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German Pages 282 [272] Year 2021
Julia Regina Meer Expeausition
Edition Moderne Postmoderne
Für Rudolf
Julia Regina Meer (Dr. phil.), geb. 1985, lehrt an der Karl-Franzens-Universität Graz und ist Mitarbeiterin an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien. 2020 war sie Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien und promovierte 2019 am Institut für Philosophie der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Bildtheorie, der Ästhetik, der Kunsttheorie sowie den Wahrnehmungs- und Körpertheorien.
Julia Regina Meer
Expeausition Bild und Malerei als korporale Vollzugsformen
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien (MUK) und des Landes Steiermark
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5830-9 PDF-ISBN 978-3-8394-5830-3 https://doi.org/10.14361/9783839458303 Buchreihen-ISSN: 2702-900X Buchreihen-eISSN: 2702-9018 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Vorwort .................................................................................. 9
Einleitung Korporale Philosophie der Bilder ......................................................... 15 Différance und Expeausition ............................................................. 21 Denken entlang des Bildes .............................................................. 27 Aufbau .................................................................................. 33
Erster Teil: Differenzieren und Berühren – Die Geste des Malens Butades oder der Ursprung der Malerei.................................................. 39 Die Höhle ................................................................................ 43 Epopteia und Anamnesis ................................................................ 49 Ziehen eines Strichs..................................................................... 53 à – Differenz als Materie.................................................................. 61 Berühren als Konkretion des Mit-seins .................................................. 67 Präsenz ................................................................................. 77 Von der Höhle in die Grotte .............................................................. 85
Die Idee als Formwerdung ................................................................ 91 Die Grotte als Ort der Exposition ........................................................ 99 Zwischenresümee .......................................................................107
Zweiter Teil: Das exponierte Subjekt – das (Selbst-)Porträt Narcissus oder der Ursprung der Malerei ............................................... 113 Die andere Richtigkeit des Porträts ..................................................... 117 Narcissus als Erfinder der Malkunst .................................................... 125 Blindheit am Ursprung der Malerei ..................................................... 133 Auto-Allo-Mimesis ...................................................................... 139 Wiedererinnern......................................................................... 145 Subjekt als Sujet ........................................................................ 151 Im Geflecht der Blicke .................................................................. 159 Zwischenresümee ...................................................................... 165
Dritter Teil: Expeausition und Porosität – der Akt Zeuxis oder der Ursprung der Malerei ................................................... 171 Ebenbild und Trugbild ...................................................................175 Mimesis und Methexis ...................................................................179 Körpergräber und Haut-Hüllen.......................................................... 183 Der exponierte und widerständige Körper ............................................... 191 Inkarnat ................................................................................ 201
Nacktung ............................................................................... 209 Porosität ................................................................................215 Unnachahmlichkeit und Partizipieren .................................................. 223 Zwischenresümee ...................................................................... 227
Resümee Anhang Abkürzungen ............................................................................241 Literatur ............................................................................... 245 Abbildungsverzeichnis ................................................................. 269 Bildcorpus............................................................................... 271
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im März 2019 an der Universität Wien verteidigt habe. Die Herstellung von Texten verdankt sich nicht nur dem eigenen Einsatz, sondern viele Menschen, Institutionen und Umstände sind daran beteiligt. Ihnen soll an dieser Stelle Dank ausgesprochen werden. Dies gilt besonders für den Betreuer dieser Arbeit, Arno Böhler, der stets unterstützend wirkte und entscheidende Impulse gab. Seine Forschungsseminare eröffneten überdies Räume für kollegialen Austausch sowie kreative Überlegungen. Mein Dank gilt auch den beiden Gutachterinnen, Sybille Krämer und Elisabeth von Samsonow, für ihre genaue Lektüre und die produktiven Kommentare. Die Dissertation entstand zu großen Teilen im Rahmen des FWF-Projektes »Bodytime. An interdisciplinary inquiry on regular body rhythm and its dysfunctions« unter der Leitung von Reinhold Esterbauer an der Karl-Franzens-Universität Graz. Diese Zusammenarbeit war nicht nur hinsichtlich meiner wissenschaftlichen Entwicklung, sondern auch darüber hinaus sehr bereichernd. Mein Dank richtet sich außerdem an Peter Gaitsch für die kritischen Anregungen sowie Isabella Bruckner und Eveline Thalmann für das sorgfältige Lektorat. Mein besonderer Dank geht an die Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien (MUK), die durch ihre Förderung diese Veröffentlichung ermöglicht hat. Durch die Unterstützung wissenschaftlicher Publikationen trägt die MUK dem Bewusstsein um die essenzielle Bedeutung von Forschung und Innovation als treibende Kräfte kultureller und gesellschaftlicher Entwicklung Rechnung. Auch das Land Steiermark hat durch seine Förderung die Publikation maßgeblich unterstützt. Besonders bedanken möchte ich mich bei meiner Familie: bei Rudolf für seine stete Begleitung während des Denk- und Schreibprozesses und bei meiner Mutter für ihr Verständnis und ihren Rückhalt.
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Expeausition
Abb. 1: Lucian Freud (1993): Painter Working, Reflection. Öl auf Leinwand. 101,2 x 81,7 cm. Privatbesitz. Fotografie des Kunsthistorischen Museums Wien (Stefan Zeisler, Sanela Antic).
Ent. aus: Sabine Haag/Jasper Sharp (Hg.) (2013): Lucian Freud. München, London, New York, 213, Kat. 36.
Vorwort
Zentral in der Bildmitte: Ein Mann, nackt, entblößt. Ins Bild gezogen, darin gebannt. Seiner Lebhaftigkeit entzogen, erstarrt, wie eingefroren. Frontal auf die Betrachtenden gerichtet. Der Blick konzentriert. In seiner linken Hand hält er eine rechteckige Palette. Die andere Hand ist erhoben, in ihr eingeklemmt ein Malmesser. Die Figur setzt sich aus: radikal, nackt, schonungslos. Ein Porträt. Ein Akt. Der Maler Lucian Freud, der sich während des Malakts selbst porträtiert, nackt. Ein Selbstporträt als Akt: Es zeigt den Maler beim Malen, im Akt des Ins-Werk-Setzens seines Körpers auf der Bildoberfläche. Der Malakt als das Hervorbringen von sich selbst als Maler auf der Leinwand. Mit dem erhobenen Malmesser rührt der nackte Maler direkt an den Bildkörper, trägt Farbe auf und schürft sie ab; die Figur kratzt mit dem Malmesser auch an der Bildoberfläche, als ob sie darauf hinweisen möchte, dass sich hier noch etwas zeigt, der Bildkörper – »Painter Working, Reflection« aus dem Jahr 1993.
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Korporale Philosophie der Bilder
Bilder sind äußerst vielgestaltig und umfassen Gegenstände der Kunst wie Gemälde, Statuen, Schauspiele, Kino, Fotografien und Gedichte als auch alltägliche Formen wie Muster, Diagramme, Karten und Projektionen, Sprachbilder, Schemata, Emoticons und darüber hinaus ebenso Vorstellungsbilder wie optische Halluzinationen, Träume, Erinnerungen und Ideen. In der Wissenschaft und besonders der Philosophie waren Bilder zwar immer präsent, haben aber nie einen zentralen systematischen Stellenwert1 eingenommen. Diese Situation hat sich in den letzten 30 Jahren stark verändert, indem anschließend an den linguistic turn2 auch von einem pictorial turn3 bzw. einem iconic turn4 gesprochen wird. Im Zuge dessen werden Bilder auch vermehrt im philosophischen Kontext untersucht und Diskussionen über eine eigene Bildwissenschaft5 entstanden. Als historischer Ausgangspunkt für die Überlegungen zur Bildlichkeit dient dabei häufig die Philosophie Platons. Dementsprechend nachhaltig haben seine Reflexionen die Bildforschung bis ins 21. Jh.6 geprägt. Platons Reflexionen zur Bildlichkeit finden auf unterschiedlichen Ebenen seiner Philosophie statt. So ist das Bild bei Platon einerseits Gegenstand der Kritik, vor allem an Schrift und Malerei, andererseits aber auch integraler Bestandteil von
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Bredekamp 2013, 36. V. a. Austin 1962; Rorty 1967; Searle 1971. Mitchell 1992. Zwei Jahre nach William J. T. Mitchells pictorial turn (1992, 89-94) führt Gottfried Boehm (2006a, 11-38) den Begriff des iconic turns bzw. der ikonischen Wendung ein. Sachs-Hombach (2009a, 7-16) zeichnet die Geschichte des Wechsels vom linguistic turn zum iconic turn prägnant nach und reflektiert verschiedene Lesarten sowie Probleme. Über die Geschichte des Bildakts gibt Bredekamp (2013, 48-51) einen kritischen Überblick. Siehe dazu auch Boehm 2006, 13-17 sowie Maar/Burda (Hg.) 2004. U. a. Belting (Hg.) 2007a; Belting 2011; Bisanz 2010; Frank/Lange 2010; Hornuff 2012; SachsHombach 2003; Sach-Hombach (Hg.) 2005; 2006; Schulz 2009; Wiesing 2005. So baut u.a. Bredekamp seine »Theorie des Bildakts« (2013, 36-43, 52, 56) explizit auf Platon auf. Aber auch in den Texten von Alloa (2011a, 15-61), Asmuth (2011, 47-54), Belting (u.a. 2011, 168-184) sowie in Einführungen zur Bildtheorie wie bei Schulz (2010, 29-47; 56-60) wird auf die platonische Bildtheorie an zentralen Stellen Bezug genommen.
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Konzeptionen wie der Mimesis und der Methexis, und damit grundlegender ontologischer wie metaphysischer Überlegungen. Schnittmengen bestehen auch zur politischen Philosophie, der Ethik, der Seelenlehre und der Naturphilosophie.7 Platons Schriften, vor allem diejenigen aus seiner mittleren und späteren Periode, beinhalten außerdem eine Vielzahl malerisch-technischer Ausdrücke, die er allerdings weniger um ihrer selbst willen denn als Metapher gebraucht. In seinen früheren Dialogen werden Kunstschaffende und ihre Techniken als geläufiger Teil des Lebens in Athen erwähnt.8 Zudem schafft Platon in Form seiner Gleichnisse selbst starke Bilder, die eine große Wirkmächtigkeit auf die Philosophiegeschichte ausüben. Von besonderer Relevanz für die folgenden Überlegungen ist Platons ontologische Bilddefinition: Theaitetos hält in Platons Dialog »Sophistes« fest, dass das Bild in einer Weise gefasst ist, in der das Sein mit dem Nicht-Sein in einer äußerst seltsamen Verflechtung steht.9 Das Bild ist kein Seiendes an und für sich (kath’auto), sondern kann nur in Beziehung auf anderes seiend genannt werden (pros alla).10 In Bezug auf die Philosophie von Parmenides gibt Platon so eine Bilddefinition, die zunächst auf ontologisch vertikaler Ebene verläuft: Das Bild ist Sein und NichtSein gleichzeitig.11 Erst diese eigentümliche Zwischenstellung ermöglicht Prädikation auf horizontaler Ebene zwischen Abbild und Urbild, führt aber auch dazu, dass das Bild von seiner ontologischen Basis her stets prekär bleibt: Indem es als eigenständig Seiendes zurücktritt, seinen eigenen Körper unsichtbar werden und eine Darstellung hervortreten lässt, ist es Bild. Der Körper des Bildes, der Träger, die Leinwand, die Holztafel etc., ist damit zwar notwendiger Bestandteil des Bildes, muss aber unsichtbar werden, um etwas anderes, eine Darstellung, eine Referenz, einen Inhalt, zum Vorschein zu bringen. Sobald sich das Bild aber in seiner eigenen Seiendheit zeigt, verliert es seinen Bildstatus und es kommt zu einer Konfrontation mit seiner Körperlichkeit, wodurch der Bildcharakter zerstört ist. Hierin liegt die erste Gefahr des Bildes. Die zweite besteht darin, dass es falsch verweist, indem es falsch wiedergibt bzw. seinen Körper so gut versteckt, dass man das Dargestellte für wahr hält. Um diese Gefahren beherrschbar zu machen, ist es Platon nach der
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Poetsch 2019, 11. Zur umfangreichen textexegetischen Forschung an Platons Bildbegriff siehe u.a.: Ambuel 2007; 2010; Därmann 1995, 13-186; Deleuze 1993; Demand 1975; Destrée/Edmonds (Hg.) 2017; Dominick 2005; 2010; 2013; Else 1958; Gallop 1965; Halliwell 2002; Janaway 1995; Kardaun 1993; Karfik 2009; Keuls 1978; Klär 1969; Koch/Männlein-Robert/Weidtmann (Hg.) 2016; Lee 1964; 1966; Mesch 2014; Mouroutsou 2010; Niehus-Pröbsting 2003; Patterson 1985; Ringbom 1965; Schuhl 1933; Schweitzer 1953; Sekimura 2009; Tarrant 1946; Vasiliu 2001; Wiesing 2005; Wilms 1935. Keuls (1978, 72- 87; 110-117) analysiert diese Verwendungsweisen Platons ausführlich. Plat. soph. 240c1-2. Plat. soph. 255c14-16. Poetsch 2019, 31, der auch deutlich macht, dass diese vertikale Bilddefinition in der Forschung oftmals zugunsten einer horizontalen oder präskriptiven Deutung zurückgestellt wurde.
Korporale Philosophie der Bilder
ontologisch vertikalen Klarstellung besonders daran getan, auch die horizontale Ebene des richtigen Verweisens der Bilder und ihr (richtiges) Ähnlichkeitsverhältnis (Mimesis) zu legitimieren, wobei die Seiendheit der Bilder, ihre Körperlichkeit reduziert auf eine Notwendigkeit bleibt, aber nicht mehr thematisch wird. Im Folgenden werden Platons Dialoge zwar textnah, dennoch bereits interpretativ begriffen, indem sie erstens in Bezug zu zwei Mythen und einer Legende gestellt werden, die in historischen Malereitraktaten verschiedener Epochen als mythologischer Beginn der Malerei tradiert wurden und/oder Grundzüge der Malerei und der Bilder aufzeigen. Eine erste strukturelle Verbindung zu diesen Mythen und der Legende kann mit dem VI. Buch der »Politeia« hergestellt werden, wenn Bilder in einer aufsteigenden dreifachen Gliederung benannt werden: »Ich nenne aber Bilder zuerst die Schatten, dann die Erscheinungen im Wasser und die sich auf allen dichten, glatten und glänzenden Flächen finden, und alles dergleichen«12 . Indirekt sind damit der Mythos der Butades, die den Schatten ihres Geliebten umrandet, der Mythos des Narcissus, der sich im Wasser gespiegelt sieht, sowie die Legende des Zeuxis, der sich vom Glanz des Bildes täuschen lässt, angesprochen. In ihnen werden für die Malerei zentrale Darstellungsweisen und Techniken wie u.a. die Vasenmalerei, die Höhlenmalerei, der Schattenriss, die Porträtmalerei, die Technik des Schattierens oder das Spiegelparadigma verhandelt. Neben dieser strukturellen Parallele lässt sich auch ein inhaltliches Naheverhältnis zur platonischen (Bild-)Philosophie nachweisen: das Höhlengleichnis, die Ideenlehre, die Anamnesis und die Epopteia für den Mythos der Butades, Mimesis und (Selbst-)Erkenntnis für den Mythos des Narcissus und die Unterscheidung von Ebenbild und Trugbild sowie das Konzept vom Körper für die Legende des Zeuxis. Diese Verbindungen herauszustellen, ist eines der erklärten Ziele der Arbeit. Zweitens werden Platons Überlegungen in Bezug zu einer malerischen und künstlerischen Praxis, vor allem derjenigen der Malerei der Renaissance, gestellt. Dabei sind es insbesondere die historischen Traktate zur Malerei und Kunst13 , welche die Einflüsse von Platons Philosophie auf die Malerei und umgekehrt bezeugen. Entscheidend dabei ist, dass diese Texte einer konkreten malerischen Praxis entstammen und damit großteils darauf ausgelegt sind, anderen Auskunft und
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Plat. rep. 509e1-510a3. Leon Battista Alberti (1435/1436): De Pictura/Della Pittura; Filippo Baldinucci (1681): Vocabolario toscano dell’arte del disegno; Raffaello Borghini (1548): Il riposo; Cennino Cennini (um 1400): Il libro dell’arte o trattato della pittura; Anton Francesco Doni (1549): Disegno; Giorgio Vasari (1550): Le Vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, da Cimabue infino a’tempi nostri. Alle historischen Texte werden in der Folge nach Abkürzungen – orientiert an »Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike«, hg. von Hubert Cancik/Helmuth Schneider/Manfred Landfester. Stuttgart, Weimar 1996 – und den gängigen Zählungen angegeben. Eine Übersicht der Abkürzungen findet sich am Ende der Arbeit.
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Anweisungen über Maltechniken zu geben.14 Durch Einbezug dieser Traktate zur Malerei kann die künstlerische bzw. malerische Praxis des Verfertigens von und des Denkens in Bildern in eine historische Perspektive gerückt werden. Die Bildforschung hat ausgehend von Platons Theorie des Bildes eine lange und heterogene Entwicklung,15 gleichwohl steht in ihr – ähnlich wie auch in der Forschung zu Platon – die horizontale Ebene des Verweisens im Vordergrund. Das hat zur Folge, dass Bilder besonders im Hinblick auf ihre darstellende, abbildende sowie bedeutungsstiftende Funktion hin untersucht werden und damit der Zeichencharakter bzw. die Darstellungsebene der Bilder betont wird, während die eigene Seiendheit der Bilder, ihre Korporalität und Materialität, philosophisch und bildtheoretisch marginalisiert bleibt. Dementsprechend wird auch der semiotische Ansatz16 innerhalb der gegenwärtigen Bildforschung von der Mehrzahl der Forscherinnen und Forscher vertreten,17 bei dem die Frage im Vordergrund steht, wie Bilder Bedeutungen oder Darstellungen generieren können. Auch analytisch ausgerichtete Bildtheorien18 beschäftigen sich vorwiegend mit dem logischen Funktionieren, Verweisen und Argumentieren der Bilder. Einen Gegenpol zu diesen Ansätzen nehmen phänomenologische Bildtheorien19 ein, in denen Bilder nicht auf Zeichen, Sprache oder Argumente zurückgeführt, sondern in ihrer spezifischen Irreduzibilität betont werden.20 Dabei können drei Phasen unterteilt werden: In der ersten Phase wird die Thematik des Bildbewusstseins in den Vordergrund gestellt,21 während in der zweiten Phase der Fokus auf das Bild als Modus des In-der-Welt-Seins, des Ausdrucks und der Nichtung gelegt wird.22 In der dritten Phase werden methodische Fragestellungen betont. Das heißt, nicht die Frage nach dem Was des Bildes steht im Vordergrund, sondern 14
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So stellt etwa Cennino Cennini schon am Beginn von »Il libro dell’arte« fest, dass er als Künstler für andere Künstlerinnen und Künstler schreibt, das heißt, sein Buch ist das Resultat einer langen malerischen Praxis, welche er selbst zwölf Jahre lang von seinem Lehrer Agnolo Gaddi und dieser wiederum von seinem Vater Taddeo gelernt habe, der wiederum 24 Jahre lang ein Schüler des großen Giotto war. (Cenn. lib. 1) Einen Überblick über die Vielfalt der Positionen in der Bildforschung geben u.a. Günzel/Mersch (Hg.) 2014; Busch/Därmann (Hg.) 2011; Alloa (Hg.) 2011b; Hügli/Chiesa (Hg.) 2010; Sachs-Hombach (Hg.) 2009b; Belting (Hg.) 2007a; Boehm (Hg.) 2006c. U. a. Danto 1964; Eco 1972; Goodman 1995; Majetschak (Hg.) 2005; Halawa 2008; Lopes 1996; Nöth 2005; Schapiro 1995; Scholz 2004; Walton 1990; Wollheim 2001; Barthes 1981; Baudrillard 1978; Boehm 2007; Damisch 2011; Wiesing 2005; Graw 2017. Bonnemann 2014, 18. U. a.: Lopes 1996, 149-152; Wollheim 2001; Allwein/Barwise (Hg.) 1996; Harth/Steinbrenner (Hg.) 2013. Eng damit verknüpft sind wahrnehmungstheoretische Bildtheorien. Die folgende Einteilung geht zurück auf Kapust 2009, 255-283, bes. 255. Husserl 1968; 1976, 89-91, 110-116, 206-209; 1980; Fink 1966, 71-79. Heidegger 1977b; Merleau-Ponty 1967; 1984; 1994; Sartre 1971.
Korporale Philosophie der Bilder
diejenige, wie das Bild erscheint bzw. zur Erscheinung bringt, sowie diejenige nach den spezifischen Eigenschaften des Bildes.23 Indem das Bild als Objekt reiner Sichtbarkeit gedacht wird, ist der Körper oder Träger des Bildes zwar Voraussetzung für sinnliches Erscheinen – diese Aufwertung ist aber nur eine vermeintliche, denn es erscheint dabei die Darstellung, während der Körper verschwindet oder bestenfalls durchscheint. Das Bild entkoppelt sich damit auch in phänomenologischen Bildtheorien von der Materialität des Trägers ebenso wie vom subjektiven Wahrnehmungsakt.24 Im Anschluss an die semiotischen und phänomenologischen Strömungen25 entwickelt Jacques Derrida die Praxis der Dekonstruktion. Darin kritisiert er ein Verständnis von Repräsentation, wonach diese als Stellvertretung von Abwesendem durch ein Anwesendes gefasst wird, ohne den medialen Eigensinn zu berücksichtigen.26 Aufbauend auf Derrida, der seine Philosophie vor allem anhand der Schrift entwickelt,27 kommt es auch zu einer Weiterentwicklung der Bildforschung,28 in der die materiellen Beschaffenheiten und Voraussetzungen des Bildes stärker Beachtung finden29 . An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit ein, indem sie sich zum Ziel setzt, das Bild in seiner ontologisch prekären Bestimmung zwischen Sein und Nichtsein, Körper und Darstellung zu begreifen. Dabei werden Bilder weder primär von ihrer Sinnlichkeit noch ihrer Verweis- oder ihrer Erkenntnisfunktion her verstanden, sondern ausgehend von ihrer Ausgestelltheit, ihrer Exposition. Damit diese brisante Zwischenstellung des Bildes beschrieben werden kann, ist es in einem ersten Schritt notwendig, die dem Bild eigene Materialität näher zu untersuchen und zu
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U. a. Alloa 2011a; Boehm 2006a; 2006b; Böhme 1995; 1999; 2001; Didi-Huberman 1999a; Rautzenberg 2009; Seel 2000; Waldenfels 1990; 2005; 2010; Wiesing 2005; 2008. Morscheck 2014, 46. Neben diesen sei auch die anthropologische Bildtheorie erwähnt. Sie setzt es sich zum Ziel, über eine Analyse des Problems der Bildlichkeit und der Bildkompetenz zu gattungsspezifischen bzw. kulturhistorischen Erkenntnissen über das Wesen und Wirken des Menschen zu gelangen. Gegenstand des Interesses sind also die anthropologischen Voraussetzungen, die Merkmale und die Konsequenzen der humanen Bildpraxis. Im Ausgang von Hans Jonas’ Konzept des homo pictor (2006) konnte sich die Bildanthropologie vor allem im deutschsprachigen Raum als eigener Zweig bildwissenschaftlichen Forschens etablieren (v.a. Belting 1990; 2011; Debray 2007; Kämpf/Schott (Hg.) 1995), auch wenn sich in den jüngeren Debatten verhältnismäßig wenig Studien mit explizit bildanthropologischer Perspektive finden. (Halawa 2014, 69) Siehe dazu ausführlicher Bonnemann 2014, 19-20; Boehm (Hg.) 2001b; Halawa 2014, 69-75; Wiesing 2005, 18-25. Fliescher/Vogman 2014, 81. Derrida 1976; 1983. U. a. Barthes 1981; 1984; Didi-Hubermann 1999a; 1999b; 1999c; 2002; Marin 2003; 2007; Brunette/Wills (Hg.) 1993. U. a. Mersch 2002; 2007; 2011; Finke/Halawa 2012a; (Hg.) 2012b.
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betonen. Diese wurde zwar in der Bildforschung stets anerkannt, dem Bildträger zugeschrieben und unterschiedlich begrifflich bestimmt.30 Gleichwohl blieb die Rolle der Körperlichkeit dabei auf ein Minimum reduziert.31 Im Gegensatz dazu wird im Folgenden für eine potenzierte Korporalität argumentiert, welche das Bild auszeichnet: Es exponiert seinen Bildkörper und es exponiert körperlich seine Darstellung – die damit keinen dichotomischen Gegensatz bilden, der suggeriert, das eine wäre körperlich, das andere unkörperlich. Die Betonung der Körperlichkeit impliziert dabei keine Umwertung im Sinne dessen, dass der Bildkörper primär zur Darstellung wäre. Vertreten wird vielmehr ein Konzept von Körperlichkeit, das diese Dichotomie unterwandert, indem Körper als Modi des Exponierens begriffen werden. Werden Bilder konsequent von ihrer Zwischenstellung und damit ihrem ontologisch prekären Status gedacht – und dies ist im Folgenden der Anspruch –, folgt daraus, dass das Konzept von Bildlichkeit nie ein starres oder statisches sein kann, sondern flüssig bleibt. Aus diesem Grund werden Bilder als korporale Vollzugsformen verstanden. Somit kann ein Gegengewicht zu den vorherrschenden Paradigmen der Forschung gegeben werden. Bildkörper und Darstellung, Sein und Nichtsein werden in ihrer ständigen Durchdringung und ihrem prekären Verhältnis gedacht. Um diesem diskursiv Ausdruck zu verleihen, sind begriffliche Modifikationen nötig: Diese stammen teilweise aus der Philosophie, kommen aber zu einem großen Teil auch aus der Kunst selbst, wenn etwa Begriffe wie derjenige der Haut oder des Fleisches aus den Malereitraktaten der Renaissance oder auch von Lucian Freud selbst aufgegriffen werden.
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So spricht etwa Husserl (1980, § 14, 32) vom Bildding, Jonas (2006, 113) vom physischen Vehikel, Brandt (1999, 15) vom Tatbestand, Belting (2011, 17) vom Körper des Bildes und Boehm (2001a, 7) vom Faktum. Selbst wenn diese Marginalisierung methodische Gründe hat (u.a. Wiesing 2008, IX), handelt es sich um eine Abstraktion, die dem Bild nicht gerecht zu werden vermag.
Différance und Expeausition
Der Philosophie von Jean-Luc Nancy kommt eine Ausnahmestellung gegenüber den genannten Ansätzen zu, da er ausgehend von der Dekonstruktion und den phänomenologischen Bildtheorien einen ontologischen Ansatz1 entwickelt, wodurch seine Überlegungen in einem bemerkenswerten Naheverhältnis zu Platons Bildbegriff stehen und maßgeblich darauf referieren – auch wenn dies großteils implizit erfolgt.2 Die von Platon aufgezeigte Sonderstellung des Bildes zwischen Sein und Nichtsein wird in der Forschung zwar durchaus als Grundmotiv anerkannt3 , aber häufig als reduzierte Seinsweise4 aufgefasst, und damit negativ konnotiert. Für Nancy hingegen ist es genau dieses Zwischen, welches das Bild besonders interessant macht. Er sieht darin einen Seinsstatus manifestiert, den er differenztheoretisch auslegt und im Rahmen seiner singulär pluralen Ontologie5 für alles Seiende geltend macht: Ebenso wie das exponierte Bild korporal anwesend ist, aber doch nie zur Gänze bei sich ist, sondern nur, da es in Bezug zu etwas anderem, zur Welt steht, muss jedes Seiende notwendig in Kontakt, in Bezug auf ein anderes Seiendes stehen, das es jedoch selbst nicht ist.6 In diesem Sinne ist das Nichtseiende konstitutiv für das Seiende. Das Bild potenziert dieses Mit-sein auf besondere Weise, wodurch sich sein hoher Stellenwert im Denken Nancys erklärt. Nancys Ontologie des singulär Pluralen steht dabei in engem Zusammenhang mit der Differenzphilosophie von Jacques Derrida. Die beiden Denker verbindet 1
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Dieser Ansatz entspricht, so Nancy, der Notwendigkeit, »die gesamte ›prima philosophia‹ neu aufrollen zu wollen, indem er ihr das ›singulär Plurale‹ des Seins als Grundlegung gibt«/»de refaire toute la ›philosophie première‹ en lui donnant pour fondation le ›singulier pluriel‹ de l’être« (Nancy 2004, 13/Nancy 1996b, 13). Siehe dazu u.a. Nancy 1999; 2004; 2003a; 2014a. Auch Derrida hat sich vielfältig und expliziter als Nancy mit Platon auseinandergesetzt, siehe dazu u.a. Derrida 1995; 2013. So schreiben Finke/Halawa (2012a, 14) sogar, dass »der Grundgedanke einer konstitutiven und dem Bild immanenten Differenz« in der Forschung geteilt wird. Ausgangspunkt sei die »Reflexionsfigur der inneren Duplizität des Bildes«, die allerdings mehr als stille Voraussetzung akzeptiert, denn thematisch im Zentrum steht. Poetsch 2019, 32. Siehe dazu bes. Nancy 2014. Nancy 2004, 57-72, bes. 57-59.
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Expeausition
nicht nur ein philosophisches Schüler-Lehrer-Verhältnis, sondern vor allem eine Freundschaft. Diese beschreibt Nancy wie folgt: »What I owe Derrida is a certain movement of thought, which is not a teaching or a doctrine any more that it is a corpus of terms, philosophemes, and citations. And that’s where friendship plays a role in thought, the place of a friendship of thought; one stimulates, provokes, and nourishes the other, sometimes aggravates or irritates the other, but one also knows that each must do his own work, have his own style.«7 Diese philosophische Freundschaft zwischen Derrida und Nancy zeigt sich wohl am deutlichsten am Begriff der différance, den Derrida einführt und der zum Grundgedanken bei Nancy wird: Derrida8 hat dem französischen Wort différence ein unhörbares a eingeschrieben, um damit einen notwendigen räumlich-zeitlichen Aufschub zu beschreiben, den jedes Zeichen und auch jedes Bild erfordert.9 Diese différance wird zum Ausgangspunkt bei Nancy, dabei ist allerdings diese gedankliche Nähe immer schon von einer Ellipse durchdrungen, oder wie Nancy formuliert, »our proximity resides in this very ellipsis«10 . Dementsprechend betont Nancy das a noch stärker und konnotiert es mit einem Accent aigu. Das unhör- und unsehbare à (zu), das in der deutschen Übersetzung häufig durch eine Entkursivierung gekennzeichnet wird (différance), bringt das Zur-Welt-Sein zum Ausdruck und damit die Körperlichkeit der différance, die im Konzept Derridas implizit bleibt.11 Genau in dieser irreduziblen körperlichen Exponiertheit gründet für Nancy die différance – es ist die Materie, welche die Differenzen erst schafft. So klein und unhörbar diese Verschiebungen in der différence sind, die zuerst Derrida und danach Nancy darin einschreiben, so weitreichend sind jedoch die Folgen davon – auch für eine Philosophie des Bildes: Wenn Derrida die Mittelbarkeit des Zeichens und der Bilder, ihre beständige und konstitutive Aufgeschobenheit 7 8
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Nancy/Fabbri 2007, 438-439. Hinsichtlich der Philosophie Derridas wird im Folgenden besonders auf »Grammatologie« (1983)/»De la grammatologie« (1967), »Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstportrait und andere Ruinen« (1997)/»Mémoire d’aveugle. L’autoportrait et autre ruines« (1990), »Die différance« (2004)/»La différance« (1972) und »Berühren, Jean-Luc Nancy« (2007)/»Le toucher, Jean-Luc Nancy« (2000) rekurriert. U. a. Derrida 2004, 105, 117-118; Derrida 1983, 403; Derrida 1997, 57. Nancy 1988, 175. U. a. Nancy 2014a, 44, 54, 87. Dabei kritisiert nicht nur Nancy Derrida, sondern auch dieser befasst sich in einer eingehenden Analyse kritisch mit Nancys Konzept des Berührens und des Kontakts: Aus einer anfänglichen Beschäftigung im Rahmen eines kurzen Artikels (Derrida 1993, 122-157) erwuchs ein über 400 Seiten starkes Buch, das diesem Thema gewidmet ist. Die große Gefahr von Nancys haptisch ausgerichteter Ontologie sieht Derrida (2007) darin, dass sie den Zirkel der Selbstpräsenz nicht radikal zu unterbrechen in der Lage ist und selbst zu einer neuen Metaphysik der Präsenz werden kann.
Différance und Expeausition
konstatiert, von der es weder einen Ausweg noch überhaupt ein Draußen gibt, und damit jedes Denken von Präsenz negiert, ist es Nancy, der strikt auf der Basis dieser Aufgeschobenheit die Körperlichkeit, die Materialität und die Präsenz zu denken versucht. Davon ausgehend basiert Nancys Verständnis von Philosophie auf dem Konzept der Exposition: Philosophieren heißt nicht, Zeichen und Bedeutungen wiederzubeleben, sondern genau deren »Ausgesetztsein als solches zu denken«12 . Es ist die Malerei, in der Nancy diese zentralen Konzepte seiner Philosophie exponiert sieht.13 Um die körperliche Ausgesetztheit entlang einer Oberfläche noch stärker zu betonen, schreibt er der Exposition noch das französische Wort für Haut, peau, ein: Expeausition. Dieses Denkkonzept ist für die vorliegende Studie titelgebend. Während Derridas Philosophie auch im Kontext der Bildforschung Resonanz findet, steht »eine umfassende philosophische Aufarbeitung« von Nancys Denken »im deutschsprachigen Raum […] noch aus«14 . Dabei fanden seine Arbeiten zur Ontologie und zur politischen Philosophie mehr Beachtung15 als seine Texte zur Kunst und zum Bild. So gibt es bislang keine Monographie zum Konzept des Bildes bei Nancy. Auch in dem groß angelegten Band »Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch«16 (2014) findet sein Name nur ein einziges Mal Erwähnung. Allerdings wurde ein Text Nancys in die Anthologie »Bildtheorien aus Frankreich« aufgenommen und im dazugehörigen Handbuch auch besprochen.17 Sein Konzept des Bildes wird zumeist im Kontext von größer angelegten Abhandlungen zu seiner Ontologie, seinem Verständnis der Künste oder anderen Teilbereichen seiner Philosophie thematisiert.18 Diese Marginalisierung Nancys ist erstaunlich, da er sich äußerst intensiv mit den Künsten und den Bildern auseinandergesetzt hat.19 Sein Interesse an den
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Nancy 1987, 81. Frz.: »C’est penser l’exposition elle-même.« (Nancy 1986, 76) Diese philosophischen Unterschiede zeigen sich auch im methodisch angewandten Schreibstil: Derridas Schreibweise zeichnet sich vor allem durch seinen aporetischen Stil sowie die Vermeidung von klassischen Begrifflichkeiten aus. Im Gegensatz dazu greift Nancy klassische Begrifflichkeiten affirmativ auf, bringt sie durch Verwendung aber in Bewegung, treibt sie an ihre Grenzen und transformiert so ihre Bedeutung. Für eine weiterführende Analyse dazu siehe Morin (2012, 3-5) sowie Badiou (2004, 13-24). Flatscher 2011, 323. U. a.: Kamuf 1993; Sheppard/Sparks/Thomas (Hg.) 1997; Guibal/Martin (Hg.) 2004; James 2006; Hutchens 2005; 2012. Hg. von Stephan Günzel und Dieter Mersch. Alloa (Hg.) 2011b; Busch/Därmann (Hg.) 2011; Flatscher 2011, 323-334. Die wichtigsten Texte zu Nancys Kunst- und Bildtheorie sind u.a. Heikkilä 2007, James 2006, James 2007, Morin 2012, Flatscher 2011, Ross 2007 sowie die 2010 erschienene und Nancy gewidmete Ausgabe des »Journals for Visual Culture«, hg. von Kaplan/Ricco. Nancys Publikationen umfassen eine Zeitspanne von ca. 40 Jahren und sind äußerst umfangreich: Alleine und als Ko-Autor hat Nancy mehr als 50 Bücher verfasst, dazu kommen
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Expeausition
Künsten weist vier Schwerpunkte auf20 : Erstens beschäftigt sich Nancy mit der Charakteristik der Künste vor allem in Bezug auf Hegels und Heideggers Ästhetik. Seine zentrale Fragestellung dabei ist nicht diejenige nach dem Wesen der Kunst, sondern danach, warum es mehrere Künste gibt, wie es in dem Haupttext dieser Periode, »Die Musen«, heißt.21 Zweitens schreibt Nancy zu bestimmten Kunstformen wie der Lyrik, der Malerei, der Musik und der Zeichnung.22 Drittens verfasst Nancy Texte zu einzelnen Künstlerinnen und Künstlern wie u.a. zu On Kawara, Jean-Michel Atlan oder Abbas Kiarostami.23 Viertens sind Texte in direkter Kooperation mit Künstlerinnen und Künstlern und deren Performances, Installationen, Lithografien etc. entstanden.24 Dabei steigert sich Nancys Beschäftigung mit den Künsten stetig und erreicht in den 1990er Jahren einen vorläufigen Höhepunkt, sie spielt aber nach wie vor eine wichtige Rolle in seiner Philosophie. Bestimmend in all diesen vier Schwerpunkten ist seine Auseinandersetzung mit den visuellen oder bildenden Künsten, vor allem der Malerei und Fotografie.25 Wie daraus deutlich wird, ist Nancys Auseinandersetzung mit Bildern sehr intensiv, gleichzeitig sind seine Texte aber zum einen thematisch sehr heterogen, zum anderen in unterschiedlichsten Anthologien, Zeitschriften, Katalogtexten weit verzweigt und daher nur schwer zu überblicken. Hinzu kommt, dass seine Texte großteils schwer zugänglich sind, da sie durchwegs sehr voraussetzungsreich sind und keine lineare Entwicklung von Axiomen und Argumenten hin zu Konklusionen präsentieren, sondern eine Vielzahl von Anläufen, die um einen zentralen Gedanken oder ein künstlerisches Objekt bzw. Thema kreisen. Sie können daher nicht als streng systematisch bezeichnet werden, beinhalten aber eine bestimmte konzeptuelle Regelmäßigkeit, in der die einzelnen Teile zusammenkommen, sich ergänzen, erweitern oder einschränken.26 Um Nancys Denken vor allem in der deutschsprachigen Bildforschung zu akzentuieren, versucht die folgende Arbeit, eine Vielzahl
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weit mehr als vierhundert Beiträge in Journalen, Sammelbänden und Kunstkatalogen. (Morin 2012, 1; James 2006, 1) Die Einteilung stützt sich auf Morin 2012, 18. Nancy 1999, 9. U. a. Nancy 2006a; Nancy 2006b, 3-9, 10-21; Nancy 2013. Nancy 2006b, 191-206; Nancy 2010b; Nancy 2001a. Zudem hat Nancy begleitende Texte zu den Fotografien von Jacques Damez, Anne-Lise Broyer und Anne Immelé verfasst wie auch zu den Installationen von Claudio Parmiggiani und Objekten von François Martin. In »Die Haut der Bilder« bezieht sich Nancy unter dem Titel »Inkarnat« auch direkt auf ein Bild von Lucian Freud, »Girl with Closed Eyes« (1986-1987). Monnier/Nancy 2001; 2005. Zudem hat Nancy einen lyrischen Kommentar zum Objekt »Fortino Sámano« von Virginie Lalucq und Gedichte als Begleitung zu den Lithografien von Bernard Moninot geschrieben. Für eine Installation von Claudio Parmiggiani hat er Goethes »Faust. Eine Tragödie« adaptiert. (Morin 2012, 19) Heikkilä 2007, 13, 16. Morin 2012, 1-2.
Différance und Expeausition
seiner Schriften27 miteinfließen zu lassen und in ihrer Heterogenität herauszustellen.28
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Nachstehend wird insbesondere auf folgende Texte Nancys Bezug genommen, die sich direkt mit Malerei oder Bildlichkeit beschäftigen: »Die Musen« (1999)/»Les Muses« (1994), »Am Grund der Bilder« (2006)/»Au fond des images« (2003), gemeinsam mit Federico Ferrari »Die Haut der Bilder« (2006)/»Nus sommes. La peau des images« (2006), »The Muses II« (2006), »Porträt und Blick« (2007)/»Le regard du portrait« (2000), »Noli me tangere« (2008)/»Noli me tangere« (2003), »Das Bild. Mimesis und Methexis« (2011)/»L’image: mimesis & methexis« (2010), »Die Lust an der Zeichnung« (2013)/»Le Plaisir au dessin« (2009), »Das andere Porträt« (2015)/»L’autre portrait« (2014) und »Heimsuchung. Von der christlichen Malerei« (2016)/»Visitation (de la peinture chrétienne)« (2001). Zudem werden folgende Texte, welche Nancys Philosophie des singulär Pluralen zum Thema haben, herangezogen: »Corpus« (2003)/»Corpus« (2000), »singulär plural sein« (2004)/»Être singulier pluriel« (1996), »Ausdehnung der Seele« (2010) und »Der Sinn der Welt« (2014a)/»Le sens du monde« (1993). Zwar wurden viele Texte Nancys schon ins Deutsche übersetzt, sie weisen allerdings teilweise begriffliche Unschärfen auf. Aufgrund dieser Problematik und dem Anspruch eines möglichst textnahen Denkens werden direkte Zitate Nancys im Folgenden auch in der Sprache ihrer Erstveröffentlichung angeführt.
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Denken entlang des Bildes
In Bildwissenschaft und Bildtheorie lassen sich in der Untersuchung von und dem Umgang mit Bildern zwei methodische Herangehensweisen herausstellen, bei denen im Folgenden Anleihen genommen werden, zu denen aber auch Abgrenzungen notwendig sind. Erstens bedient sich die philosophische Auseinandersetzung mit Bildern häufig sehr unterschiedlicher Bilder aus allen Epochen, Stilen und Herstellungsweisen, ohne dabei genauer auf die Bilder und ihre Eigenheiten einzugehen.1 Um dem zu entgehen, wird in der vorliegenden Arbeit vorwiegend ein Bild im Zentrum stehen, das aus mehreren Perspektiven betrachtet wird, um so intensive Auseinandersetzungen zu ermöglichen. Dieses Bild ist Lucian Freuds Ölgemälde »Painter Working, Reflection« aus dem Jahr 1993, das ihn selbst nackt beim Akt des Malens zeigt.2 Damit verbunden ist eine Abgrenzung zur Bildwissenschaft. Diese be1 2
Bonnemann 2014, 16-17. Neben Lucian Freuds »Painter Working, Reflection« gibt es noch einige wenige andere Selbstporträts als Akt beim Malen: Der Expressionist Richard Gerstl (Abb. 2) zeigt sich auf dem 1908 – nur wenige Wochen vor seinem Selbstmord (Natterer/Kutzenberger 2012, 223) – gemalten »Selbstbildnis als Akt in ganzer Figur« nackt mit einer Palette. In Anlehnung an diese Darstellung malt Josef Kern ein Bild mit dem Titel »Ich male, daher bin ich« (1979, Abb. 3). Während sich Gerstl nicht direkt beim Malen porträtiert, sondern mit der Palette posiert, zeigt sich Kern mit eingeklemmter Palette und Pinseln sowie einem zum Malen erhobenen Arm. Im Vergleich zu Gerstl, der in den unruhigen und noch nassen Hintergrund seines Bildes zusätzlich noch wilde Spiralen einkratzt, beruhigt Kern den Pinselduktus und die Gestik. (Skreiner 1981, o. S.) Einen besonderen Einblick in den Malprozess gibt Maria Lassnig in dem späten und unvollendet gebliebenen »Selbstporträt mit Pinsel«, das zwischen 2010 und 2013 entstand (Abb. 4). Ohne erkennbare Unterzeichnung zeigt sie sich selbst beim Malen ihres Gesichtes, des Halses, der nackten Haut, der Schultern. Auffällig ist, dass sie im Gegensatz zu den anderen nackten Malerinnen und Malern die malende Hand direkt im Prozess des Malens zeigt – und damit an dem Punkt, an dem sich die Malerin, das Modell und das Bild berühren. Sowohl bei Lassnig wie auch bei Kern finden sich mehrere Selbstporträts als Akt beim Malen. Auch im Selbstporträt als Akt von Xenia Hausner steht der Malprozess im Zentrum des Bildes – allerdings in Form einer Leerstelle: Sie zeigt sich »Vorher« (1994, Abb. 5), das heißt vor dem Malprozess, angekleidet, mit entschlossener Miene und roten Wangen. Und sie zeigt sich »Nachher« (1994, Abb. 6): nackt, mit verschränkten Armen, müdem Ge-
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Expeausition
schäftigt sich zwar mit einzelnen Bildern, es handelt sich dabei aber zumeist um dezidierte Werkuntersuchungen, die durch eine präsumierte Bedeutung des Bildes – die den Inhalt, den Sinn oder die Relevanz betreffen – gerechtfertigt werden.3 Dies hat zur Folge, dass eine im Bild selbst liegende Besonderheit unterstellt bzw. das Bild auf eine persönliche oder gesellschaftliche Relevanz reduziert wird. Weit häufiger als diese Werkuntersuchungen wird in der Bildwissenschaft eine definierte Menge von Bildern untersucht, die sich durch Einschränkung auf das Schaffen eines Künstlers oder einer Künstlerin, auf ein bestimmtes Medium, auf Herstellungstechnik, -zeit, -ort und deren Kombinationen ergibt, ohne dass diese Kriterien dabei aber in den Reflexionsprozess einbezogen werden.4 Wenn im Folgenden die Untersuchung von einem Bild, dem Selbstporträt als Akt von Lucian Freud, handelt, so geht es weder darum, dieses als Einzelwerk zu betonen noch dieses mit Bildern anderer nackter Malerinnen und Maler, anderen Selbstporträts oder Bildern mit ähnlicher Herstellungstechnik zu vergleichen. Der Anspruch liegt vielmehr darin, in diesem Bild und von ihm ausgehend zu denken.5 Die Fokussierung auf das Bild Freuds führt notwendigerweise zu mehreren Einschränkungen des weiten Feldes von Bildern. So kommt es erstens zu einer Eingrenzung des Forschungsbereichs auf das Kunstbild unter Ausschluss der vielfältigen Formen von alltäglicher Bildlichkeit. Zweitens steht mit dem Bild die sogenannte figürliche Malerei im Zentrum der Aufmerksamkeit, was wiederum das heterogene Feld der Malerei eingrenzt. Damit soll allerdings nicht einer Schule oder einer Technik ein Vorzug gegenüber anderen eingeräumt werden. Besonders herausfordernd ist das Selbstporträt Freuds, da es gerade durch seine Figürlichkeit auch das Problem der Abbildlichkeit, die Erkennbarkeit des Modells, den Akt des Malens selbst und die Materiallastigkeit in verstärkter Form aufwirft.
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sichtsausdruck, erschöpft, unordentlichen Haaren und einer veränderten Arbeitsfläche im Vordergrund. Im Katalog zur Ausstellung »Sie. Selbst. Nackt« sind weitere Künstlerinnen im Selbstakt beim Arbeiten zu sehen. Diese werden hier allerdings nicht weiter thematisiert, da es sich um Zeichnungen oder Fotografien handelt. Wiesing 2005, 10. Wiesing 2005, 11-12. Diese Methode wurde u.a. auch von Michel Foucault in seiner Betrachtung von Velasquez’ »Las Meninas« in »Die Ordnung der Dinge« sowie Salvatore Settis in »Giorgiones Gewitter« zur Anwendung gebracht. Im Unterschied zu Foucault (1978, 31-45) wird hier das Bild aber durchgängig Ausgangspunkt der Betrachtung bleiben und nicht bloß am Anfang der Arbeit stehen. Von Settis’ Ansatz unterscheidet sich die Arbeit ganz entscheidend in der Zielsetzung: Während Settis (1982, 14) mit seinen Analysen ausgehend vom Bild zeigen will, dass auch Bilder Kommunikationsmittel sind und er dementsprechend die Interpretationsgeschichte von Giorgiones »Tempestà« in den Vordergrund stellt, wird hier das Auge und das Denken am Bild selbst geschult und verschiedene Perspektiven eingenommen, um die körperliche Exponiertheit von Bild und Darstellung zu betonen.
Denken entlang des Bildes
Der Anspruch der Arbeit liegt folglich nicht darin, eine Metatheorie zu entwickeln, sondern verschiedene Perspektiven aufzubauen und abzutragen wie Schichten im Bild selbst. Damit ist zwar keine Verallgemeinerung auf alle Bilder und Bildphänomene möglich, vielmehr soll, so die zentrale These der Arbeit, gezeigt werden, was sie auf ontologischer Ebene teilen, das ist ihre potenzierte Exponiertheit. Sie wird an diesem einen Bild sorgfältig nachgewiesen, durch unterschiedliche Perspektiven auch diskursiv in ihren Spezifika deutlich gemacht und nicht pars pro toto auf alle Bildformen umgelegt. Eine Theorie über die Ausgestelltheit würde bedeuten, Bildtheorie zu betreiben, während im Folgenden gezeigt werden soll, dass und wie die Expeausition in einem Bild in immanenter Form da ist und wirkt. Singularität und Allgemeinheit, Beispiel und Theorie, singuläres Bild und Bildtheorie werden damit immanent ineinander verschränkt, ohne sie in ein induktives oder ein deduktives Verhältnis zu stellen. Dass andere Formen von Bildern – seien es alltägliche wie Landkarten, Kritzeleien etc.6 oder Kunstbilder wie beispielsweise solche aus der sogenannten abstrakten Malerei – andere Spezifika und Ausprägungen haben, wird damit nicht in Abrede gestellt, sondern sogar betont. Dies führt direkt zur zweiten methodischen Herangehensweise im Umgang mit Bildern, die darin besteht, Bilder heranzuziehen, um theoretisch erarbeitete Begriffe zu exemplifizieren und/oder um Kategorisierungen zu entwerfen, unter die sich Bilder zu fügen haben. So versucht die Bildtheorie, die Frage zu beantworten, was ein Bild zu einem Bild macht, und damit, den Begriff des Bildes selbst zu klären.7 Mit der Frage nach dem Was des Bildes ist eine genuin philosophische Fragestellung aufgeworfen, die Teil der Bildwissenschaft ist. Da es einer solchen bildtheoretisch verstandenen Philosophie des Bildes um den Begriff des Bildes und daher um die Erforschung der Kategorisierung von Bildlichkeit geht, arbeitet sie ausschließlich argumentativ.8 Das hat zur Folge, dass in der Suche nach einer allgemein verbindlichen Definition des Bildes »das konkrete Bild nicht als Forschungsgegenstand, sondern als Beispiel für prinzipielle Aussagen über Bildlichkeit vorkommt«9 . Bilder werden damit als bloße Fälle behandelt, die unter die gefundenen Kategorien subsumiert werden bzw. die Kategorien exemplarisch veranschaulichen. Nachstehend werden Bilder dementgegen nicht als Medium oder Werkzeug10 der Philosophie betrachtet, die dazu dienen, philosophische Gedanken zu manifestieren oder Kategorien zu füllen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass sich Bilder und deren Inhalt nicht aneignen lassen, sondern ihr eigenes Gewicht aufweisen. Das Bild von
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Siehe dazu u.a. Krämer 2009; 2016; Driesen/Köppel/Meyer-Krahmer/Wittrock (Hg.) 2012; Driesen 2016. Bonnemann 2014, 16-17. Wiesing 2005, 13-17, bes. 14. Wiesing 2008, IV. Ähnlich auch Graw 2017, 18. So u.a. Haarmann 2019, 15, 33.
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Expeausition
Freud wird damit nicht als Objekt der Philosophie oder der Wissenschaften betrachtet, sondern als Wissen generierend.11 In ein Bild einzutauchen, sich ihm in einer intensiven Art und Weise auszusetzen, soll dazu führen, in den Horizont von Bildlichkeit einzutreten und daraus ein Denken von Bildlichkeit zu gewinnen.12 Denken wird so selbst zu einer performativen Praxis und bleibt nicht reine Reflexion über einen Forschungsgegenstand.13 Gegenüber der Bildtheorie und der Bildforschung wird in der vorliegenden Arbeit zudem die Produktionsebene stärker in die Analyse einfließen, das bedeutet im konkreten Fall die maltechnische Praxis Lucian Freuds, über die es mehrere Zeugnisse gibt14 . Der Artistik als der Lehre der künstlerischen Verfahren15 kommt somit eine besondere Bedeutung zu, da davon ausgegangen wird, dass nicht nur die Rezeption und der Diskurs über Malerei, sondern auch die Mittel und Methoden der Malerei wichtig sind, um über Bildlichkeit zu sprechen. Aus dem Bild und der damit verbundenen künstlerischen Praxis heraus entstehen Probleme und Fragen, die dann untersucht und diskursiv explizit gemacht werden. Damit wird ein konsequentes Denken von der Kunst als Praxis und der Selbstentfaltung der künstlerischen Objekte, Prozesse und Aktionen verfolgt. Durch die Kombination dieser Methoden wird das Bild von Lucian Freud als nackter Maler als irreduzibles Momentum betrachtet, von dem her das Bildliche gedacht wird und an dem sich das Denken über das Bildliche abarbeitet. Dies zeigt sich bereits in der thematischen Schwerpunktsetzung der Arbeit, die sich nach den drei zentralen Themen des Bildes von Lucian Freud richtet: Der nackte Maler, Lucian Freud, stellt erstens den Malakt ins Bild, der den Betrachtenden eines Bilds ansonsten verborgen bleibt. Dieser Malakt und der dabei
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Badura/Dubach/Haarmann 2015, 9-10. Methodisch werden dazu Anleihen genommen bei Böhler 2018, bes. 112; Böhler 2013; 2014; Böhler/Kruschkova/Granzer (Hg.) 2014; Böhler/Herzog/Pechriggl (Hg.) 2013; Gumbrecht 2004; Mersch 2002; 2011; 2010; 2015. Trotz gewisser Annäherungen bleibt die Arbeit in vorsichtiger Distanz zu demjenigen, was unter Termini wie künstlerische Forschung, artsbased-research etc. verhandelt wird. Zwar wird hier ebenfalls Erkenntnisgewinn und Methodenentwicklung aus der künstlerischen Praxis und dem künstlerischen Objekt heraus betrieben, gleichwohl kommt es im Folgenden nicht wieder zu einer künstlerischen Umsetzung. Einen vergleichbaren Anspruch haben auch Borsche/Brocken in ihrem Sammelband »Kann das Denken malen?« (2010a), in dem das wechselseitige Verhältnis von philosophischer Reflexion und künstlerischer Praxis in der Malerei der Renaissance untersucht wird. Ausgegangen wird dabei allerdings von einer dem Bild inhärenten Reflexivität (2010b, 7-16, bes. 9), die im Folgenden zwar nicht ausgeschlossen, aber nicht im Zentrum der Betrachtungen steht. Im Unterschied zu den anderen Selbstporträts als Akt ist die Malpraxis Freuds sehr gut belegt. Siehe dazu Dawson 2014; Gayford 2013; Gowing 1984; Haag/Sharp (Hg.) 2013; Howgate/Auping/Richards 2012; Smee/Bernard/Dawson 2006. Siehe auch Abb. 12. Mersch 2015, 25, auch Mersch 2011, 19; Mersch 2002, 20.
Denken entlang des Bildes
vollführte Zug ist es, der im ersten Teil »Differenzieren und Berühren – Die Geste des Malens« untersucht wird. Lucian Freud stellt zweitens sich selbst als Maler aus, setzt sich, sein Gesicht und seinen Körper als Darstellung ins Bild, wo ansonsten von den Künstlerinnen und Künstlern meist nur eine Signatur bleibt. Die Darstellung als (Selbst-)Porträt und die Frage nach dem ins Bild gezogenen Subjekt sowie die Abbildhaftigkeit stehen folglich im zweiten Teil »Das exponierte Subjekt – das (Selbst-)Porträt« im Zentrum der Betrachtungen. Drittens entblößt Lucian Freud seinen Körper schonungslos bis auf die blanke Haut, weshalb das Aktbild und die Frage nach dem Körper (des Bildes) sowie sein Verhältnis zur Darstellung im dritten Teil »Expeausition und Porosität – der Akt« explizit thematisch wird.
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Aufbau
Die Exponiertheit des Bildes wird im Folgenden anhand dreier unterschiedlicher Perspektiven ausgeführt. Diese drei Perspektiven entstehen ausgehend vom Bild Lucian Freuds und führen zu drei Fragestellungen, die in den jeweiligen Teilen thematisch leitend sind. Der Aufbau der Arbeit ist daher nicht streng chronologisch oder systematisch, sondern aus drei Perspektiven wird gezeigt, dass und wie Expeausition ist und wie Bilder dadurch als korporale Vollzugsformen begriffen werden können. Jede dieser Perspektiven speist sich aus drei Schwerpunkten, zu denen jeweils eine These entwickelt wird: eine zum Verhältnis zwischen Platon und den Ursprungsmythen der Malerei (i), eine zum Zusammenhang von Derrida und Nancy (ii) sowie eine zur Exposition des Bildes (iii). Im ersten Teil steht der von Lucian Freud ins Bild gesetzte Malakt im Zentrum der Untersuchung. Darin wird der Frage nachgegangen, wie sich der künstlerische Schaffensprozess des Malens, durch den der Körper des Bildes zurücktritt und die Darstellung sichtbar wird, aus korporaler Perspektive denken lässt. Im Mythos der Butades wird genau dieser künstlerische Akt beschrieben, wenn sie den Schatten ihres Geliebten auf der Wand umreißt. Dieser Ursprung der Malerei verankert das erste Bild, den Schattenriss, als Abbild des Abbilds und geht damit Hand in Hand mit der Ideenlehre Platons, wie sie im Höhlengleichnis veranschaulicht wird (i). Die Aufgabe der Malerei liegt so in ihrer referentiellen Funktion, also dem Verweis auf etwas Abwesendes. Dabei nistet sich jedoch, so Derrida und mit ihm Nancy, ein räumlicher und zeitlicher Aufschub ein: Diese différance sieht Derrida im Strich der Butades manifestiert, der nicht mehr auf etwas verweist, sondern im Spiel der Differenzen Bedeutung erst erzeugt. Nancy fasst diese différance im Unterschied zu Derrida körperlich auf (ii): Im Ziehen eines Striches ereignet sich nicht nur ein Aufschub, sondern auch eine Präsenz – verstanden nicht als abwesender Bezugspunkt, sondern in Anlehnung an die Etymologie des prae als nach-vorne-stellen und exponieren. Der performative künstlerisch Schaffensprozess kann demnach als Setzen von differenten, rohen materiellen Fakten, Expositionen begriffen werden (iii): Das Hervorziehen der Darstellung im künstlerischen Akt führt nicht zum Zurücktreten des Körpers, sondern zur körperlichen Exposition der Darstellung, in der die Exposition des Bildkörpers mitschwingt – eine zweifache Exposition.
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Expeausition
Im zweiten Teil liegt der Fokus auf demjenigen, was Lucian Freud auf dem Bild entstehen lässt, die Darstellung, ein Bildnis seiner selbst – ein Selbstporträt. Dabei wird die Frage gestellt, wie dasjenige, das ins Bild gezogen wird, das also seinen Körper vermeintlich verliert – die Darstellung –, korporal und in seiner Präsenz begriffen werden kann und welche Konsequenzen dies für die vor allem im Selbstporträt zentralen Elemente der Ähnlichkeit, der Wiedererinnerung und des Subjekts hat. Ein Selbstbildnis ist es auch, das Narcissus an der Oberfläche einer Quelle erblickt und in das er sich verliebt. Für Platon bedeutet diese Selbstverliebtheit eine Form der Verblendung, da darin keine Wiedererinnerung der Ideen geschaut wird, sondern – ähnlich wie im Höhlengleichnis – ein Abbild als wahr erachtet wird (i). In Bezug sowie Weiterentwicklung dazu wird Narcissus und vor allem sein perfektes Abbild in der Renaissance zum Vorbild der Porträtmalerei stilisiert. Gleichwohl zeichnet sich das Porträt nicht durch eine absolute, sondern eine andere Richtigkeit aus, wie Platon festhält. Für Derrida und Nancy wird diese zum Ausgangspunkt des Denkens, wobei sie nicht mehr abbildet, sondern ein kreatives Potential eröffnet. Derrida sieht im Selbstporträt eine paradoxe Logik, die im Entzug und Abstandnehmen der Malenden im Akt des Hervorbringens ihrer selbst auf der Leinwand liegt. Nancy schließt daran, geht aber noch einen Schritt weiter, indem er in diesem Hervor- und Entziehen eine Philosophie des Subjekts verankert sieht, deren Grundzüge darin bestehen, sich auszusetzen, auf der Leinwand zu exponieren, sich dabei notwendig und immer schon von sich selbst entfernt zu haben, sich fremd zu sein (ii) – wie es auch Narcissus’ Schicksal ist, sich nicht selbst in seinem Bild wiederzuerkennen. Darstellen bedeutet damit im Sinne einer korporalen Vollzugsform nicht, eine Person oder einen Gegenstand des Körpers zu berauben, um ihn auf die Leinwand zu bringen, sondern im Gegenteil, den Körper zu transformieren, seine Ausgesetztheit zu potenzieren, um (sich) hervorzubringen (iii). Im dritten Teil wird der von Lucian Freud ins Zentrum seines Bildes gestellte Körper, dessen nackte Haut sowie der Körper des Bildes untersucht. Dabei wird der Frage nachgegangen, wie Körper affirmativ gedacht werden können und wie sich darauf aufbauend das Verhältnis von Träger und Darstellung in ihrem ontologisch prekären Status verstehen lässt. Während für Platon ein Bild für sich genommen nichtseiend und nur aufgrund seiner Verweisfunktion ist, die er dementsprechend zu reglementieren versucht, zeigt die Legende von Zeuxis, dass sich der Bildkörper nicht endgültig zurückzieht und sich auch nie zur Gänze kontrollieren lässt (i), wenn der Meister der Malerei im Wettstreit mit Parrhasios selbst hart darauf stößt. Die Widerständigkeit der Materialität des Bildes bleibt auch in der Konzeption Derridas im Hintergrund, indem er sie ex negativo und bereits als Teil des semiotischen Prozesses begreift. In dieser Hinsicht hebt sich Nancy deutlich von Derrida ab, denn sein Ansatz erlaubt es, den Körper differenztheoretisch als Modus des Exponierens zu verstehen (ii). Im Bild als korporaler Vollzugsform kommt es zu
Aufbau
einer besonderen Potenzierung der Exposition, da sich sowohl seine Materialität wie auch seine Darstellung präsentieren, aussetzen (iii). Als entscheidendes Denkkonzept erweist sich dabei für Nancy die Haut, welche auch Freud auf seinem Bild entblößt: Wie die Haut ist auch das Bild als Grenzbegriff zu verstehen, auf dessen Oberfläche Darstellung und Körper, Form und Grund changieren. Alle drei Teile verbindet, dass sie vom Bild Lucian Freuds ausgehen und es im Kontext der Ursprungsmythen der Malerei thematisieren. Dabei werden jeweils zentrale Begrifflichkeiten Platons in ihrer Wirkungsgeschichte dekonstruiert und in die Philosophie des singulär Pluralen transformiert. Alle drei Teile umkreisen so das Bild von Lucian Freud und behandeln dabei zentrale Probleme der Bildlichkeit von jeweils anderen Blickwinkeln aus. Aus diesem Grund kommt es an mancher Stelle zu thematischen Überschneidungen, Verbindungen und Querverweisen unter den einzelnen Teilen. Jeder Teil bildet eine eigene Perspektive, die in sich konsistent ist und für sich gelesen werden kann; alle drei in ihrer singulär pluralen Beziehung formen aber ein Bild des Denkens, das gelernt hat, in Bildern, vor allem im Bild Freuds zu denken. Abgeschlossen wird jeder dieser Teile durch ein Zwischenresümee. Dieses hat eine doppelte Funktion inne: Zum einen soll es die einzelnen Teile abschließen; zum anderen soll es an die anderen anbinden, indem es durch eine kompakte Zusammenfassung die zentralen Aspekte sowie die Schnittstellen zu den anderen Teilen deutlich macht.
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Butades oder der Ursprung der Malerei
Nach Plinius dem Älteren gilt Butades und damit eine Frau als Erfinderin der Malerei. Die junge Korintherin Butades muss sich von ihrem Geliebten trennen. Sie will ihn aber nicht gehen lassen und versucht, wenigstens eine Erinnerung an ihn zu behalten, indem sie sich ein Abbild von ihm erschafft. Also greift sie zum Stift und zieht den Schatten seines Gesichtes an einer Wand nach: »Mit einem Erzeugnis des gleichen Erdmaterials erfand in Korinth der Töpfer Butades aus Sykion als erster ähnliche Bilder aus Ton zu formen, und zwar mit Hilfe seiner Tochter, die aus Liebe zu einem jungen Mann, der in die Fremde ging, bei Lampenlicht an der Wand den Schatten seines Gesichtes mit Linien umzog; den Umriß füllte der Vater mit daraufgedrücktem Ton und machte ein Abbild, das er mit dem übrigen Tonzeug im Feuer brannte und ausstellte; es soll im Nymphaion bis zur Zerstörung von Korinth durch Mummius aufbewahrt worden sein.«1 Man vermag es sich vorzustellen, wie sie den Griffel ansetzt, wie sie versucht, so genau wie möglich den Schatten zu umranden: den Liebling festhalten, seine Abwesenheit erträglich machen. Ein möglichst getreues Abbild muss ihr Ziel sein, um den Schmerz, um das Begehren nach ihrem Geliebten zu stillen. Während der echte Schatten den Geliebten auf Reisen begleitet, soll dieses Abbild des Schattens bei Butades bleiben und so von Dauer sein, eine Anwesenheit in der Abwesenheit schaffen.2 Eros und Thanatos stehen so am Anfang der Malerei und ihr Ursprungsmythos am Übergang: genau an der Stelle, an der Plinius die Ausführungen zur Malerei abschließt, um die Diskussionen rund um die Plastik zu eröffnen. Es ist der Übergang, an dem er die Flächigkeit der Malerei verlässt und sich den volumetrischen Formen zuwendet.3 Darüber hinaus steht der Mythos zwischen Vater und Tochter, beide tragen den Namen Butades: Der Vater war Töpfer und gilt als Erfinder
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Plin. nat. 35,151-152. Dieses erste Bild soll in Korinth noch im 2. Jh. nach Christus zu besichtigen gewesen sein, wie der Philosoph Athenagoras schreibt. (Athenag. leg. 17,3) Stoichita 1999, 14.
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des Tonreliefs sowie der plastischen Stirnziegel, also den figürlich oder ornamental verzierten Ziegeln an der Dachtraufe antiker Bauten. Zudem erschuf er auch menschliche Plastiken. Seine Tochter verhalf ihm dazu, indem sie – quasi als Nebenprodukt – die Malerei erfand. Es ist aber die Geschichte der Tochter, die zum Mythos und zu einem zentralen Topos in der Malerei wird – insbesondere im romantischen Klassizismus gab es eine Fülle an Butades-Darstellungen4 . Aber auch in der Philosophie und der Kunsttheorie wird der Mythos der Butades intensiv aufgegriffen.5 Bei Plinius findet sich noch eine zweite Erwähnung dieses Ursprungsmythos der Malerei – sie fällt noch kürzer aus: Die Erfindung der Malerei wird dabei ebenfalls an die Umrandung eines Schattens geknüpft, allerdings ohne Butades und ihre Geschichte der Liebe und des Verlassenwerdens zu erwähnen. Vielmehr stellt Plinius die mythische Erfindung der Malerei in Zusammenhang mit ihrer Entwicklungsgeschichte dar. Die Ursprünge der Malerei sind ungeklärt, wie Plinius lapidar feststellt. Daher ist diese entwicklungsgeschichtliche Deutung ergänzend und nicht ausschließend zum Mythos der Butades zu verstehen. Die Ägypter behaupten, so Plinius, dass die Malerei bei ihnen schon vor 6 000 Jahren erfunden wurde, ehe sie nach Griechenland kam – was er allerdings anzweifelt.6 Völlig unerwähnt bleiben dabei die frühzeitlichen Höhlenmalereien, welche historisch gesehen noch älter sind und bis ca. 30 000 Jahre vor unsere Zeitrechnung zurückreichen.7 Einzig das Detail, dass Butades den Schatten ihres Geliebten auf einer Wand umreißt, könnte noch als eine Anleihe zur Höhlenmalerei gesehen werden. Plinius scheint hier aber weniger Interesse an den tatsächlichen Anfängen der Malerei zu haben. Er betont vielmehr, dass das ursprüngliche Bild bei den Griechen nicht aus der Betrachtung ägyptischer Kunstwerke entstand und auch nicht das Ergebnis einer unmittelbaren Beobachtung eines menschlichen Körpers war, sondern das einer Fixierung der Projektion dieses Körpers.8 Der Schatten bedeutet eine Reduzierung des Volumens auf die Oberfläche und damit einen ersten fundamentalen Transpositions- und Reduktionsvorgang, der von Plinius nicht dem menschlichen Vermögen, sondern der Natur zugesprochen wird. Der künstlerische Prozess beginnt erst danach: Butades malt das Gesicht des Jünglings nicht direkt ab, sondern es ist das Bild seines Schattens, das sie umrandet. Wie daraus deutlich wird, ist 4 5
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Siehe dazu Rosenblum (1957), der die Darstellungen aufgelistet sowie verglichen hat. Zudem rekonstruiert er die Interpretationen des Mythos von der Antike bis ins 18. Jh. U. a. Quintilian (Quint. inst. X 2,7), Leon Battista Alberti (Alb. Pitt. 3,52), Leonardo da Vinci (Leon. Tratt.), Giorgio Vasari (Vas. Vit.), Jean-Jacques Rousseau (Rous. Disc.), Rodolphe Töpffer (1848, 105) bis hin zu Jacques Derrida (1983, 395-403; 1997, 53-56) und Jean-Luc Nancy (2016, 50-51) haben sich darauf bezogen und diesen Mythos unterschiedlich gedeutet. Plin. nat. 35,15-16. Bosinski 2009, 31-73. Plin. nat. 35,15-16.
Butades oder der Ursprung der Malerei
Bildlichkeit ganz entscheidend verbunden mit einer Verflachung, einer Transformation von umgebungsräumlicher Dreidimensionalität in artifizielle Zweidimensionalität. Eine Oberfläche mit Tiefe wird zu einer reinen Fläche ohne Tiefe.9 Bei Butades ist dies als zweifacher Prozess dargestellt, sodass der Schattenriss die Darstellung einer Darstellung, Bild eines Schattens, Kopie einer Kopie ist. Die Malerei scheint so ursprünglich verbunden mit einer Absenz, der Abwesenheit des Körpers und der Anwesenheit der Projektion – was zu einem Leitmotiv der Kunst und ihrer Geschichte wird.10 Der Wunsch festzuhalten, wie er an der Stelle über den Mythos der Butades noch deutlicher hervortritt, ist verbunden mit einem Abschied: der Abschied des Jünglings, der Abschied vom Modell, der Abschied vom Körper, der Abschied von der Präsenz. Die Präsenz des Gegenstandes wird durch eine Spur, ein Zeichen, ein Bild ersetzt. Ein Schattenbild wird zum Abbild, das wiederum zur Statue wird. Ein Abbild des Abbildes steht so am Beginn der Malerei. Die Struktur des Mythos der Butades und seine Tradierung weist damit große Parallelen zum platonischen Höhlengleichnis auf: Ein Abbild des Abbildes bekommen auch die Höhlenbewohnerinnen und Höhlenbewohner aus Platons berühmtem Gleichnis aus der »Politeia«11 zu sehen, wenn sie mit dem Rücken zum Höhlenausgang angekettet nur die Schatten der Gegenstände an der Wand tanzen sehen. Der Mythos der Butades und das Gleichnis der Höhle, der plinianische und der platonische Mythos können als Parallelerzählungen gelesen werden: Beide sind Ursprungsmythen – bei Plinius wird der Ursprung der Malerei, bei Platon der Ursprung der Erkenntnis beschrieben. Beide sprechen über das Bild, indem sie sich auf das Motiv der Projektion konzentrieren: Plinius im Sinne der künstlerischen Darstellung – Butades schafft ein künstlerisches Abbild ihres Geliebten –, Platon im Sinne der kognitiven Repräsentation – die Schattenbilder an der Wand repräsentieren die Gegenstände und Ideen. Bei beiden ist diese ursprüngliche Projektion ein negativer Fleck, ein Schatten. Über diesen Schatten gilt es, in beiden Mythen hinauszugehen – bei Plinius, um die Kunst weiterzuentwickeln, um wahre Kunst zu betreiben, und bei Platon, um zur wahren Erkenntnis zu gelangen.12 Es gibt zwar keine direkten Bezugnahmen der beiden Mythen aufeinander, aber sehr wohl eine dichte Verästelung zentraler Elemente in ihrer Interpretationsgeschichte.
