und zu sehr auf die Reproduktion der platonischen Trennung von Sinnlich-Materiellem und Geistigem fixiert, da sie Kunstwerke als Objekte für ein Subjekt auffasse. Natürlich komme »das ästhetische Erlebnis … am Dinghaften des Kunstwerks nicht vorbei. Das Steinerne ist im Bauwerk, das Hölzerne ist im Schnitzwerk, das Farbige ist im Gemälde.« 29 Doch über a. a. O., S. 30. a. a. O., S. 39. 25 vgl Münnix, Zum Ethos der Pluralität, S. 41 ff. 26 ebda, S. 122 ff. 27 Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, SIII, S. 309–322. 28 GA 53, S. 21. 29 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 10 (im folgenden Text mit »KW« abgekürzt). 23 24

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dieses Dinghafte an Bildträgern hinaus ist das Kunstwerk natürlich noch etwas anderes, und genau dieses macht eben das Künstlerische aus. Daher sei es nie ein Ding, sondern über diesen Unterbau hinaus im Grunde etwas ganz anderes (KW 11). Heidegger kritisiert, dass in der Tradition des abendländischen Denkens sogar dasjenige ein Ding ist, das gar nicht erscheint, z. B. »das Ding an sich« als das Ganze der Welt oder Gott. »Alles Seiende, das überhaupt ist, heißt in der Sprache der Philosophie ein Ding … Im Ganzen nennt hier das Wort Ding jegliches, was nicht schlechthin nichts ist« (KW 12). Heidegger möchte hier aber zwischen »Ding« und »Werk« unterscheiden. (ebd.) »Das Ding ist, wie jedermann zu wissen glaubt, jenes, um das herum sich Eigenschaften versammelt haben. Dieses Kernhafte des Dings war den Griechen freilich das zum Grunde und immer schon Vorliegende. Diese Benennungen sprechen, was hier nicht mehr zu zeigen ist, von den griechischen Grunderfahrungen des Seins des Seienden im Sinne der Anwesenheit«. Die abendländische Auslegung beginne aber mit Übernahme der griechischen Wörter in das römische Denken, fortan rede man von subjectum, substantia und akzidens, doch mit der scheinbar wörtlichen und daher bewahrenden Übersetzung sei dahinter verborgen eine Übersetzung griechischer Erfahrung in eine andere Denkungsart: »Das römische Denken übernimmt die griechischen Wörter ohne die entsprechende gleichursprüngliche Erfahrung dessen, was sie sagen, ohne das griechische Wort. Die Bodenlosigkeit des abendländischen Denkens beginnt mit diesem Übersetzen« (KW 14 f).

Heidegger beschäftigt sich zunächst mit drei philosophischen Traditionen zum Dingbegriff, die er allesamt kritisiert: Zunächst schien nach der geläufigen Meinung, die das Ding als Substanz mit Akzidentien begriff, die Bestimmung der Dingheit des Dings unserem natürlichen Blick auf die Dinge zu entsprechen. Der einfache Aussagesatz besteht aus dem Subjekt, und das heißt schon Umdeutung des griechischen hypokeimenon, und aus dem Prädikat, mit dem vom Subjekt Eigenschaften ausgesagt werden, die die Merkmale des Dings sind. Der Satzbau scheint den Bau der Dinge zu implizieren: die Vereinigung der Substanz mit ihren Akzidentien. Für Heidegger scheint eher der Satzbau den Dingbau zu überdecken, so dass der Mensch die Weise seiner Dingerfassung in Aussagen der Sprache auf den Bau der Dinge selbst überträgt (KW 15).

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Das Ding als Träger seiner Merkmale ist aber nicht so natürlich, wie es uns scheinen mag: Wir haben nur lange geübte Denkgewohnheiten als solche vergessen und nehmen sie für selbstverständlich (so wie für Nietzsche der Mensch die Herkunft des Denkens in Begriffen aus konkreten bildhaften Vorstellungen vergessen hat). Dieser Ding- bzw. Substanzbegriff wird nun nicht mehr nur auf bloße und eigentliche Dinge angewendet, sondern auf jegliches Seiende übertragen, und so kann man auch niemals das dingliche vom nichtdinglich Seienden unterscheiden. Der Begriff trifft also das Dinghafte der Dinge gar nicht (KW 16). Bezeichnend ist auch, dass er auch für Dinge verwendet wird, die gar keine Dinge sind, wie z. B. das Kantische »Ding an sich«, das dem Denken unerreichbar und transzendent bleiben muss, so wie eine Wirklichkeit, die unabhängig von unserem Denken ist. »Bisweilen haben wir noch das Gefühl, dass seit langem schon dem Dinghaften der Dinge Gewalt angetan worden, und dass bei dieser Gewaltsamkeit das Denken im Spiel sei, weshalb man dem Denken abschwört, statt sich darum zu mühen, dass das Denken denkender werde. Aber was soll denn bei einer Wesensbestimmung des Dings ein noch so sicheres Gefühl, wenn allein das Denken das Wort haben darf? Vielleicht ist jedoch das, was wir hier und in ähnlichen Fällen Gefühl oder Stimmung nennen, vernünftiger, nämlich vernehmender, weil dem Sein offener als alle Vernunft, die inzwischen zur ratio geworden, rational missdeutet wurde.« (KW16 f)

Denn der Dingbegriff kann nicht das w e s e n d e Ding erfassen, weshalb er es »überfällt«. (KW 17) Das Ding hat nämlich kein Wesen, es »west«, womit Heidegger auf den Prozesscharakter des Seins aufmerksam machen möchte. Das unverstellte Anwesen des Dinges geschieht längst, die unvermittelte Begegnung durch viele Sinnesempfindungen, die uns gleichsam überfallen (»die Dinge rücken uns auf den Leib«). Das erzeugte nach Heidegger später eine andere Dingvorstellung: nämlich als »Einheit einer Mannigfaltigkeit des in den Sinnen Gegebenen« (KW 17). Aber auch dieser Dingbegriff lässt Heidegger ratlos: »Niemals vernehmen wir, wie er vorgibt, im Erscheinen der Dinge zunächst und eigentlich einen Andrang von Empfindungen, z. B. Töne und Geräusche, sondern wir hören den Sturm im Schornstein pfeifen, hören das dreimotorige Flugzeug, wir hören den Mercedes … Wir hören im Haus die Tür schlagen und hören niemals 549 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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akustische Empfindungen oder auch nur bloße Geräusche.« Wir müssen daher von den Dingen weghören, um uns ihrem eigentlichen Sein zu nähern (KW 18). Hier liegt weniger ein Überfall auf das Ding vor, »sondern der übersteigerte Versuch, das Ding in eine größtmögliche Unmittelbarkeit zu uns zu bringen: Während die erste Auslegung des Dings uns dieses gleichsam vom Leibe hält und zu weit wegstellt, rückt die zweite es uns zu sehr auf den Leib.« (ebd.) Zu große Distanz aber ist wie zu große Nähe von Nachteil. Heidegger wendet sich daher einer – ebenfalls sehr alten – dritten Bestimmung zu, nach der Dinge als Ineinander von Stoff und Form gesehen werden. »In dieser Bestimmung des Dinges als Stoff (hyle) ist schon die Form mitgesetzt (morphe). Das Ständige eines Dinges, die Konsistenz, besteht darin, dass ein Stoff mit einer Form zusammengeht. Das Ding ist ein geformter Stoff. Diese Auslegung des Dinges beruft sich auf den unmittelbaren Anblick, mit dem uns das Ding durch sein Aussehen (eidos) angeht. Mit der Synthesis aus Stoff und Form ist endlich der Dingbegriff gefunden, der auf die Naturdinge und auf die Gebrauchsdinge gleich gut passt« (KW 19).

Damit ist dann das Dinghafte am Werk, insbesondere auch am Kunstwerk, das Stoffliche, aus dem es besteht. Der Stoff ist daher Unterlage und das Feld für die künstlerische Formung, also dass, was wir früher im Falle bildender Kunst Bildträger genannt haben, und die Form wäre dann die Darstellung selber. »Die Unterscheidung von Stoff und Form ist … d a s Begriffsschema schlechthin für alle Kunsttheorie und Ästhetik« (KW 19). Doch auch diesem Begriff misstraut Heidegger: Weder sei die (bereits von Aristoteles getroffene) Unterscheidung von Stoff und Form hinreichend begründet, noch gehöre sie ursprünglich in den Bereich der Kunst und des Kunstwerkes. »Zudem greift der Geltungsbereich auch dieses Begriffspaares seit langem schon weit über das Gebiet der Ästhetik hinaus. Form und Inhalt sind die Allerweltsbegriffe, unter die sich alles und jedes bringen lässt. Wird gar noch die Form dem Rationalen zugeordnet und dem Irrationalen der Stoff, sieht man das Rationale als das Logische und das Irrationale als das Alogische, wird mit dem Begriffspaar Form-Stoff noch die Subjekt-Objekt-Beziehung gekoppelt, dann verfügt das Vorstellen über eine Begriffsmechanik, der nichts widerstehen kann« (KW 19 f).

Das spricht für eine Ausweitung und Entleerung der entsprechenden Begriffe, denen Heidegger misstraut, denn sie ermöglichen es, ohne 550 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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Ansehung der Phänomenalität der Dinge Aussagen über sie zu machen, die ihr Sein nicht treffen. Auch hier schiebt sich eine dualistisch verfasste Sprache über das eigentliche Sein der Dinge und verdeckt es. Die erste unzureichende Interpretation des Dings als Substanz war zu idealistisch. Ein (verborgen) metaphysisch verfasstes Substanz-Akzidens-Modell setzt statische Kategorien zur Erfassung von etwas wesenhaft doch Geschehendem. Das materialistische Dingverständnis begreift das Ding als Summe von Sinnesdaten und suggeriert eine falsche Unmittelbarkeit, da wir doch immer die Dinge als das, was sie sind, mit Begriffen der Sprache erkennen. Während die erste Auffassung zu theoretisch ist, klebt die zweite zu sehr an den Sinnesdaten. Die dritte Auffassung sieht Heidegger in Verbindung mit christlichen Schöpfungsvorstellungen entstanden, in denen materia und forma auf der Grundlage des biblischen Glaubens als das Ganze des Seienden und daher als geschaffen zu sehen seien, wie z. B. in der thomistischen Philosophie das ens creatum als Angefertigtes aus der Einheit von materia und forma gedacht wird (KW 22). Die Unterscheidung von Stoff und Form sieht Heidegger nur im Hinblick auf das sog. »Zeug« als berechtigt an, das er vom »Werk«, also auch vom Kunstwerk, unterscheidet. Während Heidegger den Ursprung des Begriffsgefüges Stoff-Form am hergestellten Zeug für berechtigt und legitim hält, ist s. E. die Übertragung auf alle Phänomenbereiche des Seienden nicht statthaft. Neben dem bereits erwähnten glaubensmäßigen Beweggrund für diese Ausweitung sieht er auch noch einen existentiellen Beweggrund: Beim Zeug ist der Mensch selber an der Herstellung eines von ihm geformten Stoffes beteiligt. »Denn er hat daran teil, wie ein Seiendes als das Gebrauchsding ins Sein gelangt. […] Das Zeug ist in seinem als Stoff-Form-Gefüge verstandenen Zeugsein jener Bereich des Seienden, in welchem der Mensch in gewissen Grenzen in einer Mitwisserschaft mit diesem Seienden existiert. […] Das ausgezeichnete existentielle Verhältnis zum Stoff-Form-Gefüge im Zusammenhang mit der erläuterten Zwischenstellung des Zeugs zwischen dem bloßen Ding und dem Kunstwerk bewegt uns dazu, im Stoff-Form-Gefüge bei entsprechender Ausweitung nicht nur die Seinsverfassung des Zeugs, sondern auch der bloßen Dinge und des Kunstwerks und schließlich alles Seienden zu sehen.« 30

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Friedrich Wilhelm v. Hermann, Heideggers Philosophie der Kunst, S. 94 f.

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Bereits in Sein und Zeit hatte Heidegger klar gemacht, dass die Seinsweise des »Zeugs« in seiner Zuhandenheit im »Dienlichen« zu sehen sei. Wie das Kunstwerk sei es hergestellt, in einem Prozess, der einem bestimmten Stoff eine zweckdienliche Form verpasst, z. B. einem Hammer, oder dem »Schuhzeug«. Im Gegensatz zur Aristotelischen Zweck-Mittel-Trennung – die die These von der Neutralität der Technik ermöglichte – liegt es Heidegger aber daran, das Verwiesensein und Eingebettetsein in einen ganzen »Zeugzusammenhang« zu betonen: der Hammer verweist auf das Woraus seines Bestehens, aber auch auf das Wozu seiner Bewandtnis, und beides hängt zusammen: Ein Hammer oder Krug aus Pudding wäre wenig zweckdienlich. Das Zeug ist eigens zu seinem Gebrauch hergestellt und angefertigt. Es ist zudem das Ding nie isoliert zu sehen, sondern eingebettet in komplexe Zusammenhänge, wie das Dach, das Fenster, der Bahnhof, das Telefon: hier ist eine komplexe Struktur nicht nur zur Herstellung und Verwendung, sondern auch zur Organisation von Arbeitsabläufen und Alltagsdienlichkeiten nötig, die eine Zeugganzheit schafft, ein Aufeinanderverwiesensein des komplex aufeinander bezogenen Zuhandenen. Hier kann man nach Heidegger von Stoff und Form bzw. von geformtem Stoff sprechen, aber er unterscheidet dieses Zeug vom Werk (und Kunstwerk), dem eine eigene Seinsregion zukomme, die durch einen Prozess des sich ins Werk-Setzen der Wahrheit gekennzeichnet ist. Das Wesen des Werkes liegt nämlich nicht darin, dass es etwas darstellt 31, sondern darin, dass es »eine Welt aufstellt« (KW 40). Die Dekonstruktion des Dingbegriffs zeigt, dass unser Begriffsgebrauch durch Sedimentierung und Gewohnheit den Zugang zu den Phänomenen gerade versperren kann, und das trifft auch für einen anderen Zug typischen abendländischen Denkens zu.

4.1.3 Kritik am Visualprimat Eng verknüpft mit der Kritik des Dingbegriffs ist Heideggers kritische Auseinandersetzung mit der Privilegierung des Sehens. Denn seit Platons Unterscheidung von sichtbaren Erscheinungen als Abbild unWetzel, Bildstreit und Wiedergabe – Heideggers Ursprungstheorie des Kunstwerks und ihre Dekonstruktion, in: Neuber/Veressov, a. a. O., S. 246.

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Heideggers Kritik am Systemdenken und seine Philosophie des Kunstwerks

sichtbarer ideeller Urbilder durchziehen optische Metaphern unsere Begriffe für Denken und Erkennen: Einsicht, Durchblick, Erklärung, Aufklärung (franz. »lumières«, engl. »enlightenment«), Scharfblick, Perspektive, Horizont, etc. Unser Gesichtssinn ist dafür verantwortlich, dass wir uns die Dinge als kontinuierlich und zusammenhängend vorstellen 32, dass wir sie »überblicken« und »erfassen« wollen: Zusammen mit dem Tastsinn sei das Sehen für Gegenstandskonstitution verantwortlich, und unser unterscheidendes gegenständliches Denken kann man als Angriff auf die Ganzheitlichkeit der Welt verstehen. 33 Es isoliert und trennt Dinge unzulässig aus einer Gesamtheit heraus (Heidegger: »Zeugganzheit«), ohne die das Isolierte nicht verständlich wäre. Das Sehen isoliert: »clare et distincte« (so Descartes’ Forderung) kann man sehen, je besser geschlossen die Gestalten sind und je schärfer sie voneinander getrennt sind.« 34 So ergibt sich mit dem Visualprimat eine Gegenstandsfixierung, die wohl – da sie den Sehsinn privilegiert – mit dem »westlichen« Denken stärker korreliert ist als mit dem anderer Kulturen 35. Denn der Fixierung auf Gegenstände durch das Sehen entspricht ein gegenständliches Verständnis der Wirklichkeit insgesamt. Dieses suggeriert eine nicht vorhandene Statik und verwehrt den Blick auf die Prozesshaftigkeit der Welt (wie sie am Beispiel des chinesischen Denkens deutlich wurde), es täuscht ein »Erfassen« eines nichtfassbaren Ganzen vor. 36 Denn »die Welt ist nie ein Gegenstand, der vor uns steht und angeschaut werden kann. Welt ist immer das Ungegenständliche.« 37

vgl Lévinas, Vom Sein zum Seienden, S. 57 f, 70 f, 104, 158. Norbert Bolz, Am Ende der Gutenberg-Galaxis, S. 137 f. 34 Straus, Vom Sinn der Sinne, S. 22. 35 Maletzke, Interkulturelle Kommunikation S. 58 macht z. B. darauf aufmerksam, dass Japaner weniger die Gegenstände focussieren, sondern den dazwischenliegenden Räumen mehr Bedeutung zumessen. Vgl. Magrittes Plastik Die weiße Rasse, die eine »westliche« Hierarchiserung der Sinne (oben Auge, darunter Ohr, Mund und unten Nase) zeigt. 36 vgl. im folgenden Münnix, Zum Ethos der Pluralität, S. 194 ff. Foucault nimmt diesen Affekt in der Kritik seines »Okularzentrismus« (in »Überwachen und Strafen«) auf. Wie sehr Heidegger zusammen mit Bergson damit das postmoderne Denken in Frankreich beeinflusst hat, s. bei Jay, Downcast Eyes. The Denigration of Vision in 20th Century French Thought. 37 Heidegger, Holzwege, S. 33. 32 33

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Differenzphilosophie als Vermittlung?

»Das Sehen ist der eigentlich distanzbildende Sinn: es bringt die Dinge auf Distanz und hält sie an ihrem Ort fest. Es ist der objektivierende Sinn schlechthin. Im Sehen gerinnt die Welt zu Objekten. Jeder Blick hat etwas vom Blick der Medusa: er lässt die Gegenstände erstarren, versteinert sie … (Sehen) ordnet, distanziert und beherrscht die Welt.« 38

Ein am Sehen orientiertes Denken verfälscht das Wirkliche notwendigerweise und beständig, da jede Vorstellung »das unausgesetzte Werden still stellt und mit dem so Festgestellten gegenüber dem fließenden Werden ein Nichtentsprechendes, d. h. Unrichtiges und somit Irriges als das angebliche Wirkliche aufstellt.« 39 Die Gefahr ist dabei, dass man diese Vergegenständlichung schon für das eigentliche Sein hält, sich aber doch noch im Bereich des dinghaft Seienden aufhält. 40 Doch das Sein lässt sich nicht wie die Phänomene der Dingwelt vorund herstellen. Entsprechend darf das Denken nicht rechnen, sondern muss sich vom Anderen des Seienden, also vom Sein her, bestimmen lassen. Die Logik findet zwar in der Betrachtung der Gegenständlichkeit des Seienden ihren Bezugspunkt, ist aber »nur eine Auslegung des Wesens des Denkens«. 41 Bolz bemerkt, dass man Malewitschs »Gegenstandslose Welt« parallel zu Heideggers Antrittsvorlesung »Was ist Metaphysik?« lesen kann, denn Malewitschs berühmtes weißes Quadrat ist als Befreiung, als »Abschütteln der festgeprägten Formen unserer abendländischen Kultur« eine schwebeähnliche Nichts-Erfahrung«. 42 Die Abbildung von Gegenständen wie z. B. im Genre der Malerei von Stillleben (franz. »nature morte«) hat aber nichts mit lebendiger Wirklichkeit zu tun: »Wirklichkeit gegenständlich wiedergeben, heißt sie töten – Das ist Malewitschs Lesart von ›nature morte‹.« 43 Mit Malewitsch, Heidegger und auch Benjamin wird daher deutlich, dass »neuzeitlicher Verstand gegenstandsbefangen« 44 ist: gerade

Welsch, Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens, in. Grenzgänge der Ästhetik, S. 243 f. 39 Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, S. 45 bezieht sich hier eindeutig auf Nietzsche. 40 Heidegger, Was ist Metaphysik?, Nachwort S. 39. 41 a. a. O., S. 41, 44, 43. 42 Bolz, Am Ende der Gutenberg-Galaxis, S. S. 141 (»blanc« heißt im Französischen nicht nur weiß, sondern auch blank, leer.) 43 a. a. O., S. 138 (In indianischen Sprachen sind »Fluss«, »Faust«, »Wind«, »Meer«, »Blitz« etc. Verben!) 44 Malewitsch, Suprematismus, S. 60. 38

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Heideggers Kritik am Systemdenken und seine Philosophie des Kunstwerks

die Vorstellungen, die der Mensch von der Natur habe, sperrten ihn von ihr ab. Da das Denken, das am Optischen hängt, so einem angemessenen Weltverständnis im Wege steht, »muss man von der noesis auf aisthesis umstellen« und den gordischen Knoten der Gegenständlichkeit lösen. 45 Der Gesichtssinn galt lange als der objektivste Sinn 46, weil er nicht wie die anderen Sinne an die Zeit gebunden schien. Er ist sachorientiert, während z. B. das Hören sozialorientiert und zeitverhaftet bleibt und Höreindrücke erinnern muss, seine »Verursachungen« bleiben nicht. Heidegger hatte »Stimmung« im Sinne eines Gestimmt-Seins verstanden, so wie ein Instrument sich einstimmt, um Klang hörbar werden zu lassen. Daher bedeutet Heideggers »Gestimmtsein« auch die Fähigkeit, das Seinsgeschehen zu vernehmen. Für Welsch kann uns – in Würdigung von Heideggers »Vernehmen des Seins« – das »rezeptiv-kommunikativ-symbiotische Weltverhältnis des Hörens« vielleicht bewahren vor der Katastrophe, auf die wir in der gegenstandsbezogenen technisierten Moderne unweigerlich zutreiben. 47

4.1.4 Die ontologische Differenz in der Kunst Nun wird auch verständlich, wieso Heideggers ontisch-ontologische Differenz nicht einfach eine Fortführung bzw. Wiederaufnahme der klassischen Unterscheidung von Erscheinung und Idee (Platon), ens und essentia (Thomas v. Aquin) oder Erscheinung und Ding an sich (Kant) sein kann. In der klassischen Metaphysik habe man, so Heidegger, immer nach einem höchsten Seienden gesucht, aus dem alles abzuleiten sei, doch dabei immer nur Seiendes mit Seiendem erklärt, immer Vorstellbares mit Vorstellbarem. Das Seiende in seiner konkreten Zuhandenheit sei vielgestaltig, individuell, umfasst für Heidegger aber neben Wirklichem auch noch mehr: »›Das Seiende‹ – dies Wort nennt nicht nur das Wirkliche und dieses gar nur als das Vorhandene und dieses nur noch als Gegenstand a. a. O. Vgl. auch Hans Jonas’ Abhandlung vom »Adel des Sehens« in: Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, S. 247–271, mit der er sich als ganz in abendländischer Tradition stehend erweist. 47 Welsch, Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens, in: Grenzgänge der Ästhetik, S. 231. 45 46

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Differenzphilosophie als Vermittlung?

der Erkenntnis, nicht nur das Wirkliche jeglicher Art, sondern zugleich auch das Mögliche, das Notwendige, das Zufällige, alles, was in irgendeiner Weise im Seyn steht, sogar das Nichtige und das Nichts.« 48 (wobei das Nichts nicht substanziell, sondern vom Ereignis her, als Nichtung, gedacht wird.) Ein Seiendes kann nie isoliert gedacht werden, sondern immer nur im »Zeugzusammenhang«, der eine Fülle von Verweisungen und Verflechtungen in eine komplexe Lebenswelt beinhaltet. Und diese Gesamtheit kann immer nur seiend »sein«, wenn und weil das Sein sich in ihm artikuliert. Dieses Sein aber muss ungegenständlich sein, sich der Vorstellung entziehen, obwohl es alles erst »anwesen« lässt und also ebenfalls vom Ereignis her gedacht werden muss. »›Das Seyn‹ meint nicht nur die Wirklichkeit des Wirklichen, auch nicht nur die Möglichkeit des Möglichen, überhaupt nicht nur das Sein vom jeweiligen Seienden her, sondern das Sein aus seiner ursprünglichen Wesung […], die Wesung nicht auf ›Anwesenheit‹ eingeschränkt.« 49 Dieses Sein ist verborgen, es entzieht sich und kann nicht zum »Gegenstand« des Denkens werden: »Treffen« kann man nur ein »Etwas« (Seiendes) – wie aber kann Sein getroffen, erkannt, begriffen oder verstanden werden? Hier scheinen sich Heideggers Gedanken mit denen von Lévinas in Totalität und Unendlichkeit zu berühren: das Unendliche kann man nicht erfassen, jegliche behauptete Ganzheit muss das unabgeschlossene Unendliche immer verfehlen. Die Frage nach dem Sein müsste – richtig gestellt – ihren Gegenstand in seiner Vorstellbarkeit und Gegenständlichkeit ver-nichten. 50 (was der Grund dafür ist, dass der späte Heidegger »Seyn« durchkreuzt.) »Im Versuch, das Sein selbst zu denken, muss von allen Hinsichten und sich absolut setzenden Perspektiven (Wissenschaft, Theologie, Metaphysik) abgesehen werden. Erst dann kann die Verborgenheit des Seins positiv, d. h. nicht mehr kritisch übergänglich, aus der Krise der Seinsvergessenheit heraus gedacht werden […] Es gilt, die Verborgenheit ohne Rücksicht auf die Un-Verborgenheit rein als sie selbst zu denken.« 51 Das ergibt eine »ontologische Not«:

48 49 50 51

Heidegger, GA S. 65. a. a. O., S. 74 f. Müller, Wahrheitsgeschehen und Kunst, S. 13. Müller, a. a. O., S. 14.

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Heideggers Kritik am Systemdenken und seine Philosophie des Kunstwerks

»Die Not ist, dass die Wahrheit des Seins gewahrt wird, was immer auch dem Menschen und allem Seienden zufallen möge … Es umfasst den Versuch, das »Ereignis« zu denken, das »die sich selbst ermittelnde und vermittelnde Mitte (ist), in die alle Wesung der Wahrheit des Seyns im voraus zurückgedacht werden muss.« 52

Dennoch ist die Unterscheidung von Sein und Seiendem eine bloß analytische, künstliche, denn beide treten immer zusammen auf, weshalb es auch zur »Seinsvergessenheit« kommen konnte. Das Sein ist dem Seienden also inhärent, aber es geht auch darüber hinaus und entzieht sich. Doch kann es »Lichtungen« des Seins geben, in denen das Sein aus seiner Verborgenheit ins Unverborgene tritt, und das kann in der Kunst geschehen. Hier wird »etwas vom Sein des Seienden geoffenbart […]. Es geht um eine Beschreibung der Welt als Phänomen, um sehen zu lassen, was sich an Seiendem innerhalb der Welt zeigt.« (SZ 63) 53 Dieses Sich-Zeigen passiert bei Zeichen nicht: Diese sind wie »Wegmarken, Flursteine, der Sturmball für die Schiffahrt, Signale, Fahnen, Trauerzeichen und dergleichen« (SZ 77) und verweisen auf Vorhandenes, wenngleich nicht Zuhandenes; sie sind »Zeigzeug«. »In dieser deiktischen Funktion bringt das Zeigzeug die Dinge nicht näher, sondern vertritt als Ding ein anderes Ding. Durch diese Vertretung wird das abwesende Ding nicht wiedergegeben, nicht in seinem Sein restituiert, es wird repräsentiert oder durch etwas anderes dargestellt.« 54

Vor allem kann das Kunstwerk in der Darstellung nicht zeichenhaft auf ein Urbild verweisen. Daher verwendet Heidegger im Kunstwerkaufsatz nicht zufällig das Bild des Tempels, der an keine Urbild-Abbild-Relation oder Nachahmungstheorie anknüpft, denn mit welchem Wesen welchen Dings soll denn ein griechischer Tempel übereinstimmen? Statt nachzuahmen, also etwas ontologisch Sekundäres zu produzieren, ist die Wahrheit im Tempel als etwas Sammelndes im Werke. Der Tempel eröffnet einen Ort »für Tod und Geburt, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall« (KW 37), also die Sphäre der menschlichen Welt, und ist daher ein Werk. Durch sein Herausragen in die natürliche Umwelt, die physis, schafft er zugleich 52 Heidegger, Beiträge zur Philosophie vom Ereignis, in GA, 65 sowie Müller, a. a. O., S. 10. 53 Wetzel, a. a. O., S. 245. 54 Wetzel, ebd.

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eine Offenheit, in der erst Pflanzen, Tiere und andere Naturerscheinungen ihren Ort haben. Er »lichtet« dieses »Worauf und Worin der Mensch sein Wohnen gründet« (KW 38): die Erde. Der Tempel gibt erst das Ganze frei, innerhalb dessen uns erst das Einzelne bedeutsam wird. Heidegger dachte also das Ganze nicht als Summe seiner Teile, sondern gerade andersherum: Wir kommen dem, was ist, eher nahe, wenn wir alles umgekehrt denken: Die Welt ist also nicht eine Anhäufung von Dingen (»Welt ist immer das Ungegenständliche«, KW 41), sie ist kein einzelner Gegenstand, sie ist nur als geschichtliches Geschehen erfahrbar (»Welt weltet«) und erst damit Teil des menschlichen Lebens. Als Beispiel für diesen Zeugzusammenhang wählt Heidegger ein Bild van Goghs, die »Bauernschuhe«, und beschreibt: »Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeugs starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeugs ist aufgestaut die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers, über dem ein rauer Wind steht. Auf dem Leder liegt das Feuchte und Glatte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend. In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes. Durch dieses Zeug zieht das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes. Zur Erde gehört dieses Zeug, und in der Welt der Bäuerin ist es behütet« (KW 27 f).