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Krämer 2016, 14-15. Siehe dazu auch Summers 2003 sowie Sommer 2016. Stoichita 1999, 7. Plat. rep. 514a-518b. Stoichita 1999, 7-8. Die Verbindung zwischen dem Mythos der Butades und der platonischen Bildkritik vor allem im »Sophistes« streicht auch Summers (1981, 41-55) im Zuge seiner Untersuchung zur mittelalterlichen Diskussion über den Status der Malerei als Sein oder Schein mehrfach hervor.
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Die Höhle
Im VII. Buch der »Politeia« lässt Platon Sokrates eine Höhle beschreiben, in der Menschen leben, welche die Höhle noch nie verlassen haben. Sie seien von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, sodass sie immer unbeweglich bleiben müssen und nur auf die Höhlenwand blicken, dabei weder sich selbst noch die anderen sehen können und auch nicht das, was sich hinter ihrem Rücken befindet – der Ausgang aus der Höhle und ein Feuer. Zwischen den Gefangenen und dem Feuer führt ein Weg vorbei, entlang dem sich eine Mauer erhebt. Das Feuer erleuchtet die Höhlenwand, auf welche die Augen der Bewohnerinnen und Bewohner gerichtet sind. Sie sehen darauf ihre eigenen Schatten wie auch die Schatten von Gegenständen, die entlang des Weges vorbeigetragen werden und über die Mauer herüberragen.1 Die Höhlenbewohnerinnen und -bewohner werden hingegen völlig bewegungslos dargestellt – sie sitzen passiv in der Höhle, ihrem Schicksal ergeben, den Blick starr auf die Schattenbilder gerichtet, ohne die Hände nach diesen oder dem Licht auszustrecken. Auf Bitte des Sokrates hin versucht sich Glaukon vorzustellen, was passiert, wenn die Höhlenbewohnerinnen und Höhlenbewohner losgebunden und zur Umkehr, zum Blick auf den Ausgang gezwungen werden. Nach Sokrates wären sie geblendet, hätten Schmerzen in den Augen und vermöchten »wegen des flimmernden Glanzes«2 nicht, die Dinge zu erkennen, von denen sie zuvor die Schatten sahen. Folglich würden sie die wahrgenommenen Dinge für weniger real halten und nicht glauben, richtiger zu sehen und schon gar nicht, »dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet«3 zu sein. Wenn ein Bewohner nun gezwungen wäre, das Licht selbst zu sehen, »würden ihm wohl die Augen schmerzen, und er würde fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen imstande ist«4 . Er würde freiwillig wieder »auf de[n]selben Fleck«5 zurückgehen, in seine gewohnte, bewegungslose Position und sich der Umkehr entsagen.
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Plat. rep. 514a-515a. Plat. rep. 515c8-9. Plat. rep. 515d1-2. Plat. rep. 515d7-e2. Plat. rep. 514a6.
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Wenn nun aber jemand einen Höhlenbewohner »mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte«6 , so müsste sich dieser erst langsam an das Tageslicht gewöhnen: »Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der andern Dinge im Wasser, und dann erst sie selbst. Und hierauf würde er was am Himmel ist und den Himmel selbst leichter bei Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht. […] Zuletzt aber, denke ich, wird er auch die Sonne selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie als sie selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten imstande sein.«7 Die Bilder nehmen hierbei eine zentrale Rolle ein – Platon entwirft eine Bildabfolge in fünf Etappen: Schatten (phantasmata), Spiegelbilder von Gegenständen im Wasser, die Gegenstände selbst (eidola), die Gestirne am Himmel, die Sonne selbst. Erst nach dem Erkennen der Sonne wäre der Gefangene in der Lage zu begreifen, dass die Sonne Schatten erzeuge, und hätte kein Bedürfnis mehr, in die Höhle zurückzukehren.8 Die Höhle, so erklärt Sokrates das Gleichnis Glaukon, stellt die Welt dar, wie sie sich dem Sehsinn zeigt. Der Schein des Feuers entspreche der Kraft der Sonne. Der Weg in die Welt außerhalb der Höhle symbolisiere den Aufschwung der Seele in die Region der Erkenntnis.9 Der Weg aus der Höhle ist der Weg zu den Ideen, die sinnlich nicht wahrnehmbar sind, aber unveränderlich und ewig, während die Schatten an der Höhlenwand nur die sinnlich wahrnehmbaren Abbilder dieser Ideen sind. Sie sind unvollkommen und vergänglich. Philosophische Bildung bedeutet für Platon periagoge: die »Kunst der Umlenkung«10 von der Dunkelheit des Vergänglichen, den Abbildern in der Höhle, hin zur Schau des Lichts, hin zu den Ideen. Platon verdeutlicht so zum einen eine weitreichende kognitive Repräsentationstheorie und gründet diese zum anderen auf den Sehsinn – was ebenso wirkungsreich ist. Implizit ist damit auch eine Abstraktion vom Körper verbunden, schließlich bewegen sich die Angeketteten aufgrund eines Erkenntniswunsches und nicht aufgrund der viel naheliegenderen körperlichen Bedürfnisse wie Hunger oder Durst. Wenn nun aber die Höhle die Welt darstellt, wie sie sich den Sinnen darbietet, sind die Schatten auf der Höhlenwand die Schatten der Körper und Gegenstände
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Plat. rep. 515e4-6. Plat. rep. 516a4-b5. Plat. rep. 516b-e. Plat. rep. 517b1-6. Plat. rep. 518d2.
Die Höhle
außerhalb der Höhle, das heißt, ohne Gleichnis gesprochen, die Abbilder der Ideen. Umgelegt auf die Malerei bedeutet das, dass Butades als mythische erste Malerin diese Abbilder ein weiteres Mal festhält, wenn sie den Schatten ihres Geliebten umrandet. Sie erzeugt ein weiteres Abbild, das aber kein direktes Abbild der Ideen mehr ist, sondern vielmehr ein Abbild des Abbildes, da sie das Gesicht des Jünglings nicht direkt porträtiert, sondern bereits seinen Schatten. Butades’ Schattenriss des Jünglings ist ein einfacher Strich auf einer Wand, aber mit großer Wirkung: Er macht ihren Geliebten anwesend, auch wenn dieser schon längst in die Ferne gereist ist. Das Bild des Jünglings verweist auf den seienden Jüngling, aber nur wenn das Bild selbst nicht in seiner Seiendheit, das heißt der Wand und dem Strich darauf, gesehen wird. Das Bild ist damit zwar ein Seiendes, das aber nur funktioniert, indem es auf ein anderes Seiendes verweist und dabei selbst nichtseiend wird.11 Gefährlich und trügerisch sind diese Abbilder jedoch, da sie vorgeben, das Original, d.h. dasjenige, was sie abbilden, selbst zu sein oder das Original zu ersetzen, während sie selbst jedoch kein eigenes Seiendes sind. Wenn der Schattenriss des Geliebten der Butades vorgibt, den echten Jüngling zu ersetzen, für ihn zu stehen oder den Anspruch hat, in seiner eigenen Seiendheit wahrgenommen zu werden, stellt dies für Platon eine nicht hinnehmbare Gefahr dar: Es kommt zu einer Konfrontation mit dem Nichtseienden, das sich als Seiendes ausgibt, das »Undenkliches ist und Unbeschreibliches und Unaussprechliches und Unerklärliches«12 . Das heißt, das Höhlengleichnis beinhaltet zwar eine fundamentale Bildkritik, zeugt aber ex negativo von Platons Auffassung von Bildlichkeit und seiner Anerkennung der Wirkmächtigkeit der Bilder – sie sind sogar kräftiger als das Licht der Wahrheit und die Ideen, worin er gerade ihre große Gefahr festmacht13 . Um Kontrolle über diese Gefahr zu erlangen, soll die Einordnung des Unbeschreiblichen in die gesicherten Bahnen der Ideenlehre sorgen – der Schein und das Nichtseiende müssen unter das Sein, die Idee gestellt werden. Die repräsentationale Struktur der Wiedererinnerung, die in der platonischen Ideenlehre angelegt ist und die auf Ähnlichkeit beruht, kann auf den Versuch zurückgeführt werden, das Nichtseiende von Parmenides14 – eben das Undenkbare, das Unbeschreibliche und das Unaussprechliche15 – in das Erkenntnismodell zu integrieren, indem es unter das Sein gestellt und so denkbar gemacht wird. Bilder haben mit Parmenides den Status des Nichtseienden, das er durch eine statische Gegenüberstellung vom
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Plat. soph. 255c14-16. Plat. soph. 238c12-14. Bredekamp 2013, 37. Parm. DK 28 B 2. Plat. soph. 238c.
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Seienden trennt.16 Platon geht davon aus, dass es zwar unmöglich ist, das Nichtseiende selbst auszusprechen – und stimmt so mit Parmenides überein –, allerdings führt er eine entscheidende Änderung ein, indem er feststellt, dass sich das Nichtseiende durchaus prädizieren lässt, wenn es – wie es beim Bild der Fall ist – auf ein anderes Seiendes bezogen wird, etwa in Form einer Negation.17 Aus dem zweistelligen Modell des Parmenides, in dem sich Seiendes und Nichtseiendes strikt gegenüberstehen, wird somit bei Platon ein dreistelliges Modell. Mit der Ideenlehre entsteht ein Repräsentationsmodell, das eine Struktur der Wiedererinnerung bildet, und als solches versucht, die möglichen Formen des Gewahrwerdens auf einen einzigen Punkt, die Ideen als das wahre Sein, das Allgemeine, auszurichten. Die Ideen sind dabei ewig, unveränderlich, sinnlich nicht wahrnehmbar18 und bilden die Spitze einer univok vertikal nach unten hin abfallenden Seinshierarchie19 . Die Abstufungen darin bestimmen sich über ihr Abbildverhältnis zu den Ideen – und dieses beruht auf Ähnlichkeit (mimesis)20 . Dabei handelt es sich um einen Begriff von Ähnlichkeit, der weder vollkommen ist noch das Bild zum anderen des Abgebildeten machen würde. Das Bild zeichnet sich durch Teilhabe (methexis) am Abgebildeten, durch Teilhabe an der Idee aus.21 Mit diesen zwei Prinzipien ist die korrekte Abbildung gewährleistet: Abbilder dürfen kein anderes Bild schaffen, sondern sollen korrekt wiedergeben, dafür müssen sie sich nach dem Wahren richten, nach der Idee. Die beiden Prinzipien der Mimesis und der Methexis erlauben es Platon also, den Zwischenraum von Seiendem und Nichtseiendem zu unterteilen, zu skalieren. Er nimmt eine Division des Ontischen in der geschlossenen parmenideischen Seinskugel vor, aufgrund derer die Negativität des Bildes von einer externen zu einer internen Differenz des Seins wird22 und woraus ein System der Repräsentation erwächst. Dieses ermöglicht es, zuvor Undenkliches, Unbeschreibliches, Unerklärliches – die Bilder – denkbar, erklärbar und einordenbar zu machen. Der Platz, den Platon dem Unaussprechlichen, der Täuschung, den Bildern zuweist, liegt am untersten Ende der Ideenlehre – nach den mathematischen Gegenständen und den Dingen
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Parm. DK 28 B 2. Plat. soph. 238c. Plat. symp. 210e6-211b5. Alloa 2011a, 39. Der Begriff mimesis hat in Platons Schriften zahlreiche heterogene Bedeutungen wie Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, Nacheifern, Verwandeln, Schaffen von Ähnlichkeit, Erzeugen von Erscheinungen und Schein. (Gebauer/Wulf 1992, 41) In der Folge wird die Bedeutung als Schaffen von Ähnlichkeit im Zentrum stehen, wie Platon sie auch zumeist im Zusammenhang mit der Malerei verwendet. Dabei sei aber angemerkt, dass auch in dieser Verwendungsweise eine ethische Konnotation enthalten ist. (Mersch 2014a, 21) Vgl. dazu das Kap. »Mimesis und Methexis« im dritten Teil. Alloa 2011a, 24.
Die Höhle
sind die Bilder angeordnet.23 Dazu zählen Bilder in all ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen wie Vorstellungsbilder, Gemälde, Spiegelbilder, Skulpturen usw. Bestimmt sind alle Bilder nicht durch eine extrinsische Beziehung zu einem Objekt, sondern dadurch, dass sie intrinsisch an etwas Abwesendes, ein Urbild, gebunden sind. So ist auch der Schattenriss der Butades an den Jüngling gebunden, der den Schatten wirft, und hat die Aufgabe, auf ihn zu verweisen, an ihn zu erinnern, wenn er in die Ferne gereist und abwesend ist. Das Bild zeichnet sich durch seinen Verweischarakter aus – dadurch steht es immer schon im »Zwielicht eines Abschieds, bei dem die Präsenz des Gegenstandes durch eine Spur, ein seine Abwesenheit supplementierendes Erinnerungsmal ersetzt wird«24 . Im Gegensatz zu diesem Abwesenden, das ein Sein beansprucht, wird dem Bild von Platon kein eigenständiges Sein zugesprochen: Das Bild ist ein atopon, ein Ungereimtes, Uneindeutiges25 und entzieht sich damit der sicheren Verortbarkeit, »[n]ichtseiend also nicht wirklich ist wirklich das, was wir Bild nennen«26 . Diese Bildbestimmung ist nicht als prädikative aufzufassen, in der akzidentielle Eigenschaften an einer Entität zu fassen gesucht werden. Das heißt, es geht Platon hier nicht in erster Linie darum, dass die Entität, die Bild ist, in einem Sinne F ist und doch zugleich non-F. Diese Konzeption bleibt einer ontologisch horizontalen Beziehung zwischen Abbild und Archetyp verpflichtet, wird aber der Tragweite der platonischen Definition nicht gerecht. Platon strebt hier vielmehr eine ontologische Bildbestimmung an, also die Seins- und Existenzweise des Bildes betreffend: Das Bild selbst ist und ist zugleich nicht.27 Das Bild ist also weder seiend noch gänzlich nichtseiend – und darin liegt, so Platon, kein sophistischer Widerspruch. Vielmehr zeigt sich hierin, dass der Seinsstatus des Bildes im ontologischen Komparativ28 Platons eine Zwischenstufe einnimmt, die zwischen Sein und Nichtsein flottiert. Es ist weniger seiend als das wahrhafte Sein, aber doch nicht nichtseiend wie das Nichtsein. Um begrifflich beschreibbar zu werden, scheint dieser ontologisch prekäre Status des Bildes nicht nur bei Platon eine geradezu paradoxe Ausdrucksweise zu evozieren, wie das obige Zitat deutlich macht, sondern durchzieht die Bildforschung und in weiterem Sinne die Kunsttheorie und die philosophische Ästhetik. Platon schafft mit dieser Zwischenstellung des Bildes eine Aufhebung der streng monogenen eleatischen Ontologie und installiert damit die Möglichkeit von Prädikation. Gleichzeitig wird das Bild damit aber auch zu einem Instrument der Repräsentation, dessen Verweisinstanz strenger Regelung bedarf.
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Plat. Phaid. 78b-79b. Wetzel 1997, 133. Plat. soph. 240c1-3. Plat. soph. 240b15-16. Poetzsch 2019, 30-31. Siehe u.a. Bröcker 1959, 415-525; Allen 1960, 147-164, bes. 155-157; Vlastos 1973, 58-62.
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Das Bildsein ist vom Sein des geliebten Jünglings der Butades dahingehend unterschieden, da es auf diesen bezogen ist und dessen Bild darstellt. Als es selbst ist es nicht das, was es darstellt, aber hinsichtlich seiner Darstellungsfunktion ist es das Dargestellte selbst. Das Bild ist folglich nur auf der Basis dessen, dass sein Sein in einem anderen begründet ist. Es muss immer auf etwas gerichtet sein, es muss auf etwas Abwesendes verweisen, das es selbst nicht ist. Auf diese platonische Überlegung gründet sich sowohl eine philosophische wie auch ikonographische Tradition, in welcher der Ursprung der graphischen Darstellung mit der Abwesenheit oder Unsichtbarkeit des Abgebildeten verbunden und Wahrnehmung durch Gedächtnis ersetzt wird. Es ist dies die vermeintliche Tradition der Butades.
Epopteia und Anamnesis
Das Bild des Jünglings, das Butades entstehen lässt, macht ihn trotz seiner Abwesenheit sichtbar, simuliert seine sinnliche Anwesenheit. Hierin liegt für Platon das Problem der Abbilder. Die Gefangenen in der Höhle sehen die Schatten auf der Wand und genau dieses Sehen macht sie blind – blind für das Wahre, die Ideen, während sie die Schatten, die Abbilder der Abbilder, für das wahre Seiende halten. Erst durch die Umlenkung (periagoge) können sie aus dem Gefängnis der Erscheinungen und der Sinnlichkeit befreit werden. Der Aufstieg aus der Höhle ist zwar blendend, birgt in sich die Gefahr der Blindheit, führt aber dazu, den Blick auf einen intelligiblen Ort hinzuwenden, den Ort der Sonne, den Ort der Ideen. Obwohl der Sehsinn der genaueste Sinn ist, eignet er sich nicht, Wahrheit zu erkennen: »Denn das Gesicht ist der schärfste aller körperlichen Sinne, vermittels dessen die Weisheit zwar nicht geschaut wird – denn sehr heftige Liebe würde sie wohl erregen, wenn uns von ihr ein so helles Ebenbild dargeboten würde.«1 Die Wahrheit kann nicht gesehen werden, ebenso wie sie auch für alle anderen Sinne unzugänglich bleibt, die Wahrheit wird vielmehr geschaut. Platons Modell des Erkennens der Wahrheit beruht daher auf dem mystischen Sehen der Epopteia, was sich mit Daraufhinsehen oder – ähnlich dem Wort theoria – mit Schau oder Beschauen übersetzen lässt.2 Die Epopteia bezeichnet die höchste Form der Erkenntnis, die im Gegensatz zur Sinneswahrnehmung nicht täuschungsanfällig ist. Platon bezieht sich in der Einführung des Begriffes auf die Mysterien von Eleusis. Mit Epopteia wird darin die nach der Reinigung folgende höchste Form der Weihe beschrieben: die Betrachtung (epopteia) der kultischen Symbole.3 Vor allem in der Rede der Diotima im »Symposion« sowie im Dialog »Phaidros« wird die Epopteia angesprochen. Diotima richtet sich im »Symposion« an Sokrates, um ihm den Stufenweg in der Erkenntnis des Schönen darzulegen. Während das Ziel von Diotimas Rede in der Einweihung in die Mysterien des Eros liegt, die zur Betrachtung des Schönen führen und sich in der Epopteia vollenden4 , bezeichnet Epopteia im Dialog 1 2 3 4
Plat. Phaidr. 250d3-7. Plat. Phaidr. 250a-b. Riedweg 1987, 30-69. Plat. symp. 201d-212c.
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»Phaidros« das Wiedererkennen (anamnesis) der Schönheit. Mythologisch erklärt Platon die Anamnesis als wichtigstes Ergebnis des Fluges zum überhimmlischen Ort 5 : Die damals noch ungeborenen Seelen der zukünftigen Menschen durften die Götter auf diesem Flug begleiten und bekamen so etwas von den Ideen zu sehen, woran sie sich wiedererinnern können: »[J]ede Seele eines Menschen muß zwar ihrer Natur nach das Seiende geschaut haben, […] sich aber bei dem Hiesigen an jenes zu erinnern, ist nicht jeder leicht«6 . Die wenigen, die ein Ebenbild des Dortigen sehen und denen die Erinnerung an dieses stark genug beiwohne, »werden entzückt und sind nicht mehr ihrer selbst mächtig, was ihnen aber eigentlich begegnet, wissen sie nicht, weil sie es nicht genug durchschauen«7 . Diese Wiedererinnerung an die Schönheit sei ein Zustand »des Wahnsinns«8 , in dem einem Flügel erwachsen und man sich danach sehne, wie ein Vogel nach oben zu fliegen. Da dies aber nicht möglich sei, bleibe nur, wie ein Vogel hinaufzuschauen und dasjenige, was drunten ist, gering zu achten.9 Hier wiederholt sich die Topografie des Hohen und Niedrigen, des Oben und Unten aus dem Höhlengleichnis. Dieser Zustand des Wahnsinns sei allerdings keine Seelenkrankheit, sondern edelste Begeisterung und von edelstem Ursprung sowohl für diejenigen, die sie haben, wie auch für diejenigen, die in einer Gemeinschaft daran teilhaben. Die Teilnahme an dieser Form von Wahnsinn sei es, was die Liebe zum Schönen auszeichne.10 Dieser Zustand der Wiedererinnerung sei zwar entzückend, aber nicht vergleichbar mit der ursprünglichen Schau der Schönheit, in der man vom Leib losgelöst und zur Idee des Schönen aufgestiegen war: »Die Schönheit aber war damals glänzend zu schauen, als mit dem seligen Chore wie dem Jupiter, andere einem andern Gotte folgend, des herrlichsten Anblicks und Schauspiels genossen und in ein Geheimnis geweiht waren, welches man wohl das allerseligste nennen kann, und welches wir feierten, untadelig selbst und unbetroffen von den Übeln, die unserer für die künftige Zeit warteten, und so auch zu untadeligen, unverfälschten, unwandelbaren, seligen Gesichten vorbereitet und geweiht in reinem Glanze, rein und unbelastet von diesem unserm Leibe, wie wir ihn nennen, den wir jetzt eingekerkert wie ein Schaltier mit uns herumtragen.«11
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Plat. Phaidr. 247c3. Plat. Phaidr. 249e4-250a1. Plat. Phaidr. 250a7-250b1. Plat. Phaidr. 249d4. Plat. Phaidr. 249d. Plat. Phaidr. 249d3-248e4. Plat. Phaidr. 250b6-250c6; Hervorhebung: J. M.
Epopteia und Anamnesis
Die Epopteia, das Daraufhinschauen, beschreibt hier die Betrachtung der Schönheit durch die Seelen, bevor diese in den Körper fallen. Wie daraus deutlich wird, ist die Schau mit dem Erkennen des Höchsten, dem Eingeweihtsein in ein Geheimnis verbunden. Dies führt zu einer Art Enthobensein über alle anderen Unwissenden. Die höchste Einsicht, welche sich durch die Epopteia einstellt, ist eine visionär erfahrene, geistige Helligkeit, die eine bleibende Gewissheit schafft.12 Auffällig ist außerdem, dass die Epopteia durch ihren Bezug auf die Schönheit grundlegend von den sinnlich-kultischen Symbolen der eleusischen Mythen unterschieden ist, indem die Gerichtetheit der wahren Schau auf einen intelligiblen Bereich bezogen ist, der physisch gar nicht zu sehen ist. Diese Abkehr von der Materialität zeigt sich auch in der Epopteia selbst: Das Sehen, die Schau wird vom Leib abgekoppelt, wie sich im Zitat bereits ankündigt, wenn vom Körper als Kerker und Schalentier die Rede ist.13 Epopteia ist ein körperloses Sehen, es hat nichts mit den Augen zu tun und auch nichts mit dem Erkennen eines Körpers. Es bezeichnet vielmehr gerade das Über-einen-Körper-Hinwegsehen. Sinneswahrnehmung ist immer perspektivisch, hat verschiedene Ansichten und kann damit nie zu einer Totalität, einem totalen Erfassen führen. »Die mysterische epopteia hingegen kennt lediglich eine Ansicht und lediglich eine Sicht«14 , in der Erkenntnis generiert wird. Das Sehen als Schau wird zu einem intelligiblen Prozess, die physischempirischen Voraussetzungen treten dabei vollkommen zurück. Es sind nicht die physischen Augen, die sehen, sondern Sehen ist intelligibel, ist eine Schau. In der Epopteia geht es nicht um eine Erkenntnis durch Wahrnehmung, sondern um eine Erkenntnis durch Wiedererinnerung. Dafür ist es notwendig, von den Dingen, dem Sichtbaren, den Abbildern abzusehen, um zu dem Unsichtbaren, den Ideen zu gelangen. Oder, auf die Ebene der Bildwahrnehmung umgelegt: Vom materiellen Bildträger ist abzusehen, um die Darstellung erkennen zu können.
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Gaiser 1988, 26. Vgl. dazu das Kap. »Körpergräber und Haut-Hüllen« im dritten Teil. Nancy 2003a, 42. Frz.: »L’epopteia mystérique, en revanche, ne connaît qu’un aspect et qu’une vision« (Nancy 2000a, 42).
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Ziehen eines Strichs
Das Höhlengleichnis Platons sowie die damit verbundene Bildtheorie bleiben ebenso wie die daran geknüpfte – vor allem philosophische – Deutung des Mythos der Butades auf das Ergebnis reduziert: das fertige Bild, das Abbild des Jünglings, das Butades hat entstehen lassen, das Abbild des Abbilds, das sich durch Ähnlichkeit und Wiedererinnerung zum Modell auszeichnet. Noch einmal auf die Beschreibung des Mythos durch Plinius zurückkommend, zeigt sich allerdings, dass darin die Gewichtung nicht so stark auf dem Bild als Endprodukt liegt, sondern vielmehr auf dem künstlerischen Akt, dem Akt des Umreißens. Betont wird somit die künstlerische Handlung, das Ziehen eines Striches auf der Wand. Dies setzt sich auch in den Malereitraktaten fort, in denen die praktische Verfertigung von Bildern im Vordergrund steht. Allerdings kommt es darin auch zu einer Legitimation des Striches und der künstlerischen Praxis in einem durchaus platonischen Sinne. Indirekte Bezugnahmen auf Elemente aus dem Mythos der Butades lassen sich in der Definition der Malerei nachweisen, wie sie Cennino Cennini um 1400 in »Il libro dell’arte« gibt.1 Dieses Buch ist das erste nachmittelalterliche Handbuch der Malerei und von zentraler Wichtigkeit in der Malereigeschichte, da es den Paradigmenwechsel von der mittelalterlichen Theorie zur Kunsttheorie der Renaissance markiert.2 Cenninis Definition der Malerei stellt deren paradoxe Seinsweise heraus, wenn es heißt, diese sei eine Kunst, für die zugleich Phantasie3 und Ausführung der Hand notwendig sind, um nie gesehene Dinge zu (er-)finden, »di trovare cose non vedute«4 . Diese seien im Schatten der natürlichen Dinge verborgen, »caccian-
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Cenn. lib. 1. Verfasst wurde das »libro« während eines Aufenthalts Cenninis in Parma (ca. 1398 bis ca. 1403), überliefert ist es in drei Handschriften. Inhaltlich betrachtet ist das »libro« eine Kompilation aus mittelalterlichen, vornehmlich theologischen Lehrmeinungen und dem Kunstprogramm des Frühhumanismus, von Seite der Kunst steht es unter dem Eindruck von Giotto. (Kruse 2000, 305) Kruse 2000, 306. Zur Geschichte und Verwendung dieses Begriffes gibt Wulf (2005, 43-48, bes. 45) einen prägnanten Überblick und grenzt ihn von der Imagination sowie der Einbildungskraft ab. Zur Einbildungskraft siehe auch Hüppauf/Wulf 2006. Cenn. lib. 1.
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dosi sotto ombra di naturali«5 . Indem man sie mit der Hand festhalte, »fermarle con la mano«6 , zeige man, dass dasjenige, was nicht ist, sei, »dando a dimostrare quello che non è, sia«7 .8 Zwei Aspekte sind in dieser Definition besonders relevant: Erstens wird im letzten Teil der Definition Bezug genommen auf den mittelalterlichen Streit über das Sein der Malerei, der seine Wurzeln in der platonischen Philosophie hat.9 Entgegen der platonischen Tradition bezieht Cennini klar Stellung dafür, dass dem Bild ein eigenes Sein zukommt.10 Zweitens verwendet Cennini explizit das Wort Schatten (ombra), was auf den Ursprungsmythos der Malerei von Butades – aber auch auf das platonische Höhlengleichnis – verweist. Cennini erweitert hier aber den Ursprungsmythos der Butades zweifach: Zum einen geht es nicht nur um tatsächliche Schatten, sondern auch um unsichtbare Schatten, also die im Geist erzeugten Vorstellungsbilder, die durch den künstlerischen Akt sichtbar gemacht werden sollen. Zum anderen handelt es sich bei Cennini nicht bloß um ein Verfahren des Kopierens oder einen Transpositionsprozess. Das manuelle Setzen eines Striches geht immer einher mit fantasia, die hier als Leistung des Künstlers bzw. der Künstlerin im Malprozess begriffen wird und ein Abstandnehmen vom Modell erfordert.11 Der künstlerische Akt steht aber nicht nur bei Cennini am Anfang der Kunst, sondern eben auch bei Butades, wenn sie den Schatten des Jünglings umreißt: Der Strich verleiht dem Abbild Dauer, gleichzeitig eröffnet er eine unüberwindliche Kluft zum Jüngling. Der Strich markiert die Grenze zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden, indem er die Wand zum Bild macht, das den Jüngling zeigt, gleichzeitig aber nicht dieser ist. Während der Strich also in der künstlerischen
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Cenn. lib. 1. Cenn. lib. 1. Cenn. lib. 1. Kruse 2000, 310. Wenn Kruse allerdings schlussfolgert, dass es Cennini (auch mit dem Begriff der incarnazione) um »die Verwandlung von Geistigem in Materie, von Vorstellungsbildern (fantasia) in gemalte Bilder« (Kruse 2000, 325) geht, und damit eine Zwei-Welten-Lehre bzw. eine Trennung in Intelligibles und Sinnliches annimmt, wird dem in der vorliegenden Arbeit eine andere Perspektive gegenübergestellt. Siehe dazu das Kap. »Inkarnat« im dritten Teil. Siehe dazu Kruse (2000, 311-312), welche die Positionen von Platon, Augustinus, Alanus de Insulis und Boccaccio in Bezug auf Cennini kurz diskutiert. Siehe auch Summers 1981, 41-55. Dieser Seinsstatus des Bildes wird in der deutschen Übersetzung von Albert Ilg durch das Wort vorstellen deutlich abgeschwächt, wenn es heißt: Die Malerei ist eine Kunst »welche zugleich mit der Ausführung der Hand Phantasie erfordert, um niegesehene Dinge zu erfinden (indem man sie in die Hülle des natürlichen steckt) und sie mit der Hand festzuhalten, indem als wirklich vorzustellen ist, was nicht vorhanden« (Cenn. lib. 1). Damit zeichnet sich schon der Übergang von der platonisch geprägten Mimesis transzendenter Wahrheit hin zur neuzeitlichen Lehre der Repräsentation ab: Mimesis verliert ihren ethischen Charakter und wird konstruktiv, das heißt, sie objektiviert sich durch die Proportionslehre und die Geometrie der Perspektivkonstruktion. (Mersch 2014a, 22)
Ziehen eines Strichs
Praxis von zentraler Wichtigkeit ist, nimmt er in der platonischen Philosophie eine untergeordnete Rolle ein. Trotzdem fließt die platonische Ideen- und Bildlehre in die Traktate zur Kunst ein, das Hauptaugenmerk liegt aber auf dem Prozess der künstlerischen Produktion. Der Strich nimmt dementsprechend eine wichtige Rolle ein, gleichzeitig wird versucht, ihm eine platonische Deutung zu geben. Dies zeigt sich in der 1672 publizierten, manifestartigen Abhandlung mit dem Titel »L’idea del pittore, dello scultore e dell’architetto« von Giovanni Pietro Bellori: Auf einem Kupferstich von Albertus Clouwet12 ist eine fast nackte Frau mit zum Himmel erhobenen Augen zu sehen, in der linken Hand einen Zirkel und in der rechten einen Pinsel haltend, mit dem sie beginnt, einen Strich zu setzen. Ähnlich wie im Mythos der Butades spielt auch hier der Schatten eine entscheidende Rolle: Der Schatten der rechten Hand wird ohne scheinbare Notwendigkeit auf die Leinwand geworfen. Betitelt ist dieses Bild mit dem Wort L’Idea. Das gleiche Wort findet sich zudem auf dem Marmorblock links; es verweist sowohl auf die Göttin, Dea, als auch auf die Idee im platonischen Sinne: Der Körper der nackten Göttin ist eine Übergangsfigur (Medium). Ihre Augen sind zum Himmel gerichtet, dort wo das Vorbild der vollkommenen Schönheit, die Idee des Schönen, liegt. Über die Hand in den Kopf und weiter über den Zirkel und die rechte Hand auf die Leinwand soll die Idee des Schönen übergehen. Auf dieser schieben sich wiederum zwei Projektionsbilder übereinander: die Silhouetten auf der Bildoberfläche und der Handschatten. Letzterer drückt dabei den Schatten der Malpraxis aus, die dem himmlischen Vorbild, das nur für die Schau, nicht aber für die Sinne zugänglich ist, entgegensteht.13 Für Bellori ist die Praxis unerlässlich, um die Idee in den Stoff überzuführen. Gleichwohl müsse sie eingeschränkt sein, wie er mit direktem Bezug auf Platon ausführt: »Auf diese Weise wurde die Idee und Göttlichkeit der Schönheit von den weisen Denkern der Antike im Geiste geformt, immer in Hinblick auf den höchsten Schönheitsgehalt der Natur, wogegen das Häßlichste und Niedrigste jene Gegenidee darstellt, die sich nur aus der Erfahrung bildet, obwohl Plato verlangte, die Idee solle eine vollkommene Erkenntnis der vom Übernatürlichen ausgehenden Dinge sein. Quintilian hat die Lehre aufgestellt, alle von der Kunst und vom menschlichen Geiste überhaupt zur Vollkommenheit gebrachten Werke hätten ihren Ausgang unmittelbar von der Natur genommen, von der sich allein die wahre Idee ableite. Daher bilden alle, die ohne Wissen um die Wahrheit das Ganze nur mit der Erfahrung zuwege bringen wollen, nur Larven anstatt Gestalten.«14 Auch andere Kunsttheoretiker haben den Schatten als zentrales Element für den Ursprung der Malerei thematisiert, so etwa Vicente Carducho. Er schließt seine 12 13 14
Vgl. Abb. 7. Stoichita 1999, 92-94. Bell. Id. 21.
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»Dialogos de la pintura« (Madrid, 1633) mit dem Stich eines Emblems ab,15 der eine leere Bildfläche zeigt, die von einem Pinsel berührt wird. Sie ist umgeben von einem Lorbeerkranz, der wiederum von einem Band mit einer lateinischen, aristotelisch inspirierten Inschrift umwunden ist, welche die Überwindung der Tabula rasa durch den Übergang von der Potenz zum Akt lobt. Erklärt wird das Emblem durch einen spanischen Vierzeiler unterhalb, in dem es heißt, dass nur der Pinsel, der von einem souveränen Wissen geführt wird, diesen Übergang vollziehen kann. Hervorzuheben ist dabei, dass die Bildfläche leer ist – zu sehen ist lediglich der Schatten des Pinsels, der für einen Augenblick die Funktion des Strichs ersetzt oder übernimmt.16 Auch der nackte Maler betont den Malprozess, und zwar radikal, indem er ihn zur Gänze ins Bild setzt: der Maler beim Akt des Malens. Nicht nur die Hand, welche den Zug ausführt, sondern der ganze Körper wird während des Malakts gezeigt: seine Haltung aufrecht, der Kopf ganz leicht nach vorne gebeugt. Sein Blick ist konzentriert, geradeaus gerichtet. Sein linker Arm hängt am Körper herab, zwischen Daumen und Zeigefinger hält er eine rechteckige Palette eingeklemmt. Der andere Arm, der rechte, ist erhoben. In der Hand hält er – bereit zum Ansetzen – ein Malmesser. Er ist im Prozess des Malens, wenn auch in diesem Moment ohne Pinsel. Seine fertig gemalten Bilder bedeuten Freud im Gegensatz zum Malakt wenig: »Wenn ein Bild fertig ist, betrachte ich es oft und frage ich mich: Warum die ganze Mühe? […] Im Allgemeinen schaue ich mir meine Arbeiten nur ungern an, wenn sie fertig sind.«17 Der Malprozess von Lucian Freud ist durch eines seiner Modelle, Martin Gayford, gut dokumentiert. Wie aus diesen Aufzeichnungen hervorgeht, verwendete Freud die Spitze eines Palettenmessers u.a. für das Mischen der Farben: »[Z]um Beispiel wird eine winzige Menge Rot zu einem großen Klecks Weiß gegeben«18 . Aber auch zum Farbauftrag – ebenso wie zum Abkratzen von Farbe – hat Freud ein solches Malmesser genutzt. Ein künstlerischer Akt im Vollzug, Painter Working beim Farbauftrag, Butades beim Ziehen eines Striches – es ist dieser künstlerische Akt, der am Ursprung der Kunst steht und nicht das Abbild des Jünglings, das daraus resultiert: Wenn Butades ansetzt – und nach ihr alle anderen Malerinnen und Maler –, um auf der rauen Wand den Schatten ihres Geliebten zu umranden, beginnt sich ein Bild abzuzeichnen. Der Strich macht präsent, was abwesend ist, aber nur, wenn er selbst nicht gesehen wird – die ungesehenen Striche erzeugen die Darstellung. Es ist genau dieser paradoxe und prekäre Charakter des Striches, den Derrida in seiner Deutung der Butades stark macht und dabei auf Platon Bezug nimmt:
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Vgl. Abb. 8. Stoichita 1999, 95. Freud, zit. n. Gayford 2013, 81. Gayford 2013, 109.
Ziehen eines Strichs
»Wenn wir soeben aus Platons Höhle herausgetreten sind, so nicht, um endlich, nach einer Konversion, Anabasis oder Anamnese, das eidos der Sache selbst zu sehen. Wir haben die Höhle verlassen, weil die Speläologie Platons – unfähig, diesen Umstand zu berücksichtigen oder überhaupt zu sehen – das Nichterscheinen eines trait verfehlt, der weder sinnlich noch intelligibel ist.«19 Platons Höhlengleichnis, so Derrida, zielt darauf ab, die Sache selbst zu erkennen. Ihm hingegen gehe es darum, zu erkennen, dass Erkennen selbst immer davon abhängig ist, was unerkannt bleibt. Der Strich der Butades bringt dies besonders deutlich zum Ausdruck. Dies liegt zum einen an seinem »differentielle[n] Nichterscheinen«20 . Damit verbunden ist der ontologisch uneindeutige Status des Striches: Im Gegensatz zu der breitflächig aufgetragenen Farbe ist er weder sinnlich noch intelligibel21 , er ist weder seiend noch nichtseiend. Zum anderen kommt dem Strich nach Derrida ein paradoxer Charakter zu: Der Strich oder Zug soll dem Geliebten der Butades Dauer verleihen, ihn konservieren. Gleichzeitig leitet er einen notwendigen Entzug vom Modell ein. Derrida beschreibt dieses Abstandnehmen von dem, was repräsentiert wird, wie folgt – dabei bezeichnet er den Stift/Griffel, oder mit was auch immer Butades den Umriss ihres Geliebten nachgezogen haben mag, den Worten Rousseaus folgend als Stäbchen: »Zweifellos ist auch das ein Bild, was da am Ende des Stäbchens sich abzeichnet; aber ein Bild, das sich selbst noch nicht ganz von dem, was es repräsentiert, getrennt hat; das von der Zeichnung Gezeichnete ist beinahe präsent, leibhaftig, in seinem Schatten. Der Abstand des Schattens oder des Stäbchens ist beinahe nichts. Diejenige, die umreißt, das Stäbchen jetzt in den Händen, hält, berührt beinahe, was beinahe der andere selbst ist, bis auf eine winzige Differenz; diese kleine Differenz – die Sichtbarkeit, die Verräumlichung, der Tod – ist zweifellos der Ursprung des Zeichens, der Abbruch der Unmittelbarkeit […]. Das geschriebene Zeichen ist vom Körper abwesend«22 . Butades, indem sie den Strich setzt, ist ganz nahe am leibhaftigen Schatten, aber dennoch schafft sie eine unüberbrückbare Distanz. Am Beginn des künstlerischen Aktes steht notwendig genau dieser Abbruch der Unmittelbarkeit: Eine Differenz tritt zwischen das Zeichen und dem, was es darstellen soll. Der sich in der Differenz zwischen Ursprung und Supplement, Modell und Bild vollziehende Aufschub wird zum zentralen Element von Derridas Philosophie, den er mit dem Begriff der différance beschreibt. Ausgehend vom französischen Verb différer ergeben sich
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Derrida 1997, 58. Derrida 1997, 57. Derrida 1997, 58. Derrida 1983, 403. Siehe dazu auch Derrida 1983, 395-402.
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zwei Bedeutungen: einerseits ein bewusstes oder unbewusstes zeitliches Verschieben, Aufschieben oder Verzögern – was Derrida mit dem Wort Temporisation zusammenfasst.23 Andererseits bedeutet différer nicht identisch sein, anders sein, erkennbar sein, was eine Verräumlichung, ein Intervall, eine Distanz erfordert.24 Den notwendigen Aufschub zwischen Bild und Modell, den Platon genau erkennt, aber zu kontrollieren versucht, indem er dem Bild eine eindeutige Rolle in der Seinshierarchie zuordnet, wird für Derrida zur Hypothek seiner Bild- und Zeichentheorie und der Mythos der Butades zum Ursprungsmythos des Differierens und Abstandnehmens. Dabei wird das Bild losgelöst von seiner Funktion des Verweisens auf einen Gegenstand oder eine Idee. Der Status des Bildes ändert sich damit entscheidend: Es ist nicht wie bei Platon als pros alla25 bestimmt, als uneigenständig Seiendes, das auf etwas anderes verweisen muss, um Bild zu sein, es ist auch nicht mehr länger ein Abbild, das dem Anspruch der Perfektion verpflichtet ist. Kein Zeichen oder Bild kann sich durch eine innere Nähe oder Wesensbeziehung zur bezeichneten Sache bestimmen: Zeichen und Bilder sind willkürlich in der Art der Bezeichnung und sie beziehen sich nicht auf die Sache selbst, sondern immer schon auf andere Zeichen oder Bilder. So entsteht eine frei flottierende Bewegung, in der kein Zentrum bestimmbar ist.26 Es gibt kein Zeichen, kein Bild, das näher an dem wäre, was es repräsentiert. Sie verweisen nicht auf etwas anderes, das abwesend ist, sondern schaffen in der Differenz zu anderen eine eigene Wirklichkeit: Sie setzen sich an die Stelle von demjenigen, das sie bezeichnen. Dieser Prozess zieht sich ewig fort, wodurch es unmöglich wird, bis zu dem eigentlich Ersetzten – einer Präsenz – zu gelangen.27 Das Zeichen ist dann die erste und auch die letzte Instanz, da die Sache nur in ihm und durch es existiert, ohne dass sie jemals zu ihrer Selbstpräsenz zurückgelangen könnte. Sobald die erste Substitution gegeben ist – und diese ist immer schon gegeben28 – ist die endlose Verkettung von Supplement zu Supplement nicht mehr aufzuhalten. Während also das Bild in der platonisch geprägten Interpretation des Mythos der Butades die Aufgabe hat, auf ein abwesendes Seiendes zu verweisen, wird der Mythos der Butades, und vor allem der Zug, den sie setzt, bei Derrida zum Ausgangspunkt für die unwiderrufliche Abkehr oder Umkehr vom Modell, vom ursprünglich Seienden, zu dem es kein Zurück und keinen eindeutigen Verweis gibt. Platon erkennt zwar den Aufschub vom Modell, will die produktive Rolle des Stri-
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Derrida 2004, 117. Derrida 2004, 118; 126. Plat. soph. 255c14-16. Derrida 1976, 437. Derrida 1983, 271. Derrida 2004 u.a. 124.
Ziehen eines Strichs
ches aber unterbinden, um Wiedererkennbarkeit zu gewährleisten. Der Strich für Derrida hingegen »unterbricht hier jede reine Identifizierung und bildet […] unsere allgemeine Hypothek für jedes Denken der Zeichnung, die letztlich, d.h. an der Grenze, de jure unzugänglich bleibt. Diese Grenze wird nie in einer Gegenwart erreicht, doch die Zeichnung deutet stets auf diese Unerreichbarkeit hin, auf die Schwelle, wo nur erscheint, was den Strich umgibt, das, was er verräumlicht, indem er abgrenzt, und was ihm folglich nicht (an)gehört. Nichts gehört dem Strich oder Zug (an), also auch nichts der Zeichnung oder dem Denken der Zeichnung, nicht einmal die eigene ›Spur‹. Nichts ist mit dem trait verwandt, nicht einmal teil hat etwas an ihm. Er verbindet nur, fügt nur zusammen, indem er trennt.«29 Der Strich in seiner ontologischen Uneindeutigkeit hat an nichts teil, an keiner Idee, an keinem Seienden. Er leitet den Aufschub, die Trennung ein, die unaufhebbar ist. Die Striche lassen sich nicht zur Gänze in eine Repräsentationshierarchie einbetten, da sie immer beginnen, das Modell zu ersetzen. Der Strich hat das Bild so weit vom Modell abgelöst, entfernt, entzogen, dass es zu keiner Wiedererinnerung an eine Idee, ein Höheres, Unsinnliches, Unsichtbares kommen kann. Keine Seinshierarchie, an deren Spitze die Ideen stehen, sondern eine »Kette der Supplemente«30 , die unendlich ist und von der es kein Außerhalb gibt. Ein Strich bezieht sich auf den anderen, dieser wiederum auf die anderen usf. Ein Verweis auf ein Außerhalb der Repräsentation, auf eine Sache selbst, ist unmöglich, denn es »hat immer nur Supplemente, substitutive Bedeutungen gegeben, die ihrerseits nur aus einer Kette von differentiellen Verweisen hervorgehen konnten, zu welchen das ›Wirkliche‹ nur hinzukam, sich lediglich anfügte«31 . Die platonische Speläologie verfehlt, so Derrida, »den trait genau deshalb, weil sie glaubt, ihn zu sehen oder zu sehen zu geben. In der Hellsichtigkeit dieser Speläologie verbirgt sich ein anderer Blinder, nicht der Höhlenbewohner, sondern einer, der die Augen gegenüber dieser Blindheit, dieser Blindheit hier verschließt«32 . Platon ist also nach Derrida selbst ein Blinder und nicht nur seine Höhlenbewohnerinnen und -bewohner, da er die Augen verschließt vor dem differentiellen Strich. Die Striche, die Butades setzt, sind zwar materialiter präsent, werden aber nur indirekt wahrgenommen: In der Wahrnehmung geht es nicht um sie, sondern um das, was sie entstehen lassen. Sie sind das Unsichtbare, welches notwendig ist, um das Sichtbare hervorzubringen. Dieses Verweisgeschehen in der Kette der Signifikanten ist unmöglich selbst wahrnehmbar, aber die Zeichnung, das Bild, zeugt
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Derrida 1997, 57. Derrida 1983, 271. Derrida 1983, 274-275. Derrida 1997, 58.
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von dieser Unmöglichkeit.33 Die »Entkoppelung des Symbolischen vom Realen und (die) Auszeichnung des Sinns gegenüber dem Wahren«34 bilden folglich die systematisch-philosophische Hypothek für Derridas Bild- und Zeichentheorie und Butades ist seine Leitfigur dafür: »[E]ine skiagraphia, eine Schattenschrift, begründet in all diesen Fällen eine Kunst der Blindheit. Von Anfang an gehört die Wahrnehmung zur Erinnerung. Sie schreibt, und damit ist ihre Liebe bereits nostalgisch. Abgelöst von der Gegenwart der Wahrnehmung, abgefallen vom Ding selbst, das sich auf diese Weise aufteilt, ist der Schatten ein Simultangedächtnis, und der Stab Dibutades’ ist ein Blindenstock.«35 Das Bild wird dadurch nicht mehr vom Sehen, sondern von der Blindheit und dem Unsichtbaren her gedacht und somit in seiner Entzogenheit.
33 34 35
Derrida 1993, 59. Vgl. hierzu das Kapitel »Blindheit am Ursprung der Malerei« im zweiten Teil. Mersch 2002, 213. Derrida 1997, 54. Die Bezeichnung skiagraphia im Zitat ist missverständlich, da damit bei Derrida der Entzug gemeint ist, der durch das Ziehen einer Linie entsteht, die für Bilder konstitutive Abwesenheit, also das Prinzip der différance. Kunstgeschichtlich gedeutet bezeichnet die Skiagraphie hingegen die Schattenmalerei. Diese beschreibt nicht die Umrandung eines Schattens, also den Schattenriss, wie er im Mythos der Butades vorkommt, sondern vielmehr die Illusionsmalerei. Das heißt, der Schatten wird nicht wie im Mythos der Butades vom Körper losgelöst, sondern der Darstellung des Körpers wird durch Hinzufügen von Schatten bzw. Schattierungen größere Lebendigkeit verliehen. Die Schattenmalerei strebt also die Fiktion (Mimesis) des Lebens an. (Belting 2011, 181-184) Oder anders formuliert: Indem sie sich der empirischen Erscheinung annähert, beginnt sie zu täuschen. Genau aus diesem Grund wurde sie auch von Platon (Phaidr. 276a8-10) dezidiert kritisiert. Im dritten Teil der Arbeit wird auf diese Schattenmalerei näher eingegangen und die Legende des Zeuxis, des wohl berühmtesten Schattenmalers, ist diesem Teil dementsprechend auch vorangestellt.
à – Differenz als Materie »(Pinsel-)Strich von Existenz, der nichts rettet, nichts verliert, sondern alles exponiert«1 . »Jetzt weiß ich, dass der entscheidende Punkt beim Malen die Farbe ist: Bei der Malerei dreht sich alles um Farbe.«2
Der nackte Maler Lucian Freud. Kein Strich ziert das Bild. Es gibt keinerlei Schatten. Nichts wird umrissen. In seiner Hand hält er keinen Stift, keinen Griffel, kein Stäbchen und auch keinen Pinsel. Das Bild ist voll Farbe, Farbmassen türmen sich darauf.3 Diese sind nicht mehr ausschließlich mit dem Pinsel zu bearbeiten, sondern verlangen ein Malmesser und ein solches hält der Maler in seiner rechten Hand. Aufspachteln, Aufschichten der Farbe und Abtragen, Abritzen, Modellieren mit der Farbe. Er modelliert so seinen eigenen Körper auf der Leinwand mit seinem eigenen Körper. »›Rohe materielle Fakten‹ sind das Thema der Bilder von LF«4 . Sie sind ausgesetzt, befinden sich auf einer Fläche, einer Ebene, bilden eine Stätte und differieren sich. Die Materialität wird zur Differenz selbst, die Farbmassen am Bild von Lucian Freud überlagern sich, stoßen aneinander an, Materialität an Materialität. Seine materiallastige Malweise hat sich Freud erarbeitet, vorausgegangen ist dem eine Schaffenskrise. Sein Frühwerk ist noch zeichnerisch-linear geprägt und die Kontur ist ein konstituierendes Gestaltungselement. Bald machte sich ein Konflikt bemerkbar, der darin kulminierte, zu malen, aber anstatt der Farbe in der Struktur der Zeichnung zu denken. Aus diesem Grund wendet er sich davon ab und gibt kurzzeitig das Zeichnen sogar ganz auf.5 »My eyes were completely going mad, sitting down and not being able to move. Small brushes, fine canvas. Sitting
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Nancy 2014a, 205. Frz.: »touche d’existence qui ne sauve rien, ne perd rien, mais expose tout« (Nancy 1993b, 226). Freud, zit. n. Gayford 2013, 54. Vgl. Abb. 9 und 10. Gayford 2013, 18. Freud/Smee 2006, 18.
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down used to drive me more and more agitated. I felt I wanted to free myself from this way of working.«6 Um 1960 findet Freud zu der für ihn so charakteristischen Malweise, dabei geholfen habe ihm Francis Bacon. Die Linearität wird im Zuge dessen größtenteils zurückgedrängt.7 Von nun an gebraucht er die pastose Farbe geradezu wie »menschlichen Lehm«8 , um seine Figuren zu modellieren. Dem korrespondiert auch ein Wechsel vom feinen Zobelhaarpinsel hin zu den viel steiferen Schweineborsten. Und während er früher eine Regel befolgte, nämlich diejenige, nie eine Malschicht über die andere zu setzen,9 wird genau dies bestimmend für sein Spätwerk. Diese technische Erneuerung hat in mehreren Belangen Auswirkungen, vor allem hinsichtlich des Formats der Bilder sowie der Arbeits- und Darstellungsweise: Die Bilder werden größer, manche übersteigen sogar zweifach die Lebensgröße des Modells, die Anordnung der Personen am Bild wird dynamischer, manche erstrecken sich diagonal, manche neigen sich in eine Ecke usw. Während er früher sehr nahe am Modell saß, arbeitet er von nun an im Stehen und bewegt sich um das Modell hin zur Leinwand. »I find now if I take too fixed a position, I lose the person, if you know what I mean. The painting will begin to flatten. I feel a need to see as much of the subject as I can, sometimes from different angles. A portrait isn’t just a flat image. It is a person. It needs to have dimension.«10 Seine vormals fixierte Arbeitsposition löst eine Beengung bei ihm aus: Zunehmend arbeitet er mit dem Bewusstsein, Kunst zu produzieren und nicht mehr befreit malen zu können.11 Freud meint dazu: »I don’t want to make painting look like the solving of a problem. I want it to be more inevitable than that.«12 Die physischere Arbeitsweise im Stehen korrespondiert mit der steigenden Körperlichkeit der Darstellungen in Form der Nacktporträts und der zunehmenden Größe der Bilder sowie dem massiven Farbauftrag. Nicht mehr der Strich ist dabei das differentielle Element, das im künstlerischen Akt gesetzt wird, sondern die Farben, die rohen materiellen Fakten. Diese sind es auch, welche Nancy an Derridas Konzept der différance hervorhebt und ihr damit eine weitere Einschreibung hinzufügt: aus der différance wird die »différance«13 . Das bereits von Derrida hervorgehobene a der différance
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Freud, zit. n. Howgate 2012, 24. Freud/Smee 2006, 18. Messling 2013, 93 mit Bezug auf Hughes 1987, 18. Gruber 2013, 107. Freud 2012, 213. Gowing 1984, 132. Freud, zit. n. Gowing 1984, 150. Nancy 2014a, 25; 44. Frz.: »différance« (Nancy 1993b, 27; 48). Mit diesem à grenzt sich Nancy nicht nur von Derridas Begriff der différance, sondern auch von Merleau-Pontys Begriff des être au monde (1966, 7) ab. Zur nicht unumstrittenen Übersetzung von letzterem ins Deutsche Zur-Welt-sein vgl. die Fußnote des Übersetzers, Rudolf Boehm. (Merleau-Ponty 1966, 7) Auch wenn in Merleau-Pontys Konzept das à bzw. zu ebenfalls auftritt, so kritisiert Nancy an
à – Differenz als Materie
wird von Nancy noch einmal verstärkt, indem er ihm einen Accent aigu einschreibt, wodurch es als zu konnotiert ist. Er betont damit, dass jedes Sein zu einem anderen Sein stehen muss – nicht in, nicht durch oder an, sondern Sein ist immer zu etwas anderem, wie am Bild von Freud die Farbe immer zur anderen Farbe ist: Sein-zu (être-à), oder, wie Nancy auch schreibt, Welt, »bedeutet Bezug, Beziehung, Anrede, Sendung, Präsentation, Schenkung an – und wären es nur Seiende oder Existierende an oder zu einander. Wir haben das Seinin zu kategorisieren gewusst, das Sein-für oder das Sein-durch, doch wir müssen noch das Sein-zu denken, oder das Zu des Seins, seinen ontologischen weltlichen und weltweiten Zug.«14 Diese Transformation bzw. Erweiterung der différance um einen weltlichen Zug ist weniger eine Kritik an Derrida, sondern Nancys Interpretation von Derridas Denken, das er bereits als »absoluten Realismus des reinen Realen«15 deutet. Darunter versteht er eine Affirmation der Materialität, was aber nicht bedeutetet, darin aufzugehen, sondern dass die Materien in Kontakt und damit in ein differentielles Spiel eintauchen. Das Reale ist daher beständig dabei, sich zu realisieren, nie aber realisiert, sondern stets im Austausch und dabei, sich zu schaffen, indem es sich differiert. Der Malprozess exponiert genau dieses Geschehen, weshalb auch für Nancy der primordiale Akt des Malens, aus dem heraus ein Bild entsteht, zentral ist, nicht aber das fertige Bild: Einen Zug zu setzen, führt zum Entzug der Präsenz, gleichzeitig ist es genau dieser Entzug, der präsentiert wird, und zwar in seiner Eigenschaft, unrepräsentierbar zu sein. Es wird ein Ereignis hervorgezogen, das nicht ankommt, sondern in seiner materiellen Existenz stets im Ankommen ist.16 Die différance als Sein-zu ist immer zu (à) einer Konkretheit. Nancy grenzt sich dabei explizit ab von Edmund Husserls Zurück zu den Sachen selbst 17 , das er versteht als »bis zur Konstitution einer ursprünglichen Bedeutung gelangen«18 und deshalb
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diesem Konzept trotz einiger Parallelen die damit verbundene Konnotation der Einheit, der Kontinuität sowie die starke Nähe zu Heideggers In-der-Welt-sein, das suggeriere, man könne auch außerhalb der Welt sein. Dementgegen betont Nancy den Charakter des Zu und hebt auf fast obsessive Weise hervor, dass man immer schon zur Welt ist. Nancy 2014a, 15. Frz.: »Monde veut dire au moins être-à, il veut dire rapport, relation, adresse, envoi, donation, présentation à – ne serait-ce que des étants ou existants les uns aux autres. Nous savions catégoriser l’être-en, l’être-pour ou l’être-par, mais il nous reste à penser l’être-à, ou le à de l’être, son trait ontologiquement mondain, et mondial.« (Nancy 1993b, 18) Nancy 2014b, 76. Frz.: »un réalisme absolu du réel pur« (Nancy 2001c, 62). Nancy 1988, 182. Husserl 1976, 41. Nancy 2014a, 21. Frz.: »parvenir jusqu’à la constitution d’une signification originaire« (Nancy 1993b, 24).
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ablehnt. Beim Konzept der différance geht es nicht um das Abtragen von Bedeutungen, um zu einer ursprünglichen zu kommen, nicht um eine Reduktion oder eine Einklammerung, um zum Ursprung der Dinge vorzustoßen, sondern um eine Ontologie, die in besonderer Weise für und anhand des Bildes zu denken ist. Damit einher geht eine neuerliche Umwendung des Mythos der Butades: »Deshalb ist der (Schrift)zug dieser Signatur stets ein Körper, eine res extensa als Ausdehnung – Arealität, Spannung, Exposition – seiner Singularität. Ausgesetzter Körper: es ist kein In-Sicht-Setzen dessen, was zunächst verborgen, verschlossen gewesen wäre. Hier ist die Exposition das Sein selbst, und das sagt sich: das Existieren. Expeausition, Aushäutung: Signatur unmittelbar auf der Haut selbst, als die Haut des Seins.«19 Der Strich der Butades ist ein Körper, ist Materie, ist ein Seiendes und als solches ist er immer ausgedehnt, exponiert und zu anderen.20 Was Freud in seinem Bild mit der Schichtung der Farbmassen zeigt, gilt auch für den Strich, der bei Derrida im Prekarität zwischen Sinnlichkeit und Intelligiblität gedacht wird. Das unhörbare Zu (à) in der différance zeigt die Verräumlichung, die Ausgesetztheit und die Materialität des Striches, aber nicht im Sinne einer Dingontologie21 , nach der die Welt als Konstellation von Dingen mit Eigenschaften besteht, sondern im Kontakt zu anderen. Daraus folgt, dass das Sein nie ganz bei sich ist. Es ist, weil es außerhalb von sich, in Bezug steht: »Sein ist jedes Mal eine Gegend, ein Areal, seine Realität gibt sich als Arealität. Auf diese Weise ist Sein Körper. Nicht ›inkorporiert‹, nicht ›inkarniert‹, nicht einmal als ›eigener Körper‹: sondern Körper, also sein eigenes Außerhalb habend, differierend.«22 Der Körper wird als Grenze verstanden, an der es zu Kontakten kommt, an dem Verräumlichung stattfindet, an dem sich Sinn eröffnet. Körper sind die Achsen der Welt und ohne sie kann Sinn wie auch Existenz nur in Abstraktion gedacht werden. Körper bilden dabei keine Identität und sind 19
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Nancy 2014a, 88. Frz.: »Aussi le tracé de cette signature est-il toujours un corps, une res extensa en tant qu’extension – aréalité, tension, exposition – de sa singularité. Corps exposé: ce n’est pas la mise en vue de ce qui, tout d’abord, eût été caché, renfermé. Ici, l’exposition est l’être même, et cela se dit: l’exister. Expeausition: signature à même la peau, comme la peau de l’être.« (Nancy 1993b, 97) Zur Figur der Haut und der Expeausition vgl. vor allem die Kap. »Nacktung« und »Porosität« im dritten Teil. Entgegen Shapiro (1994), der davon ausgeht, dass der Begriff Körper bei Nancy immer den Körper des Denkens bezeichnet, muss eingewendet werden, dass es diese drei Charakteristika sind (ausgedehnt, exponiert, zu anderen), die ihn beschreiben. Denken selbst muss nach Nancy schon wieder als Körper und damit als ausgedehnt, ausgesetzt und zu anderen verstanden werden. Heidegger 1977a, 100. Nancy 2014a, 54. Frz.: »Être est chaque fois une aire, sa réalité se donne en aréalité. C’est ainsi qu’être est corps. Non pas ›incorporé‹, ni ›incarné‹, même en ›corps propre‹: mais corps, donc ayant son propre au-dehors, différant.« (Nancy 1993b, 58)
à – Differenz als Materie
auch nicht in sich geschlossen, sondern durch den Kontakt ereignet sich eine Fraktur bzw. ein Bruch, die Sinn wie auch Materie eröffnen und konstituieren.23 Das heißt, noch vor jedem Symbolischen gibt es Verräumlichung und diese ursprüngliche Verräumlichung ist Materie. Darunter ist kein unförmiger Inhalt zu verstehen, der von einer Form modelliert wird, sondern Widerstand einer Form gegen ihre Deformierung. Materie meint Dichte, Textur und Kraft der Form selbst.24 Materie ist daher keine immanente, in sich geschlossene Dicke, sondern »die Differenz selbst, durch die etwas, irgendeine Sache möglich ist, als Sache und als irgendeine«25 . Materie ermöglicht, indem sie Differenzen schafft: »Materie bedeutet hier: Realität der Differenz – und der différance –, durch die allein es irgendetwas, irgend welche Sachen gibt und nicht bloß die Identität einer reinen Inhärenz«26 : Jede Singularität, jede Konkretheit ist materiell. Umgekehrt ist auch die Materie immer singulär: Sie ist keine materia prima, sondern immer schon ausgesetzt, differenziert und differierend.27 Hierin liegt die notwendige Zirkularität der Materialität, welche auch die Bedingung des Berührens und des Kontakts ist.
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James 2006, 131-133. Durch diese Diskontinuität bzw. Fraktur unterscheidet sich Nancys Ansatz auch deutlich von Merleau-Pontys Konzept des Fleisches bzw. des In-der-Welt-seins und dem damit einhergehenden Vokabular der Reziprozität, des Chiasmus und der Verschränkung, welches viel stärker auf einer Kontinuität beruht. Damit vermeidet Nancy noch stärker als Merleau-Ponty ein Denken der (Selbst-)Präsenz der Dinge oder ein substantialistisches Denken und betont ein Denken der Welt als Differenzierung und Distanzierung von Sinn. (James 2006, 132; 138) Nancy 2013, 18. Nancy 2014a, 86. Frz.: »la différence même par quoi quelque chose est possible, en tant que chose et en tant que quelque« (Nancy 1993b, 95). Nancy 2014a, 86. Frz.: »Matière veut dire ici: réalité de la différence – et de la différance – par laquelle seulement il y a quelque(s) chose(s) et non pas seulement l’identité d’une pure inhérence« (Nancy 1993b, 96). Nancy 2014a, 87.
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Berühren als Konkretion des Mit-seins »Vom Berühren, vom ›schlichten‹ Kontakt zweier Dinge (sobald es ein Ding, eine Sache gibt, gibt es mehrere Sachen, und es gibt das Sein-zu von einer Sache zur anderen)«1 .
Der nackte Maler Lucian Freud hat seine rechte Hand erhoben, in ihr ein Malmesser. Er setzt an, um Farbe auf- oder abzutragen. Der Akt des Malens ist so im Bild selbst. Mehr noch: Es ist der Akt des Malens dieses Bildes in diesem Bild selbst. Ins Bild gesetzt, was normalerweise für die Betrachtenden verborgen bleibt: der Malakt, der Malakt dieses konkreten Bildes. Freud malt sich nicht nur mit den Insignien des Malens, einem Malmesser und einer Palette, sondern er malt den konkreten Moment des Malens, den Moment, als er das Malmesser anhebt, den Moment, in dem das Malmesser die Leinwand berührt: ein Berührungspunkt im Bild, Malmesser auf Malmesser. Und doch ist es ein von vornherein verpasstes Rendezvous2 , denn in der Berührung finden sie zwar zueinander, gleichzeitig fallen sie nicht ineinander. Das Malmesser geht weder im gemalten Malmesser auf noch umgekehrt. Es ereignet sich zugleich eine unendliche Annäherung und eine unendliche Entfernung am Berührungspunkt. Auch die erste Malerin, Butades, gleitet mit dem in Farbe getauchten Finger, einem Pinsel, Kohle oder einem Griffel über die raue Oberfläche der Wand. Was Freud als nackter Maler und Butades als erste Malerin hier vollführen, ist der Malakt als Prozess des Berührens, ein In-Kontakt-Treten: Kontakt der Farbe mit der Maloberfläche, Kontakt der Elemente auf der Bildoberfläche, und damit auch ein »setting aside [mise à part], a setting apart [mise à l’écart]« sowie ein »act of partition [écartement]«3 .
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Nancy 2014a, 27. Frz.: »Depuis le toucher, depuis le ›simple‹ contact même de deux choses (dès qu’il y a quelque chose, il y a plusieurs choses, et il y a l’être-à d’une chose à l’autre)« (Nancy 1993b, 30). Nancy 2007a, 52. Nancy 2006b, 196.
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Expeausition
Nicht mit Bezug zur Mythologie, sondern mit Bezug auf die Höhlenmalerei wagt4 Nancy einen Versuch, den Ursprung der Malerei zu beschreiben. Im Zentrum steht dabei wie im Mythos der Butades die Geste des Malens, der Zug: »Stellen wir uns das Unvorstellbare vor: die Geste des ersten Bildermachers. Er folgt weder dem Zufall noch einem Plan. Seine Hand tastet sich vor in eine Leere, die sich im Augenblick der Bewegung erst auftut und ihn von sich selbst trennt, anstatt sein Sein bruchlos in sein Handeln übergehen zu lassen. Doch diese Trennung setzt sein Sein im Vollzug der Handlung. So ist er außer seiner selbst, noch bevor er bei sich selbst war. In Wirklichkeit tut diese tastende Hand erst die Leere auf, die sie nicht zu füllen vermag. Sie reißt die gähnende Leere einer Gegenwart auf, die sich sogleich verflüchtigt, kaum dass die Hand sich vortastet.«5 Die Szene, die Nancy hier beschreibt, bezieht sich, dem Text »La peinture dans la grotte« entsprechend, auf die prähistorische Malerei. Als einziges konkretes Bild für eine solche Malerei nennt Nancy im Text die gemalte Hand als Umriss oder Schablone. Es handelt sich wieder um ein Umreißen, ähnlich dem umrissenen Schatten der Butades. Im Kontakt mit der Wand erzeugt die Hand der Butades oder des ersten Bildermachers also eine Distanz zur Wand. Durch den Umriss erhält die bislang undifferenzierte Höhlenwand eine Teilung, wird die Leere aufgerissen. Die Geste des Malens unterbricht so eine Welt und eröffnet gleichzeitig eine Welt, von welcher nicht zur Gänze abzuschätzen ist, wie sie sein wird.6 Aus diesem Grund ist das Bild, welches gemalt wird, immer auch eine Überraschung für die Malerin oder den Maler. Das Bild wird geboren, wenn es beginnt, sich zu unterscheiden und das bedeutet: »Abstand, Verräumlichung und Teilung der Präsenz«7 , kurz gesagt, Berühren. Im Denken sowohl von Derrida wie auch Nancy nimmt das Konzept des Berührens einen hohen Stellenwert ein. Im Jahr 2000 erschien Derridas Buch »Le
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Gewagt ist Nancys Versuch deshalb, weil der Ursprung der Malerei seiner Theorie der différance folgend stets unvorstellbar bleiben muss, da ein solcher nicht ex nihilo entsteht, sondern es immer bereits Bezug und Kontakt gibt, wodurch jede singuläre Ursprünglichkeit aufgehoben ist. Vgl. zum ersten Bildermacher auch das Kap. »Die Grotte als Ort der Exposition«. Nancy 1999, 115. Frz.: »Imaginons l’inimaginable, le geste du premier imagier. Il ne procède ni par hasard, ni par projet. Sa main s’avance dans un vide, creusé à l’instant même, qui le sépare de lui-même au lieu de prolonger son être dans son acte. Mais cette séparation est l’acte de son être. Le voici hors de soi avant même d’avoir été à soi, avant d’avoir été soi. En vérité, cette main qui avance ouvre d’elle-même ce vide, qu’elle ne comble pas. Elle ouvre la béance d’une présence qui vient de s’absenter en avançant la main.« (Nancy 2001b, 128) Nancy 1999, 116. Nancy 2004, 20. Frz.: »écartement, espacement et partition de la présence« (Nancy 1996b, 20).