Die Welt der Bäuerin zeigt sich als eine sinnhafte Beziehung zwischen Acker, Wind und Boden, Korn, Feldweg und Zeug (Schuhen). Die sinnhafte Beziehung zeigt sich im Zweckbezug des Zeugs. Dieses Zeug dient in der Welt zu etwas. Der Sinnbezug des Zweckes setzt aber »die Verlässlichkeit des Zeugs voraus, also die erdhafte Grundlage des Zeugs. Sie erst hält die Welt zusammen. Nur im Zeug sind Welt und Erde da, nur hier zeigen sich Beziehung und deren Voraussetzung« (ebd.). Damit ist das Wesen des Zeugs gefunden – aber nicht durch eine Beschreibung des Zeugs, sondern des Bildes von van Gogh. Mit einem gemalten Paar Schuhe kann man nicht gehen, das Kunstwerk liegt auf einer anderen Ebene als das Zeug: Es eröffnet auf seine Weise einen neuen Bezug zur Welt. Das Werk »hat gesprochen. In der Nähe des Werkes sind wir jäh anderswo gewesen, als wir gewöhnlich zu sein pflegen«. (Das wird Foucault »Heterotopie« nennen.) »Es 558 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

Heideggers Kritik am Systemdenken und seine Philosophie des Kunstwerks

Bild 35: Vincent van Gogh, Schuhe (1886)

ist die Eröffnung dessen, was das Zeug, die Bauernschuhe, in Wahrheit ist. Dieses Seiende tritt in die Unverborgenheit des Seins hinaus. Im Werk ist ein Geschehen der Wahrheit am Werk.« (KW 30) 55. Dem Menschen ist also immer schon ein Verständnishorizont gegeben, innerhalb dessen uns Seiendes als sinnhaft begegnet. Dabei ist »die Welt« immer die einem konkreten Volk, z. B. den antiken Griechen, gegebene Welt.

Ironischerweise muss man anmerken, dass wir durch den Kunsthistoriker MeyerSchapiro, der van Gogh besucht hatte, wissen, dass es sich um van Goghs eigene Schuhe handelte (s. Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, S. 381 ff), Heideggers Interpretation, zu der er sich angeregt fühlte, also falsch ist. Doch als Beispiel für das, was er mit Zeugganzheit und Verweisungszusammenhang meint, ist sie trotzdem gut geeignet. Allerdings vermerkt Wetzel, a. a. O., S. 248 wollten sich beide, Heidegger imd MeyerShapiro, »in der Besessenheit ihres Zuschreibungswahns das Kunstwerk eigentlich aneignen.«

55

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Differenzphilosophie als Vermittlung?

Die Unterscheidung zwischen »Kunstwerk« (als Teil des Seienden) und »Kunst« (das, was sich im Wahrheitsgeschehen zeigt) kann also als ein Teilaspekt der ontisch-ontologischen Differenz gesehen werden. Und diese Differenz bewirkt auch die Ablösung des »Werks« von seiner Erscheinungsweise. In dieser Differenz ereignet sich Wahrheit »als Streit zwischen Lichtung und Verbergung […] im Sinne einer Offenheit des Seienden.« 56 »Kunst und Wahrheit emphatisch zusammenzudenken ist in der Philosophie nichts Neues. In je verschiedener Weise haben Kant, Schelling und Hegel das auch getan. Wahrheit als aletheia, als Lichtung vom Ereignis her denken und damit, wenn nicht die Metaphysik überwinden, so doch ihre Grenze angeben und sie hinter sich lassen, das hat nur Heidegger geschafft. Ich möchte aber behaupten, dass ihm das nie gelungen wäre, wenn nicht vor ihm Nietzsche alle überlieferten Wahrheitsauffassungen grundsätzlich zerstört hätte.« 57

Der ästhetischen Dekonstruktion folgte auch eine metaphysische. Für Bolle, der mit Nietzsche interpretiert, ist »mit der Abschaffung der wahren und damit auch der scheinbaren Welt […] der Höhepunkt der Menschheit erreicht und fängt die Lehre Zarathustras über den Übermenschen, über den künstlerischen Menschen par excellence an.« 58 Es war Nietzsches Idee, dass sich Wahrheit nur noch in der Kunst zeigt, und doch ist Nietzsche für Heidegger noch ein »metaphysischer Denker, weil er das Seiende vom Begriff des Werts her denkt und das Sein des Seienden als Wille zur Macht entwirft. In diesem Entwurf wird nach Heideggers Deutung die Metaphysik vollendet, weil alles Seiende sich in gegenseitiger Verfügbarkeit zueinander verhält.« 59 (Das hatte Derrida später als Präsenzmetaphysik kritisiert.) »Dinge und Menschen werden zu Material, und zwar zu einem ästhetischtechnischen Material für den Übermenschen, in dessen großem Stil die planetarische Meisterung des Seienden organisiert wird.« 60 Für Heidegger hingegen ist ja das Sein nicht etwas, das wie das Seiende in der Welt vorkommt. Wird nun durch die Betonung der ontologischen Differenz eigens »das Sein« zum Thema erhoben, so wird es gleichzeitig verfehlt, was sich auch als Problem auf sprach56 57 58 59 60

Wetzel, a. a. O., S. 247. Eric Bolle, Die Kunst der Differenz, S. 35. Bolle, a. a. O., S. 36. a. a. O., S. 37. ebda

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Heideggers Kritik am Systemdenken und seine Philosophie des Kunstwerks

licher Ebene zeigt: Durch die (hypostasierende) Substantivierung von »Sein« erscheint es, als sei das Sein ein innerweltliches Ding. Das Sein ist aber gerade nicht das Seiende 61, sondern die unthematische Voraussetzung für das Seiende, mit der Heidegger in »Sein und Zeit« den Verständnishorizont bezeichnet hatte, auf dessen Grundlage uns innerweltlich Seiendes begegnet. Jedes verstehende Verhältnis zum innerweltlich Seienden muss sich in einem solchen kontextuellen Horizont bewegen, innerhalb dessen das Seiende erst als solches offenbar wird. Die ontologische Differenz trennt Sein und Seiendes für die philosophische Thematisierung, doch in Wirklichkeit kommt das Sein niemals ohne ein Seiendes vor. Das Sein bleibt also stets das Sein eines Seienden, weshalb zwar eine Differenz zwischen Sein und Seiendem besteht, beide aber nie getrennt voneinander auftreten können 62. Daher zeigt sich das Sein zwar als das Nächste, weil es im Umgang mit der Welt schon vorausgehend und mitgängig ist, andererseits erweist es sich als das Fernste, da es als Unthematisches nie explizit bewusst wird. 63 Das Sein vor allem als Verständnishorizont zu beschreiben, verfehlt jedoch die ontologische Dimension des Begriffs. Denn Sein bezeichnet ja das, was ist. Das Sein ist also nicht eine Vorstellung, die wir von den Dingen haben und dann gleichsam über sie werfen, so dass sie uns innerhalb der Welt verständlich werden. Sein und Verstehen fallen vielmehr untrennbar zusammen. Das bedeutet, dass die Welt nicht aus singulären Objekten besteht, sondern eine sinnhafte Totalität ist, in der sich immer schon Bezüge unter den Dingen herausgebildet haben. Hinter diese Bezüge kann nicht zurückgegangen werden. Heidegger weist mit dieser Betonung des Verstehens von Sinn vor allem klassische Vorstellungen der Erkenntnistheorie ab. Diese habe stets gefragt, wie etwas in Raum und Zeit erkannt wird, wie sich also ein vollkommen bezugsloses Objekt einem Subjekt zeigen kann. Nun ist jedoch die Welt gerade durch diese sinnhaften Bezüge bestimmt, die sich nicht nachträglich aus den Dingen konstruieren lassen, sondern dem Verständnis jedes Dings vorausgehen müssen, damit wir es überhaupt erst als Ding (z. B. als Werkzeug) begreifen.

61 62 63

Heidegger, GA 9, Wegmarken, S. 334. Oliver Jahraus, Martin Heidegger, S. 98–102. a. a. O., S. 100.

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Differenzphilosophie als Vermittlung?

Auch das Unverstandene ist daher in das Sein eingebunden, gerade als das, was sich durch seine Sinn- und Bezugslosigkeit auszeichnet. Das Seiende hingegen ist nicht bloß Materie, denn diese wäre bloß eine in Ausdehnung und Einheit unbestimmte amorphe Masse. Die ontologische Differenz will sich ja bewusst solcher Vorab-Festlegungen enthalten. Gerade die methodische Trennung von Sein und Seiendem soll erst die Möglichkeit für eine reflektierte Bestimmung beider eröffnen. Vor allem darf das Sein des Seienden nicht als Objekt für ein Subjekt bestimmt werden. Das bringt auch sprachliche Probleme: Wird nämlich durch die Betonung der ontologischen Differenz eigens »das Sein« zum Thema erhoben, so wird es gleichzeitig verfehlt, denn das Sein ist ja nicht etwas, das in der Welt so wie das Seiende vorkommt. Durch die (hypostasierende) Substantivierung »Sein« erscheint es, als sei das Sein ein innerweltliches Ding. Um das zu vermeiden, sagt Heidegger z. B. nicht »das Sein ist« (es »west«), denn mit ist sagt man ja gerade etwas über ein Seiendes aus, das ist. Das Sein ist aber gerade nicht das Seiende 64. Das Sein als Verstehenshorizont und kontextueller Hintergrund ist also so vertraut, dass es sich der Aufmerksamkeit entzieht. Um es zu thematisieren, muss es zunächst in einen gewissen Abstand gebracht werden, und hierzu muss die ontologische Differenz betont werden. Gottfried Boehm hat seinen Begriff der »ikonischen Differenz« nicht philosophisch begründet, eine Begründung aber angekündigt. Er spricht von einem Oszillieren, einem Wechselspiel bzw. »Spannungsverhältnis zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, von thematisch Identifizierbarem und unthematischem Horizont.« 65 Obwohl er glaubt, dass »man bei der Differenzphilosophie nichts holen« könne 66, ergäbe sich hier doch im Anschluss an Heideggers ontisch-ontologische Differenz die Möglichkeit einer philosophischen Begründung und Präzisierung der »ikonischen Differenz« in seinem Sinn. 67 Diese Schwierigkeiten können in Sprachen ohne Kopula gar nicht entstehen. Benveniste vermutet, dass nur der griechische Wortgebrauch von »on« und die Hypostasierungen des »Seins« solche problematischen Ontologien haben hervorbringen können. Vgl. Derrida, Das Supplement der Kopula. Die Philosophie vor der Linguistik, in: Derrida, Randgänge der Philosophie, S. 195–228. 65 Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen, S. 210 f. 66 so anlässlich eines Vortrags an der Universität Wien im Herbst 2016. 67 vgl. andere Zitate Boehms zur »ikonischen Differenz« unter www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Ikonische_Differenz. 64

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Heideggers Kritik am Systemdenken und seine Philosophie des Kunstwerks

4.1.5 Die Überwindung der Ästhetik: Kunst als Wahrheitsgeschehen Für die klassische Ästhetik ergeben sich aus dem dargestellten Differenzdenken Folgen: Im Kunstwerkaufsatz hatte Heidegger notiert: »Unsere Fragestellung nach dem Werk ist erschüttert … Allein, dies war keine Fragestellung, die erst wir entwickelten. Es ist die Fragestellung der Ästhetik. Die Art, wie sie das Kunstwerk im Voraus betrachtet, steht unter der überlieferten Auslegung alles Seienden. Doch die Erschütterung dieser gewohnten Fragestellung ist nicht das Wesentliche« (KW 24). Und in den zwischen 1936 und 1938 entstandenen »Beiträgen zur Philosophie« rekurriert Heidegger auf den Kunstwerktraktat mit den folgenden Worten: »Die Frage nach dem Ursprung des Kunstwerks will nicht auf eine zeitlos gültige Feststellung des Wesens des Kunstwerks hinaus, die zugleich als Leitfaden zur historisch rückblickenden Erklärung der Geschichte der Kunst dienen könnte. Die Frage steht im innersten Zusammenhang mit der Aufgabe der Überwindung der Ästhetik, und das heißt zugleich mit einer bestimmten Auffassung des Seienden als des gegenständlich Vorstellbaren. Die Überwindung der Ästhetik ergibt sich als notwendig aus der geschichtlichen Auseinandersetzung mit der Metaphysik als solcher.« 68

Wie wenig Heidegger dem Wesen des Werkes Zeitlosigkeit oder Überzeitlichkeit unterstellt, so bestimmt denkt er es geschichtlich. Eine ›Überwindung‹ impliziert die bestimmte Negation von etwas, das vorgängig gegeben sein, Bestand haben muss. Dies ist – mit all ihrer möglichen Mächtigkeit – die Geschichte der abendländischen Metaphysik. Die Überwindung der Ästhetik ist daher ein Teilprojekt der im Heideggerschen Philosophieren seit 1930 immer virulenter werdenden, immer dringlicher geforderten ›Überwindung der Metaphysik‹, die als Forderung im Zusammenhang mit seinen buddhistisch-daoistischen Lektüren zu sehen ist und den Weg zu globalerem Denken eröffnen soll. Ein Kunstwerk kann also Wahrheit eröffnen, besser: die Wahrheit zeigen, und hier ist anzumerken, dass es nicht um Richtigkeit bzw. Angemessenheit geht. Es geht um aletheia, um Unverborgenheit, die sich im Streit von Verbergung und Lichtung unverhofft er-

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Heidegger, Beiträge zur Philosophie, S. 503 f.

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Differenzphilosophie als Vermittlung?

eignishaft zeigt, als Entzug des Verdeckenden, denn dem Menschen in seiner Seinsvergessenheit ist die Wahrheit des Seins oft verborgen. Wenn es hingegen wie bei der Abbild- oder Nachahmungstheorie nur um die Richtigkeit der Darstellung geht, so ist eine ontische Reduktion am Werk: Die Richtigkeit kann als Reduktion auf das Ontische nie ein ausdrückliches Verhältnis zum Sein herstellen, dh. sie kann sich nie ausdrücklich begründen in den Möglichkeiten des Seins und ihren eigenen Sinn bestimmen. 69 Seit in einem ersten Anfang Platon die Wesenssetzung des Seienden als idea vollzogen hatte, wurde nicht mehr oder wenig noch nach dem Sinn und vielleicht auch dem Unbedachten dieser Weichenstellung gefragt. Man hatte darüber entschieden, was als Wirklichkeit Gültigkeit erlangen konnte. »Die Möglichkeit einer erneuten Entscheidung über Wirklichkeit war seitdem nicht mehr gegeben, weil der ursprüngliche Entscheidungsraum verlassen wurde, von dem alles abhängt: Die Wahrheit als Unverborgenheit des Seins« 70. »Wahrheit wurde zur Richtigkeit, die über ihre eigene Richtung nicht mehr entscheiden konnte. … Will nun Heidegger den Sinnhorizont der Richtigkeit in Frage stellen, weil die Bodenlosigkeit und Nichtursprünglichkeit des Denkens innerhalb dieses Horizonts kein Seinsverständnis mehr hervorbringen kann, sondern alles nur ontisch reduziert und deshalb die Seinsmöglichkeiten nivelliert, so muss er in diesen Bereich der ›Unverborgenheit des Seienden‹ gelangen, und dafür ist gerade der griechische Tempel ein gutes Beispiel. Die Frage nach dem Ursprung des Kunstwerks bewegt sich also, so Heidegger selbst, wissentlich und doch unausgesprochen auf dem Weg der Frage nach dem Wesen des Seins.« 71

Und im Gegensatz zur Phänomenologie Husserls, die ihm (z. B. mit dem intentionalen Vorstellungs-Bild der Darstellung) zu sehr am Optischen und am dualistischen Denken (»Bildobjekt« und »Bildsujet«) orientiert ist, will Heidegger die »temporale Qualität« und »Kinetik« 72, die das Werk freisetzt, ins Bewusstsein heben, und geht damit auf das vorsokratische »panta rhe« Heraklits zurück. In der auch vom postmodernen Denken vollzogenen Loslösung vom sog. »Visualprimat« wird für die Phänomenologie bei Heidegger und danach ein Müller, Wahrheitsgeschehen und Kunst, S. 54. ebd. 71 ebd., S. 55. Die ontologisch gedachte Wahrheit wird also auf die Richtigkeit von Aussagen über die Welt reduziert. 72 Gottfried Boehm, Im Horizont der Zeit. Heideggers Werkbegriff und die Kunst der Moderne, in: Biemel / v. Hermann, (Hg.), Kunst und Technik, S. 259 und 266. 69 70

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Heideggers Kritik am Systemdenken und seine Philosophie des Kunstwerks

»Vernehmen des Seins« 73, ein Aufeinanderhören, wichtig. »Dass die Reduktion der Kunstwerkerfahrung auf den Sehsinn andere Wege der Bild-Erfahrung verstellt, ist nicht unwahrscheinlich. Die alles in allem naturwissenschaftlich verfahrenden Kunstwissenschaften haben die Kontingenz der leibhaft-denkerischen Kunsterfahrung – auch und gerade der musikalischen Kunstwerke – nie zureichend methodisch erwogen.« 74 Das Kunstwerk nun – im Unterschied zum Zeug – wird nicht hergestellt, sondern geschaffen, und der Unterschied besteht für Heidegger darin, dass das Handwerkliche und Zweckdienliche als Leitfaden für die Wesensbestimmung des Schaffens zurückgewiesen wird. Das künstlerische Schaffen ist ein Hervorbringen und anders als das (auch fabrikmäßige) Herstellen von Gebrauchsgegenständen kein »Anfertigen«. 75 Hatte die griechische »techne« (später »ars« im Unterschied zur lat. scientia) noch mit dem kunstvollen Verfertigen von Gegenständen, die wir heute unterschiedlichen Seinsbereichen zuordnen, Kunst und Technik ineins gedacht, so denkt Heidegger hier aus einer anderen Perspektive. Seiner Deutung des griechischen Seinsverständnisses gemäß bedeutet techne primär weder Handwerk noch Kunst und überhaupt keine praktische Leistung, sondern eine »Weise des Wissens« (KW 47). Wissen aber heißt: Geschehen haben im weitesten Sinne, nicht nur im Sinne des sinnlichen Sehens. Zwar haben das Kunstwerk und das Zeug die Gemeinsamkeit, dass sie im Schaffen und Anfertigen etwas entbergend hervorbringen und »ins Sein stellen«, doch muss das Zeug nicht wie das Kunstwerk verstanden werden. »Das schaffende Hervorbringen des Kunstwerks ist im Unterschied zum handwerklichen oder fabrikmäßigen Hervorbringen bestimmt als ein Entwerfendes und als solches empfangendes Bringen der Offenheit in das hervorzubringende Kunstwerk« 76 (v. Hermann merkt an, dass in Heideggers Handexemplar dazu der Begriff »Lichtung« vermerkt wurde.) Im Schaffen und Geschaffenwerden des Kunstwerks geschieht also eine »Lichtung des Seins«, in vgl Wolfgang Welsch, Die Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst, in: ders., Ästhetisches Denken, S. 82, sowie ders., Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens, in: ders., Grenzgänge der Ästhetik, S. 241 ff. 74 Peter Trawny, Über die ontologische Differenz in der Kunst, Heidegger Studies 10, S. 207–212, hier S. 212. (Ich denke hier z. B. an Klangbilder wie in Mahlers »Symphonie von der neuen Welt« oder Debussys »La Mer«.) 75 v. Hermann, a. a. O., S. 271 f. 76 v. Hermann, a. a. O. 73

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Differenzphilosophie als Vermittlung?

der sich Verborgenes enthüllt. 77 Im Bild also, das vom Prozess des Schaffens aus gesehen wird, können so Interpretationshorizonte für das Seiende freigegeben werden. Und mit diesem rationalismuskritischen Denken hat Heidegger Foucault und Derrida beeinflusst, deren Konzepte gerade auch im Hinblick auf bildende Kunst im Folgenden dargestellt werden sollen.

4.2. Gegen das Affirmative von Repräsentationen: Michel Foucault und die Ordnungen des Sichtbaren 4.2.1 Macht und Widerstand Foucault hat zunächst andere Interessen: Er will Strukturen der Macht untersuchen, wobei ihn nicht die Makrophysik der Macht interessiert, nicht die durch einen Souverän ausgeübte offensichtliche Macht »von oben nach unten«, Macht als Mittel zum Zweck der Unterwerfung oder Sicherung von Herrschaft. Ihn interessiert eine Analyse ihrer Mikrophysik, von unten, das hier wirksame System von Ausschließungen und Disziplinierungen, denn nur so kann die Macht von oben überhaupt Fuß fassen, weil sie in der Gesellschaft auf Strukturen bauen kann, die Zwang, Ausgrenzung und Disziplinierung alltäglich neu implementieren. Ausgrenzung aber braucht Normierungen, gemäß denen ausgegrenzt wird, und Sanktionierungen des »Unnormalen«. Disziplinierungen gibt es auch im Bereich einer Vernunft, mit der sich all dieses begründet. Schon Foucaults erstes Buch zur Geschichte des Wahnsinns, das zugleich eine Rationalismuskritik ist, macht deutlich, wie im Namen einer Rationalität, die sich selbst zum Maßstab erhebt, Nichtangepasstes und Abweichendes als anormal ausgesondert (oft für primitiver erklärt) und teilweise sogar kaserniert bzw. weggesperrt wird. (Die Überlegungen sind natürlich auch relevant für die Ausgrenzung des Fremdem.) Da Heidegger die Orientierung am Sehen für eine Gegenstandsorientierung in der Substanzmetaphysik verantwortlich macht (und eher »Hören«, »Vernehmen« will), interessiert Foucault auch besonders die Geschichte des Sehens, das er mit Herrschafts- und Kontrollbedürfnissen verknüpft. 77

a. a. O., S. 277.

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Michel Foucault und die Ordnungen des Sichtbaren

Paradigmatisch ist hier das »Panoptikum« zu nennen, versinnbildlicht durch einen Wachturm, z. B. in Gefängnissen, der totale Rundumüberwachung (räumlich und zeitlich) ermöglichen soll und heute als Sinnbild von Kontrollgesellschaften gelten kann 78. Seine Untersuchung der Geschichte von »Strafen und Überwachen« (er hatte auch eine Zeit als Gefändnispsychologe gearbeitet) macht deutlich, dass es zunächst und vor allem die Körper sind, die da gewalttätig durch Zeit- und Raumzwänge malträtiert werden. Es geht also im Sinne vorgegebener Normierungen immer um Disziplinierungstechniken, z. B. auch in der Erziehung gemäß bestimmter Geschlechtsrollenstereotype. (Die Frage der leiblichen Normierung, der »Zurichtung« von Körpern« durch Gesellschaft und Medien wird später von Judith Butler aufgegriffen werden.) Immer werden Menschen normiert, zugerichtet und einem Funktionieren im Sinne des vorgegebenen angeblich Normalen zugebildet 79. Die dahinter stehenden Strukturen der Macht und Disziplinierung sind zu analysieren, um Bruchstellen zu entdecken, die Widerstand erlauben und »dissonantes und dissidentes Denken« 80 ermöglichen: Gerade die Analyse von Machtstrukturen erlaubt es, diese zu durchschauen, sich zu distanzieren und diese zu überschreiten. Eine Bewegung der »Transgression« ist möglich und auch nötig. Denn nur hier, an diesen Bruchstellen von Innen und Außen, ist für Foucault Subjektwerdung 81 möglich. Denn Subjekte sind sich nicht als solche a priori immer schon gegeben, sie müssen sich immer neu selbst konstituieren.

4.2.2 Rationalismuskritik durch historisierende Genealogie Auch ein mit Machtansprüchen verknüpfter Wille zu universalen Wahrheiten, der Wissensmacht ausüben will, muss dekonstruiert werden, denn vorgeblich universale Wahrheiten neigen dazu, dogmavgl Deleuze, Postscript über Kontrollgesellschaften, in: ders., Unterhandlungen 73–90, S. 258: »Die Individuen sind dividuell geworden, und Massen, Stichproben, Daten, Märkte oder Banken nicht länger Subjekte, sondern Bestandteile von Kontrollgesellschaften.« 79 Vgl Karlis Racevskis, Michael Foucault and the Subversion of Intellect, S. 100. 80 James W. Bernauer, Foucaults Force of Flight, S. 90 f und 121 f. 81 zu Foucaults Kritik am Subjektbegriff siehe ausführlicher Münnix, Zum Ethos der Pluralität, S. 69–75. 78

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tische Wirkungen zu entfalten. Das gilt auch für den westlichen substanziellen Subjektbegriff, der nicht a priori aufgrund einer anthropologischen Konfiguration gilt 82, sondern sich als Ergebnis westlicher Diskurse darstellt 83. Menschen sind immer sowohl Subjekte als auch Objekte solcher Diskurse, sie sind immer gleichzeitig aktiv handelnd und Objekt von Handlungen und erst durch ihre Diskurs- und Kontextabhängigkeit entstehen Realität und Bedeutung. 84 Es kommt also auf die Geschichte unserer – kontingenten – Diskurse an, die uns (auch kulturell) zu dem gemacht haben, was wir sind. Damit übernimmt Foucault Nietzsches historisierende Betrachtung von Prozessen, deren Genesis es nachzuspüren gilt, um sie besser zu verstehen. (Bei Heidegger bleibt »Geschichte« / »Seinsgeschichte« seltsam abstrakt.) Diese Methode der Genealogie ist also ein Weg, universale Wahrheitsansprüche zu relativieren und die Herrschaft des Dogmatischen zu brechen: Auch die spezifische Natur der – westlichen – Vernunft ist in ihrer Besonderheit gewachsen und geworden, weshalb Foucault eine »Archäologie des Wissens« zu seinem Programm macht. 85 Der – postmoderne – Affekt gegen das Universale bedeutet auch für Foucault eine Hinwendung zum Partikulären und Singulären, und verbietet ihm konsequent, Wegweisungen und Empfehlungen, seien sie politisch oder lebenspraktisch, abzugeben. Und es ergibt sich auch ein Ressentiment gegen jede Art von Totalitarismus: Kapitalismus und Kommunismus weisen ihm da gleiche (Macht)strukturen auf 86.

4.2.3 Foucaults Kritik des binären Zeichenbegriffs Auch die Repräsentationslogik und in diesem Zusammenhang die zweidimensionale Zeichenlehre Saussures gehört zu den Theorien, deren Genesis Foucault nachspürt. Auch Zeichen allgemein repräsenFoucault, Wahrheit und Subjektivität, Howison Lecture an der University of California Berkeley 20. 10. 1980 83 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 30 fragt sich z. B., »ob sich nicht gewissse Themen der Philosophie als Antworten auf diese Einschränkungs- und Ausschließungsspiele gebildet haben und sie vielleicht auch verstärken.« 84 Racevskis, a. a. O., S25 f. 85 daher auch in der Spätphilosophie eine Beschäftigung mit den Selbsttechniken der Stoa. Vgl. Foucault, Die Sorge um sich, S. 66, 71–81. 86 Foucault, Dispositive der Macht, S. 228 und Racevskis, a. a. O., S. 122. 82

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tieren, und Foucault zeichnet in seiner archäologisierenden Betrachtung die Entwicklung des Zeichenbegriffs nach, der, wie er zeigt, z. B. im Barock und in früheren Zeiten, multidimensionaler war. Foucault macht für diese Verengung die Logik von Port Royal verantwortlich: »Das Zeichen schließt zwei Vorstellungen (idées) ein: die eine von dem Ding, das repräsentiert, die andere von dem repräsentierten Ding; seine Natur besteht darin, die zweite durch die erste hervorzurufen« 87. Das sei eine dualistische Theorie, die sich unzweideutig der komplexeren Organisation der Renaissance gegenüberstelle. Die Zeichentheorie implizierte damals, wie er ausführt, »drei völlig getrennte Elemente: das, was markiert wurde, das was markierend war, und das, was gestattete, das eine im anderen zu sehen. Das letzte Element war die Ähnlichkeit« (OD 92). Drei Variablen also charakterisieren das Zeichen und weisen auf Ursprung, Typ und die Gewissheit der Verbindung. (ebd.) Gerade im 16 Jh. hätten Ähnlichkeiten über Raum und Zeit triumphiert, denn es »war nämlich Aufgabe des Zeichens, zusammenzuführen und zu vereinigen.« Foucault spricht von einer »kreisenden Welt konvergierender Zeichen« (OD 94), in einem »globalen System von Entsprechungen und Ähnlichkeitsbindungen: Das Spiel der Ähnlichkeiten war einst unbegrenzt« (OD 88). Das Zeichen bildete sich »durch einen Akt der Erkenntnis: Es existiert erst, indem die Möglichkeit einer substitutiven Beziehung zwischen zwei bereits bekannten Elementen erkannt wird« (OD 93). »Das empirische Gebiet, in dem der Mensch des 16. Jahrhunderts noch die Verwandtschaften, die Ähnlichkeiten und Affinitäten sich verknüpfen sah«, wird neu geordnet, in dem seit dem Cartesischen Rationalismus »die analogischen Hierarchien durch Analyse substituiert« werden: »Die Aktivität des Geistes besteht nicht mehr darin, auf die Suche all dessen zu gehen, was in ihnen gewissermaßen eine Verwandtschaft, eine Anziehungskraft oder eine insgeheim geteilte Natur 88 enthüllen kann, sondern vielmehr darin, zu unterscheiden« (OD 87 f). (So legt auch die Erfahrung von Interkulturalität seither oft den Schwerpunkt auf Identität und Differenz und nicht auf Ähnlichkeit.) Descartes nämlich schließt Ähnlichkeit als fundamentale ErfahFoucault, Die Ordnung der Dinge (im folgenden mit OD und Seitenzahl abgekürzt), S. 95 und 98. 88 die allenfalls noch in der Poesie thematisiert werden kann, so Eichendorf: »Es schläft ein Lied in allen Dingen …« 87

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rung und erste Form des Wissens aus und denunziert in ihr eine konfuse Mischung, die man in Termini der Identität, des Unterschiedes, des Maßes und der Ordnung analysieren muss. Er schließt dabei nicht den Akt des Vergleichens aus dem rationalen Denken aus oder versucht, ihn zu begrenzen, sondern er universalisiert ihn.« 89 Foucault hält es für einen »wesentlichen Bruch in der abendländischen Welt«, dass es sich nun nicht mehr um die Frage der Ähnlichkeiten, sondern um die der Identitäten und Unterschiede handelt« (OD 82), was er als »grausame Vernunft« bezeichnet (OD 81). Denn die Analyse nehme sehr schnell den Wert einer universalen Methode an, da die mathesis zu einer allgemeinen Wissenschaft der Ordnung werde: »Das Ordnen mit Hilfe der Zeichen ist die Konstitution alles empirischen Wissens als Wissensgebiete der Identität und des Unterschiedes.« Die allgemeine Zeichentheorie werde zur Theorie der Einteilungen und Klassifizierungen (OD 90 f). Nunmehr kann die Logik von Port Royal sagen, dass »das Zeichen … nicht mehr die Welt sich nahe zu bringen und ihren eigenen Formen inhärent werden zu lassen hat, sondern die Aufgabe hat, sie aufzuteilen« (OD 95). Nun ist die Bildung der Zeichen von der Analyse nicht trennbar, denn das Zeichen muss unterscheiden und von dem globalen Eindruck losgelöst werden, mit dem es in konfuser Weise verbunden ist. (ebd.) So wird auch die Erfindung arbiträrer Zeichen möglich, die »durch ihre Funktion gemessen« (OD 96) werden: »Ein willkürliches Zeichensystem muss die Analyse der Dinge in ihren einfachsten Elementen gestatten.« (ebd.) Und damit war der mathematischen Formelsprache der Weg geebnet. Es ist für Foucault typisch, dass der Logik von Port Royal als erstes Beispiel eines Zeichens »weder das Wort oder den Schrei oder das Symbol ist, sondern die räumliche und graphische Repräsentation – die Zeichnung: Karte oder Bild« (OD 99). Denn das Bild habe tatsächlich nur das zum Inhalt, was es repräsentiere. Im »klassischen Zeitalter«, dem des Cartesischen Rationalismus und der Logik von Port Royal, träfen sich Semiologie und Hermeneutik nicht mehr »im 3. Element, der Ähnlichkeit, sondern verbinden sich in jener der Repräsentation eigenen Kraft, sich selbst zu repräa. a. O., S. 85. Foucault zitiert zum Beleg die Cartesischen »Regulae«, § 45 und 59: »Obgleich die Natur voller Ungleichheiten ist, legt der Geist den Dingen doch viel Gleichlaufendes, Übereinstimmendes bei, das es nicht gibt.« Es handelt sich also um Fiktionen des Geistes, die Bacon schon als »simulacra«, Scheinbilder, bezeichnet hatte.

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sentieren. Es wird also keine Zeichentheorie geben, die von der Analyse der Bedeutung zu unterscheiden wäre. … Das Tableau der Zeichen wird das Bild der Dinge sein« (OD 101). Vorher hätte das Zeichen gleichzeitig Indikation und Erscheinen sowie Beziehung zu einem Gegenstand und Manifestation ihrer selbst beinhaltet. Doch nun sind sie dem gesamten Denken bloß noch ko-extensiv, statt wie vorher Mittel der Erkenntnis und Schlüssel zum Wissen zu sein. Es wird daher eine Ordnung der Vernunft etabliert, und sie wird der Unordnung der Natur, »die sich ihrer eigenen Geschichte, ihren Katastrophen oder vielleicht auch einfach ihrer verflochtenen Pluralität verdankt« (OD 166), gegenübergestellt. »Die klassische Fülle des Seins gelangte zum Schweigen« (OD 259), bedauert Foucault, und erst aus späterer Perspektive erschien »das unbegrenzte Feld der Repräsentation … als eine Metaphysik«. (OD 299) Ihre Kritik muss eine andere Form von Metaphysik ermöglichen, die sich jenseits der scheinbaren Objektivität der Dinge (OD 341) (was an Nietzsche und Husserl denken lässt) auf die Suche nach dem macht, was unserem Leben zugrunde liegt. Jenseits des Objektes findet Foucault jene »Quasi-Transzendentalien« Leben, Arbeit und Sprache (OD 307) (als Bedingung der Möglichkeit unserer Existenz). »Die Philosophie des Lebens denunziert die Metaphysik als Schleier der Illusion, die der Arbeit denunziert sie als entfremdetes Denken und Ideologie, die der Sprache als kulturelle Episode« (OD 383). Da alle drei Bereiche, Leben, Arbeit und Sprache, »nicht durch das einfache Spiel der Repräsentation gesichert werden« konnten, verlor der Raum der Analyse (und des analytischen Denkens) seine Autonomie: »Die Ordnung, die sich dem Blick und dem permanenten Raster der Unterscheidungen bietet, ist nur noch ein oberflächliches Glitzern über einer Tiefe«. Es wird »nicht mehr von Identitäten, unterscheidenden Merkmalen, zusammenhängenden Tafeln mit all ihren Wegen und möglichen Bahnen« die Rede sein, sondern von großen verborgenen Kräften und »vom Ursprung, von der Kausalität und von der Geschichte« (OD 308 f). Dabei ergibt sich für Foucault mit der Erfahrung des Lebens eine »wilde Ontologie, die das Sein und das Nicht-Sein als von allen Wesen nicht trennbar bezeichnen will« (OD 340). »Man sieht, wie die phänomenologische Aufgabe, die Husserl sich viel später stellen wird, in der größten Tiefe ihrer Möglichkeiten und Unmöglichkeiten mit dem Schicksal der abendländischen Phi571 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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losophie verbunden ist, so wie sie seit dem 19. Jahrhundert errichtet wird.« Denn die Philosophie hatte sich in eine Lebensferne begeben, die die Phänomenologie als eine Art »Gegenphilosophie« (OD 305) auf den Plan ruft. Das große Ereignis der neueren Philosophie ist für Foucault dann auch das »Auftauchen des Menschen«, der erstmalig seit Merleau-Ponty in seiner konkreten Leiblichkeit 90 gesehen wird. Bei einer neuen Art von Metaphysik kann es sich also nur um »von den menschlichen Endlichkeiten selbst bemessenen Metaphysiken handeln: Um die Metaphysik eines zum Menschen selbst konvergierenden Lebens« 91, nicht um dem Leben entgegengesetzte Systeme mit universalem Herrschaftsanspruch.

4.2.4 Der Bruch mit dem Paradigma der Repräsentation Auch Bilder können Herrschaft ausüben, und es sind nicht nur die Porträts oder Fotografien von Herrschern, z. B. in Amtsstuben, die an die Strukturen der Macht nicht nur erinnern, sondern sie auch allgegenwärtig halten. Deshalb interessiert sich Foucault für Formen der Kunst, die die Macht der Repräsentation des Abgebildeten im Bild (z. B. auch in einer Skulptur) brechen. Die findet er aber keineswegs nur in der modernen Kunst, sondern bereits im 17. Jahrhundert: »Ähnlichkeit war das Paradigma der Darstellung, doch am Anfang des 17. Jahrhunderts […] hört das Denken auf, sich im Element der Ähnlichkeit zu bewegen. Die Ähnlichkeit ist nicht die Form des Wissens, sondern eher die Gelegenheit des Irrtums, die Gefahr, der man sich aussetzt, wenn man den schlecht beleuchteten Ort der Konfusion nicht prüft […]. Das Zeitalter des Ähnlichen ist im Begriff, sich abzuschließen. Hinter sich lässt es nur Spiele, die um jene Verwandtschaft der Ähnlichkeit und Illusion wachsen. […] Es ist die privilegierte Zeit des trompe-l’oeil, der komischen Illusion […]. Künftig werden die schönen, strengen und zwingenden Figuren der Ähnlichkeit vergessen werden. Man wird die sie markierenden Zeichen künftig für Träumereien und Zauber eines Wissens halten, das noch nicht vernünftig geworden war« (OD 83 f).

Merleau-Ponty hatte in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung diesen Aspekt herausgearbeitet, den Heidegger in seiner »Jemeinigkeit« konkreter Existenz gar nicht, aber Husserl zumindest in einer folgenreichen Bemerkung (in Hua XXXIII) erwähnt hatte. 91 a. a. O., S. 383. 90

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Bereits bei Bacon finde sich eine Kritik der Ähnlichkeit: eidola (»Bildchen«), Idole, seien Simulacren, Götzenbilder, und ließen uns glauben, dass die Dinge dem ähneln, was wir gelernt haben, den Theorien entsprechen, die wir uns selber gebildet hätten. (ebd.) (Im »Novum Organon« kann man nachlesen, dass Bacon zwischen »Götzenbildern« der Höhle, des Theaters, des Stammes und des Marktes unterscheidet, womit Vorurteile und Vorannahmen persönlicher oder kultureller Art gemeint sind, sowie solche des Wissenschaftsbetriebs und des alltäglichen wirtschaftlichen Umgangs. Es ist bemerkenswert, dass es sich hierbei schon um mentale Bilder handelt.) »Allein die Klugheit des Geistes kann sie auflösen, wenn er auf seine Hast und natürliche Leichtigkeit verzichtet, um ›durchdringend‹ zu werden und schließlich die der Natur eigenen Unterschiede wahrzunehmen« (OD 84). So muss die Beziehung zwischen Bild und Abgebildetem, aber auch die Rolle des Abbildenden reflektiert werden, und solche Arbeit kann auch innerhalb der bildhaften Darstellung geleistet werden. Daher analysiert Foucault das für ihn in dieser Hinsicht bedeutsame, 1656 entstandene Bild des Spaniers Velasquez und nimmt es zum Leitfaden der Untersuchung der »Ordnung der Dinge«, denn es spielt mit verschiedenen Arten der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. (Das Bild der Welt der Dinge zuzurechnen und nicht der Welt der Zeichen, bringt in in der oben ausgeführten Kontroverse auf die Seite der Phänomenologen.) Doch »Essenz und Existenz, Imaginäres und Wirkliches, Sichtbares und Unsichtbares – die Malerei bringt alle unsere Kategorien durcheinander, indem sie ihre Traumwelt leiblicher Wesen, wirksamer Ähnlichkeiten und stummer Bedeutungen entfaltet. 92 »Wo ist das Bild?«, soll Theophil Gautier angesichts dieses Bildes gefragt haben, und in der Tat gibt es neben dem für den Betrachter sichtbaren Bild noch Weiteres, das unsichtbar bleibt, aber gleichwohl zum Bildraum gehört. Was z. B. sieht der Maler? Uns? Das Urbild dessen, was sich hinten in der Bildmitte im Spiegel spiegelt, also vermutlich König und Königin? Sind sie das Sujet, das er abbilden soll, oder die Szene mit der Infantin im Vordergrund? Das Dargestellte entzieht sich, auch die Darstellung ist im Bildraum nicht präsent. Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 288, sowie ders., Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 275.

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Was ist auf der Leinwand des Malers zu sehen, vielleicht von dem Besucher im hellen Türrahmen aus? (Foucault spricht andernorts von »Heterotopie«, »anderen Räumen«: Zum einen ist ein bestimmter Bildtypus tatsächlich ein Blick in einen anderen Raum, in den man wie durch ein Fenster schaut, zum anderen gehören aber die unsichtbaren anderen Räume konstitutiv mit zum Bild hinzu 93 und werden hier durch Andeutung unterschiedlicher Perspektiven angezeigt.)

Bild 36: Diego Velázquez, Las Meninas (1656)

Wer hat die Bildhoheit? Der Maler? Wir? Der Auftraggeber als vermeintliches Urbild des zu verfertigenden Abbildes? »Unter allen Elementen, die die Bestimmung haben, Repräsentationen zu geben, sie aber in Frage stellen, sie verhüllen oder durch ihre Position oder ihre Entfernung ausweichen lassen«, ist das Spiegelbild das einzige, das »funktioniert und zeigt was es zeigen soll […]. Von allen Repräsentationen, Foucault, Andere Räume, in Gente / Paris/ Weinmann (Hg.), Michel Foucault. Shortcuts, S. 31 ff.

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die das Bild repräsentiert, ist der Spiegel die einzig sichtbare. Keiner jedoch schaut ihn an […]. Statt sich um die sichtbaren Dinge zu drehen, durchquert dieser Spiegel das ganze Feld der Repräsentation und vernachlässigt das, was er darin erfassen könnte, stellt die Sichtbarkeit dessen wieder her, was außerhalb der Zugänglichkeit jedes Blicks bleibt« (OD 35 f).

Der Maler schaut uns aus dem Bild heraus an, und in der Tat tut er dies mit seinem Kunstwerk immer auch im übertragenen Sinn, weil wir seine Sichtweisen von etwas sehen können: Was setzt er ins Bild, was lässt er ahnen? »Der Maler lenkt seine Augen nur in dem Maße auf uns, in dem wir uns an der Stelle seines Motivs befinden … Sehen wir, oder werden wir gesehen? An dieser Stelle findet ein ständiger Austausch zwischen Betrachter und Betrachtetem statt. Kein Blick ist fest, oder: in der neutralen Furche des Blicks, der die Leinwand senkrecht durchdringt, kehren Subjekt und Objekt, Zuschauer und Modell ihre Rolle unbegrenzt um … Wir sehen uns als durch den Maler Betrachtete und seinen Augen als durch das gleiche Licht sichtbar geworden, durch das er uns sichtbar wird … Der Betrachter sieht seine Unsichtbarkeit für den Maler sichtbar geworden und in ein für ihn selbst unsichtbares Bild transponiert« (OD 32 f).

Dies hat für Foucault aber im weiteren Verlauf seiner Untersuchung noch den Sinn, dass der Mensch an die Stelle des Königs tritt. »With Philip IV commanding the lines of sight, the picture contains a radically different meaning: it is the image of royal power … But the viewer standing before Las Meninas plays the same role: He serves the represented painter … as a model, i. e. as an object of representation. The viewer thereby founds the visual game that unfolds within the canvas. At the same time however the entire representation is for him an object of contemplation, i. e. he is the viewing subject for whom this representation exists. With the viewer serving both as model and as observer we have in Las Meninas the same contortions that Foucault located in modern knowledge.« 94

Für Tanke ist damit eine größere Tiefe verbunden, die die europäische Kultur für sich selbst erfindet: Das Sichtbare wird auf das Unsichtbare zu beziehen sein, z. B. auch auf Ursprung, Kausalität und Geschichte. Aber ebenso kann das Unsichtbare sichtbar werden 95: ein sinnlicher Eindruck oder ein innerer Ausdruck, der nicht länger vom Diktat optischer Ähnlichkeit zwischen Darstellung und Dargestelltem beherrscht wird. 94 95

Joseph J. Tanke, Foucaults Philosophy of Art, S. 45. vgl. Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 200 ff.

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So ist Manet für Foucault eine Gelenkstelle in der Geschichte derSeherfahrung und des Bildnerischen, weil er die Tradition der Repräsentation fundamental änderte, denn er forderte eine Bildtradition heraus, die lange ihre eigene Materialität durch möglichst originalgetreue Repräsentationen zu verstecken suchte. Die Ablösung der nachwirkenden Bildkonventionen des Quattrocento von der Aufgabe der Repräsentation von Objekten macht einer zunehmenden Selbstreferentialität des Bildes Platz. 96 Malerei ist nicht länger Affirmation des Bestehenden (und das ist für Foucault interessant), sondern löst sich vom Objektbezug und der Aufgabe des originalgetreuen Abbildens. (Parallel dazu fand in der Philosophie eine zunehmende Loslösung von der Aristotelischen Substanzontologie statt, wenn z. B. bei Diderot die Natur bereits unter dem Aspekt der funktionalen Vernetzung und der Prozesshaftigkeit betrachtet wird.) Die Lösung vom Objektbezug kann in der modernen Malerei sowohl durch Abstraktion als auch durch die Darstellung von Surrealem geschehen: immer sind Ähnlichkeit und Affirmation ausgehebelt. Daher interessiert sich Foucault auch besonders für Klee, Kandinsky und Magritte. Zwei Prinzipien haben für ihn die Malerei des 15.–20. Jahrhunderts beherrscht: »Das erste setzt die Trennung von figürlicher Darstellung (welche die Ähnlichkeit einschließt) und sprachlicher Referenz fest (welche die – optische – Ähnlichkeit ausschließt). Mittels der Gleichheit wird sichtbar gemacht, durch den Unterschied hindurch wird gesprochen … wesentlich ist, dass sprachliche Zeichen und die visuelle Darstellung niemals mit einem Schlag gegeben sind.« 97 Dieses Prinzip habe Klee gebrochen, indem er das System der Repräsentation durch Ähnlichkeit und das der Referenz durch Zeichen zu einem einzigen Gewebe verdichtet: »Schiffe, Häuser, Männchen sind zugleich erkennbare Formen und Schriftelemente. Sie stehen oder bewegen sich auf Kanälen, die wie Zeilen zu lesen sind. Die Bäume der Wälder marschieren auf Notenzeilen. Der Blick begegnet, als hätte er sich verlaufen, Wörtern, die ihm seinen Weg anzeigen, die ihm die Landschaft nennen, die er gerade durchwandert. Und am Knotenpunkt dieser Figuren und Zeichen taucht immer wieder der Pfeil auf … Der Pfeil zeigt an, in welcher Richtung sich das Schiff gerade wegbewegt; er

96 97

Tanke, a. a. O., S. 63–68. Foucault, Das ist keine Pfeife, S. 25.

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zeigt, dass eine Sonne eben untergeht, er schreibt die Richtung vor, der der Blick zu folgen hat.« 98

Das zweite Prinzip habe Kandinsky gebrochen: Es behauptet die Äquivalenz zwischen der Tatsache der Ähnlichkeit und der Affirmation eines Repräsentationsbandes. Ob die Malerei auf das Sichtbare verweise, das sie umgibt, oder ob sie sich allein ein Unsichtbares schaffe, das ihr gleiche: immer gelte: »Das was man hier sieht, ist das da.« Nackte Affirmation, die sich auf keine Ähnlichkeit stützt und auf die Frage, was das sei, nur auf die sichtbare Form und Farbe hinweisen kann: »rote Form«, »violett-orange« »Dreiecke«, oder auf die Geste, die sie geschaffen hat: »Improvisation«, »Komposition«; oder auf innere Spannungen oder Beziehungen: »gelbe Mitte«, »rosa Ausgleich«. 99 Die Malerei Magrittes scheint durch die bewusst genaue figurative Darstellung zunächst das genaue Gegenteil zu sein. Er scheint sich durch die Genauigkeit der Ähnlichkeiten, auch zwischen Baum und Blatt, auch zwischen Meer und Schiff, konventioneller Darstellung verpflichtet zu fühlen. Doch schafft es Magritte durch die Zusammenstellung der Bildelemente jeden Realitätsbezug zu konterkarieren. Dies passiert auch durch zunächst völlig unpassend scheinende Bildtitel, durch das Thema »Bild im Bild«, aber auch durch Kombination von Schrift und Bild im Bild. Die Schrift darf hier aber keinesfalls die klassische Funktion der Erläuterung des abgebildeten Gegenstandes haben, etwa als Legende zum Bild: »Die Aussage muss die offensichtliche Identität von Figur und den ihr zustehenden Namen in Abrede stellen. Was genau einem Ei gleicht, heißt Akazie, was einem Schuh gleicht heißt Mond, was einem Hut gleicht heißt Schnee, was einer Kerze gleicht, heißt Zimmerdecke.« 100 Magritte macht auf die Bildkonventionen aufmerksam und durchbricht sie zugleich: indem er auf die Unmöglichkeit einer neuen Bedeutungszuweisung für gewohnte Bezeichnungen hinweist, zeigt er, dass unsere Bezeichnungen keineswegs einer inneren Sachlogik folgend so und nicht anders sein können, sondern dass sie eben Konventionen sind. Der Titel »Schlüssel der Träume« besagt, dass der Traum der Loslösung von Konventionen eben ein Traum ist und

Foucault, a. a. O., S. 26. a. a. O., S. 27. 100 Foucault, a. a. O., S. 28. 98 99

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Bild 37: René Magritte: Der Schlüssel der Träume (1930)

bleibt, die Fantasie aber mit Abweichungen spielen kann, die völlig andere Referenzen erzeugen. Magritte selbst hat das Bild aber auch als Gedankenexperiment gesehen: Was prägt unsere innere Vorstellung mehr, die bildhafte Darstellung oder diskursive Form des Schriftbildes, wenn beide gegeneinander stehen und sich konterkarieren? Den Hut »Hut« zu nennen, wäre aber auch falsch, denn man sieht nur das Bild eines Hutes. Der abgebildete Gegenstand kann also auch durch Verneinung der passenden Attribution in seiner suggestiven Realpräsenz erschüttert werden: Die Pfeife; die keine Pfeife ist, sondern nur das Bild einer Pfeife, hat entweder eine konkrete Vorlage, nach der sie gemalt worden ist, oder eine Idee zur Grundlage, ein Begriffsbild, das typische Eigenschaften, aber keine Besonderheiten 578 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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Bild 38: René Magritte: Das ist ein Stück Käse (1937)

zeigt und auch wiederum nur ein Bild sein kann, das man sich auf Grund vieler realer Pfeifen gemacht hat. Ein grundlegender Unterschied ist natürlich, dass das Bild gemacht ist und in einen Rahmen hineingestellt wird, der es als solches ausweist. So kann Magritte analog dann auch das gerahmte Bild eines Stücks Käse anstelle eines echten Käses (der aber auch nur ein Bild wäre) in eine gemalte Glasglocke stellen und mit dem Titel »Das ist ein Stück Käse« (1937) versehen. Die Affirmation wird sofort durch die Darstellung konterkariert. Fehlt der Rahmen aber, muss man sofort wieder warnen: »ceci n’est pas une pipe«, oder: »ceci n’est pas une pomme« (1964). Das gilt insbesondere in einer Zeit, in der virtuelle Realitäten uns verführerisch echt erscheinen können: Dass die Grenzen zwischen Fiktion und (im Bild auch gemalter) Realität fließend und oft kaum wahrnehmbar sind, zeigen die bereits oben besprochenen Bilder der Serie »La Condition humaine« (»So lebt der Mensch«), in die man 579 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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hineintappt wie in Fallen und die einem dann doch die andere und eigene Qualität des Gemachten zeigen. Das Bild der Pfeife ist also mitnichten eine Pfeife. Die oftmals suggestive Gleichheit oder auch nur Ähnlichkeit des Bildes mit dem Abgebildeten wird gründlich zerstört, eine echte Pfeife wäre räumlich haptisch erfahrbar, wir sind nur gewohnt (und werden bereits in Lesebüchern dazu erzogen), dass die sprachschriftlich fixierte Benennung den abgebildeten Gegenstand ersetzen kann. Eine kritische Bildreflexion aber muss sich der Differenzen zwischen Wort und Bild, aber auch zwischen Bild und Gegenstand sowie zwischen Wort und Gegenstand bewusst werden. Magritte denkt selber darüber nach und experimentiert auch mit Ersetzungen von Gegenständen durch Schriftzeichen im Bild. 101 Foucault findet für diese Ersetzungen, für diese substanziellen Angleichungen viele Beispiele in Magrittes Werk 102 und glaubt, »dass Magritte von der Ähnlichkeit die Gleichartigkeit losgelöst hat und diese gegen jene ausgespielt hat … Die Ähnlichkeit dient der Repräsentation, welche über sie herrscht; die Gleichartigkeit dient der Wiederholung, welche durch sie hindurch läuft. Die Ähnlichkeit ordnet sich dem Vorbild unter, das sie vergegenwärtigen und wiedererkennen lassen soll, die Gleichartigkeit lässt das Trugbild (simulacrum) als unbestimmten und umkehrbaren Bezug des Gleichartigen zum Gleichartigen zirkulieren.« 103 Magrittes Malerei ist für Foucault dem Unternehmen Klees und Kandinskys »nicht fremd, sie bildet ihnen gegenüber und in einem ihnen gemeinsamen System eine zugleich entgegengesetzte und komplementäre Figur.« 104 Gestürzt wird nicht nur die Lehre von der Nachrangigkeit des Bildhaften gegenüber dem abzubildenden Urbild, es handelt sich mehr noch um eine immanente Kritik an der Referentialität der Repräsentationen, um »nonaffirmative painting« (was sich mit Fou-

René Magritte, Les mots et les images, in: La Revolution Surrealiste Nr. 12, 1929. In Sylvesters großer Magritte-Monographie gibt es zum Surrealismus Magrittes ein eigenes Kapitel zur Technik der verfremdenden Isolierung, in dem ein Brief Magrittes an Nougé abgedruckt ist: er zeigt u. a. Planskizzen gerade zur »Ewigen Evidenz«. s. David Sylvester, Magritte, Basel 1992, S. 228–241. 102 Foucault, a. a. O., S. 32–42. 103 a. a. O., S. 40. 104 a. a. O., S. 28. 101

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caults Anti-Platonismus gut verträgt). 105 Und schließlich führt ein Weg von der Abschaffung der Ähnlichkeit über die Gleichartigkeit zur Simulation von Ähnlichkeit und zur modernen experimentellen und seriellen Kunst, weshalb Foucaults Magritte-Essay mit einem Bezug auf Warhol und den Worten »Campbell, Campbell, Campbell« endet. 106 Für Tanke schafft Foucault dabei eine Genealogie der Moderne: »In this sense, genealogy is opposed to both: the pursuits of metaphysics and the supposed neutrality of the historian … Genealogy breaks apart the conceptual, linguistic, and visual sedimentations that assume ›self-evident‹ status. It seeks to restore to thinking the field of forces, events and contingencies from which our being has been abstracted. Genealogy’s historical sense is a type of vision, following Foucault, … which distinguishes, separates and disperses. (…) Genealogy is to a large degree, a visual practice, a ›dissociating look‹, that makes surprising discoveries possible and puts them to use in the transformation of ourselves …, to in turn make it possible to think and see otherwise.« 107

Und damit ist Foucault auch hier dekonstruktiv und propagiert eine andere Art des Sehens (dies übrigens auch im übertragenen Sinn). Um Max Imdahls – auch von Waldenfels übernommene – Unterscheidung von wiedererkennendem und sehendem Sehen zu bemühen: 108 Die Bilder, für die Foucault sich interessiert, machen letzteres nötig, setzen es sogar erst in Gang, denn über die bloße Affirmation dessen was ist -im Bild-, über Bestätigung und Verdopplung hinaus erfordern sie ein Sehen, dass mit den herkömmlichen Ordnungen des Sehens bricht und im Surrealen oder Abstrakten alte Ordnungen konterkariert und neue Ordnungen entstehen lässt. Das Sehen bleibt nicht als Bestätigung des Sichtbaren am Referenzobjekt orientiert, sondern es subjektiviert sich in dem Maße, wie die Bilder selbstreferentiell werden.

Joseph J. Tanke, Foucault’s Philosophy of Art, S. 93 ff und 123 ff. Foucault, a. a. O., S. 52. 107 Tanke, a. a. O., S. 5 f. 108 Imdahl, Ikonik. Bilder und ihre Darstellung, in: Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, S. 300 ff., und Waldenfels, Sinnesschwellen, S. 103–106. 105 106

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Differenzphilosophie als Vermittlung?

4.2.5 Heterotopien Damit sind nicht nur Museen und Kinos »Heterotopien«, andere Orte, die uns von herkömmlichen Konventionen und Normen befreien und andere Möglichkeiten vor Augen führen, auch jedes Bild, das unser Sehen herausfordert, in dem sich »sehendes Sehen« ereignen kann, ist eine solche Nische für Andersartiges und Nicht-Affirmatives. Anders als Utopien, die keinen Ort haben, sind Heterotopien nämlich »andere« Räume 109 oder eröffnen andere Räume, in denen abweichendes Sehen und Denken und vielleicht auch Handeln möglich ist. Foucault unterscheidet zwischen Krisenheterotopien (Irrenhäuser, Gefängnisse, aber auch Altenheime), die ausgrenzen, und Abweichungsheterotopien (wozu er z. B. auch Bordelle zählt) 110, die ein – inselhaftes – Leben jenseits gesellschaftlicher Normativität ermöglichen. Schließlich haben Heterotopien »gegenüber dem verbleibenden Raum eine Funktion […]: Diese entfaltet sich zwischen zwei extremen Polen. Entweder haben sie einen Illusionsraum zu schaffen, der den gesamten Realraum, alle Platzierungen, in die das menschliche Leben gesperrt ist, als noch illusorischer denunziert. […] Oder man schafft einen anderen Raum, der so vollkommen, so sorgfältig, so wohlgeordnet ist wie der unsere ungeordnet, missraten und wirr ist.« 111 Idealisierungen und Desillusionierungen können aber auch mit und in Bildern möglich sein, auch sie sind »andere Orte«, an und in denen man sich durch »sehendes Sehen« von normierenden (Denk- und Seh-) Zwängen befreien kann, und es geht Foucault daher vor allem um Kunst, die neue Seherfahrungen ermöglicht.

109 Foucault, Andere Räume, in: Gente / Pafris / Weinmann (Hg.), Michel Foucault. Short Cuts, S. 28 f. 110 ebd. 111 Foucault, Andere Räume, a. a. O., S. 36 nennt hier die Kolonien als Beispiel.

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Das Sein der Zeichen als Zeichen des Seins

4.3. Das Sein der Zeichen als Zeichen des Seins: Jacques Derridas Synthese von Bildphänomenologie und Bildsemiotik Derrida wurde als Sohn einer jüdischen Familie im damals französischen Maghreb geboren und machte von klein auf Differenzerfahrungen: »Der kleine französische Jude aus Algerien« wuchs am Rande eines arabischen Viertels auf und verstand die Sprache, die aber an der (französischen) Schule verboten war. 112 Er konnte kein Hebräisch und besuchte nie eine Talmudschule, wurde aber während der Zeit des Vichy-Regimes in Frankreich als Jude der Schule verwiesen 113. Später absolvierte er die Ecole Normale Supérieure in Paris, studierte bei Foucault – mit dem er sich auch anfreundete – und war danach Assistent bei Ricoeur. Er steht also anders als Heidegger und Foucault zwischen den Kulturen. Das lässt ihn das Heideggersche Anliegen der Dekonstruktion und seine ontisch-ontologische Differenz aufnehmen und weiterführen.