Berühren als Konkretion des Mit-seins
toucher, Jean-Luc Nancy«, an dem er über zehn Jahre hinweg immer wieder gearbeitet und das er seinem Freund Jean-Luc Nancy gewidmet hat. Gleich zu Beginn heißt es darin: »für Jean-Luc Nancy, denjenigen, den ich, mich ausgenommen, den größten Denker des Berührens aller Zeiten nenne«8 . Ihr Konzept des Berührens grenzt sich dabei aber ab von einer Tradition, welche Derrida als Haptologie oder haptozentrische Metaphysik bezeichnet und die einem Phono- bzw. Logozentrismus9 nahesteht. Folglich meint Berühren keine Unmittelbarkeit oder vollkommene Nähe im Sinne einer absoluten Präsenz, der Kontinuität, der Unteilbarkeit, des Ineinander-Übergehens oder In-einander-Aufgehens. Jeder Berührung ist, so Nancy, eine Synkope10 eingeschrieben: eine Unterbrechung oder Distanz im Kontakt mit den anderen und eine Diskontinuität in der Beziehung zu sich selbst. Es ist dies ein räumlich-zeitlicher Aufschub, der aber erneut von der Ausgesetztheit und der Materialität her gedacht wird.11 Kontakt findet mit anderen Körpern statt – kon. Dieses Mit-einander-Sein in der Welt ist verbunden mit einem Takt – der wiederum die Berührung bezeichnet, die aber nicht ein Ineinanderaufgehen oder eine Vereinnahmung beinhaltet, sondern von dem Feingefühl zeugt, immer eine gewisse Distanz, einen Abstand einzuhalten, womit die ethische Dimension des Berührens angesprochen ist. Oder wie Derrida formuliert: »[E]s gibt ein Gesetz des Takts. […] Man muß berühren, ohne zu berühren. Indem man berührt, ist es verboten zu berühren: nicht an die Sache selbst rühren, an das, was es zu berühren gibt. An das, was zu berühren bleibt.«12 Das Gesetz des Takts liegt darin, zu berühren, aber ohne zu glauben, dass man an die Sache selbst rühren könnte. Berühren ist zwar ein In-Kontakt-Kommen, aber nur mit einer Distanz, einem Aufschub, weshalb Nancy und auch Derrida davon sprechen, dass Berühren immer auch meint, das Unberührbare oder das Unberührte zu berühren. Wie daraus deutlich wird, kommt es bei Derrida und Nancy zu einer Abkehr vom Primat des Visuellen, unter dem Bilder traditionell stehen.13 Derrida vollzieht dabei eine Umwendung: Er denkt das Bild vom Unsichtbaren und von der Blindheit her. Dies führt zwar zu weitreichenden Änderungen im Verständnis von Bildlichkeit, er bleibt damit aber der Tradition ex negativo verhaftet.14 Nancy hingegen 8 9 10 11 12 13 14
Derrida 2007, 10. U. a. Derrida 1983, 11; 35. Der Begriff der Synkope wird vor allem mit Bezug auf Kant eingeführt. Siehe dazu Nancy 1976. Nancy 2014a, 86. Derrida 2007, 87. U. a. Wiesing 2008, VII: »Ein sichtbar werdendes Etwas, das sich nicht tasten, riechen oder hören lässt: Ein Bild entsteht durch die Produktion von etwas ausschließlich Sichtbarem.« Jay (1993, u.a. 587) hebt hervor, dass sich Derrida damit in eine Tradition des Denkens beginnend mit Bergson einreiht, in der das Bild vor allem mit dem Ziel untersucht wird, die Blindheit zum Ausgangspunkt des Denkens zu machen und das Sehen zu diskreditieren.
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denkt die Bilder nicht in dieser Umwendung, sondern direkt vom Berühren her. Dies erscheint provokant, weil Bilder, vor allem Gemälde, historisch mit einem Berührungsverbot15 belegt sind und noch heute in Museen insbesondere zu den Gemälden eine strenge Distanz eingefordert wird. Dennoch berühren sie die Betrachtenden, wie es Nancy ausgehend von sich selbst beschreibt: »Das Bild berührt mich und, durch es und in ihm berührt und gezogen, vermenge ich mich mit ihm. Ohne durch das Bild hindurchgehen zu müssen, läßt mich jedes Bild selbst zu seinem Ebenbild werden, sofern ich es nur betrachte, d.h. sofern ich ihm überhaupt Beachtung schenke.«16 Und Lucian Freud geht es mit seiner Malerei um nichts anderes als darum, die Sinne zu bewegen: »My object in painting pictures is to try and move the senses by giving an intensification of reality. Whether this can be achieved depends on how intensely the painter understands and feels for the person or object of his choice. […] Yet the painter needs to put himself at a certain emotional distance from the subject in order to allow it to speak.«17 Diese Beschreibung Freuds stellt Malerei sowohl in der Rezeption wie auch in der Produktion als Phänomen des Kontaktierens und Abstandnehmens dar. Berühren ist daher unabhängig von einem einzigen Sinn zu verstehen. Das heißt, Berühren darf nicht mit dem Tastsinn und auch nicht mit einem anderen Sinn gleichgesetzt werden. Es bestimmt sich durch eine grundlegende Affizierbarkeit, eine Passibilität, die ein Kontaktphänomen ist.18 Berühren ist kein Akt rund um ein berührendes Subjekt und ein berührtes Objekt, denn Berühren ist immer beides zugleich: Berühren und Berührtwerden, aktiv und passiv. In dem Moment, in dem man etwas berührt, wird man immer auch schon berührt. Man erlangt die Kontrolle, indem man sinnliche Daten über etwas erfährt, und verliert sie zugleich, da man nicht kontrollieren kann, inwiefern man berührt wird, wie weit diese Berührung reicht, was sie mit einem macht.19 Die Kunst bzw. Malerei peilt genau ein solches Affiziertsein der Betrachtenden an, durch ihre potenzierte Exposition kommt es auch zu einem intensivierten Affiziertsein. Kunst stimuliert die Wahrnehmung, indem sie ihr etwas exponiert, zum Kontakt einlädt, zur Anziehung und Abstoßung, zu 15 16
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Nancy 2008a, 9-17. Nancy 2006a, 18. Frz.: »L’image me touche, et ainsi touché et tiré par elle, en elle, je me mêle à elle. Pas d’image sans que je sois aussi moi-même à son image, sans pourtant passer en elle, pour peu que je la regarde, c’est-à-dire pour que je lui prête égard.« (Nancy 2003c, 21) Der Text »L’image – le distinct« ist in einer ersten Fassung in deutscher und englischer Sprache erschienen, eine zweite Fassung wurde dann in Französisch publiziert. Siehe dazu Nancy 2006a, 165. Freud 1954, 23. Nancy 2014a, 177-178. Heikkilä 2007, 272.
Berühren als Konkretion des Mit-seins
Nähe und Distanz. Sie zieht Aufmerksamkeit auf sich, drückt sich ein. Bilder werden nicht nur gesehen, das heißt, es sind nicht nur die Augen, die den Kontakt mit dem Bild herstellen und so ein Bild produzieren, sondern der gesamte Körper erfährt die Wirklichkeit der Bilder und kommt mit ihnen in Kontakt.20 Aus diesem Grund ist das Bild nicht an einen Sinn gebunden, sondern zeugt gerade von einer Pluralität der Sinne: »Tatsächlich ist das Bild nicht nur visuell: es kann ebenso musikalisch, poetisch oder haptisch sein, es kann gerochen oder geschmeckt, kinästhetisch wahrgenommen werden usw.«21 Dabei gibt es aber keine spezifische Kunst des Berührens, sondern jede Kunstform, jede künstlerische Aktion berührt auf eine ganz spezifische Weise. Ebenso meint Berühren kein Metaprinzip der Sinne, seine synästhetische Synergie beruht auf »der in sich heterologen Struktur des Berührens«22 . Das heißt, Berühren betrifft mehrere Sinne, ohne sie deshalb gleichzuschalten. Was die Sinne im Berühren vereint, was sie zur Berührung macht, ist das »Prinzip der Dislokation, der Erzeugung stets neuer Heterogenität«23 , die jeweilige Ausprägung kann dann aber nach verschiedensten Mustern eingeteilt werden. Berühren findet folglich dort statt, wo es zu einer Differenzierung kommt, und damit in allen Sinnen. Als »Korpus der Sinne«24 kommt ihm seine besondere Stellung nur zu, insofern keine Unterordnung stattfindet. Das Berühren ist keine Totalität, die alle Sinne unter sich umfassen würde, die jeweils für sich stehen und sich extern bleiben. Im Gegenteil lebt Nancys Begriff des Berührens davon, dass sich die Sinne selbst berühren, interagieren, nicht hermetisch in sich abgeschlossen sind. Dieses Konzept des Berührens zeigt sich in den Künsten auf besondere Weise, weil sie die Wahrnehmung herausfordern und vehement dazu einladen, reicht aber weit darüber hinaus. In Nancys Denken wird es verstärkt ab 1992 zur zentralen Figur eines »absolute[n], irredentistische[n] und post-dekonstruktive[n] Realismus«25 , wie Derrida schreibt. Berühren stellt das Selbstverhältnis zu unserer 20 21
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Wulf/Zirfas 2005, 15. Nancy 2006a, 14. Frz.: »En effet, l’image n’est pas seulement visuelle: elle est aussi bien musicale, poétique, et encore tactile, olfactive ou gustative, kinesthésique etc.« (Nancy 2003c, 16) Nancy 1999, 32. Frz.: »l’auto-hétérologie du toucher« (Nancy 2001b, 36). Im Französischen spricht Nancy demnach weder von in sich noch von Struktur. Eine stärker am Text orientierte Übersetzung könnte daher Auto-Heterologie des Berührens lauten. Nancy 1999, 32. Frz.: »une dis-location, une hétérogénéisation de principe« (Nancy 2001b, 36). Auch die Übertragung dieser Passage entfernt sich vom französischen Text, eine Variante, die stärker daran ausgerichtet ist, könnte lauten: vom Prinzip her eine Dis-lokation, eine Heterogenisierung. Nancy 1999, 32. Frz.: »corpus des sens« (Nancy 2001b, 36). Derrida 2000, 61. Der postdekonstruktive Realismus weist gewisse Parallelen zu Strömungen des sogenannten Neuen Realismus auf, vor allem hinsichtlich der Terminologie: Der Neue Realismus geht nach Markus Gabriel (2014, 2015) und Maurizio Ferraris (2014) davon aus, dass es nicht eine Welt im allumfassenden Sinne gibt, sondern eine Vielzahl von Wissensformen,
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Expeausition
Welt dar26 und beschreibt so das In-Beziehung-Kommen auf einer ontologischen Ebene, in dem sich das Mit-sein konkretisiert. Nancy bezieht sich dabei auf Martin Heideggers existenziale Analytik, in der dieser der Frage nach dem Dasein, also der Seinsweise des Menschen, in Verschränkung mit der Frage nach Wahrheit und Zeit, nachgeht.27 Das Dasein existiert faktisch, es ist das Seiende, das wir selbst sind. Das Seinsverhältnis von Dasein zu Dasein liegt im Sein mit und zu anderen. Es ist genau dieses Verhältnis, das konstitutiv für das je eigene Dasein ist.28 Das Mitsein mit anderen, so Heidegger, gehört zum Sein des Daseins und er fordert: »Das muß als existenziale Wesensaussage verstanden werden. Auch wenn das jeweilige faktische Dasein sich an Andere nicht kehrt, ihrer unbedürftig zu sein vermeint, oder aber sie entbehrt, ist es in der Weise des Mitseins. Im Mitsein als dem existenzialen Umwillen Anderer sind diese in ihrem Dasein schon erschlossen.«29 Das Mitsein bildet daher ein Existential des Daseins. Das heißt, ein Dasein braucht immer ein anderes Dasein, auf das es sich beziehen kann. Ein Dasein kann nicht für sich alleine existieren, sondern muss immer schon mit anderen in Beziehung stehen. Während bei Heidegger aber das Dasein Priorität über das Mitsein hat, kommt es bei Nancy genau an diesem Punkt zu einer Umkehrung: »Das Mit-sein (das Mitsein, das Miteinandersein und das Mitdasein) wird von Heidegger explizit als wesentlich für die Konstitution des Daseins selbst bezeichnet. Auf dieser Basis müßte es absolut klar sein, daß das Dasein ebensowenig wie ›der Mensch‹ oder ›das Subjekt‹ ›eines‹, einzig und isoliert ist, sondern immer nur das eine, jedes eine, ein Mit-ein-ander. Wenn diese Bestimmung wesentlich ist, muß sie eine mit-ursprüngliche Dimension aufnehmen und sie rückhaltlos exponieren30 «.
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d.h. Sinnfelder. In Nancys Ansatz sind die Konzepte Welt und Sinn ebenfalls entscheidend. Allerdings unterscheidet er sich vom Neuen Realismus durch seinen ontologischen Ansatz des Mit, in dem erstens die Welt als Parstotalität verstanden wird, das heißt als eine Totalität in Teilen. Die Welt wird so zweitens nicht als Ansammlung von Teilen oder Sinnfeldern gedacht, sondern im grundlegenden ontologischen Sinne als in sich singulär plural. Außerdem ist drittens auffällig, dass Nancy von Sinn nur in der Einzahl spricht, was nicht heißen soll, dass es nur einen Sinn gibt, sondern dass es ein geteilter Sinn ist, der nur in der Teilung überhaupt Sinn ergibt. Dieser Sinn ist die Welt, die demnach sehr wohl etwas Geschaffenes ist, hinter diesem Geschaffenem gibt es aber keine realere Wirklichkeit. Derrida 2000, 70. Volpi 2001, 32. Heidegger 1977a, 124. Heidegger 1977a, 123. Nancy 2004, 53. Frz.: »L’être-avec (le Mitsein, le Miteinandersein et le Mitdasein) est très clairement déclaré, par Heidegger, essentiel à la constitution du Dasein lui-même. Sur cette base, il devrait être absolument clair que le Dasein, pas plus qu’il n’est ›l’homme‹ ni ›le sujet‹, n’est pas ›un‹, unique et isolé, mais toujours seulement l’un, chaque un, de l’un-avec-l’autre. Si cette
Berühren als Konkretion des Mit-seins
Heidegger habe demnach das Mitsein nicht in aller Konsequenz gedacht, stattdessen sei er immer wieder auf das Primat des Daseins verfallen.31 Dementgegen ist Mit-sein nach Nancy – das er gegenüber Heidegger durch eine Schreibweise mit Bindestrich abhebt – dem Dasein primär: »Übrigens ist das Dasein wesentlich Mitdasein. Vor allem anderen ist das Mitsein ihm wesentlich: Ein Mit-sein, das nicht eine Ansammlung von Dingen ist, sondern ein wesentliches Mit.«32 Dieses Mit-sein darf demnach nicht als Konglomerat von lauter in sich geschlossenen Teilen verstanden werden, sondern als bewegliches, relationales Feld des Berührens, durch das sich Sein konstituiert. Die Betonung des Mit-seins ist verbunden mit einem Verständnis von Sein als Akt anstelle von Sein als Substanz oder als (abwesende) Gegenwart, auf die durch Zeichen oder Demonstration verwiesen werden könnte.33 Es gibt keine Berührung, die nicht ein Mit, ein Anderes, ein Neben brauchen würde. Nicht einmal eine Selbstberührung kommt ohne Mit aus, denn auch diese setzt ein Außen, besser ein Zwischen voraus.34 Entscheidend dabei ist, dass das Sein selbst nichts ist, sondern gerade in diesem Zwischen, dem Nancy viele Namen gibt – Mit, Exposition, Verhältnis, Teilen, Kontakt –, erst entsteht.35 Die Berührung ist der Ort, wo Eigenes und Anderes in Kontakt kommen, ein Selbst-Berühren und ein Fremd-Berühren als die beiden Koordinaten eines Feldes der Berührung. Dementsprechend weit gefasst – und weder auf einen Sinn noch überhaupt auf Sinne beschränkt – ist Nancys Corpus des Tastens, besser: Corpus des Berührens oder Corpus des Takts: »streicheln, streifen, pressen, hineinschlagen, drücken, glattstreichen, kratzen, reiben, liebkosen, betasten, anfassen, kneten, massieren, umschlingen umklammern, schlagen, kneifen, beißen, lutschen, naßmachen, halten, loslassen, lecken,
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détermination est essentielle, elle doit acquérir et exposer sans réserve une dimension cooriginaire« (Nancy 1996b, 46). Nancy 2004, 52-55; 166. Nancy 2004, 153. Frz.: »Par ailleurs, le Dasein est essentiellement Mitdasein. Le Mitsein, tout d’abord, lui est essentiel: un être-avec qui n’est pas celui d’un rassemblement de choses, mais un avec essentiel.« (Nancy 2007b, 67) Caygill 1997, 25. Derrida 2007, 207-275. In dieser Passage entwickelt Derrida unter Bezugnahme auf Nancy und in Form einer dekonstruktiven Lektüre von Husserls und Merleau-Pontys Konzepten der Selbstaffektion durch das Betasten der eigenen Hände ein Konzept der »Auto-heteroaffektion« (Derrida 2007, 232). Auch Nancys Konzept des Berührens ist diesbezüglich radikal. Um sich zu berühren, muss man immer schon außerhalb seiner selbst sein. Als Beispiel führt er die Organe an: Wenn man sich gesund fühlt, spürt man sein Herz oder seinen Magen nicht. Spürt man aber seinen Magen, dann ist das außen. Das Außen des Körpers ist immer schon in ihm drinnen, ich muss zuerst außerhalb meiner selbst sein, um mich zu berühren. Ich bin exponiert, um mich selbst zu berühren und daraus folgt, dass der Körper stets außen ist. Er steht außerhalb der Intimität des Körpers selbst. (Nancy 2003a, 115) Morin 2012, 37-38.
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Expeausition
wichsen, betrachten, anhören, riechen, schmecken, vermeiden, ficken, wiegen, schaukeln, tragen, wägen….«36 Berühren passiert an der Grenze, es gehört weder der einen noch der anderen Seite an, vielmehr passiert es zwischen ihnen durch Annäherung und Abgrenzung. Berühren ist der Sinn der Grenze seiner selbst. Es heißt immer, die Grenze zu berühren, seine Grenze zu berühren, sich als Grenze zu berühren.37 Man ist offen, bietet sich einem Außerhalb an. Verschiedene Konkretionen, die Singularitäten bilden, stehen so in einem Verhältnis des Berührens und Berührtwerdens zueinander und zur Welt.38 Es ist genau dieser beständige Prozess des Exponierens von Körpern, Grenzen und Sinn, den Bilder auf besondere Weise zelebrieren: Sie bieten 36
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Nancy 2003a, 81. Frz.: »effleurer, frôler, presser, enfoncer, serrer, lisser, gratter, frotter, caresser, palper, tâter, pétrir, masser, enlacer, étreindre, frapper, pincer, mordre, sucer, mouiller, tenir, lâcher, lécher, branler, regarder, écouter, flairer, goûter, éviter, baiser, bercer, balancer, porter, peser…« (Nancy 2000a, 82) Nancy 2003b, 235. In Nancys Konzept des Mit-seins und des Berührens wird auch Anorganisches wie der Stein miteinbezogen, der oftmals als (Negativ-)Beispiel herangezogen wird – so etwa bei Heidegger (1983, 290), doch diese Tradition reicht weiter zurück und ist breit gefächert. Für Nancy berührt jedoch auch der Stein: »Der Stein, kein Zweifel, ›betastet‹ nicht […]. Aber er berührt, oder er rührt an: passive Transitivität. Er wird berührt, kein Unterschied. Grobe Entelechie des Sinns: Er ist im Kontakt, absolute Differenz und absolute différance. Es gibt Differenz der Orte – das heißt Ort, Stätte – Dis-lokation, ohne Aneignung des einen durch den anderen. Es gibt kein ›Subjekt‹ und ›Objekt‹, sondern Plätze und Orte, Abstände: mögliche Welt, bereits Welt. Ohne dies, ohne diese unmerkliche Vernetzung von Kontinguitäten, von tangentiellen Berührungen, gäbe es nicht Welt: ohne die Spiele (Zwischenräume, Intervalle, Fluchten) eines vervielfältigten Seins-zu, worin das Zu weniger im Gegensatz zum An [en] als vielmehr als der vom An befreite Sinn zu versehen ist.«/»La pierre, sans doute, ne ›tâte‹ pas […]. Mais elle touche, ou elle touche à: transitivité passive. Elle est touchée, pas de différence. Entéléchie brute du sens: elle est au contact, différence et différance absolues. Il y a différence des lieux – c’est-à-dire, lieu – dis-location, sans appropriation de l’un par l’autre. Il n’y a pas ›sujet‹ et ›objet‹, mais places et lieux, écarts: monde possible, monde déjà. Sans cela, sans cette impalpable réticulation de contiguïtés, de contacts tangentiels, il n’y aurait pas monde: sans les jeux (interstices, intervalles, échappements) d’un être-à démultiplié, où l’à vaut moins comme une franche opposition à l’en que comme le sens dégagé, délivré de l’en.« (Nancy 2014a, 91/Nancy 1993b, 102) Das Problem der Phänomenologie liegt nach Nancy in ihrem anthropozentrischen Ansatz, der dazu führt, dass zentrale Konzepte wie das der Intentionalität immer den Beigeschmack einer Aneignung beinhalten. Was Heideggers Denken damit entgeht, ist das Gewicht des Steines, seine Schwere, seine Schwerkraft. Nancy hingegen setzt hier viel basaler an, wenn er davon ausgeht, dass etwa die Gabe des Daseins eine viel grundlegendere Gabe verdeckt: diejenige der Exposition. Die Exposition als Entstehen von Sinn ist nicht beschränkt auf Dasein, sondern beschreibt das Berühren von Singularitäten, die sich gegenseitig exponiert sind. Die Schwere des Steins drückt auf die Oberfläche, wenn er darüber rollt, wenn er darauf liegt: ein Kontakt, eine Abgrenzung zu anderen Oberflächen und damit die Welt als Fläche des Berührens. (Morin 2012, 45-46; 133) Siehe dazu auch Nancy 1995, 22-23.
Berühren als Konkretion des Mit-seins
sich immer dar, können gar nicht anders, als zu zeigen – sei es eine Person, einen Strich, eine Farbe oder eine nackte Leinwand. Sie exponieren etwas, sie exponieren sich den Betrachtenden, die wieder selbst exponiert sind – offen, berührbar, berührend. Auch wenn Derrida sich selbst als Denker des Berührens bezeichnet, so schätzt er Nancys Konzept des Berührens und des Mit-seins so sehr, dass ihm beim Lesen des oben zitierten Corpus des Berührens/des Takts eine »Zukunftsvision«39 befällt: »Ich stelle mir Generationen von Philosophen vor. Sehen Sie sie, wie ich, wie sie sich gleich über diese Seite von Nancy, über dieses Korpus des Takts, wie über eine Kategorientafel beugen? Ein Korpus auf einer/m Tafel/Tisch [table] ohne Operation und ohne Anatomiestunde, doch was an Problemen! Wie bei sämtlichen Kategorientafeln, von Aristoteles bis Kant, würde man sich fragen, ob diese Liste wahrlich begründet und abschließbar oder, hier oder da, rhapsodistisch wäre.«40 Zumindest auf eines dieser angesprochenen Probleme scheint Nancy selbst eine Antwort zu geben: Indem er sein Corpus mit vier Punkten enden lässt, macht er deutlich, dass er wohl nicht abschließbar ist, sondern notwendig offenbleiben muss – und so könnte man dem Corpus wohl malen oder bilden hinzufügen.
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Derrida 2007, 93. Derrida 2007, 93.
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Präsenz
Ausgerechnet der Mythos der Butades, dessen Interpretation die Malerei in Zusammenhang mit der Repräsentation einer Abwesenheit stellte und die Ursache der Malerei in einem Mangel sah, dient Nancy dazu, ein Denken der Präsenz zu forcieren, mit dem er auch Derridas Konzept der différance eine andere Stoßrichtung gibt. »So darf die Legende, die die Malerei sich von ihrem eigenen Ursprung geschaffen hat – die griechische Geschichte des jungen Mädchens, das auf der Wand den Umriss des Schattens seines, in den Krieg ziehenden, Verlobten zeichnet – nicht als eine Parabel der Repräsentation begriffen werden. Dieses Mädchen versucht nicht das Bild dessen nachzubilden, der nicht mehr da sein wird, um sich daran zu erinnern: Es hält vielmehr den Schatten fest, die dunkle Präsenz, die da ist, sobald das Licht da ist, die Verdoppelung der Dinge – jedes Dinges – und ihr unsichtbarer Grund, Präsenz, die die Malerei nicht sichtbar macht, aber die sie unsichtbar ans Licht bringt, die sie unsichtbar trägt und mitträgt in den Pigmenten und in den Falten ihrer Illumination. Aber genau so trägt sie die Wahrheit der Repräsentation: denn diese ist nur ›Reproduktion‹, insofern sie zuallererst in ihrer wesentlichen Bewegung sowie in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ›Repräsentation‹ ist, Präsentwerdung, Intensität einer Präsentation mit dem Wunsch, die Präsenz vor dem Tag zu Tage zu bringen.«1
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Nancy 2016, 50-51. Frz.: »Ainsi, la légende que la peinture s’est faite de sa propre origine – l’histoire grecque de la jeune fille qui trace sur le mur le contour de l’ombre de son fiancé partant pour la guerre – ne doit pas être comprise comme une parabole de la représentation. Cette fille ne cherche pas à reproduire, pour se la remémorer, l’image de celui qui ne sera plus là: mais elle fixe l’ombre, la présence obscure qui est là dès que la lumière est là, le double de la chose – de toute chose – et son fond invisible, que la peinture ne rend pas visible, mais qu’elle met invisible en lumière, qu’elle porte et emporte invisible dans les pigments et dans les plis de son enluminure. Mais c’est ainsi qu’elle porte la vérité de la représentation: car celle-ci n’est ›reproduction‹ que pour autant qu’elle est d’abord, dans son mouvement essentiel comme dans le sens premier du mot ›représentation‹, mise en présence, intensité d’une présentation dans le désir de porter au jour la présence d’avant le jour.« (Nancy 2001d, 42-43)
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Nancy lehnt sich an Derridas Deutung an, wenn er schreibt, dass der Strich der Butades nicht den Jüngling selbst, sondern bereits dessen Schatten abbildet und festhalten will. Auch den von Derrida konstatierten notwendigen doppelten Entzug vom Modell, den Butades mit ihrem Strich einleitet, akzentuiert Nancy, ebenso wie das Verweisgeschehen innerhalb der Striche. Insofern gibt die Malerei auch bei Nancy vom Ungesehenen her zu sehen. Allerdings denkt Nancy die différance nicht von diesem Entzug her, sondern vom Ausgesetztsein und damit verbunden von ihrer Präsenz und wendet sich so gegen Derridas Betonung der Re-Präsentation, in die sich der räumlich-zeitliche Aufschub einnistet. Unter Präsenz versteht Derrida gerade die von ihm abgelehnte Verweisinstanz, auf die das Zeichen ausgerichtet ist, nach der es geregelt ist – das Modell im Gegensatz zum Bild, der Jüngling, der abwesend ist, auf den das Abbild als Repräsentation aber stets ausgerichtet sein muss und der damit die ursprüngliche Präsenz bildet. Es ist dies das Repräsentationsmodell, wie es Platon im Höhlengleichnis dargelegt hat, in dem die Ideen für die Präsenz stehen und sowohl Gegenstände wie auch Schatten Abbilder davon sind. Sie repräsentieren die Ideen, die selbst abwesend und unsichtbar sind. Derrida sieht hierin eine »Autorität der Abwesenheit«2 , die darin liegt, dass jede Repräsentation »von der Präsenz und im Hinblick auf sie geregelt wird«3 . Präsenz bedeutet für ihn daher ein metaphysisches Prinzip der Einheit und des Ursprungs, an dem noch keine différance stattgefunden hat.4 Genau diesem Ursprungsmythos will Derrida mit der différance und der unendlichen Signifikantenkette entgegenwirken, indem er zeigt, dass dieser Ursprungsbegriff, diese Präsenz immer und stets nur im Nachhinein rekonstruiert werden kann und damit keine Präsenz mehr, sondern schon längst in die Kette der Signifikanten eingetreten ist. Folglich könne es keine Präsenz geben: »In der Zirkulation, in der Unendlichkeit der Verweise von Zeichen zu Zeichen, von Repräsentant zu Repräsentant findet nämlich das Eigentliche der Präsenz keinen Platz mehr; niemand ist mehr für jemanden da, nicht einmal für sich selbst«5 . Derrida wendet sich damit nicht nur gegen die Annahme einer ursprünglichen Präsenz, welche alle Repräsentation bestimmt, sondern auch gegen eine Logik der Substanz, wonach die Repräsentation aus sich selbst heraus bzw. für sich selbst eine Bedeutung habe und damit eine Präsenz für sich darstelle. Dagegen argumentiert er, dass sich nur in der differentiellen An- und Abgrenzung Bedeutung oder Wert ergibt und demnach ein Zeichen immer schon in vielfältiger Beziehung zu anderen steht und so niemals zur Gänze bei sich oder für sich ist: »Präsenz würde Tod bedeuten.«6
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Derrida 2004, 120. Derrida 2004 120. Derrida 1983, 285. Derrida 1983, 402. Derrida 1994, 15.
Präsenz
Die Bevorzugung und Aufwertung der Präsenz gegenüber der Repräsentation erkennt Derrida als Grundcharakteristikum des metaphysischen Denkens und weist sie als zentrale Argumentationslinie nach. Durch seine dekonstruktive Lektüre beispielsweise von Platons Schriftkritik aus dem Dialog »Phaidros« zeigt er, dass die gesprochene Sprache gegenüber der Schrift nicht unmittelbarer ist, sondern selbst bereits die Elemente in sich trägt, die Platon an der Schrift kritisiert.7 Infolge dieser Dekonstruktion wird die Schrift als stärker an die Materialität gebundene Form des Ausdrucks derjenigen der gesprochenen Sprache insofern gleichgestellt, als sie nicht weiter von der Wahrheit entfernt ist. Beide sind nach Derrida Signifikanten, die eine unüberwindbare Kluft zu dem eingenommen haben, was sie darstellen sollen. In dieser Aufwertung der Materialität bleibt aber die Materie selbst unthematisch. Das heißt, der Materie bleibt nur die Aufgabe, die Darstellung zum Erscheinen zu bringen, während sie selbst zurücktritt. Der Akt des Schreibens ist dabei demjenigen des Zeichnens sehr nahe: Ein Strich auf einer Fläche. Der Materie, dem Bildkörper, dem Grund, den Strichen, den Pigmenten bleibt dabei nur die Aufgabe, die Darstellung, die Repräsentation zum Erscheinen zu bringen – auch wenn es nicht länger um eine wahrhafte Kopie oder eine perfekte Abbildung geht. Diese Unsichtbarkeit des Körpers und der Materie liegt schon im Mythos der Butades verwurzelt, in dem explizit gesagt wird, dass Butades nur den Schatten des Gesichtes ihres Geliebten umreißt, während der übrige Körper unerwähnt und unausgeführt bleibt. Nur Gesicht, nur Darstellung, nur Ausdruck, während sich der Körper entzieht, keine sichtbare Rolle hat.8 Dies ist insbesondere bemerkenswert, da der Vater der Butades aus ihrer Zeichnung eine Figur anfertigt. In Anbetracht der Betonung des Gesichtes scheint es allerdings wahrscheinlicher, dass der Vater eine Art Relief-Medaillon erstellt, das nur den Kopf zeigt.9 Derrida hat das Bild zwar aus einer Theorie der Repräsentation – im Sinne der Abbildtheorie, also des Sichtbar- oder Wiederpräsentmachens eines Originals oder Modells bei gleichzeitigem Zurücktreten der eigenen Seiendheit – befreit, aber damit auch am äußersten Punkt der Repräsentationstheorie verankert, an dem es nur mehr Repräsentation im Sinne einer Wiederholung und Bedeutungsverschiebung gibt. Damit denkt er das Bild ausschließlich aus seiner Entzogenheit und Negativität heraus, seine Anwesenheit und sein Körper haben keinen Platz. Derridas Bildkonzeption bleibt durch diese Verleugnung des Körpers und seiner Präsenz auf der Ebene der Funktionalität verhaftet. Dass das Bild gerade die Kraft hat, etwas
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Derrida 1995, 69-190. Im Rahmen der ersten Erwähnung des Ursprungsmythos der Malerei wird der Körper hingegen sehr wohl einbezogen: Plinius schreibt, dass die Erfindung der Malerei darin besteht, dass man »den Schatten eines Menschen mit Linien nachgezogen« hat (Plin. nat. 35,15), allerdings wird hier wiederum Butades nicht explizit erwähnt. Stoichita 1999, 17.
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Abwesendes anwesend zu machen, indem es dieses vor Augen stellen kann, prägt maßgeblich die Wirkmächtigkeit des Bildes seit seinen Anfängen, weshalb es immer eine besondere Rolle für die Darstellung von Toten einnahm,10 worauf auch der Mythos der Butades anspielt. »Die Anwesenheit des definitiv Abwesenden und Verschwundenen ist Beweis für die Präsenz, und sie ist zugleich ihr größter Triumph. Es handelt sich freilich um eine gewandelte Gegenwart.«11 Die Theorie der unendlichen Signifikantenkette scheint dieser gewandelten Gegenwart nicht gerecht werden zu können, was entscheidend mit ihrer Verneinung der Körperlichkeit zusammenhängt.12 Der nackte Maler, Lucian Freud, wandelt seine Gegenwart, indem er seinen Körper ins Bild stellt, zentral, frontal, nackt. Der Maler, der sonst hinter der Leinwand steht, ein Bild malt, das dann ausgestellt wird, wird dadurch selbst nach vorne gezogen, selbst ausgestellt auf der Oberfläche des Bildes. Der Körper ist der Sukzession damit entzogen, er wird der Dauer dargeboten, indem er einen anderen Ort der Welt einnimmt.13 Er macht sich präsent, aber nicht indem er ein Abbild von sich schafft, das während seiner Abwesenheit auf ihn verweisen würde, sondern gerade deshalb, weil sich sein Bild nach vorne stellt, ihm vorausgeht, seinen Körper und sich selbst zeigt. Die Re-Präsentation ist mehr und weniger zugleich: Sie unterbietet, was der Dargestellte war oder ist, indem sie sich den Möglichkeiten von Leinwand und Farbe anvertraut. Gleichzeitig überbietet sie das Dargestellte, indem sie ihm dauerhaft den Status der Lebendigkeit verleiht, während das Dargestellte längst zu Staub zerfallen ist. Erst vom Bild her wird das Dargestellte überhaupt gegenwärtig und zu dem, was es ist oder sein kann. Das Re der Re-Präsentation ist also eine Intensivierung, sie vermehrt das Sein des Dargestellten, wandelt seine Gegenwart.14 Präsenz wird dabei nach der Wortherkunft des prae verstanden als sich vorausgehen, voraus sein. Diese Deutung steht erneut im Kontext der différance als materielle Differenz und meint so eine grundlegende ontologische Beziehung zur Welt, eine »Vor-gängigkeit und […] Zuvor-kommen des Zu«15 . Mit dieser Auslegung des prae als Voraus korrespondiert eine Auslegung des prae als ein Nach-vorne, und zwar ein Nach-vorn-Stellen16 , und dieses gilt in besonderem Maße für Bilder, wie auch Lucian Freud betont: »Whether it [the painting, J. M.] will convince or not depends entirely on what it is in itself, what is there to be seen.«17 Das Bild gibt zu sehen, indem es nach vorne stellt und zwar zweifach: Das 10 11 12 13 14 15 16 17
Siehe dazu u.a. Belting 2011, 143-188; Assmann 1990; 2004. Boehm 2001a, 4. Vgl. dazu das Kap. »Der exponierte und widerständige Körper« im dritten Teil. Boehm 2001a, 6. Boehm 2001a, 5. Nancy 2014a, 25. Frz.: »la pré-cédence et la pré-venance du à« (Nancy 1993b, 28). Nancy 2010a, 79. Freud 1954, 24.
Präsenz
Bild praesentiert oder stellt zum einen eine Darstellung nach vorne und gleichzeitig praesentiert oder stellt es die Praesentation selbst aus, indem es sich nach vorne stellt. Das Bild ist damit nicht bloße Präsentation einer Absenz, sondern zeigt das Zeigen selbst als Erscheinungsgeschehen.18 Es praesentiert ein Ding und gleichzeitig praesentiert es die Praesentation selbst, oder anders formuliert, es gibt Präsenz. Hierin liegt eine selbstreferentielle Struktur der Bilder, die gleichzeitig ihren performativen Charakter ausmacht: Sie deuten nicht über sich hinaus oder auf etwas hin, sondern vor allem auf sich hin.19 In diesem Sinne sind Kunst und Malerei der Prozess, der Übergang oder der Akt der Vervielfältigung der Präsenz, die auf einer produktiven Technik bzw. einer technê poiêtikê 20 basiert. Dieser Terminus bleibt nicht auf eine Kunstform beschränkt, sondern tangiert alle Künste, insofern darunter eine produktive Technik des Hervorbringens, des Entstehenlassens, des Herstellens, des Präsentierens verstanden wird. Dieses Herstellen meint etymologisch betrachtet pro-duzieren, vorführen, vor-ziehen. Kunst oder die Künste sind daher die produktive Technik der Präsenz, genauer gesagt des Herbeiführens einer Präsenz, des Ausstellens von Präsenz. Diese ist weder eine Qualität noch ein Besitz des Dings, sondern bezeichnet eben genau den Akt, durch den das Ding nach vorne gebracht wird.21 Techne Poietike ist darauf ausgerichtet, das Präsente zu präsentieren. Dabei geht es nicht um kopieren oder abbilden, sondern um das Nach-vorne-Bringen selbst.22 Der Akt des Malens setzt damit nicht eine Kette der Repräsentation in Gang, sondern das Problem einer Präsenz ins Werk. Präsenz ist keine Qualität und auch keine Eigenschaft eines Dinges. Sie ist nicht etwas, das man wieder herbeirufen könnte, sie ist nicht die Wiedergabe, das Abbild des Jünglings, und somit sein Ersatz. Das heißt, sie ist keine Präsenz einer Abwesenheit, keine zweite Präsenz, die eine andere, ursprünglichere Präsenz wiedergeben würde, und auch keine Präsenz, die sich selbst als vollkommenen Sinn, als Totalität oder reine Anwesenheit darstellen würde.23 Präsenz also nicht verstanden als Einheit, in der noch keine différance stattgefunden hat, wie Derrida sie denkt, und Präsenz auch nicht als Gegensatz zur Repräsentation. Präsenz nach Nancy meint immer schon ein »Sein in/zu«24 und damit wird sie verstanden als Exponiertheit, als Ausgestelltheit, als Berühren oder in performativer Ausdrucksweise als Akt des Vor-Ziehens, des Vor-Führens,
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Flatscher 2011, 328. Wulf/Zirfas 2005, 13. In der Folge wird trotz dieses spezifischen Sinnes von Praesenz die Schreibweise Präsenz verwendet. Nancy 2006b, 191. Nancy 2006b, 191. Nancy 2006b, 200. Morin 2012, 138. Nancy 2014b, 20. Frz.: »être à« (Nancy 2001c, 19).
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des Pro-duzierens.25 Wenn das Bild in diesem Sinne ein Ding oder eine Farbe präsent macht, heißt das, dass es diesen Gegenstand oder diese Farbe nicht in ihrer Einheit, ihrem Wesen, ihrer Geschlossenheit vor-stellt, sondern in ihrer Distinktion, sie werden in Kontakt gebracht und damit hat sich bereits eine Distanz, eine Differenz ereignet.26 In seinem Text zu den Bildern von On Kawara beschreibt Nancy das Distinkte als Technik, die die Welt re-produziert, in dem Sinne, dass sie ein Ding hervorzieht, nach vorne stellt und damit distanziert und zugleich präsent macht.27 Das Bild zeichnet sich durch eine dreifache Distinktion aus: »Es unterscheidet sich von Dingen und Lebewesen, es unterscheidet sich vom Grund des Bildes, von dem es sich abhebt, es unterscheidet sich, indem es sich selbst als Bild bezeichnet.«28 Das Bild ist also erstens distinkt von Lebewesen und Gegenständen, da sich Bilder über den Entzug (einer Linie, eines Rahmens etc.) bestimmen und sich gerade dadurch von den Gegenständen oder Lebewesen abgrenzen. Sie sind immer mehr als ein bloßer Gegenstand und haben daher einen einzigartigen ontologischen Status, der ein prekärer Status ist: Bilder changieren, bewegen sich stets zwischen An- und Abwesenheit.29 Bilder sind zweitens und darauf aufbauend distinkt von ihrem Grund. Der Grund der Bilder ist nicht ihre Ursache, sondern sie steigen aus ihm hervor. Das Bild hebt sich ab, es unterscheidet sich vom Grund, es stellt sich vor ihm und mit ihm aus. Damit ist auch schon die dritte Weise der Distinktion des Bildes gegenüber Gegenständen oder Modellen angesprochen, die darin liegt, dass das Bild nicht nur zeigt, sondern zugleich immer schon sich selbst zeigt, wie es etwas zeigt.30 Aufbauend vor allem auf dieser dritten Form der Distinktion kann das Bild verstanden werden als ein nach außen gerichteter Körper, besser: ein Körper zu wie alle anderen Körper. Als solcher exponiert er sich, ist offen, geht Beziehungen ein und zwar als Körper und mit seiner Darstellung, die er mit seinem Körper auf seiner Oberfläche zusätzlich exponiert. Das Bild als Potenz der Präsenz, als Potenz der Ausgestelltheit. Dies hat auch Auswirkungen auf das Konzept von Repräsentation: Das Re im Terminus der Repräsentation meint keine bloße Wiederholung im Sinne einer Abbildung, aber auch keine Wiederholung, in der sich ein weiterer Aufschub, ein Sup25 26 27
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Heikkilä 2007, 226. Heikkilä 2007, 231. Nancy 2006b, 196. An dieser Stelle spricht Nancy zwar nicht dezidiert über das Distinkte, sondern über das heilige Bild. In »Das Bild – das Distinkte« (2006a, 9) aus »Am Grund der Bilder« setzt Nancy allerdings explizit das Heilige mit dem Distinkten gleich und gibt an, zweiteren Begriff aufgrund der Missverständlichkeit des ersteren vorzuziehen. Nancy 2006a, 119. Frz.: »Elle se distingue des choses ou des vivants, elle se distingue du fond sans image dont elle se détache, et elle se distingue en tant qu’elle se désigne elle-même en tant qu’image.« (Nancy 2003c, 132) James 2006, 225. Morin 2012, 135.
Präsenz
plement vollzieht – wie Derrida die Repräsentation interpretiert. Das Re der Repräsentation zeigt, dass etwas ist. Somit bewirkt es eine Intensivierung, welche das Sein des Dargestellten durch ein Surplus, einen Überschuss vermehrt. Entscheidend dabei ist, dass in der Repräsentation das Abwesende nicht einfach gegenwärtig ist oder gegenwärtig gemacht wird, sondern dass das Abwesende darin wirksam ist.31 Gleichwohl ist diese Intensivierung nicht im Sinne einer Superpräsenz oder einem totalen Sein zu verstehen, welche das Bild aus seiner Absenz erheben würden. Diese Charakteristika würden im Gegenteil das Bild zu einem Idol machen, einer Präsenz, die blendet.32 Repräsentation als Präsentation bedeutet Nach-vorneStellen, Ausstellen – Bilder seien »wesensmäßig zeigend«33 , Nancy hebt dies mit dem Terminus »monstrativ«34 hervor. Damit verbunden ist die »Monstranz«35 – eine Wortentlehnung aus dem katholischen Ritus, mit der der Behälter bezeichnet wird, in dem die Hostie dargeboten wird. Die geheimnisvolle Bedeutung, die dabei mitschwingt, liegt auch im Bild: 31 32 33
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Boehm 2001a, 5. Gadamer beschreibt diesen Überschuss auch als »Seinszuwachs« (Gadamer 1986, 133). Morin 2012, 138. Nancy 2006a, 41. Frz.: »est d’essence monstrative« (Nancy 2003c, 46). Eine alternative Übersetzung für diese Stelle wäre monstrativ. Mit dem Terminus Zeigen ist ein Begriff angesprochen, der für die Bildtheorie von großer Wichtigkeit ist und vielseitig verwendet wurde – einen prägnanten Überblick dazu gibt Mersch (2014b, 312-318). Lambert Wiesing (2013, 55-65) kritisiert den inflationären Gebrauch und unterscheidet drei divergente Interpretationen des Zeigens in der Bildforschung: Erstens die Illusionstheorie, in der davon ausgegangen wird, dass Bilder zeigen, weil sie Illusionen erzeugen (2013, 55-65). Zweitens die phänomenologische Position, nach der Bilder zeigen, weil sie Phantome erzeugen (2013, 66-77), und drittens die von Wiesing so betitelte neue Bildmythologie, nach der Bilder sich selbst zeigen (2013, 78-105). Diese Einteilung ist ebenso problematisch wie viele der zugeordneten Ansätze, da das Zeigen und das Sichzeigen getrennt werden, womit schon die Trennung von Träger und Darstellung vorausgesetzt ist. Ein Bild kann keine Darstellung zeigen, ohne zugleich auch sich selbst zu zeigen, wie Nancy mit den Termini der Exposition und der Praesentation betont. Transitives und intransitives Zeigen mögen zwar verschiedene Praktiken darstellen, sind aber ineinander verschränkt. (Mersch 2014b, 316) Der Akt des Zeigens, so Wiesings weiterer Hauptkritikpunkt, setzt als Handlung ein intentionales Subjekt voraus. Dem Bild könne aber kein Subjektstatus zugesprochen werden. Ein subjektloser Gegenstand wiederum könne sich nicht selbst zeigen. (Wiesing 2013, 40-52, bes. 43) Allerdings ist Wiesings Ansatz selbst schon in der Subjekt-Objekt-Struktur gefangen, während derjenige von Nancy diese gerade unterläuft. Monstrieren, zeigen oder darbieten meint für Nancy nicht, dass jemand und damit ein Subjekt einem anderen Subjekt, etwas, ein Objekt, zeigt, sondern steht für die körperliche Exposition, durch welche Sinn hervorgebracht wird. Dies findet auf einer präsubjektiven Ebene statt. Nancy 2006a, 41. Frz.: »monstrante« (Nancy 2003c, 46). Eine näher am Text orientiere Übersetzung könnte monstrierend lauten, da Nancy hier das Particip présent verwendet. Siehe dazu auch die vorangehende Fußnote. Nancy 2006a, 41. Frz.: »monstrance« (Nancy 2003c, 46).
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»[M]onstrum steht für ein Wunderzeichen (moneo, monestrum), das vor einer göttlichen Bedrohung warnt. Das deutsche Wort Bild, das insbesondere das Gestalten und Bilden impliziert, kommt von einer Wurzel (bil-), die eine Kraft oder ein Wunderzeichen bedeutet. Dem Bild wohnt demnach etwas Monströses inne: es ist außerhalb der gewöhnlichen Präsenz, weil es dessen Darbietung ist, dessen Offenbarung nicht als Schein sondern als Erscheinen, als ein Ins-Licht-Bringen und Hervorheben.«36 Die Monstranz in Nancys Verständnis ist damit eine Darbietung der sogenannten Realpräsenz, also eine Darbietung einer den körperlichen Augen gerade entzogenen Präsenz.37 Das Bild macht dem Ding dessen Präsenz streitig, indem es selbst eine Präsenz ins Werk setzt. Während das Ding bloß ist, zeigt das Bild, dass und wie es ist.38 Zeigen in diesem Sinne verzichtet gerade auf diese spezifische Als-Funktion. Vielmehr erschöpft es sich im Tun, in seiner Performativität: zeigen nicht als Interpretieren, sondern als Exponieren, Ausstellen, Präsentieren.39 Das Bild zieht das Ding aus dessen bloßem Anwesendsein in die Präsenz, die Gegenwärtigkeit. Das Bild macht Platz, schafft Raum, schafft Ort, Orte für Expositionen, es macht präsent und ist präsent. Das Bild ist damit weder eine sekundäre Präsenz, die das abwesende Ding ersetzt – sei dies nun eine intelligible Form oder eine Idee – noch eine Präsenz, die sich selbst als komplette Bedeutung erklärt. Es ist ein Nach-vorn-Stellen, ein Ausstellen von Körpern und Kräften als différance.
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Nancy 2006a, 41-42. Frz.: »[M]onstrum, c’est un signe prodigieux qui avertit (moneo, monestrum) d’une menace divine. En allemand, le mot pour l’image, Bild – qui désigne l’image dans sa forme, dans son façonnement – vient d’une racine (bil-)qui désigne une force ou un signe prodigieux. C’est ainsi qu’il y a une monstruosité de l’image: elle est hors du commun de la présence parce qu’elle en est l’ostension, la manifestation non pas comme apparence, mais comme exhibition, comme mise au jour et mise en avant.« (Nancy 2003c, 47) Nancy 2006a, 43. Dieter Mersch (2014b, 315) unterscheidet ein-, zwei- und dreistellige Gebrauchsweisen des Wortes zeigen. Monstrare sei die einfachste, einstellige Verwendung, in der das Monstrum oder die heilige Monstranz sind, was sie sind, selbst wenn sie darüber hinaus mit einem symbolischen oder religiösen Aspekt aufgeladen sind. Die zweistellige Verwendung sieht er in der Deixis, in der auf etwas anderes hingewiesen wird. Der dreistellige Gebrauch des Zeigens liege darin, wenn nicht nur etwas angezeigt wird, sondern dieses noch durch eine Person vor- oder einen Körper ausgestellt wird. Das demonstrare wandle sich sodann zum performare, also vom Hinweisen zum Durchführen. Eine solche Unterscheidung ist hilfreich, problematisch daran scheint allerdings, das selbst das monstrare immer schon ein Zeigen und ein Sichzeigen beinhaltet. Hinzukommt, dass dieses Zeigen und Sichzeigen nicht einmal stattfindet und sodann statisch verweilt, sondern sich ständig vollzieht, nie ankommt, sondern immer im Kommen bleibt. Daraus folgt, dass selbst diese einfachste, einstellige Verwendung bereits ein performatives Element beinhaltet bzw. dass es sich, um mit Merschs Worten (2014b, 316) zu sprechen, » in seiner Performativität [erfüllt]«. Nancy 2006a, 41. Mersch 2014b, 316.
Von der Höhle in die Grotte
Lucian Freud steht sperrig im Bild, steif und etwas unbeholfen. Der Maler nackt und ungelenk, konzentriert und angespannt. Der Hintergrund – den Freud als Grund bezeichnet haben möchte1 – ist in warmen Erdfarben gehalten. Entgegen vieler seiner anderen Porträts sind darin kaum Gegenstände oder Spuren seines Ateliers zu erkennen. Nur ein brauner, rauher Boden, eine braune Wand, ein umhülltes Bettgestell. Kein direkter Lichteinfall und obwohl der Körper so detailliert wiedergegeben wird: kein Schatten. Kein Atelier, sondern eine Höhle – oder besser eine Grotte. Lucian Freud als Maler in der Grotte. Diese unterscheidet sich maßgeblich von der Höhle, wie Nancy in seinem Text »La peinture dans la grotte« über die Ursprünge der Malerei feststellt. Gewidmet ist dieser Text Georges Batailles Arbeit über die Höhlenmalereien von Lascaux2 . Es ist jedoch auch ein Text über das platonische Höhlengleichnis, selbst wenn dieses mit keinem Wort erwähnt wird. Vielmehr schwelt es als Bezugs- und Kontrapunkt durch den Text hindurch. Bemerkenswert zuerst der Titel: La grotte bezeichnet im Französischen sowohl die Höhle wie auch die Grotte. Die deutsche Übersetzung suggeriert, dass Nancy hier einen Text über die Höhlenmalerei vorlegt, indem dieser Terminus technicus dafür als Titel gewählt wird. Nancy vermeidet allerdings im Französischen Fachbegriffe wie peinture rupestre oder auch art pariétal bzw. peinture pariétal. Aber auch die platonische Höhle scheint er bereits im oder mit diesem Titel zu verlassen, denn das platonische Höhlengleichnis wird im Französischen als allégorie de la caverne bezeichnet – caverne also und nicht grotte. Zieht man diese zwei Spezifizierungen in Betracht, dann könnte »La peinture dans la grotte« auch in einer wortwörtlicheren Übersetzung als die Malerei in der Grotte gelesen werden und die Fokussierung auf die spezifische
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Gayford 2013, 136. Bataille 1983. Zu Batailles Rolle als »touchstone thinker« (Kamuf 1993b, 105) im Denken Nancys siehe de Beistegui 1997, 152-167.
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Kunstform der Höhlenmalerei, wie sie die deutsche Übersetzung nahelegt, würde entfallen.3 Auch wenn sich die Begriffe Höhle (spaelum, spelunca) und Grotte nicht strikt voneinander abgrenzen lassen, so lässt Nancys Wortwahl doch auf signifikante Verschiebungen im Vergleich zur platonischen Höhle schließen, die sich auch begrifflich ausdrücken sollen, weshalb in den folgenden deutschen Zitaten die Übersetzung modifiziert wird und immer dort, wo Nancy von grotte spricht auch der deutsche Begriff Grotte verwendet wird und nicht Höhle. Stärker als der Begriff Höhle geht derjenige der Grotte einher mit einem künstlich geschaffenen Charakter oder zumindest starker menschlicher Prägung.4 Dieses Unterscheidungsmerkmal schlägt sich auch in der Kunstgeschichte nieder, insbesondere in Renaissance, Manierismus, Barock und Rokoko wurden Grotten als Bestandteile von Gärten meist künstlich angelegt und verziert,5 wobei die Gärten schon als Kopien der Natur angelegt waren. Zudem geht die Verschiebung von der Höhle zur Grotte einher mit einem radikalen Umbau der Architektur: Die platonische Höhle ist gekennzeichnet durch die Topographie des Hohen und Niedrigen, des Über und Unter, des Drinnen und Draußen. Höhle bedeutet die Dunkelheit des Nichtwissens, der Abbilder, des Trugs, während der Ausgang aus der Höhle und damit der Eintritt in das Licht auch mit dem Zugang zu den Ideen und zur Erkenntnis verbunden sind. Nancy verwehrt sich genau dieser Architektur des platonischen Denkens, indem er mit der Grotte ein anderes Bild des Denkens6 entwirft: Jede Verräumlichung von Existenz und jedes Sein ist bereits in der Grotte. Und diese Grotte ist kein natürlich gegebener oder totalitärer Raum und auch kein Raum als Behälter. Ihr kommt ein geschaffener, künstlicher Charakter zu, in ihr entsteht etwas und gleichzeitig entsteht sie: Freud hatte die Angewohnheit nicht nur seine Bilder im Atelier anzufertigen, sondern dabei gleichzeitig das Atelier selbst zu gestalten, indem er die größeren, mit dem Palettenmesser von der Palette gekratzten Farbreste an den Türrahmen oder an die Wand schmierte, wo sie sich in manchen Bereichen strahlenförmig ausbreiten, während die übrigen Wände in neutralem Braun gehalten sind.7 Daraus entstand die Paint-Wall, die voll ist mit Farbtupfern, eine eigene 3
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Auch in der englischen Übersetzung von Peggy Kamuf wird diese Vorgangsweise gewählt, indem der Titel mit »Painting in the Grotto« und nicht mit dem Terminus technicus für Höhlenmalerei, cave painting oder cave art, übersetzt wird. (Nancy 1996a, 69) Brockhaus-Enzyklopädie 1989a, 211; 1989b, 176-177. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal liegt darin, dass Grotten zumeist kleinere Hohlräume als Höhlen bezeichnen und sich häufig durch ein reicheres Innenleben in Form von Muscheln, Versteinerungen, Tropfsteinen u.Ä. auszeichnen. (Brockhaus-Enzyklopädie 1989a, 211) Brockhaus-Enzyklopädie 1989a, 211. Deleuze 1992, 169. Gayford 2013, 33.
Von der Höhle in die Grotte
Plastizität hat und von Freud dann wiederum auf seinen Bildern abgemalt wurde wie zum Beispiel im »Self-Portrait, Reflection« (2002)8 . Während des Malens an seinen Bildern, seiner alltäglichen Arbeit, schuf Freud nebenbei auch den Raum um sich herum: »The studio itself has almost a bodily presence; an architecture coated with skin.«9 Gayford, der Mann mit blauem Schal, bezeichnet das Atelier auch als »Nest«10 , das sich Freud gebaut hat. Wie eine Grotte ist auch ein Nest ein geschaffener Ort – ein Wohnraum von Tieren, ein Brutraum. Nester und Grotten sind keine Räume, die natürlich oder ursprünglich vorkommen, sie sind nicht immer schon dagewesen, sind kein Raum, der befüllt wird, sondern geformt, ein Raum, der durch sein Leben in und mit ihm selbst entsteht, geschaffen, verändert wird: Verändert sich der Raum, verändert sich alles, was in ihm ist. Verändern sich die Dinge im Raum, verändert sich aber auch der Raum. So weigerte sich Freud auch, beim Malen von Porträts den Grund in Abwesenheit des Modells zu malen: »Nein«, erwiderte Freud auf eine diesbezügliche Anfrage von Gayford, »denn für mich ist sehr wichtig, was Ihr Kopf mit dem Wandschirm [vor dem Gayford posierte, J. M.] macht.«11 Der Körper eines Modells verändert den Raum um sich herum und auch den Raum des Ateliers. Die Grotte ist nicht länger eine Szene, die dazu dient, auf etwas Höheres, Wahreres zu schließen, das außerhalb von ihr liegt: »Es gibt nur das Innere der Welt, es ist wie das Innere einer Grotte.«12 Es gibt keine authentischere Welt, zu der man sich umkehren muss, in die man flüchten kann. »Die Grotte ist die Welt; dort lässt die Zeichnung das unmögliche Draußen der Welt in seiner ganzen Unmöglichkeit erscheinen.«13 Nancy verknüpft hier den Begriff der Grotte mit demjenigen der Welt – einem entscheidenden Konzept seines Denkens. Eindringlich betont er dabei, dass die Welt kein Außerhalb hat, als ob man sie verlassen könnte. Die räumliche Ausgesetztheit ist ein Aussetzen von Oberflächen, hinter denen es keine Tiefe gibt, sondern nur neue Oberflächen. Es kann kein Außerhalb der Grotte geben, sie ist das Außen und das Innen, Modulationen, aufgeschichtete Oberflächen: »Letztlich ist die Welt nur eine Schichtung von Oberflächen: Wie weit man auch vordringen mag hinter der Wand, immer stößt man doch nur auf andere Wände,
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Vgl. Abb. 11. Auping 2012, 47. Gayford 2013, 33. Freud, zit. n. Gayford 2013, 136. Nancy 1999, 118. Frz.: »Il n’y a que le dedans du monde, comme le dedans d’une grotte.« (Nancy 2001b, 130) Nancy 1999, 118. Frz.: »La grotte est le monde, où le dessin fait surgir l’impossible dehors du monde, et le fait surgir dans son impossibilité même.« (Nancy 2001b, 130)
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andere Schnittflächen und findet Ebene um Ebene oder Fläche um Fläche, nur eine unendliche Überlagerung gleich evidenter Schichten.«14 Freud gestaltet seine Grottenwand zu einer Schichtenwand, keine Trägerfläche, keine Tiefe, kein Grund, sondern die Ankunft der Formen und das Entstehen der Welt. Auch auf der Leinwand: Die Farbschichtung von Lucian Freud ist keine Projektion einer Figur, seiner selbst, auf die Leinwand, sondern eine Setzung von Farbschichten, die nichts anderes tun, als sich zu exponieren. Die Leinwand vervielfältigt sich ebenso, wie es die Wand der Grotte tut. Der letzte Grund, die Tiefe geht verloren – Formen entstehen. Dieses Entstehen von Formen, das beständig statthat, ist das »absolut unmittelbare Sich-Ereignen dieser Welt, ihre ›fortwährende Schöpfung‹«15 . In dieser Fläche, besser zu (à) ihr, sind wir: immer zueinander, immer in Beziehung. Dieses Zueinandersein erzeugt Sinn, den Nancy streng von dem Begriff der Bedeutung trennt. Sinn entsteht für Nancy dort, wo eine Präsenz oder ein Sein beginnt, in Kontakt zu treten. Wie daraus schon deutlich wird, ist Sinn immer körperlich. Das heißt, wenn Körper in Kontakt kommen, eröffnet sich Sinn, eröffnet sich eine Welt und konstituiert sich Existenz – aber nicht, weil die Körper zu einer (Selbst-)Identität zurückkehren oder auf ihren wahren Kern stoßen würden, sondern in der Bewegung einer Zerstreuung, Teilung, Dissemination oder Passage.16 Sinn meint, »dass etwas wie die Übermittlung einer ›Botschaft‹ möglich ist. Er ist der Bezug als solcher und nichts anderes. Somit konfiguriert sich der Sinn als Bezug – er konfiguriert das -à, das Zu, das er ist (während die Bedeutung sich als Identität figuriert).«17 Bedeutung ist demgegenüber festgelegt, markiert, starr und begründet sich darin, dass im Modus des Intelligiblen die Präsenz einer sinnlichen Realität festgestellt wird. Oder umgekehrt: dass im Modus des Sinnlichen die Präsenz einer intelligiblen Bestimmung unterworfen wird. Das Zusammentreffen
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Nancy 1999, 117. Frz.: »Au reste, le monde n’est que surfaces sur surfaces: aussi loin qu’on pénètre derrière la paroi, il n’y a que d’autres parois, d’autres tranches, et strates sous strates ou faces sur faces, feuilletage indéfini de couches d’évidence.« (Nancy 2001b, 130) Nancy 1999, 117. Frz.: »l’avoir-lieu le plus immédiat de ce monde, sa ›création continuée‹« (Nancy 2001b, 129). Diese Definition von Sinn ist entscheidend von empiristischen Ansätzen unterschieden, die im Rekurs auf ein Kausaldenken den Sinn in die Dualität einer Grundschicht von Elementardaten und einer Abfolge von Tatsachen aufspalten. Ebenso unterscheidet sie sich von intellektualistischen Ansätzen, die von einer Ausfaltung einer eingerollten Form, eines inneren Sinnes ausgehen, den es einem aristotelischen Bauplan folgend zu entwickeln gelte. (Kapust 2009, 266) Nancy 2014a, 165. Frz.: »il est que soit possible quelque chose comme la transmission d’un ›message‹. Il est le rapport comme tel, et rien d’autre. Ainsi, c’est comme rapport que le sens se configure – il configure le -à qu’il est (tandis que la signification se figure comme identité).« (Nancy 1993b, 184)
Von der Höhle in die Grotte
eines Sinnlichen und eines Intelligiblen in der Form, dass beide einander gegenseitig vorstellen, bestimmt, so Nancy, die Definition von Bedeutung von Platon bis zu Saussure.18 Sinn hingegen liegt stets in der Ankunft der möglichen Bedeutung: Er bleibt damit immer beweglich, flüssig.19 Er entsteht im Zwischen zweier Differenzen oder zweier Expositionen, er ist »die Bewegung des Sein-zu, oder das Sein als Kunft in die Präsenz, oder auch als Transitivität, als Übergang zur Präsenz – und im gleichen Zuge als Übergang der Präsenz«20 . Der Sinn als Übergang zur Präsenz meint dabei nicht, dass der Sinn darin aufgehen würde. Im Gegenteil ist es gerade die Exposition, die Aussetzung, die mit der Präsenz bricht, da mit ihr eine unendliche Höhlung der Präsenz stattfindet: Sinn heißt, in Kontakt zu treten, heißt damit auch, in Nähe und Distanz zu kommen und sich zu differenzieren. Diese Präsenz ist aufgeschoben, aber nicht in der Weise, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt oder an einem anderen Ort in Erfüllung gehen könnte, sondern die Präsenz als Übergang stellt sich als Differenz zu sich selbst vor: nie vollkommen erreicht, sondern durch den Kontakt, den Sinn stets ausgehöhlt, stets im Kommen.21 Folglich ist Sinn auch nie abgeschlossen, nie beendet, er ereignet sich, ist noch ausstehend. Sinn, im Verständnis von Nancy, ist nichts, was sich von einem Ort außerhalb der Welt, einem Reich der Ideen her bestimmen würde, und er ist auch keine auf die Welt bezogene Eigenschaft oder ein supplementäres Prädikat, sondern gehört notwendig zur Struktur der Welt: »[E]r höhlt darin das, was man weniger die ›Transzendenz‹ ihrer ›Immanenz‹ als viel besser ihre Transimmanenz nennen sollte, oder einfacher und stärker, ihre Existenz und ihre Exposition«22 . Dabei wird dasjenige in die Welt zurückgeholt, was als außerhalb ihrer angenommen wurde: das Reich der Ideen, die Urbilder, der Gott der Ontotheologie etc. Aber diese Transzendenzen sollen dabei nicht immanentisiert werden, sondern sie müssen »direkt auf die Immanenz«23 eingeschrieben werden. Wenn der Anschein eines Außerhalb der Welt oder der Höhle aufgelöst ist, »öffnet sich der Außer-Ort des Sinns in der Welt«24 , allerdings ist es dabei erneut problematisch von einem In zu sprechen,
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Nancy 1987, 31-32. Nancy 1987, 14. Nancy 2014a, 23. Frz.: »le mouvement de l’être-à, ou l’être en tant que venue en présence, ou encore, en tant que transitivité, en tant que passage à la présence – et du même coup, en tant que passage de la présence« (Nancy 1993b, 25). Nancy 1987, 104. Nancy 2014a, 82-83. Frz.: »il y creuse ce qu’il faudra savoir nommer mieux que la ›transcendance‹ de son ›immanence‹ – sa transimmanence, ou plus simplement et plus fortement, son existence et son exposition« (Nancy 1993b, 91). Der Begriff der Transimmanenz wurde vor allem von Marcus Steinweg (u.a. 2015, 29-34; 2014, 199-209) aufgegriffen und weiterentwickelt. Nancy 2014a, 81. Frz.: »à même l’immanence« (Nancy 1993b, 90). Nancy 2014a, 82. Frz.: »le hors-lieu du sens s’ouvre dans le monde« (Nancy 1993b, 91). Diese Offenheit betont Hutchens (2005, 167), wenn er im Glossar seines Buches »Jean-Luc Nancy
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da dies wieder ein Außen suggerieren würde – weshalb es im Text Nancys auch hervorgehoben steht: Der Außer-Ort, die Ideen, die Urbilder eröffnen sich zur (à) Welt. Dieses Einschreiben der Transzendenz auf die Immanenz hat zur Folge, dass Begrifflichkeiten wie Transzendenz und Immanenz unzureichend werden.25 Während bei Platon die Höhlenbewohnerinnen und Höhlenbewohner also mit den Schatten, das heißt mit den Abbildern der Abbilder, konfrontiert sind und durch die Umlenkung (periagoge) zu den Ideen gelangen sollten, gibt es in Nancys Grotte kein Abzubildendes mehr, das außerhalb liegen würde. Das heißt aber nicht, dass alles Schatten und die Welt Simulation ist. Die Schatten, die Bilder werden vielmehr von ihrer Exposition her gedacht: Sie exponieren sich, sie stellen sich aus, sind da, präsent. Der Präsenz oder dem Sein des Strichs wird dabei nichts von ihrem Wesen genommen, sie verlieren auch nicht ihre Identität oder ihr Selbst. Sie fallen vielmehr auseinander, um überhaupt sie selbst sein zu können.26 Ihre Teilung, ihre Öffnung, ihr In-Kontakt-Treten machen sie erst möglich. Diesen Formen und Figuren braucht keine andere Bedeutung, wie zum Beispiel ein Verweis auf eine Außenwelt oder eine kultische Handlung, zugeschrieben werden. Sie sind keine Repräsentation einer gegebenen und bestimmten Realität, auch keine Kopie, kein Abbild. Sie öffnen vielmehr hin zu, gewähren Zugang zur Existenz. Und so wirft und malt auch der Maler in der Grotte, Lucian Freud, keine Schatten, es gibt nur Modellierungen mit Farbe, Höhungen und Tiefen.27 Orientiert an der Welt, kein besseres Leben, keine besseren Farben darüber hinaus: »Aber ich will mich nicht aus der Welt ausklinken, ich will absolut in ihr sein, die ganze Zeit.«28
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and the Future of Philosophy« von einer open immanence im Unterschied zu einer closed immanence spricht. Nancy 2014a, 81. Nach Garcìa Düttmann (1993, 187) unterscheidet sich Nancys Denken von allen anderen Konzepten der Immanenz gerade dadurch, der Immanenz weder Transzendenz gegenüberzustellen noch beide in ein dialektisches Verhältnis zu bringen und die Immanenz darüber hinaus auch nicht zu einer Totalität zu stilisieren. Kenaan 2010, 69. Diese Schattenlosigkeit zeigt sich auch bei den anderen nackten Malerinnen und Malern, Richard Gerstl, Josef Kern, Maria Lassnig und Xenia Hausner. Vgl. Abb. 2, 3, 4, 5 und 6. Freud, zit. n. Gayford 2013, 52.