4.3.1 Dekonstruktion als Metaphysikkritik Mit der Kritik des identifizierenden Denkens, wie sie von Adorno entwickelt worden ist 114 heißt differenzieren »nicht identifizieren, das andere und das Verschiedene eben nicht zurückführen auf dasselbe und das Gleichartige. […] Das Denken der Differenz kann nur selbst different, differenzierend sein und nicht stets wieder dasselbe«. Dabei glaubt Derrida mit Adorno und Heidegger, dass »die Tradition der europäischen Philosophie, die vom Identitätsdenken letztlich bestimmt wird, nicht so ohne weiteres verlassen, negiert oder auch nur transformiert werden kann. Er arbeitet mit dieser Tradition, vertieft sich in sie und sucht sie von innen her aufzusprengen.« 115 Anders als Foucault wählt Derrida in seiner Absicht der Rationalismuskritik an Gedankengebäuden mit apodiktischem Anspruch auf Allgemeingültigkeit keinen historisierend relativierenden Ansatz, Derrida, Einsprachigkeit, S. 84. »Die französische Kultur ist nicht für Juden gemacht«, so der Schulleiter coram publico, wie Bennington berichtet, der in Zusammenarbeit mit Derrida ein biographisches Porträt geschrieben hat (S. 332). 114 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, u. a. S. 16–18 und 34 f. 115 Heinz Kimmerle, Jacques Derrida, S. 17 ff. 112 113

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Differenzphilosophie als Vermittlung?

sondern einen systematischen. Er geht auf Heideggers Kritik an den künstlichen Dichotomien unseres Denkens zurück und entwickelt seine Methode der Dekonstruktion durch Textanalyse, die keineswegs Destruktion bedeutet. Das kann bedeuten, dass er verschiedene Texte ähnlicher Thematik gegeneinander stellt, die sich so gegenseitig erhellen und gelegentlich auch entlarven 116. Aber auch Begriffspaare innerhalb eines Textes werden untersucht. Die Dekonstruktion ist dann eine die verborgenen Bedeutungen und Prämissen zutage fördernde analysierend-synthetisierende Untersuchung, in der still mitschwingende Konnotationen ebenso interessant sind wie das Aufdecken von Inkohärenzen. (In der Tat erinnert seine Methode der Textdekonstruktion stark an Al-Ghazalis »Inkohärenz der Philosophen.«) Denn Derrida arbeitet, wie übrigens auch Philon, mit einem zweischichtigen Textmodell: das »Selbstbewusstsein« des Textes, die Textoberfläche, ist in der Regel semantisch unproblematisch und kann sinnhaft verstanden werden, verbirgt aber interessante Tiefenintentionalitäten, verdeckt dabei also das strukturell Unbewusste, so dass eine »Tiefenlektüre« nötig ist, um diese verborgenen Sinnschichten zu enthüllen. Deshalb hat der Praktiker der Dekonstruktion von innen her zu operieren, er muss innerhalb eines Begriffssystems arbeiten, in der Absicht, es aufzubrechen. (Lagemann redet von einer Haltung der subversiven »Immanenz« 117, um so »die Spalte ausfindig zu machen, durch die, noch unnennbar, durchschimmert, was außerhalb dieser Geschlossenheit liegt«. 118) Dadurch erschließt sich ein Text und lässt sich von innen her öffnen, wenn z. B. implizite nichtevidente Voraussetzungen gemacht werden. So kritisiert Derrida etwa den binären Zeichenbegriff bei Husserl (Anzeichen/Ausdruck). Für Derrida ist diese phänomenologische Reduktion des Zeichens auf zwei Dimensionen eine »metaphysische Präsupposition« 119, was auch

116 So in der Apokalypseschrift, in der Derrida zwei Texte über Mystik und Wahrheit gegeneinander stellt, und in »Glas«, in dem die Ordnung der Vernunft bei Hegel gegen die Unordnung des Begehrens bei Jean Genet gestellt wird. vgl. ausführlicher Münnix, Zum Ethos der Pluralität, S. 30. 117 Lagemann/Gloy, Dem Zeichen auf der Spur, S. 47. 118 a. a. O., S. 63. 119 Derrida, Die Stimme und Das Phänomen, S. 52, S. 71. Derridas erste Veröffentlichung »Genesis und Struktur und die Phänomenologie«, ein Vortrag von 1959, gedruckt 1964 in »Die Schrift und die Differenz«, wurde 1967 mit »Die Stimme und das Phänomen« auf breitere Füße gestellt, da sich D. nun nicht mehr nur auf die ersten Kapitel der »Logischen Untersuchungen« bezieht.

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Jacques Derridas Synthese von Bildphänomenologie und Bildsemiotik

für die Unterscheidung von Signifikat und Signifikant bei De Saussure gilt 120. Typisch für Derridas Textdekonstruktion ist dabei die Hierachiekritik, die auch manchmal mit Hierarchieumkehr verbunden ist 121: »Der klassische Zeichenbegriff gilt als Einheit eines transzendental gedachten Signifikats als ideeller Entität und eines demgegenüber sekundären nur auf die Bedeutung verweisenden Signifikanten … Dieser ist bei de Saussure eine abhängige Größe und erhält erst durch seinen Bezug auf ein sinnerfülltes Signifikat, das vom Ausdruck unabhängig ist, seinen Wert.« 122 Am Beispiel der Kritik am Begriffspaar Signifikat /Signifikand bedeutet das nicht länger eine Privilegierung des transzendentalen Signifikats, das den Zeichen erst seine Bedeutung gibt, sondern ein Denken vom Signifikanten aus, ja von einer ganzen Kette von Signifikanten, die zunächst alle aufeinander und dann erst zusammen auf das Gemeinte verweisen. Schon bei Heidegger war Dekonstruktion eine Denkbewegung der »Aneignung und Verwandlung des Überlieferten«, ein »Abbauen, Abtragen und auf die Seite stellen. Dekonstruktion heißt: Unser Ohr öffnen, frei machen für das, was sich uns in der Überlieferung als Sein des Seienden zuspricht«. 123 Mit dieser Heideggerschen Begrifflichkeit liest Derrida Kants Kritik der Urteilskraft 124 und stellt fest, dass seine Ästhetik ganz von diesem Gegensatz Materie/Form beherrscht wird, der sich so im Inneren einer wirkmächtigen Tradition abzeichnet. Im Sinne von Heidegger sei dies eine der drei Bestimmungen, die gewaltsam über das

Positiv vermerkt er, dass Husserl sich gegenüber der vorangegangenen Tradition durch »nicht-dialektisches und nicht-dezisionistisches Vorgehen« auszeichne, »starres System und spekulativen Abschluss« meide (Die Schrift und die Differenz, S. 236 ff). Weiteres zu Derridas Husserl-Kritik in der hervorragenden Analyse von Dreisholtkamp, Jacques Derrida, S. 76. und Münnix, Zum Ethos der Pluralität, S. 32. 120 Derrida, Grammatologie, S. 49–129. 121 Wenn nicht Hierachieumkehr, so will Derrida an Stelle des Vorrangs (z. B. auch bei Kant: Vernunft/Gefühl – letzteres als »pathologisch affiziert«) ein Zugleich: auch das gesprochene Wort darf nicht von der geschriebenen Spur dominiert werden. 122 Lagemann/Gloy, Dem Zeichen auf der Spur, S. 87. 123 Heidegger, Sein und Zeit § 6, sowie Heidegger, Was ist das – die Philosophie, S. 32 ff. 124 Der folgende Abschnitt findet sich auch in Münnix, Das Differente im Blick. Zur Philosophie der Malerei bei Derrida und Foucault, in: Yousefi (Hg.), Von der Hermeneutik zur interkulturellen Philosophie, S. 357 f.

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Ding herfallen, und damit setzt sich Derrida in seiner Philosophie der Malerei auseinander: »Aber welchem Bereich entstammt diese Bestimmung des Dings als geformte Materie? … Auf jeden Fall hatte der christliche Schöpfungskult einen besonderen Antrieb, eine supplementäre Motivation mit sich gebracht, den Komplex Form / Materie als die Struktur des ganzen Seienden, des ens creatum als Einheit von forma und materia zu betrachten. Auch nachdem der Glauben geschwunden ist, bleiben die Schemata der christlichen Philosophie dennoch wirksam. So ist die Auslegung des Dinges nach Stoff und Form, sie bleibe mittelalterlich oder sie werde kantisch transzendental, geläufig und selbstverständlich geworden. Aber deshalb ist sie nicht weniger … ein Überfall auf die Dingheit des Dinges«. 125 (Foucault hätte sicher beigesteuert, dass der Unterschied schon bei Aristoteles gemacht wird.)

In seiner Lektüre der dritten Kritik Kants macht Derrida folglich eine dekonstruktive Absicht deutlich: Hatte er zu Beginn seines Wahrheitsbuches, gleichsam als Vorspann, über Passe-partouts und Einrahmungen philosophiert, so stellt er nun fest, dass Kants Begrifflichkeit zum ästhetischen Urteil wie ein Rahmen wirkt, über den das Denken nicht hinauswachsen kann. »Der Rahmen passt schlecht … Die Gewalt der Einrahmung vervielfältigt sich: Sie schließt zunächst eine Theorie der Ästhetik in eine Theorie des Schönen ein, diese in eine Theorie des Geschmacks und die Theorie des Geschmacks in die des Urteils«, 126 damit die Urteilsarten aus der ersten Kritik übertragen werden können. Damit ist klar, dass systemimmanente Zwänge entscheiden, wenn eine innere Kohärenz gerettet werden soll, und nicht die Angemessenheit an den zu untersuchenden Phänomenbereich. »Die Analytik des Urteils ist es, die in ihrem Rahmen erlaubt, die Gegensätze des Formalen und Materiellen, des Reinen und Unreinen, des Eigentlichen und des Uneigentlichen, des Innen und Außen zu bestimmen. Sie ist es, die den Rahmen als Parergon bestimmt, die ihn zugleich konstituiert und ramponiert … und zerbrechen lässt.« Daher könne man nicht von Wahrheit sprechen, denn der Rahmen sei nicht transzendental, sondern akzidentell. »Die Dekonstruktion soll weder den Rahmen neu abstecken noch von der reinen und einfachen Abwesenheit des Rahmens träumen. Diese beiden

125 126

Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, S. 88 f. Derrida, a. a. O., S. 90 f.

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offensichtlich widersprüchlichen Gesten gehören selbst – und in systematischer Absicht unabtrennbar – zu dem, was hier dekonstruiert wird.« 127

Derrida will nämlich die Gegenwärtigkeit der Wahrheit überhaupt in Zweifel ziehen, so Kimmerle: »In ihrer Anwesenheit ist sie abwesend und umgekehrt. Darin ist unschwer Heideggers Deutung der aletheia als Unverborgenheit, die zugleich auch immer verborgen bleibt, zu erkennen. Dieses Wahrheitsgeschehen, jeweils anwesend abwesend zu sein, ist es, das in der Kunst zur Anschauung gebracht wird. Es gibt keine eindeutige Deutung eines Kunstwerks, die seine Wahrheit als voll vergegenwärtigt enthält. So ist auch der philosophische Text als Text die Grundlage für immer neue Interpretationen, in denen dasselbe Geschehen spielt. Das begründet die Nachbarschaft, die selbst wieder paradoxe Parallelität von philosophischem Denken und Kunst.« 128

Der Rückgang in die Phänomenalität des Zuhandenen muss dann auch bewirken, dass Mensch und Sein »jene Bestimmungen verlieren, die ihnen die Metaphysik geliehen hat.« 129 Und damit soll dann eine andere Art von Metaphysik möglich werden.

4.3.2 Das Sein der Zeichen als Zeichen des Seins: die Ausweitung des Schriftbegriffs Schrift und Stimme verweisen je anders auf das Gemeinte (»Die Stimme ist das Nächste zum Denken« 130 vor ihrer Sedimentierung in Schriftsprache. Schon Platons 7. Brief hatte je bereits den Vorrang des unmittelbaren Sprechens vor der jeder sprachschriftlichen Fixierung gefordert.) Die Schrift hält die vergängliche Gegenwart der Rede unendlich fest, ohne den lebendigen Zusammenhang von Gestik und »face to face« zu bewahren. Sie repräsentiert »noetische begründete Identität« von universeller Geltung 131. Für Walter Benjamin usurpieren Schrift und Sprache das mimetische Vermögen vorbegrifflicher Welteinsicht a. a. O., S. 94. Kimmerle, a. a. O., S. 20. 129 Heidegger, Identität und Differenz, S. 30. 130 mit einer Nähe zu Rousseaus Abhandlung vom Ursprung der Sprache! Vgl. Derrida, Grammatologie, S. 283 ff. 131 Jochen Hörisch, Das Sein der Zeichen als Zeichen des Seins. Marginalien zu Derridas Ontosemiologie, S. 7 f. 127 128

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(hier kann man an Cassirers Analyse von bildhaften Mythen denken), um dessen »Magiemomente« zu liquidieren. 132 Auch hier ist also – mit Heideggers »Schritt zurück« – eine Dimension des »Anderen der Vernunft« 133 wieder einzuholen. Denn es hat sich gerächt, das Nicht-Rationale als irrational abzuqualifizieren und zu verdrängen (wobei die abendländische Rationalität sich selbst als Maßstab nimmt und Andersartiges als nicht rational ausschließt 134). Rationalismuskritik muss also die im Zuge dieses Prozesses durch verengte Rationalität abgewertete und aus der Philosophie ausgesonderte Gegenstandsbereiche neu entdecken (was ja bereits mit der Philosophie von Leiblichkeit und Emotionalität geschehen ist). Eine alphabetisierte phonetische Sprache, wie sie in entwickelten Zivilisationen üblich ist, die den logos aufnehmen und prägen konnte, steht aber unter metaphysischen Prämissen, z. B. dem Gebot der Linearität 135, die das mehrdimensionale symbolische Denken verdrängt hat, und muss sich heute hinterfragen lassen. Derrida verweist daher in seiner »Grammatologie«, einer Philosophie der Schrift, auf frühe und heutige piktographische Formen von Schriftzeichen, und will den engen Begriff einer linearisierten Schrift so um das Bildhafte erweitern: Ikonographie, Kinematographie, Choreographie, eine Schrift der Skulptur sind als Zeichendimensionen hinzuzunehmen, weshalb ihn nun auch Kombinationen von Schrift und Bild interessieren; er vollzieht also einen Wechsel von der reinen Buchstaben-Schrift zu einem Ensemble multimedialer Signaturen, die sich alle »einschreiben«. Es geht somit um Entgrenzung: Die »phonetische Schrift als Zentrum der großen metaphysischen, wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Abenteuer des Abendlandes ist also zeitlich und räumlich begrenzt, sie benennt, während eine Bilderschrift – z. B. frühe mexikanische und ägyptische

Walter Benjamin, Über das mimetische Vermögen, in: WB, Ges Werke, II, S. 213. Hartmut und Gernot Böhme verweisen in ihrem Buch u. a. auch auf Gefühle, Leiblichkeit etc. 134 Vgl. Derridas Auseinandersetzung mit Foucaults »Cogito und die Geschichte des Wahnsinns«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, S. 53–101. 135 Derrida, Grammatologie, S. 151 ff. Die metaphysische Prämisse linearer Zeitlichkeit, die gar nicht in allen Kulturen zu Hause ist, und die die ganze Ontologie von Aristoteles bis Heidegger determiniert, wirkt in der Schrift und beeinflusst unsere Art zu schreiben und zu lesen. 132 133

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Piktographie – Relationen verdeutlicht.« 136 Daher denkt Derrida nun über Bilderschrift und Schriftbilder nach. In einem Zeichenbegriff und -gebrauch, der die Dimensionen des Bildhaften ausschließt und nur noch lautliche Entsprechungen des Gesprochenen aufzeichnet, werden also metaphysische Prämissen des Zugriffs auf die Wirklichkeit deutlich. Derrida fragt nach dem Ursprung der Herrschaft dieses »LogoPhonozentrismus«, doch diese Frage »läuft nicht auf die Hypostasierung eines transzendentalen Signifikats hinaus, sondern auf die Hinterfragung dessen, was unsere Geschichte konstituiert und die Transzendentalität selbst hervorgebracht hat«. 137 Doch die Begriffe »Ursprung« und »Grund« gehören wesensmäßig in die Geschichte der von Heidegger so benannten Onto-Theologie, d. h. in das System, das mit seiner Deduktionsmetaphysik als Auslöschung der Differenz fungiert, was Derridas Blick auf Ethnozentrismen und regionale Ontologien lenkt. In seiner Philosophie der Referentialität sind es neben Stimme und Schrift also eine Menge von weiteren Signifikanten, die jeweils aufeinander verweisen und sich gegenseitig vernetzen und stützen. Dabei verschieben sich Begriffsbedeutungen, Bedeutung entsteht zwischen den Zeichen, nicht durch Bezug auf ein wie auch immer geartetes fixes Signifikat. Gleichzeitig müssen Zeichen, die wesenhaft charakterisiert sind durch die Abwesenheit des Referenten 138, für sich aber wiederholbar sein, d. h. eine gewisse Identität besitzen und »losgelöst vom Zeichenverwender und seinen Intentionen fungieren, losgelöst vom ursprünglichen Kontext«. 139 Doch in jeder Wiederholung steckt auch ein Moment der Andersheit, weswegen ein paradoxales Verhältnis von Identität und Alterität, von Iteration und Alteration entsteht. Denn nötig ist neben der Iterierbarkeit des Zeichens auch »ein Bruch mit seinem Kontext, das heißt mit der Gesamtheit von Anwesenheiten, die das Moment seiner Einschreibung organisieren.« 140 Nötig wird also eine neue Zeichentheorie, die sowohl dem ebd. Derrida, Grammatologie, S. 43 ff. 138 Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, S. 325– 351, hier S. 332. 139 Mahrenholz, Nelson Goodman und Jacques Derrida. Zum Verhältnis von (post-) analytischer und (post)strukturalistischer Zeichentheorie, in: Nida-Rümelin (Hg.), Rationalität, Realismus, Revision, S. 261. 140 Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, a. a. O., S. 335. 136 137

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Differenzphilosophie als Vermittlung?

Moment der Genesis als auch dem der sich verschiebenden Bedeutungen entspricht.

4.3.3 Negative Theologie und ihre Funktion als Metapher Das Signifikat nämlich, als das, was in Gedanken angezielt wird, entzieht sich, und muss sich entziehen. Derrida nimmt Heideggers Kritik der »Ontotheologie«, auf, als die eines Denkens, das in der Suche nach ersten Gründen nach Art einer Deduktionsmetaphysik alles rational aus diesen abzuleiten und so mit Wahrheitsanspruch zu belegen sucht. Dagegen setzt er die Metapher der »negativen Theologie«, wie sie z. B. in der deutschen Philosophie der Mystik, aber auch im Judentum und Islam gedacht ist. (Aber auch Cusanus wird diesem Zusammenhang erwähnt.) 141 Für Derrida kreuzen sich hier »christliche und nicht-christliche, (jüdische, islamische, hinduistische, buddhistische, und so weiter) philosophische und nicht-philosophische, europäische und nicht-europäische Thematiken.« 142 Ein Sein, das alle begrifflichen Grenzen übersteigt, »nicht dieses, noch jenes ›ist‹, nicht sinnlich, noch intelligibel, nicht positiv, noch negativ, nicht drinnen, noch draußen, nicht übergeordnet, noch untergeordnet, nicht aktiv noch passiv, nicht anwesend noch abwesend, nicht einmal neutral, nicht einmal dialektisierbar in einem Dritten, ohne mögliche Aufhebung, … nicht ein Begriff, noch gar ein Name« 143 ist unserem philosophiegeschichtlich geprägten Denkvermögen schlecht erreichbar und gemahnt an die »coincidentia oppositorum« des Cusanus als Inbegriff des Göttlichen. Derridas Diskurs hat, wie er betont, aber nur Ähnlichkeit mit dem Denken der negativen Theologie (wobei er deutlich macht, dass die jüdische, christliche und altiranische Mystik erstaunliche Ähnlichkeiten aufweisen.) Zwar zitiert Derrida Meister Eckhart: »Du sollst ihn lieben wie er ist ein Nicht-Geist, Nicht-Person, Nicht-Bild, mehr noch wie ein lauteres klares Eines, abgesondert von aller Zweiheit. Und in diesem Einen sollen wir ewig versinken vom Einen zum Nichts.« 144 Doch kritisiert Derrida den bei christlichen Mystikern oftmals erfolgenden 141 142 143 144

Derrida, Wie nicht sprechen. Verneinungen. S. 57. Derrida, Außer dem Namen, in: ders., Über den Namen, S. 94. Derrida, Wie nicht sprechen, S. 11. a. a. O., S. 93.

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Jacques Derridas Synthese von Bildphänomenologie und Bildsemiotik

letzten Umschlag in die »Superessentialität« 145, was er für sich – da er ja vom Ereignis her denkt – ablehnen muss. Anders als Heidegger und Foucault steht aber Derrida in der Tradition der jüdischen und islamischen negativen Theologie 146 und hat sich – nicht nur in »Wie nicht sprechen« oder seinem mit Gianni Vattimo herausgebenem Buch über »Die Religion« intensiv mit christlicher Mystik beschäftigt. Exemplarisch soll daher noch einmal auf einen der mystischen Autoren, die Derrida gern zitiert, Bezug genommen werden: Angelus Silesius, eigentlich Johannes Scheffler, lebte von 1624– 1677 in Schlesien und soll hier exemplarisch für die – teilweise blutige – Gegenreformation stehen und machte durch seine Konversion von sich reden: Er sei vom Luthertum abgefallen, so schrieb er in einer Verteidigungsschrift, weil er in ihm eine »freventliche Verwerfung der Mystik« sah und ihm eine »Abgötterei der Vernunft« vorwarf. Folglich engagierte er sich in der Gegenreformation und verfasste seine Schriften, wie z. B. den von Derrida gern gelesenen Cherubinischen Wandersmann. 147 Was ist an seinen Versen so anstößig? Hier einige Kostproben: »Nichts werden ist Gott werden. Nichts wird, was zuvor ist, wirst Du nicht vor zu Nicht. So wirst Du nimmermehr geborn vom ewgen Licht.« (VI, 130) Derrida kommentiert: »Dieser Gedanke scheint der Erfahrung dessen, was man Dekonstruktion nennt, seltsam vertraut zu sein.« 148 Und weiter: »Geh hin, wo Du nicht kannst, sih/wo Du sihest nicht: Hör, wo nichts schallt und klingt/ so bistu wo Gott spricht.« (I,99) »Der unerkannte Gott: Was Gott ist, weiß man nicht: Er ist nicht Licht, nicht Geist, nicht Wonnigkeit/ nicht Eins/ nicht was man Gottheit heist: Nicht Weisheit nicht Ver-

Derrida, Wie nicht sprechen, S. 122 und S. 19. Dieses Nichtsprechenkönnen bezieht er auch auf sich selber: »Ich habe nie vermocht – mangels Befähigung, mangels Kompetenz, oder Selbst-Autorisierung –, von dem zu sprechen, was mir, wie man zu sagen pflegt, von meiner Geburt her als das Naheste hätte gegeben sein müssen: der Jude, der Araber …« (WNS, S, 122, FN 29). Aber er legt mit dem Geschriebenen Spuren seines Denkens, die zu ihm selbst führen können. 147 Brief von Leibniz an Pacius v. 28. 1. 1695, zitiert in Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, S. 68: »Bei jenen Mystikern gibt es Stellen, die außerordentlich kühn sind, voll von schwierigen Metaphern und beinahe zur Gottlosigkeit hinneigend, so wie ich Gleiches zuweilen in den deutschen – im übrigen schönen – Gedichten eines gewissen Mannes bemerkt habe, der sich Johannes Angelus Silesius nennt …« 148 Derrida, Außer dem Namen, in: ders., Über den Namen, S. 73. 145 146

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stand/ Nicht Liebe, Wille, Güte: Kein Ding/Kein Unding auch/kein Wesen, kein Gemüte. Er ist, was ich und Du und keine Creatur/ eh wir geworden sind, was er ist, nie erfuhr.« (IV,21) »Die Einsamkeit ist noth/doch sey nur nicht gemein: So kannst Du überall in einer Wüsten seyn.« (II,117) Man muss noch über Gott (…) wo soll ich dann nun hin? Ich muss noch über Gott in eine Wüste ziehen.« (I,7) 149

In Derridas Kommentierung muss die negative Theologie – wie bei Maimonides – daran gehen, alles zu verneinen und auszulöschen, alle Prädikate auszuradieren, und danach streben, in einer solchen Wüste zu leben. 150 Aber Derrida zitiert doch auch: »Was man von Gott gesaget/ das gnüget mir noch nicht. Die Über-Gottheit ist/ mein Leben und mein Licht.« (Dekonstruktion ist also nicht Destruktion, nur darf Gott eben nicht substanziell gedacht werden.) Derridas Philosophie des Namens (und auch des »Namens der Namen«) schließt sich hier an und sieht gerade in der Vermeidung von fixierenden Bezeichnungen für das Angezielte »Rettung«: Der Buchtitel Sauf le nom spielt bewusst mit dem gleichklingenden Sauve le nom, was zu Lyotards Aufforderung, »die Ehre des Namens zu retten«, passt. 151 Derrida hebt eine Reihe mystischer Denker als für sich wichtig hervor, doch er distanziert sich trotz großer Sympathien doch noch von der negativen Theologie: Ihr Fehler sei, dass bei aller Abkehr vom essentialistischen Begriffsrealismus und bei aller Ablehnung von Substanz-Akzidens-Schemata doch wieder, z. B. bei Cusanus, ein Umschlag in eine Hyperessentialität erfolge 152, wobei er – ganz jüdischarabisch – doch der Entzugsfigur von der absoluten Verborgenheit Gottes den Vorzug gibt: Die unendliche Differenz muss bleiben, auch wenn wir uns bemühen, dem Eigentlichen nahezukommen. Hier argumentiert er mit Heidegger, bei dem das »Seyn« letzten Endes durchgekreuzt bleibt. Wenn schließlich nichts bleibt »nicht mal ein Name oder eine

149 vgl. Petermann, »… noch über Gott in eine Wüste ziehn …«: Derridas negative Theologie am Rande der Sprache, in: Röllicke (Hg.), Denken der Religion, S. 136 f. 150 Derrida, a. a. O., S. 83. 151 Derrida, Außer dem Namen, a. a. O., S. 95, unter Anspielung auf Lyotard, Postmoderne für Kinder, S. 31: »Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen, retten wir die Ehre des Namens.« 152 Derrida, Wie nicht sprechen, S. 19.

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Jacques Derridas Synthese von Bildphänomenologie und Bildsemiotik

Referenz« 153, kann man wie Meister Eckhart unter Atheismusverdacht geraten: »Wie eine bestimmte Mystik ist der apophatische Diskurs immer des Atheismus verdächtigt worden. Nichts erscheint mir angemessener und zugleich unbedeutender, deplazierter, blinder als ein solcher Prozess. Selbst Leibniz neigte dazu …« 154

Doch wenn man nun, durch seinen Jerusalemer Vortrag Wie nicht sprechen. Verneinungen« neugierig gemacht, hofft, mehr von seiner Identität als »Jude, als Araber« zu erfahren, so wird man enttäuscht: Konsequent schweigt Derrida über das, »was ihm von seiner Geburt her als das Nächste hätte gegeben sein müssen« 155: »Ich hatte also entschieden, nicht zu sprechen von der Negativität […] in den jüdischen und arabischen Überlieferungen 156 […] Diesen ungeheuren Platz unbesetzt lassen, auf diese Weise im Vorhof bleiben. Wäre das nicht eine genauso folgerichtige wie mögliche Apophasis? Das wovon man nicht sprechen kann, ist es nicht besser, davon zu schweigen?« 157

Derrida, der »das Christliche wie das Französische, Englische, Deutsche, Griechische, Philosophische und Meta-Philosophische« als seine »Fremdsprachen« bezeichnet, da er sie gelernt hat, bleibt also mit diesem Schweigen »im Vorhof« 158 dessen, was ihm heilig ist. Allerdings hat er durch seine Interpretationen und Reflexionen negativer Theologie Spuren gelegt. Doch mit der unausweichlichen Negativität ist keineswegs nur die Existenz des Göttlichen gemeint, Derrida nimmt die negative Theologie als Metapher: Er meint auch das Sein als solches insgesamt, das immer Dimensionen enthält, die sich rationaler Begrifflichkeit entziehen und über sie hinaus sind. Man kann es zumindest begrifflich nie voll erfassen: Das Sprechen angesichts des Unendlichen 159 Derrida, Außer dem Namen, a. a. O., S. 79. a. a. O., S. 65 f. 155 Derrida, Wie nicht sprechen, Anhang S. 123, FN 29. 156 Hier kann man nach dem in Teil II Beschriebenen hier sicherlich von jüdischer Seite die negative Theologie des Maimonides nennen, der auch als Jude in arabischen Kulturen lebte, und von arabischer Seite, wie schon erwähnt, Al-Ghazali mit seiner »Inkohärenz der Philosophen« und seiner Neigung zur Mystik. 157 Derrida, a. a. O., S. 94. 158 Derrida, Wie nicht sprechen, S. 93 zitiert Meister Eckhart. 159 Hier berührt sich Derrida mit seinem alter ego Emmanuel Lévinas (Totalität und Unendlichkeit; Die Spur des Anderen), den er in seinem Aufsatz über »Metaphysik 153 154

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Differenzphilosophie als Vermittlung?

muss immer unzureichend sein und an Grenzen stoßen. Es kann also nur Annäherungsversuche geben 160.

4.3.4 Die »différance« und die ikonische Differenz Es geht Derrida um den Ur»grund« des Seins, der die Zweiheit aller klassisch gedachten Gegensatzpaare erst möglich macht, aus dem heraus sie sich entwickelt haben, obwohl auch das wieder zu klassisch metaphysisch, da zu sehr im Sinne einer substanziellen Kausalität gedacht ist. Da die klassische Deduktionsmetaphysik als Metaphysik der Präsenz zu dogmatisch ist (auch Husserl und Heidegger gehören für Derrida noch zu den Präsenzdenkern), geht es Derrida in seiner Metaphysikkritik um eine andere Art von – undogmatischer – Metaphysik, die nicht mehr dem Begründungsparadigma verpflichtet ist (an dem Husserl ja noch festhält): Es geht ihm um eine Metaphysik der Absenz. Er geht also, obwohl er die Kritik an der »Ontotheologie« übernimmt, über Heidegger hinaus und wendet sich nunmehr gegen diesen. Die negative Theologie liefert einen anderen Ur»grund«, der nicht mehr substantiell zu denken ist: er ist das Ereignis der »différance«, zu dem allenfalls »Spuren« führen. »Différance«: Dieses Kunstwort soll die Unterscheidung von gesprochenem und geschriebenem Wort offenhalten (und ist von Hörisch nur sehr unzulänglich mit »Differänz« übersetzt worden, ohne die im Französischen mitschwingenden Konnotationen zu Gehör zu bringen.) Denn einerseits bedeutet die trotz anderer Schweibweise gleich ausgesprochene »différence« Unterscheidung, und »différant« als Partizip Präsenz von »différer« das sich Verschiebende. 161 Wie wir sahen, ist für Derrida gegen den (statischen) Dualismus von Zeichen und Bezeichnetem jede Zeichenbedeutung flüssig. »Alles unterliegt einer prinzipiell unendlichen Verweisungskette des Bedeutens. Statt vom und mit dem Zeichen zur von ihm bezeichneten Sache zu gelangen, erreichen wir mit ihm immer nur weitere Zeichen, wir betreiund Gewalt« zunächst in einigen Punkten kritisiert hatte, um dann im Verlauf weiteren Schreibaustauschs immer mehr Gemeinsamkeiten zu entdecken und zu entwickeln. 160 s. ausführlicher Münnix, Derrida, negative Theologie und Interkulturalität, in: Bickmann / Wirtz /Scheidgen (Hg.), Religion und Philosophie im Widerstreit? Bd. 2, S. 803–824. 161 Derrida, Die »différance«, in: Derrida, Randgänge der Philosophie, S. 8 ff.

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ben die endlose Bewegung einer Zeichen-über-Zeichen-Bildung, ein eigendynamischer, telos-loser Prozess permanenten Verschiebens, Verweisens, Aufschiebens.« 162

In dieser Kette von Verweisungen ist kein Signifikat davor sicher, selber zum Signifikanten für anderes zu werden. Es gibt also eine fortwährende Drift von Zeichen im Hinblick auf das, was sie an Referentialität anzielen, denn das mit dem Be-Deuten Gemeinte entzieht sich beständig und bleibt nicht fassbar. Wenn Zeichen etwas anzeigen, zeigen sie immer eine Absenz an. Zu solchen sinnstiftenden Bezugspunkten von Symbolisationsbemühungen, die sich scheinbar einer eigenen Signifikantwerdung entziehen, gehören »etwa die Idee der Wahrheit, oder jedenfalls des Wahren, wie auch Gott, das Gute, oder das Sein. Fasst man hingegen Sein nicht als transzendentales Signifikat auf, so wird es selbst wiederum nur Zeichen, Chiffre, Abkürzung für anderes – ebenfalls Zeichenhaftes.« 163 Das gemahnt an das »unum, verum, bonum« der mittelalterlichen Transzendentalienlehre (mit Synonyma für das Göttliche), nur dass hier auch noch das Sein insgesamt als etwas erscheint, das sich ebenfalls jedem begrifflichen oder zeichenhaften Zugriff entzieht. Es bleibt bei allen versuchen von Stimme, Sprache, Schrift und anderen Zeichen immer eine Differenz zum Eigentlichen, nicht Fasslichen. Die différance ist weder Signifikat noch Signifikant, sondern Spur, als Verweis auf das Unnennbare, und ist daher der Präsenz immer schon voraus und sorgt für deren Eröffnung. Die différance als Entzugsfigur ist über den Gegensätzen, die aus ihr erst entspringen, und widersteht sowohl der Opposition Sensibles/Intelligibles, wie auch Aktivität / Passivität (die différance ereignet sich als Spur), sie lässt sich nicht in den Kategorien Ursache / Wirkung oder Bestimmtheit / Unbestimmtheit erfassen 164. Sie illustriert also die Absicht Derridas, gegen das dichotomisch geprägte Denken aufzuweisen, dass es Gegenstandsbereiche gibt, die von diesem nicht erfasst werden. 165 Sie ist auch »weder bloß strukturalistisch noch genetistisch, weil eine derartige Alternative selbst Wirkung der différance ist.« 166 162 163 164 165 166

Mahrenholz, a. a. O., S. 256. ebd. Derrida, Die différance, in: ders., Randgänge der Philosophie, a. a. O., S. 8 und 24. Näheres siehe Kimmerle, a. a. O., S. 77–84 sowie Münnix, a. a. O., S. 32 ff. Derrida, Positionen, S. 41 f.

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Damit entwickelt Derrida auch Affinität zur Vorstellung des Dao, denn auch dort ist ein ereignishaftes Ganzes vor jeder Unterscheidung, die erst aus ihm fließt. (»Im Anfang war die différance« fasst Gianni Vattimo Derridas Denken in einem Satz zusammen 167. Doch darf sie keineswegs nach Art einer Substanz gedacht werden, sie ereignet sich.) Derrida versucht, mit seiner Vorstellung von »différance« eine undogmatische Metaphysik zu propagieren, geht mit seiner Entzugsidee über Kants »transzendentale Idee« hinaus und ermöglicht so eine, wie er gesagt hat, »Metaphysik der Absenz«, die es erlaubt, die starken Ähnlichkeiten negativer Theologie in den Weltreligonen (wie man sah, auch im Christentum) mit dem postmodernen Paradigma der Pluralität zu kombinieren, um so größere Offenheit für Andersartiges, aber auch ein Bewusstsein von Ähnlichkeiten zu erzeugen. Das hat Konsequenzen für die jeweiligen Bildauffassungen. Seine Ausweitung des Schriftbegriffs auf Ikonographie, Kinematographie etc., verbunden mit seinem modifizierten Zeichenbegriff, könnte auch für islamische Kulturen eine Brücke in die Bilderwelten der sog. »westlichen« Moderne schaffen, da er gegen die Transparenzfiktion des Alphabets ganz stark auch die Materialität der Schrift denkt. Mit Nietzsche will Derrida »die Philosophie als aktive Indifferenz der Differenz« kritisieren, insofern sie »ontotheologisch« vorgeht, als »System von Reduktion und Repression« 168. Systemzwänge und innere Kohärenz dürfen nicht wichtiger sein als der Realitätsbezug des Gedachten. Dies möchte Derrida auch für den Bereich der Kunst klarmachen: Die Differenz zwischen dem Repräsentierten und dem Repräsentierenden, zwischen der einfachen Präsenz und ihrer Reproduktion, zwischen der Präsentation als Vorstellung und der RePräsentation als Vergegenwärtigung 169 muss auch hier bewusst gemacht werden. Das trifft nun auch auf die Differenz im Ikonischen zu: Die différance unterscheidet sich von und übersteigt Versuche, sie darzustellen. Das Eigentliche ist im Bereich vernünftiger Begrifflichkeit nicht zu erfassen. Kann es, wie Nietzsche gemeint hat, im Bereich der Kunst aufscheinen? Derrida will mit Heidegger eine künstliche, mit metaphysischen 167 168 169

Vattimo, The Adventure of Difference, S. 139. Derrida, Die Différance, in ders., Randgänge, S. 24. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, S. 106.

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Bild 39: Joseph Kosuth, Einer und drei Stühle (1965)

Prämissen aufgeladene ästhetische Begrifflichkeit dekonstruieren, die die Kunstobjekte überformt und ihre Rezeption prägt, um den optischen Phänomenen gerechter zu werden. Eine Kritik der Strukturen metaphysischen Denkens, »vernünftiger« Rationalität zeitigt dann auch eine Kritik der klassischen Repräsentationstheorie: Das Denken der Differenz muss sich immer neu und an immer neuen Gegenstandsbereichen bzw. bildhaften Darstellungen mit Derridas Methode der Dekonstruktion bewähren und zeigen, dass das Repräsentierte eben nicht präsent ist. Auch bei der obenstehenden Abbildung gibt es eine ganze Palette von Verweisungen, sprachschriftlich, fotografisch, und im gemalten Bild. Doch keiner der Signifikanten zeigt den eigentlichen »einen« Stuhl, der als Urbild vielleicht Pate gestanden hat, sei er nun materiell oder als Idee gedacht: er ist durch keine Bildlichkeit der Welt und auch nicht durch sprachliche Umschreibungen oder Begriffsfelder wirklich greifbar; aber die Iteration der Signifikanten, zusammen mit dem Bildtitel, lässt eine Differenz auftauchen, die auf das Eigentliche weist. 170

170

Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, S. 133.

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So lässt sich das »Sein der Zeichen als Zeichen des Seins« 171 begreifen, sie können nur auf es verweisen, denn das Eigentliche muss sich beständig entziehen. Derrida will nämlich die Gegenwärtigkeit der Wahrheit überhaupt in Zweifel ziehen, so Kimmerle: »In ihrer Anwesenheit ist sie abwesend und umgekehrt. Darin ist unschwer Heideggers Deutung der aletheia als Unverborgenheit, die zugleich auch immer verborgen bleibt, zu erkennen. Dieses Wahrheitsgeschehen, jeweils anwesend abwesend zu sein, ist es, das in der Kunst zur Anschauung gebracht wird. Es gibt keine eindeutige Deutung eines Kunstwerks, die seine Wahrheit als voll vergegenwärtigt enthält. So ist auch der philosophische Text als Text die Grundlage für immer neue Interpretationen, in denen dasselbe Geschehen spielt. Das begründet die Nachbarschaft, die selbst wieder paradoxe Parallelität von philosophischem Denken und Kunst.« 172

Allenfalls lässt sich diese Wahrheit annähern, analog zum Gedanken Platons in 7. Brief ließe sich auch für die Kunst sagen, dass nur die Vielfalt der Perspektiven etwas wie Wahrheit als Korrespondenz aufscheinen lassen könnte. Das verifiziert Derrida am Beispiel seiner Überlegungen zu einer Ausstellung im Centre Pompidou: 127 Zeichnungen von Gerard Titus-Carmel zeigen allesamt verschiedene Sichtweisen ein und desselben, ursprünglich aus Holz verfertigten kleinen sargähnlichen Gegenstandes, eines »Taschensarges«: Ein seltsamer kleiner sargähnlicher Gegenstand aus Holz ist Grundlage für eine Ausstellung, in der Titus-Carmel Zeichnungen eben dieses Artefakts aus allen möglichen Perspektiven zeigt. Doch dieses Urbild ist in der Ausstellung nur noch als Foto vorhanden, es entzieht sich also dem prüfenden Blick. »The Pocket Size Tlingit Coffin« (im Original fotografiert in der Hand Derridas als Zeugnis seines Vorhandenseins, aber wieder nur im Bild sichtbar) dient also als Vorlage für ein experimentelles Einnehmen und Probieren verschiedenster Perspektiven, so dass sich insgesamt eine optische Annäherung an das Artefakt ergibt, allerdings immer im Zweidimensionalen: »Dennoch wird das Paradigma, das kleine, feste, unerschütterliche hölzerne Objekt, das gemacht ist, um der Zeit und all ihren Angriffen zu widerste171 Die Formulierung stammt von Jochen Hörisch, der seine Einleitung zu Derridas »Die Stimme und das Phänomen« so überschrieben hat. 172 Kimmerle, a. a. O., S. 20.

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hen, um ohne ein Wort zu sagen, alle Manipulationen zu ertragen, um alle Perspektivierungen und Anamorphosen zu übersteigen, und die Angriffe von allen Seiten zurückzustoßen (denn Titus-Carmel berührt alles, er greift auf allen Seiten an), um das Relief geheim zu halten, das unerschwinglich, unerreichbar und unauffindbar ist, wird der kleine paradigmatische Sarg da gewesen sein …, gestellt, … ausgestellt, abgestellt, sodann »reproduziert« (aber man muss auch sagen, zurückgezogen, ins Abseits abgezogen …) 127 Mal als Sonderdruck auf einem zerbrechlichen Träger, 127 Mal beschrieben, serialisiert, analysiert, detailliert, deplatziert und gewendet in all seinen (oder beinahe all seinen) Zuständen und unter all seinen (oder beinahe all seinen) Blickwinkeln.« Das Paradigma bewahrt »eifersüchtig sein Geheimnis im Moment größter Zurschaustellung«, es bleibt eigensinnig und hermetisch verschlossen« (WM 233).

Im zweidimensionalen Bild ergeben sich natürlich nur verschiedene Annäherungen an den eigentlichen Gegenstand, der aber auch in der Ausstellung nicht als Urbild für alle Annäherungsversuche im Original präsent ist, sondern in Form einer (zweidimensionalen) Fotografie, als Abbild des Eigentlichen, das sich entzieht, so dass man tatsächlich von verschiedenen Signifikanten her denken muss – das eigentliche Urbild bleibt verborgen. 173 Ein gutes Beispiel hierfür ist auch das in der »Wahrheit in der Malerei« gezeigte in eine Zeichnung integrierte Bild von Walter Benjamin, das alle möglichen Arten von Zeichen enthält, neben einer Fotografie eine Bleistiftzeichnung und einen Schriftzug »Benjamin« mit dem Bestandteil »ami«, auch Verweise auf Benjamins Flucht und Verfolgung werden ins Bild gesetzt, doch alle diese Zeichen können natürlich nur sehr unvollkommen auf die reale Person verweisen. Valerio Adami hat seine Zeichnung treffend »Rittrato di W. B.«genannt, W. B.s »Entzug«. Auch die Zeichnungen Adamis, die Derridas Werk »Glas« illustrieren sollen, kommentiert Derrida in ähnlicher Weise. Auch hier kann es sich wie in seinem Textkorpus, nur um Annäherungen an das Gemeinte handeln, weshalb er die seiner Einstellung gut entsprechenden Zeichnungen noch einmal entsprechend kommentiert. Er hatte sich mit Person und Werk Walter Benjamins, mit dem »Kunstwerk im Zeichen seiner technischen Reproduzierbarkeit« und der Aura des Echten auseinandergesetzt. Adamis Zeichnungen von Benjamin im folgenden Bild be-zeichnen also in zweifacher Weise: Die Schriftzeichen einmal secundum rem und einmal secun173

Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, S. 221–291.

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dum nominem: Der Name, aber auch der Bestandteil des Namens »ami« bezeichne die Person in zweifacher Weise, »eine uferlose Textualität dekonstruiert das metaphysische Motiv des absoluten Referenten, des Dinges selbst in letzter Instanz« 174, wie auch die Zeichnung auf die Person verweist, die vor ihrem Selbstmord in den Pyrenäen eine Grenze im Kopf hatte, die sie überqueren wollte, um der Verfolgung zu entkommen. Diese Zeichnung verweist wiederum noch einmal auf die Fotografie, teilt aber anders als sie Tiefenwissen mit, so dass man hier im Sinne Derridas von einer Signifikantenkette sprechen kann, deren Verweisungsziel, das Signifikat, sich entzieht: Schrift, Zeichnung und Fotographie stellen immer nur Annäherungen an die Person W. B. dar, die durch Suizid den Häschern entkam. Derridas Zugang ist hier ein intermedialer und hinterfragt wie Magritte die Differenz von Text und Bild. »Und doch gibt es ein Gemeinsames zu konstatieren, das im Moment des Zuges (trait) liegt und im Schriftzug der Zeichenproduktion wie auch der Zeichnung und des Pinselstrichs zu beobachten ist«. 175 »Auch hier dominiert der Entzug von Präsenz und Prägnanz über das klassische Kategorienpaar von Künstler und Werk. Sie werden aufgelöst in ein Atopik des Parergons, die nach den Instanzen des Rahmens, des Titels, der Signatur, der Bildunterschrift fragt, also nach dem, was die traditionelle Analyse des Werkes für nebensächlich erachtet.« 176 Wie wir sahen, gilt die différance auch für die bildhafte Annäherung an ein Objekt oder einen Sachverhalt. Mag hier Derridas Herkunft mit anikonischen Kultureinflüssen von Judentum und Islam mitspielen; bedeutsam ist, dass die Metaphysik der Präsenz und der damit verknüpften Repräsentationsmöglichkeiten auch hier wie in der modernen Kunst gebrochen wird. Derrida lehnt dabei bildhafte Darstellungen keineswegs ab, aber er spricht ihnen wie auch begrifflichen Systemen die Fähigkeit ab, das Eigentliche zu erfassen. Es kann immer nur Zeichen des Seins geben. Das erweist sich auch an Heideggers berühmter Kommentierung der Schuhe van Goghs: Derrida kritisiert im letzten Teil seines Buches über die Wahrheit in der Malerei die Naivität, mit der Heidegger sich 174 175 176

Derrida, a. a. O., S. 209. Michael Wetzel, Derrida, S. 77. Wetzel, ebd.

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Bild 40: Valerio Adami, Dissegno per un rittrato di W. B. (1973)

zu einer Geschichte inspirieren ließ, die die reine Wahrnehmung der Phänomenalität bei weitem übersteigt. 177 Doch eben die ist uns ja nur vermittelt, im Bild, gegeben. In Bezug auf die Frage nach der Wahrheit in der Malerei findet sich hier wohl der wichtigste Beitrag Derridas: Heidegger hatte die Schuhbilder van Goghs fälschlicherweise als bildhafte Symbole einer bäuerlichen Welt gedeutet (s. o.), um darin die die Aura der bodenständigen Mühsal einer agrikulturellen Welt zu feiern. In einem Briefwechsel mit dem Philosophen hatte der amerikanische Kunsthistoriker Meyer-Schapiro die Bildvorlage dieser Interpretation identifizieren können, um zu konstatieren, dass es sich bei genau diesem Bild um die Schuhe des Malers selbst während eines Paris-Aufenthaltes handelte. 178 Derrida setzt nun bei diesem Widerspruch an und kritisiert bei beiden einen Bemächtigungstrieb und Zuschreibungswahn, der sich das Kunstwerk bzw. die Schuhe als authentische Wahrheit des Kunstwerks aneignen will. Dabei untersucht er auch die historischen Umstände und Hintergründe beider Publikationen und fragt, welche Interessen im Spiel sind, wenn ein amerikanischer und zugleich jüdischer Kunsthistoriker sich auf eine Diskussion mit Heidegger (!) über die Wahrheit von van Goghs Bildern einlässt. Das zum 177 178

Derrida, a. a. O., S. 381 ff. Wetzel, a. a. O., S. 80 f.

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Mindesten ist ein Vorzug des Surrealismus nach Art Magrittes: Er beansprucht nicht, mit seinen Bildern eine Wahrheit erfasst zu haben und ist offen für eine Vielzahl von Deutungen. Im Medium der Bilderschrift radikalisiert sich auch für Derrida ein Entzug semantischer Eindeutigkeit. Auch vordergründiger Sinn kann mit Tiefen-Sinn unterlegt werden. Wenn der dargestellte Schuh im »Schlüssel der Träume« mit »la lune« bezeichnet wird (s. o.), ist ein bewusstes Spiel mit Referenzen eingeleitet, die den Schuh, dadurch dass er in einen andere Zusammenhang gestellt wird, gerade erst recht als solchen einem sehenden Sehen sichtbar macht. Gibt es verborgene Seinsebenen; die durch solche Konnotationen entstehen? Was ist, wenn Schrift und Bild sich offenbar widersprechen? Das Bild dokumentiert also auch ein Differenzgeschehen in sich selbst 179. Die »Philosophie im Boudoir« z. B. erlaubt das Sehen solch tieferer Sinnschichten über die reine Sichtbarkeit hinaus, macht Unsichtbares sichtbar und verweist auf den alltäglichen Gebrauch der dargestellten Gegenstände: ein Nachthemd und Schuhe verweisen durch die ihnen beigegebenen Zeichen sehr persönlichen körperliche Bewohntseins über die bloße Darstellung realer Gegenstände hinaus auf das »Wozu ihrer Bewandtnis«, um hier Heideggers Rede vom Verweisungszusammenhang zu verwenden. Eben solche tieferen Sinnzusammenhänge vermag auch die philosophische Analyse zu erstellen. Sie kann unter die Oberfläche schauen und eine dem normalen Auge verborgene Tiefendimension entdecken. (Das nebenstehende Bild zeigt Derrida in seinen »Restitutionen« in WM zusammen mit anderen Schuhdarstellungen und vermerkt, dass hier fast eine Belebung der dargestellten Gegenstände erreicht werde, die auf die Trägerin verwiesen. 180) »Präsenz würde Tod bedeuten. Wenn Präsenz im vollen Sinne eines Seienden möglich wäre, das an seiner Stelle ist und sich da versammelt, wo es ist, wenn diese möglich wäre, dann gäbe es weder van Gogh noch das Werk von van Gogh, und auch nicht die Erfahrung, die wir mit einem Werk von van Gogh anstellen können. Wenn all diese Erfahrungen, Werke oder Signaturen möglich sind, dann nur in dem Maße, wie Präsenz darin gescheitert ist, da zu sein und sich darin zu sammeln. Oder, wenn Sie wollen, das Dasein 179 Das Bild ist im Zusammenhang mit Foucaults Magritte-Essay abgebildet, der sich auch darauf bezieht. 180 Derrida, a. a. O., S. 368.

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Bild 41: René Magritte: Die Philosophie im Boudoir (1947)

existiert nur auf Grundlage dieses Werks aus Spuren, das sich selbst verschiebt.« So Derrida in einem Interview zu den räumlichen Künsten. 181

Hier ist unschwer Heideggers Deutung der aletheia als Unverborgenheit, die zugleich auch immer verborgen bleibt, zu erkennen. Dieses Wahrheitsgeschehen, jeweils anwesend abwesend zu sein, ist es, das in der Kunst zur Anschauung gebracht wird. Es gibt keine eindeutige Deutung eines Kunstwerks, die seine Wahrheit als voll vergegenwärtigt enthält. So ist auch der philosophische Text als Text die Grundlage für immer neue Interpretationen, in denen dasselbe Geschehen spielt. Das begründet die Nachbarschaft, die selbst wieder paradoxe 181 Peter Brunette and David Wills, The Spatial Arts. An Interview with J. D., in: dies. (Hg), Deconstruction and the Visual Art, S. 9–32.

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Parallelität von philosophischem Denken und Kunst.« 182 Alle von Derrida besprochenen Bilder weisen auf ein Differenzgeschehen, das den Entzug des Woraufhin der Verweisung dokumentiert.

4.3.5 Derrida als (Bild-)semiotiker? »Das Ende des Buches und der Anfang der Schrift.« Diese etwas befremdliche Überschrift über dem 1. Kapitel der Grammatologie ist nur verständlich, wenn man in Rechnung stellt, dass Derrida eine Ausweitung des Schriftbegriffs will, denn die lineare alphabetisierte lautierende Schrift ist für ihn einer Entwicklung des »Logo-Phonozentrismus« geschuldet, die bereits eine Verengung des Ursprünglichen darstellt. Getreu dem Hinweis Heideggers, dass der Logosbegriff früher viel weiter war, möchte Derrida nun auch wieder Bilderschriften und ihre Schriftbilder berücksichtigen, die zwar nichtlinear sind, aber über größere Anschaulichkeit verfügen. Schließlich habe die Schrift piktographisch begonnen 183, und auch heute gebe es noch Bilderschriften. (Und vielleicht entwickeln wir uns ja auch wieder in diese durch international verständliche Piktogramme angedeutete Richtung, so Robinson am Ende seines Buches zur Entstehung der Schrift. 184) Derrida will über die phonographische alphabetisierte und damit lineare Schrift hinaus einen allgemeinen Begriff von Schrift: »Die Linie, wie privilegiert sie auch sei, stellt nur ein partikulares Modell dar; ein Modell, das Modell geworden ist und als solches unzulänglich bleibt. […] Das rätselhafte Modell der Linie ist also gerade das, was die Philosophie, als sie ihren Blick auf das Innere ihrer eigenen Geschichte gerichtet hielt, nicht sehen konnte. Diese Nacht hellt sich in dem Augenblick ein wenig auf, wo die Linearität – die nicht der Verlust noch die Abwesenheit, sondern die Verdrängung des mehrdimensionalen symbolischen Denkens ist, ihre Unterdrückung lockert …« 185

Alles, was »Anlasss sein kann für Ein-Schreibung überhaupt, sei sie nun alphabetisch oder nicht« soll nun – wie bereits oben beschrieben – zu diesem erweiterten Schriftbegriff gehören, u. a. »Kinematogra182 183 184 185

Kimmerle, a. a. O., S. 20. Derrida, Grammatologie, S. 487. Robinson, Die Geschichte der Schrift, S. 210 ff. Derrida, Grammatologie, S. 153.

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phie, Choreographie, aber auch »Schrift« des Bildes, der Musik, der Skulptur, usw.« Schließlich sprechen ja sogar Biologen von Genschrift und »Pro-gramm«. Und auch die physischen Gesten der piktographischen, der ideographischen oder der Buchstabenschrift würden heute so bezeichnet. 186 Damit werden Bilder dem Bereich der Schrift zugeordnet (allerdings einer erweiterten Schrift), was für klassische Bildsemiotiker, die das Zeichen als Element der Sprache und Zeichentheorie als Teil der Linguistik sehen, akzeptabel ist. (Der amerikanische Bildwissenschaftler Mitchell vermutete, dass Derrida auf die Frage, was ein Bild sei, »nichts weiter als eine andere Schriftart« antworten würde 187. Wie wir sehen werden, ist das nur die halbe Wahrheit.) Wenn nämlich Bilder verschiedenster Provenienz zu dieser allgemeinen Schrift zu rechnen sind, dann haben sie etwas zu bedeuten, teilen etwas mit; dann muss man sie bzw. ihren Sinn verstehen und sie »lesen« lernen: Sie haben dann die Funktion von Zeichen und stehen für etwas. Kapust hatte zwar Derrida als Bildphänomenologen eingeordnet und beschrieben 188, doch den obigen Ausführungen zu den von Derrida in WM ausgewählten Bildbeispielen (die allesamt über das reine Abbilden hinausgehen) ist bereits zu entnehmen, dass Derrida – mit einem anderen Zeichenbegriff – auch als Bildsemiotiker der besonderen Art gelten muss, da er hinter die klassische Zeichentheorie zurück geht; denn besonders die letzten beiden Bilder verweisen auf ein abwesendes »Signifikat«. Im Gegensatz zum ebenfalls abwesenden Modell bzw. Urbild eines abbildhaften Porträts wird hier aber im Differenzgeschehen der Verweischarakter zum Thema. Die oben angeführte von Derrida getroffene Auswahl und Besprechung der Bildbeispiele in WM macht deutlich, dass er Zeichenhaftes in einer ganzen Kette von Signifikanten sieht, die alle zusammen auf etwas verweisen, das sich entzieht und verbirgt. Schauend muss man diese piktorialen Zeichen lesen, um in ihrer Spur sich dem anzunähern, was als mögliches Referenz-»objekt« angezielt sein könnte. Daher soll nun die Entwicklung seiner Zeichentheorie Thema a. a. O., S. 21. Mitchell, Was ist ein Bild? In: Bohn (Hg.), Bildlichkeit, S. 17–68, hier S, 41. 188 Kapust, Phänomenologische Bildpositionen, in: Sachs-Hombach (Hg.), Bildtheorien, S. 269 ff. 186 187

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sein. Derrida kannte die Kette von Verweisungen bei Peirce und hat sie in seiner Grammatologie lobend erwähnt 189. Die für den Peirceschen Zeichenbegriff typische Trias meint – wie im Teil III ausgeführt – die materielle Seite, die Funktion und die Art der Referenz. Wie wir sahen, landet Peirce mit seiner Auffassung von einem ideellen Signifikat in einem objektiven Idealismus, was nicht im Sinne von Derrida sein kann, da er genau dieses Präsenzdenken kritisieren muss. Wie hier aufgezeigt werden soll, entwickelt er seine Signifikantenkette daher ganz anders. Seine Zeichentheorie entsteht zunächst in Auseinandersetzung mit Husserl, den er zwar sehr schätzte (u. a. wegen des Konzeptes der eidetischen Reduktion), aber dennoch in einigen wesentlichen Punkten korrigieren musste. Sein Ansatzpunkt ist die von Husserl in LU II/1 getroffene Unterscheidung zweier Zeichenarten, von Ausdruck und Anzeichen, die bei den meisten Lesern Husserls im Rahmen des Gesamtzusammenhangs für eher unwichtig befunden wurden. Für Derridas Kritik sind sie aber zentral, insofern als sie »die Keimstruktur des gesamten Denkens Husserls deutlich werden lassen«. 190 Husserl hatte nämlich Bedeutung für die Ausdruckszeichen reserviert, bei Anzeigezeichen hingegen ist der »sinngebende Akt« des Sprechenden für den Hörenden nicht zugänglich. Dem Hörer bleibt nur eine äußere Wahrnehmung, die aber inadäquat bleiben muss. Doch stellt Husserl fest, dass »alle Ausdrücke in der kommunikativen Rede als Anzeichen fungieren.« (LU II/1 30 und 33–35) Für Derrida hängt nun die ganze Phänomenologie Husserls an der trennscharfen Unterscheidung von Anzeichen und Ausdruck, und eigentlich gelte für Husserl nur das Anzeichen als richtiges Zeichen. Der erfüllte Ausdruck […] geht nicht zusammen mit dem Begriff des Zeichens.« 191 Der reine Ausdruck muss jede Mitteilung ausschließen: »Um also in der Sprache die die Anzeige zu reduzieren und den reinen Ausdruck ins Recht zu setzen, muss also der Bezug zum anderen suspendiert werden«. 192 Diese Funktion erfüllt nach Lagemann »Hus-

Derrida, Grammatologie, S. 84 f. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, S. 52. 191 a. a. O., S. 71. 192 a. a. O., S. 91 und 94. Auf S. 82 stellte Derrida fest, dass die Anzeige in der Welt empirisch Seiendes miteinander verknüpft und daher »Faktizität, mundane Existenz« etc. umfasse, also »all das, was unter die Bewegung der ›Reduktion‹ fällt«. 189 190

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serls Konstruktion des einsamen Seelenlebens.« 193 Und in der Tat ist es die reine Selbstaffektion, die die Präsenz des Subjekts als eines sich selbst gegebenen konstituiert und damit zur Basis für die ganze Phänomenologie bei Husserl wird. Und es ist gerade diese Präsenzphilosophie, gegen die sich Derridas Kritik richtet. Das reine selbstbezügliche »S’entendre parler« wird für Derrida also wichtig und ist geradezu Quelle der transzendentalen Selbstgegenwart, denn das Sich-Sprechen-Hören, die »einsame Rede« vollzieht sich bei Husserl »im Inneren der monadischen Sphäre«, in der die Bedeutung »nicht durch Anzeichen vermittelt, sondern […] dem Bewusstein unmittelbar präsent ist. […] In solchermaßen bedeutungshaft erfüllten, imaginierten phonischen Signifikanten realisiert sich also die Selbstpräsenz des Bewusstseins.« 194 Die Stimme (als »das Nächste zum Denken«) wird also eine entscheidende Rolle spielen, und sie ist in diesem Zusammenhang als nicht-empirische Stimme zu verstehen und eine viel unmittelbarere Selbstaffektion als das Sich-Berühren 195 oder Sich-Sehen, das wie bei Lacan einen Spiegel (nicht nur im wörtlichen Sinn) 196 erfordert; »die reine Phänomenalität der stimmlichen Selbstaffektion (wird) nicht durch die Beteiligung des Fremden, der Außenwelt, des Raumes getrübt.« 197 So erfährt man also ein ungetrübtes Bei-Sich-Sein: »Diese Selbstaffektion ist das, was man Subjektivität oder Für-Sich-Sein nennt. […] Die Stimme ist das Bewusstsein.« 198 Doch für Derrida ist diese bewusstseinkonstituierende Wirkung des s’entendre parler eine Täuschung, denn das Selbst w i r d erst: Hier muss eine Reflexion über Temporalisierung eingeschoben werden, die Husserl mit seinen Überlegungen zum Zeitbewusstsein und zu Retention und Protention selber angestoßen, aber dann wohl nicht konsequent weiterverfolgt hatte. »Diese Bewegung der différance (des Aufschubs) kommt nicht zu einem transzendentalen Subjekt hinzu. Vielmehr erzeugt sie dieses erst. Die Selbstaffektion ist keine Erfahrungsmodalität, die ein zuvor bereits als 193 Lagemann /Gloy, Dem Zeichen auf der Spur, S. 71 bezieht sich hier auf Husserl LU II/1 § 8. 194 Lagemann, a. a. O., S. 73 (my italics). 195 Damit (»Ich fühle mich! Ich bin!«) hatte Herder gegen Descartes’ cogito die Entstehung des Ich- Bewussteins begründet. 196 vgl. Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in: ders., Schriften 1, S. 61–71. 197 Lagemann, a. a. O., S. 76. 198 Derrida, Die Stimme und das Phänomen, S. 136 f.