Die Idee als Formwerdung »Nichts liegt im Geist, was nicht schon in den Sinnen wäre: nichts in den Ideen, was nicht auch im Bild wäre.«1
Der nackte Maler, Lucian Freud, scheint erschöpft, verletzlich, vom Alter gezeichnet. Gleichzeitig wirkt er von seiner Körperhaltung her angespannt – der gesamte Körper, als stünde er unter Spannung, hart, sehnig, knöchern. Der Maler bei der Arbeit, beim Setzen eines Zugs, beim Aufschichten von Farbe, auf der Suche nach der Form, steht unter Strom. Die Geste des Malakts eröffnet Formen und Räume. Die Leinwand oder die Felswand wird nicht mehr als Unterlage, Stütze oder Hindernis erfahren, sondern »als Ort, an dem etwas vom unterbrochenen Sein, vom Fremdwerden des Seins zum Vorschein kommen kann. Die Felswand wird ein weiterer Raum«2 . Oder anders formuliert, mit der Geste des prähistorischen ersten Bildermachers3 , der mythischen ersten Malerin, Butades, und des nackten Malers, Lucian Freud, zeigt sich das Wunder der Raum- und Formwerdung. Wenn der strikte Bezug auf ein Urbild oder Modell wegfällt, eröffnen sich neue Möglichkeiten: Die Ideen sind nicht außenstehende Instanzen der Wahrheit, sondern die Idee ist das Sichzeigen selbst, die Idee als Formwerdung.4 Dementsprechend kann auch das Höhlengleichnis Platons für das Konzept der Grotte umgedeutet werden: Die Leute darin sind nicht blind für das Wahre, die Idee. Vielmehr sehen sie in der Grotte durch den Strich oder den Schatten auf der Wand die Idee entstehen, indem der Akt des Exponierens, des Nach-außen-Ziehens stattfindet.5 Damit ist die etymologische Bedeutung von idea als Aussehen oder sinnliche Gestalt einer 1 2 3 4 5
Nancy 2006a, 23. Frz.: »Il n’y a rien dans l’esprit qui ne soit dans les sens: rien dans l’idée qui ne soit dans l’image.« (Nancy 2003c, 26) Nancy 1999, 116. Frz.: »comme un lieu où laisser advenir quelque chose de l’être interrompu, de son étrangement. La paroi rocheuse se fait seulement spacieuse« (Nancy 2001b, 128). Nancy 1999, 115. Nancy 2006a, 146. Nancy 2006a, 146. Darin heißt es: »Die Idea ist das Sichzeigen, das allgemeine Sichaustragen jedes möglichen Aspekts.« Diese Übersetzung vom Französischen: »L’idea est le se-montrer, le se-porter-au-dehors en général de tout aspect particulier possible.« (Nancy 2003c, 159), legt wenig Augenmerk auf den Akt des Ziehens der darin anklingt. Eine Übersetzung von
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Person oder einer Sache angesprochen, wie sie im außerphilosophischen Kontext etwa bei Pindar Verwendung fand.6 Mit Demokrit wird der Begriff auch im philosophischen Bereich relevant, indem er die Urbestandteile des Weltganzen, die voneinander durch Gestalt, Ordnung und Lage unterschieden sind, als nicht weiter teilbare Formen (ideas) bezeichnet.7 Die Bezugnahme zu diesen Konzepten von Idee führt zu zwei zentralen Umwendungen zur platonischen Konzeption: Die Idee hat keinen übersinnlichen, das heißt intelligiblen Charakter, sondern betont wird erstens ihre Sinnlichkeit. Anstatt an der Spitze der Seinshierarchie zu stehen und hier als Urbild der Nachahmung zu fungieren, wird die Idea in der Folge als eine im künstlerischen Prozess gefundene und geschaffene Form verstanden. Die Idea (das Aussehen) eines Bildes geht den materiellen Produktionsbedingungen, aus denen es hervorgeht, nicht voraus, sondern folgt ihnen.8 Wenn die Höhlenmalerinnen bzw. die Höhlenmaler von Lascaux Tiere an die Wand zeichnen, wenn Butades den Schatten ihres Geliebten umreißt und Lucian Freud Farbschicht um Farbschicht anhäuft, um sich selbst zu malen, dann sind dies Mal- und Zeichenakte, welche eine Form eröffnen oder umreißen, um zu zeigen. Es geht darum, eine künftige Form zu finden.9 Dies kann auch am Mythos der Butades deutlich gemacht werden, die zwar den Schatten als Hilfsmittel braucht, deren Bild des Jünglings aber kein reines Abbild ist. Sie ist auf der Suche nach der Form, die ihr den Geliebten in anderer Weise eröffnet. »Die Zeichnung ist die nicht gegebene, nicht verfügbare, nicht ausgeformte Form. Sie ist also umgekehrt die Gabe, die Erfindung, das Auftauchen oder die Geburt der Form. ›Auf dass eine Form erscheine‹, das ist die Formel der Zeichnung – und diese Formel impliziert zusammen mit dem Begehren und der Erwartung der Form eine Art des Vertrauens auf eine Ankunft, ein Auftreten oder sogar eine Überraschung, der keine Formalität vorausgehen und sie also auch nicht vorformen kann.«10
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se-porter-au-dehors mit Sich-nach-außen-Ziehen wäre näher am Text ausgerichtet und auch inhaltlich stärker. Pind. O. 10,103. Demokr. DK 68 A 57. Böhler 2018, 106. Nancy 2013, 21. Nancy 2013, 13. Frz.: »Le dessin, c’est la forme non donnée, non disponible, non formée. C’est donc au contraire le don, l’invention, le surgissement ou la naissance de la forme. ›Qu’une forme advienne‹, telle est la formule du dessin – et cette formule implique, en même temps que le désir et l’attente de la forme, une façon de s’en remettre à une venue, à une survenue, voire à une surprise qu’aucune formalité antérieure n’aura pu ni précéder ni donc préformer.« (Nancy 2009, 11-12)
Die Idee als Formwerdung
Die Zeichnung findet die Form: Butades eröffnet mit ihrem Umreißen nicht nur eine Form, sondern einen enormen Raum und eine neue Gattung. Ähnliches gilt auch für die Malerei und wird am Malstil von Freud deutlich: Die Form ist nicht vorgegeben, sondern er sucht die Form während des Malaktes. Dementsprechend sind sowohl Vor- wie auch Unterzeichnungen für die großformatigen Porträts der 90er Jahre, wozu auch »Painter Working, Reflection« zählt, sehr spärlich. Statt vorgefertigte Formen zu verwenden, ist es Freuds Anliegen, der Notwendigkeit der Farbe folgend Formen zu schaffen.11 Nachdem er die Zeichnung für eine bestimmte Zeit gänzlich aufgegeben hatte, beginnt er nun direkt auf die Leinwand zu zeichnen, indem er einige wenige Striche setzt: »Während der ersten Sitzung«, schreibt Martin Gayford, »wird das Bild in Form einiger weniger Kohlestriche geboren […]. Dies ist nur der vorläufige Anfang, der Leitfaden, nach dem sich LF jedoch, wie er erklärt, nicht unbedingt richtet.«12 Im Fortgang der Arbeit nimmt er die Zeichnung stets aus dem Bild heraus.13 Es gibt also weder eine ausführliche Komposition des Bildaufbaus noch eine genaue Erfassung des Körpers. Dies bricht mit der schulmäßigen Herangehensweise zur Herstellung eines Porträts, nach der man zuerst eine Gesamtskizze anfertigt, um diese dann auszuarbeiten und immer weiter zu verfeinern, bis das Bild fertig ist.14 Freud macht einige Striche. Das heißt aber nicht, dass er schnell arbeiten würde. Auch die wenigen Striche nehmen mehrere Stunden in Anspruch. Danach folgt eine kraftvolle Schichtenmalerei, in der durch Übereinanderlegen verschiedener Malschichten auf Umwegen farbige Wirkungen entstehen. Die Farben werden dabei nicht nebeneinander, sondern übereinander aufgetragen.15 Freud beginnt meist zentral im Gesicht, bei den Augenbrauen, bei der Stirn, indem er einen Farbfleck setzt. Von diesem Farbfleck ausgehend arbeitet er sich langsam nach außen, um so ein mosaikartiges Farbmuster zu erzeugen, das sich über die gesamte Leinwand ausbreitet. Währenddessen bearbeitet Freud aber auch die anderen Malschichten ständig weiter. Der Prozess des Malens gleicht einem Ritual, in dem ein Akt ausgeführt wird. Dieses Ausführen zählt mehr als der Akt selbst. »In winzigen Schritten breitet sich die Farbe ganz allmählich auf der Leinwand aus.«16 Bemalte Bereiche stehen so neben der weißen, noch kaum bearbeiteten Leinwand. In dieser Phase strahlen die unfertigen Bilder die »stille Intensität einer Granate in der Millisekunde vor ihrer Explosion«17 aus. Nicht
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Freud/Smee 2006, 18. Gayford 2013, 15. Freud/Smee 2006, 18. Wehlte 2001, 379-406. Wehlte 2001, 391. Gayford 2013, 72. Haag/Sharp 2013, 158.
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fertiggestellte Bilder zeigen dies ebenso wie Fotografien von seinen Bildern in verschiedenen Ausarbeitungsstadien. Lucian Freud kopiert nicht eine Form, die es irgendwo an (s)einem Körper geben würde, sondern er findet die Form, er findet die Farbe, er findet die Idee, er findet das Bild, indem er zeichnet oder malt. Die materiellen Gegebenheiten und Arrangements agieren dabei als »dunkler Vorbote/Vorstrom«18 für eine sich erst abzeichnende Form. Indem er den Entstehungsprozess des Bildes in »Painter Working, Reflection« ins Bild bringt, betont er gerade den status nascendi, das Faktum des Geschaffenwerdens, das konstitutiv für künstlerische Bilder ist: Im bildgebenden Verfahren ist das Aussehen des Bildes nicht bereits gegeben, sondern es wird danach gerungen. Bilder reproduzieren also nicht nur, sondern sie produzieren eine Idee, einen Gedanken, einen Sinn, eine Wahrheit.19 In diesem Modus der in Anspruch genommenen Wahrheit liegt auch der Unterschied zwischen einem künstlerischen Bild und einem nicht-künstlerischen: Letzteres geht konform mit einer verifizierbaren, identifizierbaren, sogar messbaren Wahrheit. Ersteres wird so verstanden, dass es selbst die Verifikation einer unidentifizierbaren Wahrheit sein muss, einer nicht erkennbaren, nicht messbaren, nicht geformten Wahrheit. Was das künstlerische Bild also auszeichnet, ist das Denken der weder konformen noch verifizierbaren Form, das Denken der Form als sich formend und folglich als formgebende Kraft dieser Form.20 Das Bild wird damit nicht aufgrund seiner Forminhalte gelesen oder decodiert, sondern es ist Bild von etwas, das sich aber von diesem Etwas durch seine Kraft, seine Energie, seine Intensität unterscheidet. Das Bild repräsentiert diese Kraft nicht, es monstriert sie und berührt uns damit.21 Diese Kraft ist wiederum die vom Bild geschaffene Synthesis einer sinnlichen Verschiedenheit – nicht im Sinne einer Totalität, sondern einer singulär pluralen Vereinigung von Aspekten auf der Oberfläche der Leinwand: »Unablässig und auf immer neuen Wegen weist uns die Malerei die Arbeit oder die Suche nach dieser Kraft. Ein Maler malt keine Formen, wenn er nicht zuallererst eine Kraft malt, die sich der Formen bemächtigt und sie in eine Präs-enz stellt. 18 19 20 21
Deleuze 1968, 157. Nancy 2013, 22. Nancy 2013, 23. Nancy 2006a, 11. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Nancys Ansatz auch ganz entscheidend von demjenigen Bredekamps: Beide stimmen zunächst darin überein, dass Bildern eine spezifische Kraft oder Wirkmächtigkeit zukommt. Während Nancy diese aber in ihrer Monstruation sieht, das heißt in der Fähigkeit, Dinge abzuheben und in einer intensivierten Präsenz zu exponieren, liegt sie nach Bredekamp (2013, 52-53) darin, dass das Bild zu sprechen beginnt oder, neutraler formuliert, sich auszudrücken beginnt. Das hat zur Folge, dass damit erneut die Botschaft oder Darstellung des Bildes in den Vordergrund rückt und zum zentralen Teil des Bildes erhoben wird, während Nancy den Körper (in zweifacher Hinsicht) als Ausgangspunkt wählt. Außerdem suggeriert Bredekamp damit einen Subjektstatus der Bilder, was problematisch ist.
Die Idee als Formwerdung
In dieser Kraft können die Formen ebenso gut verformt wie verwandelt werden. Stets ist das Bild eine dynamische und energetische Metamorphose. Sie beginnt diesseits der Formen und geht darüber hinaus: jede noch so naturalistische Malerei ist eine solche metamorphische Kraft. Die Kraft (und damit selbstverständlich die Leidenschaft) verformt: sie reißt die Formen in einem Elan, in einem Wurf mit, der dazu neigt, sie entweder aufzulösen oder zu übersteigen. Die Monstration schießt als Monstruation hervor.«22 Was daraus folgt, ist ein Konzept des Bildes und der Zeichen, das nicht von einer starren und statischen psychischen Realität ausgeht, sondern das Bild als Komplex von Kräften in Bewegung, die in ständiger Veränderung begriffen sind. Das Bild ist damit eine materielle Veränderung, keine psychische.23 Die im Zitat angesprochene metamorphische Kraft findet sich schon bei Plinius im Mythos der Butades angesprochen: Der Transpositions- und Reduktionsvorgang wurde dabei allerdings der Natur zugesprochen, die den Körper in Form des Schattens zur Fläche auf der Wand transformiert. Doch auch der künstlerische Prozess ist ähnlich diesem ein kraftvoller Übergang: weniger Reduktion, mehr Transposition, viel Deformation – eine Überführung in eine andere Ebene, gewaltvoll, kraftvoll.24 Ob dieses Ding für die entsprechende Darstellung eines realen Objekts gehalten wird oder ob es sich selbst konfiguriert, ohne etwas darzustellen, ist dabei nicht entscheidend, sondern die Art, der Modus, der Schwung der Geste, die Kraft der Bewegung, die Schwere oder die Leichtigkeit des Strichs.25 Das Bild verdoppelt daher keine Welt, die außerhalb von ihm ist, sondern präsentiert eine sinnliche Form, die Sinn macht, oder eine Berührung des Sinnes ist – ähnlich wie das Zur-Welt-Sein, das wir durch
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Nancy 2006a, 42. Frz.: »Toute la peinture est là pour nous montrer, sans relâche et sur des modes toujours renouvelés, le travail ou la recherche de cette force. Un peintre ne peint pas des formes s’il ne peint d’abord une force qui s’empare des formes et qui les emporte en une prés-ence. Dans cette force, les formes aussi bien se déforment ou se transforment. L’image est toujours une métamorphose dynamique ou énergétique. Elle part d’en deçà des formes et va au-delà: toute peinture, même la plus naturaliste, est une telle force métamorphique. La force (donc la passion, on le comprend) déforme: elle emporte les formes dans un élan, dans un jet qui, tendanciellement, les dissout ou les excède. La monstration jaillit en monstruation.« (Nancy 2003c, 47-48) Die Übersetzung der Passage toute peinture, même la plus naturaliste ist ungenau, da sie den Anschein erweckt, Nancy spräche nur von naturalistischer Malerei, obwohl er jede Art der Malerei einschließt. Eine alternative Übersetzung könnte lauten: jede Malerei, sogar die naturalistischste. Sauvagnargues 2011, 431, 434, 436. Die Konzepte des Bildes bei Deleuze (1995, 39-43) und Nancy treffen sich in der Auffassung des Bildes als Komposition von Kräften. Deleuze 1995, 28. Nancy 2013, 24.
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unsere Körper erleben, Sinn macht, hervorbringt, produziert, öffnet: »Un monde s’ouvre: cela s’appelle l’art.«26 Lucian Freud, der nackte Maler, bringt Formen, Ideen hervor. Die Anstrengung dieser neuen Ausformung ist ihm anzusehen, er steht unter körperlicher Spannung – sein Blick ist konzentriert, seine Muskeln scheinen angespannt, seine Hand ist erhoben – der Malakt als Kraftakt. Eine Ausnahme davon ist sein Glied, das aber eine zentrale Rolle einnimmt, da es Freud genau in der Bildmitte positioniert hat. Die Eröffnung einer Welt, das Produzieren und Hervortretenlassen einer Idee ist zwar verbunden mit Lust, aber dabei handelt es sich nicht um eine geschlechtliche Lust. Bei der künstlerischen Lust geht es um ein Intensivieren und Differenzieren, das den ersten Bildermacher mit der ersten mythischen Malerin, Butades, und dem nackten Maler, Lucian Freud, verbindet: »Der Erste, der seine Hand, einen Hirsch oder eine Wellenlinie auf eine Felswand zeichnete, begann die endlos modulierte Wiederholung seiner Geste, die grenzenlose Variation seines Themas. Diese Wiederholung, deren Öffnung und seltsame Notwendigkeit in der Zeichnung enthalten sind, nährt eine Lust, deren Wesen die Wiederholung selbst ist. Davon ausgehend ist es möglich zu verstehen, dass Kunst in all ihren Formen immer mit Lust in Verbindung steht.«27 Wiederholung meint dabei ein Hervorziehen in die Präsenz. Die Lust des Bildes ist keine Lust der Annehmlichkeit, sondern eine Lust des Reizes, keine Lust der Sättigung oder der Befriedigung, sondern eine Lust der Verführung, kein Abbau von Spannung, sondern die sich selbst immer neu einfordernde Intensität, keine Zufriedenheit und keine abgeschlossene Form, sondern, wie Lucian Freud sagt, »eine ungeheure Anstrengung«28 . Die Geste des künstlerischen Aktes zielt auf die Öffnung, auf das Auflodern und Fortführen von Intensität.29 Nancy findet dieses Auflodern von Lust und Intensität in der Terminologie des Großvaters von Lucian Freud, Sigmund Freud, angesprochen, und zwar in der Differenzierung zwischen sexueller Lust und ästhetischer Lust bzw. Vorlust 30 . Während erstere einem Mangel folge und bei Erreichen ihres Ziels eine Entspannung und/oder Befriedigung zur Folge habe, bleibe die ästhetische Lust in Spannung, erfülle sich nie, werde 26 27
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Nancy 2010b, o.S. Nancy 2013, 40. Frz.: »Le premier qui dessina sur un pan de roche un cerf, sa propre main ou bien une ligne ondulée ouvrit à la répétition indéfiniment modulée de son geste à la variation illimitée de son thème. Cette répétition dont le dessin contient l’ouverture et l’étrange nécessité nourrit un plaisir dont l’essence est la répétition même. C’est à partir de là qu’il est possible de comprendre que l’art, en tous ses régimes, ne puisse pas être dissocié d’un plaisir.« (Nancy 2009, 37) Freud/Smee 2006, 16. Nancy 2013, 41-42. Freud 1940, 223.
Die Idee als Formwerdung
nicht befriedigt.31 »Was zufriedenstellt, ist ein Ding (ein Objekt, ein Wesen), was Lust verschafft, ist eine Beziehung (eine Öffnung, eine Veränderung).«32 Schon im Ursprungsmythos der zeichnerischen Malerei kommt es zu einer Kumulation dieser beiden Lüste: Eros und Thanatos stehen an ihrem Beginn. Butades will den geliebten Jüngling nicht ziehen lassen, sie verspürt einen Mangel, eine nicht zu befriedigende (sexuelle) Lust, die damit zur Unlust wird. Sie setzt einen Strich auf der Wand und eröffnet eine ästhetische Lust, die nie zur Befriedigung kommt, aber dennoch Lust bereitet. Es ist dies keine Ersatzhandlung, sondern eine andere Art von Lust: die Lust der Verführung, die knisternde Spannung, eine »Erotik des Bildes«33 , das Entstehenlassen und Präsentmachen einer Form: »In diesem Sinne könnte man, um die Freud’schen Kategorien fürs Erste beizubehalten, mit gutem Grund sagen, dass die Lust der Kunst pervers ist, genauso wie letztendlich jede von der genitalen Entladung abweichende Sexualität pervers ist«34 . Perverse Kunst, perverse Bilder also, weil sie immer in Spannung bleiben, sich der Entladung versagen, der Befriedigung und Annehmlichkeit verwehren. Der unter Spannung stehende Maler Lucian Freud blickt den Betrachtenden entgegen. Angespannt auf der Suche nach der Form. Dass er diese nicht immer sogleich findet, sondern sich daran annähert, sie korrigiert, abändert, neu umreißt, zeigt sich an »Painter Working, Reflection«: Am erhobenen rechten Arm sind Spuren einer Korrektur erkennbar. Es scheint, als ob Freud den Arm schmäler gemacht und so in seiner Form anders konfiguriert habe. Die Entstehung eines Gemäldes kommt für Freud der Erforschung eines unbekannten Territoriums gleich.35 Dementsprechend kann es auch keinen fertigen Plan geben, den die Künstlerinnen und Künstler strikt abarbeiten, sondern es geht um eine Bereitschaft, durch welche die Linie Form annimmt. Die Lust am Malen und am Bilden kann also nur diejenige sein, die keine gegebene Form anerkennt – sie ereignet sich vielmehr. Diese Form öffnet den Raum, öffnet Sinn, indem sie Bereiche begrenzt und umreißt, gibt sich aber dennoch nicht mit einer bloß trennenden Funktion zufrieden. Die sich abzeichnende Form öffnet den Raum, indem sie ihn teilt, spaltet, in Verbindung mit Volumen und Tiefe bringt, ihn in Resonanz, Schwingungen, Tonalitäten und Farbschattierungen versetzt.36 Diese Lust der Öffnung liegt in der Möglichkeit, im Sein-Können, im Entstehen, wie auch Freud feststellt: »Ich glaube, ein Bild zu malen ist zum Teil 31 32 33 34
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Nancy 2013, 70. Nancy 2010a, 59-72. Nancy 2013, 95. Frz.: »Ce qui contente est une chose (un objet, un être), ce qui plaît est un rapport (une ouverture, une altération).« (Nancy 2009, 87) Nancy 2011a, 354. Frz.: »érotique de l’image« (Nancy 2011b, 75). Nancy 2013, 70. Frz.: »En ce sens, pour garder un instant les catégories freudiennes, on serait fondé à dire que le plaisir de l’art est pervers, tout autant que le serait en fin de compte toute sexualité détournée de la décharge génitale« (Nancy 2009, 67). Gayford 2013, 65. Nancy 2013, 48.
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deshalb so reizvoll, weil man nicht genau weiß, was passieren wird. Wenn Maler genau wüssten, was dabei herauskommt, würden sie es wohl gar nicht erst machen.«37 Dementsprechend interessieren Freud die fertigen Gemälde kaum,38 worum es ihm geht, ist die Kraft und Spannung des Sich-Formierens, der Malakt – das verbindet ihn wohl mit der ersten mythischen Malerin, Butades, und den Höhlenmalerinnen bzw. Höhlenmalern: »Seit der Mensch in Höhlen die Wände ritzt und bemalt, statt sich mit der Betrachtung der Abbilder der Dinge zu begnügen, wie Platon es wollte, tut er nichts anderes mehr oder wird von nichts anderem mehr getrieben als diesem Begehren und dieser Lust, (den Dingen) auf den Grund zu gehen. Das ist es, worum es in der Kunst geht.«39
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Freud, zit. n. Gayford 2013, 81. Gayford 2013, 81. Nancy 2011a, 356. Frz.: »Depuis qu’il grave et peint dans les cavernes, au lieu de se contenter d’y regarder des figures d’objets, comme le voulait Platon, l’homme n’exerce pas autre chose, ou n’est pas lui-même exercé par autre chose que par ce sien désir et plaisir d’aller au fond. Voilà toute l’affaire de l’art.« (Nancy 2011b, 78)
Die Grotte als Ort der Exposition »Wenn das animal monstrans die Wand bemalt, projiziert es nicht eine Figur auf eine Trägerfläche, sondern es nimmt diesem Träger die Tiefe, vervielfältigt die Wand zu unendlichen Schichten, so dass sie zuletzt selbst keine Tiefe mehr hat. Es gibt keinen Grund mehr oder aber der Grund ist nurmehr die Ankunft der Formen, die Erscheinung der Welt.«1
Freuds Haltung während des Malakts: steif, unbeweglich. Er wirkt nicht agil, sondern langsam. Seine Umgebung: braun, erdfarben, verschiedene Ausmischungen von Graubraun, Grau, Weiß, Beige, Hellgelb, Ocker, Braun und Schwarz – allesamt sind sie sehr unauffällig2 –, Freud nennt sie auch »Farben des Lebens«3 . Entscheidend ist, dass sie nicht als Farben begriffen werden, die eine Form ausfüllen oder schmücken, sondern selbst schon Inhalt sind.4 Diese Farben des Lebens erzeugen eine Dunkelheit – untypisch für ein ansonsten lichtdurchflutetes Atelier: Dasjenige Freuds ähnelt einer Grotte und er selbst einem Grottenbewohner. Statt Malmesser und Palette könnte er auch einen Stichel und einen Zweig, wie sie häufig von den Höhlenmalerinnen und -malern verwendet wurden, in der Hand halten. Sein Körper wirft keinen Schatten, er setzt sich aus, direkt und nackt, in der Grotte seines Ateliers – exponiert:5 Während die Höhle der Ort der Finsternis, der Repräsentation, der Bedeutung und des Gefangenseins war, ist die Grotte der Ort der
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Nancy 1999, 117. Frz.: »En peignant la paroi, l’animal monstrans ne pose pas une figure sur un support, il enlève l’épaisseur de ce support, il la démultiplie à l’infini, et elle n’est plus ellemême supportée par rien. Il n’y a plus de fond, ou bien le fond n’est que l’avènement des formes, l’apparition du monde.« (Nancy 2001b, 130) Gayford 2013, 91. Freud, zit. n. Gayford 2013, 91. Gowing 1984, 13. Dass Freud wenngleich nicht nackt, so doch zumindest mit nacktem Oberkörper gemalt hat, zeigen die Fotografien von David Dawson. Siehe dazu Abb. 12.
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Präsentation und der Exposition. Wird die Welt nicht mehr als platonische Höhle betrachtet, so lässt sich feststellen: »as a grotto, it is no longer a prison«6 – und das obwohl es kein Außerhalb gibt. Die Welt oder die Grotte ist eine »parstotalitäre, nicht totalisierbare Totalität, in der jeder Teil die ganze Ausdehnung des Ganzen hat, in der aber das Ganze nur im gegenseitigen extra der partes besteht. Und darin wiederum besteht die Singularität des pluralen Singulären.«7 Diese Ontologie des singulär Pluralen, die Nancy auf der Basis seines Konzepts des Mit-seins entwickelt, geht erstens davon aus, dass es notwendig immer mehr als eine Singularität geben muss, dass Singularität also bereits eine Pluralität impliziert. Zweitens hat dies zur Folge, dass die Singularitäten erst durch ihre Bewegung und ihre Berührung mit anderen zu dem werden, was sie sind. Drittens ist eine Singularität weder eine in sich geschlossene Identität noch besteht sie aus einer Summe eindeutig feststellbarer Eigenschaften, sondern sie ist selbst eine Pluralität von Ereignissen oder Kontakten.8 Auch die Leinwand des Lucian Freud ist übersät von einer Schichtung von Farben, Zügen, Klümpchen, Singularitäten, die auf der Leinwand eine singuläre Pluralität bilden. Aber keine Anhäufung, die zusammen eine Bedeutung, eine Botschaft bildet, sondern Singularitäten, die notwendig plural sind, um überhaupt sein zu können9 – und mehr noch, die auch zur Grotte in Beziehung stehen. Eine Ontologie des singulär Pluralen, für welche die Bilder der Gründungsmythos sind. Mit-sein meint damit den ständigen Prozess der Separierung und Differenzierung, der das Dasein und das Da des Seins erst ausmacht.10 Damit einher geht eine dreifache Abgrenzung: Das es gibt ist nicht im Modus einer Substanz zu verstehen und auch nicht im Modus des Da als einer Gegenwart. Zudem ist es keine Präsenz, auf die Zeichen zurückgreifen oder verweisen könnten.11 Das es gibt ist im Modus des Entstehens zu begreifen: Nichts wird vor der Entstehung existiert haben und nichts folgt ihr, Entstehung ist immer, ereignet sich immer, sie ist aber nie (abgeschlossen, fertig etc.). Entstehen heißt immer ausgesetzt sein und damit berührend und berührt zu sein. Dies setzt voraus, dass es weder ein Sein für sich alleine noch ein Sein als absolute Anwesenheit gibt. In dem Maße, in dem sich ein es gibt ereignet, tritt es in Kontakt mit anderen, entzieht sich von sich selbst, löscht sich aus und entsteht doch. Existieren ist exponieren und somit auch immer ein Entstehen, was eine Bewegung und ein dynamisches Verhältnis impliziert.12 Hei6 7
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Kaplan/Ricco 2010, 7. Nancy 2014a, 211-212. Frz.: »la totalité parstotalitaire, intotalisable, où chaque partie a toute l’extension du tout, mais où le tout ne consiste que dans l’extra mutuel des partes. En quoi consiste la singularité du singulier pluriel.« (Nancy 1993b, 234) Morin 2012, 37. Nancy 2004, 34; 38. Nancy 2004, 151. Nancy 1994, 105. Nancy 1995, 12-13.
Die Grotte als Ort der Exposition
deggers Konzept des Mitsein ist daher für Nancy wie eine Linse, durch die er die Möglichkeit sieht, das Sein als »event of multiplicity«13 zu denken, und damit eine neue Ontologie zu eröffnen – eine Ontologie des singulär Pluralen, eine Ontologie des Mit-seins, die sich besonders im Bild exponiert. Eine der Konsequenzen, die aus der Ontologie des singulär Pluralen folgt, liegt darin, dass Sein nicht in einer Hierarchie gedacht wird, an dessen Spitze die Ideen und an deren Ende die Bilder stehen, sondern eben in einem flächig orientierten Mit-sein. Bilder potenzieren dieses Mit-sein, insofern sich das Bild nicht nur durch seine singulär plurale Verfasstheit auf seiner Oberfläche auszeichnet, sondern selbst mit seinem Körper notwendigerweise in einem Mit-sein steht.14 Den Malakt im Mit-sein zu verstehen, bedeutet in weiterer Folge auch, dass damit nicht einfach eine Form oder eine Figur von einem Subjekt hervorgebracht wird, sondern auch der Maler oder die Malerin gehen daraus hervor. Der Ursprung der Malerei als Formwerdung ist so zugleich auch der Akt der Menschwerdung15 : Im Malakt wird nicht nur das Bild hervorgebracht. Die singuläre Geste des ersten Bildermachers16 erlaubt auch die Hervorbringung von sich selbst. Nancy schließt hier erneut an Bataille und dessen Text über die Höhlenmalereien von Lascaux an. Bataille macht darin den Beginn der Menschwerdung mit dem Beginn der Kunst fest sowie die damit verbundene Erfindung des Spiels gegenüber der Arbeit, die dem Zweck-Mittel-Denken, dem Denken der Nützlichkeit folgt17 : »In Lascaux freilich wurde kein schon begangener Weg verlassen: hier wurde ein erster Schritt gewagt, hier war ein Uranfang.«18 Nancys Fokus liegt aber weniger auf dem Spiel als auf der Ausgesetztheit und der damit verbundenen Fremdheit, die ebenfalls am Beginn des Menschseins oder, genauer gesagt, am Beginn des Seins liegt: »Hier auf einer Wand wurde die Kontinuität des Seins unterbrochen durch die Geburt einer Form, und diese von allem losgelöste Form, die selbst die Wand aus ihrer opaken Schwere löste, ließ die Fremdheit des Seins, ob Substanz oder Tier oder was immer sie zeichnete, sichtbar werden und so die Fremdheit allen Seins in diesem einen.«19 13 14
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Kenaan 2010, 66. Diesen zentralen Aspekt des singulär Pluralen übergeht Kenaan, wenn er schreibt, Nancy »never opens his account of the image’s singular plurality to the question of the image’s being with« (2010, 70). Vgl. dazu das Kap. »Subjekt als Sujet« im zweiten Teil. Nancy 1999, 115. Vgl. dazu das Kap. »Berühren als Konkretion des Mit-seins«. Bataille 1983, 27-28; 135; 121-122. Bataille 1983, 130. Nancy 1999, 114. Frz.: »ici, sur une paroi, la continuité de l’être était interrompue par la naissance d’une forme, et cette forme détachée de tout, détachant même la paroi de son épaisseur opaque, donnait à voir l’étrangeté de l’être, substance ou animal, qui la traçait, et de tout l’être en lui.« (Nancy 2001b, 127)
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Mit dem Strich, den der erste Bildermacher auf der Höhlenwand setzt, ereignet sich eine Urdifferenz, eine Art Ur-Mit-sein.20 Er ist zwar derjenige, der das Mit-sein mit seiner Geste eröffnet, dabei muss er jedoch notwendig selbst schon in einem Mitsein stehen, weshalb diese erste Geste tatsächlich unvorstellbar bleiben müsste. In der Geste des Malakts muss der erste Bildermacher bereits die Wand berühren, differenziert sich, steht bereits in einem Mit. Mit-sein und das singulär Plurale ist nicht auf Menschen beschränkt, sondern findet in den Differenzen der Materie statt. Die Form entsteht zur Wand und zum Maler bzw. der Malerin. Sie schaffen Form, sie schaffen Sein und wie dieses Sein nur in der Pluralität sein kann – nicht als Gemenge, sondern als Bedingung der Möglichkeit muss der Singularität die Pluralität eingeschrieben sein –, so kann es auch nur Sein geben, wenn dieses offen ist, in Beziehung, in Kontakt, in Berührung. Damit ist es aber nie ganz bei sich, in sich geschlossen. Stets ist das Fremde notwendig eingeschrieben. Wenn die ersten Malerinnen und Maler also ein Bild malen, so stellen sie sich mit diesem Malakt in ein potenziertes Mit-sein, das sie selbst prägt und bestimmt. Im Malakt entsteht so nicht nur ein Bild, sondern auch ein Bild oder Entwurf der Malerin oder des Malers. Das Bild als Urgeste des Zeigens schafft so auch erst den Menschen. Nicht nur bringt er das Bild hervor, sondern auch das Bild ihn: »Mit der Zeichnung unserer Vorfahren wurde uns das Wesen einer formgebenden Kraft – die gleichzeitig musikalisch, choreografisch, chromatisch und auch poetisch ist – übertragen und weitergegeben, gewissermaßen die Urgeste eines Zeigens, durch die der Mensch sich selbst zeichnet und bestimmt. Man könnte sogar sagen: sich dazu bestimmt, (sich selbst) zu zeichnen; die Skizze, die er ist, endlos zu erneuern und zu vervielfachen.«21 Eine endlose Erneuerung einer Selbstzeichnung, eines Selbstporträts – der nackte Maler, Lucian Freud, als Maler in der Grotte: Auch er wiederholt diese Urgeste des Zeigens, indem er sie ausführt und indem er sie malt. Vom Bild ausgehend gedacht steht am Anfang des Menschen für Nancy also »die Entdeckung des monstrare. Der
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Ähnlich beschreibt dies auch Boehm (2006b, 340), ohne aber auf die ontologische Ebene des Mit-seins zu rekurrieren, wenn es wie folgt heißt: »Schon die erste Spur von Farbe, die der unbekannte Maler einer grauen Vorzeit gesetzt haben mag, jede erste Schicht der Darstellung negiert den Bildgrund und bringt ihn zugleich neu hervor. Die Binnenflächen überdecken und sie zeigen in einem die gesamte Bildfläche. Negation ist die Grundlage aller bildlichen Erscheinung.« Nancy 2013, 28. Frz.: »avec le dessin de nos ancêtres, c’est l’essence d’une force formatrice – en même temps musicale, chorégraphique, chromatique et poétique aussi – qui s’est inscrite et transmise à nous comme le geste inaugural d’une monstration par laquelle l’homme se dessinait et se destinait lui-même. On pourrait même dire: se destinait à (se) dessiner, à renouveler et multiplier sans fin l’esquisse qu’il est.« (Nancy 2009, 27)
Die Grotte als Ort der Exposition
homo sapiens ist zunächst ein homo monstrans.«22 Zeigen bedeutet nicht, dass sich etwas in seiner Ursprünglichkeit preisgibt, keine Identität oder Selbst und auch kein Hinweisen auf ein Etwas, sondern die Exposition, das Ausgesetztsein durch das Herstellen eines Zwischenraums, das Schaffen eines Abstands für die Darstellung.23 Aus diesem Grund steht bereits am Beginn von Nancys Text »La peinture dans la grotte« folgende Schlussfolgerung: »Die Geschichte des Menschen beginnt mit der Fremdheit seines eigenen Menschseins. Oder mit der Menschwerdung seiner eigenen Fremdheit.«24 Der Prozess des Fremdwerdens ist also der Prozess des Exponierens, des Mit-seins und damit der Prozess, den die Malerei darstellt. Wie weitreichend die Konsequenzen der Ontologie des singulär Pluralen ist, zeigt sich im Vergleich zu Heidegger: Nancy greift damit den ontologischen Bruch bzw. die ontisch-ontologische Differenz25 an, in deren Verdeckung Heidegger das große Problem der Metaphysik sieht. Heidegger bezeichnet damit den Unterschied zwischen einer existentiell-ontischen und einer existenzial-ontologischen Ebene, das heißt zwischen Seiendem und Sein. Letzteres ist bereits ein vom Geist erschlossenes Seiendes, das dem individuellen, raum-zeitlich manifestierten Seienden als Wesen zugrunde liegt. Es ist das Dass des Seins des Seienden und wird später von Heidegger umfassender als Sinn von Sein verstanden.26 Diese verschiedenen
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Nancy 1999, 110. Frz.: »[L’homme a commencé par] le savoir de cette monstration. Homo sapiens n’est tel qu’au titre d’Homo monstrans.« (Nancy 2001b, 122) Das Hauptwort monstration mitsamt Demonstrativpronomen geht in der Übersetzung verloren, stattdessen wird das nominalisierte Verb monstrare mit bestimmtem Artikel verwendet. Eine näher am Text angelegte Übersetzung könnte wie folgt lauten: Die Menschheit hat mit dem Wissen um diese Monstration begonnen. Der Homo sapiens ist nur, indem er zunächst Homo monstrans ist. In der Bezeichnung homo monstrans verbirgt sich eine indirekte An- sowie Abgrenzung zu Hans Jonas (2006, 105-124), der den Begriff homo pictor wählt, um den Menschen vom Tier aufgrund seiner Fähigkeit des Bildens zu unterscheiden. Ähnlich wie Bataille (1983 u.a. 121-130) versucht Jonas, den Menschen durch die Höhlenzeichnungen vom Tier abzugrenzen, weil dieser in der Lage ist, aus der reinen Ebene der Notwendigkeit auszutreten und biologisch nutzlose Dinge herzustellen, das heißt Dinge, die keinem Mittel-Zweck-Denken entsprechen – Bilder. Nancy sieht im Bilden zwar eine menschliche Fähigkeit, die aber eine gesteigerte Exposition ist und damit nicht eine Eigentlichkeit des Menschen ausdrückt, sondern ein Fremdwerden, ein Berühren und Mit-sein zeigt. Damit grenzt er sich auch von Gottfried Boehm ab, der den Begriff des homo pictor im Rahmen eines Sammelbandes (2001) aufgegriffen hat. Auch Horst Bredekamp verknüpft die Menschwerdung mit der Fähigkeit zur Bildschöpfung: »Mensch ist, wer Naturgebilde in Bilder umformen und diese als eigene Sphäre zu bestimmen vermag.« (Bredekamp 2013, 28) Nancy 1999, 110. Nancy 1999, 109. Frz.: »L’homme a commencé par l’étrangeté de sa propre humanité. Ou par l’humanité de sa propre étrangeté.« (Nancy 2001b, 121) Heidegger 1975, 22. Rentsch 2003, 57-58.
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Seinsbereiche, Sein und Seiendes, so Heidegger, sind nicht ineinander oder untereinander vermittelbar, bleiben aber untrennbar aufeinander bezogen. Für Nancy hingegen ist diese Trennung nicht haltbar: Sein heißt für ihn immer schon Ausgesetzt-Sein, das Sein exponiert sich, es ist nicht getrennt vom Seienden, sondern besteht gerade darin, dass es in Kontakt mit anderen kommt und steht.27 Umgekehrt formuliert heißt Seiendes, dass es immer auch sein Sein mitausstellt und im Mit-sein einbettet. Das Sein, so Nancy, ist oder existiert das Seiende, »es ›lässt‹ es sein, das heißt, es lässt es Sinn-machen«28 . Auch wenn die ontologische Differenz bei Heidegger eine programmatische ist, handelt sie nicht von zwei strikt voneinander geschiedenen Regionen.29 Bei Nancy wird diese Untrennbarkeit verstärkt und in eine Dynamik überführt, sodass es zu einer gegenseitigen Bedingtheit kommt, die aber auf dem Seienden, der Exponiertheit, dem Ontischen fußt. Sein ist für Nancy nicht statisch oder unveränderlich, sondern die singuläre Existenz, die in der der Multiplizität der Formen gründet, die miteinander in Kontakt, in Beziehung stehen. Existieren heißt, sich zu exponieren.30 Oder anders formuliert: »wir sind exponiert, das ist unser Sein – oder der Sinn von Sein«31 . Exponiert zu sein geschieht noch vor aller Bedeutung, vor jeder Idealität, vor jeder Zielsetzung, die man benennen könnte. In ihr liegt keine weitere, mächtigere oder ursprünglichere Bedeutung, sondern diese Aussetzung eröffnet allererst Sinn. Existieren heißt, gemäß der körperlichen Äußerlichkeit exponiert zu sein, auf der Welt zu sein, zu ihr zu sein, und noch radikaler, Welt zu sein.32 Im Bild, so Nancy, setzt sich dieser stets gewaltsame Aufriss ins Werk, durch dessen Kraft sich überhaupt etwas darbieten und aussetzen kann. Der erste Umriss der Hand oder der Umriss des Schattens des Geliebten der Butades zeigt daher das Wunder des Zeigens selbst: Er zeigt, dass es ein Selbst außerhalb seiner selbst, außerhalb seines Seins gibt, das für sich selbst steht und der Mensch, die erste Malerin oder der erste Maler, steht diesem staunend gegenüber: »Die Malerei malt
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Morin 2012, 34. Heikkiläs Auslegung (2007, 29; 38) ist in dieser Hinsicht an mancher Stelle zu schwach, wenn sie davon ausgeht, dass Nancy auf der ontologischen Differenz Heideggers aufbaut, allerdings die Verbindung zwischen Sein und Seiendem als aktive Relation interpretiert. Nancy scheint aber damit auch die ontologische Differenz selbst infrage zu stellen und eben nicht oder nur als negative Bezugsfläche auf ihr aufzubauen. Sein und Seiendes fallen zwar nicht in eins, sind aber so stark ineinander verwoben, dass eines nicht ohne das andere und vor allem keines ohne materielle Exponiertheit verstanden werden kann. Nancy 2014b, 112. Frz.: »l’être est ou existe l’étant, il le ›fait‹ être, c’est-à-dire il le fait ou il lui fait faire-sens« (Nancy 2001c, 92). Grondin 2001, 6. Heikkilä 2007, 298-299. Nancy 1987, 101. Frz.: »nous sommes exposés, c’est là notre être – ou c’est le sens de l’être« (Nancy 1986, 95). Nancy 1987, 101; 103. Nancy 2010a, 84.
Die Grotte als Ort der Exposition
dieses Staunen. Dieses Staunen ist Malerei.«33 Der nackte Maler, Lucian Freud, hält genau dieses Wunder des Zeigens fest: Staunend blickt er sich an, staunend blickt er auf die Leinwand, auf der sich etwas zeigt, das er selbst ist, staunend blickt er nun uns, die Betrachtenden, an. Was sich zeigt, zeigt sich nur durch eine Distanz, die sich eröffnet hat, eine Trennung, die ihn von sich selbst trennt. Sich fremd zu werden, heißt aber auch, zu sich selbst zu kommen, denn nur im Mit-sein, im Öffnen kann man sein. Das Mit-sein führt zu folgender Gleichung: »Ego sum = ego cum.«34 Sein heißt immer schon mit anderen zu sein. Und es ist die Malerei, die diesem Prozess unterliegt, aber auch wieder zeigt, zur Schau stellt, exponiert – die Urgeste des Zeigens. Die Präsenz der anderen, das konstitutive Mit verliert sich also nicht in der Grotte, sondern intensiviert sich sogar. Malerei potenziert das Mitsein, sie schafft es, vollzieht es und zeigt es. Kunst ist demnach nichts, was irgendwann in der Geschichte der Menschheit erfunden wird, sondern immer schon da, am und mit dem Anfang der Menschheit. Die Bilder, und vor allem das Bild von Lucian Freud, werfen uns daher immer auch das Bild des Malers zurück und diese »Ungeheuerlichkeit seiner Geste«35 .
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Nancy 1999, 109. Frz.: »La peinture peint cette surprise. Cette surprise est peinture.« (Nancy 2001b, 121) Nancy 2004, 60. Frz.: »Ego sum = ego cum.« (Nancy 2001b, 51) Nancy 1999, 118. Frz.: »l’éclat de son geste« (Nancy 2001b, 131).
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Zwischenresümee
Ebenso wie Lucian Freud auf seinem Selbstporträt ein Malmesser in der Hand hält, so hält auch die mythische erste Malerin in ihrer Hand einen Griffel o.Ä. und macht einen Zug. Die mythische erste Malerin und der nackte Maler – sie sind vereint durch die Geste des Malens, das Hervorbringen von Formen. Der Mythos der Butades steht dabei in einem engen Zusammenhang mit dem Höhlengleichnis Platons: ein Mythos vom Ursprung der Malerei und ein Gleichnis über den Ursprung der Erkenntnis. Wenn Butades den Schatten ihres Geliebten an der Wand umreißt, umrandet sie bereits ein Abbild und schafft damit ein Abbild des Abbilds. Wenn die Höhlenbewohnerinnen und -bewohner in Platons Gleichnis die Wand anstarren, so sehen sie nichts anderes: Abbilder der Abbilder. Dem korrespondiert Platons Verständnis der Malerei – sie bildet ein weiteres Mal ab und ist damit am unteren Ende der Seinshierarchie eingeordnet. Die Aufgabe der Bilder liegt dabei ausgehend von ihrem Status als nichtseiend darin, auf etwas Abwesendes, aber Seiendes zu verweisen. Diese Bestimmung Platons hat eine weitreichende philosophische wie ikonographische Tradition zur Folge. Erkenntnis bedeutet periagoge: Umlenkung vom Sinnlichen, vom Sehen der Bilder hin zur (intelligiblen) Schau der Ideen (Epopteia), die wiedererkannt werden (Anamnesis). Was in dieser platonischen Bildtheorie kaum eine Rolle spielt, ist der Akt des Malens, das Setzen eines Striches und damit der künstlerische Prozess. Dieser nimmt jedoch im Mythos der Butades bei Plinius, verglichen mit der Kürze der Textpassage, viel Raum ein und in den historischen Malereitraktaten steht er und die malerische Praxis im Zentrum. Dabei zeigt sich jedoch eine platonisch geprägte Ausdeutung des Malprozesses, wodurch sich der Mythos der Butades und das platonische Höhlengleichnis noch stärker ineinander verweben. In kritischer Abgrenzung zu Platon und einer platonisch geprägten Tradition macht Derrida in seiner Deutung des Mythos der Butades gerade den Akt des Ziehens eines Strichs zum zentralen philosophischen Ausgangspunkt: Im Strich der Butades ereignet sich ein räumlich-zeitlicher Aufschub, der das Modell von seinem Abbild unausweichlich trennt, aber noch mehr: der sich nie auf ein Modell bezogen hat, sondern der im Kontext mit den anderen Strichen, dem Kontrast zur Wand seine Bedeutung erhält. Bedeuten ist damit kein Wiedererinnern oder Ab-
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Expeausition
bilden, sondern ein Prozess des Schaffens und Hervorbringens. Es ist dies eine frei flottierende, sich immer weiter aufschiebende Bewegung ohne Ursprung. Butades wird für Derrida damit zum Sinnbild der Philosophie der différance. Der nackte Maler, Lucian Freud, zieht keinen Strich, er schichtet im Bild vielmehr Farben aufeinander. Kein Strich zwischen Sinnlichkeit und Intelligibilität, wie Derrida den Strich in seinem prekären Status beschreibt, sondern rohe materielle Fakten. Nancy begreift dementsprechend den Begriff der différance materiell, indem er ihr ein konstitutives Zur-Welt-Sein (à) einschreibt. Dies führt zu zwei zentralen Konsequenzen, mit denen sich Nancy von Derrida abhebt: einer Ontologie des singulär Pluralen und einem Konzept von Präsenz, die beide entscheidend auf dem Berühren aufbauen. Differenzen entstehen in Materie, oder anders formuliert, Materie schafft Differenzen. Diese Konkretheiten sind nicht unabhängig voneinander, sondern berühren sich. Berühren reicht über den Tastsinn hinaus, es meint ein In-Kontakt-Kommen, bei dem sich zugleich eine Distanz eröffnet. Das von Heidegger entlehnte Existential des Mitseins wird bei Nancy konstitutiv für jedes Sein: Etwas ist nur, wenn es in Kontakt zu anderen steht. Und dieses Mit-sein zeigt sich in potenzierter Weise auf der Oberfläche der Leinwand, wo sich Farben, Striche exponieren und immer und notwendig in Kontakt mit anderen sind. Dabei ereignet sich nicht nur ein Aufschub, sondern vor allem eine Präsenz – in Anlehnung an das prae verstanden als ein Voraus-Gehen des Zur-Welt-Seins und ein Nach-vorne-Stellen. Und das Bild stellt in zweifacher Hinsicht nach vorne: zum einen seine Darstellung, seine Oberfläche, zum anderen sich selbst als Bild, seinen Körper. Es ist eine zweifache Ausgestelltheit, eine zweifache Exposition, mit der Bilder als Vollzugsformen wirken. Es potenziert damit die alltägliche Exponiertheit des Subjekts, indem sie diese selbst zeigt. Ausgehend von dieser Umwendung hin zur différance wird auch die platonische Höhle umgebaut zu einer Grotte. Im Gegensatz zur Höhle ist die Grotte etwas Geschaffenes, ein gebildeter, geschichteter Raum. Ihre Architektonik erstreckt sich nicht von einer Höhe zu einer Tiefe, sondern schichtet sich wie die Oberfläche des Gemäldes von Lucian Freud – unzählige übereinander liegende, sich kreuzende, überdeckende, hervorbringende Schichten. Die Grotte hat kein Außerhalb, sondern alle Transzendenzen sind in sie und ihre Oberflächen eingearbeitet. Sie ist damit kein Ort der Abbilder der Abbilder von den Ideen, wie es die Höhle war, sondern in ihr werden Ideen, werden Bilder hervorgezogen. Genau dieser schaffende Prozess, den Lucian Freud ins Bild stellt und den Butades ausführt – das Hervorziehen von Formen und Ideen – bereitet künstlerische Lust. Eine solche lässt sich nicht befriedigen, sondern schwillt an und ab. Nicht um einen Mangel zu kompensieren – den Verlust ihres Geliebten – hat Butades also den Strich auf die Wand gesetzt, sondern aus Lust am Hervorbringen von Formen und Differenzen. Ebenso wie diese Formen nie etwas für sich sind, sondern immer schon in einem singulär pluralen Verhältnis des Mit stehen, gilt dies auch für die Malenden:
Zwischenresümee
Der erste Bildermacher eröffnet zwar eine Differenz, eröffnet ein Mit-sein, aber steht selbst bereits mitten drinnen. Im Akt des Malens werden daher nicht nur Formen geschaffen, sondern die Malerin oder der Maler zieht sich selbst damit hervor: der nackte Maler, Lucian Freud, wie er sich selbst auf der Oberfläche seiner Leinwand modelliert – im Akt des Malens beim Akt des Malens, Formen schaffend, sich selbst hervorbringend. Der Mythos der Butades ist daher nicht nur der Mythos des Bildes, das auf ein Abwesendes verweist, das die eigentliche Präsenz wäre, ein abbildendes und wiedererinnerndes Bild, sondern der Mythos der Butades zeigt auch die Formwerdung, das Nach-vorne-Treten von Form und Grund.
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Narcissus oder der Ursprung der Malerei »Fast, fast scheint er berührt.«1
Narcissus betrachtet sich selbst, ohne sich zu erkennen. Er lässt sich nieder in einer idyllischen Landschaft mit einer Quelle und silberhellem Wasser. Ungetrübt ist diese Landschaft, noch nicht einmal ein herabgefallener Baumzweig ist in ihr zu finden. Hier ruht Narcissus, ermüdet von der Jagd und durstig. »Während den Durst zu löschen er strebt, wird anderer Durst wach«2 . Seinen Kopf zum Wasser beugend, spiegelt sich sein Gesicht darin und wird ihm zum Objekt der Liebe. Doch »[l]iebt er einen Wahn: er hält für Körper, was Schatten. / Sich anstaunt er selbst, und starr mit dem selbigen Blicke«3 . Narcissus hält sein Spiegelbild im Wasser für einen anderen Menschen und in diesen verliebt er sich. Er starrt ihn an, er staunt, ist entzückt. Wenn er dem Anderen näher zu kommen versucht, so kommt ihm auch dieser näher. Wenn er ihn zu berühren versucht, so streckt auch der Andere die Hand nach ihm aus. Gleichwohl kommen sie nie zusammen! »Unkund, was er erblickt, glüht für das Erblickte der Jüngling: / Der sein Auge betrügt, der Wahn auch hält es gefesselt.«4 Fast zornig wirkt der Erzähler darüber, man meint, er wolle Narcissus anschreien, ihn warnen, ihm spotten: »Was, Leichtgläubiger, strebst du vergebens nach flüchtigem Scheinbild? / Nirgends ist, was du begehrst; sieh weg, und es flieht das Geliebte; / Schatten ist, was du gewahrst, vom widergespiegelten Bilde! / Nichts ist eigen daran; mit dir nur kam und verbleibt er, / Weggehn wird er mit dir, wenn wegzugehn du vermöchtest.«5 Unersättlich sind Narcissus’ Blicke, er schmachtet und ist verlockt. »[D]och was dasteht so verlockend, / Ach, ich find’ es ja nicht.«6 Irrwahn befällt den verliebten Narcissus deshalb, er kann nicht glauben, dass ihn der Andere so verschmäht, dass
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Ov. met. 3,464. Ov. met. 3,415. Ov. met. 3,417-18. Ov. met. 3,430-431. Ov. met. 3,432-36. Ov. met. 3,446-447.
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Expeausition
seine grenzenlose Liebe unbeantwortet bleibt. Unerträglich verstärkt wird dieses Leid durch die minimale Differenz, die zwischen ihm und dem Anderen lauert. Aber diese Differenz ist nicht diejenige zwischen dem Eigenen und dem Fremden, sondern eine zwischen dem Eigenen und dem Eigenen und doch ist und bleibt sie unaufhebbar: »Was noch mehret den Schmerz, nicht trennt uns die Weite des Meeres, / Nicht ein Gebirg’, ein Weg, noch Mauern mit sperrenden Toren: / Karges Gewässer verbietet zu nahn. Selbst möcht’ er umarmt sein; / Denn so oft ich den Mund darbiete den lauteren Wellen, / So oft kommt er zu mir mit aufwärts strebendem Antlitz. / Fast, fast scheint er berührt. Wie klein, was die Liebenden scheidet!«7 Wie klein ist die Differenz zwischen Eigenem und Eigenem, zwischen Bild und Abbild, doch ist sie da. Narcissus erkennt diese Differenz, er erkennt, dass ihn sein Abbild täuscht, dass der Andere er selbst ist: »Liebe verzehrt mich zu mir; ich errege und leide die Flamme.«8 Diese Einsicht, Objekt seines eigenen Begehrens zu sein, führt zu einem radikalen Wunsch – dem Wunsch, sich weiter von sich selbst zu entfernen: »Dass ich vom eigenen Leib mich doch zu trennen vermöchte! / Was kein Liebender wünscht, ich wünsche mir fern, was ich liebe.«9 Ein Dilemma: der immer schon im Eigenen verborgene Andere. Nie wird er in der Lage sein, dem Anderen unabhängig von sich gegenüberzustehen. Der Andere ist Teil von ihm. Als seine herabtropfenden Tränen den Anderen in den sanften Wogen des Wassers unscharf machen, befällt Narcissus Panik. Nicht ohne den Anderen, der in ihm wurzelt, kann er bleiben. Was ihm nicht zu fassen vergönnt ist, das möchte er wenigstens schaun.10 Sein Wahn steigert sich. Er enthüllt seine Brust und schlägt mit seinen Händen darauf. Als er die dadurch entstandenen roten Flecken im wieder geklärten Wasser entdeckt – an der Brust seines Geliebten die Zeichen von Gewalt –, kann er sich nicht länger halten: Er vergeht, zerschmilzt wie Wachs unter der Sonne durch sein inneres Feuer, sein Begehren. »[W]ie von der wärmenden Sonne / Taut in der Frühe der Reif, so auch von der Liebe verzehret / Schwindet er hin und vergeht allmählich vom inneren Feuer.«11 Der Leib verschwindet, es bleibt ein safrangelbes Blümlein, um die Mitte besetzt mit schneeigen Blättern.12 Der tragische Mythos des Narcissus thematisiert neben dem Thema der Eigenliebe alle zentralen Eigenschaften der Porträtmalerei: die Frage nach dem perfekten
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Ov. met. 3,448-453. Ov. met. 3,464. Ov. met. 3,467-468. Ov. met. 3,479. Ov. met. 3,489-490. Ov. met. 3,490.
Narcissus oder der Ursprung der Malerei
Abbild, dem Unterschied von Spiegelung und künstlerischer Gestaltung, der Ähnlichkeit, der (Wieder-)Erkennbarkeit und des Blickens. Dementsprechend führt Leon Battista Alberti in »De Pictura/Della Pittura« (1435/36) den Mythos des Narcissus auch dezidiert als Leitfigur der neuzeitlichen Malerei, und allen voran der Porträtmalerei, ein.13 Als klassische Charakteristika für ein Porträt gelten die Faktoren der Ähnlichkeit und der Erkennbarkeit. So bezeichnet das Porträt »im Unterschied zum Bild schlechthin die abbildende, gestaltende und deutende Darstellung eines bestimmten Menschen in seiner anschaul. Erscheinung, d.h. in dem den Sinnen direkt faßbaren Ausdruck seiner sozialen und geistigen Wesenheit«14 . Ein erstes Kriterium des Porträts ist also sein abbildender Charakter, gleichwohl handelt es sich nicht um eine strenge spiegelbildliche Ähnlichkeit, sondern es wird eine gestalterische und darstellerische Freiheit eingeräumt. Das Verhältnis von Spiegelbild und Porträt bekommt vor allem im Selbstporträt eine besondere Brisanz. Die Ähnlichkeit zwischen Modell und Darstellung richtet sich nach dem »Prinzip der erkennbaren Ähnlichkeit«15 . Damit ist als zweites zentrales Charakteristikum des Porträts die Wiedererkennbarkeit des Modells angesprochen. Dementsprechend liegt die Hauptaufgabe des Porträts darin, »entweder den nicht anwesenden Dargestellten zu ›vertreten‹ […] oder ihn durch die ›Verdoppelung‹ zu ehren bzw. sich darin ›anzuschauen‹, seltener ihn zu verdammen oder zu verspotten«16 . Wie sich diese Ähnlichkeit regeln oder angeben lässt, um den richtigen Verweis oder, anders formuliert, die richtige Wiedererkennung sicherzustellen, ist eine der zentralen Fragen in der Geschichte der Porträtmalerei.17 Die Schwierigkeit liegt darin, dass ein Porträt einerseits exakt abbildet und wiedergibt, andererseits aber nicht identisch mit der wiederzugebenden Person ist. Das Bild darf sich nicht als der-, die- oder dasjenige ausgeben, was es zeigt – und auch nicht, wie im Falle des Narcissus, als eine andere Person. Es muss verweisen und es muss richtig verweisen. Das Porträt soll aber nicht nur das Äußere des Modells abbilden, sondern verfolgt den Anspruch, die Wesenheit der dargestellten Person einzufangen. Auch wenn es im Laufe der Kunstgeschichte viele unterschiedliche Formen der Hinterfragung, 13
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Alb. Pitt. 2,26. Das Traktat ist sowohl in italiensicher (»Della Pittura«) als auch in lateinischer Sprache (»De Pictura«) erschienen. Die zwei Fassungen richteten sich an zwei etwas unterschiedliche Adressatenkreise, wobei »Della Pittura« eher an die Kunstschaffenden gerichtet war, da viele von ihnen nicht Latein konnten. »De Pictura« war hingegen auch an die lateinkundigen Gelehrten adressiert. Siehe dazu Bätschmann/Gianfreda 2002, 3-5. In der Folge wird aufgrund der stärkeren Ausrichtung auf die Künstlerinnen und Künstler vorwiegend auf die italienische Fassung rekurriert. Lexikon der Kunst 1987, 558. Lexikon der Kunst 1987, 558. Lexikon der Kunst 1987, 558. U. a.: Lopes 1996, 149-152.
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Radikalisierung und Kritik am Konzept des Selbstporträts gegeben hat, so lässt sich als drittes Charakteristikum die zentrale Rolle des Menschen im Porträt hervorheben. Mehr oder weniger direkt damit verbunden sind Fragen nach demjenigen, was den Menschen überhaupt bzw. den besonderen Menschen in seiner Subjekthaftigkeit ausmacht. In dieser Hinsicht hat das Porträt immer auch den Charakter einer »intime[n] monologische[n] Offenbarung der Persönlichkeitsstruktur«18 . Neben repräsentationstheoretischen Problemen werden so im Porträt auch subjekttheoretische Probleme manifest. Eine zentrale Rolle nimmt dabei der Blick der Porträtierten ein, weswegen er als viertes Charakteristikum der Porträtmalerei angeführt wird: Auch wenn der Blick der Dargestellten direkt auf die Betrachtenden, stolz über sie hinweg, gleichgültig durch sie hindurch, sinnend an ihnen vorbei, scheu beiseite oder auch in sich gekehrt sein kann19 , so dient er doch immer dazu, Kontakt mit den Betrachtenden herzustellen und sie in die komplexe Struktur des Porträts einzubeziehen, wodurch in letzter Instanz auch ihr eigenes Selbst herausgefordert wird. Im Selbstporträt kulminieren diese Charakteristika, da es, ähnlich wie im Mythos des Narcissus, die Malenden selbst sind, die sich auf der Leinwand neu hervorbringen. Daher werden die Fragen nach der Ähnlichkeit, der Wiedererkennbarkeit, dem Blicken und dem Selbst auf eine (scheinbar) unmittelbare und besonders brisante Weise gestellt.
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Waetzoldt 1908, 312. Lexikon der Kunst 1987, 558.
Die andere Richtigkeit des Porträts
Narcissus vermag das Abbild nicht von dem zu unterscheiden, was es abbildet, wenn er glaubt, das Bild sei ein echter Mensch. Aber mehr noch: Er vermag das Bild nicht als Abbild von sich selbst zu erkennen und verliebt sich in das Bild, das ihn zeigt. Diese Selbstliebe führt ihn in die Irre und kostet ihm schlussendlich das Leben. In dieser Selbstliebe sieht Platon wiederum »das größte von allen Übeln«1 . Dieses »besteht darin, daß, wie man sagt, jeder Mensch von Natur sich selbst liebt und daß es in der Ordnung ist, daß er so gesinnt sein müsse. In Wahrheit aber wird das von allen Vergehungen, wegen der starken Liebe zu sich selbst, die Ursache für jeden in jedem Fall. Denn der Liebende wird gegen das, was er liebt, verblendet, so daß er das Gerechte und Gute und Schöne schlecht herausfindet, weil er statt des Wahren stets das ihm Angehörige achten zu müssen meint; denn weder sich selbst noch dem Seinigen muß derjenige den Vorzug geben, welcher sich auszuzeichnen begehrt, sondern dem Gerechten, ob es nun von ihm selbst oder einem anderen mehr geübt werde.«2 Entgegen der Meinung, dass Selbstliebe notwendig und in Ordnung ist, geht Platon also davon aus, dass in ihr ein Grundübel und eine Gefahr lauert. Diejenigen, die sich selbst lieben, werden gegen das, was sie lieben – sich selbst – verblendet. Es ist also eine Verblendung gegen sich, die dazu führe, dass man nur sein Äußeres, sein Aussehen liebe, während das Gerechte, das Gute und das Schöne verkannt werde. In der Selbstliebe sehe man nur dasjenige, was dem Wahren, dem Guten, dem Schönen, dem Gerechten angehöre, also an ihm teilhabe, allerdings niemals dieses selbst. Die Selbstliebe evoziert damit die Situation, wie sie von Platon im Höhlengleichnis beschrieben worden ist. Die Höhlenbewohnerinnen und -bewohner halten die Schatten der Gegenstände für wahre Gegenstände, während die Schatten diese aber nur abbilden, ihnen nur angehören, nur teil an ihnen haben. Die
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Plat. leg. 731d8. Plat. leg. 731e1-732a5
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Gegenstände, das Abgebildete, bleiben den Höhlenbewohnerinnen und Höhlenbewohnern jedoch verborgen.3 Ebenso bewirke die Selbstliebe »auch bei allen, daß die eigene Unwissenheit ihnen als Weisheit erscheint; so daß wir, während wir sozusagen nichts wissen, alles zu wissen glauben und, indem wir nicht anderen das, was wir nicht verstehen, auszuführen überlassen, uns dadurch, daß wir es selbst ausführen, Fehler zu begehen genötigt sehen. Darum hat jeder Mensch die starke Selbstliebe zu meiden und muß immer demjenigen nachstreben, welcher besser ist als er, ohne durch irgendeine Scham sich dabei abhalten zu lassen.«4 Wie die Höhlenbewohnerinnen und Höhlenbewohner lässt sich auch Narcissus von einem Abbild täuschen, indem er es für die Wahrheit hält. Seine Unwissenheit erscheint ihm als Weisheit. Er begeht Fehler; er lässt sich täuschen von einem Bild, seinem Selbstporträt, weil er es für wahr – das heißt für einen tatsächlich anderen Menschen und nicht bloß ein Bild von einem anderen Menschen – hält. Narcissus liegt damit einer zweifachen Täuschung auf: Erstens erkennt er das Bild nicht als Bild. Zweitens erkennt er sich selbst nicht wieder und hält sich für einen anderen. Diese Wiedererkennbarkeit, die bei Narcissus misslingt und dadurch zur Selbstliebe führt, bestimmt Platon als zentrale Bedingung für ein Porträt. Nur durch die Wiedererkennbarkeit sei auch die Täuschungsfreiheit und damit die Erkenntnissicherheit gewährleistet: »Bei jedem Werk muß natürlich derjenige, welcher dabei nicht irren will, erkennen, was es ist. Denn wer sein Wesen, was es beabsichtigt und wessen Abbild es wirklich ist, nicht kennt, der wird schwerlich die Richtigkeit der Absicht oder auch ihr Verfehlen erkennen.«5 Es scheint, als ob Platon hier direkt Bezug auf Narcissus nimmt, der eben nicht erkennt, was das Werk ist, und der auch nicht erkennt, wessen Abbild es ist. Folglich kann er auch nicht entscheiden, ob es ein gutes Abbild ist oder nicht. Aus diesem Grund sei es nötig, das Porträt als solches in seinem besonderen Status zu erkennen: Insofern das Bild durch Ähnlichkeit bestimmt wird, ist die Produktion desselben das Charakteristikum der Mimesis, gerade sein Bildcharakter bringt es aber auch mit sich, dass es nie dasselbe allein darstellt, sondern immer auch zugleich ein anderes.6 Neben dem III. Buch der »Politeia«7 wird dies im Dialog »Sophistes« durch Theaitetos’ erste Definition mit dem Begriff aphomoiomenon, »das einem Wahren ähnlich gemachte Andere solche«8 , beschrieben. Der Fremde wiederholt diese Definition, er lässt da-
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Vgl. dazu das Kap. »Die Höhle« im ersten Teil. Plat. leg. 732a5-732b6. Plat. leg. 668c4-8. Gebauer/Wulf 1992, 62. Plat. rep. 392c-394a. Plat. soph. 240a7-8.
Die andere Richtigkeit des Porträts
bei aber genau das aphomoiomenon aus. Theaitetos jedoch akzeptiert diese Verkürzung nicht, sondern beharrt auf dem Faktor der Ähnlichkeit.9 Das aphomoiomenon weist bei genauerer Analyse zwei interessante gegenläufige Bewegungen auf. Das Präfix ap- ist negativ und kommt von apo, was weg von oder entfernt bedeutet. Damit ist eine Absetzung oder ein Entzug des Bildes vom dem, was es abbildet, angezeigt. Zum anderen verweist das homoiomenon auf eine Annäherung an das Abgebildete im Modus der Ähnlichwerdung (omoiosis).10 Damit ist ein Grundzug von Platons Bildkonzeption benannt: Es steht zwar distanziert und notwendig unterschieden zu seinem Bezugspunkt, bleibt aber trotzdem durch Ähnlichkeit darauf bezogen. Der Archetyp wird dabei von Theaitetos als das Wahre bestimmt und sein Ziel liegt darin, dem Bild demgegenüber eine abgeleitete Stellung zuzuschreiben. Das Bild ist für Theaitetos dann das »Andere solche«11 – das Anscheindende, Erscheinende, ähnlich Scheinende.12 Im Begriff des aphomoiomenon pointiert sich so noch einmal der spezifische Status des Bildes als Vollzugsform: Ähnlichwerdung durch Absetzung. Bezeichnend dafür ist auch eine Stelle aus dem Dialog »Kratylos«. Darin heißt es, dass das Bild notwendig ein anderes sein muss als das, wovon es Bild ist, da es sonst zu einer Identität komme. Bei dieser Andersheit handle es sich aber um eine graduelle, wodurch sich das Bild unter anderem von der Zahl unterscheide, die schon bei einer geringfügigen Veränderung zu einer gänzlich anderen Zahl werde: »Vielleicht stände es um dasjenige, was notwendig nur vermöge einer Zahl ist oder nicht ist, so, wie du sagst; zum Beispiel die Zehn oder jede andere Zahl, welche du willst, wird freilich, wenn du etwas hinwegnimmst oder dazutust, sogleich eine andere geworden sein; die Richtigkeit dessen aber, was vermöge einer gewissen Beschaffenheit ist, was es ist, und so auch jedes Bildes, mag wohl nicht eine solche sein, sondern es wird im Gegenteil ganz und gar nicht einmal alles einzelne so wiedergeben dürfen, wie das abzubildende ist, wenn es ein Bild sein soll.«13 Anhand eines Beispiels veranschaulicht Sokrates dies für Kratylos: »Wären dies wohl noch so zwei verschiedene Dinge wie Kratylos und des Kratylos Bild, wenn einer von den Göttern nicht nur deine Farbe und Gestalt nachbildete, wie die Maler, sondern auch alles Innere ebenso machte wie das deinige, mit denselben Abstufungen der Weichheit und der Wärme, und dann auch Bewegung, Seele und Vernunft, wie dies alles bei dir ist, hineinlegte und mit einem Worte
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Plat. soph. 240a9. Alloa 2011a, 22. Plat. soph. 240a8. Boehme 1996, 36-39; Poetsch 2019, 27. Plat. Krat. 432a9-b5; Hervorhebung: J. M.
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alles, wie du es hast, noch einmal neben dir aufstellte; wären dies dann Kratylos und ein Bild des Kratylos oder zwei Kratylos?«14 Kratylos entscheidet sich für Letzteres: Es wären zwei Kratylos. Bilder haben folglich »eine andere Richtigkeit«15 , hätten sie dies nicht, würde alles »zweifach da sein«16 und man würde das Bild nicht von dem auseinanderhalten können, dessen Bild es ist. Das heißt, gerade die Entfernung vom Modell, die Differenz oder die Auslassung kennzeichnen das Bild: Gemälde kopieren die Natur daher nicht einfach, sondern durch die Auslassung oder die Differenz vermögen sie abzubilden.17 Ohne diese Differenz bestünde zwischen Modell und Bild eine ontologische Identität und die Repräsentation würde sich selbst aufheben, weshalb Sokrates fragt: »Oder merkst du nicht, wieviel den Bildern daran fehlt, dasselbe zu haben wie das, dessen Bilder sie sind?«18 Anstelle von Kratylos könnte Sokrates diese Frage auch an Narcissus richten, der genau dieses Anderssein der Bilder, seines eigenen Bildes nicht bemerkt. Er glaubt einen tatsächlichen Menschen vor sich zu haben und erkennt das Bild nicht als solches. Der Anfang des Porträts und des Bildes überhaupt liegt demnach bei Platon darin, einen Entzug vom Modell einzuleiten. Die Malerinnen und Maler ebenso wie die Zeichnerinnen und Zeichner leiten mit ihren Strichen einen Aufschub vom Modell ein – einen Aufschub, der das Bild für immer von dem trennt, was es darstellt. Im Selbstporträt erfährt dieser Aufschub nochmals eine Steigerung, da sich hier das Selbst zum einen setzt, sich konstituiert, zum anderen aber leitet es von sich selbst einen Aufschub ein. Genau dies zeigt schon der Mythos, in dem Narcissus sein Spiegelbild nicht als Selbstporträt (wieder-)erkennt, aber im Bild der Quelle einen Anderen entdeckt. Im Mythos kommt deshalb die Spannung von Ähnlichkeit und Differenz zum Ausdruck, wovon der schmerzhafte Ausruf Zeugnis ablegt: »Wie klein, was die Liebenden scheidet!«19 Diese Differenz stellt die Notwendigkeit des Porträts und des Bildes überhaupt dar, auf die Platon eindringlich verweist.20 Sie ist also die Notwendigkeit für Bildlichkeit, gleichwohl liegt in ihr die große Gefahr, einen falschen Verweis zu evozieren oder sich für das Dargestellte selbst auszugeben. Aus diesem Grund muss Platon das Ähnlichkeitsverhältnis exakt bestimmen, was er in Form des Begriffs der Mimesis auch macht. Mimesis und mimeisthai leiten sich vom Stammwort mimos her. Mimeisthei bedeutet nachahmen, darstellen oder auch porträtieren.21 In seinen Dialogen gibt
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Plat. Krat. 432b6-c4. Plat. Krat. 432c7. Plat. Krat. 432d8. Bredekamp 2013, 39. Plat. Krat. 432d2-3. Ov. met. 3,448-453. Plat. soph. 240b. Gebauer/Wulf 1992, 44.