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Differenzphilosophie als Vermittlung?

Selbst verfasstes Seiendes charakterisierte. Sie bringt das Selbst als Beziehung zu sich in der Differenz mit sich, das Selbst als das Nicht-Identische hervor.« 199

Für den Zeichenbegriff bei Husserl folgt daraus, dass sich die Ausgangsopposition von Ausdruck und Anzeichen auf eine einzige Dimension, die des Anzeichens reduziert, da das einzige Beispiel Husserls für das »reine« Ausdruckszeichen, mit dem die unmittelbare Selbstpräsenz des Selbstbewusstseins gesichert werden sollte, sich als nicht tragfähig erwies und die präsenzmetaphysische Prämisse eines Logo-Phonozentrismus freigelegt hat. Methodisch verfährt die Dekonstruktion Derridas also in mehreren Schritten: Der Aufspürung eines entscheidenden Gegensatzpaares in einem Text folgt eine Analyse der Begrifflichkeit und ihrer Funktion im Gesamtzusammenhang, um dann in einer analysierendsynthetisierenden Erörterung, in der still mitschwingende Konnotationen genauso interessant sind wie das Aufdecken von Inkohärenzen, verborgene Bedeutungen zutage zu fördern. Dabei ist eine »Tiefenlektüre« des Textes nötig, um implizite Sinnschichten zu enthüllen und von innen her, aus dem Text heraus zu argumentieren, aber in der Absicht, das System aufzubrechen 200. Diese subversive Immanenz muss natürlich bei internen Widersprüchen und Inkonsistenzen aufmerksam werden, um »die Spalte ausfindig zu machen, durch die, noch unnennbar, durchschimmert, was außerhalb dieser Geschlossenheit liegt«. 201 Oft führt die Erörterung dann noch zu einer Hierachieumkehr des untersuchten Gegensatzpaares, was besonders deutlich an Derridas Dekonstruktion der Begriffe signifiant und signifié bei Saussure wird, die er erweiternd in der Grammatologie vornimmt. Besonders wird aber auch Rousseau interessant, der in seiner Abhandlung zum Ursprung der Sprache auch wie Platon dem stimmhaften Sprechen gegenüber der Schrift den Vorzug gegeben hat. Die an der Lektüre Husserls gewonnenen Erkenntnisse über die Verbindung von Präsenzmetaphysik und Logo-Phonozentrismus bleiben a. a. O., S. 140. In meinem Ethos der Pluralität, S. 30, habe ich dies am Beispiel von Derridas Apokalypseschrift erläutert, in der er durch geschickte Textauswahl Mystik und Ratio, Offenbarungswissen und Vernunftwissen gegeneinander stellt und analysiert und so anhand von Kants Spott über die »vornehm tuenden Mystagogen« seinen Logozentrismus aufdeckt. 201 Lagemann, a. a. O., S. 63. 199 200

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aber im Hintergrund vorhanden; die einleitenden Passagen zur »Epoche Rousseaus« lesen sich wie eine Zusammenfassung der Folgerungen aus Die Stimme und das Phänomen. 202Natürlich musste das von Derrida so genannte »transzendentale« Signifikat De Saussures seine Aufmerksamkeit erregen, denn es verbirgt einen latenten Idealismus, da es »Urbild« und Ursache für die Bedeutungsfunktion des Signifikanten und in seiner angenommenen idealen Existenz eine vom Meinen und Be-zeichnen unabhängige Instanz und damit vorrangig ist, es muss als präsent gedacht werden. Der Signifikant wird davon abhängig als bloßer Repräsentant des abwesenden Bezeichneten gedacht. (Lineare) Schrift, Zeichen und Ontotheologie sollen aber dekonstruiert werden: »Die Differenz zwischen Signifikat und Signifikant gehört zutiefst in die Totalität jener großen, von der Geschichte der Metaphysik eingenommenen Epoche; […] man kann die Bequemlichkeit und die ›wissenschaftliche Wahrheit‹ des stoischen und später mittelalterlichen Gegensatzes von signans und signatum nicht weiter beanspruchen, ohne dass man auch all seine metaphysisch-theologischen Wurzeln mit übernimmt.« […] Doch »im allgemeinen wird diese Unterscheidung noch von den umsichtigsten Linguisten und Semiologen als selbstverständlich hingenommen, sogar von denen, die meinen, ihre Arbeit beginne dort wissenschaftlich zu werden, wo die Metaphysik endet.« 203

Man muss also vom Signifikanten ausgehen, er darf nicht länger eine bloß abhängige Größe sein. Denn wie Derrida bereits in den Positionen andeutet, jedes Signifikat kann auch die Rolle eines Signifikanten spielen und seinerseits etwas anderes be-zeichnen, auf etwas anderes ver-weisen 204.In diesem Zusammenhang ist auch die (»westliche«) systematische Abwertung der Schrift als sekundär zu sehen: Ganz anders als etwa im Islam werden Schriftzeichen nämlich bloß als Derrida, Grammatologie S. 173–177. Derrida, Grammatologie, S. 27. 204 Derrida, Positionen, S. 56 f. Eco (Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 44) hat dazu gemeint, dass man dann ja auch von einer Signifikatenkette reden könnte – es geht ihm ja immer um Bedeutungen –, übersieht aber, dass Derridas Zeichenbegriff prinzipiell an der Verweisfunktion orientiert ist, eine Signifikatenkette wäre für ihn nicht denkbar, da im klassischen Signifikat das Verweisen einer Signifikantenkette zur Ruhe kommt. Wie bereits gesagt, ist für Eco aber alles ein Zeichen, dass Elemente einer Ausdrucksebene mit denen einer Inhaltsebene in Beziehung setzt. Ausführlicher zu Ecos Argumentation und ihrer Kritik s. Lagemann, a. a. O., S. 124 ff. 202 203

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Hilfsinstrumente zur Ausweitung von Kommunikation über Raum und Zeit hinweg gesehen, die den Sinngehalt des gesprochenen Wortes bloß transportieren: Die Schrift wird transparent und muss den Blick auf die – wesentlichen, ideellen – Bedeutungen freigeben. Derrida untersucht also diesen Zusammenhang von Platon bis De Saussure und findet bei Aristoteles in De interpreatione I, 16 a 3 eine Deutung, nach der das Geschriebene Zeichen für das in der Stimme Verlautende ist, und dieses wiederum Zeichen für die Zustände der Seele 205. Die Stimme ist also »als Erzeuger der ersten Zeichen wesentlich und unmittelbar mit der Seele verwandt«. 206 Schon damit lässt sich eine Kette von Verweisungen (lautierende Stimmzeichen, Sprachzeichen – ich stelle mir z. B. auch Sprachaufnahmen vor-, Schriftzeichen …) zu einem umfassenden Begriff von »Schrift« umdeuten, der eine fortwährende Verschiebung von Bedeutungen beinhaltet, denn das mit dieser Verschiebung von Bedeutungen angezielte Signifikat muss sich entziehen. Die Hierarchieumkehr ist damit vollzogen; und um diese Zeichen dem klassischen Diskurs von Be-zeichnen und Be-deuten zu entziehen, nennt Derrida sie hinfort nicht mehr signes, sondern marques (Goodmans »marks«, »Marken«) und betont damit ihre Materialität. Hier kann man nun auch Laners Untersuchung zur Verzeitlichung des Zeichenbegriffs einbringen, denn Derrida hatte es im Anschluss an Husserls Ausführungen zum inneren Zeitbewusstsein unternommen, dessen Vorstellungen von Präsenz und unmittelbarer Gegebenheit auszuhöhlen und genetische Aspekte in den Vordergrund zu stellen 207. »Die marque kann als materialhaftes Zeichen verstanden werden, das dem jeweiligen Kontext, in dem es gelesen, gesprochen, betrachtet, überhaupt: erfahren wird, niemals ganz äußerlich bleibt. […] Die zeitliche Genese von Sinn und Objektivität sowie die ständige Neu-Formation des Zeichens sind mit der Betonung der Materialhaftigkeit und Trägheit […] gerade nicht als als Bewegung einer ungebrochenen Offenheit zu denken. Die marque […] Derrida, Grammatologie, S. 24. Lagemann, a. a. O., S. 106 weist anschließend darauf hin, dass Umberto Eco genau diese Aristoteles-Stelle anders interpretiere und glaube, dass Aristoteles den Ausdruck »Symbol« dem gesprochenen und geschriebenen Wort vorbehalte (Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 49 f) 207 Etwa in Derrida, Genesis und Struktur und die Phänomenologie, in: ders., Die Schrift und die Differenz, S. 236–258. 205 206

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bezieht ihren Sinn aus einem differentiellen Setting. Hierin kann sie nicht bloß als faktische Präsenz, als feste und bestimmbare Anwesenheit ausgewiesen werden, sondern ist einem differentiellen Feld ausgesetzt, das aber wiederum zeitlich erstreckt und variabel ist.« 208

Hier wird Derridas Begriff der Spur bedeutsam, den er im Interview mit Kristeva als konsequente Anwendung des Saussureschen Differenztheorems bezeichnet. 209 Saussure hatte nämlich die Schrift als äußere Repräsentation der lautlichen Sprache gesehen: »Die Saussuresche Definition der Schrift als ›Abbild‹ und damit als natürliches Symbol der Sprache muss also gerade im Namen der Arbitrarität des Zeichens abgelehnt werden. Abgesehen davon, dass das Phonem das NichtAbbildbare (l’inimaginable) schlechthin ist und dass nichts Sichtbares ihm ähneln kann, genügt es schon, Saussures Ausführungen über die Differenz zwischen Symbol und Zeichen heranzuziehen. Es ist dann nicht mehr einzusehen, wie er einerseits von der Schrift sagen kann, sie sei ›Abbild‹ oder (bildhafte) Darstellung der Sprache, und wie er andererseits die Sprache und die Schrift als zwei verschiedene Systeme von ›Zeichen‹ definieren kann. Es ist die Eigentümlichkeit des Zeichens, nicht Abbild zu sein.« 210

Gegen die Repräsentationstheorie ist es also das ganz Andere der Spur, das »sich als solches ankündigt, in dem, was es nicht ist« 211. Orientiert an Lévinas und Freud ist »Spur« ihm das Verborgene, Verdrängte, nur latent Vorhandene 212 und zielt eher auf das Vorgängige ab: »Es gilt, die Spur vor dem Seienden zu denken.« 213 Im Gegensatz zur normalen Begriffsverwendung, bei der Spuren als Hinterlassenschaften (Fußspuren, Fingerabdrücke, aber auch Eindrücke) nach ihrem Verursacher fragen lassen, ist hier die Spur ausgerichtet »auf das, was jeder semantischen, semiotischen, akustischen oder iko208 Laner, Revisionen der Zeitlichkeit. Zur Phänomenologie des Bildes nach Husserl, Derrida und Merleau-Ponty, S. 175 f. 209 Derrida, Positionen, S. 66 f: »… dass wir jeden Bezeichnungsvorgang als formales Spiel von Differenzen anzusehen haben. Dabei handelt es sich um Spuren …« 210 Derrida, Grammatologie, S. 79. 211 a. a. O., S. 82. 212 Freud widmet er im Zusammenhang mit der Grammatologie einen eigenen Aufsatz: Freud und der Schauplatz der Schrift, in: Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 302–350, besonders aber 302–315. Näheres zu Freuds Begriff der Erinnerungsspur siehe auch Weigel, Grammatologie der Bilder, S. 35 ff. 213 Derrida, Grammatologie, S. 82.

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nischen Differenz vorausgeht. […] Mit der Verschiebung des Konzepts vom Hinterlassenen auf das Vorausgehende, von der Ähnlichkeit auf die Differenz, von positiv vorhandenen Bildern dorthin, wo sich die Spuren im Unkenntlichen, Heterogenen oder Immateriellen verlieren«, 214 ist diese Spur eine reine Bewegung vor aller inhaltlichen Bestimmung, »welche die Differenz hervorbringt. […] Sie ist von keiner sinnlich wahrnehmbaren, hörbaren oder sichtbaren, lautlichen oder graphischen Fülle abhängig, sondern ist im Gegenteil ihre Bedingung«. 215 »Was dabei aufgelöst werden soll, kann man mit Adorno das Ursprungsdenken nennen. Die Metaphysik leitet alles ab aus einem Ursprung. Die Differenzphilosophie will bei der Vielheit stehenbleiben, in der Einheiten (in der Mehrzahl) möglich sind. Wie kann sie das? Indem sie – nach Derrida – einen Ursprung denkt, der kein Ursprung (mehr) ist. […] Der nicht-ursprüngliche Ursprung ist keine Gegenwart vor einer Zeit, die ihr folgt. Er ist im Werden. Er ist weder Ursache noch Wirkung. Das gilt auch von der ›Spur‹ […]. Die Bedeutung der Spur ist niemals präsent, sie ist in einem anderen; anwesend ist sie abwesend.« 216

Stimme, Schriftzeichen und Bildzeichen verweisen daher auf etwas sich Entziehendes, nicht Anwesendes. Insbesondere interessiert sich Derrida in diesem Zusammenhang für die Zeichnung und die dafür nötigen Striche: »In der Zeichnung […] geht es stets um die Erfahrung des Zugs, der differentiellen Spur. Es ist die Erfahrung von dem, was Grenzen zwischen Räumen, Zeiten, Figuren, Farben, Tönen einzieht; eine Grenze, die Möglichkeitsbedingung des Sichtbaren ist und dennoch zugleich unsichtbar bleibt […]. Der dicke Strich wird allerdings nicht durch die ausgedehnte Dicke zum Linienzugbuchstäblich zum Zuge kommt er erst durch die Differentialität, durch die Grenze, die als Grenze und Grenzziehung nicht sichtbar ist. Das zeichnende Verfahren hat hat weder mit dem Intelligiblen

Weigel, Grammatologie der Bilder, S. 31. Derrida, Grammatologie, S. 109. Weigel (a. a. O.) stellt dem die ikonische Differenz von Gottfried Boehm gegenüber »als eine im Sehen realisierte Differenz und als Vorgang […], in dem das Dargestellte im Wege der Kontrastbildung als Bild entsteht« und stellt fest, dass Derridas Spur dem vorausgeht, indem diese Differenzbildung allererst ermöglicht wird. (vgl. Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen, S. 37 f, 49) 216 Kimmerle, Jacques Derrida, S. 79 f. Kimmerle verweist an gleicher Stelle (S. 81 f) auch auf Hegels Zeitbegriff, der als einfaches Auseinanderhalten eine Verräumlichung der Zeit wie auch eine Verzeitlichung des Raumes beinhalte und dem Differenzgeschehen so erst einen Rahmen gebe. 214 215

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noch mit dem Sinnlichen etwas zu tun und ist gerade deshalb auf besondere Weise blind.« 217

Daher folge ich Krewani, die im Textkorpus von Derridas Aufzeichnungen eines Blinden (AB) eine Form von Blindheit identifiziert, die sie »semiotische Blindheit« nennt 218, und an der Eigenart von Linien festmacht (neben der von Derrida so genannten »transzendentalen« und der »sakrifiziellen Blindheit« 219, die in die Phänomenologie weisen, s. u.). Etliche Zeit nach WM interessiert sich Derrida in AB nämlich konsequent auch für den Entzug des Sehens (und damit für das Thema Blindheit) und für Weisen des Sehens und Nichtsehens. »Louvre ou ne pas voir«: unter diesem doppeldeutigen Titel organisierte Derrida 1990 für den Louvre eine Ausstellung zum Thema Blindheit in der Malerei. (Man kann rein akustisch auch verstehen »L’ouvre où ne pas voir«: »Öffne das, wo man nicht sieht« statt »Louvre oder nicht sehen«, AB 38). Seine Reflexionen zu den ausgewählten Bildern wurden im gleichen Jahr als eine Art Katalog zur Ausstellung von der Réunion des musées nationaux herausgebeben. »In den Aufzeichnungen eines Blinden geht es um das Sehen in der Malerei und Zeichnung und dessen Zusammenhang mit einem Sehen jenseits der Sinne: visionäre Einsichten oder Erleuchtungen, die in der Malerei oft als Blendung oder Erblinden dargestellt werden. Der Künstler sieht nicht, was er darstellt, so Derridas These, er arbeitet blind aus dem Gedächtnis und für das Gedächtnis.« 220

Nach Krewani ereignet sich unterschiedliches Sehen, wie z. B. beim Museumsbesucher und Restaurator, in Bezug auf den Strich, der Flächen trennt (wie bei der obigen Adami-Zeichnung) und lässt Unterschiedliches zutage treten. Einmal entzieht sich der Strich (der weder intelligibel noch sinnlich ist, AB 58), und es kommt auf der Bildfläche zu einem Zeichengeschehen. 221 »Der Strich entzieht sich dem Feld des Sehens. Nicht nur, weil er noch nicht sichtbar ist, sondern weil er nicht zur Ordnung des Spektakels, der spektakulären Objektivität gehört (AB 49)«. Er zeigt etwas anderes als er selbst ist. Damit wird er 217 Derrida, Denken, nicht zu sehen, in: Alloa (Hg.), Bildtheorien aus Frankreich, S. 343. 218 Krewani, Philosophie der Malerei bei Jacques Derrida, S. 29–63. 219 Derriada, Aufzeichnungen eines Blinden, S. 54. 220 Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden, Klappentext. 221 Krewani, a. a. O., S. 3.

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Teil eines Signifikanten, er wird zur »Spur«. Das Sehen von Bildern wird so dem Lesen von Texten angenähert. 222 Desgleichen ist m. E. diese »semiotische Blindheit« auch bei den gezeichneten Selbstporträts, die Derrida untersucht (z. B. von FantinLatour, in 7 Varianten) (AB 60 ff), festzustellen, denn die Striche lassen uns den Porträtierten eben nicht sehen: »Das Sichentziehen dessen was für Sie von Betracht ist und Sie betrachtet, Sie unentwegt dabei beobachtet, wie Sie das, worum es sich handelt, oder den, um den es sich handelt, nicht sehen« (AB 68), ist eine Erfahrung, bei der es sich wie bei Karikaturen allenfalls um Unvollständiges handeln kann, Ganzheit ist unmöglich. Man »lässt Sie etwas sehen, ohne Ihnen etwas vom Ganzen zu zeigen«, Sie sehen, weil man Ihnen nichts vom Ganzen zeigt, und um Ihnen nichts vom Ganzen zu zeigen. Die Setzung ruiniert »Präsentation und Repräsentation von allem und jedem.« (AB 72). Wir können immer nur von den Zeichen und Zeichnungen ausgehen und sie als Spuren verstehen, die uns einen Weg zum Eigentlichen führen können. Mit einem anderen als dem klassischen binären Zeichenbegriff und der vollzogenen Hierarchieumkehr also kann man Derrida auch als Semiotiker lesen, und speziell in der Zeichentheorie Goodmans findet man Anknüpfungspunkte, was auch Hilary Putnam bemerkt hat. Obwohl für einen analytischen Philosophen wie ihn – wie auch für seine Kollegen – der Versuch einer Kritik des Dekonstruktivismus »dem Versuch gleichkommt, sich mit einem Nebelgebilde auf einen Faustkampf einzulassen« (ein Vergleich, der an Descartes gemahnt, der der scholastischen Philosophen vorwirft, dass sie ihre Gegner in eine dunkle Höhle locken, um sich dort gefahrlos mit ihnen schlagen zu können), so stellt er doch beunruhigt fest, dass Nelson Goodman zu Schlussfolgerungen gelangt ist, die in mancher Hinsicht denen Derridas »gefährlich nahe« kommen. 223 Nelson Goodman hatte nämlich, wie Krewani bemerkt, in seinen Sprachen der Kunst zwischen notationalen und nichtnotationalen Zeichensystemen unterschieden, und interessant sind nun die nichtnotationalen Zeichensysteme, bei denen verschiedene Eigenschaften der notatioalen Zeichensysteme nicht vorliegen (was gerade für Bilder gilt), sie sind nämlich nicht durch positiv beschreibbare Struka. a. O., S. 38. Putnam, Irrealismus und Dekonstruktion, in ders. Für eine Erneuerung der Philosophie, S. 141,171, 142. 222 223

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turen geprägt. So kann das Instrumentarium Goodmans zu einem Begriff individueller Zeichen im Sinne Derridas beitragen. 224 »Die Individualität des einzelnen Zeichenvorkommnisses geht also in pikturalen Symbolsystemen keineswegs verloren. Sie wird im Gegenteil in dem Gegenstand, hier in der Darstellung, der mit dem Charakter korreliert, mit aufgenommen. Pikturale Symbolsysteme sind sowohl syntaktisch als auch semantisch dicht.« 225

Und damit könnten Derridas Erörterungen zur Zeichenhaftigkeit, auch wenn er auf anderen Wegen dahin gelangt ist, auch für Bildsemiotiker akzeptabel sein. Man kann aber nicht übersehen, dass Derridas Begriff der Spur wie seine ganze Zeichentheorie in phänomenologischen Diskursen wurzelt 226. Das ist Derrida auch bewusst: »Das Denken der Spur kann deshalb so wenig mit der transzendentalen Phänomenologie brechen wie auf sie reduziert werden.« 227

4.3.6 Derrida als (Bild-)phänomenologe In Die Sichtbarkeit des Bildes hat Wiesing gegen ein zeichentheoretisches Bildverständnis eine Auffassung entwickelt, die »Bilder nicht als Zeichen für abwesende Dinge […] verwendet«. Er glaubt, dass Bilder sich »im 20. Jahrhundert schon längst nicht mehr als Repräsentationen verstehen«; zunehmend würde das Bild »um seiner bloßen Sichtbarkeit willen hergestellt und betrachtet«. Man verstehe heute das Bild »als einen Gegenstand, als ein Artefakt, dessen unterschiedliche Leistungen einzig und allein durch das Überziehen einer Oberfläche mit sichtbaren Formen erbracht werden«. 228 Diese an Konrad Fiedler entwickelte Auffassung sieht eine »reine Sichtbarkeit« nur im Bild, quasi als Abstraktion von der gewöhnlichen durch Krewani, a. a. O., S. 48. vgl Krewani a. a. O., S. 52 und 59 ff sowie Mahrenholz, Nelson Goodman und Jacques Derrida. Zum Verhältnis von (post-)analytischer und poststrukturalistischer Zeichentheorie, in Nida-Rümelin (Hg.), Rationalität, Realismus, Revision, S. 258 ff. 226 Derrida gesteht, dass Husserl für ihn Quellfunktion hatte: »Die Begriffe der Differenz und ›Verspätung‹ haben sich uns aus einer Lektüre Husserls aufgenötigt.« (Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 312, Anm. 11) Und in Grammatologie S. 81 und 108 wird diese Auseinandersetzung mit Husserl noch deutlicher. 227 Derrida, Grammatologie, S. 108. 228 Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes, S. 13 ff. 224 225

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andere Sinnesempfindungen verunreinigten Sichtbarkeit empirischer Dinge. Wie eine Haut werde die Sichtbarkeit von der außerbildlichen Wirklichkeit abgezogen und als reine Sichtbarkeit zum Bild. 229 Das, was sich uns zum Sehen gibt, erscheint also im Bild und ist Phänomen unter anderen Phänomenen. (Das schließe nicht aus, dass Bilder als Zeichen für Gegenstände oder Sichtweisen verwendet werden könnten, was sogar oft geschehe. 230) Krewani kritisiert hier zu Recht, dass diese »reine« Sichtbarkeit Illusion sei, denn auch die bildliche Sichtbarkeit sei anhängend, an einen diese Sichtbarkeit erst ermöglichenden materiellen Träger gebunden, womit Wiesing »den Zugang zum Sehen des Bildes geradezu (versperrt), anstatt ihn zu eröffnen.« 231 (Im Gegensatz dazu entwickelt Alloa unter Rückgang auf das Diaphane bei Aristoteles und Husserls »Bildträger« als Medium eine Medientheorie des Diaphanen, ein Gedanke, den ich hier leider nicht weiterverfolgen kann. 232) Die Beschäftigung mit Sichtbarkeit gemahnt aber an MerleauPonty, und besonders der späte Merleau-Ponty mit Das Sichtbare und das Unsichtbare wird für Derrida interessant: denn hier wird das Sichtbare in Bezug auf das gedacht, was sehen lässt und selber unsichtbar ist. Es geht also um Entzug mitten im Sehen und im Sichtbaren. Daher nimmt Derrida in den Aufzeichnungen eines Blinden (AB 56) auch die Metapher des blinden Flecks aus Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung 233auf: Es ist der blinde Fleck, der mit seinem Fehlen von Sehzellen (da dort der Sehnerv in den Augenhintergrund mündet) das Sehen im Entzug von Sichtbarkeit allererst ermöglicht, und im übertragenen Sinn unser eigener Standpunkt, von dem aus wir sehen und die Welt erfahren, der sich uns ebenfalls entzieht bzw. als als solcher in seiner Standpunkthaftigkeit außerhalb unseres Bewusstseins bleibt. In einem späten Vortrag führt Derrida diese Übertragung am Beispiel der Perspektive aus, die auch zentral in Merleau-Pontys Leibphilosophie ist:

229 Krewani, Philosophie der Malerei bei Jacques Derrida, S. 25 verweist hier auf Wiesing, a. a. O., S. 162. 230 Wiesing, Phänomene im Bild, S. 12–21. 231 Krewani, a. a. O. 232 Alloa, Das durchscheinende Bild, z. B. S. 63–122. 233 Merleau-Ponty, PW, S. 117, später in Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 311 ff und bei Waldenfels, Sinnesschwellen, S. 126 f.

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»Der Gesichtspunkt ist die Perspektive, d. h. das Sehen eines Blicks, der, indem er perspektiviert, eine bestimmte Selektion vornimmt. Von der Perspektive zu sprechen heißt, dass man Dinge immer nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet, dass man die Dinge immer von einem bestimmten Standpunkt aus interpretiert, ja nach Interesse, indem man ein organisiertes hierarchisiertes Sehschema ausschneidet, ein Schema, das stets selektiv ist und sich daher ebensosehr der Blindheit verdankt wie dem Sehen. Die Perspektive muss für all das blind werden, was aus ihr ausgeschlossen ist; um perspektivisch zu sehen, muss man nachlässig sein. Man muss für alles andere blind werden, und das passiert ständig. […] Der blind spot, der blinde Fleck […] ist für jedes Sehen, für jedwede Sichtbarkeit, konstitutiv nötig. […] Diese Blindheit ist kein Mangel.« 234

Doch auch das Bildsujet entzieht sich, ist für gewöhnlich nicht anwesend. Derrida unterscheidet daher in AB zwischen transzendentaler Blindheit und sakrifizieller Blindheit. 235 Beides sind phänomenologische Sichtweisen: »Im Kern der Bildkonstitution liegt ein doppelter Entzug vor in Form einer sakrifiziellen und einer transzendentalen Blindheit. Die Genealogie des Bildes verdankt sich einer Abwendung vom Bildgegenstand als Hinwendung zur Markierung (Strich, Zug). Die Abwendung von der außerbildlichen Sichtbarkeit inauguriert eine sakrifizielle Blindheit, die jedoch nicht einer Logik des Tausches folgt. […] Der im Bild produzierte Bruch mit dem Sichtbaren der Welt […] folgt einer anderen Logik: Mit dem Sehen von Bildern wird das Sehen eines Außerbildlichen überhaupt aufgegeben und nicht nur das kontingente Sehen eines partikularen und besonderen Elements geopfert. Daher kann das Sehen eines Bildes auch nicht als bildliche Aneignung aufgefasst werden.« 236

In seiner Organisation der Ausstellung zur Blindheit wählt Derrida als erstes Exponat nämlich zwei Darstellungen der bei Plinius berichteten Geschichte von der korinthischen Töpferstochter Dibutades, deren Geliebter in den Krieg zieht und daher im Bild (als Schattenumriß auf einer Felswand) präsent bleiben soll. Die Abwendung vom außerbildlichen Modell zugunsten der Entstehung des im Bild Dargestell234 Derrida, Denken, nicht zu sehen, in: Alloa (Hg.), Bildtheorien aus Frankreich, S. 330 f und 343. 235 Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden, S. 46. (Im folgenden mit AB und Seitenzahl abgekürzt) 236 Kapust, Phänomenologische Bildpositionen, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildtheorien, a. a. O., S. 268.

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ten setzt, so Derrida (AB 53), »den Ursprung der graphischen Erzählung mit der Abwesenheit oder der Unsichtbarkeit des Modells in Beziehung«. Der dargestellte Gegenstand muss sich notwendig aus dem Bereich der Sichtbarkeit entziehen, um auf der Bildfläche dargestellt werden zu können. Sie nimmt dem Sehen einen Gegenstand, um ihm einen anderen zu geben 237 und gehört nicht der Logik des Tausches an (s. u.). Man fühlt sich zunächst an das Platonische Moment einer »Schattenschrift« erinnert, doch das mimetische Moment wird durch differentielle und supplementäre Charaktere verschoben, eine »radikale Unsichtbarkeit, eine Imperzeption in der Perzeption«, (wie bei Merleau-Ponty, »die Anamnese ist von Amnesie bedroht«) wird sichtbar (AB 54). »Der im Bild herbeigeführte Bruch mit dem Sichtbaren der Welt lässt sich aber nicht als Moment des Tausches verstehen, sondern gehört einer anderen Ordnung an: Mit dem Sehen von Bildern« (z. B. auch Fernsehbildern) »wird das Sehen von Außerbildlichem überhaupt aufgegeben«. Abwesenheit und Unsichtbarkeit des Dargestellten werden wie bei Dibutades vorweggenommen. »Das Sehen von außerbildlichem Sehen wird so vollständig und ohne Gegengabe aufgegeben, dass man sagen kann, es wird geopfert.« 238

Derrida bezeichnet den herbeigeführten Bruch mit dem Sichtbaren der Welt denn auch als »Opferereignis« (AB 46). Das Opfer läuft ins Leere, es ist immer ein Verlust, der stehen bleibt. »Mit dem Sehen des Bildes, so müsste man präzise sagen, wird eigentlich überhaupt nicht mehr gesehen. Das heißt, dass wir das, was wir auf dem Bild sehen, keineswegs als das sehen, was wir außerhalb des Bildes sehen, wir sehen nun innerhalb bildlicher Ordnungen anders.« 239 Mit Merleau-Ponty tritt an diese Stelle ein taktiles Sehen, sowohl beim Betrachter als auch beim Produzenten: die Synästhesie, die in Merleau-Pontys Begriff des »chair« gedacht ist. Das Bild entsteht unter Verwendung bildlicher Mittel völlig neu, es ist keine reproduktive, sondern eine erfinderische Leistung. Die Zeichnung erfindet ihr eigenes Sehen. Es handelt sich aber nicht um »reine Sichtbarkeit« im Bild, befreit von allen Synästhesien natürlichen Sehens, in Derridas »sakri237 238 239

Krewani, Philosophie der Malerei bei Jacques Derrida, S. 18. Krewani, a. a. O., S. 18. Krewani, a. a. O., S. 19.

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fizieller« Bildauffassung verdankt sich das Sehen des Bildes einer erst im Bild gestifteten Sichtbarkeit, die gerade nicht »rein« ist. Krewani sieht darin ein phänomenologisches Bildverständnis, dass das Bild aus allen Reproduktionsverhältnissen herauslöst. Das macht Krewani mit der Unterscheidung von Waldenfels und Max Imdahl zwischen »sehendem Sehen« und »wiedererkennendem Sehen« deutlich. Das sehende Sehen berücksichtigt »den formalen Bildsinn, die Syntaktik des Bildes, die Art und Weise, wie etwas dargestellt ist«. 240 Das »Sehen kann man als autonom betrachten, weil hier die Gesetze des Sichtbaren dem Bild selbst entstammen« (ebd.) (Hingegen ist es das wiedererkennende Sehen, das durch das Bild hindurch auf die Bedeutung der Dinge achtet und ihre Referenz zum Ausgangspunkt des Sehens macht, was einem semiotischen Bildverständnis entspräche.) Hier ist aber nicht entscheidend, was gesehen wird, sondern wie gesehen wird. Daher kann das Sehen eines Bildes auch nicht als bildliche Aneignung verstanden werden. »Das Unsichtbare als das Nicht-Sichtbare ist nicht ein anderswo präsentes, latentes, imaginäres, unbewusstes, verborgenes oder vergangenes Phänomen, sondern ist ein Phänomen, dessen Nichterscheinen von anderer Art ist; und was wir hier mit dem Namen Transzendentalität belegen, ist nicht ohne Bezug zu der reinen Transzendentalität ohne ontische Maske, von der Merleau-Ponty spricht.« 241

Derrida bezieht sich auf die vier disparaten »Schichten« des Unsichtbaren nach Merleau-Ponty: 1. »das, was nicht aktuell sichtbar ist, aber es sein könnte« (z. B. bei anderer Perspektive) 2. der Gliederbau der nicht sichtbaren Existentialien des Sichtbaren 3. das Taktile oder das Kinästhetische 4. die »lekta« oder das »cogito« (AB 56). (Kapust, die Derrida nur als Bildphänomenologen klassifiziert 242, identifiziert die erste Schicht mit dem »potentiell Unsichtlichen« bei Husserl, die zweite mit dem »Scharnier« bei Merleau-Ponty und hält fest, dass die Rede von einem logos und den »lekta« unter 4.) keinesfalls die Festlegung des Bildes auf diskursive Ordnungen impliziert.) a. a. O., S. 26 ff. Sie bezieht sich auf Max Imdahl, Ikonik. Bilder und ihre Darstellung, in: Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, S. 300 ff und Waldenfels, Die Ordnungen des Sichtbaren, ebenfalls bei Boehm, a. a. O., S. 235. 241 Derrida 1997, S. 56. 242 Kapust, Phänomenologische Bildpositionen, in: Sachs-Hombach (Hg.), Bildtheorien, S. 269. Obwohl sie in ihrer Bibliographie Krewanis Dissertation aufführt, greift sie aber nur die beiden Formen von Blindheit auf, die zur Phänomenologie passen und übersieht die oben – und dort – abgehandelte semiotische Blindheit. 240

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Differenzphilosophie als Vermittlung?

Derrida geht es aber noch weitergehend um eine absolute Unsichtbarkeit, und auch dazu zitiert er Merleau-Ponty, der zum »blinden Fleck« ausführt: »Die ›sichtbaren‹ Dinge selbst sind schließlich ebenfalls nur um einen abwesenden Kern herum zentriert: Die Frage stellen: das unsichtbare Leben, die unsichtbare Gemeinschaft, der unsichtbare Andere, die unsichtbare Kultur. Eine Phänomenologie der ›anderen‹ Welt als Grenze einer Phänomenologie des Imaginären, und des ›Verborgenen‹ schreiben. […] Man darf nicht denken, dass ich einem Sichtbaren […] ein Nichtsichtbares hinzufüge […]. Es gilt zu verstehen, dass das Sichtbare selbst eine Nichtsichtbarkeit enthält« (AB 56). 243

Und damit trifft er einen Nerv bei Derrida, der sich vornimmt, den späten Merleau-Ponty erneut zu lesen (AB 56). Ein anderer Ansatz, Derrida gegen jede Repräsentationsvorstellung als Bildphänomenologen zu erweisen und mit Merleau-Ponty zu vergleichen, findet sich bei Laner, die Derridas Anliegen der Temporalisierung 244 aufnimmt, das natürlich gegen die traditionelle präsentische Substanzontologie auch das Bild als Geschehen ausweisen muss. In einem frühen Aufsatz zur »Zeitlichkeit des Bildes bei Derrida und Merleau- Ponty« beschreibt sie das Bild als »erscheinendes Ereignis«, das in ein »Differenzierungsgeschehen« immer schon eingelassen sei 245 und also eine substanzontologische Deutung nicht zulasse. Doch gleichzeitig redet sie davon, dass ein Bild »gelesen« werden müsse, und im weiteren beschäftigt sie sich nur noch mit Derridas Dekonstruktion des Zeichenbegriffs und seiner Temporalisierung, um dann die Ergebnisse auf den Bildbegriff zu übertragen. Sie möchte Derrida als Bildphänomenologen ausweisen, verwendet aber implizit eine semiotische Begrifflichkeit, indem sie die »Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem oder Abbildendem und Abgebildetem« 246 (Dichotomien, die Derrida ja gerade aufbrechen möchte und auch keinesfalls identifizieren würde) thematisiert, also Zeichen Derrida zitiert hier Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 290 f und 311 f. 244 z. B. in Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, S. 325 ff. 245 Laner, Zur Zeitlichkeit des Bildes bei Jacques Derrida und Maurice Merleau-Ponty, in: Hügli (Hg.), Philosophie des Bildes, S. 61. 246 Laner, a. a. O., S. 64 (my italics). »oder« muss hier im Sinne des lat. »sive« gemeint sein, nicht alternativ im Sinne von »aut«. 243

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Jacques Derridas Synthese von Bildphänomenologie und Bildsemiotik

und Bild gleichsetzt, um ihre Untersuchungen zum Zeichen auf das Bild übertragen zu können. (In ihrer späteren Dissertation ist sie da wesentlich vorsichtiger, und fragt, ob man nun ihre Untersuchungen zur Temporalisierung des Zeichenbegriffs auch für eine Phänomenologie des Bildes bei Derrida fruchtbar machen könne. 247) In Bezug auf Derridas Bildbegriff redet sie, um ihn gegen Merleau-Ponty absetzen zu können, hinfort von »impliziter Zeitlichkeit«. In der Tat denkt sie da Derrida implizit weiter, wie sich an einem anderen Text, den sie nicht zitiert, zeigt: denn Derrida hatte sich in seiner Totenrede auf seinen Kollegen Louis Marin auf dessen letztes Buch Des pouvoirs de l’image 248 bezogen und den dort nur einmal im Vorwort auftauchenden Begriff »dynamis« zum Anlass genommen, um zu betonen, dass man hier die Statik suggerierende Frage »Was ist ein Bild?« nicht stellen dürfe. Marin habe in seinem Vorwort daran erinnert, das das Bild traditionellerweise immer als eine Art minderes Sein gegolten habe, d. h. als ein Sein von wenig Macht, doch seine dynamis wäre nach Derrida eine, die sich keiner Onto-Logik zu unterwerfen habe: »Seine Dynamo-Logik wäre nie eine Logik des Seins, eine Ontologie, gewesen.« Für Derrida spielt daher der Begriff der dynamis eine entscheidende Rolle, da »er sich selbst der traditionellen Ontologie entzieht, die ihn im allgemeinen beherrscht.« 249 (Marin hatte aber Kraft, Macht und Gewalt gemeint.) Nach Marin sei es die Kraft und die Stärke des Bildes, die es zur Sicht »drängt« und die, so Derrida, auch bewirke, dass das Bild die Kraft hat, im Tode zu widerstehen, zu bestehen und zu existieren, »gerade da, wo es nicht im Sein oder der Präsenz des Seins insistiert«. »Dieses Sein-zum-Tode würde dazu verpflichten, das Bild nicht als abgeschwächte Reproduktion von dem zu denken was es imitiert, nicht als ein Mimem, ein einfaches Bild, Idol oder Ikon in deren konventioneller Akzeptanz (denn es geht gerade darum, sich von dieser Konzeption abzulösen), 247 Laner, Revisionen der Zeitlichkeit. Zur Phänomenologie des Bildes nach Husserl, Derrida und Merleau-Ponty, S. 171–241. Aus der Überschrift »Implizite Zeitlichkeit. Iterationszusammenhänge und Zeitlichkeit des Bildes« (S. 171) geht hervor, dass sie auch hier Bild und Zeichen identifiziert. Im Text spricht sie jedoch nur von Zeichen. 248 Es gibt eine deutsche Übersetzung: Marin, Von den Mächten des Bildes, Berlin / Zürich 2007. Ein Teil (S. 11–29) ist in Alloas Anthologie französischer Bildtheorien (S. 305–322) abgedruckt. 249 Derrida, Kraft der Trauer. Die Macht des Bildes bei Louis Marin, in: Beyer / Voorhoeve / Haverkamp (Hg.), Das Bild ist der König, S. 28. Der Text ist auch vertreten in Wetzel /Wolf (Hg.), Der Entzug der Bilder, S. 13–36.

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Differenzphilosophie als Vermittlung?

sondern als Zuwachs an Macht als wirklicher Ursprung der Autorität, wobei das Bild selbst Autor wird, Autor und Augment der auctoritas …« 250

Besonders gelte dies von Porträts, z. B. von (abwesenden) Königen, aber auch von inzwischen Verstorbenen, denn hier »gibt ein Bild zu sehen: gibt es nicht einfach sich zu sehen, sondern gibt es in dem Maße zu sehen, wie es sieht, als ob es ebenso sehend wie sichtbar wäre.« 251 Für Derrida hängt die Kraft des Bildes also nicht davon ab, dass man etwas sieht, sondern eher davon, dass man dabei gesehen wird (auch diese Blickumkehr fand sich bei Merleau-Ponty!): »Das Bild ist mehr sehend als sichtbar. Das Bild schaut uns an, betrifft uns« 252 (im Doppelsinn des französischen »ça nous regarde« 253), ja, wir selbst sind für den Blick von außen ein Bild. Diese Umkehrung des Blickwinkels erinnert an das gleichzeitige Sehen und Gesehenwerden bei Cusanus; und sie gilt auch für das Lesen: »Ich wurde also gelesen, und in Szene gesetzt durch das, was ich las, ich fand mich vom Zeitmaß seiner Zeit erfasst …« 254. Marin habe die Macht des Bildes mit einer gewissen ikono-semiologischen Theorie und Logik der Repräsentation begründet und habe gerade in der Re-präsentation »ein Anwachsen, ein Wiederaufleben an Kraft oder ein Supplement an Intensität in der Präsenz […], eine Art von Mächtigkeit oder Potenzierung der Macht« und einen »kapitalen Mehrwert des Bildes« gesehen. Marins wiederholte Frage »Bild?« unter Weglassung der Kopula »ist« muss also anders als Derridas antisubstanzontologische Deutung verstanden werden, und ist wohl auch mehr als ein bloßes rhetorisches Stilmittel, denn sie gibt »folglich zu verstehen, dass das Bild mehr als ein Bild ist, stärker als das durch die Ontologie definierte und abgeschwächte Bild«. Derrida assoziiert in diesem Zusammenhang sogar die christliche Auffassung von »Auferstehung und Verklärung.« 255 Doch Derrida nimmt dieses Fehlen der Kopula »ist« zum Anlass, auf die fehlende statische Prä-

Derrida, a. a. O., S. 30. . ebd. 252 a. a. O., S. 42. 253 Vgl. Derrida, Denken, nicht zu sehen, a. a. O., S. 339, wo er festhält, dass man sogar bei Bildern, die keine Porträts sind, wie z. B. Cézannes Montagne Sainte-Victoire, weniger schaut als angeschaut wird. 254 a. a. O., S. 43. 255 Derrida, a. a. O., S. 33 und 35. 250 251

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Jacques Derridas Synthese von Bildphänomenologie und Bildsemiotik

senz des Bildes anzuspielen. (Das Bild als Blickgeschehen ist natürlich ein phänomenologischer Topos.) Eine weitere Formulierung Marins von der »machtvollen Ausdrucksweise einer Abwesenheit« (my italics) 256, zusammen mit der anders zu interpretierenden Frage »Bild?« gibt Derrida Anlass zu einer dekonstruktiven Lektüre, denn »ein derartiges Überbieten der so intensivierten Präsenz« gebe »den Mangel an Präsenz oder die Trauer zu denken […], welche die uranfänglich oder ursprünglich genannte Präsenz […], die lebendig genannte Präsenz von vorneherein aushöhlt.« 257 Der Effekt des Bildes ist für Derrida also »jenseits der Alternative von Präsenz und Absenz, jenseits der negativen oder positiven Wahrnehmung« von etwas Geisterhaftem (spectralité, ich übersetze anders als Derridas Übersetzer Michael Wetzel 258), von seiner phantastischen Kraft als »Zuwachs im Herzen des Mangels«. 259 »Wir sprechen von Bildern. Das, was nur in uns ist, scheint sich auf Bilder zu reduzieren, die Erinnerungen oder Denkmäler sein können, aber auf jeden Fall auf ein Gedächtnis, das aus sichtbaren Szenen besteht, die nur mehr Bilder sind, weil das andere, wovon sie Bilder sind, genau genommen nur als das Entschwundene erscheint, als dasjenige, was, entschwunden, ›in uns‹ nur Bilder hinterlässt.« 260

Es muss also auch um innere Bilder gehen, die hier als Residuen eines realen Entzugs in der Tat kein Tausch, kein Substitut sind, sondern der sakrifiziellen Blindheit angehören werden, da man vom außerbildlichen Sehen Abschied nehmen muss. Doch dieser Verlust ist wie bei Dibutades die Geburtsstunde des Bildes, das nun ein innerbildliches Sehen ermöglicht. Wenn man so will, stellt Derrida dem Leitgedanken der negativen Theologie eine nicht länger am Präsenzgedanken orientierte negative Phänomenologie an die Seite, die Sichtbarkeit nur als Sonderfall einer allumgreifenden Nichtsichtbarkeit ausweist. »Die transzendentale Phänomenologie (wohnt) insofern, als sie mittels der Suspendierung aller doxa, jeglicher existenziellen Position, jeglicher These

ebd. a. a. O., S. 32. 258 Auch Alloa übersetzt »spectre« mit »Geist« und nicht mit »Gespenst«: Derrida, Denken, nicht zu sehen, in: Alloa (Hg.), Bildtheorien aus Frankreich, S. 325. 259 Derrida, a. a. O., S. 35. 260 a. a. O., S. 41. 256 257

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Differenzphilosophie als Vermittlung?

vorgeht, im selben Element wie die negative Theologie. Die eine wäre eine gute Propädeutik zur anderen. Ziemlich überraschend, nicht wahr?« 261

Der Metaphysik der Präsenz wird also gerade auch für das Bild und die klassische Repräsentationstheorie, nicht nur für den Gottesbegriff, eine Phänomenologie der Absenz, des Unsichtbaren, entgegengestellt. Auch dies kann als Strategie verstanden werden, die abendländische Fixierung auf das Sehen, das der Geschichte der »Idee« und der »Ideenschau« seit Platon unweigerlich anhaftet, zu relativieren.

261

Derrida, Außer dem Namen, a. a. O., S. 97.

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5. Zusammenfassung und Fazit: Entzugsfigur und Präsenz im Lichte der je anderen Bildauffassungen

»Eine Kluft liegt zwischen der anglo-amerikanischen und postanalytischen Philosophie einerseits und dem französischen Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus andererseits. Vertreter beider Seiten begegnen sich überwiegend mit Nichtachtung, zuweilen mit offener Verachtung. […] Ein Großteil der Lehrenden lehnt die prominente französische zeitgenössische Philosophie ab – als tendenziell unwissenschaftliches, narzißtisch-solipstisches Delirieren, das sich zudem vorsätzlich jenseits der Rationalität zu positionieren scheint.« 1

Immerhin gesteht Putnam, einer der prominentesten Vertreter der amerikanischen postanalytischen Philosophie, Derrida zu, dass in seinen Schriften durchaus »Argumente zu finden (sind), obwohl normalerweise nur auf sie angespielt wird, ohne sie wirklich darzulegen«. 2 Doch er findet den Gedanken, »die Vernunft sei nichts weiter als ein repressiver Begriff«, 3 wenig hilfreich. (Dabei geht es Derrida doch bloß um eine bestimmte Form von Rationalität.) In zwei Punkten greift Putnam ein populäres Vorurteil auf: mit dem Paradigma der rationalen (Letzt)begründung falle auch jedes rationale Argumentieren weg. Es geht Derrida ja aber mit Heidegger nur um eine Kritik an der »Ontotheologie«, also dem Bedürfnis, aus einem Bedürfnis nach Sicherheit heraus alles rational (und damit ist dann die abendländische Rationalität gemeint) in letzten Gründen zu verankern. Diese Kritik hängt wiederum mit einer statischen »an Präsenz orientierten« Auffassung des »Seins« zusammen, die Derrida angesichts anderer Weltdeutungen für metaphysisch und spekulativ hält, und von zen-

Marenholz, Nelson Goodman und Jacques Derrida: Zum Verhältnis vom (post-) analytischer und (post-) strukturalistischer Zeichentheorie, in: Nida-Rümelin (Hg.), Rationalität, Realismus, Revision, S. 254–264, hier S. 254. 2 Putnam, Für eine Erneuerung der Philosophie, S. 142. 3 Putnam, a. a. O., S. 171. 1

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Zusammenfassung und Fazit

tralem Einfluss auf die abendländische Kultur. Damit verleiht man aber für Putnam »der Metaphysik eine ganz und gar übertriebene Bedeutung«: Wenn »die Metaphysik die Grundlage unserer gesamten Kultur sei, der Sockel, auf dem alles beruhte«, so müsse ja nun mit dem Zerfall des Sockels »die ganze Kultur gescheitert« und »die Sprache in Trümmerhaufen sein.« 4 Dies ist das oft anzutreffende Missverständnis der Dekonstruktion als Destruktion von allem und jedem, und offenbar haben beide Autoren auch ein anderes Verständnis von Metaphysik. Derrida aber ersetzt, wie man sehen konnte, die am »Sein« orientierte Metaphysik der Präsenz durch eine (undogmatische) Metaphysik der Absenz, wofür Putnam seiner eigenen jüdischen Herkunft wegen durchaus sensibler hätte sein können. Eine Entzugsfigur ist aber nun keineswegs nur in jüdischen oder muslimischen religiösen Kulturen gedacht worden. Als prominente Beispiele seien hier Hegel und Kant angeführt. Kants »Ding an sich« ist genauso wie die transzendenten Ideale (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) dem menschlichen Begreifen nicht zugänglich, da Kants Idealismus das erkenntnisunabhängige Sein als transzendent begreift: Unsere Wirklichkeitserkenntnis ist von den Konstitutionsleistungen der menschlichen Vernunft- und Verstandesvermögen nicht abtrennbar, und es gibt prinzipiell keinen Weg zur »Wirklichkeit an sich«. Und in Hegels »Phänomenologie des Geistes« werden alle Gegensätze dynamisiert und auf einer höheren Stufe im doppelten Sinne »aufgehoben«, so dass eine dialektische Bewegung, vom reinen Für-sich-Seienden ausgehend, nach sich stets wiederholenden »Entäußerungen« ins An-sich-Seiende auf immer höheren Stufen des Geistes (der immer nur als Synthesis von beidem zu verstehen ist) zu Begriffen findet, die in ihren Bedeutungen immer nur auf die jeweiligen Stufen des Zeitgeistes bezogen werden können: auch hier gibt es daher nie absolute Begriffsbedeutungen. 5 Das Absolute in diesem spekulativen System ist nur als Zielbegriff, als Identität von Nichtidentität und Identität, also als Zusammenfall aller mög-

a. a. O., S. 160. Wie auch schon bei Wittgenstein Differenzdenken in Bezug auf Begriffsbedeutungen festzustellen ist: sie zeigen sich als kontextuell vermittelt. Quadflieg; Differenz und Raum. Zwischen Hegel, Wittgenstein und Derrida, untersucht daher bei den genannten Denkern »flüssige« Zeichenbedeutungen, die einen »Denkraum« eröffnen (S. 250–319).

4 5

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Zusammenfassung und Fazit

lichen Gegensätze gedacht, das »Wahre ist das Ganze« am Ende der geschichtlichen Entwicklung, das Absolute ist uns eigentlich nie gegeben. Der Mensch ist also nur Durchgangspunkt eines Geistes, der sich im Verlauf der Geschichte auf immer höheren Stufen in die Richtung dieses Absoluten bewegt. Rechtshegelianer interpretieren das Absolute als das Göttliche, auf das sich die Schöpfung am Ende aller Zeiten wieder hin bewegt, nachdem es sich in die Schöpfung hinein entäußert hat; Linkshegelianer interpretieren marxistisch, indem sie die Gesetzmäßigkeit der dialektischen Prozesse beibehalten, aber Hegels Idealismus auf eine materielle Basis stellen und eine gesellschaftliche Utopie entwickeln, in der die dialektische Gesetzmäßigkeit – hier: von Herrschaft und Knechtschaft – an ein Ende und zur Ruhe kommt. Doch Kant und Hegel wie auch ihre Adepten glaubten als Systemdenker (obwohl es ja durchaus attraktiv und inspirierend sein kann, in diesen Systemen zu denken) noch an die eine universale und objektive Vernunft; eine Vorstellung von kulturell unterschiedlichen Rationalitätstypen war ihnen genauso fremd wie der (post-) analytischen Philosophie. Und hier schlägt – mit einem Impetus gegen sich verabsolutierende rationale Systeme – nun die Stunde des Differenzdenkens. Im letzten Teil habe ich daher über Heidegger und Foucault einen Weg zum Denken Derridas aufgezeigt, um dessen Denken (Putnam zitiert Bezeichnungen wie »nihilistisch, obskurantistsich, zügellose Logorrhö« 6) besser verständlich zu machen. Von Heidegger übernimmt Derrida den Gedanken der ontisch-ontologischen Differenz und radikalisiert ihn, wie auch die Kritik an der Ontotheologie. Denn Heidegger bleibt mit seinem »Andenken an das Sein selbst« dem Gedanken einer Präsenz noch zu verhaftet, obwohl er für Prozesse sensibel geworden ist. (Man muss sich an dieser Stelle erinnern, dass es das Wort »Sein« in der prozessorientierten chinesischen Sprache gar nicht gibt. Es entstammt der Wurzel der indogermanischen Sprachfamilie, dem Sanskrit, mit seiner Neigung zu Hypostasierungen, und Derrida führt einen Gedanken Benvenistes an, der glaubt, »dass die sprachliche Struktur des Griechischen den Begriff des Seins

6 Bernstein, Serious Play: The Ethical-Political Horizon of Jacques Derrida, in: The Journal of Speculative Philosophy 1 (1987) H.2, S. 93–117, hier S. 111, zitiert in Putnam, Für eine Erneuerung der Philosophie, S. 170.

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Zusammenfassung und Fazit

zu einer philosophischen Berufung vorbestimmte.« 7) Derrida setzt die Metapher der negativen Theologie mit ihrem Absenzdenken gegen solche Dominanz eines als präsent gedachten Seins, und hier findet sich ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis Derridas, der denjenigen völlig entgeht, die ihn nur als Theoretiker der Textdekonstruktion sehen. Die Dekonstruktion hat nämlich zum Zweck, die Metaphysik der Präsenz, die für das abendländische Denken so zentral gewesen ist, zu erschüttern, um das westliche Denken über jeden systembedingten Dogmatismus hinaus für andere Denkwelten, z. B. auch in Asien, zu öffnen. Denn die oft an das Sehen gekoppelte Präsenzmetaphysik ist mit einer Aneignungsbewegung verbunden, die per Deduktion alles auf erste Gründe zurückführt und ihre logischontologischen Begründungen gerne für universal hält. Das Fremde bleibt so unsichtbar, im Namen einer vorgeblich universalen Vernunft werden eigene Selbstverständlichkeiten ins Fremde projiziert und für universal gehalten. Das kann als Appropriation gedeutet werden, und dagegen setzt der Poststrukturalismus bzw. das postmoderne Differenzdenken eine verbesserte Aisthesis zum verbesserten Wahrnehmen des Anderen, des Fremden. Man muss sich also fragen, so Waldenfels, »wie ein Wissen und Handeln aussehen kann, das sich Fremdem aussetzt, ohne es einzugemeinden«, indem man es von der eigenen Warte aus deutet. Denn der Aneignung (als »Bändigung von Fremdheit«) auf der einen Seite entspricht eine Enteignung auf der anderen Seite, die aber auch passieren kann, wenn man sich selbst an das Fremde ausliefert. Wie lässt sich zwischen der Andersheit des Anderen und der Eigenheit des Eigenen ein Weg finden? Totale Fremdheit wäre undenkbar, denn auch im Austausch zwischen Eigenkultur und Fremdkultur wäre keinerlei Kommunikation und keine Übersetzung möglich. »Die Fremdheit, mit der wir es hier zu tun haben, darf nicht hinaufgesteigert werden zur totalen Fremdheit.« Denn vor dem Hintergrund der postmodernen Kritik am substanziellen Subjekt 8 hält Waldenfels fest: »Wenn Eigenes sich im Zusammenspiel mit Fremdem herausbildet, so dringt die Andersheit auch in die Sphäre der Intrasubjektivtät ein. Es gibt

Derrida, Das Supplement der Kopula, in: ders., Randgänge S. 220 zitiert Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 89. 8 s. Münnix, Zum Ethos der Pluralität, S. 57–68. 7

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Zusammenfassung und Fazit

dann keinen originären Eigenbereich, der eine Selbstaneignung oder Fremdaneignung zuließe.« 9

Verbunden mit postmoderner Rationalismuskritik bzw. gegen die Verengungen heutiger, oft nur noch instrumenteller Rationalität ist häufig auch eine Rennaissance des Religiösen. Derrida selbst, der sich mit einem gegen ihn gerichteten Atheismusvorwurf auseinandersetzt 10, wie es Vertretern negativer Theologie wie auch z. B. Meister Eckhart, gar nicht so selten geschah, ist dafür ein gutes Beispiel. Auch dafür, dass Metaphysikkritik diese Metaphysik nicht abschafft, aber verschiebt: aus einer dogmatischen Präsenzmetaphysik wird eine undogmatische Metaphysik der Absenz, denn Derrida – anders als Heidegger und Foucault – findet in der Mystik der verschiedenen Religionen und in der damit oft verbundenen negativen Theologie eine Metapher, die die prinzipielle Unerkennbarkeit des Seins, zumindest für unsere rationale Begrifflichkeit, mit dem Begriff der différance verdeutlicht. Derrida kreiert mit diesem Neologismus und dem damit verbundenem Begriff der »Spur« eine weitere Entzugsfigur, die nicht gut ohne den Hintergrund der negativen Theologie gedacht werden kann. Derrida formuliert in seiner Religionsphilosophie eine – nicht durch Wissen zu begründende – (»messianische«) Hoffnung als »Öffnung auf die Zukunft hin«, »auf das Kommen des Anderen als widerfahrende Gerechtigkeit.« 11 Ganz im Sinne von Lyotard ist diese Auffassung von Gerechtigkeit die Hoffnung, dass man dem Einzelnen gerecht werden könne, und ganz im Sinne von Lévinas ist mit »dem Kommen des Anderen« göttliche und menschliche Alterität gemeint. »Diese Gerechtigkeit […] allein gestattet es, jenseits der Gestalten des ›Messianismus‹ Hoffnung auf eine Kultur der Besonderheiten zu setzen, die sich universalisieren lässt, auf eine Kultur, in der die abstrakte Möglichkeit der unmöglichen Übersetzung sich trotz allem ankündigt.« 12

Denn diese Abstraktion soll »ohne den Glauben zu verleugnen, eine universale Rationalität und eine von ihr untrennbare politische Demokratie« freilegen (my italics) 13. Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 57–71, hier S. 69 und 67. Derrida, Außer dem Namen, a. a. O., S. 65 f. 11 Derrida, Glaube und Wissen an den Grenzen der bloßen Vernunft, in: Derrida / Vattimo (Hg.), Die Religion, S. 31 f. 12 a. a. O., S. 33. 13 a. a. O., S. 34 f. 9