Die andere Richtigkeit des Porträts
Platon zahlreiche heterogene Beiträge zur Bestimmung von Mimesis und verfährt dabei selbst mimetisch. Während in den frühen Dialogen Mimesis in der allgemeinen Bedeutung von Nachahmen verwendet und nicht auf den Bereich der Kunst begrenzt wird, erfolgt in der »Politeia« die Herausbildung eines neuen – wenn auch in sich wiederum heterogenen – Begriffs von Mimesis, der den ästhetischen Bereich konstituiert.22 Gerade die Porträtmalerei nimmt dabei eine Sonderstellung im platonischen Denken ein: Sie sei nicht als Kunst zu betrachten, sondern ihr komme vielmehr der Status einer Wissenschaft zu, da sie den Menschen in allen Einzelheiten nachahmen könne. Das Richtmaß dafür liege nicht im Vergnügen bzw. einer rein sinnlichen Ähnlichkeit, sondern, und darin ähnle sie der musischen Kunst, in der Zahl und der proportional richtig ausgeführten Teile der Körper, einer mathematisch-exakten Richtigkeit:23 »Denn nicht deshalb, weil jemandem etwas angemessen erscheint oder er daran seine Freude hat, möchte überhaupt wohl das Ähnliche ein Ähnliches, das Ebenmäßige ein Ebenmäßiges sein, sondern vor allem durch seine Wahrheit, am wenigsten aber durch irgendein anderes.«24 An anderer Stelle heißt es noch expliziter wie folgt: »Für richtig erklärten wir aber eine Nachbildung, wenn sie die Größe und die Beschaffenheit eines Gegenstandes treu wiedergibt.«25 Porträtmalerei sei daher die Wissenschaft von der Nachahmung, der Verähnlichung eines lebenden oder toten Modells. Diesen Prozess, »das Sterbliche zur Zufriedenheit nachzubilden«, müsse »man sich durchaus nicht als leicht, sondern als schwierig denken«26 . Platons Anerkennung der Wirkmächtigkeit, ja Wertschätzung der Malerei und vor allem des Porträts zeigt sich besonders deutlich, wenn er die »Politeia«, also seine Abhandlung über den idealen Staat, mit einem Gemälde vergleicht: Wie der Maler oder die Malerin einen Menschen niemals so vollendet darstellen könne, dass dieser der Wirklichkeit ganz entspreche, könne auch er, Platon, in seiner »Politeia« den idealen Staat nicht in all seinen Aspekten entwerfen und vollständig verwirklichen, gleichwohl seien beide – Malerei und »Politeia« – nicht ohne Wert.27 Aber auch in umgekehrter Richtung findet sich ein Vergleich, so setzt er die Kunst mit seinem Entwurf des idealen Staates in Beziehung: Ein Kunstwerk dürfe nicht ein Element, etwa die Augen, ganz besonders betonen, sondern müsse in seinen Komponenten abgestimmt sein, da ansonsten der Gesamteindruck aus der Balance zu geraten drohe. Ebenso verhalte es sich mit der »Politeia«: »Du Wunderlicher, verlange nur nicht, daß wir so schöne Augen malen sollen, daß sie gar nicht mehr als
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Gebauer/Wulf 1992, 50. Vgl. dazu das Kap. »Ebenbild und Trugbild« im dritten Teil. Plat. leg. 668a2-6. Plat. leg. 668b7-9. Plat. Kritias 107e. Plat. rep. 472d-e.
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Augen erscheinen, und so auch die andern Glieder; sondern sieh nur darauf, ob wir bei jedem das Gehörige anbringen und so das Ganze schön machen.«28 Das heißt, Platon plädiert hier für eine Ästhetik der Angemessenheit und der Proportion, auch wenn diese dem sinnlichen Erscheinen, der Lebenswelt nicht entspricht. Neben der oftmals zitierten Kunst- und Bildkritik, vor allem aus dem »Sophistes«, zeigt sich hier, dass Kunst für Platon in dieser Hinsicht sogar eine Vorbildfunktion hat.29 Im Dialog »Kritias«, der Fragment geblieben ist, beschreibt Platon die Porträtmalerei als die Kunst der Nachahmung, die zwei unterschiedliche Dinge wiedergeben kann: göttliche oder menschliche Gestalten. Allerdings ist der Maßstab, welcher zur Anwendung kommt, um die Ähnlichkeit zu prüfen, jeweils ein anderer. Bei der Nachahmung der göttlichen Gegenstände wie »der Erde, den Bergen, den Flüssen, dem Walde, dem ganzen Himmel und allem, was an ihm sich findet und bewegt«30 , sind die Beschauenden, so Platon, schon zufrieden, wenn die Nachahmung nur »einige Ähnlichkeit mit diesen Gegenständen«31 hat. Der Grund für diesen schwachen Begriff von Ähnlichkeit liegt in einer mangelnden Kenntnis der Dinge selbst: »[D]a wir von dergleichen Dingen keine genaue Kenntnis besitzen, das Gemalte weder prüfen noch streng beurteilen« können, müssen wir uns »mit einem ungenauen und täuschenden Schattenumriß […] begnügen«32 . Ganz anders gestaltet sich die Nachahmung bei den menschlichen Gestalten: Hier gibt es eine Idee des Menschen und zahlreiche Erscheinungen von Menschen, die zur doxa verbunden werden können. Zudem gibt es eine starke Idee der Ähnlichkeit. Mit diesen beiden Ideen und einer Erscheinung seien die Porträtmalerinnen bzw. -maler in der Lage, den Körper der Menschen in allen Einzelheiten nachzuahmen. »[V]ersucht es dagegen einer, unsere eigenen Gestalten abzubilden, dann werden wir, vermöge der ständig uns beiwohnenden Beobachtung das Mangelhafte scharfsichtig wahrnehmend, zu strengen Richtern desjenigen, welcher nicht durchaus alle Ähnlichkeiten wiedergibt.«33 Ein Kriterium scheint so gefunden, anhand dessen sich Porträtmalerei beurteilen lässt: Es ist das Maß an Ähnlichkeit, das ein gutes Porträt von einem schlechten scheidet. Und es ist das Maß an mathematischer Ähnlichkeit, welches auch die Wiedererinnerung gewährleistet. Diese Bestimmungen des Porträts durch Platon entfalten ihre volle Wirkkraft in der Renaissance, erfahren dabei aber eine andere Nuancierung. Zudem wird nicht länger die Geschichte der Butades, ihre Umrandung des Schattens und damit der
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Plat. rep. 420d2-6. Bredekamp 2013, 40. Plat. Kritias 107c3-4. Plat. Kritias 107c5-6. Plat. Kritias 107c6-d1; Hervorhebung: J. M. Plat. Kritias 107d1-5.
Die andere Richtigkeit des Porträts
memorative Akt als Ursprung der Malerei angesehen, sondern Narcissus und sein Bildnis an der Wasseroberfläche.
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Narcissus als Erfinder der Malkunst
In seiner »Naturalis historia« nennt Plinius die Geschichte der Butades als Ursprung der Malerei, er hält aber fest, dass sich die Malerei bereits maßgeblich über deren Schattenriss hinausentwickelt hat: So habe man das Licht und den Schatten in die Malerei eingeführt, wodurch sich die verschiedenen Farben wechselseitig zur Geltung bringen, danach habe man noch den Glanz hinzugefügt.1 Quintilian, ein Zeitgenosse von Plinius, beharrt auf eben diesem Fortschritt, da es ansonsten »keine Malerei [gäbe] außer der, die nur die Schattenumrisse nachzeichnete, die die Körper in der Sonne warfen«2 . Dieser Fortschritt zeigt sich bereits in der Antiken Malerei, besonders deutlich wird er dann in der Renaissance. So meint etwa Cennino Cennini, es sei Giottos Verdienst gewesen, die Malerei vom Griechischen ins Lateinische verwandelt und sie so erneuert zu haben.3 In dieser Erneuerung spielt wieder der Schatten eine zentrale Rolle, dabei wird allerdings die Technik des Schattenrisses der Butades in die Technik des Schattierens überführt, also der plastischen Gestaltung sowie der Illusionierung von Körperlichkeit. Dementsprechend heißt es auch, dass ein Bild, welches nicht Licht und Schatten folge, also »ohne Relief, eine einfältige und mit wenig Meisterschaft gefertigte Sache wäre«4 . Leon Battista Alberti bezieht sich zwar in seinem Traktat »De Pictura/Della Pittura« auf Butades als Ursprungsmythos der Malerei, wie er bei Quintilian und Plinius geschildert wird5 , setzt sich aber klar von diesem ab: Er möchte »die Malkunst von neuem aufbauen«6 und führt aus diesem Grund einen neuen Ursprungsmythos der Malerei ein, durch den er seine
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Plin. nat. 35,29. Quint. inst. X 2,7 »non esset pictura, nisi quae lineas modo extremas umbrae, quam corpora in sole fecissent, circumscriberet«. Cenn. lib. 1. Cenn. lib. 9. Zum Begriff des rilievo und der incarnazione vgl. das Kap. »Inkarnat« im dritten Teil. Alb. Pitt. 2,26. Alb. Pitt. 2,26.
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eigene rhetorische und poietische Ätiologie anhand der Figur des Narcissus expliziert und entwickelt.7 »Wahrscheinlich wirst du keine Kunst finden, außer einer vollkommen hässlichen, die sich nicht auf die Malkunst bezöge, weshalb sich sagen lässt, dass jede Art von Schönheit, die du in den Dingen findest, aus der Malerei geboren ist. Deswegen pflegte ich im Kreis meiner Freunde gerne nach dem Lehrspruch der Dichter zu sagen, dass der zu einer Blume verwandelte Narziss der Erfinder der Malkunst gewesen sei. Fasst man nämlich die Malerei als Blüte aller Künste auf, so kommt die ganze Sage von Narziss hier sehr gelegen. Würdest du vom Malen sagen, es sei etwas anderes als ein ähnliches Umarmen jener Wasseroberfläche durch Kunst? Quintilian erzählte, dass die antiken Maler an der Sonne die Schattenbilder zu umreißen pflegten und sich die Malerei auf diese Weise entwickelt hätte.«8 Das tragische Schicksal des Narcissus als Ursprungsmythos zeugt von weitreichenden Veränderungen im (Selbst-)Verständnis der Malerei: Das Bild wird nicht mehr in den harten Konturlinien eines Schattenrisses definiert, wie es der Mythos der Butades erzählt und worauf Alberti mit Bezug auf Quintilian direkt rekurriert. Die Schattenrisse stellen für ihn noch keine wahre Kunst dar, diese entwickle sich erst davon ausgehend allmählich weiter. Stattdessen läutet er die Spiegelphase der Moderne9 ein. Der Spiegel wird »als Kontrollinstrument des mimetischen Bildes zum Bestandteil der Praxis in den Malateliers, und das für lange Zeit«10 . Dies äußert sich unter anderem darin, dass Alberti den Malerinnen und Malern empfiehlt, den
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Blümle 2009, 106. Alb. Pitt. 2,26. Blümle 2009, 107-108. 1920 schafft Claude Monet eine bemerkenswerte Verbindung der zwei Ursprungsmythen der Malerei, desjenigen der Butades und desjenigen des Narcissus, und zwar in Form eines Selbstporträts (Abb. 13): Monet fotografiert eine Ansicht des berühmten Seerosenteichs von Giverny von der japanischen Brücke im Garten. Am unteren Rand des Bildes ist die Schattensilhouette Monets zu erkennen. In der Kunstgeschichte besteht Einigkeit darüber, dass es sich um ein spätes Selbstporträt Monets handelt, was umso bedeutsamer ist, als Monet sehr wenige Selbstporträts hinterlassen hat. (Stoichita 1999, 106) Die Wasseroberfläche wird so zur Bildoberfläche; Monet spiegelt sich im Wasser, wie es Narcissus getan hat, und die Betrachtenden nehmen genau die Position des über das Wasser gebeugten Malers/Narcissus’ ein. Allerdings sehen sie nicht ihr Spiegelbild, sondern nur den Schatten des Kopfes von Monet, was wiederum zum Mythos der Butades zurückführt. (Stoichita 1999, 107) Gleichwohl kann dieses Selbstporträt auch als Umkehrung dieser Mythen und als Abkehr von der strengen (Auto-)Mimesis gelesen werden. (Stoichita 1999, 108) Eine ähnliche Fotografie aus dem Jahre 1916 stammt von Alfred Stieglitz und trägt den Titel »Shadows on the Lake«. (Stoichita 1999, 110) Stoichita 1999, 61.
Narcissus als Erfinder der Malkunst
Spiegel als Gradmesser für das gelungene Bild einzusetzen: »[A]uf irgendeine Weise gewinnen gut gemalte Gegenstände große Anmut im Spiegel. Wunderbar ist, wie jeder Fehler des Gemäldes sich im Spiegel verstärkt offenbart. Demnach sollen die von der Natur übernommenen Dinge mit Hilfe des Spiegels verbessert werden.«11 Noch expliziter wird dies bei Leonardo, der mit Bezug auf Alberti wie folgt schreibt: »Wenn du sehen willst, ob dein Gemälde mit dem in natürlicher Weise abgebildeten Gegenstand vollkommen übereinstimmt, so nimm einen Spiegel, spiegle darin den wirklichen Gegenstand, vergleiche den gespiegelten Gegenstand mit deinem Gemälde und prüfe genau, ob die beiden Bilder im wesentlichen übereinstimmen. Man muß den Spiegel, d.h. den Planspiegel, zum Lehrmeister nehmen, weil auf seiner Fläche die Dinge dem Gemälde in vielen Teilen gleichen. Du siehst doch, wie das auf einer Fläche gemalte Bild Dinge zeigt, die erhaben scheinen, und der Spiegel tut auf seiner Fläche das gleiche. Das Bild ist eine einzige Oberfläche, und der Spiegel desgleichen.«12 Auch wenn Leonardo und Alberti ähnlich wie Platon den abbildenden Status der Malerei betonen, zeigt sich doch ein deutlicher Unterschied in ihren Positionen: Um der Idee des Schönen auch im Bild gerecht zu werden, müssen die Malerinnen und Maler nach Platon gewisse Veränderungen vornehmen, die der Erscheinung auch widersprechen können: So werden sie einiges von dem, was sie am einzelnen vorfinden, auslöschen, anderes einzeichnen, also ergänzen, verbessern. Das schönste Bild zeige daher, wie der schönste Mensch in konkreter Erscheinung aussehen würde, wenn er alle Bedingungen der Schönheit erfüllen würde.13 Ein solches Abbild entspricht nicht den sinnlichen Erscheinungen, nicht der Natur, die dem platonischen Denken gemäß selbst schon Abbilder sind, vielmehr solle die Malerei ein Abbild der Idee schaffen. Leonardo hingegen richtet sich auf die sinnlichen Erscheinungen. Er will die Natur wiedergeben – aber ebenfalls nicht, wie sie erscheint, sondern auf Basis der Messung. Das damit einhergehende Konzept des Spiegels ist eng mit der zentralperspektivischen Konstruktion verbunden, welche aus dem Bild eine mathematisch legitimierte Abbildung macht. Die Entwicklung der Zentralperspektive findet dabei zunächst in der künstlerischen Praxis statt und erfährt erst später eine theoretisch-mathematische Fundierung. So leiten Giottos Fresken in der Arena-Kapelle
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Alb. Pitt. 2,46. Leon. Not. 687. Plat. rep. 472d3-7. Das Konzept der zusammengesetzten Schönheit findet sich auch in Gorgias’ »Lobrede auf Helena« (18), Xenophanes’ »Memorabilia« (10,3) und Dionysios von Halikarnassos’ »Über die Nachahmung« (III, 6). Siehe dazu auch Keuls 1978, 42.
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in Padua um 1303 ein neues Paradigma der mimetischen Wiedergabe ein: Die Fresken sind für in der Mitte der Kapelle stehende Betrachter und Betrachterinnen ausgerichtet und demgemäß stellt er die Gebäude in Schrägansichten perspektivisch verkürzt dar, was den Eindruck von Tiefe erweckt. Allerdings handelt es sich hierbei noch nicht um die geometrische Zentralperspektive, sondern um eine Erfahrungsperspektive. Noch eindeutiger werden diese Veränderungen gut ein Jahrhundert später bei Filippo Brunelleschi, der als Erfinder der linearen Perspektive gilt, obwohl er keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen hat. Sein Schüler Antonio Manetti berichtet jedoch von zwei Tafelbildern vom florentinischen Baptisterium in der Piazza de Duomo und von der Piazza della Signora. Brunelleschi konzipierte sein Tafelbild vom Baptisterium so, dass in der Mitte der Darstellung ein kleines Guckloch ist. Durch dieses hindurch sollen die Betrachterinnen und Betrachter in einem auf Armlänge entfernten Spiegel das Bild ansehen. Das ist notwendig, weil sie nur so denselben Standort einnehmen können wie der Maler bei der Anfertigung, wodurch die perspektivische Darstellung exakt nachvollzogen werden kann.14 1425/27 schuf Masaccio mit dem Dreifaltigkeitsfresko in der Kirche Santa Maria Novella in Florenz die erste vollständige exakte perspektivische Darstellung, die als Gründungswerk der Renaissance gilt.15 Die theoretische Grundlage für die praktisch bereits umgesetzte zentralperspektivische Darstellung leistet um 1435/36 Leon Battista Alberti in »De Pictura/Della Pittura«. Ausgangspunkt für Albertis Theorie sind die ersten beiden Axiome aus Euklids »Optica«: die Geradlinigkeit der Sehstrahlen und die Sehpyramide. Wie bei Euklid liegt die Basis der Pyramide beim Gegenstand oder der beobachteten Szene und die Spitze im Auge. Alberti definiert die perspektivische Darstellung als Querschnitt der Sehpyramide an einem bestimmten Punkt: »Daher wird ein Gemälde nichts anderes sein als die Schnittfläche durch die Sehpyramide, die gemäß einem vorgegebenen Abstand, einem festgelegten Zentralstrahl und mit bestimmter Beleuchtung auf einer gegebenen Fläche mit Linien und Farben kunstgerecht dargestellt ist.«16 Dieser Querschnitt ist das Gemälde; Alberti beschreibt es als Fenster: »Als Erstes zeichne ich auf der zu bemalenden Fläche ein rechtwinkeliges Viereck von beliebiger Größe; von diesem nehme ich an, es sei ein offenstehendes Fenster, durch das ich betrachte, was hier gemalt werden soll.«17 Die Zentralperspektive liefert eine Methode, um die dreidimensionale Wirklichkeit auf die zweidimensionale Leinwand zu übertragen: Während diese Übertragung im Mythos der Butades noch das Werk der Natur ist, welche diese Transposition in Form des Schattens leistet, der an die Wand geworfen wird, ist der Über-
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Lindberg 1987, 263-264. Gombrich 1977, 179-180. Alb. Pitt. 85. Alb. Pitt. 93.
Narcissus als Erfinder der Malkunst
gang nun zu einer mathematisch-künstlerischen Leistung der Malerinnen und Maler geworden.18 Nach dem Vorbild des Spiegels und mit der Methode der Zentralperspektive wird die mathematische Korrektheit in das Malen selbst eingeschrieben. Urbilder werden eigenmächtig vor- und hergestellt: »Die Höhlenbewohner proben den Aufstand, indem sie eine künstliche Beleuchtung einrichten und die nächtliche Höhle in einen ›nächtlichen Tag‹ verwandeln, der das natürliche Sonnenlicht entbehrlich macht. Dies wäre kein Platonismus für das Volk, sondern ein Platonismus für Sehexperten.«19 Die damit angesprochene Umwertung ist subtil und dennoch von immenser Reichweite: Die Sonne, die bei Platon noch für die Wahrheit und die Idee stand, wird durch die Zentralperspektive ersetzt, wodurch Wahrheit abbildbar oder sogar erzeugbar wird. Die Maler und Malerinnen sind nicht länger diejenigen, die täuschen, indem sie vorgeben, etwas zu verfertigen, was gar nicht ist, sondern wollen die Welt nach dem Vorbild des Spiegels abbilden, wie es der Mythos des Narcissus beschreibt. Die Aufgabe des Malers bzw. der Malerin liegt folglich nach Alberti darin, »jeden beliebigen gegebenen Körper so auf einer Fläche mit Linien und Farben zu zeichnen und zu malen, dass – aus einem bestimmten Abstand und bei einer bestimmten, im voraus zugewiesenen Stellung des Zentralstrahls – alles, was man gemalt sieht, plastisch und dem gegebenen Körper vollkommen ähnlich erscheint«20 . Die Malerei soll den Bildern der Natur Dauerhaftigkeit verleihen, der Garant hierfür ist aber nicht die empirische Naturnachahmung, sondern die Planperspektive. Durch diese technische Errungenschaft ist eine Methode gefunden, um mathematisch-ideelle anstatt empirischer Ähnlichkeit herzustellen. Die Malerei hat sich damit selbst ein Mittel gegeben, um von der platonischen Bildkritik aus der »Politeia« freigesprochen zu werden und eine von Platon angedeutete Aufnahme in den idealen Staat scheint wieder möglich: »Dennoch sei ihr gesagt, daß wir ja, wenn nur die der Lust dienende Dichtung und Nachbildnerei etwas anzuführen weiß, weshalb auch ihr ein Platz zukomme in einem wohlverwalteten Staate, sie mit Freuden aufnehmen würden, da wir uns bewußt sind, wie auch wir von ihr angezogen werden.«21 Die Einführung der Zentralperspektive hat aber nicht nur weitreichende Konsequenzen für die Malerei selbst, sondern auch für das Verständnis der sinnlichen Wahrnehmung: Alberti schafft mit seiner Theorie zur Zentralperspektive eine angewandte Konstruktion des Wahrnehmungsprozesses, dabei wird die Geometrie zur Grundlage der bildlichen Repräsentation. Allerdings stimmt diese Wiedergabe nicht mit der empirisch realen Wirklichkeit und dem Wahrnehmungsprozess überein. Die perspektivische Darstellung ist nur durch ein gewisses Absehen
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Stoichita 1999, 62-66. Waldenfels 2001, 28. Alb. Pict. 293. Plat. rep. 607c.
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vom psychophysiologischen Wahrnehmungsprozess möglich. Für die zentralperspektivische Darstellung gilt, dass sie ebenso wie der euklidische Raum durch Homogenität, Gleichförmigkeit und Unendlichkeit gekennzeichnet ist. Eigenschaften, welche der Wahrnehmung fremd sind. Weiters ist die perspektivische Darstellung so konzipiert, dass der visuelle Wahrnehmungsprozess mit einem einzigen, fixierten Auge ausgeführt werden müsste. Damit wird die Tatsache negiert, dass der Mensch mit zwei ständig in Bewegung befindlichen Augen sieht.22 Der visuelle Wahrnehmungsprozess erfolgt binokular und hinzukommt, dass keines der beiden Augen dasselbe sieht, was sich durch den sogenannten Augensprung feststellen lässt. Die Bilder der beiden Augen sind räumlich verschoben und können nie zeitgleich gesehen werden. Zudem erscheint das Bild eines einzigen Auges verkleinert im Vergleich zum Bild, das durch beide Augen entsteht. Dieses setzt sich aus den beiden Bildern zusammen, wodurch etwas wahrgenommen wird, das so nicht gesehen werden kann.23 Auch der Unterschied zwischen dem psychologisch bedingten Sehbild, in dem die sichtbare Welt dem Menschen zum Bewusstsein kommt, und dem mechanisch bedingten Netzhautbild, das sich im physischen Auge abzeichnet, wird übergangen. Das perspektivische Bild wird in seiner Form rechteckig gedacht, während das Gesichtsfeld jedoch im psychophysiologischen Wahrnehmungsprozess sphärisch und seitlich ausgefranst ist.24 Ein weiterer wichtiger Unterschied liegt darin, dass die perspektivische Konstruktion davon ausgeht, dass das Netzhautbild auf eine ebene Fläche projiziert wird, während die Netzhaut tatsächlich konkav gekrümmt ist. Daraus folgt, dass das Sehorgan Geraden als gekrümmt wahrnimmt, während Geraden in der planperspektivischen Darstellung als Geraden wiedergegeben werden.25 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Zentralperspektive mit zwei bedeutenden Abstraktionen einhergeht: »Das perspektivische Bild ist ein Akt der Abstraktion […] Es abstrahiert vom Auge und es abstrahiert vom Raum. Wird das Auge zu einem Spiegel, zu einem geometrischen Augenpunkt umgedacht, so wird der Raum zu einem isomorphen, homogenen, wesenhaft geometrischen umfunktioniert.«26 Zwischen dem Maler bzw. der Malerin und der Welt steht von nun an ein Regelsystem, das die Übersetzung gewährleisten soll, tatsächlich aber von einer
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Panofsky 1998, 668. Burckhardt 1994, 128. Panofsky 1998, 668-669. Panofsky 1998, 672. Dies zeigt sich an den Randverzerrungen, die vor allem bei Fotografien auffallen. (Panofsky 1998, 669) Diese Abstraktion vom Wahrnehmungsprozess endet nicht in der Renaissance, sondern elektronische und digitale Medien arbeiten ebenfalls nach diesem Prinzip. (Boehm 2006a, 16). Burckhardt 1994, 152.
Narcissus als Erfinder der Malkunst
grundsätzlichen Unübersetzbarkeit zeugt. Dass die Abstraktion vom psychophysiologischen Wahrnehmungsprozess jedoch keine unbeabsichtigte Folge ist, zeigt sich am Namen der Perspektive: Sie wird im Gegensatz zur antiken perspectiva naturalis bzw. communis als perspectiva artificialis oder construzione legittima bezeichnet.
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Blindheit am Ursprung der Malerei
Der nackte Maler, Lucian Freud, zeigt sich in seinem Atelier während der Arbeit an seinem Selbstporträt. Ebenso wie Narcissus sein Spiegelbild im Wasser betrachtet, muss sich auch Lucian Freud im Spiegel betrachten – die Technik des Selbstporträts verlangt gewöhnlich einen solchen. In beiden Fällen gibt es also eine Spiegelung, welche Lucian Freud noch einmal malt. Beide Male entsteht ein Porträt oder, genauer gesagt, ein Selbstporträt. Während Narcissus das seinige ungläubig anstiert, ist der Blick des nackten Malers nur auf dem fertigen Bild ein starrender – im Akt des Malens eines Selbstporträts ist es jedoch ein changierender: Er sieht in den Spiegel, sieht sich, studiert sich, mustert seinen Körper Stück für Stück, Millimeter für Millimeter, schonungslos – it is »an exercise in stripping away self-delusion«1 . Der Spiegel erschwere ihm die Arbeit, es sei eine ganz andere Art zu malen, da er eine andere Information vom Spiegel bekomme, als wenn er ein Modell male – verflacht, reflektiert, seitenverkehrt.2 Diese Schwierigkeiten finden Niederschlag darin, dass Freud zwar mehr Selbstporträts als andere Porträts beginnt, diese aber nicht fertigstellt, sondern sie noch während des Malprozesses zerstört. Die Reflexion (»Reflection«) des Spiegels nimmt auch im Titel seiner Selbstporträts eine zentrale Stellung ein, da sie ganz entscheidend die Arbeitsweise prägt: Um zu malen, wendet er seinen Kopf, seine Augen vom Spiegel ab und zur Leinwand hin. Den Pinselstrich setzt er aber meist nicht sofort. Zuvor kommt es zu einem Innehalten, einer Überlegung, häufig stößt er einen kleinen Seufzer aus im Bemühen um Konzentration.3 Immer wieder sieht er auf sich selbst als Modell im Spiegel, dann folgt der Blick auf die Leinwand. Höchste Aufmerksamkeit legt er auch auf das Mischen der Farben, was ihm häufig einen erneuten Seufzer entlockt. Dazu macht er eine Geste, die einmal auf das Zucken der Schultern beschränkt ist, sich nach einem gelungenen Pinselstrich aber auch zu einem triumphierenden Armeschwenken auswachsen kann.4 In Phasen höchster Konzentration beginnt er zu murmeln, gibt sich selbst 1 2 3 4
Auping 2012, 52. Gowing 1984, 176. Gayford 2013, 43. Gayford 2013, 43.
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ständig Anweisungen. Wieder ein Blick in den Spiegel, gefolgt vom Blick auf die Leinwand: Ein- oder zweimal setzt er zu einem Pinselstrich an, zögert, zieht die Hand wieder zurück. Erneut ein prüfender Blick in den Spiegel, vielleicht vermisst er eine Stelle noch einmal mit einer kleinen Bewegung des Pinsels.5 »Die gesamte Prozedur [des Malens, J. M.] ist ein einziges großes Abwägen.«6 Dabei handelt es sich aber nicht um einen Blickwechsel zwischen der Idee des Schönen und dem Schönen des einzelnen Menschen, um diesen daran anzunähern, wie Platon schreibt.7 Sondern das Abwägen findet zwischen dem Spiegelbild und dem Pinselstrich, der Schwere des Körpers und der Schwere der Farbe statt. Wenn Lucian Freud aber in den Spiegel sieht, um seinen Körper zu studieren, und dann auf die Leinwand, um das Gesehene in Farbe zu kleiden, dann sieht er nicht mehr direkt seinen nackten Körper. Nie können beide, Spiegel und Leinwand, gleichzeitig im Blick sein. Im Akt des Malens hat Freud bereits von seinem Spiegelbild abgesehen, um sich auf die Leinwand zu bringen. Immer muss der Maler für das eine oder das andere, das Modell oder die Leinwand, auf gewisse Weise blind sein. Diese Abwendung von der außerbildlichen Sichtbarkeit, dem Modell, die aufgegeben werden müssen, um im Bild etwas zu sehen zu bekommen, bezeichnet Derrida als sakrifizielle Blindheit 8 . Davon unterschieden ist die transzendentale Blindheit 9 . Sie bezeichnet ein Nicht-Sehen, das die Bedingung der Möglichkeit des Bildes ist. In diesem Zusammenhang greift Derrida auf den Begriff des absolut Unsichtbaren von Merleau-Ponty zurück, indem er davon ausgeht, dass dieses das Sichtbare bewohnt, es heimsucht. Obwohl das Unsichtbare dem Sichtbaren und auch dem nur potentiell Sichtbaren absolut fremd ist, durchdringt es dieses.10 Mit Bezug zur Sprache erklärt Derrida dies wie folgt: »Die Differenz, welche die Phoneme aufstellt und sie, in jedem Sinne des Wortes, vernehmbar macht, bleibt an sich unhörbar.«11 Überträgt man diese Überlegung auf die Ebene des Bildes, so geht daraus hervor, dass die Differenz, welche die bildliche Darstellung ermöglicht und sie wahrnehmbar macht, selbst unsichtbar bleibt. Der Strich entzieht sich und verweist dabei auf andere Striche, die sich wiederum entziehen.12 Das Bildersehen kommt folglich von einem Nichtsehen, einem Unsichtbaren her, es meint, »›vom‹ Ungesehenen ›her‹ [›depuis‹ l’invu] zu sehen«13 . Darin liegt für Derrida die Bedingung der Möglichkeit des Bildes. 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Gayford 2013, 43. Gayford 2013, 43. Plat. rep. 472d3-7. Derrida 1997, 46. Derrida 1997, 46. Derrida 1997, 54-56. Derrida 2004, 113. Derrida 1997, 57. Derrida 1997, 59.
Blindheit am Ursprung der Malerei
Zwei Formen der Blindheit liegen also am Beginn des Porträts, weswegen Porträtieren ein Prozess »ab oculis«14 ist: Während sich Narcissus blindlings im Wasser anstarrt und sein Spiegelbild nicht ergreifen kann, mustern die Malerinnen und Maler ihr Spiegelbild, müssen davon absehen, blind dafür werden, um es auf der Leinwand wiedersehen zu können, indem sie es neu hervorbringen. Dies hat zur Folge, dass das Malen eines Porträts kein Prozess des Abbildens im Sinne eines Kopierens ist, sondern vielmehr ein anamnetischer Akt 15 : »Sobald er sich betrachtet und fasziniert aufs Bild starrt, dabei aber vor seinen eigenen Augen im Abgrund verschwindend, ist die Bewegung, durch die der Zeichner verzweifelt versucht, sich wiederzuerlangen, bereits in ihrer Gegenwart ein Gedächtnisakt.«16 Somit könnte man den gesamten Zeichenprozess als ein Ins-Werk-Setzen des Gedächtnisses nennen. Das Ins-Werk-Setzen steht nicht im Dienst der Zeichnung, sondern ist ihre Eigentümlichkeit. Bewahrt wird im Bild nicht die Unmittelbarkeit der Sache, sondern nach Derrida die Medialität des Aktes der Aufzeichnung in seiner nachträglichen Entstehung. Die Malerin oder der Maler muss das direkte Sehen aufgeben, um sichtbar zu machen: Im Moment des Abbildens schlägt Wahrnehmung schon in Erinnerung um, Sehen in Aufzeichnen, Perzeption in Apperzeption.17 Die Anamnesis verlegt Derrida dabei in jeden einzelnen Pinselstrich, opfert dabei die darstellerische Treue und betont stattdessen die Abweichung vom Modell und den kreativen Akt. Statt sich ausschließlich auf ein Modell zu beziehen, bezieht sich demnach das (Selbst-)Porträt auf sich selbst: »Es gibt in dieser Gabe eine Art Ent-zug [re-trait], zugleich das Dazwischenstellen eines Spiegels, die unmögliche Wiederaneignung oder Trauer, das Dazwischentreten eines paradoxen Narziß, mitunter verloren en abyme, kurz, […] es gibt darin einen spekulären Rückzug in sich selbst [repli] – und einen supplementären Zug. Am besten, man gibt dieser Hypothese eines retrait […] einen italienischen Namen und spricht vom autoritrattro der Zeichnung.«18 Der von Derrida vorgeschlagene Begriff autorittrato leitet sich wie auch der Begriff Porträt vom Lateinischen trahere ab, was ziehen oder herausziehen, den Entzug, den Rückzug, die Zurückgezogenheit selbst bezeichnet.19 So bringt das Porträt ein Selbst auf die Leinwand, indem es hervorgezogen wird, von sich selbst, Pinselstrich um Pinselstrich. Dabei entfernt sich das Bild des Modells Zug um Zug vom Modell, es wird etwas anderes, verlässt Fleisch und Blut, um Farbe zu werden. Gleichzeitig
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Derrida 1997, 10. Vgl. dazu das Kap. »Epopteia und Anamnesis« im ersten Teil. Derrida 1997, 68. Wetzel 1997, 134. Derrida 1997, 10. Nancy 2015, 10.
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zu dieser Entfernung vom Modell setzt aber auch eine Bewegung der Wiederaneignung ein: Indem sich die Malerinnen und Maler selbst malen, konstituieren sie sich auf der Leinwand neu, sie versuchen, sich wieder anzueignen.20 Das Porträt bringt damit die Problematik der Repräsentation auf besondere Weise hervor: In dem Versuch, sich zu erfassen, sich auf das Bild zu bringen, entfernt sich der nackte Maler von sich selbst, da er von sich absehen muss, um auf der Leinwand zur Erscheinung zu kommen. Dies ist im Sinne des autorittrato ein Zug der Entfernung, der auf sich selbst zurückführt, da sich der nackte Maler auf der Leinwand neu hervorbringt. Das autorittrato ist damit kein reiner Selbstbezug, sondern ein Selbstbezug, der immer schon durchsetzt ist von einem Entzug und damit dem Fremden. Mit Verweis auf die Figur des Polyphem beschreibt Derrida die komplexe Logik des Selbstporträts wie folgt: »Indem er sich als Niemand [comme Personne] vorstellt, benennt er sich und löscht sich gleichzeitig aus: als Person [comme personne] – Logik des Selbstportraits.«21 Dieser Logik unterliegt auch Narcissus: »Narziss ist hier als derjenige zu begreifen, der im Wasser – in den unsicheren, beweglichen Tiefen – ein Bild aufscheinen sieht, das seine Bewegungen widerspiegelt, das ihm gefällt und ihn anzieht, das aber nicht er selbst ist. Er erscheint sich, ohne sich zu erkennen, und wenn er sich erkennt, erscheint er sich nicht mehr. Er hat sich entzogen in seinem Porträt.«22 Die komplementäre Bewegung des (Selbst-)Porträts lautet also wie folgt: In einem Zug entfernt es von sich selbst und es setzt eine Bewegung der Wiederaneignung ein, in der sich die Malerinnen und Maler neu konstituieren, indem sie sich ins Bild ziehen. Diese Arbeit kann und muss jedoch immer unvollständig bleiben, eine vollkommene Selbstpräsenz ist unmöglich. »Da aber der andere, dort drüben, irreduzibel bleibt, da er jeder Verinnerlichung, Subjektivierung oder Idealisierung durch Trauerarbeit widersteht, findet die List des Narzißmus nie ein Ende.«23 An dieser List des Narzissmus trennen sich auch die Konzepte des Selbstporträts von Derrida und Nancy: Derrida versucht mit seinem Konzept des Selbstporträts, die ursprüngliche Blindheit des Bildes und der Malerin bzw. des Malers aufzuweisen und hebt damit die différance des abwesenden Gegenstandes als Bahnung oder als Aufschub des Sehens im Bild hervor. Das Bild in seiner Materialität bleibt ebenso wie das physische Selbst – das Modell, die Malerin, der Maler – unthematisch.
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Derrida 1997, 73. Derrida 1997, 87. Nancy 2015, 71-72. Frz.: »Narcisse doit être ici compris comme celui qui voit paraître dans l’eau – dans la profondeur incertaine et mobile – une image qui reproduit ses gestes, qui lui plaît et l’attire mais qui n’est pas lui-même. Il s’apparaît sans se reconnaître et s’il se reconnaît il ne s’apparaît plus: il s’est retiré dans son portrait.« (Nancy 2014c, 89) Derrida 1997, 73.
Blindheit am Ursprung der Malerei
Mit diesem Konzept der Blindheit, des Absehens und der Trauerarbeit24 betont Derrida zwar vehement die schöpferische Kraft der Malerei, denkt diese aber stets negativ aus der Entzogenheit, der Blindheit und der Repräsentation. Nancy setzt genau hier an, verbindet die schöpferische Kraft der Malerei allerdings mit einer Theorie der Präsenz, die auf dem Ausgesetztsein beruht. In der von ihm konzipierten Ausstellung »Mémoires d’aveugle« interpretiert Derrida den Mythos des Narcissus anhand einer Zeichnung von Lodovico Cardi, genannt Cigoli25 , legt aber den Fokus auf die weibliche Nebenfigur des Mythos, Echo. Auf Cigolis Zeichnung wird der Mythos auf der Vorder- und Rückseite eines Blattes26 dargestellt: Die eine Seite zeigt Narcissus, der sich lässig mit dem gestreckten rechten Arm aufstützt und den Kopf zur Seite neigt, um sein Spiegelbild im Wasser zu sehen. Links hinter ihm ist Amor zu erkennen, der dabei ist, seinen Bogen mit dem Liebespfeil zu spannen. Rechts hinter Narcissus ist Echo zu sehen. Auf der Rückseite des Blattes hat Cigoli die Nymphe Echo noch einmal gezeichnet, wie sie versucht, mit ihrer linken Hand nach Narcissus zu greifen,27 ohne ihn jedoch berühren zu können. Noch bevor sich Narcissus in sich selbst verliebt, hat sich Echo in ihn verliebt. Ihre Liebe erfährt jedoch keine Erwiderung, sondern wird von Narcissus verschmäht. Sie verfolgt ihn durch den Wald, kann ihn jedoch nicht ansprechen, da sie als Bestrafung von Hera dazu verurteilt wurde, keine eigenen Sätze mehr sprechen zu können, sondern lediglich die letzten Wörter zu wiederholen, die jemand an sie richtet.28 Sie läuft Narcissus nach, kann ihn jedoch nicht ansprechen, wiederholt aber seine Worte. Obwohl sie diese nur wiederholt, schreibt sich dabei schon eine Veränderung, ein Aufschub ein, der es Echo ermöglicht, mit Narcissus in einen Dialog zu treten. Derrida beschreibt dies in seiner Filmbiografie wie folgt: »Diese Szene habe ich in vielen Seminaren untersucht. Was mir daran so gefällt, ist der Moment, wo Echo Narziss in die Enge treibt. Echo wird von der eifersüchtigen Göttin dazu verdammt, niemals für sich selbst sprechen zu dürfen, sondern immer das Satzende des Anderen wiederholen zu müssen. Aber Echo schafft es in ihrer unendlichen und liebenden Schlauheit, die letzten Silben der Worte von Narziss auf ganz eigene Art zu sagen, d.h. sie wiederholt sie auf eine Art und Weise, die 24 25
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Zur Trauerarbeit siehe besonders Derrida 1994b. Derrida 1997, 70. Cigoli war ein Freund von Galileo Galilei; er sezierte, war astronomisch sowie auf dem Feld der Optik tätig und verfasste ein Traktat über die Perspektive. Von ihm ist überliefert, dass er den Mythos der Butades als Ursprung der Malerei wenig schätzte, da darin nur Konturen hervorgebracht werden. Im Gegensatz zu diesem farblosen Umriss sei vielmehr die Variabilität des Kolorits, wie sie die camera obscura ermögliche, die Grundbedingung der Malerei. (Blümle 2009, 108-109; auch Bredekamp 2007, 293) Das unvollendet gebliebene Traktat von Cigoli wurde als Faksimile (1992) ediert. Vgl. Abb. 14 und 15. Blümle 2009, 102. Ov. met. 3,355-370.
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sie zu ihren Worten werden lässt. Sie eignet sich die Worte an, indem sie seine wiederholt, und zeigt so ihre Liebe. In der Wiederholung antwortet sie ihm. Sie spricht die Worte nach und tritt in einen Dialog. Durch eine außergewöhnliche List spricht sie am Ende für sich selbst. Aber Reden birgt immer auch eine gewisse Verblendung, denn Reden ist nicht gleich Sehen, das Wort ist in gewissem Sinne blind. Im Grunde ist Echo trotz ihres Scharfsinns blind, weil sie Narziss blindlings nach- und somit entspricht. Eine typische Liebesgeschichte. Und auch Narziss ist blind, denn er merkt, dass er nur sich selbst sieht, sein eigenes Spiegelbild. Und nur sich selbst zu sehen, ist eine Form von Verblendung. Er kann nichts anderes sehen, und deshalb weint Narziss. Er weint und stirbt gewissermaßen an seiner eigenen Verblendung. Wir haben also zwei Verblendungen und zwei Blinde, die sich lieben. Wie können zwei Blinde sich lieben, das ist hier die Frage?«29 Narcissus und sein Selbstporträt auf der einen Seite der Zeichnung von Cigoli, verblendet und blind, die ihn verfolgende Echo auf der anderen Seite, verblendet, blind, seine letzten Worte wiederholend. Beide sind verliebt, miteinander verbunden, aber doch unüberwindbar getrennt auf den beiden Seiten eines Papiers. Obwohl Echo nur die Wörter des Narcissus wiederholt, fügt sie ihnen etwas hinzu, gibt sie ihnen eine neue Nuancierung. Echo und Narcissus, die beide auf ihre Art blind sind: Echo schafft es nicht, den von ihr Geliebten anzusprechen; Narcissus schafft es nicht, den von ihm Geliebten zu berühren. Doch in dieser auf Negation basierenden Einschränkung können sie doch lieben, indem sie eine außergewöhnliche List anwenden, aus der ein Potenzial des Schaffens und der Kreativität erwächst. Die List macht, dass etwas ankommt, sie produziert ein Ereignis, sie lässt entstehen, schafft aus Wiederholung und Abbild Kunst, schafft Bilder, schafft ein Selbst.
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Derrida in Dick/Kofmann 2002, Min. 61-63.
Auto-Allo-Mimesis »Nobody is representing anything. Everything is autobiographical and everything is a portrait, even if it’s a chair.«1
Wenn Lucian Freud akribisch in den Spiegel blickt, sich der Leinwand zuwendet, zu malen ansetzt, wieder abbricht, in den Spiegel blickt, sich erneut betrachtet sowie vermisst und erst nach langer Überlegung einen Pinselstrich setzt, so geht es ihm bei aller Genauigkeit dabei nicht um eine naturgetreue Abbildung seiner selbst. »Der Künstler, der versucht, der Natur zu dienen, ist nur ein ausführender Künstler: Und da das Modell, das er so naturgetreu nachbildet, letztendlich nicht neben dem Bild an der Wand hängen wird, das Bild also ganz allein dort zu sehen sein wird, ist es gar nicht von Interesse, ob es sich um eine akkurate Kopie des Modells handelt.«2 Beim Betrachten des Bildes fehlt in den meisten Fällen der direkte Vergleich zum Modell, weswegen die Frage nach der maßgenauen Darstellung für Freud nicht primär ist: Nicht selten sind die Gesichter seiner Porträts in die Länge gezogen; nicht selten sind die Körper wuchtiger und der Kopf erscheint proportional gesehen zu klein. Das Porträt ist ein Gebilde, das seinen eigenen Gesetzen folgt, den Gesetzen der Oberfläche – und die haben nicht nur mit der Frage zu tun, ob die Darstellung dem Modell ähnelt oder nicht. Nichtsdestotrotz will auch Lucian Freud so genau wie möglich wiedergeben: die Wirklichkeit in ihren sinnlich-schweren Erscheinungen, die Farben, die Schwere der Körper, die Vergänglichkeit. Folglich hält er in seinem Selbstporträt als nackter Maler wie in allen anderen »mit geradezu freudiger Gnadenlosigkeit alle Zeichen des Alterungsprozesses und der verrinnenden Zeit fest«3 . Das Paradigma der Abbildlichkeit wird aber nicht erst von Freud herausgefordert, sondern scheint der Malerei inhärent zu sein, weshalb die Geschichte der Ma1 2 3
Freud, zit. n. Howgate 2012, 23. Freud, zit. n. Gayford 2013, 48. Gayford 2013, 79.
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lerei und auch diejenige der Porträtmalerei zahlreiche Diskontinuitäten in der Bestimmung und Auslegung ihres Gegenstandes aufweisen, die vor allem im 20. Jh. virulent werden. Für die Porträtmalerei stellt die Erfindung der Fotografie einen zentralen Einschnitt dar, durch den sie in ihrer privilegierten Rolle in Frage gestellt wird. Danach sorgt die avantgardistische Malerei für eine Aufhebung zentraler Kriterien des Porträts: der Figuration und damit der Wiedererkennbarkeit und Ähnlichkeit. Dennoch gewinnt paradoxerweise das Selbstporträt gerade damit eine »nie gekannte Bedeutung für eine Erschließung der Subjektivität des Künstlers«4 . Der Ausdruck der Individualität und die Selbsterforschung des Künstlers bzw. der Künstlerin werden zum leitenden Paradigma. Die sogenannte Krise der Repräsentation vertieft diesen Einschnitt im Genre des (Selbst-)Porträts, der dazu führt, dass das Porträt vor allem in seiner Negation als Antiporträt besprochen wird wie etwa im Kubismus. Als solches bildet es nicht mehr ab und negiert damit die zentrale Eigenschaft in der klassischen Bestimmung des Porträts. Das Porträt besteht im Kräftespiel zwischen Dekonstruktion und Abbildung mimetischer Reste. Die Subjektivität des Künstlers bzw. der Künstlerin wird dabei gestärkt, da ihr subjektiver Ausdruck, ihre Individualität in den Vordergrund rücken.5 Trotz dieser Auflösungstendenzen kam es in den 70er und 80er Jahren zu einer erneuten Zunahme der Porträtmalerei, verbunden mit einem vermeintlichen Rückgriff auf klassische Genrebestimmungen etwa in der Arte Cifra, bei den Neuen Wilden, der Figuration Libre, dem New Image Painting. Gleichwohl bedeutet dies kein Zurück zur Abbildlichkeit und Wiedererkennbarkeit, sondern die Auflösung bzw. Erweiterung des Genres setzt sich unter anderen Vorzeichen fort. Häufig wird in den (Selbst-)Porträts nicht die Person bzw. das Subjekt thematisiert, sondern das Genre selbst.6 Dabei ist auch in der nicht-figurativen Kunst die Porträtmalerei relevant und die Frage der Mimesis wird in Form der Defiguration, des Figuralen oder auch des Hyper- oder Fotorealismus neu gestellt.7 Im Vergleich zu vielen dieser Destruktionsprozesse scheint das Selbstporträt des nackten Malers beinahe eine klassisch realistische und figurative Darstellungsweise zu tradieren. Der avantgardistisch geprägte Kunstmarkt klassifizierte die Bilder Freuds anfangs als anachronistisch, weshalb er kaum Bilder verkaufen konnte.8 Die dabei geäußerte Kritik basiert auf einem bestimmten Verständnis von Avantgarde und der damit verbundenen Auflösung der Figuration sowie der Einführung der abstrakten Malerei.9 Aber die Avantgarde hat nicht nur das abstrakte 4 5 6 7 8 9
Weinhart 2004, 7. Weinhart 2004, 64. Weinhart 2004, 7-8. Nancy 2015, 61-62. Wie u.a. Gowing (81-86) berichtet. In diesem Sinne kritisiert etwa Jean-François Lyotard die in den 70er und 80er Jahren erneut aufkommende realistische Malerei: »Aber dieser Realismus der Beliebigkeit ist der des Gel-
Auto-Allo-Mimesis
Bild hervorgebracht, sondern auch das verändert, was von nun an Bildinhalt ist. Ihre Sprengkraft liegt gerade darin, dass sie die gesamten Möglichkeiten der Malerei umdeutet: Nach diesem radikalen Bruch durch die Abstraktion kann auch die gegenständliche Malerei nicht mehr das bleiben, was sie war.10 Wenn also wieder gegenständlich gemalt wird, so bedeutet das nicht automatisch reine Nachahmung oder einen Rückschritt hinter die Errungenschaften der Avantgarde. Vielmehr kommt es zu einer Auseinandersetzung mit dem Gegenständlichen, dem Modell und auch dem Akt des Malens, die aber nicht diskursiv geführt, sondern korporal gelebt wird. Ähnlich wie die Malerinnen und Maler der Avantgarde formale Elemente zeigen – Farbe als Farbe oder Material als Material –, behandelt die darstellende Malerei die Ikonographie nun nicht als Mittel zum Zweck, sondern dank Verselbstständigung der Gestaltungsmittel als Selbstzweck: Bilder als Bilder bzw. der Malakt als Malakt.11 Das Ziel dieser »Autotelie«12 liegt einzig in ihr selbst und nicht im Bezugnehmen auf etwas anderes. Ikonographie wird damit nicht verwendet, um etwas zu erzählen oder abzubilden, sondern um des Erzählens, des Abbildens oder um des Aktes willen: Wenn sich Lucian Freud in seinem Porträt selbst auf die Leinwand bringt, so zeigt diese den Maler im Akt des Malens, dem Porträt zugewandt; er bezieht sich auf sich selbst, sein Bild – das »Modell ist dafür da, dem Porträt zu helfen«13 , wie es Lucian Freud ausdrückt. Es strebt also weder nach einer getreuen, mathematisch korrekten Kopie noch nach dem Hervorziehen einer Innerlichkeit, welche den wahren Charakter des Modells treffen würde und auch nicht nach dem perfekten Umriss oder dem perfekten Spiegelbild. Seinen Ansatz beschreibt er wie folgt: »Meine Idee des Porträtierens geht auf eine Unzufriedenheit mit Porträts zurück, die Personen ähneln. Ich möchte, dass meine Porträts die Menschen zeigen, statt ihnen zu ähneln. Es geht nicht darum, wie das Modell auszusehen, sondern das
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des: In Ermangelung ästhetischer Kriterien ist es möglich und nutzbringend, den Wert der Werke am Profit zu messen, den sie erbringen. Dieser Realismus paßt sich allen Tendenzen an, wie das Kapital, das sich allen ›Bedürfnissen‹ anpaßt, unter der alleinigen Voraussetzung, daß Tendenzen und Bedürfnisse über die nötige Kaufkraft verfügen.« (Lyotard 1993, 40) Boehm 1987, 228. Neben Freud hat sich auch ein anderer nackter Maler, Josef Kern (Abb. 3), gegen die reine Abbildung und den Fotorealismus ausgesprochen, wenn es heißt: »Ich lehne den Fotorealismus total ab, weil er mir das Vergnügen, das Erringen eines Gegenstandes, einer Situation oder von Menschen vorwegnimmt. Das ist so wie Rationalisieren. Der konzeptuelle Ansatz ist mir fremd. Ich mag nicht diese ›coolness‹ oder diese Faulheit und Risikolosigkeit, die ich im Fotorealismus sehe. Für mich sind meine Arbeiten eine tägliche Bestätigung, daß es meine Welt gibt, daß es eine Welt gibt, die ich liebe und die ich für wert finde, daß sie beachtet wird.« (Kern 1987, 150) Martis 1987, 378. Nancy 2015, 32. Frz.: »autotélie« (Nancy 2014c, 41). Freud, zit. n. Gayford 2013, 107.
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Modell zu sein. Mir geht es nicht darum, eine Ähnlichkeit zu erzielen, wie ein Imitator, sondern die Menschen zu porträtieren, wie ein Schauspieler. […] Ich sehe es so: Die Farbe ist die Person. Ich will, dass sie genauso wirkt wie Fleisch.«14 Lucian Freud verlagert die Ebene: Person wird Farbe, wird Fleisch. Er praktiziert und thematisiert sein eigenes Hervor- und Aufkommen als Anderer auf der Leinwand. In der Malerei wird hervorgezogen, ein Geschehnis evoziert, worin ihre spezifische Kraft liegt. Um diesen performativen und ereignishaften Charakter im Gegensatz zum klassischen Verständnis von figurativ zu betonen, kann das Selbstporträt des nackten Malers als figurale Malerei bezeichnet werden. Lyotard beschreibt das Figurale in »Discours, figure« als dritte Ordnung neben dem Sagen und dem Zeigen: Im Figuralen könne nicht nur etwas ausgesagt oder dargestellt werden, sondern es ereigne sich ein Geschehnis. Das Figurale gehe damit nicht in einer identifizierbaren Figur auf, was erneut eine grammatische und semantische Ordnung des Visuellen nach sich zöge. Es habe vielmehr den Charakter des Es-Geschieht, der in einer Affizierung liege, welche die Betrachtenden vor jeder Sinnzuschreibung vorrangig befalle.15 Das Figurale ist damit das Figurative in statu nascendi; das heißt das aktuelle Am-Werk-Sein einer gestaltgebenden, gestaltwerdenden Kraft, die sich erst findet, indem sie einer chaotischen materiellen Gemengelage sinnliche Formen abringt.16 In Anlehnung an Lyotard versteht Deleuze unter dem Figuralen einen »anderen, direkteren und sinnlicheren Weg« neben der Abstraktion, »um die moderne Kunst der Figuration zu entreißen«17 . Das Figurale habe sich von der Aufgabe der Repräsentation gelöst und beziehe sich stattdessen auf eine Empfindung (sensation).18 Daraus resultieren Konsequenzen für das Konzept von Ähnlichkeit: Ähnlichkeit kommt einem Porträt nur zu, »insofern es ›einem Porträt ähnlich ist‹ […] und insofern es sich selbst ähnelt: die Selbigkeit wird eins mit der Frage der Malerei und bestimmt sich im Malen und als Malen«19 . Das Malen wird damit zum Sujet sowie zum Subjekt der Malerei und auch zur Vorgabe von Ähnlichkeit. Lucian Freud setzt an zu einem Farbauftrag, es ist der Zug, mit dem er sich entstehen lässt, aber nur um den Preis, sich von sich abzuwenden. Auf dem Porträt und in ihm findet ein Ziehen und Entziehen von Selbst und Anderem, Eigenem und Fremdem, An- und Abwesenheit statt. Damit zeigt sich auch der Unterschied von Spiegel und Bild,
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Freud, zit. n. Gayford 2013, 111-112. Vgl. dazu das Kap. »Inkarnat« im dritten Teil. Lyotard 1971, 9-25. Böhler 2018, 110-111. Deleuze 1995, 14. Deleuze 1995, 14. Nancy 2007a, 32. Frz.: »en tant qu’il ›ressemble à un portrait‹ […] et donc en tant qu’il se ressemble: la mêmeté s’identifie à la peinture, dans la peinture et comme peinture« (Nancy 2000b, 48).
Auto-Allo-Mimesis
zwischen denen der Blick des nackten Malers changiert: Im Spiegelbild sieht er sich selbst als Objekt, im Bild wird er während des Malakts zum Subjekt/Sujet. Genau diesen Prozess der Subjekt- bzw. Sujetwerdung als Ausgestelltsein setzt Freud ins Bild. Besonders deutlich wird dieser Prozess, weil Freud auch die Spiegeloberfläche malt: So zeigt er sich selbst, wie er mit der rechten Hand das Malmesser zum Zug ansetzt, während er aber Linkshänder ist. Ein Abbild zwar, aber keines der Person, des Subjekts Lucian Freud, sondern der Akt des Hervorziehens von sich als Sujet, das er als Anderer ist. Am Beginn jeder Abbildung liegt demnach notwendigerweise das Andere des Modells, oder anders formuliert: Jede Abbildung muss sich, um Abbildung zu sein, zuvorderst von ihrem Modell entfernen. Um diese gegenläufige Bewegung der Mimesis begrifflich zu erfassen, sprechen Lacou-Labarthe und mit ihm Nancy von Auto-Allo-Mimesis.20 Der Mimesis wird ihr Modell, wie es ihr Platon zugewiesen hat, genommen und sie beginnt sich ohne Modell zu begreifen: Sie wird zu ihrem eigenen Modell, indem sie sich modelliert. Die zwei gegenläufigen Bewegungen der Mimesis, die Platon im Dialog »Sophistes« durch Theaitetos konstatiert hatte, finden hier eine Zuspitzung: weg vom Modell, Entfernung vom Modell, um ein Bild hervorzubringen, das sich wieder an das Modell annähert. »Letzten Endes könnte man sagen, dass die im Porträt verdichtete Logik der Mimesis immer in der Schwebe bleibt – oder im Spannungsfeld – zwischen den Extremen der reinen Präsenz (von der die Mimesis aufgehoben würde) und der Ähnlichkeit (in der sie die Abwesenheit des Modells oder sogar sein Verschwinden betont).«21 Damit wird nicht das Konzept von Ähnlichkeit überhaupt aufgelöst, sondern ein anderes Konzept von Ähnlichkeit geprägt. Das Porträt Freuds ist ein Alloporträt: Im Unterschied zum konventionellen Selbstporträt, das von der Einheit des Subjekts und seiner Darstellung im Bild ausgeht, sowie dem Antiporträt, in dem diese Einheit zersplittert wird, oszilliert das Alloporträt beständig zwischen einem Hervorziehen und einem Entziehen, zwischen Kontakt und Distanz. Es ist ein Akt des Hervorbringens und gleichzeitig ein Akt der Entfremdung vom Modell, von sich selbst, den der nackte Maler zeigt und erfährt – ein Akt, in dem er sich selbst wie Narcissus als Anderer gegenübersieht.
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Lacou-Labarthe (1980) prägt den Begriff des Alloporträts, den er am Beispiel einer fotografischen Inszenierung von Urs Lüthi einführt und damit das Paradox eines Abbildes ohne Selbstbild, ohne Selbstdarstellung bezeichnet. Nancy (2007, 20; 2015, 33) greift diesen Begriff auf. Nancy 2015, 11. Frz.: »À la limite on pourrait dire que la logique de la mimesis, telle qu’elle se concentre dans le portrait, est toujours suspendue – ou tendue – entre une extrémité de présence pure (qui abolirait la mimesis) et une extrémité de similarité (où la mimesis souligne l’absence du modèle, voire sa disparition).« (Nancy 2014c, 16-17)
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Wiedererinnern »[T]he picture in order to move us must never merely remind us of life, but must acquire a life of its own, precisely in order to reflect life.«1
Der nackte Maler mit seinem Malmesser und der Palette: Er wird wiedererkannt als Lucian Freud; es handelt sich um ein Selbstporträt. Dass Bilder nicht einfach zu sehen geben, sondern auf Wiedererkennbarkeit ausgerichtet sind, beherrscht als Bedingung die Malerei, insbesondere die Porträtmalerei, seit ihren Anfängen: Butades will ihren Geliebten nicht verlieren und sich während seiner Abwesenheit an ihn erinnern. Das platonische Konzept der Anamnesis2 , der Wiedererinnerung, scheint sich hier in der Malerei zu manifestieren. Wie gefährlich es werden kann, wenn ein Porträt nicht zur Wiedererinnung führt, wird an Narcissus deutlich: Er erkennt sich in seinem Spiegelbild gerade nicht wieder – es gibt sich für einen Anderen aus, was für ihn sogar tödlich endet. Dem Porträt scheint demnach eine referentielle Identitätsstruktur eigen zu sein, was ihm einerseits eine Degradierung zur niederen Kunstform einbrachte, andererseits wurde es gerade deswegen auch zur höchsten Kunstform tituliert.3 Dass die Annahme einer referentiellen Identität aber problematisch ist, wird mit Blick auf den künstlerischen Akt, also die Ebene der Kunstproduktion, deutlich. Porträtieren ist dabei in einem ersten Schritt mit einem Absehen vom Modell verbunden: Wenn Freud sich selbst porträtiert, sieht er sich zuerst im Spiegel an, um das Gesehene danach auf die Leinwand zu bringen. Während dieses Hervorziehens auf der Leinwand nimmt er keine einäugige und alles erfassende Zentralperspektive ein, sondern vielmehr eine »Aperspektive«4 , in der nicht mehr dem gefolgt wird, was gegenwärtig sichtbar ist, sondern aus dem Unsichtbaren bzw. aus der Blindheit hervorgezogen wird. Oder anders formuliert, im Moment des Ziehens, wenn mit dem Malmesser bzw. dem Pinsel Farbe aufgetragen wird oder sich die 1 2 3 4
Freud 1954, 23. Vgl. dazu das Kap. »Epopteia und Anamnesis« im ersten Teil. Lexikon der Kunst 1987, 558. Derrida 1997, 49.
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Spitze des Pinsels in Kontakt mit der Oberfläche vorwärtsbewegt, wird das Modell nicht gesehen. Egal ob improvisiert oder nicht, das Ziehen oder die Erfindung des Strichs folgt nicht und richtet sich nicht unmittelbar nach diesem Sichtbaren, das sich als Motiv vor den Malerinnen und Malern befindet.5 Im Akt des Zeichnens und Malens nehmen die Malerinnen und Maler eine antizipierende Perspektive ein: Sie sehen ihr Spiegelbild im Akt des Malens nicht direkt, sondern antizipieren es. Dieses Absehen vom Sichtbaren vor ihnen leitet zugleich eine »anamnetische Retrospektive«6 ein, also einen Akt des Gedächtnisses. Entscheidend dabei ist, dass keine übersinnliche Urschau und auch keine Idee den Ursprung des Kunstwerks im blinden Ziehen des Striches überwacht. Daher basiert der Malprozess auch nicht auf der Überwindung des platonischen Chorismos zwischen Ideen- und Phänomenwelt. Die anamnetische Retrospektive der Malerinnen und Maler ist ein kreatives Gedächtnis,7 das sich eben dadurch auszeichnet, nicht abzubilden, sondern einen Aufschub zu ermöglichen, der vom Modell entfernt, um es auf der Leinwand entstehen zu lassen. Dies ist nicht nur auf das Selbstporträt beschränkt: Wenn die Malerinnen und Maler eine Person porträtieren, müssen sie im Akt des Malens ebenso ihren Blick abwenden, wie wenn sie einen Apfel malen. Bilder oder Kunst sind daher keine Reproduktion, »sondern Produktion bis hin zur Erfindung, zur Ein-Bildung«8 . Im Selbstporträt zeigt sich diese Abkehr und die Aperspektive aber besonders deutlich, da sich die Malerinnen und Maler im Moment des Malens schon immer in einer anderen Position befinden als in derjenigen, die sie an sich selbst beobachtet haben: Das Bild, das sie malen, entspricht nicht dem Bild, das sie im Akt des Malens abgeben.9 Im Akt des Porträtierens ist die Wiedererinnerung bereits eingeschrieben, verbunden mit einem kreativen Akt. Von noch größerer Brisanz ist die Wiedererinnerung und die damit einhergehende Annahme einer referentiellen Identität für die Seite der Rezeption, auf der sich eine scheinbar banale Problematik offenbart: Die Mehrheit der Betrachtenden hat Lucian Freud nie zu Gesicht bekommen, weshalb es unmöglich ist, ihn auf
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In der Zeichnung und der zeichnerischen Malerei kommt es noch zu einer Steigerung: Der Strich entzieht sich dem Feld des Sehens nicht nur, weil er in der Darstellung selbst nicht sichtbar ist, sondern weil er gar nicht zur Ordnung des Spektakels, der spektakulären Objektivität gehört. (Derrida 1997, 49) Derrida 1997, 51. Derrida 1997, 51. Wetzel 1997, 132. Besonders deutlich wird dies im Selbstporträt der nackten Malerin Xenia Hausner (Abb. 6): Wenn sich Xenia Hausner als nackte Malerin nach getaner Arbeit porträtiert, so ist dies ein Widerspruch in sich: In dem Moment, in dem sie in den Spiegel blickt, kann sie die Pose der Malerin nach dem Malakt zwar einnehmen, danach muss sie sich aber abwenden, zum Pinsel greifen und malen. Der Malprozess ist also noch gar nicht abgeschlossen.
Wiedererinnern
dem Bild wiederzuerkennen. Das Kriterium des Wiedererinnerns kann nur greifen, wenn ein Vergleich möglich oder sichergestellt wird. Aus diesem Grund kann sich die Wiedererkennbarkeit eines Porträts nicht vorrangig durch eine Teilhabe im Sinne der platonischen Methexis auszeichnen, nicht durch einen Überflug über die Ideen10 , nicht durch Wiedererinnerung an das Modell und auch nicht durch Ähnlichkeit11 . Ein Porträt kann in den meisten Fällen, so Derrida, nicht aufgrund bildinterner Kriterien als Selbstporträt klassifiziert werden, sondern anhand eines im Bild nicht sichtbaren Referenten, anhand äußerer, bildexterner Indizien wie dem Bildtitel.12 Der Entzug des Strichs fordere die Rede – »Rhetorik des Strichs oder Zugs«13 . Die Identifikation von Dargestelltem und Malerin bzw. Maler bleibt daher »eine wahrscheinliche, d.h. unsichere und jeder inneren Lektüre entzogene, sie bleibt ein Gegenstand der Schlußfolgerung und nicht der Wahrnehmung, der Kultur und nicht der unmittelbaren oder natürlichen Anschauung […]. Deshalb wird man von einem Werk immer nur hypothetisch sagen können, es sei das Selbstportrait eines Selbstportraitisten. Ob es dies ist, hängt stets von der Rechtswirksamkeit eines Titels ab, d.h. von einem sprachlichen Ereignis, das nicht zum Inneren des Werks gehört, sondern nur zu einem parergonalen Rand. Die Rechtswirksamkeit beruft sich auf das Zeugnis eines Dritten, eher auf sein gegebenes Wort und sein Gedächtnis [mémoire] als auf seine Wahrnehmung.«14 Die Identifizierung des Dargestellten im Falle des Selbstporträts braucht nach Derrida die Legitimation von außen – diese beruht auf dem Zeugnis und dem Gedächtnis eines bzw. einer Dritten. Damit wird die Bezogenheit auf ein Modell außerhalb des Bildes, die Verweisinstanz, die Präsenz oder Idee, welche im Bild abgebildet wird, zwar vermieden, aber auch der Titel eines Bildes muss von jemandem gegeben sein – einer außerbildlichen Instanz, welche das Bild prägt und reguliert. Das Selbstporträt von Lucian Freud – »Painter Working, Reflection« – tituliert sich nicht offen als Selbstporträt. Freud könnte genauso gut einen anderen Maler nackt beim Malen gemalt haben. Durch die Attribute der Palette und des Malmessers kann die dargestellte Figur als Maler identifiziert werden, aber nicht unbedingt als Lucian Freud. Einzig die Palette, die der nackte Maler den Betrachtenden frontal entgegenhält, könnte Hinweise auf ein Selbstporträt liefern: Darauf
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Plat. Phaidr. 247c3-250b1. Damit widersprechen Nancy und Derrida den Bildtheorien analytischer (u.a.: Lopes 1996, 149-152; Wollheim 2001, 13) wie auch anthropologischer Tradition (u.a. Jonas 2006, 107), in denen eine enge Verbindung von Ähnlichkeit und Wiedererkennbarkeit angenommen wird. Derrida 1997, 67. Derrida 1997, 59. Derrida 1997, 67.
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sind Klumpen und Wülste von Farbe: Blau, Weiß, Gelb, Ocker. Sie finden sich sowohl im Inkarnat wie auch im Grund wieder, was darauf hindeutet, dass der Maler gerade dabei ist, dieses Bild anzufertigen. Alle diese Spekulationen bleiben jedoch unentschieden und für das Selbstporträt auch nicht entscheidend: Eindeutig ist jedoch der Akt des Malens, der ins Bild gebracht wird. In diesem Sinne kann Nancy mit Derrida hervorheben, dass im Selbstporträt gar nicht so sehr die Darstellung und die Betitelung, die Zeugenschaft von außen im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die Darstellung des Aktes oder der Prozess der Darstellung.15 Im Selbstporträt werde daher weniger eine bestimmte Person porträtiert, vielmehr ereigne sich eine Offenlegung: eine Offenlegung des Körpers, der Züge, der Formen, der Falten, eine Offenlegung der Palette, der Farben. Was in einem Porträt gezeigt wird, sei nicht die reale Person, sondern vielmehr die Aussetzung, die Öffnung, das In-Kontakt-Treten.16 Der Status des Porträtierten werde dabei einzig von der malerischen Darstellung bedingt. Es handle sich um eine pikturale Identität und keine referentielle17 : Während das zur Identifikation dienende Bild immer auf sein Modell bezogen ist, bezieht sich das Porträt nur auf sich selbst. Derridas Konzept des Selbstporträts liegt darin, die ursprüngliche Blindheit des Bildes und der Malerin bzw. des Malers zu zeigen. Aus diesem Grund wird im Bild keine ursprüngliche Präsenz restituiert, sondern die différance des abwesenden Gegenstandes als Bahnung oder Aufschub des Sehens im Bild gezeigt.18 Derrida denkt seine Bildtheorie damit aus der Negativität und Abwesenheit des Entzugs und des Aufschubs heraus. Nancy versucht hingegen, die Präsenz des Bildes selbst zu fassen und Bild sowie Selbstporträt in ihrer ihnen eigenen Positivität zu denken: Porträtieren bedeute demnach bezugnehmend auf die wörtliche Bedeutung von (pro)trahere, »die Gegenwart nach draußen ziehen, extrahieren – auch wenn es die Präsenz einer Absenz ist«19 . Damit drückt er ein Verhältnis aus, das zu jenem, wie es Derrida versteht, gerade umgekehrt ist. Das Porträt ruft die Präsenz als Präsenz zurück und zwar in einem doppelten Wortsinne von Erinnern, wie Nancy ausführt: zum einen ein Zurückholen aus der Abwesenheit und zum anderen ein Gedenken in Abwesenheit.20 Das Porträt ist kein Denkmal und die Porträtmalerei nicht entstanden, um Erinnerungen an geliebte Personen wachzuhalten, wie es die Interpretationen des Mythos der Butades und des Narcissus nahelegen. Wenn
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Nancy 2007a, 27. Nancy 2007a, 23. Nancy 2007a, 17. Wetzel 1997, 133. Nancy 2007a, 34. Frz.: »tirer la présence au dehors – fût-elle présence d’une absence« (Nancy 2000b, 51). Nancy 2007a, 42.
Wiedererinnern
Butades und Narcissus ihrer Liebe folgend versuchen, den Geliebten festzuhalten, um ihn während seiner Abwesenheit präsent zu machen, so ist dieses Aufbewahren kein Wiedererinnern im Sinne einer referentiellen Identität oder der platonischen Anamnesis. Es handelt sich dabei vielmehr um die Anwesenheit des Abwesenden, eine Präsenz also in absentia, die nicht nur die Gesichtszüge wiedergibt, sondern die Präsenz als abwesende vergegenwärtigen soll.21 Wiedererinnern meint dabei sich zurückzuerinnern oder zurückzugehen zu jenem stets gegenwärtigen Grund der Abwesenheit selbst. Es handelt sich um eine »hypermnestische (oder amnestische) Anamnese«22 und nicht um eine Anamnesis im platonischen Sinne. Gleichwohl nimmt Nancy damit aber Bezug auf Platon: Während die platonische Anamnesis die Wiedererinnerung an das in der Seele immer schon vorhandene Wissen beschreibt, zielt Nancy auf ein Übermaß an Erinnerung (Hypermnesie) oder eine Störung bzw. den Verlust der Erinnerung (Amnesie) ab. Die Malerei verlässt die Abbildung, wird kreativ, indem sie eine Präsenz hervorzieht: Die Präsenz zu sich selbst zurückholen – um nichts weniger gehe es in der Malerei.23 Das Porträt ergibt sich daher nicht aus einer vorausgesetzten Identität, deren Erscheinungsbild es wiedergibt. Vielmehr ergibt es sich aus einer Identität, die aufscheint, indem sie sich entzieht. Dieser Entzug akzeptiert die Alterität und widersetzt sich der Identifikation in einem zweifachen Sinne: zum einen der Identität mit sich selbst und zum anderen der Identität eines Selbst mit dem anderen Selbst. Die Identifikation kann weder gesetzt noch vorausgesetzt werden, sie kann auch nicht deduziert oder geschlussfolgert werden. »Sie bleibt immer entfernt und fließend, mit-geteilt und flüchtig zugleich.«24 So auch im Bild des nackten Malers, Lucian Freud: Er hebt den Arm, so als setze er gerade zu einem Pinselstrich an. Diese Berührung auf der Oberfläche bleibt aber notwendig offen, findet nie statt: Fast könnten sich das Malmesser, die Finger, die Hand in das Gemälde, das gerade gemalt wird, einfügen. Fast ein Aufgehen mit sich beim Malen. Fast – wie bei Narcissus, der in seinem Bild den Anderen zu berühren versucht, aber immer ins Wasser eintaucht. Nie kommt es zu einem Zusammenfall, die Identität bleibt immer aufgeschoben und entzogen – nur fast scheint er berührt 25 . Durch den Aufschub im Akt des (Selbst-)Porträtierens kommt es damit zwar zu einer Umarmung, die aber letztlich scheitert. In ihr wird nicht die Identität in Erinnerung gerufen, sondern es kommt zum In-Erinnerung-Rufen einer unvordenklichen
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Nancy 2007a, 35. Nancy 2007a, 37. Frz.: »anamnèse en quelque sorte hypermnésique (ou amnésique)« (Nancy 2000b, 56). Nancy 2007a, 38. Nancy 2015, 75. Frz.: »elle reste lointaine, flottante, à la fois partagée et fuyante« (Nancy 2014c, 94). Ov. met. 3,464.
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Intimität: Die Identität kann vergangen sein, die Intimität ist dagegen stets gegenwärtig.26 Aus korporaler Perspektive gedacht, versteht sich Wiedererinnern als Entstehenlassen von Intimität. Aber noch mehr ist das Porträt ein Aufruf zu dieser Intimität, indem das Bild oder das Porträt die Betrachtenden vor sich versammelt, vor sich zitiert, in seinen Sog zieht.27 Der Kontakt findet zwar statt, führt aber zu einer Differenzierung, die Identität aufschiebt und trotzdem Intimität schafft. Dabei werden Konzepte wie Identität, Wiedererinnung oder Ähnlichkeit nicht gänzlich aufgehoben, sondern sie bleiben mit einer Verschiebung weiterhin zentrale Charakteristika von Bildlichkeit. Sie zeichnen sich durch eine heterologe Struktur aus, um dem prekären ontologischen Status von Bildlichkeit gerecht zu werden.
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Nancy 2007a, 40. Nancy 2007a, 40-41. An dieser Stelle steht in der deutschen Übersetzung, »dass wir zu einer solchen Innerlichkeit aufgerufen« (Nancy 2007a, 40) sind, während im Französischen von »un rappel à cette intimité« (Nancy 2000b, 62) gesprochen wird. Die Vertauschung von Innerlichkeit und Intimität ist gerade im Kontext von Nancys Philosophie des Kontakts und der Berührung, in der die Oberfläche, die Grenze und Äußerlichkeit betont werden, missverständlich.
Subjekt als Sujet »The way you paint yourself, you’ve got to try and paint yourself as another person.«1
Trotz reger Pinselaktivität malt Lucian Freud sehr langsam. Zug um Zug, Pinselstrich um Pinselstrich lässt er sich selbst auf der Leinwand erscheinen. Freuds Arbeitsweise hat sich im Laufe der Jahre stark verändert, die hohe Aufmerksamkeit für das Sujet ist dabei aber ungebrochen geblieben.2 Es ist egal, welches Sujet er nun malt, sei es ein Blättermeer oder sich selbst, das Sujet muss aufmerksam beobachtet werden: »Wenn dies rund um die Uhr gewährleistet ist, wird das Sujet – er, sie oder es – schließlich alles preisgeben, und genau das ist die notwendige Voraussetzung«3 . Dieser Prozess ist »auf eine so gnadenlose Weise intim«4 , dass er einer totalen Exposition gleicht. Ein totales Aussetzen wird von Lucian Freud verlangt. Das gilt für alle seine Modelle, also auch für ihn selbst. Freuds Selbstporträt zählt zur Gattung des autonomen Porträts5 , dessen Herausbildung historisch betrachtet in enger Verbindung zur Schild- und Wappenmalerei steht, damit verbunden ist ein signifikanter Wandel im Verhältnis von Körperbegriff und Bildbegriff6 : Während im Falle des Wappenschildes ein Zeichen in heraldischer Abstraktion nicht vom dargestellten Individuum handelt, sondern vom Träger einer familialen oder territorialen Genealogie, also einem Staatskörper, zeigt das autonome Porträt – als Folge einer langen Entwicklung – nicht mehr diesen sozialen Körper, diesen adelig genealogischen Körper, sondern einen bürgerlichen, physischen Körper. Das wird einerseits darin deutlich, dass mehr und mehr der Körper der dargestellten Person ins Bild gesetzt wird, dieser Körper aber anderer-
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Freud, zit. n. Howgate 2012, 34. Gayford 2013, 23. Freud, zit. n. Gayford 2013, 21. Gayford 2013, 113. Das autonome Porträt zeichnet sich dadurch aus, dass es sein eigenes Thema bildet, das heißt, es ist nicht eingebettet in einen allgemeineren Handlungszusammenhang, ist auf einem eigenen, transportablen Medium gemalt, von dem es inhaltlich und formal seine Prägung erhält. (Belting 2011, 115) Zu diesem Verhältnis siehe Belting 2011, 115-142; bes. 124-129.
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seits zum Träger einer Person wird, also ein Subjekt zum Ausdruck bringt.7 Belting fasst diesen komplexen Prozess prägnant wie folgt zusammen: »Der Subjektbegriff wurde etappenweise an einem Körperbegriff entwickelt, der gleichsam ›ins Bild gesetzt‹ wurde.«8 Der Körper dient dabei aber primär dazu, das Subjekt in seiner spezifischen Charakteristik hervortreten zu lassen. Das daraus resultierende autonome Porträt wird sodann näher bestimmt als das erkennbare Abbild, das um die dem Modell »eigenen individuellen Gesichtszüge«9 aufgebaut ist. Die dargestellte Person dürfe dabei so wenig als möglich in einen Handlungszusammenhang eingebunden sein und auch keinen Ausdruck zeigen. Das heißt, eine Person wird für sich als Individuum genommen und unabhängig von ihren Attributen, ihrem Status, Handlungen oder Beziehungen dargestellt. Es geht um die Darstellung der Person als solcher, in ihrem reinen Selbst und in ihrer Purität. Der Gegenstand des Porträts sei daher streng genommen das »absolute Subjekt: losgelöst von allem, was es nicht selbst ist, von jeder Äußerlichkeit befreit«10 . Besondere Brisanz bekommt dies im Selbstporträt, in dem der Maler bzw. die Malerin auch das Sujet des Porträts ist und damit sich selbst als Subjekt ins Bild setzt. Das Selbstporträt hat eine lange Tradition, aber spätestens mit der Verbesserung des sozialen Status der Künstlerinnen und Künstler wird es zu einem zentralen Thema.11 Die Frage, wann ein Porträt zu einem Selbstporträt wird, ist nicht eindeutig zu beantworten, dennoch gibt es eine Kernvorstellung dieser Darstellungskonvention, die Weinhart wie folgt zusammenfasst: »Diesen Kern bildet das autonome Selbstporträt in Form des gemalten Tafelbildes, das die Kunstgeschichte über unterschiedliche Zeitalter hinweg in auffallender typologischer Konstanz als klar umrissene Bildformel für die Aufgabe der Selbstdarstellung des Künstlers bewahrte – das Selbstporträt des Künstlers vor dem Spiegel. Unverwandt schaut er aus dem Bild. Sein Blick in den Spiegel wird zu dem Blick, der uns fixiert.«12 Diese Darstellungstradition weist große Parallelen zum Mythos des Narcissus auf und ist aufs Engste verbunden mit dem Spiegel als klassischem Instrument der Selbsterkenntnis – im Mythos erfüllt diese Funktion die Quelle. Beim Selbstporträt betrachtet die Künstlerin oder der Künstler die eigene Spiegelung und gewinnt
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Belting 2011, 115; 125-127; 134. Belting 2011, 134. Ullstein-Lexikon der Kunst 1972, 512. Nancy 2007a, 9. Frz.: »le sujet absolu: détaché de tout ce qui n’est pas lui, retiré de toute extériorité« (Nancy 200b, 12). Zur Geschichte des Selbstporträts geben u.a. Hall (2016) und Calabrese (2006) Auskunft. Der spezifisch weiblichen Geschichte des Selbstakts gehen Borgmann/Laukötter (2013) nach. Weinhart 2004, 30.
Subjekt als Sujet
eine Erkenntnis bzw. Ansicht, die im Bild nachvollziehbar gemacht werden soll.13 Häufig wird das Selbstporträt dabei als privilegierter Ort angesehen, an dem der Künstler oder die Künstlerin eine Darstellung von sich entwirft, die den Betrachtenden Einblicke in Biographie, Selbst- und Weltsicht gibt. Wenn Narcissus sich über die Quelle beugt und darin sein Bild sieht, so ist dies ebenfalls ein Bild seiner selbst: Er malt nicht, er ist gespiegelt, gleichwohl ist er ausgestellt, exponiert. Dadurch tritt er in eine Beziehung, und zwar mit sich selbst. Er erkennt sich aber nicht, sondern ist sich durch die Ausstellung im Bild fremd geworden. Auch Lucian Freud sieht sich gespiegelt. Ausgedrückt wird dies explizit durch das Wort Reflection im Titel des Porträts: »Painter Working, Reflection« – ein Titel, den er in unterschiedlichen Abwandlungen sehr häufig für seine Selbstporträts verwendet.14 Die Reflexion im Spiegel ist damit angesprochen, aber gleichzeitig auch der Prozess des Porträtierens als Reflexionsprozess – nicht im klassischen philosophischen Sinne, sondern in einem malerischen: Im Porträt wird nicht der wahre oder wirkliche Charakter des Dargestellten wiedergegeben, sondern eine Charakterisierung des Modells hervorgezogen. Das heißt, im Zuge einer selektiven, reflektierten und befragenden Beobachtung15 – oder eben einer Reflection – wird in den mühsamen und langwierigen Sitzungen Freuds ein Charakter, eine Selbigkeit, eine Eigenheit hervorgezogen, indem sich das Modell aussetzt, preisgibt, in Kontakt tritt und sich damit von sich entfernt, sich fremd wird. Dabei kann es viele Charakterisierungen geben oder, anders formuliert, das Porträt kehrt immer wieder einen neuen Charakter heraus, neue Züge hervor. Diese Charakterisierungen stellen das Modell am Bild dar, entziehen es aber gleichzeitig von sich. Die Autoreferenz, die im Selbstporträt besteht, wenn die Malerinnen und Maler sich selbst malen, wird daher ständig von einer Allo-Relation heimgesucht.16 Das (Selbst-)Porträt ist damit »die Repräsentation des Selben, das der Andere in sich selbst ist, nur als die Präsentation des Anderen, die dieser Andere nicht nur für mich, sondern auch in sich und für sich ist. Selbigkeit setzt Alterität voraus. Indem er sich als Anderer zeigt, entzieht sich der Andere in seinem Porträt. Er absentiert sich in seinem Verhältnis
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Weinhart 2004, 7. So betitelt Freud auch die im Umfeld von »Painter Working, Reflection« entstandenen Selbstporträts von 1996, 2002 und 2003-2004 mit »Self-Portrait, Reflection«. Nancy 2015, 17. Flatscher 2011, 332.
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zu sich selbst, das ihn im selben Zuge anders und selbig macht für uns und für ihn selbst.«17 Mit diesem Konzept des Selbstporträts ist aber nicht nur ein Gegenmodell zu klassischen Definitionen des Porträts als Darstellung einer Person in ihrer Selbstheit formuliert. Darüber hinaus wendet es sich auch gegen klassische Definitionen des Subjekts als das Zugrundeliegende, indem es die Alterität im Subjekt vorstellt18 : Sein Selbst ins Bild zu bringen, geht einher mit einer radikalen Aussetzung seiner selbst, einer Transformation und einer Fremdwerdung – man ist nicht mehr bei sich, sondern außerhalb seiner selbst, sich selbst fremd. Jeder Pinselstrich ändert das Modell, fügt ihm eine Alterität hinzu und zieht es gleichsam hervor, schafft es.19 Damit zeigt das Porträt, dass das Selbstsein nur durch Fremdsein möglich ist bzw. In- oder Bei-sich-Sein nur als Außer-sich-Sein verstanden werden kann. Auf einer ontologischen Ebene gesprochen meint Existieren damit nicht, in seiner Eigentlichkeit und damit seiner unmittelbaren Präsenz zu sein. Existieren bedeutet, seine Selbstheit als Fremdheit zu erfahren. Daraus folgt konsequenterweise, dass das menschliche Sein nicht als Essenz oder Subjekt im Sinne eines Wesens, einer Einheit, einer Eigentlichkeit oder Selbstheit gefasst werden kann, sondern durch das Mit-sein, durch das Ausgesetztsein und das In-Kontakt-Kommen geschieht, womit 17
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Nancy 2015, 75-76. Frz.: »la représentation du même que l’autre est en lui-même qu’à la condition d’être la présentation de l’autre que cet autre est non seulement pour moi mais aussi bien en soi et pour lui- même. Une mêmeté suppose une altérité. Se montrant autre, l’autre se retire au fond de son portrait: il s’absente dans son rapport à soi qui, d’un même mouvement, le fait autre et même pour nous et pour lui.« (Nancy 2014c, 94-95) Aus diesem Grund vermeidet Nancy auch die Verwendung des Begriffs Subjekt und spricht eher von Selbst (soi, ipse, autos), dem Existierenden oder der Singularität. (Heikkilä 2007, 14) Nancy 2015, 33. In dieser Hinsicht liegt der wohl größte Unterschied zur Theorie des Bildakts von Bredekamp: Bei Bredekamp wird dem Bild die Fähigkeit zugestanden, aktiv zu handeln und damit eine Wirkung auszulösen. Das Bild wird dabei nicht als Medium oder Instrument gesehen wie die Sprache in klassischen Sprechakttheorien, sondern das Bild wird an die Stelle der Sprechenden gesetzt. (Bredekamp 2013, 51) Das hat aber zur Konsequenz, dass das Bild in den Status eines Subjekts erhoben wird, das eine Wirkung auf ein anderes Subjekt, die Betrachterin/den Betrachter, auslösen kann. Diese Annahme ist problematisch und kann auch nicht zur Gänze aufgehoben werden, wenn Bredekamp sie dahingehend entschärft, dass das Bild stumm bleibe und er keine Vitalismustheorie anstrebe. (Bredekamp 2013, 52) Auch sein Bezug auf Platon, dass das Bild nicht wirklich seiend und dennoch wirklich sei (Bredekamp 2013, 52), macht zwar den prekären Status des Bildes deutlich, der dem klassischen Subjektbegriff nicht entspricht, tut aber damit der Subjektsetzung des Bildes keinen Abbruch. Für Nancy hingegen wird im Bild und durch den künstlerischen Akt das Subjekt erst hervorgezogen. Dafür ist kein anderes, bereits gegebenes und in sich geschlossenes Subjekt nötig und auch dem Bild kommt kein Subjektstatus zu. Vielmehr potenziert das Porträt oder Bild einen ontologischen Grundzug des Existierens, der im Berühren und im Ausgesetztsein liegt. Diese Exposition wird nicht von einem Subjekt bewusst gesteuert, sondern findet auf einer präsubjektiven Ebene statt, auf deren Basis ein Selbst entstehen kann.
Subjekt als Sujet
stets eine Berührung mit dem Fremden verbunden ist. Wenn etwa die Höhlenmalerin oder der Höhlenmaler die Hand auf die Felswand legt, ein farbiges Pulver um sie herum pustet und nachher den Umriss der Hand betrachtet, dann kommt es nicht zu einer völligen Gegenwart, der sich das Subjekt versichert, vielmehr wird so die Fremdheit des Subjekts exponiert und akzentuiert.20 Der Handabdruck in den prähistorischen Höhlen21 ist daher ein erstes Selbstporträt: »die Hand des Malers, dieses erste Selbstporträt«22 . Bei der Erfindung des (Selbst-)Porträts habe sich die Malerin bzw. der Maler nicht die Lust am Hervorbringen und Betrachten eines Bildes verschafft, sondern sich ihrer selbst versichert, aber nur indem sie sich auf die Wand und damit in eine Äußerlichkeit bringen, sich aussetzen, in Kontakt treten. Subjektsein ist daher durch eine sich eröffnende Beziehung ausgezeichnet, in der das Selbst nur insofern für sich ist, wenn es sich zu anderen verhält, in Kontakt tritt. Es ereignet sich durch das Hinausstehen seiner Ek-sistenz, ein Ausgesetztsein, eine Öffnung.23 Das Selbst erlebt die Alterität als zu sich zugehörig und sich selbst als Anderen. In-Beziehung-Treten als Veränderung vollzieht sich daher nicht zufällig mit dem Selbst, sondern ist ihm wesentlich.24 Auch Lucian Freud malt ein Selbstporträt. Dieses potenziert das erste Selbstporträt, indem es zeigt, dass der Maler dieses Bild malt. Der Malakt, der Akt des Hervorziehens des Selbst wird so ins Bild gebracht und damit auch die Simultaneität des Akts mit sich selbst exponiert. Dieser Akt des Malens ist immer in die Struktur des Selbstporträts eingeschrieben: Es malt die Exposition oder, anders formuliert, das Sujet des Porträts ist das Porträt, insofern dies Vor-Ziehen, Vor-Stellen und Hervor-Bringen heißt.25 Auf der Leinwand kommt es so zu einer Intensivierung dieser Öffnung, indem das Selbst ausgesetzt, seine Charakterisierung nach außen, auf die Oberfläche des Bildes gezogen wird. Das Selbst, das auf die Leinwand gebracht wird, zeigt sich in seiner konstitutiven Äußerlichkeit, seiner Ausgesetztheit, seinem In-Beziehung-Treten – und auch das Medium, die Leinwand, zeichnet sich 20 21 22
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Nancy 2010a, 58. Vgl. dazu das Kap. »Berühren als Konkretion des Mit-seins« im ersten Teil. Bosinski 2009, 46-49. Nancy 1999, 112. Frz.: »la main du premier peintre, le premier autoportrait« (Nancy 2001b, 124). Dieses Zitat erinnert an die Aussage von Cosimo de’ Medici, wonach gilt, ogni pittore dipinge sè, oder anders formuliert, jedes Porträt ist ein Selbstporträt, da sich unweigerlich die Gestik, der Charakter und die Physiognomik der Malerin bzw. des Malers darin finden. (Hall 2016, 72) Gleichwohl gelte der Satz auch in seiner Umkehrung – »jedes Selbstporträt ist zunächst ein Porträt«/»tout autoportrait est d’abord un portrait« (Nancy 2007a, 23/Nancy 2000b, 33-34) –, da Porträtieren immer schon das Ins-Werk-Setzen eines autos sei. (Nancy 2007a, 23) Flatscher 2011, 331. Siehe dazu auch Steinweg 2014, 199-209, bes. 206; 2009, 9-34. Nancy 2013, 94-95. Nancy sieht dies als eine Umwendung von Descartes’ »ego cogito, ergo sum« (Desc. Princ. I,7): Nicht das Denken konstituiert das Subjekt, sondern das In-BeziehungKommen. Heikkilä 2007, 230; 232.
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dadurch aus, keine Tiefe, kein geheimes Inneres zu haben, sondern nur Oberfläche zu sein: »Das Gemälde ohne Inneres ist unmittelbar die Innerlichkeit oder Intimität der Person, es ist letztlich das Subjekt seines Sujets: […] seine Selbstheit und seine Alterität in einer einzigen ›Identität‹ mit Namen Porträt. (Vielleicht lautet ihr Name noch allgemeiner Malerei […])«26 . Das Bild ist kein objekthaft Anderes, sondern es zeigt anderes, das allererst die Möglichkeit eines Selbst aufbrechen lassen kann, indem es eröffnet, aussetzt. Im Bild manifestiert sich so eine Alteritätserfahrung, die eine vermeintliche Geschlossenheit des Selbst konterkariert, indem es von einer Andersheit überstiegen wird, die es nicht begrifflich einzuholen vermag.27 Im Ausgesetztsein erfährt das Selbst, was es überhaupt heißt, ein Selbst zu sein – ein Selbst allerdings, das konstitutiv von einer Alterität durchfurcht ist und daher nie reines Selbst ist. Im (Selbst-)Porträt findet sich genau diese Erfahrung dargestellt: »Allein in der Malerei kommt so das Subjekt selbst zu Wort, und zwar ohne Stimme oder Sprache, in einer Weise, die ihm kein Diskurs verleihen kann, nicht einmal die Rede vom ›Subjekt‹. Was der Begriff Subjekt bezeichnet, zeigt sich hier mit einem Pinselstrich, in einem einzigen Zug: es geht nicht um Selbstbezug, kein simuliertes oder erinnertes Selbst, vielmehr zieht der Pinselstrich das Subjekt hervor und wendet es zugleich nach innen: innerliche Entzweiung in einem einzigen Strich, Momentaufnahme eines von vornherein verpassten Rendezvous, denn augenblicklich, mit demselben Strich, mit derselben Berührung der Leinwand, spannt sich darin eine ganze Welt auf, mit all ihren faszinierenden und beunruhigenden Aspekten. ›Kunst‹ ist der prekäre Name für diese andere Bewegung.«28 Die im Zitat angesprochene andere Bewegung des Porträts liegt also im Herausstellen und Herausziehen des Inneren, Eigentümlichen nach außen. Was wie ein Gegensatz wirkt, ist doch komplementär und findet sich vereinigt in einem einzigen 26
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Nancy 2007a, 18-19. Frz.: »Le tableau sans intérieur est l’intériorité ou l’intimité de la personne, il est en somme le sujet de son sujet: […] sa mêmeté et son altérité en une seule ›identité‹ dont le nom est portrait. (Peut-être, au-delà, ce nom est-il peinture en général […])« (Nancy 2000b, 27). Flatscher 2011, 330. Nancy 2007a, 52. Frz.: »Seule la peinture donne ainsi au sujet la parole propre et sans voix ni langage qu’aucun discours ne peut lui rendre, ni même ce nom de ›sujet‹. Ce qu’il désigne ou appelle se montre ici comme un seul trait: non pas un rapport à soi, ni semblance ni rappel de soi, mais le trait qui le tire au devant tout en le tournant au dedans: le trait unique d’une désunion intime, le plan d’éclipse d’un rendez-vous manqué d’avance, car il vire instantanément, du même trait, de la même touche du peindre, en espacement d’un monde, avec son attrait et son inquiétude. ›Art‹ est le nom fragile de cet autre rendez-vous.« (Nancy 2000b, 82) Die Übersetzung ist hier nicht einheitlich, da rendez-vous einmal wörtlich als Rendezvous wiedergegeben wird, beim zweiten Mal hingegen als Bewegung. Eine näher am Text orientierte Übersetzung könnte Begegnung lauten.
Subjekt als Sujet
Zug, dem Pinselstrich. Mit diesem Zug der Entäußerung prägt sich, bestimmt sich erst das Eigentümliche und Innerste des Subjekts. Das Porträt ist damit ein »Grenzkonzept«29 und ausgehend von ihm auch die Malerei und die Kunst: Sie bewegen sich zwischen Innen und Außen, Herausstellen und Eindringen. Das Bild wirkt zwar bewegungslos, aber diese Statik trügt: Es erweist sich als höchst beweglich, dynamisch und sogar flüchtig, fließend oder vergänglich, was auch Lucian Freud betont: »Stillness in painting is an illusion just as movement in a painting is an illusion. There is always a lot going on when you are painting a living person. One of the difficult things about portrait painting is that you must ask people to stay still, but they can’t, at least not completely. People are always in movement, even when they are asleep. Their breathing is movement. When you are looking very carefully, you see it and sense it. It isn’t as though you try to capture it. It just comes through in the painting. This is the reason why painting is different from a photograph.«30 Das Bild ist folglich nie unbeweglich, sondern fließend und damit eine Vollzugsform. Seine dünne Oberfläche, die bemalte Leinwand ist die Grenze oder der Übergang zwischen Herausstellen und Eindringen, Aufscheinen und Entschwinden, Selbst und Fremdem, Darstellung und Auflösung, Nähe und Entfernung. Das Selbstporträt zeigt und betont immer die notwendige Ausgesetztheit des Selbst und damit dessen prekären Status. Aus diesem Grund deutet Nancy auch den Mythos des Narcissus anders, als Derrida dies anhand der Zeichnung von Cigoli gemacht hat: An Narcissus zeige sich, so Nancy, die »Notwendigkeit, sich von der immer entfernteren, immer unsteteren und immer faszinierenderen Alterität und Alterierung dessen – der- oder desjenigen – ergreifen zu lassen, was man nicht aufhören kann sich als ein ›Selbst‹ vorzustellen, ein Selbst, das seine Selbigkeit im Grunde seines Bildes entzieht. Gerade dazu aber ist ein Bild bestimmt: sich selbst zu zeigen und den Entzug von dem, was es zeigt.«31 Das (Selbst-)Porträt ist damit, so Nancy, eine Offenbarung im Sinne einer Enthüllung, und zwar der Struktur des Subjekts: sein Charakter als sub-jectum, sein Untersich-Sein, sein In-sich- und sein Außer-sich-Sein, sein Ausgesetzt-Sein.32 Die Aufgabe des Selbstporträts kann folglich auch nicht darin liegen, den wirklichen Cha29 30 31
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Nancy 2015, 30. Frz.: »concept-limite« (Nancy 2014c, 37). Freud 2012, 216. Nancy 2015, 83. Frz.: »la nécessité de se laisser saisir par l’altérité et par l’altération toujours plus lointaines, plus erratiques et plus fascinantes de cela – celle, celui – qu’on ne peut cesser de s’imaginer comme un ›soi-même‹ et qui retire sa mêmeté au fond de son image. Mais c’est bien à cela qu’une image en général est destinée: à se montrer elle-même et le retrait de ce qu’elle montre.« (Nancy 2014c, 105) Nancy 2007a, 12.
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rakter, die Einheit, die Identität oder den unveränderlichen Kern einer Person ins Bild zu bannen. Es stellt vielmehr das Undarstellbare des Gesichts dar, zeugt von der »Vergänglichkeit, Ohnmacht und Unsicherheit einer Gestalt […], deren Ängste, Erwartungen und Begierden es ebenso demonstriert wie deren Verfließen, Verschwimmen und Ertrinken auf dem Grunde des Selbst.«33 Es ist Narcissus, der am Grund seines Selbst verfließt und dessen Bild an der Oberfläche des Wassers verschwimmt. Das Porträt hat das Aufscheinen des Entschwindens organisiert und hält dieses Entschwinden zur gleichen Zeit fest, in der es sich ihm fügt.34 Das Selbstporträt des Narcissus an der Wasseroberfläche entfernt ihn von sich – so weit, dass er sich als Anderen glaubt. Diesen Anderen will er berühren, ihn einholen, um seine Sehnsucht nach Nähe zu stillen. Im gleichen Moment entzieht sich der Andere aber wieder ein Stück und Narcissus wird auf sich selbst zurückgeworfen – er selbst, der der Andere ist. Und dieses Selbst versucht er erfolglos zu ergreifen. Aus diesem Grund hat der Mythos des Narcissus wenig mit dem Narzissmus im geläufigen psychologischen Sinne – verstanden als Selbstverliebtheit und Selbstbewunderung – wie auch im platonischen Sinne – verstanden als Selbstverblendung zu tun. Narcissus in seiner Ausgesetztheit und Ausgestelltheit ist die Leitfigur des Selbstporträts und der Porträtmalerei.
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Nancy 2015, 77. Frz.: »du passage, de l’évanouissement, de l’incertitude d’une figure dont en même temps il atteste la hantise, l’attente, le désir, ou bien le flottement, la fluidité et la noyade au fond de soi« (Nancy 2014c, 96-97). Nancy 2015, 71.
Im Geflecht der Blicke »Ich werde zum Augenhintergrund des Malers«1 .
Narcissus blickt in den Fluss und damit in sein eigenes Spiegelbild. Was er darin sieht: vermutlich frontal ausgerichtete, aufgerissene Augen. Genauso blickt es zurück. Der nackte Maler blickt in den Spiegel. Konzentriert, musternd und unbarmherzig – so blickt er und so blickt es ihn aus dem Spiegel heraus an, in welchem er sich betrachtet, um sich selbst zu malen. Narcissus wie auch der nackte Maler bekommen also ihr Gesicht und ihren Körper gespiegelt, sie stehen sich selbst gegenüber, allerdings nicht in ihrer Selbst-, sondern in ihrer Andersheit: Narcissus starrt sich an, erkennt sich aber nicht in seinem Abbild. Der nackte Maler starrt in den Spiegel und sieht sich dabei schon als Betrachter seiner selbst – es ist die gleiche Position, die später die Betrachtenden im Museum einnehmen werden. Das heißt, während des Malakts nimmt Freud schon den Blick der Betrachtenden des Gemäldes vorweg. Er sieht sich selbst mit den Augen der Anderen – oder, anders formuliert, aus seinen Augen blickt ein Anderer.2 Er befindet sich daher in einer ähnlichen Situation wie Narcissus, dem aus der Spiegelung des Wassers zwar sein eigenes Gesicht entgegenblickt, das dennoch ein Anderer für ihn ist. Die Selbstbetrachtung bedeutet eine Herausforderung: Freud gibt offen zu, dass er mit dem Prozess der Selbstdarstellung sein ganzes Leben hindurch gerungen hat. Auf die Frage, ob er selbst ein gutes Modell für sich sei, antwortet er: »Nein. Ich kann die Information, die ich bekomme, wenn ich mich anschaue, nicht akzeptieren, und da wird es schwierig.«3 Trotzdem mustert er sich im Spiegel minutiös und schonungslos – es ist dies ein Blick voll von technisch motivierter Aufmerksamkeit, zugleich stechend, erschöpft, schamvoll, unsicher. Genau dieser Blick wird nun durch die Konstellation des Bildes auch uns, den Betrachtenden, von dem nackten Maler zugeworfen: »[D]er ›Selbe‹ wird somit ›ein Anderer‹, und im ›selben‹ Augenblick betrachtet er auch einen zukünftigen Betrachter des Bil-
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Nancy 2006a, 23. Frz.: »Je deviens le fond de l’œil du peintre« (Nancy 2003c, 26). Damit eng verbunden ist das von Lacan (1991, 61-70, bes. 67) beschriebene Spiegelstadium. Freud, zit. n. Haag/Sharp 2013, 212.
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des«4 , der wiederum dem Blick entgegnet, indem er seinen Blick auf das Bild wirft. Der stechende, schonungslose, erschöpfte Blick des Malers in den Spiegel wird von der Figur am Bild auf die Betrachtenden geworfen. Das Gemälde versenkt so uns selbst und unser Sehen in einen Anblick, der aus den Betrachtenden das Sujet der Malerei macht: Maler und Betrachtende.5 Das Selbstporträt besteht dann »vor allem darin, dem Betrachter, dem Museumsbesucher, dem Sehenden, der blind macht, seine Stelle zuzuweisen, d.h. sie zu beschreiben, und zwar nach Maßgabe des Blicks eines Zeichners, der sich […] nicht mehr sieht, da der Spiegel notwendigerweise durch den Adressaten ersetzt wird, der ihm gegenübertritt, durch uns also«6 . Die Betrachtenden sind somit immer schon vorausgesetzt, eingeschrieben in das Selbstporträt, wodurch sie zum konstitutiven Teil davon werden. Es handelt sich hierbei um eine »performative Fiktion, die den Betrachter in die Signatur des Werks einbezieht«7 . Das heißt, in die Struktur des Selbstporträts ist notwendig das Andere eingeschrieben und noch mehr: In die Struktur des Bildes sind die Anderen, die Betrachtenden, immer schon eingeschrieben. Im eigenen Blick aus dem Spiegel blickt bereits der oder die Andere zurück: »Das Selbstportrait eines Selbstportraits kann dies also nur für den anderen sein, für einen Betrachter, der die Stelle eines einzigen Brennpunktes einnimmt, der sich seinerseits im Zentrum dessen befindet, was ein Spiegel sein müßte.«8 Die Betrachtenden treten an die Stelle des Spiegels, wodurch sie ihn aber auf gewisse Weise seiner Spiegelfunktion berauben und ihn trüben. Sie produzieren im Gegenzug eine eigene Spekularität, eine eigene Spiegelung, ein eigenes Maß von Glanz an ihrer Oberfläche. Die Malerin bzw. der Maler wird so blind für das eigene Spiegelbild, sieht sich mit den Augen der Betrachterin oder des Betrachters und kann sich so ins Werk, ins Bild setzen.9 Für die Betrachtenden bedeutet dies im Umkehrschluss, dass sie anstelle des Spiegels eingesetzt werden, den nackten Maler aber nicht mehr sehen, da er ja in dem Moment, in dem sie das Bild betrachten, nicht mehr da ist. Sie sehen ihn nur mehr auf dem Bild. Das heißt, dass wir »das Objekt, das Subjekt und den Signierenden des Selbstportraits des Künstlers als Selbstportraitisten nicht mehr identifizieren können.«10 Ein komplexes, bewegliches und kraftvolles Geflecht von
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Nancy 2007a, 28. Frz.: »[L]e ›même‹ qui devient ainsi ›autre‹, et il regarde aussi, du ›même‹ coup, un futur spectateur du tableau« (Nancy 2000b, 42). Nancy 2016, 31. Derrida 1997, 64. Derrida 1997, 68. Derrida 1997, 63-64. Derrida 1997, 64. Derrida 1997, 64.
Im Geflecht der Blicke
Blicken: Der Blick des Porträts betrachtet sich selbst, den Maler beim Malen und die Betrachtenden des Bildes. Der Blick, den das Selbstporträt des nackten Malers seinen Betrachtenden zuwirft, ist dabei weder wahrnehmungstheoretisch noch phänomenologisch zu verstehen. Er steht zudem im Gegensatz zum zielgerichteten optischen Sehen etwa der Zentralperspektive. Der Blick beinhaltet neben der Sicht auch immer die Rücksicht und damit neben der Aisthesis immer auch das Moment einer ursprünglichen Ethizität.11 Indirekte Bestätigung erhält diese Deutung durch die Arbeitsweise von Lucian Freud, wenn es heißt: »I don’t try to represent what I think I know about them [the models, J. M.]. I would rather learn something new. Doing a portrait is about seeing what you didn’t see before. It can be extraordinary how much you can learn from someone, and perhaps about yourself, by looking very carefully at them, without judgement.«12 Die Verwendung von see/sehen und look/blicken ist dabei aufschlussreich: Um nicht bloß etwas wieder zu sehen, sondern etwas zuvor Ungesehenes zu sehen, ist das Blicken notwendig. Während beim Sehen Gegenstände erfasst, erkannt und eingeordnet werden, kommt es beim Blicken zu einem verstärkten In-Beziehung-Treten zur Welt, einer Öffnung, einem Ausgesetztsein.13 Der Prozess des (Selbst-)Porträtierens erfordere stets eine besondere Achtsamkeit auf das Modell bzw. auf sich selbst – Freud betont diese Vorsicht, mit der man dem Gegenüber anblickend begegnen müsse, um nicht bloß zu repräsentieren, zu sehen, was man schon wisse. Aber nicht nur der Maler blickt, sondern auch das Porträt: Der Blick des Porträts sucht einen anderen Blick, der sich auf ihn richtet. Die Figur des nackten Malers blickt die Betrachterin und den Betrachter nicht direkt an, sein Blick geht ganz leicht nach rechts unten. Dieser Blick des Porträts fordert zur Begegnung auf, er verlangt Blickkontakt – sucht Möglichkeiten, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der Kontakt zu den Betrachtenden führt dazu, dass sich diese ebenfalls öffnen, 11
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Waldenfels 1999, 128; 2006, 103-106. Nancys etymologische Deutung des Verbes regarder teilt diesen Ansatz: Demnach leitet es sich von garder her, das wieder vom Germanischen wardôn stammt, was aufpassen, achtgeben, bewachen, Sorge tragen bedeutet. (Nancy 2007a, 51) Freud 2012, 210. Nancy 2007a, 47. Theorien des Blickes wurden in der Forschung zum Bild ausgehend von Sartres Unterscheidung zwischen Sehen (aktiver Akt) und Blicken als passiver Akt des möglichen Angeblicktwerdens (1994, 457-538) vermehrt konzipiert. Die daraus entstehenden Phänomenologien der Bilderfahrung gehen davon aus, dass es die Präsenz ist, die eröffnet und nicht rein der Entschluss des Subjekts, das etwas sehen will, was Bildern den Status eines passiven Objekts bescheinigen würde. (Boehm 2001a, 4) Mit diesem Phänomen des Angeblicktwerdens durch Dinge bzw. Bilder haben sich Jacques Lacan (1973, bes. 89), Maurice Merleau-Ponty (1994) ebenso wie Georges Didi-Huberman (1999b) beschäftigt. Die beiden Letztgenannten versuchen überdies, dem Sehen einen synästhetischen Aspekt – vor allem durch Taktilität – zu verleihen. (Merleau-Ponty 1994, 177; Didi-Huberman 1999b, 235) Siehe dazu auch Waldenfels 2001, 14-31 sowie Belting 2005, 50-58; 2006, 121-144; 2007b, 49-75.
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entziehen, begegnen: Wenn sich das Subjekt im Porträt entzieht, dann um mit den Betrachtenden seine Fremdheit zu teilen, die auch diejenige der Betrachtenden ist.14 Es führt damit zur Entzogenheit oder »Abwesenheit des eigenen Gesichts, zur Feststellung, dass es sich selbst voraus ist«15 . Mein Selbst zeichnet sich ebenfalls dadurch aus, dass mein Bild von mir, mein Gesicht, für mich abwesend und außerhalb meiner selbst ist. Es ist nicht mein Spiegelbild, sondern ein Porträt, das vor mir hergetragen wird und mir selbst stets voraus ist. Das Porträt porträtiert genau dieses Voraussein und diesen Vorsprung.16 Im Blick des Porträts wird folglich deutlich, wie ein Bei-sich-Sein erst in jenem Außer-sich-Sein, Sich-voraus-Sein möglich ist: Es zeigt ein Gesicht, das sich selbst nicht kennt, das aber wachen Auges mit der Welt in Beziehung tritt, aus sich heraustritt. Im Blickgeflecht bringen Bilder hervor, sind wirklichkeitskonstituierend und nicht bloß selbst hervorgebracht – hierin liegt die performative Ebene17 , die der Struktur des Porträts eingeschrieben ist und Bilder als Vollzugsformen charakterisiert. Aus diesem Grund werden Porträts häufig auch um den Blick herum angeordnet: die Augen in Zentralstellung, die senkrechte Mittelachse des Bildes schneidet eines davon. Der nackte Maler: Er malt sich selbst, mustert sich im Spiegel, bannt sich ins Bild, versteinert seinen Körper, sein Gesicht, seinen Blick, seine im Prozess des Selbstporträtierens sich ständig in Bewegung befindlichen Augen: ein Meisterstück des genauen Sehens, des Erfassens. Der Akt des Malens kommt zum Stillstand – ebenso wie das Sehen, das zum Blick wird, der sich verliert, aber nach außen tritt,
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Derrida 1997, 69-70. Nancy 2007a, 32. Frz.: »l’absence du visage propre, avec son être-en-avant-de-soi« (Nancy 2000b, 48). In der deutschen Übersetzung wird das Wort Feststellung hinzugefügt, das im französischen Text nicht enthalten ist und eine rationale Erkenntnis suggerieren könnte. Eine wortwörtlichere Übersetzung könnte lauten: mit seinem Sich-selbst-voraus-Sein. Nancy 2007a, 32. Nancy zitiert in diesem Zusammenhang einen anderen Maler, Max Imdahl, der dies besonders hervorhebt: »Der Beschauer ist […] in der Anschauung des Bildes provoziert zu einem Akt des Selbstseins, nämlich sein Ich allein in sich selbst aufzusuchen.« (Imdahl 1996, 416) Wulf/Zirfas 2005, 7. Zur Geschichte des Begriffs der Performativität siehe Krämer (2004, 1920), die drei Stadien unterscheidet: die universalisierende Performativität nach Austin und Searle, die iterabilisierende Performativität, die sie vor allem an der Philosophie Derridas festmacht, und die korporalisierende Performativität, die sehr nahe an den Künsten, vor allem der Performance-Kunst, orientiert ist. Auch Nancys Ansatz ließe sich dieser dritten Stufe der Performativität zurechnen, da bei ihm die Infragestellung des Repräsentationsbegriffes ebenfalls nicht auf einer zeichentheoretischen Ebene verläuft, sondern über die Präsenz des Körperlichen. Siehe dazu auch Wulf/Zirfas (2005, 8-14), die vier entscheidende Einflussfaktoren für die Theorie der Performativität besprechen: die performative Sprechaktphilosophie von John Austin, die Transformationsgrammatik von Noam Chomsky, die Künste, vor allem durch Performance-Art, Happening und Fluxus, sowie die Genderforschung rund um die Texte von Judith Butler.
Im Geflecht der Blicke
zur Entgegnung auffordert. Damit wird keine Dichotomie zwischen Sehen und Blicken eröffnet, sondern beide sind Teil des Porträts, ebenso wie das Heineinkommen und Heraustreten, das Selbst und das Andere. Sie stehen sich nicht gegenüber, vielmehr teilen sie im Bild ein und dieselbe (Gesichts-)Fläche und betreffen nicht nur den Maler/die Malerin, sondern auch die Betrachtenden – das Selbstporträt als »blitzhafte Begegnung von sub und jectum (von Unterlage und Pinselstrich)«18 . Die Betrachtenden blicken das Bild an, gleichzeitig werden sie vom Bild dazu aufgefordert, indem es uns anblickt oder anblitzt. Dieses Angegangenwerden von Dingen beschreibt Heidegger in »Der Ursprung des Kunstwerks«, wenn es heißt, dass uns die Dinge in den Wahrnehmungen auf den Leib rücken und uns selbst das dienende Zeug »anblickt, d.h. anblitzt und damit anwest und so dieses Seiende ist«19 . Betonung findet das Angeblicktwerden durch Dinge auch bei Lacan, der zwar nicht vom Blitzen spricht, sondern vom glitzernden Artefakt der Sardinenbüchse.20 Das Bild und sein Blicken ist eine flüchtige, blitzhafte Begegnung, eine Entgegnung, ein InKontakt-Kommen. Das Blicken richtet sich an ein unbestimmtes Draußen, ist dabei aber nicht auf die Augen (eines Porträts) beschränkt, sondern weiter gefasst. Es »kommt zumindest auch aus dem Mund (der meist im Mittelpunkt des Bildes ist), aus den Nasenlöchern und den Ohren, ja sogar aus allen Poren und letztlich aus allen Pinselstrichen«21 . Das Porträt blickt und nicht unbedingt die dargestellte Figur. Dabei geht es nicht um das Sehorgan, sondern um das Ausgesetzsein, das eine Begegnung, eine Öffnung hin zur Leinwand einfordert. »Der Blick der Malerei entspringt dem ganzen Sein der Malerei«22 , da dieses im Ausgesetztsein, in der Exposition statthat, das eine Öffnung ein In-Kontakt-Treten, Begegnung evoziert. In diesem Sinne blickt beispielsweise auch der gemalte Apfel, indem er angeht, sich öffnet und Kontakt sucht. Auf der Oberfläche der Leinwand reflektieren der Blick und die Farben – touching: der Blick in Berührung mit der Leinwand, In-KontaktSein mit einer reflektierenden Fläche.
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Nancy 2007a, 53. Frz.: »rendez-vous en un éclair du sub et du jet (du support et de la peinture)« (Nancy 2000b, 83). Heidegger 1977b, 13. Damit ist nun indirekt auch die Wortherkunft des deutschen Begriffes blicken berührt, das sich vom Althochdeutschen blicken oder biblicken ableitet und verwandt ist mit dem Wort bleich. Letzteres geht zurück auf das Althochdeutsche bleih und meint glänzend, hell oder blass. Das Germanische *bleika- bedeutet glänzend. Blick ist etymologisch auch mit der Bedeutung Strahl, schnelles Glanzlicht, Blitz verbunden und das Verb mit glänzen, strahlen, sichtbar werden. Diese Bedeutung ging allerdings schon im Althochdeutschen über zu Hinschauen und Ansehen. (Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 2005, 148-149) Lacan 1973, 89. Nancy 2007a, 45. Nancy 2007a, 48.
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Zwischenresümee
Beide, der nackte Maler Lucian Freud und Narcissus, sehen ein Bild von sich: der eine im Spiegel, in den er blickt, um sich zu malen, der andere auf der Oberfläche einer Quelle, in die er blickt, um zu trinken. Der eine studiert schonungslos jeden Zentimeter seines Körpers und jede Unebenheit seiner Haut, um sich neu und fremd auf der Leinwand hervorzubringen, der andere starrt sich ungläubig an und verliebt sich in sein eigenes Bild, das er aber für dasjenige eines Fremden hält. Für Platon bedeutet eine solche Selbstliebe eine Verblendung: Wie die Gefangenen in der Höhle fälschlicherweise die Schatten an der Wand für wahr halten, wird in der Selbstliebe des Narcissus ein Abbild des Abbildes für wahr gehalten und die Schau der Ideen damit verhindert. Schatten und ein Spiegelbild werden für Seiendes gehalten, obwohl sie doch bloß als Ausgangspunkt der Wiedererinnerung dienen sollen. Die Richtigkeit eines Porträts muss daher eine andere Richtigkeit sein: Es darf nicht identisch sein mit seinem Modell, sonst würde es dieses ersetzen, und es darf sich auch nicht zu weit von ihm entfernen, um nicht falsch wiedererkennen zu lassen. Dabei zeichnet sich das Porträt im Gegensatz zur übrigen Malerei für Platon durch seine Genauigkeit aus, da es nach mathematischen Kriterien von dem Gesehenen Maß nehmen und so Täuschungssicherheit besser gewährleisten kann. Auf Basis dieser Theorie wird das perfekt gespiegelte Abbild des Narcissus in der Renaissance beginnend mit Alberti zum Ursprungsmythos der Malerei erhoben und löst denjenigen der Butades ab. Dem Bild kommt dabei nicht mehr der Status eines Abbilds des Abbilds zu, sondern es richtet sich auf die sinnlichen Erscheinungen, die mithilfe der Mathematik vom Künstler bzw. der Künstlerin auf das Bild übertragen werden, was jedoch mit einer Abstraktion vom psychophysiologischen Wahrnehmungsprozess einhergeht. Derrida und Nancy machen die von Platon konstatierte andere Richtigkeit des Porträts zum Ausgangspunkt ihres Denkens. Im Blickwechsel zwischen Spiegel und Leinwand, welchen die Malerin bzw. der Maler während des Malakts vollführt, sieht Derrida eine anamnetische Struktur, die aber entgegen Platon nicht einer Wiedererinnerung dient und auch nicht eine mathematische Ähnlichkeit sicherstellen soll, sondern vielmehr ein kreatives Potential birgt. Hierin manifestiert sich für Derrida die Kette der Supplemente und der Zeichen: Im Prozess des Verfertigens
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eines Selbstporträts ziehen die Malenden aus ihrem Spiegelbild ein Bild hervor. Es ist dies ein Akt des Ziehens und gleichzeitigen Entziehens, da sich mit jedem Pinselstrich ein weiterer Aufschub einnistet: Der Maler bzw. die Malerin bringt sich hervor und entzieht sich in einem Strich, nähert sich an und entfernt sich von sich selbst. Daraus folgt, dass in jede Form von Ähnlichkeit bereits das Andere, das Fremde strukturell eingeschrieben ist, wie auch dem Selbst seine Offenheit und damit seine Anrührung an das Fremde zukommt. Um dies zu betonen, wurde der Betriff der Auto-Allo-Mimesis eingeführt: Ähnlichkeit zeichnet sich durch eine konstitutive Fremdheit aus, durch die sie erst ähnlich sein kann. Wenn Freud sein eigenes Hervorkommen auf der Leinwand thematisiert, so wird damit aufbauend auf den avantgardistischen Verfahren Ikonographie als Selbstzweck eingesetzt und damit der Malakt bzw. das Bildsein selbst auf die Leinwand gebracht: Auf der Leinwand geschieht der Akt des Entstehenlassens, es ist ein kreativer Akt, in dem sich die Form- und Subjetwerdung durch das Ausgesetztsein ereignet. Betont wird damit der Charakter der Bilder als Vollzugsformen und die figurative Malerei wird so in eine figurale überführt. Das Porträt zeichnet sich darauf aufbauend nicht durch eine Wiederkennbarkeit der dargestellten Person im Sinne einer Identifikation aus. Es wird vielmehr als Offenlegung eines Körpers und eines Selbst verstanden. Statt einer referentiellen kann das Bild eine pikturale Identität leisten: Es bezieht sich nur auf sich selbst, wobei ihm das Fremde stets eingeschrieben ist. Wiedererinnert wird so nicht eine Person, sondern die Anwesenheit des Abwesenden, eine Präsenz, auch wenn diese in absentia statthat. Die Malerei verlässt die Abbildung, wird kreativ, zieht eine eigene Präsenz hervor, die ein Übermaß an Erinnerung ebenso evozieren kann wie eine Störung. So wird im Porträt nicht eine Identität restituiert, sondern eine Intimität hergestellt, indem es zur Öffnung einlädt, angeht, vor sich versammelt. In dieser Weise ist auch der Blick des Porträts zu verstehen: Nicht nur die Betrachtenden sehen das Porträt, vielmehr werden sie vom Porträt angeblickt und damit in die Struktur des Ausgesetztseins und der Sujetwerdung performativ miteinbezogen: Wie Freud sich selbst im Spiegel sah, genauso blickt er jetzt uns, die Betrachtenden an. Sein Blick fordert zur Entgegnung auf, sucht Kontakt, Erwiderung, will in Beziehung treten. Wir sind ihm ausgesetzt, wie er es sich selbst war, schonungslos. Er zieht aus uns unser Fremdes hervor, dem wir so gegenüberstehen. Der Akt des Porträtierens führt nicht nur zur Sujetwerdung, an ihn knüpft Nancy (viel stärker als Derrida) auch die Subjektwerdung: Während des Arbeitsprozesses an einem Selbstporträt setzt sich der Maler bzw. die Malerin als Modell aus, um sich ins Bild zu bringen. Genau dieses Ausgesetztsein ist konstitutiv für die Sujetund Subjektwerdung, da beides immer bedeutet, ausgesetzt zu sein, sich zur Welt öffnen, in Kontakt-Treten, berühren. Das Subjekt bildet demnach kein Zugrunde-
Zwischenresümee
liegendes und auch keine Einheit, sondern ist, weil es sich öffnet und damit immer schon in Kontakt mit anderen steht. Das Fremde gehört so der Struktur des Selbst unabdinglich an. Der Vorgang des Porträtierens – und hierin wird einmal mehr der Vollzugscharakter von Bildern deutlich – potenziert und intensiviert diesen Prozess der Sujet-/Subjektwerdung geradezu, indem ein Modell auf die Leinwand gezogen wird, das sich mit jedem Pinselstrich mehr von sich entfernt und gleichzeitig entsteht, indem es sich aussetzt. Der Mythos des Narcissus zeugt daher von der Ausgesetztheit, die mit der Sujet-/Subjektwerdung einhergeht; er erkennt sich in seinem Spiegelbild nicht wieder, weil er sich darin bereits entzogen hat.
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Zeuxis oder der Ursprung der Malerei
Plinius d. Ä. Plinius berichtet neben dem Mythos der Butades auch von der Legende des Zeuxis: »Der zuletzt Genannte [Parrhasios, J. M.] soll sich mit Zeuxis in einen Wettstreit eingelassen haben; dieser habe so erfolgreich gemalte Trauben ausgestellt, daß die Vögel zum Schauplatz herbeiflogen; Parrhasios aber habe einen so naturgetreu gemalten leinenen Vorhang aufgestellt, daß der auf das Urteil der Vögel stolze Zeuxis verlangte, man solle doch endlich den Vorhang wegnehmen und das Bild zeigen; als er seinen Irrtum einsah, habe er ihm in aufrichtiger Beschämung den Preis zuerkannt, weil er selbst zwar die Vögel, Parrhasios aber ihn als Künstler habe täuschen können.«1 Zeuxis, der Meister der Malerei, muss sich dem anderen Meister der Malerei, Parrhasios, geschlagen geben. Es war ein Wettstreit, der einen großen Gewinner und einen noch größeren Verlierer hervorbrachte – und dieser ist Zeuxis. Obwohl Parrhasios den Wettstreit gewonnen hat, ist es nicht seine Legende, die über das Wesen der Malerei berichtet, sondern diejenige des Zeuxis. Der Verlierer bleibt zwar Verlierer, aber dennoch bezeichnend für das besondere Schicksal der Malerei – die Malerei als Kunst der Täuschung, vor der nicht einmal der Maler als großer Meister dieser Kunst gefeit ist. Die Legende des Zeuxis fängt den Moment ein, in dem dieser an das Bild herantritt, in dem er versucht, an es zu rühren, es zu berühren, und das Verlangen hat, den Blick versperrenden Vorhang entfernen zu lassen. Doch plötzlich ist er konfrontiert mit der Präsenz der Bildlichkeit, dem Bildkörper. Man vermag zu fühlen, wie Zeuxis zurückschreckt, wie er seine Augen aufreißt und sein Herz pocht. Der Wettstreit ist verloren, die Darstellung wurde als reales Seiendes verkannt, das Bild, sein Körper, hat sich gezeigt. Der Maler Zeuxis – selbst ein Meister der Täuschung und vertraut mit dem Aufbau, der Herstellung und der Wesenheit der Bilder – ist brutal auf das Bild gestoßen, wurde getäuscht, erschrak an der Mate-
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Plin. nat. 35,64-65.
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rialität des Bildes, fiel in den tiefen und unüberbrückbaren Abgrund zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten, wurde vom Bild berührt. Die Legende erweist sich als Täuschungskomplex: Zum einen gibt sich die Darstellung des Bildes als Realität aus. Das heißt, das Zeichen ist nicht als solches zu erkennen und stellt sich als Ding vor. Zum anderen ist es die Materialität des Bildes, welche täuscht, indem sie in ihrer Ausgedehntheit hinter die Darstellung zurücktritt, sich versteckt oder von der symbolischen Darstellung überlagert wird. Zeuxis, der diesen Täuschungszusammenhang zu seiner Profession gemacht hat, unterliegt ihm in diesem unachtsamen Moment selbst, was einen Schock und ein Erschrecken zur Folge hat. Nach dieser Niederlage im Wettkampf mit Parrhasios soll Zeuxis ein weiteres Bild mit Trauben und einem Knaben gemalt haben. Auch dieses lockte die Vögel an, wie Plinius berichtet. Zeuxis jedoch war ärgerlich über seine Arbeit und soll folgenden selbstkritischen und gleichzeitig lakonischen Kommentar geäußert haben: »Die Trauben habe ich besser gemalt als den Knaben, denn hätte ich auch mit ihm Vollkommenes geschaffen, hätten sich die Vögel fürchten müssen.«2 Zeuxis bedauert, in der Darstellung des Jungen gescheitert zu sein, da eine seinen Maßstäben entsprechende Darstellung dazu geführt hätte, dass die Vögel sich erst gar nicht getraut hätten, an den Trauben zu picken. Dass er jedoch in der Lage war, die Vögel zu täuschen, das scheint für ihn nicht im Geringsten verwunderlich zu sein. Zeuxis’ Eingeständnis seiner Niederlage sowie seine Enttäuschung über die nicht geglückte Darstellung des Jungen machen deutlich, dass es sein erklärtes Ziel ist, eine perfekte Kopie der erscheinenden Wirklichkeit zu geben und damit zu täuschen. Die Legende des Zeuxis wurde im Laufe der Geschichte der Malerei immer wieder neu tradiert, wenn auch mit anderen Protagonisten: So sollen Wachteln auf ein Bild zugeflogen sein, auf dem Protogenes eine Wachtel als Nebenfigur gemalt hat; das Lamm, das der Heilige Johannes auf dem Bild des Tizian in den Armen hält, soll ein Mutterschaf zum Blöken gebracht haben und ein von Bramantino gemaltes Pferd wurde von einem anderen angegriffen.3 Aber auch die Malerinnen und Maler selbst unterlagen der Täuschung der Malerei immer wieder: So berichtet der italienische Architekt und Theoretiker Antonio Averlino von einem Schockerlebnis des Renaissance-Künstlers Cimabue, auch bekannt unter dem Namen Filarete. Der Übeltäter, der ihm eine Täuschung widerfahren ließ, war ausgerechnet der junge Giotto di Bondone, der Jahre später zu einem der großen Wegweiser der Zentralperspektive wurde. Giotto malte eine Fliege auf die Nase einer Figur des Meisters,
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Plin. nat. 35,66. Kris/Kurz 1980, 90.
Zeuxis oder der Ursprung der Malerei
die so täuschend echt wirkte, dass sich Cimabue dazu veranlasst fühlte, diese mit der Hand fortzuscheuchen.4 Diese Berichte handeln von dem Versuch, die vermeintliche Darstellung des Bildes freizulegen: Während Zeuxis den scheinbar die Darstellung verdeckenden Vorhang zur Seite haben wollte, war es Cimabue daran getan, die störende Fliege zu verscheuchen. Das Bild kann nie identisch mit dem sein, was es abbildet, ansonsten würde es als Zeichen oder Bild hinfällig sein. Dieser Täuschung unterliegen Cimabue, die Vögel, als sie an Zeuxis’ Trauben picken, aber auch Zeuxis selbst, indem er das Bild des Vorhangs nicht als Bild, sondern als Vorhang wahrnimmt. Sie alle stoßen dabei auf den Körper des Bildes, erschrecken und erkennen die Darstellung als nicht identisch mit dem, was sie ausgibt zu sein, sind zurückgeworfen auf das, was sich unsichtbar macht, um zu zeigen – die Korporalität des Bildes. Sie rühren an die grundlegende Duplizität der Bilder 5 , die den ontologisch prekären Status des Bildes kennzeichnet: Wie Platon in seiner ontologischen Bilddefinition im »Sophistes« deutlich macht, ist die Entität Bild und ist zugleich nicht. Es ist seiend für sich selbst, aber nur indem es nicht ist und auf etwas anderes verweist.6 Die körperliche Präsenz erlaubt es, als Bild aufzutreten, sie tritt aber zurück, um den Blick freizugeben auf eine Darstellung, die nicht selbst physisch anwesend ist, also nichtseiend ist, aber anwesend gemacht wird. Die grundlegende Zerrissenheit des Bildes7 wird darin deutlich: Es ist selbst seiend und ist seiend doch nicht für sich selbst, sondern in Bezug auf etwas anderes. Dieser Repräsentationsmodus des Zeichens geht notwendigerweise mit einer korporalen Präsentation einher, die jedoch hinter die Repräsentation zurücktritt und nicht auffällig wird. Der Körper ist dabei der Träger des Sinns und damit in seiner eigenen körperlichen Präsenz verschlossen: bezeichneter-bezeichnender Körper 8 . Er ermöglicht Bilder, indem er eine Darstellung hervortreten lässt, die er selber nicht ist, was dazu führt, dass der Status der Bildlichkeit immer prekär bleibt. Bilder gehen in der Illusionierung von etwas Dargestelltem auf. Dafür muss die Materialität des Bildes durchsichtig werden und den Blick auf seine Darstellung freigeben (looking through).9 Tritt in diesem
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Vas. Vit. 408. Finke/Halawa 2012a, 14. Plat. soph. 240a7-b13. In diesem Zusammenhang spricht Gottfried Boehm in Anlehnung an Heideggers (1975, 22) Terminus der ontologischen Differenz bzw. des ontologischen Bruches von der ikonischen Differenz. Diese »markiert eine zugleich visuelle und logische Mächtigkeit, welche die Eigenart des Bildes kennzeichnet, das der materiellen Kultur unaufhebbar zugehört, auf völlig unverzichtbare Weise in Materie eingeschrieben ist, darin aber einen Sinn aufscheinen läßt, der zugleich alles Faktische überbietet.« (Boehm 2006a, 30) Nancy 2003a, 63. Jäger 2004, 60.
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Prozess eine Störung auf, verliert die Materialität ihre Durchsichtigkeit, sie wird dicht und bewirkt ein looking at.10 Genau hier tritt Zeuxis auf, denn an ihm wird deutlich, dass sich der Körper nicht zur Gänze in ein Sinnsystem bannen lässt: Indem Zeuxis an den Körper des Bildes rührt, den Vorhang zur Seite geschoben haben möchte, stößt er genau auf jenen Körper, wird vom Körper des Bildes, seiner Präsenz berührt: berührter-berührender Körper 11 , der sich durch das Zeichensystem hindurch oder in diesem furchterregend bemerkbar macht. Die Malerei gibt vor, etwas zu sein, was sie nicht ist. Ihre Darstellung und ihr Körper fallen auseinander: genuine Duplizität der Bilder und des Zeichens, die normalerweise versteckt, gebannt wird, in der Malerei jedoch eine besonders geeignete Form des Aufklaffens zu finden scheint. Um ein Bild herzustellen, muss der Maler oder die Malerin ganz entschieden daran gehen, den Körper des Bildes zu verschleiern, seine Darstellung, seine Repräsentation hervortreten zu lassen. Die Malerinnen und Maler erregen in ihren Bildern den Anschein von Gegenständlichkeit, sie sind die Meisterinnen und Meister der Täuschung, sie wissen, was sie tun müssen, um den Anschein des Als-ob herzustellen. Platon hat diese Gefahr deutlich vor sich und versucht, sie im System der Repräsentation zu verorten und so zu (ver-)bannen.
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Jäger 2004, 60. Nancy 2003a, 19; 26; 37.
Ebenbild und Trugbild
Wenn selbst der Meister der Täuschung, Zeuxis, der Maler, nicht vor den Täuschungen eines Bildes gefeit ist, wird seine Legende zum Beleg für die große Gefahr der Bilder, die vor allem Platon erkennt: Nachdem Zeuxis mit seinem gemalten Weinstock erfolgreich die Vögel getäuscht hat, hegt er wohl nicht mehr viel Zweifel daran, den Wettkampf gewinnen zu können. Als er siegessicher fordert, den Vorhang vom Bild zu nehmen, stößt er jedoch hart auf das Bild, auf dessen Unnachgiebigkeit, seine Widerständigkeit anstelle des erwarteten weichen und nachgiebigen Vorhanges. – Ein Moment des Entsetzens, und dann die Gewissheit, verloren zu haben, getäuscht worden zu sein in seiner großen Stärke: der Verhüllung des Bildkörpers durch die Darstellung. Nicht die Täuschung der Vögel ist also das Frappierende an dieser Legende, sondern das Erschütternde liegt in der Täuschung des Zeuxis. Mit Zeuxis und Cimabue sind es die Großmeister der Täuschung, die Kenner des Geschäfts, die hier von der Materialität überrascht werden. Wenn es ihnen als Maler und Kenner schon so ergeht, wie leicht wird es sein, andere Menschen zu täuschen. Was Zeuxis und Parrhasios zum Verhängnis wird, ist der doppelte und prekäre ontologische Status des Bildes und sein damit verbundenes Oszillieren zwischen Seiendem und Nichtseiendem. Das Bild des Vorhangs hat genau das erreicht, wovor Platon warnt und was er energisch bannen will: die Fähigkeit des Bildes, ein neues Seiendes vorzugeben, die Abbilder auf der Höhlenwand für Seiendes, die Darstellung der Malerei für wahrhaft seiend zu halten.1 Das Bild des Parrhasios gibt sich als etwas aus, was es gar nicht ist. Durch die Berührung des Zeuxis kommt es daher zur Konfrontation mit dem Undenklichen, Unbeschreiblichen, Unaussprechlichen und Unerklärlichen2 . Dies will Platon durch die horizontal ontologische Bestimmung der Bilder und damit ihrem korrekten prädikativen Funktionieren als Instrument der Repräsentation vermeiden, denn es führt zu »thaumazein«3 – einem Verwundern – und »skotodinio«4 – einem Schwindel oder einem Ohn1 2 3 4
Vgl. dazu das Kap. »Die Höhle« im ersten Teil. Plat. soph. 238c12-14. Plat. Tht. 155d3. Plat. Tht. 155d3.
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machtsanfall, vergleichbar einem Sturz in die Finsternis.5 Obwohl diese Elemente sowohl bei Platon wie auch bei Aristoteles6 den Beginn der Philosophie anzeigen, so überwiegt doch die Gefahr, die sie beinhalten. Aus diesem Grund versucht Platon, Kriterien zu finden, die den richtigen Verweis der Bilder gewährleisten: Im X. Buch der »Politeia« lässt er Glaukon zwei Arten von Bildern unterscheiden: Die erste Art der Bilder sind Ebenbilder (mimesis eikastike). Sie gehören zu der hervorbringenden Kunst, die neue Gegenstände produziert. Ihr Ähnlichkeitsverhältnis zum Darzustellenden sei wahrhaft, da es auf den mathematischen Verhältnissen des Messens, des Zählens und des Wägens7 basiere und somit sicherstelle, nicht täuschend zu sein. Dafür müsse allerdings in Kauf genommen werden, dass die Bilder nicht zwangsläufig auch optisch korrekt erscheinen.8 Die zweite Art der Bilder sind Trugbilder 9 (mimesis phantastike). Sie sind Gegenstand der nachahmenden Kunst, die sich, so Platon, darauf beschränkt, den Schein hervorzubringen.10 Scheinhaft sind die Trugbilder im Gegensatz zu den Ebenbildern, weil letztere auf einer rational-formalen Ähnlichkeit beruhen, während erstere eine empirische Ähnlichkeit aufweisen. Auf die Frage von Sokrates, ob die Malerei das Seiende nachbilde, wie es sei oder wie es erscheine, entscheidet sich Glaukon ohne zu zweifeln für die Erscheinung.11 Das heißt, die Bilder sind nicht mathematisch korrekt, sondern erscheinen optisch korrekt und sind damit, nach Platon, nicht in der Lage, das wahre Wesen des Abgebildeten wiederzugeben. Durch die Unterscheidung von zwei Arten von Ähnlichkeit integriert Platon das Bild zum einen in die repräsentationale Struktur und regelt bzw. legitimiert damit zum anderen das Verweisungsgeschehen. Dementsprechend gibt es auch zwei Arten von Bildern: gute und schlechte Abbilder, wobei die guten Ebenbilder die schlechten Trugbilder verdrängen sollen, sie daran hindern sollen, sich einzuschleichen und zu täuschen.12
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Mersch 2002, 98. Aristot. metaph. I 2,982b. Plat. rep. 602d. Plat. rep. 602d-602e. Die Problematik der Übersetzung von phántasma in Trugbild durch Schleiermacher wird von Dunshirn (2016, 28-41) analysiert. Dunshirn untersucht dabei auch die unterschiedliche Verwendung im »Sophistes« und der »Politeia«. Plat. rep. 596e. Die Unterscheidung zwischen einer ebenbildnerischen Kunst, welche der Wahrheit näher sei, da sie dem Darzustellenden in der Darstellung die Verhältnisse in Form von Länge, Breite und Tiefe gebe, und der erscheinenden Kunst, die sich bloß nach den erscheinenden Proportionen richte, findet sich auch im Dialog »Sophistes« (235d-e). Plat. rep. 598b2-3. Deleuze 1993, 314.
Ebenbild und Trugbild
Die Malerei gilt Platon dabei als eine Art prototypische Form der Wiedergabe dessen, was erscheint, wodurch sie zum Medium der Täuschung schlechthin wird.13 Dementsprechend kritisiert Platon auch die Malerinnen und Maler: Wie die Sophistinnen und Sophisten würden sie vorgeben, Fähigkeiten zu besitzen, welche sie gar nicht hätten. So würden sie vortäuschen, alle Geräte und Dinge – wie den Vorhang des Parrhasios –, alles, was aus der Erde wachse – wie etwa die Trauben des Zeuxis –, alle Tiere, die Menschen, ja sogar die Götter und überhaupt alles im Himmel und unter der Erde herzustellen, während sie jedoch gar nicht die Fertigkeit dazu besäßen.14 Sie würden also vorgeben, Seiendes zu schaffen, während sie bestenfalls dazu in der Lage seien, dieses abzubilden und darauf zu verweisen. Bei den Ausführungen Platons zur Malerei handelt es sich nicht um eine rein spekulative oder bloß theoretische Konzeption. Vielmehr ist anzunehmen, dass er sich dabei ganz konkret zu einer malerischen Praxis und zu einem ästhetischen Richtungsstreit äußert, der als attischer Vorläufer zur Querelle des anciens et des modernes gilt.15 Die Kunst vollzieht zu dieser Zeit mit Apollodoros sowie Zeuxis und Parrhasios eine entscheidende Veränderung: Sie beginnt, sich an der Wiedergabe der sinnlichen Erscheinung zu orientieren. Gegen eine solche Fokussierung auf die Sinnlichkeit wendet sich Platon vehement. Das neue ästhetische Paradigma sowie die maßgebliche Verfeinerung der Freskentechnik hat eine nachhaltige Wirkung auf die Bildgeschichte zur Folge, die sich in der Legende des Zeuxis zeigt: Zeuxis war ein brillanter Techniker und sein Augenmerk galt der Technik des Malens. Parrhasios hingegen war eher ein Zeichner und er legte besonderen Wert auf die Genauigkeit und die Feinheit der Darstellung. Quintilian beschreibt ihre Könnerschaft wie folgt: »Darauf trugen Zeuxis und Parrhasios, nahezu Altersgenossen um die Epoche des Peloponnesischen Krieges […], am meisten zum Fortschritt der Kunst bei. Der erste soll nach der Überlieferung die richtige Verwendung von Licht und Schatten, der andere die verfeinerte Konturführung sorgfältig abgewogen haben. Zeuxis nämlich verstärkte die Fülle der Glieder des Körpers, da er dies für eine Steigerung der Bedeutung und der Majestät hielt […]. Parrhasios aber umriß alles so genau, daß dies ihm den Beinamen ›der Gesetzgeber‹ einbrachte, weil alle Nachfolger der von ihm überlieferten Darstellung der äußeren Erscheinung von Göttern und Heroen gewissermaßen als gegebener Norm nacheiferten.«16 Zeuxis entwickelt eine neue Technik des Malens, mit der er versucht, die Erscheinung eines Gegenstandes so perfekt wie möglich wiederzugeben. Dass er dafür
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Plat. rep. 597e-598c. Plat. rep. 596c4-9. Alloa 2011a, 41. Quint. inst. XII 10,4-6.