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Zusammenfassung und Fazit

Das Politische eint Derrida mit Foucault, (obwohl ich hier auf die politischen Texte verzichtet habe.) Auch Foucault geht es um Dekonstruktion, nämlich der politischen und gesellschaftlichen Macht, die das Leben des Einzelnen in Zwänge einschnürt und durchaus nicht nur »von oben« wirksam ist, sondern auch auf Mikrostrukturen »von unten«, z. B. über Ausschließungsmechanismen, aufbauen kann, mit denen das vorgeblich »Normale« sich selbst als Maßstab setzt und Anderes, Abweichendes aus sich ausschließt. Hatte Heidegger eine Dekonstruktion des Dingbegriffs vollzogen und damit Kritik an den Grundlagen der klassischen ästhetischen Begrifflichkeit geübt, so findet sich bei Foucault eine erste Dekonstruktion des binären Zeichenbegriffs sowie phänomenologische Untersuchungen zum Bild. Derrida führt die Dekonstruktion des Zeichens weiter fort und entwickelt ganz anders als Peirce seine unendliche Signifikantenkette, die es erlaubt, vom Ursprungsdenken und dem Gedanken der kausalen Verursachung abzuweichen (diese Ursache wird oft als Substanz gedacht) und ein Differenzgeschehen anzunehmen, das dem Einzelnen mehr Legitimation beschert und nicht alles auf einen gemeinsamen Urgrund zurückführt. Dieser Ur»grund« muss sich entziehen, er steht über allen Gegensätzen und gemahnt an die coincidentia oppositorum des Cusanus (die über Schellings Cusanus-Übersetzung auch auf Hegel gewirkt hat.) Doch wo bei christlichen Mystikern bei allem Verzicht auf positiv beschreibende Begrifflichkeit dann doch noch ein Umschlag in eine Hyperessentialität stattfindet, so Derridas Kritik, tappt die différance nicht in diese Falle und ist daher eher dem Dao vergleichbar, das jenseits des abendländischen Seinsdenkens sich stets entziehender Ur»grund« »ist« (es geht eigentlich nur um einen Weg der Entweltlichung, und um Prozesse des Werdens bzw. Entwerdens, um sich dem Absoluten anzunähern.) Denn auch das Dao ist Quelle und Ur»grund« für alle Differenzen, entzieht sich, es ist über den Gegensätzen, die erst aus ihm entspringen. Derridas différance ist aber mit einer Instanz vor den Gegensätzen auch für das Advaita Vedanta-Denken der Einzweiheit akzeptabel, wie auch für das daraus entstanden buddhistische Nirwana-Denken. (Letzteres ist europäisch formuliert, denn das Nirwana ist ja über Sprache und Denken hinaus und jenseits von diesen.) Und natürlich entspricht es jüdischen und muslimischen Vorstellungen von Verborgenheit und Entzug. Es ist deutlich geworden, welche Folgen das für den Bildbegriff hat: Das traditionelle abendländische Denken, das auf der ursprüng630 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

Zusammenfassung und Fazit

lich platonischen Zweiweltentheorie aufruht, denkt in Dichtomien, wie Urbild / Abbild, Zeichen / Bezeichnetes, Natur / Geist, Objekt / Subjekt, Außen / Innen etc., und verfolgt eine Repräsentationstheorie, die Bilder und Zeichen als sekundär und jedenfalls in einem statischen Denken verortet, das durch die Cartesische Spaltung in res extensa und res cogitans noch weiter zementiert wurde. Mit Dualismen, egal ob sie den Sachverhalten entsprechen oder nicht, lässt sich trefflich denken (Heidegger sprach, wie wir sahen, von einer »Begriffsmaschinerie, der nichts widerstehen kann.«) In asiatischen Denkkulturen, z. B. im chinesischen Konfuzianismus, gelten aufgrund des Prozessdenkens Gegensätze nicht als kontradiktorisch und einander ausschließend, sondern als komplementär; und »andere« Perspektiven können als bereichernd erfahren werden, das Eigene wird also nicht absolut gesetzt (gemäß der suggestiv visualisierten Denkfigur des Yin und Yang). Daher ist es Derridas Anliegen, das hier geradezu als Verkörperung einer interkulturellen Perspektive gesehen werden kann, solche Dichtomien des abendländischen Denkens aufzuspüren und zu überwinden, denn diese Dualismen der Sprache sind künstlich und können den Weg zum wahren »Sein«, das z. B. eher in asiatischen Kulturen eher als Nichtung gedacht wird, versperren. (Denn es geht ja immer um ein Werden und Entwerden). Man muss also immer, so schon Nagarjuna, über die Gegensätze der Sprache hinaus. Genau deshalb wirkt Derridas Denken sich nun auch auf die Begriffsopposition von Bildphänomenologie und Bildsemiotik aus, die sich im abendländischen Diskurs entwickelt hat. Wie wir sahen, reichen die Wurzeln des Repräsentationsdenkens sehr weit zurück: Die Zeichentheoretiker können auf eine lange kontinuierliche Tradition zurückgehen, schon in der Stoa wurden signans und signatum unterschieden, und Eco hat in KS eine ausführliche Geschichte der Denotation von Aristoteles bis hin zu Hobbes und Mill erforscht. (Als Zeichen des Bundes Gottes mit seinem Volk wurden aber die Gesetzestafeln mit den zehn Geboten schon in mosaischer Zeit in einer »Bundeslade« mitgeführt, und auch die Propheten galten als »Zeichen«.) Der Streit um Bildphänomenologie oder Bildsemiotik hat leider geradezu zu feindlichen Lagern geführt und im Inneren des philosophischen Denkens die gleichen Strukturen offenbart, die man in der interkulturellen Philosophie bekämpfen möchte: die Absolutsetzung des Eigenen, verbunden mit einer Abwertung bzw. sogar oft auch 631 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

Zusammenfassung und Fazit

Verachtung des Anderen, Fremden, bei dem man sich auch gar nicht die Mühe macht, näher hinzusehen bzw. hinzuhören. Das Fremde muss dabei abgewertet werden, um die eigenen Selbstverständlichkeiten bzw. die eigene Identität zu schützen bzw. nicht in Gefahr zu bringen. Die ist aber gar nicht in Gefahr, kann sie doch das Fremde und andere Perspektiven, wie es schon Leibniz getan hat, als Bereicherung und Ausweitung des eigenen Denkhorizonts erfahren und nicht als Verunsicherung und Bedrohung des Eigenen. Die positive Akzeptanz (und günstigerweise auch: Verstehensversuche der Gewordenheit) anderer Welten würde Gewaltprävention bedeuten. Unter der Überschrift »Welten« beschreibt Stenger daher nicht nur »Fremderfahrung als Vorschein der hermetischen Welterfahrung«, sondern auch eine Pluralität von Welten, die er einem »Globalismus der einen Welt«, für den es nicht wenige Anzeichen gebe, entgegensetzt. »Meine Hauptthese besteht ja darin, dass dass mit der Einsicht in die Pluralität, d. h. in die Notwendigkeit veritabler und ehrlicher Gesprächsfindung der Welten in der Tat ein neues Zeitalter anbricht, dem zugleich eine neue Bewusstseinshaltung folgt.« 14

Die interkulturelle Philosophie muss daher über bloße Komparatistik hinausgehen, denn Begegnungen der Kulturen sind »Immer mehr als bloße Begegnungen, nämlich Übergänge, was immer auch eine Veränderung der sich begegnenden Welten nach sich zieht.« 15 Und das hätte keineswegs den so gefürchteten totalen Relativismus und die damit einhergehende »postmoderne Beliebigkeit« zur Folge. Wie ich früher gezeigt habe, muss Perspektivismus nicht in Relativismus enden. Es gibt dann nicht verschiedene Wahrheiten je mach kulturell geprägter Weltsicht, sondern verschiedene Sichtweisen, die sich ergänzen und bereichern können und einen Zuwachs an Wissen und Problembewusstsein zur Folge haben. Dem postmodernen Paradigma der Pluralität entsprechen aber auch in besonderer Weise je ein Denker aus dem Lager der Semiotiker und dem Lager der Phänomenologen:

Stenger, Philosophie der Interkulturalität, S. 898. Die Idee verschiedener Welten wird bei Quine übrigens abgelehnt, weil sie dem »Prinzip der Sparsamkeit« widerspräche, das eins der Dogmen des (post-)analytischen Argumentierens bezeichnet werden kann. Stenger, ebd.

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Zusammenfassung und Fazit

Auf phänomenologischer Seite bietet sich mit Sartre ein Denker, der mit seiner Theorie des freien Entwerfens Pluralität konsequent gedacht hat. Zimmermann sieht hier einen Ansatzpunkt, interkulturelle Philosophie als Reflexion über und von Kulturen untereinander festzumachen 16. Und bei den Semiotikern ist es Goodmans Konstruktion von Welten (im Plural), die für Putnam ebenfalls eine Art Dekonstruktion der einen alleinmaßgeblichen Welt darstellt. Doch denken sowohl Goodman als auch Sartre mit ihrem konsequenten Nominalismus bzw. atheistischem Materialismus in begrifflichen Gegensatzpaaren (extensional /intensional, Essenz/Existenz etc.) und bleiben weitgehend »westlichen« Denkstrukturen verhaftet, wohingegen Derrida als Verkörperung einer interkulturellen Perspektive sich bemüht, solche künstlich gewachsenen Dichotomien, die quasi ein automatisches Denken erlauben, das sich im wesentlichen immer nur innerhalb seines eigenen weitgehend konsistenten Horizonts bewegt, zu hinterfragen, um sie zu überwinden und das Denken für Anderes zu öffnen. Da Putnam den »irrealistischen Konstruktivismus« Goodmans de facto genauso als Dekonstruktion der einen Welt empfindet, sollen hier noch einmal abschließend Goodman und Derrida gegeneinander gestellt und verglichen werden, zumal »zahlreiche Motive, die Derrida für seine Logozentrismus-Zurückweisung hat, auf Voraussetzungen (beruhen), die in Goodmans umfassenden Symbol- Sprach- und somit Rationalitätsbegriff gerade unterlaufen oder ebenfalls kritisiert sind«. 17 Goodmans Nominalismus ist nicht nur Metaphysik-, sondern auch Realismuskritik, denn er entzieht korrespondenztheoretischen Auffassungen den Boden, da er »beansprucht, die Realismus-Idealismus-Unterscheidung zu unterlaufen, samt verwandter Konzeptionen wie der Idee der Objektivität, der Opposition von wahr und falsch etc.« 18 Auch Goodman unterminiert implizit die Idee einer Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem, da wir durch unsere Symbolverwendung das Symbolisierte erst konstituieren, das nicht unabhängig von und vor allem nicht vor dem Zeichen existiert. (Mit

Zimmermann, Kritik der interkulturellen Vernunft. Mahrenholz, Nelson Goodman und Jacques Derrida: Zum Verhältnis von (post-) analytischer und (post-)strukturalistischer Zeichentheorie, in: Nida-Rümelin (Hg.), Rationalität, Realismus, Revision, S. 255. 18 Mahrenholz, a. a. O., S. 255. 16 17

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Zusammenfassung und Fazit

Mahrenholz verwende ich hier – anders als Peirce – die Begriffe Zeichen und Symbol synomyn und meine das, »was Goodman symbol und Derrida signe oder später marque nennt: ein konventionelles Zeichen, arbiträr arbeitend, nicht im Verhältnis einer natürlichen Ähnlichkeit oder Teilhabe zum Referenten stehend, nicht ikonographisch oder indexikalisch fungierend.« 19) Goodmans Nominalismus, zusammen mit seinem Konstruktivismus hat ebenfalls eine »Verflüssigung gängiger Ontologien« 20 zur Folge, wie schon Putnam bemerkte. Beide Autoren gelangen also zu teilweise ähnlichen Konsequenzen, aber aus unterschiedlichen Richtungen: einer aus der Affirmation, der andere aus der Kritik der klassischen Zeichentheorie heraus. Das liegt für Marenholz an der unterschiedlichen Zeichenkonzeption, denn »Derrida denkt das Zeichen von der Sprache her, Goodman denkt umgekehrt die Sprache vom weiten Feld der Zeichen her, als einen ihrer Sonderfälle. Derrida bezieht sich in seiner Analyse des Begriffs zumeist auf einen von der Linguistik […] stammenden, an Sprache und Schrift orientierten Zeichenbegriff. Goodmans Symbolbegriff geht von der Gesamtheit menschlicher Entäußerungsformen aus, außer von verbalen also von bildlichen, klanglichen, gestischen, skulpturalen etc. Symbolisationen. Symbol ist für ihn alles, was die Funktion der Bezugnahme erfüllt.« 21

Damit ist Goodmans Vorgehen an diesem Punkt eigentlich pragmatischer, wenn man will, eigentlich auch phänomenologischer, doch der nominalistische Gedanke, die Referenz extensional zu erklären, durch Erfüllungsklassen, die wie jede Menge jeweils als aktual seiend aufgefasst werden (auch eine rekursive Mengendefinition würde so etwas wie eine definierende Eigenschaft benötigen), muss Derrida zuwiderlaufen. Er kritisiert also den Gedanken der Referenz auf ein vorhandenes fixes Signifikat und stellt ihm den Gedanken der Differenz entgegen, bei dem sich Bedeutungen durch die Differenzverhältnisse und Verschiebungen unter den Zeichen selber innerhalb der Signifikantenkette ergeben. Goodmans Konstruktivismus mit dem Aufbau verschiedener Welten (wobei immer der Werkstattcharakter betont werde) könnte für Marenholz und auch für Putnam 22 sogar a-metaphysischer sein 19 20 21 22

a. a. O., S. 255. a. a. O., S. 257. a. a. O., S. 257. Putnam, a. a. O., S. 159 und Marenholz, a. a. O., S. 263.

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Zusammenfassung und Fazit

als Derridas Dekonstruktion. Nur geht es Derrida ja gar nicht um AMetaphysik, sondern um eine andere Metaphysik, die den Vorstellungen von Entzug und Verborgenheit in vielen religiösen Kulturen besser entspricht. Auch jüdische, christliche, muslimische, buddhistische »Welten« sind konstruiert, geworden, und werden weiter konstruiert (Wegen der inneren Diversität, u a. auch in Bezug auf den Bildbegriff, die ich aufgezeigt habe, muss man auch hier im Plural sprechen; den Katholizismus gibt es ebensowenig wie den Islam oder den Buddhismus, auch wenn es von außen manchmal so aussehen mag und wir dazu neigen, partikuläre Erfahrungen zu verallgemeinern.) Stenger macht darauf aufmerksam, dass sich auch quer zu solchen Fraktionierungen Verbindungen ergeben können, so etwa stehe »die mit dem Islam verbundene arabische Kultur dem Westen […] wohl weitaus fremder gegenüber als der Islam und das Christentum dies tun.« Und »in der Sozialstruktur, dem Familienbewusstsein und Clanempfinden gibt es wiederum zwischen arabischer und afrikanischer Kultur weit größere Konvergenzen, was wiederum für viele afrikanische Regionen und Staaten den Islam attraktiver erscheinen lässt.« 23 Derrida scheint mir hier im Vergleich zu Goodmans dezidiert antimetaphysischer Haltung sensibler für Differenzen zwischen den jeweiligen religiösen Kulturen. Putnam hat sich am Ende – als Erbe einer analytischen Tradition, der man eher Konservativismus nachsagt – trotz einiger Sympathien für Derrida – auf die Seite Goodmans geschlagen und damit einer konstruktivistischen Position gegenüber dekonstruktiven Ansätzen den Vorzug gegeben. Denn Dekonstruktion ohne Rekonstruktion ist für ihn nicht nur gefährlich, sondern auch (politisch) verantwortungslos 24. Man muss aber hier ergänzen, dass Derrida durchaus Ersetzungen gefunden hat: So etwa die des binären Zeichenbegriffs durch die Signifikantenkette in der Spur der différance, die der dogmatischen Präsenzmetaphysik durch eine undogmatische Metaphysik der Absenz, die der Ersetzung des Strukturdenkens durch ein genetistisches Paradigma. (Letzteres wird von anderen Denkern, nicht erst seit Whi-

Stenger, a. a. O., S. 898 f. Putnam, Irrealismus und Dekonstruktion, in: ders., Für eine Erneuerung der Philosophie, S. 171.

23 24

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Zusammenfassung und Fazit

teheads Process and Reality, seit langem auch vollzogen, da ist er keineswegs alleine.) Es ist aber auch richtig, dass weitere Dekonstruktionen und Rekonstruktionen noch zu leisten sind und mehrere Generationen beschäftigen werden: es handelt sich um nichts weniger als den Aufbau einer wirklich globalen Philosophie, die ihre gewohnte eurozentrischen Horizonte überschreiten kann und auf Augenhöhe (ich komme auf Wimmers Unterscheidung dreier Dialoghaltungen zurück) andere, z. B. asiatische und afrikanische, aber auch südamerikanische Denkwelten nicht nur als andersartig, sondern auch als gleichwertig akzeptieren kann, die wirklich auch zuhören lernt und nicht dem Andersartigen die vertrauten eigenen Denk- und Interpretationsschemata aufnötigt, sondern bereit ist, sich auf neue Denkwege zu begeben. Es galt früher in vielen Kreisen als politisch »in«, sich gegen den amerikanischen »US-Imperialismus« zu wehren bzw. Ressentiments gegen kulturell ungebildete, aber machtpolitische Einflusssphären aufbauende Vertreter des »American Way of Life« zu pflegen, die sich als Hort der Freiheit und demokratisches Lehrmodell für die ganze Welt empfahlen. Seit aber Said mit seinem Orientalismusbuch die Postkolonialismusdebatte angestoßen hat, können wir solchen Kulturimperialismus und auch Kulturalismus, der immer die eigene Kultur obenan setzt und für besser als alles andere hält, auch auf uns selbst beziehen und an uns selbst beobachten. Was früher eher ausgeblendet blieb ist nämlich unsere eigene – europäische – Kolonialismusgeschichte. 25 Kerner erklärt in diesem Zusammenhang mit ihren Postkoloniale(n) Theorien auch, wieso der Marxismus mit seiner Überschreitung der Hegelschen Herr-Knecht-Dialektik in den ehemaligen Kolonien auf so fruchtbaren Boden fallen konnte, und erwähnt in diesem Zusammenhang zwei poststrukturalistische Denker, die »im Feld postkolonialer Ansätze besondere Spuren hinterlassen haben«: Man kann raten: Foucault und Derrida. Foucault habe mit seiner Machtanalytik vielfältige Projekte im Bereich postkolonialer Diskursanalysen angestoßen, da er »einen Zusammenhang zwischen Macht und Wissen unterstellt bzw. verschiedenen Wissensformen, nicht zuletzt akademischem Wissen bedeutende Machteffekte zuschreibt«. Und der zweite, Derrida, habe mit seinem Anliegen der Dekonstruktion Ar25

Vgl. Kerner, Postkoloniale Theorien, S. 20–33.

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Zusammenfassung und Fazit

beiten inspiriert, die die »vorliegenden Texte auf Momente epistemischer Gewalt und implizite Hierarchisierungen überprüfen – Momente, die den proklamierten Ansprüchen der untersuchten Texte in der Regel zuwiderlaufen«. 26 Um nun den Bildbegriff interkulturell zu öffnen, war ein Rückgang auf das Bilddenken der verschiedenen Religionen nötig, die sich in unterschiedlichen Kulturen je anders ausgeprägt haben, aber dennoch auch in säkularisierten Kulturen immer noch von Einfluss sind. Damit sollte mehr Verständnis für kulturell geprägte Sensibilitäten und Traditionen wachsen. Es zeigt sich nun aber angesichts des Bilderstreites zwischen Phänomenologie und Semiotik, dass Goodman eher nicht vermittelnd wirken kann. Sein Zeichenbegriff wie der von Peirce ist eher logischmathematischer Provenienz, wohingegen Derrida ihn in einen umfassenden Schrift- und Sprachhorizont einstellt. Zudem ist Goodman mit seinem konsequenten Nominalismus dezidiert anti-metaphysisch eingestellt, Derrida hingegen etabliert eine andere Metaphysik, die u. a. auch für muslimische Kulturen von Belang sein könnte; sein an eine umfassende Schrift gekoppelter Bildbegriff könnte auch als Brücke für Muslime fungieren, die europäische Moderne besser verstehen zu können. Sein anderer Zeichenbegriff erlaubt phänomenologischen Zugriff, und seine – wie ich sie genannt habe – »negative Phänomenologie«, die gleichwohl Phänomenologie bleibt, erlaubt das Verweisen auf außerbildliche Sinngebung. In Derridas Denken gehen also Semiotik und Phänomenologie eine Verbindung ein, die es erlaubt, ohne die jeweilige Gegenseite abzuwerten, eine mittlere Position im Bilderstreit zu finden, die auch noch in der Lage ist, das Denken aus kulturell bedingten Fixierungen zu befreien. Bilderverbote werden auf allen Seiten bleiben – auch im sogenannten permissiven »Westen« gibt es Unerträgliches im Bild. Es ist Aufgabe von Bilddiskursen, die – auf Augenhöhe – zwischen den verschiedenen Kulturen zu führen sind, weiteres Wissen über die jeweiligen Sensibilitäten und Bildvorstellungen zu erwerben und respektvoll mit eben diesen umzugehen.

26

Kerner, a. a. O., S. 34.

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Verzeichnis der Siglen

(wenn nicht anders angegeben, werden diese Werke im Text mit Angabe der Seitenzahl zitiert) AB AT CM CP FdU FFF FP EN Hua K KdRP KS KrV KW LA LU MG MK MM NT OD PB PLZ PU PW S SS TLP VM WM WW

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Bibliographie Wetzel, Michael, Bilderstreit und Wiedergabe. Heideggers Ursprungstheorie des Kunstwerkes und ihre Dekonstruktion, in: Neuber, Simone/Veressov, Roman (Hg.), Das Bild als Denkfigur. Funktionen des Bildbegriffs in der Geschichte der Philosophie, Paderborn/München 2010, S. 243–256 Wetzel, Michael, Derrida, Stuttgart 2010 Wetzel, Michael/Wolf, Herta (Hg.), Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, München 1994 Wiesing, Lambert, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek bei Hamburg 1997, Neuaufl. Frankfurt a. M. 2008 Wiesing, Lambert, Phänomene im Bild, München 2000; Paderborn 22007 Yousefi, Hamid Reza/Scheidgen, Hermann-Josef/Oosterling, Henk (Hg.), Von der Hermeneutik zur interkulturellen Philosophie. Festschrift für Heinz Kimmerle zum 80. Geburtstag, Nordhausen 2010

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Bild 1: Marc Chagall: Mose vor dem brennenden Dornbusch, Lithographie 1966 (Quelle: Werner Trutwin, Wege zum Licht, S. 45) Bild 2: Die 10 Sefiroth und 22 Pfade im Kabbala-Baum nach Isaak Luria (Quelle: Wikimedia Commons , Foto: Anon Moos) Bild 3: Porträt des Rabbi Tzvi Hirsch ben Yaakov Ashkenazi, 1714, Jewish Museum London (Quelle: artsandculture.google.com, Presented by the Children of Reverend and Mrs Raphael Harris) Bild 4: Moritz Oppenheim: Lessing und Lavater besuchen Moses Mendelssohn in seinem Haus, 1856, Judah L. Magnes Memorial Museum, Berkeley California (Quelle: Wikimedia Commons) Bild 5: Barnett Newman, Der Name I, 1949, Daros Collection, Zürich, (Quelle: Edward van Voolen, Jüdische Kunst und Kultur, S. 125, Foto: Dominique Uldry) Bild 6: Yad Vashem, Halle der Namen, Courtesy of Moshe Safdie and Assiciates Inc. (Quelle: Edward van Voolen, Jüdische Kunst und Kultur, S. 118, Foto: Timothy Hursley) Bild 7: Klassizistische Ikonostase, 18. Jahrhundert, Tornio Orthodox Church, Tornio, Finnland, (Quelle: Wikimedia Commons , Foto: Mikael Lindmark) Bild 8: Syrisch-orthodoxe »Ikonostase« als Vorhang vor dem Altar, Kloster Mor Gabriel, Südostanatolien (Foto: Gabriele Münnix) Bild 9: Michelangelo: Sixtinische Kapelle (Ausschnitt Gottvater und Adam) (1509–12) (Quelle: Bildarchiv Herder) Bild 10: Frans Hogenberg: Ikonoklastische Ausschreitungen von Calvinisten in der Liebfrauenkathedrale von Antwerpen am 20. August 1566, Kupferstich 1588 (Quelle: Wikimedia Commons) Bild 11: Mohammed, auf den Schultern seines Schwiegersohns Ali stehend, entfernt heidnische Götzenbildnisse von der Kaaba, Zeichnung aus dem »Garten der Reinheit«, Persien, Ende 16. Jh., Ausschnitt aus der Handschrift in der Dauerausstellung Islamische Kunst im Pergamon-Museum Berlin (Quelle: Werner Trutwin, Wege zum Licht, S. 200) 677 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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Bild 12a: Maschrabiyya, klassisch: Mostar (Foto: Lukas Trabert) Bild 12b: Maschrabiyya, modern: Front des Institut du Monde Arabe in Paris, von Jean Nouvel mit Fotolinsen, die den Lichteinfall steuern, konzipiert (Quelle: Paulhans Peters, Paris. Die großen Projekte, S. 67, Foto: Georges Fessy) Bild 13: Jan de Vries, »Perspective«, Kupferstich Nr. 30 von 1604 (Quelle: Hans Belting, Florenz und Bagdad, Eine westöstliche Geschichte des Blicks, S. 262) Bild 14: Der Prophet auf dem Berg Hira, 16. Jahrhundert, Topkapu Museum, Saraybibliothek, Hazine 1221, S. 155 a (Quelle: M. S. Ipsiroglu, Das Bild im Islam. Ein Verbot und seine Folgen, Bild 103) Bild 15: Saih Lutfullah Moschee, Eingangs-Iwan mit Muqarna-Nische, Isfahan (Quelle; Wikimedia Commons , Foto: Diego Delso) Bild 16: Muqarna-Innenkuppel des Saals der zwei Schwestern (Alhambra, Granada) (Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Jebulon) Bild 17: Innenraum der Hagia Sophia, Istanbul (Foto: Gabriele Münnix) Bild 18: Gesicht aus den Namen von Allah, Muhammad, ʿ Ali, Husain (Quelle: Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, S. 601) Bild 19: Arabeskenkuppel der Moschee Saih Lutfullah von außen, Isfahan (Quelle: Alexandre Papadopoulo, Islamische Kunst, Abb. 164, Foto: Jean Mazenod) Bild 20: Istanbul aus der Vogelperspektive, Itinerar von Nasuh al Matraqui, Beschreibung der Stationen des Feldzugs Sultan Suleiman Hans nach den beiden Iraq, 1. Hälfte 16. Jh., Unikat, Universitätsbibliothek Istanbul (Quelle: M.S. Ipsiroglu, Das Bild im Islam. Ein Verbot und seine Folgen, Bild 110) Bild 21: Mohammeds Nachtflug, Ausschnitt, Metropolitan Museum New York (Quelle: Rumi-Kalenderblatt für 2011 von C. Barks, Rumi. Heart of the Beloved, Wall Calendar New York, Amber Lotus 2010) Bild 22: Astronomen, Universitätsbibliothek Istanbul, 2. Hälfte 16. Jh. (Quelle: M. S. Ipsiroglu, Das Bild im Islam. Ein Verbot und seine Folgen, Wien/München, 1971, Bild 102) Bild 23: Trimurti-Skulptur, Elephanta Caves, Mumbai, 5.–8. Jahrhundert n. Chr. (Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Christian Haugen)

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Bild 24: Bild des tanzenden Shiva im Feuerkranz, Bronzeskulptur, 10. Jahrhundert, Los Angeles County Museum of Art (Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Los Angeles County Museum of Art) Bild 25: Das Rad des Lebens als Mandala, Wandmalerei in einem tibetischen Kloster (19./20. Jh.) (Quelle: Werner Trutwin, Wege zum Licht, Foto: Martin Brauen) Bild 26: Zwei Ochsenbilder (Quelle: Hugo Makibi Enomiya-Lasalle, Der Ochs und sein Hirte, Zen-Augenblicke, hg. von Bogdan Snela, München 1990) Bild 27: Magritte, So lebt der Mensch, 1933, National Gallery of Art, Washington D.C. (Quelle: David Sylvester, Magritte, S. 88 und 387) Bild 28: Magritte, Die Tiefen der Erde (Les profondeurs de la terre), vier gerahmte Leinwände auf Glas gezogen, 1930, René Withofs, Brüssel (Quelle: David Sylvester, Magritte, S. 235) Bild 29: Magritte, La carte blanche, 1965, National Gallery of Art, Washington, Sammlung Mr. and Mrs. Paul Mellon (Quelle: David Sylvester, Magritte, S.398, Foto: José Naramjo) Bild 30: Jan Vermeer van Delft, Der Soldat und das lachende Mädchen, um 1657, The Frick Collection, New York (Quelle: Wikimedia Commons) Bild 31: Jan Vermeer van Delft, Die Perlenwägerin (aus Brad Finger, Jan Vermeer, S. 50, um 1665, The National Gallery of Art, Washington D.C. (Quelle: Wikimedia Commons, Foto: The National Gallery of Art) Bild 32: George Grosz, Die Sonnenfinsternis, 1926, Collection of the Heckscher Museum, Huntingdon, NY (Quelle: Peter-Klaus Schuster, George Grosz: Berlin – New York, S. 346) Bild 33: Giorgio de Chirico, Der große Metaphysiker, 1924–26. SMPK Nationalgalerie Berlin, (Quelle: Peter-Klaus Schuster, George Grosz: Berlin – New York, S. 59) Bild 34: Hans Holbein d.J., Die Gesandten, 1533, National Gallery London (Quelle: Wikimedia Commons) Bild 35: Vincent van Gogh, Schuhe, 1886 (Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Van Gogh Museum, Amsterdam) Bild 36: Diego Velázquez, Las Meninas, 1656. Original im Prado, Madrid (Quelle: Wikimedia Commons) Bild 37: Magritte, La clef des songes (Der Schlüssel der Träume, 1930, Privatsammlung (Quelle: David Sylvester, Magritte, S. 215) 679 https://doi.org/10.5771/9783495820629 .

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Bild 38: Magritte, Das ist ein Stück Käse, 1937, Menil Collection, Houston (Quelle: David Sylvester, Magritte, S. 266, Foto: Hickey&Robertson, Houston) Bild 39: Joseph Kosuth, Einer und drei Stühle, »One and three chairs«, 1965 (Quelle: Reinold Schmücker, Identität und Existenz, Titelbild, Sammlung Paul Maenz, Neues Museum Weimar) Bild 40: Valerio Adami, Dissegno per un rittrato di W.B. vom 24.8.1973, private Sammlung, Foto Galerie Maeght (Quelle: Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, S. 216, Foto: Bacci) Bild 41: Magritte, Philosophie im Boudoir, 1947, Privatsammlung (Quelle: David Sylvester, Magritte, S. 392, Foto mit frdl. Genehmigung von Sothebys New York) Autorin und Verlag haben gewissenhaft versucht, alle Quellen und Rechteinhaber zu ermitteln und aufzuführen. Etwaige Inhaber von Bildrechten, die nicht ausfindig gemacht werden konnten, bitten wir, sich mit dem Verlag in Verbindung zu setzen.

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