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Abstriche in der mathematischen Exaktheit, der Geometrie sowie der Proportionsund Harmonielehre machen muss, nimmt er in Kauf. Platon ist mit seiner Theorie des Trugbildes einer der wichtigsten unter vielen, die diese neuen Maltechniken kritisieren.17 Die Veränderung des künstlerischen Paradigmas ist aber nicht nur auf die Malerei beschränkt. Vom Bildhauer Lysipp ist folgendes künstlerisches Programm überliefert: »Es gibt im Lateinischen kein Wort für Symmetrie; diese beachtete er sehr sorgfältig, indem er durch ein neues und noch nicht versuchtes Verfahren die untersetzten Gestalten der Alten veränderte und gewöhnlich sagte, die von jenen geschaffenen Bildwerke zeigten die Menschen wie sie sind, die von ihm geschaffenen [aber], wie sie zu sein erscheinen. Das besonders Ausdrucksvolle in den Werken dieses [Künstlers] scheint darin zu bestehen, daß er auch die kleinsten Dinge beachtete.«18 Lysipp stellt also im Gegensatz zu den vorangegangenen Künstlerinnen und Künstlern die Menschen in seinen Skulpturen nicht so dar, wie sie sind (quales essent), sondern so, wie sie zu sein erscheinen (quales viderentur esse). Auch Phidias mit seinen monumentalen Plastiken setzt diese neue Ästhetik um. Wiesing vermutet, dass es genau die künstlerischen Objekte des Phidias seien, auf die Platon im »Sophistes« Bezug nimmt.19 438 v. Chr. wird dessen monumentale, rund 12 Meter hohe Athena Parthenos in der Cella des Parthenon-Temples auf der Akropolis aufgestellt und sorgt für viel Aufmerksamkeit, da ihr Kopf stark in die Länge gezogen ist. Wird dieser aber vom Boden aus betrachtet, wirkt er, aufgrund der perspektivischen Verzerrung einheitlich zum restlichen Körper der Statue. Phidias lässt die Größenverhältnisse unbeachtet, missachtet Platons Gebot eines Ebenbildes nach Maß, Zahl und Gewicht sowie die im IV. Buch der »Politeia« geforderte Treue zum Verhältnis der Einzelteile, die nie auf Kosten des Ganzen geopfert werden dürfe.20 Phidias »gibt der Athena einen Wasserkopf; man kann dies – so würde Platon sagen – nachmessen«21 . Die Statue des Phidias zielt auf eine illusionistische Gesamtwirkung, orientiert sich an der sinnlichen Erscheinung, wodurch sie für Platon als Trugbild und damit als »pure Gotteslästerung«22 klassifiziert werden muss.
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Plat. rep. 420c-d. Plin. nat. 34,65. Wiesing 2005, 136; 138; 142. Plat. rep. 420c-d. Wiesing 2005, 139. Wiesing 2005, 139.
Mimesis und Methexis
Die vertikal ontologische Besonderheit des Bildes, dass es zugleich ist und nicht ist, und damit eine Mittelstellung zwischen Sein und Nichtsein einnimmt, führt auf ontologisch horizontaler Ebene dazu, dass das Bild immer auf etwas anderes bezogen ist, also einen referentiellen oder prädikativen Charakter hat. Das Bild ist daher nicht wahrhaft Seiendes für sich (kath’auto), sondern in Beziehung auf ein anderes seiend (pros alla).1 Nur durch eine außerbildliche Referentialität ist ein Bild überhaupt ein Bild. Das heißt, nur unter der Bedingung, dass das Bild seine Uneigenständigkeit und Unvollständigkeit – seine »reduzierte Seinsweise«2 , wie es negativ konnotiert in der Forschung zu Platon heißt – zu erkennen gibt, wird das Bild ontologisch anerkannt. Bilder, die hinsichtlich ihres Dingcharakters (kath’auto) betrachtet werden, sind für Platon keine Bilder. Sie bleiben unterhalb der Bildlichkeitsschwelle, sind nur Leinwand, Holz, Stein. Ein Bild ist Bild, wenn es Bild von etwas ist, wenn es auf etwas ausgerichtet (pros alla) ist.3 Doch gerade diese Funktion des Verweises ist streng zu regeln, um Sicherheit über die Richtigkeit des Verweises zu haben. Das entscheidende Kriterium dafür ist die Ähnlichkeit (mimesis): Das Bild muss ähnlich sein, um auf den Gegenstand, den es darstellt, verweisen zu können, und dazu muss sein eigener Körper unsichtbar werden. Das to horaton, das zu Denkende, hat Vorrang vor dem Wahrzunehmenden, to noeton.4 Der Körper, das Seiende der Bilder, tritt zurück, wird negiert; ihre Aufgabe liegt in der abbildenden Repräsentation. Die Darstellung ist dabei nicht mit dem Abgebildeten, dem Objekt, gleichzusetzen, sie hat aber in Form der Ähnlichkeit (mimesis) an ihr teil (methexis). Oder anders formuliert: Die mimetische Ähnlichkeit des Bildes wird erst durch die Teilhabe an einer höheren Instanz hergestellt – und diese verleiht dem Bild Sinn. Im Vergleich zur »Politeia«, in der die Bildtheorie primär anhand der Teilhabe und der Ähnlichkeit erschlossen wird, erhält die Bildtheorie Platons im »Sophistes« eine stärkere Orientierungsfunktion.5 Das Wesen dessen, was ein 1 2 3 4 5
Plat. soph. 255c14-16. Poetsch 2019, 32. Alloa 2011a, 26. Plat. Phaid. 80b; Plat. rep. 508d. Alloa 2011a, 44.
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Bild ist, wird zunächst an ihm selbst in seinem prekären ontologischen Status auf vertikaler Ebene deutlich gemacht und daran anschließend auf horizontaler Ebene von dem her spezifiziert, in Bezug worauf es ein Bild ist. Indem Platon diese Möglichkeit der Prädikation einführt, stellt er sich gegen die Logik des Seins und Nichtseins von Parmenides.6 Daraus folgt, dass das Bild zum Instrument wird und eine repräsentationale Rolle einnimmt, die geregelt und definiert werden muss, was Platon durch Methexis und Mimesis sicherstellt. Die Stufen der Teilhabe (methexis) von der idea bis zu eikon und eidolon sind substanzieller Art, während ihnen auf Seiten der Ähnlichkeit (mimesis) eine Reihe immer schwächer werdender Ähnlichkeiten entsprechen, von denen am Ende nur mehr das Trugbild, also der Schein übrig bleibt.7 Ähnlichkeit und Teilhabe, Mimesis und Methexis, sind die zwei Prinzipien, durch welche die Bilder auf der untersten Stufe der Ideenlehre eingebettet werden, durch die ihre Rolle, ihr Verweisen sichergestellt wird und durch die ihr eigenes Seiendes reduziert wird. Der Bildkörper ist zwar unabdingbar nötig, gleichwohl muss er unsichtbar werden, zurücktreten, um die Darstellung sichtbar zu machen. Das Bild unterliegt so einer doppelten Fixierung, die einmal aufsteigend und einmal absteigend verfährt: Die Ähnlichkeit weist eine Abwärtsbewegung vom Dargestellten zum Darstellenden auf.8 Das Darzustellende ist der Ausgangspunkt für die Darstellung, das Modell derjenige für das Porträt und die Ideen derjenige für die Schatten an der Höhlenwand – die Ähnlichkeit muss in den Bildern erhalten bleiben. Die Teilhabe hingegen ist die Aufwärtsbewegung vom abgebildeten Seienden zum Seienden selbst.9 Die Ebenbilder können die Ähnlichkeit gewährleisten, da sie teilhaben an ihrem Modell, an den Ideen. Diese Teilhabe muss betont, nach vorne gestellt, sichtbar gemacht werden, um der Täuschung vorzubeugen: Das Bild soll verweisen, und zwar richtig. Sich selbst darf es dabei nicht zeigen, seine Seiendheit kath’auto muss aufgehen, unsichtbar werden, zurücktreten für den Verweis auf das, was dargestellt ist. Mit dieser Differenzierung schafft Platon die Aufhebung der streng monogenen eleatischen Logik. Als Stufe zwischen Sein und Nichtsein wird das Bild in seiner Besonderheit denkbar, allerdings auf ontologisch vertikaler Ebene verknüpft mit einem reduzierten Sein – es ist ein Anscheinendes, ein Zusätzliches, ein Anderes solches, Kopie oder Substitut. In dieser reduzierten Form wird es ontologisch fassbar und systematisierbar. Es hat zwar teil (Methexis) an dem wahrhaft Seienden, bleibt aber diesem gegenüber stets abgewertet. Auf ontologisch horizontaler Ebene wiederum eröffnet Platon damit gegenüber der eleatischen Logik die Möglichkeit von Prädikation. Diese Ebene der Repräsentation wird durch die Mimesis geregelt:
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Alloa 2011a, 46. Vgl. dazu auch das Kap. »Die Höhle« im ersten Teil. Mersch 2014a, 22. Alloa 2011a, 23. Alloa 2011a, 23.
Mimesis und Methexis
Nicht für sich selbst genommen, ist das Bild Bild, sondern aufgrund seines abbildlichen Verweischarakters. Seine Aufgabe liegt im sicheren, das heißt möglichst täuschungsfreien Verweisen auf etwas anderes. Der Bildkörper wird damit zu einem (Un-)Ort: Er liegt der Darstellung zugrunde, darf sich aber selbst nicht zeigen. Die Materialität, die Präsenz der Bilder ist zwar notwendiger Teil der Bildtheorie, hat aber einzig die Funktion zurückzutreten, um zum Vorschein zu bringen. Wie fragil diese Eingliederung des Bildes sowohl auf vertikaler wie auch horizontaler Ebene bleibt, zeigt die Legende des Zeuxis. Das Bild gibt sich als wahrhaft Seiendes aus, beim Versuch, dieses zu fassen, stößt Zeuxis aber auf den harten, widerständigen Bildkörper. Platon hat mit der Einführung der Mimesis zwar versucht, das Bild durch die Ähnlichkeit berechenbar zu machen, er hat damit aber auch »die unendliche Debatte, ja den Kampf der Philosophie mit ihrem vielgestaltigen Anderen eröffnet«10 . Dieser Kampf betrifft nicht nur das Andere des Bildes, sondern auch die Körper und die Materialität in einem weiteren Sinne.
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Nancy 2011a, 351. Frz.: »l’interminable débat et même le combat de la philosophie avec son autre polymorphe« (Nancy 2011b, 72).
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Körpergräber und Haut-Hüllen
Die Bilddefinition Platons ist eng verbunden mit derjenigen des Körpers. Der Körper des Bildes hat die Aufgabe, eine Darstellung hervortreten zu lassen, dabei wird er selbst unsichtbar und muss zurücktreten. Der Körper des Menschen dient dazu, der Seele einen Ort zu geben, an dem sie sich vorübergehend aufhalten kann, der ihr Anwesenheit verleiht und sie schützt. Der Körper als Wohnort der Seele ist allerdings nur ein vorübergehender, denn er verdeckt sie und muss in letzter Instanz überwunden werden. Dieses Verhältnis zeigt sich bei Platon deutlich in der Ausdrucksrelation zwischen Seele und Körper, die er als ersten Fall der Bildbeziehung darstellt.1 Platon unterscheidet zwischen einem rationalen bzw. vernünftigen Seelenteil und den tierisch-irrationalen Seelenteilen, einem mutigen und einem begehrenden.2 Diese in Konflikt stehenden Teile sollen unter der Vorherrschaft des vernünftigen Teils stehen,3 wofür Platon im »Phaidros« das Gleichnis des Seelenwagens4 anführt. Im Dialog »Timaios« unterscheidet Platon die sterblichen Seelenteile des Begehrens und des Willens vom unvergänglichen Vernunftteil. Außerdem weist er den Teilen ihren exakten Wohnort im Leib zu.5 All diese Ausführungen verbindet, dass der Körper als »äußere Hülle«6 , als Wohnung der Seele verstanden wird. Diese Hülle ist zwar zum einen nötig, um der Seele einen Ort zu geben, zum anderen ist sie jedoch ein Gefängnis der Seele. Der Körper ist daher nur eine Art transitorische Herberge7 , die es für die Seele wieder zu verlassen gilt, um frei und wahr zu sein. Im Dialog »Kratylos« wird der Körper als das andere der Seele bezeichnet und seine Aufgabe wie folgt beschrieben:
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Poetsch (2019, 46) hebt hervor, dass dieser Aspekt zentral für das systematische Verständnis des Bildbegriffs bei Platon ist, allerdings noch wenig Beachtung in der Forschung gefunden hat. Plat. rep. 435b-442a. Plat. rep. 441e4-442d3. Plat. Phaidr. 246a-256e. Plat. Tim. 69c. Plat. rep. 588e1. Benthien 1998, 39.
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»Denn einige sagen, die ›Körper‹ wären die Gräber der Seele, als sei sie darin begraben liegend für die gegenwärtige Zeit. Und wiederum, weil durch ihn die Seele alles begreiflich macht, was sie andeuten will, auch deshalb heißt er mit Recht so gleichsam der Greifer und Griffel. Am richtigsten jedoch scheinen mir die Orphiker diesen Namen eingeführt zu haben, weil nämlich die Seele, weswegen es nun auch sei, Strafe leide, und deswegen nun diese Befestigung habe, damit sie doch wenigstens erhalten werde wie in einem Gefängnis. Dieses also sei nun für die Seele, bis sie ihre Schuld bezahlt hat, genau was er heißt, so daß man kaum einen Buchstaben zu ändern brauche, der ›Körper‹, ihr Kerker.«8 Die Rolle der Körper ist damit klar begrenzt: die Körper als Gräber der Seele. In bekannter Version findet sich die Äußerung im Dialog »Gorgias«: »to soma estin hemin sema«, zu deutsch: »und unsere Leiber wären nur unsere Gräber«9 . Der Körper dient als Mittel zum Zweck für die Seele, da sich die Seele durch den Greifer oder Griffel des Körpers alles begreiflich macht: Sie kann sich zum Ausdruck bringen. Der Körper fungiert als Medium, weshalb sowohl die Augen wie auch die Haut häufig als Spiegel der Seele beschrieben werden. Oder anders formuliert: Der Körper wird zum Bild des Menschen, da er eine ähnliche Funktion innehat, wie der Bildkörper für die Darstellung. Der Körper fungiert aber auch als Kerker: Nach der Orphischen Tradition – einer griechischen Mysterienreligion des 6. Jh. v. Chr., die Platon als besonders wichtig hervorhebt – ist der Körper der Ort, an dem die Seele eine Strafe abzubüßen habe. In diesem Kerker-Körper erhalte sie eine Befestigung und werde zumindest am Leben erhalten. Sobald sie aber ihre Schuld bezahlt habe, könne sie den Körper verlassen, der daraufhin sterbe. Bevor es jedoch soweit sei, müsse sich die Seele stets vor körperlichen Einflüssen freihalten, sich reinigen, um nicht selbst körperartig zu werden: »Und wird nicht das eben die Reinigung sein, was schon immer in unserer Rede vorgekommen ist, daß man die Seele möglichst vom Leibe absondere und sie gewöhne, sich von allen Seiten her aus dem Leibe für sich zu sammeln und zusammenzuziehen und soviel als möglich, sowohl gegenwärtig wie hernach, für sich allein zu bestehen, befreit wie von Banden von dem Leibe?«10 Erst der Tod führe zur vollkommenen Befreiung der Seele, weshalb dieser auch kein bloßes Übel darstelle. Dieses Körperbild geht einher mit einer strikten Differenzierung zwischen Innen und Außen. Das Eigentliche, Innere, wird durch die Haut verborgen und geschützt, indem das schädliche Äußere von ihm abgehalten
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Plat. Krat. 400c1-12. Plat. Gorg. 493a2-3. Plat. Phaid. 67c4-d1.
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wird: der Körper als eine schützende und bergende, gleichwohl kerkerhafte Haut. Die Folge davon mutet paradox an: Weltliches Leben bedeutet Leben in einem Sarg bzw. in einem Grab, während der Tod, also der Zeitpunkt, in dem der Körper in einem Sarg und einem Grab liegt, zur Befreiung wird. Dieses Verständnis von Körper und Haut als Schutzwall und kerkerhafter Aufenthaltsort der Seele findet auch eine Übertragung und Tradierung in den Bereichen der Medizin und der Kunst.11 Der Zusammenhang zwischen ihnen ist äußerst eng – wie sich beispielsweise im »Curiösen Haut-Diener« – der ersten ausführlichen medizinischen Abhandlung über die Haut in deutscher Sprache – zeigt. Darin wird schon im ersten Satz die Verbindung zur Kunst geschlagen, wenn es heißt: »Von der Haut ins gemein Gleichwie ein künstlicher Werckmeister seine kostbare Wahren zierlich pfleget einzuhüllen und mit einer Decke zu versehen eusserliche Ungelegenheiten abzuhalten.«12 Die Haut wird beschrieben als eine Decke oder im Kontext der Malerei als der Vorhang, mit der oder dem das künstlerische Objekt geschützt wird: Damit tritt Zeuxis wieder auf, der genau diesen schützenden Vorhang vom Bild weggezogen haben will und dabei auf den Bildkörper stößt: Der Vorhang ist das Bild selbst. Im »Curiösen Haut-Diener« wird die Aufgabe der Haut primär als diejenige des Schutzes beschrieben. Sie wird weiters als allgemeine Decke bezeichnet, als ein Kleid, das Band unseres Leibes oder auch als Wand des Leibes, wie es mit Verweis auf Petrarca heißt: »Gleichwie ein kluger Baumeister sein verfertigt Haus mit Wänden umgiebt/ und mit einem Dache versiehet; Also lässet die sorgfältige Mutter die Natur bey dem menschlichen Geschlechte die künstlichen Eingebäude des Leibes/ die kostbaren Wahren/daran Leib und Leben gelegen ist/nicht so bloß liegen/ sondern bedecket solche mit einer Decke/ umwindet sie mit einem starcken Bande/ und umschrencket das menschliche Gebäude mit Wänden/ die Sicherheit und Wohlstand des Leibes zu befördern/ und dieses ist die Haut/die allgemeine Decke/ Kleid und Rock unseres Leibes/welche gar schön von dem Poeten Petrarcha
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Siehe dazu auch das Körperbild der Bibel, die dieses Motiv ebenfalls tradiert: »Jesus antwortete ihnen [den Juden, J. M.]: Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten. Da sagten die Juden: Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel gebaut, und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten? Er aber meinte den Tempel seines Leibes.« (Joh 2,19-22) Oder: »Hütet euch vor der Unzucht! Jede andere Sünde, die der Mensch tut, bleibt außerhalb des Leibes. Wer aber Unzucht treibt, versündigt sich gegen den eigenen Leib. Oder wißt ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt?« (1 Kor, 6,15-19) Vog. HD 1.
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dial. 3. de contempt. mund. parietas corporis, die Wände des Leibes geneñet/von dem weisen Heyden Platone einer grossen Fisch=Reußen/ magnae nassae/ verglichen wird/ weil eine solche Reusse/ wie bekant/ überall zu ist/und nur kleine Aus= und Eingänge hat. Der tapfere Medicus D. Joh. Dolaeus in encycl. med. bezieret solche nicht wenig/ wenn er sie litora microcosmi heisset/ ein Ufer und Rand des kleinen Welt=Meeres/ das ist/ des menschlichen Leibes/ denn inner ihrem Gestade gehen die Nectarischen Blut=Ströme und klaren Milch=Flüsse unverhindert/ und übersteigen solches im natürlichen Stande im geringsten nicht«13 . Die Haut ist die Wand des Körpers und damit der Wand eines Hauses gleich. Sie wird als Ufer und Rand des Leibes beschrieben, die dafür sorgt, dass man nicht auseinanderfällt, dass alles in seinen Bahnen bleibt. Sie bildet den Rand, die Grenze zwischen Innen und Außen. Durchbrochen wird diese Wand nur von kleinen, definierten Ein- und Ausgängen. Dazu wird im »Curiösen Haut-Diener« explizit Platon und dessen Vergleich des Körpers mit einer Fischreuse im Dialog »Timaios« angeführt, in dem Platon die Fischreuse zur Erläuterung der Atmung und der Blutversorgung heranzieht: »Dieser beiden [Luft und Feuer, J. M.] bediente sich also der Gott zu der von der Bauchhöhle aus in die Adern gehenden Bewässerung, indem er aus Luft und Feuer ein den Fischreusen ähnliches Geflecht zusammenwob, welches am Eingange doppelte Nebenschläuche hat, deren einen er wieder in zwei Äste schied. […] [D]en ersten spaltete er und lenkte beide Abzweigungen gemeinschaftlich nach den Kanälen der Nase, damit, wenn der andere am Munde nicht in Bewegung wäre, durch ihn alle Ströme, auch die des Mundes, aufgefüllt würden. Die übrige Rundung der Reuse sollte die ganze Höhlung unseres Körpers bekleiden und alles dieses bald sich in die Nebenschläuche ergießen, mit Sanftheit, weil sie aus Luft bestehen, bald sollten die Nebenschläuche zurückströmen, das Flechtwerk aber, bei der Lockerheit des Körpers, bald durch ihn eindringen, bald wieder zurückweichen«14 . Eine Fischreuse ist eine Falle für Fische. Sie besteht aus einem, an einem Ende verschlossenen, korbähnlichen Geflecht, welches von Wasser durchflossen werden kann. Darin ist ein kleineres, sich verengendes Geflecht eingebaut. Die Öffnung der beiden ist die gleiche. Das große Geflecht der Reuse dürfte nach Platon also den Torso des menschlichen Körpers bezeichnen, während das nach innen führende sich verengende Geflecht, die oberen Atemwege bzw. auch die Speiseröhre meinen könnte. Entscheidend an dieser Falle ist, dass es klar definierte Öffnungen gibt, in welche die Fische hineingeleitet werden, von denen jedoch kein Ausgang mehr
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Vog. HD 1-2. Plat. Tim. 78b3-d7.
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möglich ist. Die Haut wird so verglichen mit einer Falle, in der die Seele, das Innere gefangen ist. Ihr wird so zwar eine Durchlässigkeit attestiert, allerdings bleibt sie klar definierte Grenze zwischen Innen und Außen und ist damit wieder negativ als Falle und einsperrend konnotiert. Platons soma-sema-Konzept und die damit verbundene Rolle der Haut zeigt sich besonders deutlich anhand der Disziplin der Anatomie, deren Ansatz darin liegt, den wahren Kern des Menschen, sein Innerstes zum Zwecke der Erkenntnis freizulegen. Sie hat bereits mit Galen eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen, ab dem 16. Jh. geht die Humananatomie als »Historie der ›Überwindung‹ der Haut«15 in eine entscheidende Phase, als erste öffentliche Leichensektionen stattfinden. 1543 gibt Andreas Vesalius mit »De humani corporis fabrica« das Grundbuch neuzeitlicher Anatomie heraus. Sein Buch besteht aus vierzehn Abbildungen sogenannter Muskelmänner: enthäutete Männer, die sich in einer proportional viel zu kleinen Landschaft bewegen, als würden sie leben, und von Bild zu Bild eine weitere Muskelschicht verlieren, um so bis tief ins Innerste einzudringen.16 Die Entfernung der Haut wird zum Signum der Wissensproduktion und zum zentralen Erkennungszeichen der Anatomie. So zeigen die nachfolgenden anatomischen Schriften des Barock als zentrales Motiv die abgezogene Haut: Auf Alexander Reads »Manuall of the Anatomy or Dissection of the Body of Men« (1638) findet sich auf der Frontispiz-Seite ein Kupferstich von William Marshall, auf dem das Titeltuch als Menschenhaut dargestellt wird.17 Auf der Frontispiz-Seite von Thomas Bartholins 1651 erschienener »Anatomia Reformata« befindet sich ein anonymer Kupferstich, welcher eine an zwei Nägeln aufgehängte Haut zeigt.18 Damit fungiert sie als Eingangsvorhang zur dahinter liegenden rätselhaften, aber zu erforschenden Welt. Das Umblättern im Traktat wird so mit dem Herausschälen des Innersten aus der Haut, dem Körper verglichen. Der Titel des Buches ist direkt auf diese Haut gedruckt, was ihr zudem den Status einer in Besitz genommenen Trophäe
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Benthien 1998, 69. Dem korrespondiert eine veränderte Anschauung des Menschen als selbstkontrolliertes Individuum, die sich in der Renaissance durchsetzt. Als Folge davon wird die Relation von äußerer Erscheinung und tatsächlichem Wesen des Menschen unsicher: einerseits ist er sichtbar durch sein Äußeres, andererseits hat er ein unsichtbares Innenleben. Die anatomischen wie auch die zunehmenden physiognomischen Studien sowie Sittenschriften sollen lehren, die Affekte zu mäßigen, zur Selbstkontrolle und -disziplin verhelfen und damit dazu beitragen, andere Menschen richtig einschätzen zu können und selbst nichts Unerwünschtes über sich preiszugeben. Besonders bemerkenswert ist die Überschneidung zur Kunst: So tätigte Giambattista della Porta physiognomische Studien und Leon Battista Alberti verfasste eine Sittenschrift mit dem Titel »Über die Familie« 1434. Siehe dazu Kleinspehn 1989, 26-28 sowie 44-46. Vgl. Abb. 16-19. Vgl. Abb. 20. Vgl. Abb. 21.
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verleiht.19 Dieser Topos der Entfernung der Haut, um den Blick auf das Darunterliegende freizugeben, zeigt sich ganz deutlich auch am Kupferstich »Bauchhöhle« von Nicolas Béatrizet aus Juan Valverde de Hamuscos »Historia de la composicion del cuerpo humano« (1556)20 sowie dem Holzschnitt »Stehende Figur, die Unterleibsmuskeln zeigend« in Giacomo Berengario da Carpis »Commentaria cum amplissimis additionibus super anatomia Mundini« (1521)21 . Beide zeigen einen Mann, welcher sich selbst enthäutet und seine Muskeln bzw. Innereien zu sehen gibt. Die Haut wird so zur störenden Membran, die dem Wissen im Weg steht. Die Figuren stemmen sich sogar aktiv aus ihrer Haut heraus.22 Die Haut als Trennwand, als Schutzwall für die innewohnende Seele, wird durch die Anatomie und Dermatologie aber nicht überflüssig, sondern festigt im Gegenteil das Bild der Haut als undurchlässige Wand und das Bild eines abgeschlossenen Leibes.23 Die Wahrheit wird im Inneren gesucht – zu diesem Zweck der Wahrheitsfindung muss die Haut entfernt werden. Die Geschichte der Anatomie ist damit eine Geschichte der Schichtenabtragung.24 Dem korrespondiert ein Modell von Erkenntnis, das auf Zerstückelung, Herausschälung und Entleiblichung aufbaut und schließlich zu einer mechanistischen Auffassung des Körpers führt. Der distanzwahrende und objektivierende Blick der Wissenschaft wird installiert.25 Dieses Körperverständnis verstärkt sich im 18. Jh. ebenso wie dasjenige der Haut als undurchlässige Mauer und die Trennung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit. Der Leib wird so zu einem undurchdringbaren Panzer 26 und die Haut erhält dabei eine Stütz- oder Barrierefunktion zugesprochen, die vorher eher dem Fleisch zukam. Der Hautkörper wird ein monadischer, ein streng von der Welt abgetrennter, bürgerlicher Körper.27 Das Aufkommen der Humananatomie und das damit verbundene Menschenbild stehen dabei in einem ständigen Austausch mit der Darstellung des Menschen in der Malerei und den bildenden Künsten: Die Florentiner Kunstakademie des Cinquecento war die erste Ausbildungsstätte, welche den Anatomieunterricht als Pflichtfach eingeführt hat. Das anatomische Wissen wurde so in der europäischen Tradition zur Grundlage der Kunst der Malerei28 und die von François Tortebat 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28
Benthien 1998, 79. Vgl. Abb. 23. Vgl. Abb. 22. Benthien 1998, 11; 77-80; 107. Benthien 1998, 31. Benthien 1998, 83. Benthien 1998, 11. Benthien 2001, 39; 41. Benthien 2001, 49. Jullien 2003, 84.
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1667 herausgegebene »Anatomie« ist das erste französische Werk dieser Art, das sich speziell an Künstlerinnen und Künstler richtet und mit den Muskelmännern nach Andreas Vesalius bestückt ist. Die Muskelmänner ohne Haut werden so weiter tradiert und die Notwendigkeit anatomischer Kenntnisse für die Künstlerinnen und Künstler stark betont. Damit setzt ein Prozess ein, den menschlichen Körper in perfekten Proportionen darzustellen und andererseits den Körper als Objekt der wissenschaftlichen Neugier und als Antipode des Selbst oder Ich, das zunehmend körperlos vorgestellt wird, zu installieren.29 Damit verbunden ist auch eine Aufwertung des Nackten, das zum objektivierten Körper par excellence wird und in der Renaissance und im gesamten Klassizismus von höchster Wichtigkeit ist. Der nackte Körper wird durch die Pose bzw. das Posieren in Stillstand versetzt, nach aus der Anatomie entlehnten Kriterien zerstückelt und zu Papier gebracht. Diese Wichtigkeit des Nackten liegt auch maßgeblich darin begründet, dass sich zur gleichen Zeit eine objektive Naturwissenschaft etabliert, die auf der Notwendigkeit und der Universalität der physikalischen und optischen Gesetze beruht. Die steigende Wichtigkeit des Nackten geht einher mit einer Theorie der Perspektive. Aus diesem Grund werden auch in der oben schon erwähnten Florentiner Kunstakademie, die auf Initiative von Vasari in Florenz gegründet wurde, die Anatomie und die Perspektive gemeinsam mit der Aktmalerei gelehrt.30 In seinem »Buch von der Malerei« betont auch Leonardo da Vinci mehrmals die zentrale Rolle der Anatomie für die Malerei und Zeichnung: »Damit ein Maler bei den Stellungen und Gesten, die man im Nackten darstellen kann, sich als ein guter Gliedmassenmacher und Zusammenordner erweisen könne, so ist es etwas sehr notwendiges für ihn, daß er die Anatomie der Nerven (oder Sehnen), Knochen, Kurz- und Langmuskeln kenne, damit er bei den verschiedenen Bewegungen und Kraftäußerungen wisse, welcher Nerv oder Muskel der Veranlasser der Bewegung sei«31 . Gleichzeitig finden sich – wie auch schon in der italienischen Kunsttheorie des 16. Jhs., in der etwa Ludovico Dolce, Gian Paolo Lomazzo und Giovanni Battista Armenini über die richtige Balance von anatomischer Korrektheit und dem weichen Erscheinungsbild des menschlichen Körpers in der Kunst Michelangelos sowie seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger diskutierten – eindringliche Warnun29
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Belting 2011, 100-106. Belting beschreibt sehr anschaulich den weitreichenden Zusammenhang von Anatomie und Kunst, vor allem am Beispiel der Votivfiguren aus Wachs von der Renaissance bis zur Kommerzialisierung im 20. Jh. Jullien 2003, 115-116. Die Darstellung des Körpers auf den Grundlagen der Anatomie und auf Basis der Geometrie folgt einer Logik der Zahlen, deren Tradition über Platon hinaus bis zu den Pythagoreern reicht, welche die Schönheit des Nackten auf einer von der musikalischen Harmonie abgeleiteten Zahlenstruktur des Körpers begründen. (Jullien 2003, 134-135) Leon. Tratt. 349.
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gen vor einem übertrieben intensiven Anatomiestudium.32 Der Rubenist Roger de Piles meint dazu: »Mehrere Maler haben versucht, sich einen Ruf als Gelehrter der Anatomie zu erwerben, indem sie die Muskeln stark betont haben […]. Aber dabei haben sie nur gezeigt, dass sie die Anatomie schlecht kennen, denn es scheint, als ignorierten sie die Haut, die die Muskeln umhüllt und sie weicher und fließender aussehen lässt.«33 So wurde folglich auch die zeichnerische Fragmentierung des menschlichen Körpers als Zerstückelungsmethode kritisiert.34 Der enge Zusammenhang zwischen Malerei und Anatomie bleibt bis ins 19. Jh. bestehen und hat fundamentale Auswirkungen auf das Denken von Körperlichkeit und Bildlichkeit. Was Zeuxis und die Anatomie verbindet, ist der Wunsch nach Offenlegung. Während in der Legende des Zeuxis dieser den störenden Vorhang wegzuziehen begehrt, um die Darstellung zu sehen, wird in der Anatomie, um Erkenntnis zu gewinnen, der Wunsch gehegt, dem menschlichen Körper die Haut abzuziehen, um gemäß der platonischen Tradition zum wahren Inneren vorzudringen. Was Zeuxis jedoch von dieser Tradition unterscheidet, ist, dass er hart und gefolgt von Erschrecken auf den Bildkörper stößt. Er erfährt damit den prekären Status des Körpers. Mit Zeuxis bleibt dieses Prekariat des Bildes stets aufrecht, woran auch eine übermäßige Orientierung an der Anatomie nicht Abhilfe schaffen kann.
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Fend 2007, 90. Pil. Cours 155-156. Übersetzung nach Fend 2007, 91. U. a. Dickel 1987, 246-262; Pevsner 1986, 192; 197.
Der exponierte und widerständige Körper »Das ›Wesen‹ der Kunst ist nicht in einem Tempel, sondern in einer Linie, in der singulären Einmaligkeit eines nackten Strichs auf einer nackten Leinwand.«1
Der Körper des nackten Malers, Lucian Freud, wirkt müde und alt – weniger muskulös als vielmehr sehnig. Die Haut ist nicht schlaff, aber gezeichnet. Sie gibt nach, ist aber intakt, im Gegensatz zu derjenigen der Muskelmänner aus der anatomischen Tradition. Dennoch gibt es eine Parallele zu ihnen: die Haltung, die präzise Ausgestaltung des Körpers, die sehnigen Muskeln, die plastisch durch die Haut durchtreten. Betonung finden sie durch helle Hebungen. Trotz dieser Parallelen wendet sich der nackte Maler gegen die anatomische Tradition der Muskelmänner: Er gibt den Blick nicht frei auf dasjenige, was hinter seiner Haut liegt, sondern er stellt seine Haut vor, stellt sie aus, stellt sie in den Vordergrund. Sie nimmt die zentrale Rolle im Bild ein. Trotzdem wirkt der Körper nicht oberflächlich oder flach, sondern durch den massiven Farbauftrag kommen einzelne Partien reliefartig hervor. Spuren der Pinselhaare bleiben sichtbar wie Kraftlinien.2 So entsteht eine Nähe, eine Intimität – zum Greifen nahe scheint sein Körper für die Betrachtenden zu sein. Der Maler setzt sich komplett aus, radikal, seinen gesamten Körper, seine Haut, nackt. Er zeigt ein fragiles Dasein in der puren Sinnlichkeit und Schwere des menschlichen Körpers, entlang der nackten Haut. Es ist eine »ex-peau-sition«3 . Diese Wortschöpfung von Nancy vereint die Exposition, das Ausstellen, mit dem 1 2 3
Nancy 2014a, 194. Frz.: »L''essence‹ de l’art n’est pas dans un temple, mais dans un trait, dans l’unicité singulière d’un trait nu sur une toile nue.« (Nancy 1993b, 215) Gayford 2013, 109. Nancy 2011c, 11. Als deutsches Pendant zu diesem französischen Begriff schlägt Nancy (2011c, 11) »Aus-sein/Haut-sein« vor und im Englischen »exhibi-skin«. Der Begriff Exposition umfasst nach Morin (2012, 131) drei Ebenen: Er meint erstens eine körperliche Exposition, das heißt, Körper berühren Körper und daraus folgt eine grundlegende Passibilität. Zweitens ist damit eine phänomenologische Exposition verbunden, in der das Bewusstsein oder das Denken die Exposition der Körper erneut exponiert und wiederum auch von diesen exponiert wird. Das heißt, auch Denken und Bewusstsein wird von Nancy nicht losgelöst von seiner Körperlichkeit verstanden, sondern selbst als Körper. Drittens beinhaltet der Begriff auch eine linguis-
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französischen Wort für Haut, peau. Exponierte Körper sind offene Körper, sie sind immer der Außenwelt zugewandt, bieten sich beständig dar, und zwar mit ihrer Oberfläche, ihrer Haut.4 Bilder sind immer expeauniert, denn sie lassen sich nicht in einer reinen Negativität denken oder in ihrer eigenen Existenz auflösen. Bilder verfügen stets über eine affirmative Struktur: »Sie vermögen nicht nicht zu zeigen.«5 Zumindest zeigen sie immer ihren Körper. Das Ausgesetztsein der Körper in ihrer Existenz: schonungslos und unabdingbar, immer ausgesetzt, immer zur Welt in aller körperlichen Schwere – vereint in einem Wort: Expeausition. Der exponierte Körper ist kein organischer Körper und er ist auch kein organloser Körper 6 . Der exponierte Körper ist ein Grenzgeschehen, er findet an der Grenze der Haut statt und ist damit immer berührend-berührter Körper7 . Er ist ein nach vorne gestellter Körper, der sich aussetzt, der angrenzt, sich abgrenzt, in Kontakt tritt, berührt. Er ist gleichzeitig ein Körper, der berührt wird, an den angegrenzt wird, von dem man sich abgrenzt. Daraus folgt, dass ein Körper sich nie als endgültig anwesend gibt, dass er nicht für sich alleine ist, dass er keine Entität oder Identität aus sich heraus beanspruchen kann. Ein Körper ist, weil er zu anderen Körpern ist, im Mit-sein mit anderen Körpern steht.8 Dieses Konzept des exponierten Körpers grenzt sich damit sowohl von der Phänomenologie als auch der Semiotik ab, wie in der Folge gezeigt wird. Die Phänomenologie unterscheidet ausgehend von Husserl zwischen Leib und Körper. Für diese Unterscheidung ist ebenfalls das Berühren ausschlaggebend, genauer gesagt das Tasten: »Die Hand liegt auf dem Tisch. Ich erfahre den Tisch als ein Festes, Kaltes, Glattes. Sie über den Tisch bewegend erfahre ich von ihm und seinen dinglichen Bestimmungen. Zugleich aber kann ich jederzeit auf die Hand achten und finde auf ihr vor Tastempfindungen, Glätte- und Kälteempfindungen usw., im Innern der Hand, der erfahrenen Bewegung parallel laufend, Bewegungsempfindungen usw.«9
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tische oder, neutraler formuliert, eine sinnliche Exposition, bei der Sinn in Sprache oder in ideale Bedeutungen eingeschrieben wird. Nancy 2003a, 115; 107. Mersch 2011, 78. Deleuze (1995, 32-38) entwickelt den organlosen Körper u.a. in Bezug zur Malerei Francis Bacons. Nancy 2013, 55. Vgl. dazu das Kap. »Berühren als Konkretion des Mit-seins« im ersten Teil. Husserl 1952, 146.
Der exponierte und widerständige Körper
Im Zuge des Tastens erfahre man nicht nur die Festigkeit, Kälte und Glätte des Tisches, sondern »bei ›anderer Richtung der Aufmerksamkeit‹«10 auch eine Tast-, Kälte- und Glätteempfindung auf der Hand sowie Bewegungsempfindungen in ihr selbst. Im Tastakt kann man folglich nicht nur von außen eine objektive Raumstelle angeben, von woher das Tasten erfolgt, sondern spürt es auch an eben dieser Stelle im Körper selbst. Genau durch »das Einlegen der Empfindungen im Abtasten, […] kurzum durch die Lokalisation der Empfindungen als Empfindungen«11 hebt sich der Leib vom Körper ab und wird konstituiert. Diese Empfindnisse12 und damit die Leiblichkeit fehlen bloß materiellen Gegenständen, sie bleiben Körper. Diesem Verständnis folgend bildet der Leib den »Nullpunkt all dieser Orientierungen«13 in der Welt und den Ursprung der intentionalen Akte. Der Körper ist Voraussetzung für den Leib, bleibt aber unthematisch, solange er seine Rolle als Gegenstand in der Welt, als materielle Konstante erfüllt. Dabei wird der Körper zwar als offen, berührbar, erscheinend und sich gebend verstanden, was sich aber gibt, erscheint oder öffnet, ist die Erscheinung oder der Leib und nicht der Körper.14 Genau in dieser Hinsicht grenzt sich Nancy mit seinem Verständnis des exponierten Körpers ab: Er ist kein erscheinender Körper, er ist ausgesetzter Körper, er ist kein bedeutender Körper, er ist bedeutungslos. Der exponierte Körper besteht aus heterogenen sinnlichen Zonen, er wird genossen, er genießt: nicht im Sinne eines Vergnügens, das ein Selbst für sich selbst erfahren kann, auch nicht als Moment, in dem das Ich sich selbst verliert und zum anderen übergeht, sondern Genuss meint das In-Kontakt-Kommen, das Berühren und Berührtwerden. Der Körper ist damit weder für sich noch für andere, er ist weder innen noch außen, sondern hat an der Grenze des Berührens statt – in Abgrenzung zum erscheinenden Körper der Phänomenologie.15 Der exponierte Körper grenzt sich aber auch vom Konzept des Leibes der Phänomenologie ab: Indem er sich radikal exponiert, bringt er sich stets in Kontakt und damit ins Außerhalb.16 Daraus folgt, dass selbst mein eigener empfindender Körper, der phänomenologische Leib, nicht zur Gänze der eigene ist, sondern immer schon auf gewisse Weise fremd ist: Erst durch einen anderen Körper wird mein Körper zu meinem Körper, was dazu führt, dass er nicht mehr ganz bei sich ist, nie ganz bei sich war, sondern offen ist, angrenzt, abgrenzt. Das Fremdsein ist so nach Nancy die notwendige Bedingung von Körperlichkeit.17
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Husserl 1952, 146. Husserl 1952, 151. Husserl 1952, 146. Husserl 1952, 158. James 2006, 117; Heikkilä 2007, 27. Morin 2012, 130. Nancy 2010a, 29. Nancy 2010a, 46.
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»Mein Körper ist nicht nur meine nach außen gekehrte Haut: Er ist bereits selbst mein Außen, das Außen in mir und für mich – durch mich mir selbst gegenübergestellt, um mich von der Einheit zu unterscheiden. Den anderen und zunächst diesem Anderen fremd, zu dem ich dank seiner werde.«18 Die Verflechtung mit dem Außen hat uns, so Nancy mit Bezug auf Merleau-Ponty, immer schon bis in das Innerste hinein exponiert. Das Innen ist dann nirgendwo anders als zwischen Außen und Innen.19 Dieses Zwischen ist selbst kein Seiendes, kein Gegenstand, auch kein Vermittler oder Drittes und es ist auch kein leerer Raum. Es ist selbst erst durch die Singularitäten, durch ihre Kontakte und Distanzen. Diese Begegnungen oder Aussetzungen sind nicht auf Menschen, das heißt intersubjektive Bezüge, beschränkt: Der Körper existiert auch gegen den Stoff der Bekleidung ebenso wie gegen die Dünste der Luft, die er atmet, den Glanz der Lichter oder die Finsternis.20 Da der Körper im Unterschied zu allen anderen Körpern ist, hört er nie auf, sich zu unterscheiden. Würden sich die Körper nicht unterscheiden, wären sie keine Körper, sondern das Unterschiedslose einer ungeformten Materie. Wenn sie sich unterscheiden, geschieht dies im notwendig doppelten Sinn des Annäherns und Distanzierens. Dieses Unterscheiden verläuft prozesshaft, immer wieder voranschreitend und kann ebensowenig aufgehalten werden wie das Exponieren. Aus diesem Grund sind Körper keine starren Unterschiede, ein für alle Mal festgelegt, sondern dynamisch, beweglich, in Veränderung begriffen – sie sind Kräfte.21 Trotz dieser Unterschiede, Abgrenzungen, Aufschübe und Entzüge ist der exponierte Körper nie eine reine Absenz, sondern ausgesetzt, anwesend, da. Damit unterscheidet er sich auch von semiotischen Ansätzen, wie sie von Saussure und in dessen Nachfolge vertreten wurden.22 Darin bleibt der Körper ein notwendiges Mittel zum Zweck, eingebunden in ein System der Zeichen, in ein System der Bezeichnung. Das Zeichen ist leer und willkürlich. Bedeutung bekommt es allerdings nicht durch ein Objekt, auf das es verweist – im großen Unterschied etwa zu Platon –, sondern durch andere Zeichen. Das Bild kreiert seine eigene Wirklichkeit: Es steht nicht mehr in einer abbildenden Funktion oder einer Verweisfunktion. Folglich kann auch die erste Form der Täuschung und die damit verbundene Gefahr, wie sie anhand der Legende des Zeuxis thematisiert wurde, entschärft werden – nämlich diejenige, dass die Darstellung des Bildes das Bild selbst sei. Was jedoch die zweite Form der Täuschung – die Täuschung des Bildes als Körper – betrifft,
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Nancy 2012, 51. Nancy 2010a, 46. Nancy 2010a, 13. Nancy 2010a, 11. Saussure 2001.
Der exponierte und widerständige Körper
so gilt: Eingliederung des Bildes in ein Sinnsystem, das sich zwar strukturell verändert hat, aber trotzdem und immer noch die Präsenz des Bildes als Bild, des Zeichens als Zeichen übergeht. Die Darstellungsfunktion des Bildes ohne ihre Verweisfunktion und ohne Abbildlichkeit zu denken, befreit das Bild zwar aus seiner streng repräsentationalistischen Aufgabe, legt den Fokus aber auf das Funktionieren, das Besagen, das Bedeuten, das Verstehen, die Interpretation, die Lektüre.23 Zeichen werden damit weiterhin nur auf das hin untersucht, wofür sie stehen und was sie meinen. Der Körper wird dadurch »in vielen Spielarten der Semiotik bewußt aus dem Spiel gebracht […]. Die Zeichentheorie gehört zu den Abstraktionsleistungen der Moderne, denn sie trennte die Welt der Zeichen von der Welt der Körper in dem Sinne, daß Zeichen in sozialen Systemen zu Hause sind und auf Vereinbarung fußen. Sie wenden sich an eine kognitive statt an eine sinnliche, körperbezogene Wahrnehmung: selbst Bilder reduzierten sich dabei zu ikonischen Zeichen.«24 Bilder erfahren so eine »funktionalistische Einschränkung«25 . Ihre Bedeutungsfunktionalität steht im Vordergrund – das, was sich selbst ausstellt, was sich präsentiert, wird dem Primat des Hermeneutischen untergeordnet.26 Die Anwesenheit des Zeichens, sein Hier oder das Da sind zweitrangig. Diese Kritik trifft auch das Konzept der différance, wie es Derrida entwirft. Er denkt darin das Bild vom Entzug, von der Spur, vom Unsichtbaren, von der Blindheit und von der Repräsentation her – nicht aber seine Sichtbarkeit, seine Körperlichkeit, seine Materialität, seine Präsenz. Das Zeichen setzt Materialität zwar voraus, dennoch interessiert diese konkrete Materialität nicht, sondern nur das Materielle als Struktur.27 Das hat zur Folge, dass die Präsenz des Zeichens zum Graphem, das heißt zu einer skripturalen Marke, wird: Spur, Kette. Materialität wird von Derrida so nur als Oberfläche betrachtet, die sich als Spur im Bezeichneten nachzeichnet oder sich als mediale Textur mitschreibt. Sie tritt nur hervor durch ihre Markierung, aber in ihrer Materialität bleibt sie entzogen. So bleibt sie
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Mersch 2002, 16. Belting 2011, 14. Belting 2011, 14. Auch wenn Belting den Körper der Bilder betont, betrachtet er ihn dennoch nur als »mediales Subjekt« (Belting 2011, 14) und damit in seiner Funktion als Medium und nicht in seiner Schwere als Körper, wie aus seiner Definition deutlich wird: »Dagegen verstehe ich Medien als Trägermedien oder Gastmedien, deren die Bilder bedürfen, um sichtbar zu werden, also als Medien des Bildes.« (Belting 2011, 27) Mersch 2002, 16. Mersch 2002, 25.
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ein Rest oder Rückstand, der in den Ketten der Signifikanten ein Anderes, Unbestimmtes anzeigt.28 Die Materialität der Körper kann nie vom Symbolischen eingeholt werden, kann sich selber nie einholen. Genau deshalb stellt die Frage nach der Materialität der Körper einen schwerwiegenden Vorwurf an das Denken, an das Bild dar. Jede Rede darüber ist bei Derrida indirekt und schon in der Kette der Signifikanten verankert, was zur Folge hat, dass das »Reden über eine Sache beginnt, das physische Anwesen der Sache selbst schließlich gänzlich zu ersetzen. Der ›linguistic-turn‹ in der Philosophie des 20. Jhs. bekommt von daher gesehen ein bedrohliches Gesicht.«29 Dieses bedrohliche Gesicht zeigt sich vor allem in der Totalität des Zeichensystems, wenn es etwa heißt: »Das System des Zeichens hat kein Draußen.«30 Die Kette der Zeichen ist unendlich und es gibt keinen Ausweg daraus. Es ist ein absolutes und totalitäres System – ähnlich wie der platonische Staat. Aufgrund ihres nie zur Gänze kontrollierbaren duplizitären Status (kath’auto und pros alla, Körper und Darstellung) erkennt Platon eine große Gefahr in der Malerei, die ihn zwingt, sie gesondert zu behandeln, sie abzuwerten, zu degradieren und sie in letzter Instanz vom idealen Staat auszuschließen.31 Während Platon in den ersten neun Kapiteln der »Politeia« jedem genannten Beruf eine bestimmte Funktion in der Staatsordnung zuwies, tut er dies nicht für die Bildherstellerinnen und -hersteller: Sie bleiben außerordentlich und wundervoll.32 Der Staat ist dann der Ort ohne Bilder, zumindest ohne Trugbilder. Im Gegensatz dazu haben die Malerei und die Körper einen Platz im System der Semiotik gefunden. Der (Bild-)Körper hat eine Funktion und in dieser soll er aufgehen – sie liegt darin, eine Bedeutung entstehen zu lassen. Aus diesem Grund übersieht die Semiotik die Körper nicht
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Mersch 2011, 12-13. Belting 2011, 19. Besonders zur Geltung kommt Derridas Vorgehensweise in seiner Auseinandersetzung mit den Zeichnungen von Antonin Artaud. Indem Artaud den Untergrund der Bilder aufreißt, eröffne sich der Grund als widerspenstiges Subjektil einer Repräsentation, die den Bildträger benutze, um etwas anderes sichtbar zu machen. Das Subjektil wehre sich gegen seine Rolle als Träger. (Derrida 1986, 61) Derrida betont damit zwar die Materialität des Bildes, seine Kritik richtet sich aber in erster Linie gegen Repräsentationsbzw. Abbildtheorien sowie Theorien der Präsenz der Bilder. Sein Interesse für das Bild liegt darin, das Bild jenseits der Sichtbarkeit zu denken, mit welcher er Imagination, Abbildlichkeit und Präsenzdenken verbindet. Das Subjektil zeigt sich ebensowenig wie die Spur oder der Zug, sondern sie changieren dematerialisiert zwischen Bildelement und dekonstruktiver Denkfigur. (Fliescher/Vogman 2014, 83-84) Böhler 2013, 234. Derrida 1983, 402. Plat. rep. 600c-602c. Plat. rep. 596c. Siehe dazu auch das Kapitel »Narcissus als Erfinder der Malkunst« im zweiten Teil.
Der exponierte und widerständige Körper
einfach,33 vielmehr werden sie untergeordnet, zu bezeichnet-bezeichnenden Körpern gemacht, gebannt.34 Die Zeichenmodelle sind dabei zwar beweglich, Differenzen und Aufschübe schaffend, Bedeutungen verschiebend und kreierend, aber alles ist Zeichen, alles ist Aufschub – das gilt auch für die Körper. In dieser Hinsicht sind die Körper nicht verschwunden, im Gegenteil ist es der Verdienst der Philosophie Derridas, die Körper weder in ihrem An-und-für-sich-Sein noch ihrer konkreten oder physischen Exteriorität zu denken: Wie Zeichen sind sie aufgeschoben, stehen in Relation zu anderen. Körper bilden keinen Ursprung für Zeichen und auch nicht das Gegenteil des Ursprungs, sie sind keine Abwesenheit und auch keine Anwesenheit, sondern selbst schon eine Spur, die eine Anwesenheit ersetzt, die aber selbst nie anwesend war.35 Genau dieser Ansatz ist es, auf den sich auch Nancy bezieht. Er betont in seiner Untersuchung von Derridas Text »Ellipse« sogar dessen korporale Philosophie, wenn es heißt: Mit Derrida habe der Körper die metaphysische Anwesenheit verloren, stattdessen habe er die Präsenz dieses verlorenen Körpers unaufhörlich betont und eingeschrieben – er habe den verlorenen Körper an den Grenzen der Sprache präsentiert.36 Es scheint allerdings so, als ob Nancy hier bereits seinen Ansatz in den Text Derridas transformiert. Tatsächlich ist in dem gesamten Text von Derrida kein einziges Mal vom Körper die Rede. Er beschreibt darin vielmehr den räumlich-zeitlichen Aufschub, die différance, wie sie sich beim Schreiben ereignet.37 Dass auch die Körper in Relationen und in räumlich-zeitlichen Aufschüben begriffen sind, ist dabei anzunehmen, da es kein Außerhalb dieser Spuren und Ketten gibt. Die Kehrseite davon ist allerdings, dass die Körper in ein System der Zeichen eingegliedert werden, das ihnen nicht gerecht zu werden vermag. Nancy lehnt sich zwar an Derridas Ansatz an, jedoch liegt genau hierin auch die Ellipse38 zwischen den beiden. Derridas Kette der Signifikanten ist frei flottierend und keiner Abbildbeziehung unterworfen, lässt aber keinen Ausweg und keine Präsenz zu. Zeichen sind nur als Spur anwesend. Ihre Anwesenheit erscheint so erst durch eine Nachträglichkeit: Die Gegenwart des Zeichens unterliegt immer und notwendig der NichtGegenwart einer primären Differenz und wird einzig und allein von dort her strukturiert und gedacht.39 Dies zeigt sich auch in Derridas Arbeitsweise mit Bildern.
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Wulf 2005, 40. Nancy 2003a, 95. Derrida 1976, 444. Nancy 1988, 189-190. Derrida 1976, 445-446. Nancy 1988, 175. Mersch 2002, 25.
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So meidet er in »Die Wahrheit in der Malerei« (1978) alles Zeigende und die Materialität der Bilder, ihm geht es allein um deren Bedingungen und den Entzug, der sie konstituiert.40 Die Wahrheit in der Malerei wird somit negativ umschrieben – zum einen durch Diskurse über Malerei im Bereich der Kunstphilosophie und zum anderen, indem weder Malerei noch ihre materiellen Bestimmungen direkt adressiert, sondern in ein differentielles Spiel überführt werden.41 Derridas Philosophie ist daher die »am weitesten fortgeschrittene Philosophie eines Nicht-Ereignisses, einer Nicht-Präsenz, die diese immer schon der Wiederholung und damit dem Vorrang des Schnitts, der Struktur, der Markierung überantwortet hat«42 . Körper sind tief eingebettet in ein durch sie entstandenes System der Zeichen, das System der Repräsentation, der Negativität und Supplementarität. Ihre strukturelle Rolle ist dabei äußerst ambivalent: Einerseits sind sie nötig, um Bedeutung zu generieren, andererseits sollen sie dabei als Medium agieren und selbst durchsichtig werden. Um dies zu garantieren, muss der Körper kontrolliert werden. In ihm lauert aber immer die Gefahr, die Repräsentation aufklaffen zu lassen, indem er selbst hervortritt. In dieser Doppelstruktur, die sich auch im Bild wiederfindet, stellt der bezeichnende-bezeichnete Körper nur eines dar: »den absoluten Widerspruch, nicht Körper sein zu können ohne das Sein eines Geistes, der ihn entkörpert«43 . Oder anders formuliert, durch ihn erfahren der Geist, die Bedeutung, die Darstellung etc. eine Verkörperung.44 Der nackte Maler bannt seinen Körper nicht, sondern stellt ihn aus, bringt ihn nach vorne, indem er ihn aufrecht und nackt präsentiert. Damit setzt er den Körper ins Bild, den die Semiotik verbirgt. Aber Freud legt damit nicht nur seinen eigenen Körper bloß. Indem er sich ausstellt, stellt er auch den Bildkörper aus: Sein Oberkörper spiegelt die rechteckige Form des Bildkörpers wider – eine Art 40 41 42 43 44
Belting 2011, 19. Fliescher/Vogman 2014, 82. Mersch 2002, 25. Nancy 2003a, 62. Frz.: »l’absolue contradiction de ne pas pouvoir être corps sans l’être d’un esprit, qui le désincorpore« (Nancy 2000a, 62). In dieser Hinsicht ist der hier in Anlehnung an Nancy vertretene Ansatz auch ganz entschieden abzuheben von einer Philosophie der Verkörperung (u.a. Fingerhut 2013; Etzelmüller/Fuchs/Tewes 2017) oder dem Begriff Embodiment (u.a. Weiss/Haber 1999; Gallagher 2005), wie sie in den letzten Jahren breit diskutiert und auch für die Bildforschung zum Einsatz gebracht werden (u.a. Bredekamp 2013, 325; Waldenfels 2005; Fischer-Lichte/Horn/Warstat 2001). Der Körper (des Bildes) rückt dabei zwar in den Fokus, allerdings nur hinsichtlich dessen, dass eine Darstellung, ein Inhalt, eine Bedeutung, ein Bewusstsein etc. einen Körper voraussetzt, das heißt, der Körper wird dahingehend betrachtet, dass er etwas verkörpert, einer Darstellung, einem Inhalt etc. einen Ort gibt. Er steht in einem Funktionsverhältnis und bleibt so bezeichnend-bezeichneter Körper. Im Gegensatz dazu wird in der vorliegenden Arbeit immer vom Körper her gedacht, das heißt von der Exposition und Materialität – eine Philosophie der Körper und keine Philosophie der Verkörperung.
Der exponierte und widerständige Körper
Bild im Bild. Zudem stößt die Figur mit ihrem Malmesser direkt an den Bildkörper, als ob sie darauf aufmerksam machen möchte, dass sich hier noch etwas zeigt, dass sich hier noch etwas aussetzt: der Bildkörper selbst. Im gleichen Moment, in dem das Bild den nackten Maler zeigt, zeigt es immer auch sich selbst als Bild, das etwas zeigt. Das Bild ist die Darbietung eines nochmaligen und immer wieder neuen Zurschaustellens. Das Bild stellt seine Darstellung und seinen Körper aus, und flottiert damit stets zwischen An- und Abwesenheit, Sein und Nichtsein, wie Platon das Bild ontologisch definiert hat, dann allerdings zugunsten der reinen Referentialität auswertet, und welches Derrida bloß in seiner Negativität, Abwesenheit und zu denken vermag. Der Körper des nackten Malers ist allerdings ein vollkommen exponierter, ausgestellter Körper, ebenso wie der Bildkörper ein exponierter und ausgestellter ist.45 Es ist dieser Körper, auf den Zeuxis so hart stößt: Der Bildkörper hat mit Zeuxis den Meister der Malerei in Schrecken versetzt, ihm eine Abfuhr erteilt, da ihm eine widerständige Kraft46 eigen ist, die sich gegen jegliche Bannung und Fest45
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Dass der Bildkörper stets von Vergessenheit oder Verleugnung betroffen ist und daher besonders betont werden muss, hebt u.a. Belting (2011, 25) hervor, wenn es heißt: »Seit der Mensch ein Bildwerk formte oder eine Figur zeichnete, wählte er dafür ein passendes Medium, ob dies nun ein Klumpen Lehm oder eine glatte Höhlenwand war. Ein Bild darzustellen bedeutete erst einmal, ein Bild physisch herzustellen. Die Bilder treten in die Welt nicht durch Parthenogenese. Vielmehr wurden sie in konkreten Bildkörpern geboren, die schon aus ihrem Material und ihrem Format heraus ihre Wirkung entfalteten.« Dieses widerständige Potential des Körpers entgeht auch den auf den Sprechakttheorien basierenden Bildakttheorien. So geht etwa Bredekamp (2013, 51) davon aus, dass das Bild eine ähnliche Rolle hat wie der Sprecher bzw. die Sprecherin im Rahmen eines Sprechaktes. Das heißt, das Bild beginnt sich zu verständigen, wenn auch nicht diskursiv. Damit gehen zwei unhinterfragte, gleichwohl höchst problematische Annahmen einher. Erstens wird davon ausgegangen, dass der Betrachter und die Betrachterin das Bild verstehen, dass sie also eine Sprache sprechen oder zumindest über ein Zeichensystem verfügen, das verstanden werden kann. Im Gegensatz dazu wird hier argumentiert, dass sich das Bild zwar mitteilt, dass dies aber nicht primär oder ausschließlich auf einer Zeichenebene verläuft: Das Bild in seiner Darstellung und seinem Körper exponiert sich, teilt sich mit anderen, öffnet sich ihnen, indem es sich aussetzt. Diese Ebene ist primär eine körperliche und hat noch nicht unbedingt etwas mit Zeichenprozessen zu tun. Zweitens geht Bredekamp davon aus, dass der Körper des Bildes die Aufgabe hat, die Botschaft des Bildes zu tragen und hervorzubringen. Damit findet die klassische Rollenverteilung der Semiotik eine Fortsetzung. Demgegenüber wird hier der exponierte Körper als widerständig angesehen, das heißt, er geht nicht in seiner Trägerfunktion auf, sondern kann sich bemerkbar machen, überschießen. Damit verbunden ist auch die Gefahr des Erschreckens, der Zerstörung oder der Verwirrung. Das Ereignishafte ist damit in Form des Körpers und seiner Spannung zur Darstellung im Bild selbst angelegt und immer enthalten. Wenn Bredekamp aber davon spricht, dass das Zugestehen eines aktiven Handlungsvollzugs eines Bildes »auch die Potenz zur Verwunderung« besitzt und dass dies sogar zu den »Wesensbestimmungen« (Bredekamp 2013, 22) einer bildaktiven Phänomenologie gehört, so spricht er dabei nicht vom Körper des Bildes, sondern davon, dass uns
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schreibung sträubt. Das heißt folglich aber auch, dass die Körper nie endgültig zu kontrollieren sind. Das Bild ist daher ein »Überschuß, und vermutlich gibt es vorläufig keine andere Definition der Kunst als das Überfließen und das Übertragen über die Zeichen hinaus. So gesehen gibt die Kunst ›einen Wink‹, ohne jemals Zeichen von etwas zu sein oder etwas anderes zu bezeichnen. Sie schießt über die Zeichen hinaus, ohne etwas anderes als diesen Überschuß zu offenbaren, wie eine Ankündigung, ein Anzeichen, eine Ahnung der bodenlosen Einheit.«47 Ein Zeichen nimmt entweder einen Platz in einer Struktur ein oder substituiert funktional, was es nicht ist, indem es für etwas steht und dieses bezeichnet, dabei kann es jedoch nicht das mitbezeichnen, was es austrägt: Den Zeichen und damit auch den Bildern entgeht notwendigerweise dasjenige, was sie ermöglicht, und zwar ihre Materialität, ihre Ausgedehntheit, ihre Körper, die den Zeichen erst stattgeben.48 Dies hat zur Folge, dass Bilder und Zeichen, von ihrer Bedingung der Möglichkeit her beständig gefährdet oder bedroht sind. Bilder bestimmen sich folglich nicht nur über ihre Darstellung und das Spiel der Differenzen, sondern über ihre grundsätzliche und doppelte Exponiertheit. Im Bild und mit dem Bild kommen Körper zusammen, berühren sich, treten in Kontakt: »Treat paintings make you wonder how the body communicates«49 , wie Freud schreibt.
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die Aussage des Bildes nicht gefallen, uns sogar verletzen kann, was zweifelsohne eine Wirkmächtigkeit des Bildes ausmacht, allerdings auf einer anderen Ebene – der Ebene der Bedeutung und nicht derjenigen des Sinns, um mit Nancys Termini zu sprechen – angesiedelt ist. Nancy 2006a, 49. Frz.: »excès, et l’art sans doute n’a d’autre définition en première instance que le débordement et l’emportement au-delà des signes. À ce compte, l’art, sans doute, ›fait signe‹ (au sens de l’allemand winken, ›cligner de l’œil‹, ›avertir‹, ›signaler‹) mais il n’est pas signe de quelque chose ni ne signifie autre chose. Il excède les signes sans pour autant révéler autre chose que cet excès, comme une annonce, un indice, un présage – de l’unité sans fond.« (Nancy 2003c, 55) Die Beschreibung in der Klammer wurde vom Übersetzer weggelassen und findet auch keine Erwähnung in einer Anmerkung. Mersch 2002, 29. Freud 2012, 218.
Inkarnat
Wenn der Maler, Lucian Freud, seinen nackten Körper ins Bild bringt, dann ist es eine lange und mühsame Passage, die der Körper durchläuft, um auf die Leinwand zu kommen – und dieser Transit wird von Freud durchgeführt wie ein Ritual, das schon vor dem Malen beginnt: »Zu Anfang wühlt er herum und findet eine Palette, dick verkrustet mit Klumpen und Wülsten getrockneter Farbe. Dann verbringt er beträchtliche Zeit damit, einen Bereich links unten neben dem Daumenloch sorgfältig zu reinigen. Danach folgt die Suche nach geeigneten Pinseln und Farbtuben, die massenweise auf einem Rollwagen und oben auf einem Wandregal liegen. Aus dem Berg ausrangierter Bettlaken in der einen Ecke des Ateliers fischt er ein sauberes Stück hervor, reißt ein viereckiges Teil heraus und steckt es in seinen Hosenbund wie ein lässiger Metzger oder Bäcker.«1 Erst danach fängt er an, einen Körper, im Fall von »Painter Working, Reflection« seinen Körper, ganz langsam und mit vielen einzelnen Pinselstrichen, denen jeweils ein langes Abwägen vorausgeht, ins Bild zu ziehen: »Seine Konzentrationsphasen beginnen meist mit einem besonders intensiven Starren, gefolgt von einem tiefen Seufzer. Er tritt vor und zurück, schnellt gelegentlich wie ein Pfeil nach vorn, um dann wieder von der Leinwand wegzuspringen, wobei er einen Mundwinkel in einer Grimasse nach unten zieht. Manchmal berührt er das Bild mit dem Pinsel wie jemand, der etwas sehr Heißes oder elektrisch Geladenes anfasst. In winzigen Schritten breitet sich die Farbe ganz allmählich auf der Leinwand aus.«2 Im Zuge des künstlerischen Prozesses geht der Körper von einer Ordnung zu einer anderen über, er durchläuft eine Deformation,3 in der er sein Fleisch, sein Blut, seine Haut und Haare verliert und Farbe wird. Nichts bleibt von diesem Körper
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Gayford 2013, 31. Gayford 2013, 69-72. Deleuze 1995, 28.
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übrig, und dennoch ist dieser Übergang keiner von einer Anwesenheit in eine Abwesenheit, sondern von einer Präsenz zu einer Präsenz, eine Passage von etwas Da-Seiendem zu etwas anderem Da-Seienden.4 Wenn der Körper in der Fläche angekommen ist, dann ist er Figur, aber auch diese Figur exponiert sich mit ihrem Körper. Sie exponiert sich sogar radikal – ohne Möglichkeit, sich zu verdecken, ausgestellt und vorgeführt, präsent, widerständig, da. Die Figur ist selbst Körper, weshalb sie ihren Stellenwert nicht durch etwas anderes, ein Modell oder eine Erzählung bekommt, der Akt stellt nicht die Abwesenheit des Körpers dar, sondern gerade seine Präsenz. Der Körper im Akt ist ein vollkommen exponierter Körper, der außer sich gestellt ist, auf die Schwelle der Haut – Fleisch wird Haut. Für Freud hat die Haut, das Inkarnat, eine zentrale Rolle im Bild: Mit der Hautfarbe beginnt er zumeist zu malen, ihr widmet er die meiste Zeit, den meisten Aufwand, die meiste Farbe.5 Die Haut der Modelle wird dafür extrem genau beobachtet. Als Inkarnat ins Bild gebracht nimmt sie viel Fläche davon ein – in manchen seiner Porträts sogar den Großteil des Bildes. Das Inkarnat ist die Farbe der Passage, die der Körper durchläuft: Fleisch, Knochen, Muskeln und Haut werden Inkarnat. »Ich sehe es so: Die Farbe ist die Person. Ich will, dass sie genauso wirkt wie Fleisch.«6 Die Farbe bildet die Person nicht einfach nur ab, sondern durch die Farbe entsteht ein Körper in all seiner Exponiertheit und Widerständigkeit. Indem Freud dem Inkarnat eine so entscheidende Rolle zuspricht, reiht er sich in eine lange Tradition der Malerei ein. Die Darstellung der Haut gilt dabei als eine der schwierigsten Herausforderungen – zum einen, da sie im Bild meist eine zentrale Rolle einnimmt und zum anderen aufgrund ihrer paradoxalen Beschaffenheit, denn sie soll zugleich ebenmäßig und variiert, durchscheinend und deckend sein.7 Um diese Herausforderung zu bewältigen, werden ausgefeilte Techniken entwickelt. An ihnen und ihrer konkreten Ausführung wurde nicht nur das Gelingen oder Misslingen eines Bildes bemessen, sondern die »Geschichte der gemalten Haut ist in gewisser Weise auch eine Geschichte des Bildes«8 .
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Nancy/Ferrari 2006b, 104. Nancy/Ferrari beziehen sich dabei auf: Perniola 1998. Gayford 2013, 159. Freud, zit. n. Gayford 2013, 112. Diese Gleichsetzung von Farbe und Person zeigt sich bereits in der Malereigeschichte, insbesondere bei den großen Meistern Tizian und Caravaggio: So meint Ludovico Dolce, dass Tizian im Bild des »Hl. Sebastian« Fleisch verwendet hat und keine Farben. (Dolce Dial. 203) Eine ganz ähnliche Äußerung ist auch über die Bilder Caravaggios überliefert. So hat der Klassizist, Luigi Lanzi, Annibale Carracci die Wörter in den Mund gelegt, dass Caravaggio, um Fleisch zu malen, tatsächlich auch Fleisch zerrieben habe und seine Darstellung nur deshalb so echt wirke. (Lanzi Stor. 1,358) Lehmann 2007, 23. Lehmann 2009, 84.
Inkarnat
Rege Diskussionen um das Inkarnat fanden vor allem in der italienischen Renaissance statt. Eine Analyse von ca. 60 Traktaten, Dialogen, Viten und Briefen9 ergab, dass sowohl der Ausdruck Haut (pelle) wie auch der Ausdruck Fleisch (carne, carnagione) zu den zentralen Begriffen in der kunsttheoretischen Diskussion von 1400 bis 1700 in Italien gehören. Während der Begriff pelle für die reale oder gemalte Haut und als Metonymie für den gesamten Menschen und das ganze Bild verwendet wird,10 bezeichnen der Begriff carne und seine Variationen vor allem das Inkarnat, d.h. die Hautfarbe, welche besonders in den Malereitraktaten des 15. und 16. Jhs. behandelt wird. In den Quellen nördlich der Alpen finden sich für die Hautfarbe Ausdrücke wie lebendfarb, menschfarb, flesh colour, carnation, carnat und Ausdrücke für Leibfarbe wie libvar, lijfverwe.11 In den italienischen Malereitraktaten wird in vielen Varianten vom Fleisch gesprochen, um die gemalte Haut zu bezeichnen – carne, carnoso, carnosità, incarnato, incarnazione, incarnare, carnagione.12 Diese (paradoxe) Wortwahl hängt entscheidend mit dem Ansatz der Renaissancemalerei zusammen, die Zweidimensionalität zu überwinden und Plastizität zu illusionieren. Der Begriff der Haut (pelle) ist im Gegensatz zum Begriff Fleisch (carne) viel weniger geeignet, diese Dreidimensionalität zum Ausdruck zu bringen, da er mit dem Charakter einer Oberfläche konnotiert ist.13 Das Ziel der verschiedenen Techniken zur Herstellung des Inkarnats liegt darin, eine überzeugende Darstellung der für die Hautoberfläche charakteristischen Semi-Transparenz und ihre fließenden Übergänge zu erreichen. Eine der zentralsten Techniken dafür ist das verdaccio, das auf die byzantinische Malerei zurückgeht und bereits im »Malerbuch vom Berge Athos«14 beschrieben wird, aber auch noch bei Michelangelo Verwendung findet. Cennino Cennini beschreibt das verdaccio in »Il libro dell’arte« als eine grüne Untermalung, auf die dann in feinsten Strichen Rosa und Ocker aufgetragen wird, um dann eine oder mehrere feine Lasuren darüber zu legen.15 Man müsse also die grüne Untermalung überall dort aufbringen, wo das Gesicht dunkler erscheinen soll, das heißt, man müsse gewisse Partien zu schattieren beginnen, »comincia a ombrare«16 : unterhalb des Kinns, der Nase, den
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Bohde 2007, 42. Vgl. dazu das Kap. »Porosität«. Lehmann 2007, 40. Bohde 2007, 42. Aus dem Lateinischen caro für Fleisch. Bohde 2007, 48. Das »Malerbuch vom Berge Athos« wird von Dionysios von Phourna zwischen 1701 und 1732 zusammengestellt, die Inhalte reichen aber zurück bis ins 10. Jh. Die deutsche Übersetzung von Godehard Schäfer erscheint 1855. Lehmann 2007, 23. Cenn. lib. 67.
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Augen etc. Es sind genau diese Stellen, an denen später Fleisch, an denen Inkarnation sein soll, »dove ha essere incarnazione«17 . Die Schattenpartien verleihen dem Gesicht also Tiefe und damit Körperlichkeit. Im Schatten liegt das Fleisch, das den Körper illusioniert und dieses wird durch Schattierung, das heißt die tonale Abstufung der Farbe erreicht. Die Bildfläche wird durch die Technik des Schattierens, einen optischen Trick, überwunden.18 Die Techniken dafür wurden lange ausgeprägt und immer weiter spezifiziert: So berichtet Theophilus in der ersten Hälfte des 12. Jhs. von einer beigen Untermalung und einem Farbauftrag in drei oder mehr Helligkeitsstufen.19 Die Farbe, die beim verdaccio aus Wasser, Ei- oder Lehmbasis besteht, macht aber gerade das übergangslose Malen schwierig, da sie sehr schnell trocknet. Aus diesem Grund werden zahlreiche sehr feine Pinselstriche eng nebeneinandergesetzt, sie sollen auf die Ferne gesehen diese Wirkung erzielen. Erst der Einsatz von Öl als Bindemittel ermöglicht aufgrund der langsameren Trocknung einen stufenlosen Übergang der Farbe, allerdings zögert man lange, damit auch für die Darstellung des Inkarnats zu experimentieren, während man die Ölfarbe bald für Draperien, Kleider, Landschaften oder Hintergründe einsetzt. Kaum ein anderer Gegenstand ist so lange und über so große geographische Abstände hinweg derart konstant und rigide in einer Technik gemalt worden, die zudem auch noch so kompliziert ist wie das verdaccio. Dies hängt entscheidend mit der prominenten Rolle zusammen, welche die Haut im Bildgefüge einnimmt: Wenn die Hautpartien nicht gut gemalt sind, so gilt das gesamte Bild als wenig qualitätsvoll. Individuelle Verträge zeugen davon, dass die Hautpartien als die wichtigsten und schwierigsten Teile des Bildes immer eigenhändig von den Meistern und Meisterinnen der Werkstatt auszuführen waren.20 In den Niederlanden hat sich die Ölfarbe als das Medium für die Darstellung der Haut vor allem mit Jan van Eyck nach 1500 etabliert und ist erst dann nach Italien gekommen, wo sie sich langsam durchzusetzen beginnt.21 So malt etwa Giovan17 18
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Cenn. lib. 67. Diese Rolle des Schattens, den Körper hervortreten zu lassen, führt wieder auf den ersten Teil der Arbeit und den Mythos der Butades zurück. Kruse 2000, 316. Auch wenn die Figuren an Plastizität gewinnen, so wirken die Darstellungen dennoch, als seien sie auf die Fläche modelliert. Den Bildfiguren fehlt ähnlich wie beim Relief der Bildraum, weshalb sie aussehen, als klebten sie mit einer Schnittfläche auf der Bildfläche. (Kruse 2000, 317) Lehmann 2007, 23. Theophilus geht es hier wie Cennini um die Überwindung der Bildfläche, allerdings sieht er im Gegensatz zu Cennini keine Notwendigkeit, diese Absicht auch kunsttheoretisch zu begründen. (Kruse 2000, 317) Lehmann 2007, 24-28. Lehmann 2007, 34. Wie schwierig die Aneignung dieser neuen Technik war, zeigt sich etwa an einem frühen Versuch von Leonardo da Vinci, der für die Schattenpartien im Gesicht seiner »Madonna mit Nelke« (Alte Pinakothek, München) zu viel vom neuen Medium verwendete. Dieser Ölüberschuss führt zu einer Kräuselung der Farbfläche und wirkt so, als ob die Madonna frühzeitig gealtert wäre. (Lehmann 2007, 27)
Inkarnat
ni Bellini in Venedig noch Anfang des 16. Jhs. die Hautfarben in Temperatechnik, aber schon ohne verdaccio. In Florenz, der Hauptstadt der zentralperspektivischen Malerei, wird die Haut in Einzelfällen bis in die Jahrhundertmitte noch mit Temperafarben gemalt, während für die anderen Teile des Bildes bereits Ölfarben zum Einsatz kommen. Die Hautdarstellung von Lucian Freud unterscheidet sich von diesem Anspruch auf Semi-Transparenz und stufenlosen Übergängen entscheidend, obwohl auch Freud Öl als Bindemittel einsetzt. Als Weißpigment verwendet er seit den 1970er Jahren das Kremser Weiß, und damit das schwerste Bleiweißpigment22 – sein Einsatz ist mittlerweile mit Ausnahme für die Erhaltung und Wiederherstellung von Kunstwerken verboten. Dieses Kremser Weiß trägt Freud gemischt mit anderen Farben oftmals sehr großzügig auf. Es prägt das Inkarnat nachhaltig, da es zu kleinen Klümpchen ausflockt, die sich immer mehr anhäufen, bis die ganze Oberfläche grobkörnig ist.23 »Diese Rauheit der Textur ist charakteristisch für viele von LFs Gemälden und verleiht ihnen eine einzigartige schimmernde Schwere.«24 Das Inkarnat hat keine durchscheinende Qualität und ist nicht glatt, wie klassischerweise gefordert wird, sondern rau, schwer, grob und es wirkt trocken, opak, erdig. Er gibt kein Abbild von der Haut und dem Fleisch und damit auch keine Äquivalenz zwischen ihnen und der Farbe, sondern Freuds Inkarnat zeigt das Fleisch und macht es in seiner Kontingenz spürbar.25 Zu Lawrence Gowing sagt Freud deshalb: »When you talk about the equation, […] [i]t makes me uneasy. I want paint to work as flesh, which is something different.«26 Verstärkung erfahren das Fleisch und seine Schwere sowie Rauheit noch durch die firnislose Oberfläche – Freud verlangt sie ausdrücklich für seine Bilder –, die dazu führt, dass den Bildern jeglicher Glanz fehlt und ihre Oberfläche matt bleibt.27 Über die körperliche Schwere der Farbe, des Kremser Weiß, kommt Freud auch zu einer gesteigerten Schwere und Sinnlichkeit seiner Darstellungen, der Körper, der Haut. Aus nächster Nähe wirken die einzelnen Bereiche der Haut und der Muskeln im Bild »Painter Working, Reflection« völlig abstrakt – ein großes Chaos aus Zügen, Farben, Klumpen und Schichten. Geht man aber nur ein wenig zurück, verwandelt sich alles in Wölbungen von Haut und Fleisch über Knochen. Obwohl in der malerischen Praxis viel Wert daraufgelegt wird, den Bildkörper mit Farbe zu bedecken und damit zu verschleiern, so geht es dabei doch darum, einen neuen Körper auf der Bildoberfläche hervorzuziehen. Die zentrale Rol-
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Gayford 2013, 111. Eine Auflistung der von Freud bevorzugten Farben gibt Dawson 2014, 90. Gowing 1984, 190. Vgl. Abb. 9 und 10. Gayford 2013, 111. Nancy/Ferrari 2006b, 59. Freud, zit. n. Gowing 1984, 190. Gruber 2013, 110.
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le des Inkarnats liegt nicht bloß darin, dass auf der Bildoberfläche ein Körper in Fleisch gesetzt wird. Auch wenn die Begrifflichkeit eine Nähe unterstellt, so sind die Künstlerinnen und Künstler keine gottgleichen Wesen, der Malakt ist kein Akt der Fleischwerdung und das Inkarnat nicht zu verwechseln mit der Inkarnation, wie eine Analyse der Malereitraktate zeigt. Der Terminus incarnazione bezeichnet die religiöse Tradition der Fleischwerdung Christi, also die Verkörperung bzw. die Menschwerdung des Gottessohnes. Dabei wird Materialität entweder spiritualisiert und mit Bedeutung aufgeladen oder die intelligible Idee wird in Materialität inkarniert.28 Die Inkarnation unterliegt dem Paradigma von zwei Welten, zwischen denen sie vermitteln soll. Die Verbbildung incarnari weist das Fleischwerden als einen Verwandlungsprozess aus, der auch eine Substanzveränderung anzeigt: Wort wird Fleisch.29 Wenn die Inkarnation in manchen Anekdoten auf die Kunst umgelegt wird, so wird die schöpferische Rolle Gottes zumeist auf die Künstlerinnen oder den Künstler übertragen, die aus Farben wirkliches Fleisch schaffen, die dem Bild Leben einhauchen, es animieren. Diese Verwendungsweise findet sich vor allem in der Antike und in der Renaissance, hat aber eine klar untergeordnete Bedeutung.30 Der Terminus incarnazione kann in der Malerei erstmals Mitte des 14. Jhs. im anonymen Rezeptbuch »De arte illuminandi« belegt werden. Bei Cennino Cennini erfährt er dann eine außergewöhnliche Häufung.31 Wie bereits erwähnt, bezeichnet er damit zum einen das Erzeugen eines Effektes von Gegenwart und Lebendigkeit, das Herstellen einer Illusion von Dreidimensionalität, die Belebung des Dargestellten – rilievo32 : geschaffen durch Farbe und Schatten. Zum anderen benennt er damit die plastische Verkörperung einer inneren, mentalen Vorstellung durch das Material der Farbe. Es geht ihm also sowohl um die illusionistische Wirkung des Dargestellten als auch um den Malprozess selbst.33 Die Erhebungen aus dem Schatten oder der planen 28 29 30 31
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Joh 1,14; Phil 2,5-11. Kruse 2000, 318. Bohde/Fend 2007, 10 Kruse (2000, 315; 317) betont, dass bei Cennino Cennini gegen Ende des 14. Jhs. erstmals zentrale theologische Begriff wie incarnazione für Fleischfarbe sowie incarnare für Fleisch malen verwendet werden, unabhängig davon wurde das Malen von Haut als spezielle Technik jedoch schon im Hochmittelalter beschrieben. Cenn. lib. 9. Vgl. dazu das Kap. »Ziehen eines Strichs« im ersten Teil. Koos 2007, 65. Die Untersuchung von Kruse (2000, 318-322) konstatiert einen viel engeren Zusammenhang zwischen dem theologischen Begriff der Inkarnation und demjenigen bei Cennini. Dabei vergleicht sie Cenninis Abhandlung allerdings vor allem mit nichttheologischen Verwendungsweisen des Begriffs incarnazione aus dem Bereich der Literatur (aus dem Wörterbuch von Salvatore Battaglia (1987): Grande Dizionario della Lingua Italiana. Bd. X. Turin) und kaum mit der malerischen Tradition. Während sich Cenninis Kenntnis über diverse literarische Werke aber kaum belegen lässt, ist seine gute Einbindung in die malerische Tradition sicher.
Inkarnat
Fläche, das rilievo, wurde zur Bedingung sine qua non für Bilder vom Anfang bis zum Ende der Malerei der Renaissance, auch wenn hier noch keinerlei zentralperspektivische Technik angesprochen ist.34 Das Bild oder die Malerei gibt jemandem einen Körper, der keinen mehr hat.35 Es zieht eine Präsenz, einen Körper, hervor, auch wenn dieser so nicht mehr auf der Welt ist. Eine explizite Verbindung zwischen dem Inkarnat und der Inkarnation findet sich auch bei Anton Francesco Doni. Sein Traktat »Disegno« von 1549 besteht aus einem Paragone: Der Verteidiger der Malerei versucht, dieser dabei einen ehrwürdigen Ursprung zu geben und erklärt, dass die Malerei beginnt, »als Adam geschaffen wurde und mit all den verschiedenen Farben Fleisch wurde, mit denen heute Mann und Frau wunderschön gefärbt sind«36 . Das Mysterium der Fleischwerdung und der künstlerische Malakt werden so als Prozesse verstanden, bei denen etwas Existentes, aber Immaterielles Gestalt gewinnt.37 Die Inkarnation in der Bedeutung als Fleischwerdung eines intelligiblen Prinzips erfolgt – wie bereits ausgeführt – nach dem Prinzip des Tempels: Der Körper wird zum Wohnort, der genützt wird, in letzter Instanz aber wieder zu überwinden ist. Genau deshalb ist die Inkarnation, die Fleischwerdung, paradoxerweise eine Entkörperlichung.38 Im Gegensatz zu dieser selten vorzufindenden Verbindung von Malerei und dem Schöpfungsmodell der incarnazione findet sich carnagione in den Malereitraktaten weitaus häufiger.39 Ihm fehlt die Präposition in und damit auch der religiöse Bezug. Es ist die Technik des Malens, die Frage, wie Materie transformiert werden kann, um eine andere Materie zu erreichen, wie Körper transformiert und deformiert werden, um andere hervorzuziehen, welche die Malerei in erster Linie
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Summers 1981, 42. Kruse 2000, 322. Kruses Annahme, incarnazione sei »eine metapikturale Metapher, die das Malen als medialen Prozess der Verkörperung umschreibt« (Kruse 2000, 322), wird hier nicht geteilt. Vielmehr wird der Malakt als Prozess des Exponierens und Präsentierens begriffen. Kruses Ansatz, den sie selbst auf einen »mimetische[n] Zeichenprozess« (Kruse 2000, 306) reduziert, stellt das Bild erneut in die Rolle des Trägers oder Körpers, der zurücktritt, um eine Darstellung freizugeben und damit eine rein mediale Funktion erfüllt. Dabei wird die Materialität und die Exposition des Bildkörpers negiert. Noch deutlicher wird ihre Auffassung, wenn es heißt: »Fleisch malen ist ein mediales Verfahren, das Fleisch- bzw. Menschwerden imitiert« (Kruse 2000, 324). Insbesondere die Untersuchung von Bohde (2007) zu den Begriffen Haut und Fleisch in den italienischen Kunsttraktaten des 15. bis 17. Jhs. macht aber deutlich, dass es gerade die materielle Komponente ist, welche für die Künstler und Künstlerinnen zentral ist. Doni Dis. 1,9; übersetzt nach Bohde 2007, 50. Ital.: »giudico da poi che fu fatto Adamo e incarnato con quei variati colori c’oggi si vede colorato vaghissimamente l’uomo e la donna; allora in tale atto mi pare che cominciasse la Pittura.« Bohde 2007, 48. Nancy 2003a, 60-61. Bohde 2007, 50.
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Expeausition
beschäftigt. Stets stellt sich die Frage, wie aus Farbe, Binde- und Lösungsmittel Fleisch wird und nicht wie aus Geist, wie aus Wort Fleisch entsteht. Aber noch mehr: Nicht etwas tritt in das Fleisch, in den Körper ein wie bei der incarnazione, sondern ist schon längst drinnen, ist schon Fleisch, ist schon Materie. In der Malerei wird aus Materie Materie geschaffen – mit unzähligen Pinselstrichen, unzähligen Farbschichten. Es ist dies ein Transformationsprozess, ein Prozess der différance40 . So wird etwa im 1694 herausgegebenen »Dictionnaire de l’académie française« incarnation ausschließlich als theologische Bezeichnung für die Fleischwerdung Christi genannt, während carnation als Terminus der Malerei und als Bezeichnung für die Fleischfarbe des Menschen Erwähnung findet.41 Das einfache Inkarnat ist die große Herausforderung, die von den Körpern an die Malerei gestellt wird, und nicht die Inkarnation, bei der dem Körper Geist eingehaucht wird.42 Es ist die greifbare Materie der Farbe, die das Fleisch wird – ohne Geist, ohne Wort: Karnation und nicht Inkarnation. Das Inkarnat ist die Bloßlegung der Inkarnation. Nichts bleibt als die greifbare Materie der Farbe, die das Fleisch wird: eine stumme Oberfläche der Nacktheit.43
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Vgl. dazu das Kapitel »à – Differenz als Materie« im ersten Teil. Dictionnaire de l’Académie française 1694, 158: »INCARNATION. s.f. v. Mystère par lequel le Fils de Dieu, le Verbe éternel s’est fait homme. Le mystère de l’incarnation.« »CARNATION. s.f. Terme de Peinture. Couleur de la chair de l’homme.« Nancy 2003a, 19. Nancy/Ferrari 2006b, 59-60.
Nacktung »I like skin. It’s so unpredictable.«1
Der Maler, zentral in der Bildmitte – nackt. Die Figur nimmt einen ganz leicht erhöhten Standpunkt ein, sodass der Vordergrund nach vorne zu kippen scheint, was wiederum dazu führt, dass man als Betrachtende oder als Betrachtender kaum merklich, aber doch spürbar ins Bild gezogen wird. Das Sujet rückt nahe, vielleicht zu nahe heran.2 So nahe ist Freud mit seinem Körper an das Bild herangerückt, dass er das Bild gesprengt hat – am oberen Bildrand ist zu erkennen, dass Freud einen Streifen Leinwand angesetzt hat, zu nahe war ihm der Kopf am Bildrand, zu wenig Platz hatte er am Bild. Diese Anstückelung ist zurückzuführen auf die Malpraxis Freuds: Die Unterzeichnung ist minimal ausgeprägt, sie dient ihm nur als Orientierung. Schnell geht er zum Farbauftrag über, tastet sich mit der Farbe den ganzen Körper entlang – sollte sich während des Malprozesses herausstellen, dass der Körper mehr Platz einfordert, als ihm mit der Unterzeichnung zugestanden wird, muss die Leinwand eben vergrößert werden.3 Was Freud durch diese Nähe den Betrachtenden aufdrängt, ist sein nackter Körper, ist seine Haut – und genau diese hebt er vor allem auf Oberkörper und Oberarmen durch den Lichteinfall hervor. Der Körper am Bild wirkt schwer: Er drückt gegen den Boden, sein Arm, sein Zug schneidet die Luft, das Malmesser, die Farbe presst gegen die Leinwand, gegen andere Farben, die Palette zieht es gen Boden, sie wirkt so schwer, als ob sie dem nackten Maler alsbald aus der Hand fallen würde. Freud strebt »nach einem Gefühl für die Schwere, Textur und nicht reduzierbare Einzigartigkeit dessen, was er sieht«4 . Durch die Schwere wird die Ausgedehntheit des Daseins potenziert – es hat Gewicht, es ist von Gewicht.5 Die1 2
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Freud 2012, 213. Messling 2013, 96. Diese Nähe ist bei anderen Porträts von Freud noch deutlich stärker ausgeprägt, wenn die Figuren geradezu ins Bild gepresst oder komprimiert wirken. (Auping 2012, 42) Gayford 2013, 133. Gayford 2013, 56-58. Hinsichtlich der Schwere und der Aufwertung der Materialität unterscheidet sich auch Nancys Konzept des Daseins von demjenigen Heideggers, das dieser vor allem in seiner Ausgedehntheit versteht. Siehe dazu Heikkilä 2007, 263-265.
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Expeausition
se »transzendentale Ästhetik der Schwere«6 ist eine der ausgesetzten Körper. Bereits das Porträt setzt einen Körper, ein Selbst in einer gewissen metaphorischen Nacktheit ins Bild setzt – die Nacktheit des Selbst in seinem Ausgesetztsein7 – die tatsächliche Nacktheit bleibt von diesem Genre aber ausgeschlossen, sie ist das Kriterium für den Akt. Anders verhält sich dies bei Freud: Er nennt seine Porträts naked portraits8 . Dieser Begriff ist für ihn so umfassend, dass er ein Bild eines Pferdes, das den Körper des Pferdes von der Schulter bis zum Schweif ohne Hals und Kopf zeigt, ebenfalls als Nacktporträt bezeichnet.9 In Freuds Nacktporträts steht demnach nicht zwangsläufig die tatsächliche Nacktheit im Vordergrund: »I was going to do a nude, then I realized that I could do it from the head.«10 Nacktheit findet sich für ihn in der Bloßlegung, der Öffnung, der Ausgesetztheit, der Schwere. Die Intensität der Nacktheit braucht nicht den vollständig nackten Körper, sondern kann sich bereits in Kleinigkeiten wie der Verbindung von Schulter, Nacken und Kinn zeigen. Im Akt wird gewöhnlich die tatsächliche Nacktheit ins Bild gebracht, die Nacktheit eines Selbst und die Nacktheit eines Körpers. Damit verbunden ist eine Problemverlagerung: Das Problem des Selbst im Porträt wird im Akt zu demjenigen der »Nacktheit an sich«11 : »All portraits are difficult for me. But a nude presents different challenges. When someone is naked, there is in effect nothing to be hidden. You are stripped of your costume, as it were. Not everyone wants to be that honest 6 7 8
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Nancy 1995, 20. Frz.: »une esthétique transcendantale de la pesanteur« (Nancy 2008b, 11). Vgl. dazu das Kap. »Subjekt als Sujet« im zweiten Teil. Gayford 2013, 23. Das Konzept des Nacktporträts steht im Widerspruch zu Jullien (2003, 187188). Zum einen geht dieser davon aus, dass ein Nacktporträt unmöglich sei, da das Individuum darin verschwinde und es daher kein Porträt mehr sein könne. Ein Porträt sei die Abbildung eines bekleideten Körpers, die das menschliche Wesen als Person wiedergebe, während der Akt sich das Wesen aneigne. Dies ist aus der Perspektive des klassischen Begriffs von Porträt und Subjekt formuliert, tangiert aber nicht die im zweiten Teil der Arbeit vorgenommene Bestimmung des Porträts als Hervorziehen des Selbst, das sich explizit gegen den Begriff der Person und des Subjekts im klassischen Sinne wendet und das Selbst im Sinne des Mit-seins und des singulär Pluralen versteht. Zum anderen argumentiert Jullien, dass ein Nacktporträt nicht möglich ist, da man an der Grenze des Körperlichen und selbst in der Intimität des Fleischlichen eine Allgemeinheit erreicht und die Einbruchskraft des Nackten gerade darin liegt, vom Sinnlichen schon ins Ideale gezogen zu werden. In der Folge wird hingegen für einen anderen Begriff des Nackten argumentiert, der darin besteht, eben keine Transzendenz darzustellen, sondern an der Oberfläche der Haut und der Falten zu verweilen. Die Einbruchskraft des Nackten liegt dieser Interpretation folgend also in der Bloßlegung dessen, dass es kein Dahinter gibt. Das dazugehörige Bild beschreibt Freud wie folgt: »Es ist eines der dunkelsten Bilder, die ich je gemalt habe, denn das Pferd ist scheckig und der Stall sehr dunkel. Es ist eine Art Aktbild.« (Freud, zit. n. Gayford 2013, 29) Freud, zit. n. Gowing 1984, 151. Nancy 2007a, 14. Frz.: »la nudité pour elle-même« (Nancy 2000b, 19).
Nacktung
about themselves.«12 Eine Steigerung erfährt dies noch im Selbstakt: Lucian Freud zeigt seine gealterte, von der Anstrengung des Malens gezeichnete Haut. Durch das Bleiweiß wirkt sie wie erleuchtet. Es ist zwar keine Seltenheit, dass ein nackter Körper ins Bild gebracht wird, sehr wohl aber, dass es der nackte Körper des Malers ist, der ansonsten unsichtbar bleibt. Das klassische Selbstporträt mit seiner langen Geschichte13 gibt üblicherweise das Gesicht oder den bekleideten Körper des Künstlers bzw. der Künstlerin zu sehen. Freud hingegen setzt seinen Körper zentral in die Bildmitte, und zwar nackt. Bereits 1964, als Freud am Norwich College of Art unterrichtet, ist ihm dieses radikale Aussetzen wichtig: Sein abschließender Auftrag an die Studierenden lautet, ein Nacktporträt von sich selbst anzufertigen: »I want you to try and make it the most revealing, telling and believable object. Something really shameless you know.«14 Es dauerte aber noch fast 30 Jahre bis sich Freud dieser Aufgabe selbst in dieser radikalen Form stellt. »Das Mindeste, was ich tun kann, ist mich nackt zu malen«15 , sagt Freud im Dezember 1992, als er 70 Jahre alt ist und beginnt, an »Painter Working, Reflection« zu arbeiten. Es ist vielleicht sein größtes und herausforderndstes Selbstporträt: er selbst, beim Malen, nackt. Er trägt nur seine ungeschnürten Stiefel, um sich am rauen Boden des Ateliers keine Schiefer einzuziehen.16 Er stellt sich aus, ohne etwas zurückzubehalten, ohne etwas zu verdecken, es gibt kein Dahinter, nur Oberfläche, nur Haut, die dargeboten wird – eine »Nacktung«17 : Die Figur, das Selbst, verbirgt nichts, verweist auf nichts und präsentiert stattdessen sich, stellt sich aus in seiner Form und Fleischlichkeit. Der Körper in seiner Ausgesetztheit ist das Existieren selbst, sein eigenes Sein.18 So wie bei Heideggers Konzept der Nichtung in »Was ist Metaphysik?« dem Nichts
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Freud 2012, 213. Hall 2016; Calabrese 2006. Borgmann/Laukötter (2013) gehen auf den weiblichen Selbstakt ein. Freud, zit. n. Howgate 2012, 32. Freud, zit. n. Haag/Sharp 2013, 212. Haag/Sharp 2013, 212. Die Nacktheit ist Freuds Arbeitsweise aber nicht fremd: Wie die Fotografien von David Dawson aus dem Atelier Freuds zeigen, hat dieser immer wieder mit nacktem Oberkörper gemalt. Siehe dazu Abb. 12. Nancy/Ferrari 2006b, 48. Frz.: »mise à nu« (Nancy/Ferrari 2006a, 51). Dieses Konzept grenzt sich von demjenigen Beltings (2011, 90) ab, der davon ausgeht, dass Künstler und Künstlerinnen vermehrt den eigenen Körper als Medium der Kunst einsetzen, um auf die verlorenen Körperbilder zu reagieren. Weiter heißt es, dass sie am eigenen Körper und mit dem eigenen Körper Bilder herstellen, um sich durch diese Realpräsenz gegen die Krise der analogen und mimetischen Bilder zu behaupten und sich gegen das Monopol der medialen Realität aufzulehnen. Drittens würden Künstlerinnen und Künstler damit versuchen, das Problem der Verkörperung zu lösen, indem sie statt im gewohnten Werk nun durch den eigenen Körper auf sich hinweisen und so die Betrachtenden zur Aufmerksamkeit zwingen.
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Expeausition
ein Sein zugesprochen wird,19 wird dem nichtigen Körper (der Semiotik) mit der Nacktung ebenfalls ein Sein und damit eine Präsenz zugestanden. Die Nacktheit bildet zwar ein zentrales Element in den Künsten und der Kunstgeschichte,20 allerdings wird sie dabei kaum um ihrer selbst willen verhandelt, sondern ist aufgeladen mit Bedeutung. So steht das Nackte vor allem in der christlichen Tradition entweder für die Sünde oder das Reine, oder aber sie wird im Anschluss an eine platonisch geprägte Tradition als Verweis auf die Wahrheit eingesetzt21 . Wenn aber der nackte Maler, Lucian Freud, in seinem Selbstakt seine Haut nach vorne bringt, sie ausstellt, uns ganz nahe vor die Augen führt, dann gibt es daran nichts zu entziffern und sie bezeichnet auch nichts, es ist keine metaphysische Erfahrung eines Jenseits im Sinnlichen oder einer Transzendenz in der Immanenz. Die Transzendenz, das Sein, wird direkt auf die Immanenz, das Seiende, eingeschrieben – Transimmanenz22 : Übergang oder Grenze in oder zur Welt und nicht darüber hinaus. Es ist die Erfahrung einer Bloßlegung, einer Nacktung, hinter der nichts anderes liegt, über die hinaus es nichts gibt – eine Exposition der Haut, hinter der »keinerlei Präsenz verdeckt wird, hinter der kein Gott wartet, außer der Ort selbst, hier, und der besondere Pinselstrich unserer eigenen Exposition: Genießen und Leiden, in der Welt zu sein, genau dort und nirgendwo anders.«23 Aber gerade in dieser Exposition, dieser Ausgesetztheit des Seins, liegt die »Einbruchskraft«24 des Nackten, die es zu empfinden und auch auszuhalten gilt. Der nackte Maler riskiert seine eigene Bild-Haut, da Nacktsein eine radikale Präsentation, ein Ausgesetztsein voraussetzt, das konstitutiv für das Sein ist. Im Malvorgang wird dies potenziert, indem durch das Setzen von Differenzen die Selbst- bzw. Formwerdung noch einmal nach vorne getragen und ausgestellt wird. Es vollzieht sich dabei eine »doppelte ›Ek-stase‹ des Nackten«25 , eine doppelte Expeausition. Freud zieht blank, zeigt seine Haut, malt sich, öffnet sich und macht sich so zum Bild – sein entblößter Oberkörper wird zu einer (rechteckigen) Fläche und ähnelt derjenigen des (rechteckigen) Bildes: »stets blankliegend, haut-
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Heidegger 2004, 114. Jullien 2003, 26. Das Nackte ist ein Spezifikum des Okzidents, während vor allem in der chinesischen Tradition keine Akte zu finden sind bzw. darin sogar die Unmöglichkeit des Nackten ausgedrückt wird, wie Jullien (2003 u.a. 7, 23, 49) im Zuge seiner Untersuchung zum Wesen des Nackten deutlich macht. Siehe dazu Abb. 7. Nancy 2014a, 81. Vgl. dazu das Kap. »Von der Höhle in die Grotte« im ersten Teil. Nancy 2016, 54. Frz.: »nulle présence ne se cache et nul dieu n’attend sinon le lieu même, ici, et la touche singulière de notre propre exposition: jouissance et souffrance d’être au monde, exactement là et nulle part ailleurs« (Nancy 2001d, 46). Jullien 2003, 7. Der Unterscheidung Julliens (2003, 16) zwischen Nacktheit, die ich bin, und dem Nackten, welcher der Andere ist, wird hier nicht Folge geleistet. Jullien 2003, 181.
Nacktung
bild-nah«26 . Die Tiefe des Bildes liegt an seiner Oberfläche oder anders formuliert, die Transzendenz des Bildes liegt in der Immanenz seiner Oberfläche, an der sich ein Passieren, ein Ziehen und Entziehen vollzieht und entfaltet
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Nancy/Ferrari 2006b, 10. Frz.: »à fleur de peau, à fleur d’image« (Nancy/Ferrari 2006a, 9).
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Porosität »I often find myself wondering what the boundaries of a body are.«1 »Die Malerei ist die Kunst der Körper, weil sie nur die Haut kennt; sie ist Haut durch und durch.«2
Das Bild des nackten Malers ist äußerst plastisch dargestellt und setzt sich aus unzähligen Farbschichten zusammen. Besonders dicht sind diese am Körper, während der Grund eigentümlich tiefenlos bleibt. Der Boden ist in unruhigen Brauntönen gehalten, die Wand hingegen ist merklich beruhigter dargestellt. Getrennt sind beide Teile des Grundes auf der linken Bildseite durch ein mit Tüchern abgedecktes Möbelstück, wahrscheinlich ein Bett oder ein Diwan. Der flache Charakter der Bildoberfläche spiegelt sich im Grund des Bildes wider. Es entsteht eine Spannung zwischen plastischer Figur und unplastischem Raum sowie Bildoberfläche. Eine Spannung zwischen carnagione und pelle, Fleischfarbe und Haut des Bildes. Der Grund tritt zurück, die Figur tritt aus dem Grund und dem Bild heraus. Der Oberkörper ist ganz leicht nach vorne gerichtet, die Figur bekommt zwar kein Übergewicht, aber suggeriert ein Zukommen auf die Betrachtenden, ein Herauskommen, Nach-vorne-Treten, eine Öffnung, während sie doch stabil im Grund verhaftet ist und sich wieder darin zurückzieht. Das Bild als Vollzugsform hat an dieser Grenze3 zwischen vorne und zurück, zwischen Entzug und Präsentation statt. Die Grenze der Haut (pelle) ist durchlässig und damit keine Grenze zwischen Innen und Außen – wie im »Curiösen Haut-Diener«4 beschrieben – und auch kein undurchdringlicher Panzer. Die Haut kann nicht entscheiden, ob sie aufnimmt oder ausströmt,
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Freud 2012, 215. Nancy 2003a, 18. Frz.: »la peinture est l’art des corps, parce qu’elle ne connaît que la peau, elle est peau de part en part.« (Nancy 2000a, 19) Mit dem Begriff der Grenze dürfte Nancy sich auch auf Derrida (2008, 31-176, bes. 80) beziehen, der in »Die Wahrheit in der Malerei« eben diesen Terminus in all seinen sprachlichen Finessen im Französischen auslotet. Siehe dazu auch Heikkilä 2007, 233. Vgl. dazu das Kap. »Körpergräber und Haut-Hüllen«.
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Expeausition
ihre Ein- und Ausgänge sind nicht klar definiert, steuerbar oder konstruiert wie bei Platons Fischreuse. Grenze zu sein, heißt ein existenziales Offenstehen: offen auf die Welt hin, die affiziert und so in Bewegung versetzt, in Gang bringt, erschüttert, betrifft, verwundert.5 An der Grenze wird Differentes in Berührung und in Spannung gebracht: Aisthesis und Semiosis, Präsentation und Repräsentation, Grund und Form. Neben dem Terminus der Grenze verwendet Nancy auch die Begriffe Schwelle6 und Haut 7 , um dieses Passierenlassen zu beschreiben. Letzterer ist dabei von besonderer Relevanz, da die Haut bereits in der historischen malerischen Praxis Verwendung findet, um Bilder zu beschreiben. Im Gegensatz zum Begriff des Fleisches (Inkarnat, carnagione), der dazu dient, die Hautfarbe zu beschreiben, wird der Terminus Haut (pelle) in den historischen Traktaten zur Kunst als Beschreibung für das ganze Bild herangezogen. Die Fleischwerdung (carnagione) findet immer auf der Leinwand (pelle) statt. So schreibt Plinius in der Sage von Lepidus, dass Malerei auf Haut angefertigt wurde: Als er in eine Waldherberge geführt worden war, beschwert sich Lepidus unter Drohungen bei den Ortsvorstehern, dass »ihm durch den Gesang der Vögel der Schlaf genommen worden, jene aber legten um den Hain ein sehr langes Pergament [membrana], auf dem eine Schlange gemalt war, und infolge dieser Einschüchterung sollen die Vögel nun geschwiegen haben«8 . Um 1400 beschreibt Cennino Cennini in »Il libro dell’arte« den Bildträger als Haut.9 Auch in den Kunsttraktaten der Renaissance wird die Malerei mit der Haut verglichen. Leon Battista Alberti beschreibt in »De Pictura/Della Pittura« (1435/36) gleich zu Beginn das Bild als Fläche, auf der sich Zeichen zeigen. Dieser Fläche kommt indirekt die Qualität einer Haut zu, wenn es heißt, dass die Fläche »ein bestimmter äußerster Teil des Körpers [ist], die man nicht an so etwas wie Tiefe erkennt, sondern nur an ihrer Länge und ihrer Breite und zudem an ihren Eigenschaften«10 . Die erste Eigenschaft liege darin, dass die Fläche durch einen äußersten Saum abgeschlossen sei, der aus einer oder mehreren Linien bestehe.11 Die zweite Qualität liege – und damit wird der Vergleich mit der Haut auch explizit – in der oberflächlichen Struktur, »die sozusagen wie eine Haut den ganzen Rücken der Fläche bedeckt«12 .
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Nancy 2003a, 125. Dieser Begriff wird vor allem in Nancys Auseinandersetzung (1999, 87-103) mit Caravaggios Gemälde »Marientod« (1601-1606) eingeführt und besprochen. Besonders prominent in Nancy/Ferrari 2006b sowie in Nancy 2020. Plin. nat. 35,121. Cenn. lib. 25. Alb. Pitt. 1,2. Alb. Pitt. 1,2. Alb. Pitt. 1,4.
Porosität
Raffaello Borghini spricht im Traktat »Il riposo« (1548) sowohl von der Haut, auf die gemalt wird, wie auch von der Haut als oberster, dünner Schicht der Ölmalerei, eine Haut aus Farben.13 Noch 1681 ist der Begriff gebräuchlich – Filippo Baldinucci spricht im »Vocabolario Toscano« von der »tela, o pelle«14 , der Leinwand oder der Haut, welche bemalt wird. Aber nicht nur in diesen malpraktischen bzw. kunsttheoretischen Schriften werden Bilder mit Haut verglichen bzw. als Haut beschrieben, sondern auch in Seh- und Bildtheorien ist dies der Fall. Eine erste Bezugsstelle findet sich in den atomistischen Sehtheorien. Leukipp, Demokrit und Epikur gehen davon aus, dass Wahrnehmung und Denken entstehen, wenn Bilder von außen eindringen.15 Diese Bilder strömen von den Gegenständen des Sehens aus, sind von der gleichen Form wie diese Gegenstände und treffen auf das Auge auf. Entscheidend ist, dass diese Bilder nicht immateriell oder intelligibel vorgestellt werden, sondern Körper sind.16 In Lukrez’ atomistischer Sehtheorie, in der er auf Leukipp und Demokrit Bezug nimmt, werden diese Bilder, die von den Körpern ausströmen und in das Auge eindringen, explizit als Häutchen beschrieben: »Über die Bilder der Dinge: so nennen wir diese Gebilde, / Die von der Oberfläche der Körper wie Häutchen sich schälen / Und bald dorthin umher in den Lüften sich treiben.«17 Diese Häutchen werden u.a. verglichen mit dem Puppengewand, dem die Zikaden entschlüpfen, dem Geburtsakt eines Kalbes, bei dem es sich von der Harnhaut löst und der schlüpfrigen Schlange, die am Dornenstrauch ihre alte Hauthülle abstreift. Die Häutchen, die der Oberfläche der Körper entsteigen, seien im Vergleich dazu aber ein noch dünneres Abbild.18 Für sich genommen liegen diese Bilder unter der Schwelle der Sinnesempfindung, erst bei häufigem, dauerndem Anprall werden sie sichtbar.19 Diese Bild-Häutchen sind damit in der Lage, einen Druck auf die Netzhaut auszulösen. Ihnen kommt eine »physische Kraft«20 zu und sie stellen eine körperliche Verbindung zwischen Objekt und Betrachtenden her. Tast- und Gesichtsempfindung müssen, so Lukrez, auf ähnlichen Gründen beruhen,21 Sehen wird damit zu einer Form der Berührung. Der Druck der Bilder bewirkt eine haptische Reaktion und die Betrachtenden werden von den Bildern durchdrungen und ergriffen.22 »Also man sieht hieraus, daß das Sehen durch Bilder verursacht / 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
Borgh. rip. 2,175 sowie 2,220. Baldin. Voc. 74 [lemma: impiastrare]. Leuk. DK 68 A 29-30; Demokr. DK 68 A 135. Lindberg 1987, 19. Lucr. nat. IV,30-32. Lucr. nat. IV,58-64. Lucr. nat. IV,104-113. Bredekamp 2013, 317. Lucr. nat. IV,233. Bredekamp 2013, 317.
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Expeausition
Wird und daß nichts auf der Welt ist ohne Bilder zu sehen.«23 Bilder sind in diesem Sinne Vermittler oder Grenze, die zwei Bereiche durchlässig füreinander macht. Der lateinische Begriff, den Lukrez für die Bilder verwendet, ist simulacra, die Häutchen bezeichnet er als membrana. Dieser Begriff wird auch in der ersten medizinischen Abhandlung über die Haut, dem »Curiösen Haut-Diener«, verwendet, um die Haut zu beschreiben. Dabei wird diese Haut wiederum mit einem Pergament und darüber hinaus auch mit einer Leinwand verglichen. So kehrt sich die Bewegung um: »Damit ich sie [die rechte Haut, also die Lederhaut, J. M.] aber nur in etwas beschreibe/ so sage ich/daß sie sey ein Pergament=Häutlein/membrana, ihrer Art durchgängig/ eines subtilen Fühlens/bestehend aus einem sonderbaren Fleisch/und unzehlich vielen Zäpferlein der Gefäße/ zu mannigfaltigen Nutzen des Menschen geschaffen. Daß sie eine membrana oder Pergament=Häutlein sey/ zeuget dero Farbe/Empfindligkeit und Gewebe/ textura, an/ dahero vergleichen sie etliche einem Zeug/ Tuch oder Leinwand / die aus vielen Fäden die quir und quer gewircket sind; doch ist sie von einer besonderen Art und von andern in vielen unterschieden.«24 Während die Oberhaut meistens nur als Häutchen beschrieben wird, wird die Lederhaut als die eigentliche, die richtige Haut eingeführt. Als solche ist sie die Verbindungsstelle zwischen dem Fleisch und der Oberhaut: Sie reiche in beide hinein. Daher sei sie ein sonderbares Fleisch, ähnlich dem Pergament und der Leinwand – erstens hinsichtlich der Durchlässigkeit, zweitens hinsichtlich der Textur, die einem Gewebe gleiche, und drittens hinsichtlich eines subtilen Fühlens. Mit Letzterem ist eine gewisse Empfindlichkeit gemeint, also eine Empfänglichkeit für Einflüsse. Parallel dazu findet sich in der französischen »Encyclopédie« des 18. Jhs. die Bestimmung der Haut als höchst lebendiges Organ. Im Artikel »Sensibilité« wird die Haut gar als nervöse Leinwand bezeichnet. Nervös meint dabei eine lebhafte Aktivität, eine für Sinnesreize empfängliche Haut.25 Diese Empfänglichkeit der Haut ist charakteristisch für ihr existenziales Offenstehen: Sie atmet ein und darüber hinaus strömt sie auch aus – unzählige Poren, die einen Übergang schaffen. Aus diesem Grund ist die Haut keine starre oder statische Grenze zwischen Innen und Außen, sondern Grenze selbst: Sie ist der äußerste Rand einer Spannung, der in Veränderung steht: ziehen und entziehen, einatmen und ausatmen, innen und außen, eintreten und austreten. Die Grenze
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Lucr. nat. IV,237-238. Vog. HD 16-17. Encyclopédie 1765, Bd. 15, 48: »La peau, cette toile nerveuse qui forme un organe générale, & dont l’action contrebalance celle des organes intérieurs, la peau est encore éminemment douée de cet instinct.«
Porosität
ist so das Ziel einer beständigen Annäherung, ein Berührungsort und kein permanenter Aufenthaltsort, an dem man sich häuslich macht. Es gilt, sich die Grenze immer wieder neu vorzustellen, sich ihr auszusetzen. Gleichzeitig stellt sich die Grenze selbst immer wieder neu vor, setzt sich aus.26 Und genau in dieser Hinsicht ist das Bild Grenze und das Inkarnat ein »Grenz-Kolorit«27 : Lucian Freud malt und entblößt seine Haut auf der Leinwand (Inkarnat, carne). Gleichzeitig ist die Haut Leinwand (pelle) – Haut auf Haut. Das Bild ist immer beides: pelle und carnagione, ein Passierenlassen von Plastizität und Flachheit, Heraustreten und Zurücktreten Abwesenheit und Anwesenheit, Form und Grund. Die Haut des Bildes, die Leinwand, bietet sich immer dar, zeigt sich, ist Ort des Kontakts und damit ständiger und nicht zu schließender Ein- und Auslassort, Ort der Berührung: Auf ihr oder zu ihr kommen Körper, Striche, Farben in Beziehung – unausweichliche Berührung, die sowohl aktiv wie auch passiv vollzogen wird.28 Durch diese Duplizität entsteht eine Spannung zwischen Materialität und Darstellung, Grund und Form, der realistisch, aber flach gestalteten Figur auf der glatten Maloberfläche, in der maltechnische Spuren, Spuren der Berührung teilweise erhalten bleiben. Diese Elemente oszillieren, vibrieren, erzeugen räumlich in sich Widerhall, Resonanz: Die Farbtöne an der Wand wiederholen sich in der Haut, reichen damit vom Hintergrund des Bildes in den Vordergrund, von der untersten Ebene in die vorderste. Grund und Figur sind dabei nicht strikt voneinander abgegrenzt. Der Grund reicht vielmehr in die Figur hinein, er konstituiert sie mit, indem er sich in die Oberfläche hineinarbeitet. Dabei soll der Gegensatz zwischen Form und Grund nicht umgewertet und auch nicht in eine Nichtunterscheidung überführt werden, vielmehr wird mit diesem Begriffspaar die Spannung zum Ausdruck gebracht, »die das eine ins andere verschiebt, die bald den Grund in der Form und bald die Form im Grund auflöst«29 . Das Bild ist weder statisch noch starr und hat auch keine eindeutige Identität, sondern ist in Bewegung begriffen.30 Dementsprechend stehen Form und Grund im
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Nancy 1987, 111. Dieser Grenzcharakter ist auch wesentlich für Körper: »Körper haben weder im Diskurs noch in der Materie Statt. Sie bewohnen weder ›den Geist‹, noch ›den Körper‹. Sie haben auf der Grenze Statt, als Grenze« (Nancy 2003a, 20. Frz.: »Les corps n’ont lieu, ni dans le discours, ni dans la matière. Ils n’habitent ni ›l’esprit‹, ni ›le corps‹. Ils ont lieu à la limite, en tant que la limite« Nancy 2000a, 18.) Didi-Huberman 2002, 27. Schäfer 2012, 72. Nancy 2011a, 352. Frz.: »l’opposition ne doit pas être écartée au profit d’une indifférence des deux, mais pour mieux manifester l’incessante tension qui fait différer l’une dans l’autre, qui tour à tour dissipe le fond dans la forme et dissout la forme dans le fond« (Nancy 2011b, 73). In »The Sublime Offering« hat Nancy (2003b, 211-244, bes. 223, 226, 230) die Ästhetik der Bewegung als Ästhetik des Erhabenen bezeichnet und von der Ästhetik des Statischen abgegrenzt. Bewegung meint dabei, dass das Unendliche, Unbegrenzte oder Formlose zu einem
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Expeausition
Verhältnis eines beständigen Ziehens und Entziehens, Nach-vorne- und ZurückTretens, kurz: einem Spannungsverhältnis.31 Die Rolle des Grundes ist damit nicht beschränkt darauf, als eine hinter allen anderen befindliche, einzige Sache betrachtet zu werden.32 Er ist kein Fenster in die Bildwelt33 und auch nicht die »›Kehrseite der Medaille‹ (eine andere, enttäuschende Seite)«34 . Sein Verhältnis zur Form ist elementar: Er ist Grund, weil Formen von ihm ausgehen, sich von ihm her ausbreiten, über ihn hinweg. Dabei befreien sie ihn aus seiner Konsistenz, verändern ihn, bewegen ihn.35 Das heißt, der Grund wird nicht unsichtbar, tritt nicht zurück, sondern während des Malakts wird auch der Grund nach vorne gebracht, der Grund wird präsentiert. Malen ist das Affirmieren einer Oberfläche.36 Das Bild zeichnet sich folglich dadurch aus, dass sich auf dem Grund eine Form ereignet. Dies auszuhalten, sich dem auszusetzen, ist ein Gegenansatz zur Hermeneutik des Bildes, die auf die Les- oder Entzifferbarkeit abzielt, richtet sich aber auch gegen die interpretatorische Festschreibung dessen, was das Bild abbildet. Das Bild in seiner Exponiertheit stellt uns ein Spannungsverhältnis zwischen planer Oberfläche, pelle, und der Darstellung der Haut als dreidimensionaler, plastischer Illusion, (in)carnazione vor. Wie am Bild von Freud wird damit die Malerei als Kunst vor Augen geführt, der ein Spannungsverhältnis zwischen zweidimensionaler Oberfläche und raumgreifender Körperlichkeit zugrunde liegt: das Ereignis
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Endlichen, Begrenzten oder eben zur Form kommt bzw. dass die Form in das Formlose übergeht. (Heikkilä 2007, 285-286) Nancy 2011a, 354. Dieses dynamische Spannungsverhältnis der Leinwand ist auch der Grund dafür, warum das Bild seit seinen Anfängen nicht bloß als totes Artefakt betrachtet wurde, sondern vielmehr nach dem Muster von Lebewesen: »dem materiellen Körper des Artefakts wird so etwas wie eine Kraftseele, werden Ausstrahlung und Charisma zugeschrieben« (Boehm 2001a, 3). Gadamer (1986, 128-130) erinnert daran, dass in der Antike der Begriff zoon – was Lebendiges oder Lebewesen bedeutet – gebraucht wurde, um das Bild zu beschreiben. Die Lebendigkeit des Bildes hat vor allem Bredekamp in seiner »Theorie des Bildakts« (2013) betont. Auch Waldenfels (2001, 28) hebt hervor, dass Maler im Griechischen ζωγράφος heißt, also jemand, der Lebendiges darstellt. Der Begriff der Inkarnation bzw. der Karnation bei Nancy geht ebenfalls in diese Richtung, zielt aber nicht primär auf die Lebendigkeit ab, sondern meint einen Zuwachs an Materialität bzw. Differenz. Nancy 2011a, 357. Fink 1966, 75-78, in dessen intentional-konstitutiver Bildtheorie der Begriff des Fensters die Grundlage bildet. Im Zuge seiner Analyse macht Boehm (2006a, 17-19) deutlich, dass dieses Modell auf kaum zureichenden Theorien beruht und ein elementares Bewusstseinsmodell impliziert, jedoch großen Einfluss u. a auf Roman Ingarden, Fritz Kaufmann und den frühen Merleau-Ponty hatte. Nancy 2006a, 20. Frz.: »un ›revers de la médaille‹ (une autre face, et décevante)« (Nancy 2003c, 23). Nancy 2011a, 357. Nancy 2006b, 203.
Porosität
von Körperlichkeit auf der Fläche37 . Das Bild in seiner Porosität ist die Grenze, auf der dieses Ereignis statthat: Durch seine Porosität wird es von der Repräsentationsfunktion entbunden, in der es Abwesendes bestenfalls für immer anwesend machen soll,38 wie der Mythos der Butades repräsentationstheoretisch gedeutet werden kann. Das Ziel eines Bildes liegt demnach auch nicht primär in der perfekten Abbildung, wie es Deutungen zur Legende des Zeuxis nahelegen. Das Bild ist ein ereignishaftes Berühren entlang der Haut, eine Spannung an der Grenze zwischen Repräsentation und Präsentation, Form und Grund. Diese beiden Elemente sind nicht getrennt voneinander, sondern exponieren sich zueinander. Malerei ist Inkarnat und keine Inkarnation, Grenzgeschehen und nicht Vermittlung, ist Expeausition und Transfer.
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Dass Bildlichkeit ganz entscheidend mit dem medialen Konstitutionsmerkmal der Flächigkeit verbunden ist, konstatieren auch Summers 2003; Sommer 2016 und Krämer 2016. Flatscher 2011, 328.
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Unnachahmlichkeit und Partizipieren »Die wahre Eigenschaft der Mimesis ist es, kein Vorbild zu haben.«1 »Mit dem Bild – sofern man es nicht als ein Objekt in Betracht nimmt – treten wir in ein Begehren ein. Wir partizipieren – meta – an der hexis, an der Haltung (hexō, hexomai, halten und sich halten an …, sich anschicken zu …) und an der Wunschhaltung, das heißt an der Spannung, am tonos des Bildes. Bei dieser Disposition handelt es sich aber um keine phänomenologische Intentionalität, sondern um eine ontologische Spannung. […] Eine Spannung, ein Ton, eine zwischen dem Bild und uns vibrierende Resonanz, die Schwingung eines Tanzes.«2
Das Selbstporträt von Lucian Freud als nackter Maler vibriert und schwingt durch seine Porosität nicht nur in sich, sondern auch durch die Zeit hindurch. Es ist ein Zitat einer klassischen Szene: die Selbstdarstellung des Malers, wie es in der Geschichte der Malerei viele gibt. Begleitet ist es von bewussten und unbewussten Anspielungen, Vergleichen, Abwendungen zu anderen Selbstporträts und Darstellung von Nacktheit. Es steht in Beziehung mit der Welt, der Geschichte der Ma1 2
Nancy 2013, 85 mit Bezug auf Lacou-Labarthe. Frz.: »le caractère véritable de la mimesis est d’être sans modèle« (Nancy 2009, 78). Nancy 2011a, 353. Frz.: »Avec l’image, et pour autant qu’on ne se rapporte pas à elle comme à un objet, on entre dans un désir. On participe – meta – de l’hexis, de la tenue (ékô, ékomai, tenir et se tenir, se disposer, s’attacher à…) et de la tenue désirante, c’est-à-dire de la tension, du tonos de l’image. La disposition n’est pas celle d’une intentionnalité phénoménologique, mais celle d’une tension ontologique. […] Une tension, un ton, la vibration entre l’image et nous d’une résonance et la mise en branle d’une danse.« (Nancy 2011b, 74) In der Übersetzung ist das Verb s’attacher à verloren gegangen.
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Expeausition
lerei und ist doch eine Singularität: An die Stelle der Geschichte der Malerei setzt es die Wiederholung einer einzelnen Geste, den Zug mit dem Malmesser, zu dem der nackte Maler soeben anhebt. Die Geste des Setzens von Differenzen – es ist dies die Geste der ersten Malerin, Butades, die hier wieder ausgeführt wird, die Geste des Ursprungs der Malerei, die jedes Mal aufs Neue in ihrer Singularität vollzogen wird. Die Geste des Ziehens eines Striches ist die Geste, durch die dem Grund eine Form entzogen wird und durch die gleichzeitig der Grund aus sich selbst herausgeholt wird. Es ist ein Kraftakt voller Spannung: »Das Bild versetzt den Grund unablässig in eine Resonanz, und dazu versetzt es sich selbst in eine Resonanz mit seiner Geschichte«3 . Neben seiner räumlichen Komponente hat das Bild auch immer eine zeitliche: Es bewahrt Erlebniszustände, persönliche Erinnerungen, Meinungen und zudem erhebt es sich zu Perzepten und Affekten, die alle angehen. Somit wird Wirklichkeit in ihrer Zeitlichkeit erfahrbar gemacht, Zeit wird spürbar.4 Auch Lucian Freud betrachtet Kunst als zeitlich und augenblicksgebunden: »Das Langweiligste, was man über ein Kunstwerk sagen kann, ist, finde ich, dass es ›zeitlos‹ ist. Das löst so etwas wie Panik in mir aus. […] Der Gedanke, dass etwas nicht stimmt, wenn das Werk augenblicksgebunden ist, erscheint mir verrückt. Große Kunst betrifft einen doch direkt«5 . Das Bild erzeugt Resonanzen mit der Geschichte der Bilder, weil es zu dieser in Bezug steht, weil es durch diese abgegrenzt ist. Gleichzeitig prägt es die Geschichte des Bildes. Auch die Striche auf der Leinwand stehen nicht isoliert voneinander, sondern in Beziehung, in singulär pluralem Kontakt nehmen sie teil aneinander, ziehen ein Bild hervor: Methexis nicht im platonischen Sinne als Teilhabe an der Idee, sondern im Sinne des Mit-seins als Teilhabe, als partizipieren, teilnehmen, Sein durch andere, Sein in Resonanz zur Geschichte. Sie erfolgt sowohl als passiver Prozess, aber auch als aktives Teilnehmen, ein Setzen von Differenzen, wie es der nackte Maler, Lucian Freud, durch den Malakt vollführt. Dabei betrifft die Teilhabe im partizipatorischen Sinne über den Maler bzw. die Malerin und die historischen Bezüge des Bildes hinaus in besonderem Maße die Betrachtenden. Sie stehen dem Bild nicht einfach nur gegenüber wie ein aktives Subjekt einem passiven Objekt, die beide in sich geschlossen sind. Die Spannung im Bild, sie entstehen zu lassen, sie auszuhalten, erfordert Teilnahme, erfordert ein Eindringen-Lassen des Bildes, eine Öffnung und Teilhabe an der Welt. Das Bild ausgehend von seiner ontologischen Spannung begriffen, evoziert neben einem anderen Konzept von Methexis auch ein anderes Konzept von Mimesis als dasjenige, das im Anschluss an Platon häufig für das Bild in Anwendung gebracht
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Nancy 2011a, 366. Frz.: »L’image met le fond en résonance, inlassablement, et pour cela se met elle-même en résonance avec son histoire« (Nancy 2011b, 88). Sauvagnargues 2011, 434. Freud/Smee 2006, 33.
Unnachahmlichkeit und Partizipieren
wird. Die Bewegung der Repräsentation, der Akt des Setzens von Differenzen wird wiederholt, nicht aber das Modell. Daraus folgt, dass nicht die Einheit oder Identität, sondern die Differenz zum Charakteristikum der Mimesis wird, die zur Vervielfältigung beiträgt, ohne aber selbst greifbar zu werden.6 Das Objekt oder das Bild ahmt nicht primär nach, es lässt vielmehr das Urbild hinter sich zurück. Mimesis wird transformiert zu einer Figur des Modellosen.7 Was Platon verwerflich erscheint, wird durch eine modelllose Mimesis gerade angetrieben: ihr kreativer Charakter. Das Konzept einer modelllosen Mimesis stellt vor allem für das Porträt und noch mehr für das Selbstporträt eine Herausforderung dar, insofern gerade dieses auf ein Modell angewiesen zu sein scheint. Aber wie Platon im Dialog »Kratylos« herausstreicht, ist es keine identische Kopie von Kratylos, die auf der Leinwand entsteht, sondern die Differenz, die Abwendung vom Modell hat bereits stattgefunden. In diesem Sinne ist es nicht die Fähigkeit des Kopierens oder Abbildens, welche das Porträt auszeichnet, sondern die Besonderheit des Porträts liegt gerade darin, dass es Differenzen zum Modell herstellt, aber dennoch eine Kraft, eine Intimität hervorzieht, die berührt. So verlangt auch Freud vom Bild nicht die Imitation; es soll in Staunen versetzen, verstören, verführen, überzeugen.8 »I’m not interested in a painting that looks like a photograph. I want my paintings to feel like people. I want the paint to feel like flesh.«9 Es ist gerade die verschobene Übereinkunft der Mimesis, welche die Betrachtenden in den Bann zieht, sie durchdringt, sie zur Teilhabe auffordert. Mimesis und Methexis agieren daher nicht als Verbindung zwischen Idee und Abbildern oder als Garant der Richtigkeit dieser Verbindung. Vielmehr animiert die Methexis die Mimesis und eröffnet eine Spannung, eine Berührung, eine Intensität. Mimesis ist der Rhythmus der Manifestation, des Zeigens, des Hervorbringens, das Setzen von Differenzen; Methexis ist die spannungsgeladene Teilhabe zwischen Form und Grund. Die Konzepte von Mimesis und Methexis werden nicht aufgelöst, sondern neu konnotiert und dynamisiert – sie bedingen sich, bringen sich gegenseitig hervor: »Keine Mimesis ohne Methexis – so lautet das Prinzip, bei Strafe, sonst nur Kopie oder Reproduktion zu sein. Und umgekehrt natürlich: keine Methexis, die nicht auch Mimesis implizieren würde, das heißt genauer gesagt die Produktion (nicht Reproduktion) der in der Teilhabe kommunizierten Kraft in einer Form.«10
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Gebauer/Wulf 1992, 408. Michaud 2010, 86. Sharp 2013, 17. Freud 2012, 211. Nancy 2011a, 351. Frz.: »Que nulle mimesis n’advient sans methexis – sous peine de n’être que copie, reproduction, voilà le principe. Réciproquement, sans doute, pas de methexis qui n’im-
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Expeausition
Methexis ist die Bewegung, in der der Grund zurücktritt und zur Form wird. Diese Formwerdung ist nicht Reproduktion, sondern Produktion. Gleichzeitig entzieht sie sich und zieht sich im Grund zurück. Das Bild oszilliert in seiner Ambiguität. Dabei sprengt es die Einteilungsmuster von sinnlich und intelligibel, sinnvoll und unsinnig, innen und außen, anwesend und abwesend. Es ist genau diese gegenstrebige Intensität zwischen Präsenz und Absenz, Sinn und Gegensinn, die im Bild vernehmbar wird, die es aber auch so schwer begreifbar macht. Es zeichnet sich durch eine Anziehungskraft und Exzessivität aus, die sich jeder versuchten Vereinnahmung entzieht.11 Die Lust am Bild lässt sich nicht nur mit der Lust an der (perfekten) Nachahmung und damit der Täuschung erklären, wie es eine einseitige, aber wirkmächtige Interpretation des Mythos des Zeuxis suggeriert. Die Lust am Bild als korporale Vollzugsform liegt am Spannungsverhältnis zwischen Form und Grund, ihrem Oszillieren: So werden Formen in ihrem status nascendi aus dem Grund hinausgehoben, heben sich von ihm, erzittern aber in einem dazu korrelativen und immer unmittelbar bevorstehenden status moriendi, durch den sie erneut in den Grund hinübergleiten.12 Die Lust am Bild als korporale Vollzugsform besteht im Entstehen- und Vergehenlassen von Differenzen, wodurch sich im weiteren Sinne des Mit-seins »das unnachahmliche und unvorstellbare Entstehen des Seins im Allgemeinen«13 zeigt. Es ist dieser Akt des Setzens von Differenzen, den der nackte Maler, Lucian Freud, in seinem Bild ins Zentrum stellt, indem er sich beim Malen zeigt. Auch Zeuxis und Parrhasisos haben diesen Akt ausgeführt. In ihrer Legende steigt die Form so weit über den Grund hinaus, dass sie diesen zu verdecken scheint. Aber die Spannung zwischen ihnen, ihre Dynamik und Porosität, bleibt bestehen, lässt sich nicht zur Gänze aufheben, sie entzieht sich einer totalen Kontrolle – die Poren stehen offen und bleiben durchlässig: So zeigt sich der Grund den Vögeln und selbst dem Meister der Malerei, Zeuxis, umso härter. Die Bildoberfläche bleibt damit eine unreduzierbare Grenzfläche, porös, ständig im Passieren begriffen: haut-bild-nah, wie die Haut des nackten Malers, welche dieser den Betrachtenden frontal entgegenstreckt.
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plique mimesis, c’est-à-dire précisément production (non-reproduction) dans une forme de la force communiquée dans la participation.« (Nancy 2011b, 71) Flatscher 2011, 329. Nancy 2011a, 354-355. Nancy 2013, 88-89. Frz.: »l’inimitable et inimaginable surgissement de l’être en général« (Nancy 2009, 83).
Zwischenresümee
Der nackte Maler, Lucian Freud, stellt sich uns entgegen. Er stellt sich bloß. Bringt seinen Körper nach vorne, nackt, dieser hat die Form eines Rechteckes, was wiederum den Bildkörper ausstellt, der darunter verdeckt ist. Zeuxis versucht, den Bildkörper zu verschleiern: Das Bild soll täuschen, so gut als möglich, dafür muss es seinen Körper verbergen, die Darstellung als seiend ausgeben. Nur so kann der Wettstreit mit Parrhasios gewonnen werden. Doch Zeuxis verlor ihn. Der Körper bricht durch, hat sich nicht kontrollieren lassen. Er bleibt widerständig. Selbst der größte Könner, der Meistermaler Zeuxis, konnte sich vor der Duplizität der Bilder nicht schützen. Diesem Wettstreit mit Parrhasios liegt ein historischer Streit zugrunde. Zeuxis ist einer derjenigen Künstlerinnen und Künstler in der Antike, welche einen ästhetischen Paradigmenwechsel einläuten: Nicht mehr die Orientierung an der Proportion und mathematischen Wohlgeformtheit, sondern die Orientierung am Sinnlichen, an der korrekten Erscheinung ist Zeuxis’ Leitmotiv. Zu diesem Richtungsstreit in der Kunst hat sich auch Platon mit der Unterscheidung zwischen Ebenbild und Trugbild geäußert: Während ersteres an den mathematischen Kriterien des Maßes, der Zahl und des Gewichts orientiert ist, ist letzteres auf das sinnliche Erscheinen bezogen und gibt sich für etwas aus, dass es nicht ist. Bilder dürfen sich nicht selbst als seiend ausgeben (kath’auto), sie müssen verweisen (pros alla). Ihr Körper fungiert als Träger von Sinn oder Bedeutung, er darf aber nie selbst in seiner Seiendheit hervortreten. Hierin zeigt sich die ontologische Spannung, die das Bild auszeichnet und die Platon präzise erfasst hat. Die Prinzipien der Mimesis und der Methexis garantieren zum einen die Einordenbarkeit der Bilder in die Seinshierarchie und zum anderen ihren täuschungsfreien Verweis: Sie haben an der Idee durch ihre Mathematizität teil und sind ihnen so in einer Ähnlichkeitsbeziehung verbunden. Dies führt zu einer Bannung des Körpers: Er darf nicht zum Vorschein kommen, ansonsten droht das Schicksal des Zeuxis und das bedeutet eine Berührung mit dem Unbeschreiblichen, dem Unsagbaren, dem Undenklichen. Diese Verneinung und Bannung des Bildkörpers geht Hand in Hand mit einer Abwertung von Körperlichkeit: Der Körper als Wohnort der Seele wird als transi-
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Expeausition
torischer Übergang zu einem besseren Leben, als ein Kerker oder eine Falle verstanden, in denen die Seele eingeschlossen ist, die ihr aber auch Schutz bieten. Die Haut wird in dieser Denkweise zu einer Hülle oder einem undurchdringbaren Panzer, der das Innere schützen soll. Dem korrespondiert eine anatomische Tradition, die sich in der Renaissance auszubilden beginnt. Darin wird das Abziehen der Haut mit einem Eindringen ins wahre Innere und einem Erkenntnisgewinn gleichgesetzt. Die anatomischen Traktate, in denen Muskelmänner dargestellt sind, die stufenweise eine weitere Schicht ihrer Haut und ihrer Muskeln verlieren, prägen wiederum die Malerei hinsichtlich der Körperdarstellung. Der nackte Maler, Lucian Freud, verliert keine Haut, sondern stellt entgegen dieser Tradition seine intakte, aber gealterte Haut nach vorne. Er exponiert sich schonungslos, entlang seiner Haut: Expeausition. Der Körper verweist nicht, sondern setzt sich aus – als Körper, als Haut. Ihn auf die Leinwand zu bringen erfordert einen Transfer von einem Körper zu einem anderen Körper, von einer Präsenz zu einer anderen Präsenz – und nicht von einer An- in eine Abwesenheit. Das Bild verweigert sich der Negation: Es muss immer zeigen, präsentieren. In diesem Sinne findet auf dem Bild eine Fleischwerdung – carnagione – statt. Während in der Inkarnation dem Körper Geist eingehaucht wird, wird bei der carnagione aus einem Körper ein Körper: Der fleischige Körper des Modells wird transformiert, deformiert, um auf die Leinwand zu kommen und Haut (Inkarnat) zu werden. Dabei verliert er sein Fleisch und seine Tiefe, wird reine Oberfläche, Haut. Die Darstellung von Haut, wie sie Freud auf seinem Bild zelebriert, ist folglich zentral und gilt in der Malereigeschichte als eine der schwierigsten Aufgaben: eben und glatt, dabei aber doch variantenreich und plastisch soll die Haut, das Inkarnat, sein – durchscheinend und körperlich gleichermaßen. Das Inkarnat Freuds ist nicht durchscheinend, sondern schwer, massiv, knorpelig. Der Bildkörper hingegen ist ebenmäßig und flach, er wird in der malerischen Tradition auch als pelle, Haut, bezeichnet. Diese zwei Elemente, carnagione und pelle, zeigen sich bei Freud und seiner Nacktung: Fleisch als Modulation von Materie – carnagione –, gleichzeitig stellt sich Freud nackt aus, weist damit auf die Haut des Bildes – pelle. Die Betonung des Hautcharakters der Bilder ist verbunden mit einer Betonung ihrer Oberflächenstruktur, ihrer Ausgesetztheit und ihrer Porosität. Die Haut ist kein Panzer, sondern durchlässig, saugt an, atmet aus. Auf der Haut des Bildes kommen demnach die zwei Elemente der Duplizität des Bildes, der Körper und die Darstellung, Form und Grund miteinander in Beziehung, in Kontakt. Sie stehen auf der dünnen Oberfläche in einem Spannungsverhältnis. Der ontologisch prekäre Charakter des Bildes eröffnet sich und steht jedes Mal auf dem Spiel. Diese Spannung muss das Bild aushalten, aber diese Spannung, die Intensität erzeugt, müssen auch die Betrachtenden aushalten. Das Bild als korporale Vollzugsform ist folglich nicht statisch, sondern durch ein eine gegenstrebige Intensität, ein wechselseitiges Ziehen und Entziehen ausgezeichnet, das auch eine Neuinterpretati-
Zwischenresümee
on der platonischen Kategorien von Mimesis und Methexis nach sich zieht: Teilhabe wird in einem performativen Sinne als partizipieren und teilnehmen an dieser Spannung im Bild im Sinne des Mit-seins verstanden. Die Form erhebt sich aus dem Grund und im gleichen Zug sinkt sie zurück in den Grund: Sie nehmen teil aneinander, aus ihrem Ziehen und Entziehen geht das Bild hervor, an ihm hat der Maler bzw. die Malerin ebenso teil wie die Betrachtenden. Mimesis wird begriffen als das unnachahmliche Ereignis des Setzens von Differenzen, die einerseits ein Abstandnehmen vom Modell einleiten und es damit überwinden, andererseits dieses Modell transformiert und entfremdet auf der Leinwand entstehen lassen. Die kreative Seite der Mimesis findet so Betonung und das Bild zeichnet sich durch seine Intimität aus, die es trotz der Entfernung zum Modell herstellen kann, und nicht seine Fähigkeit zur Imitation. Die Legende des Zeuxis ist daher nicht nur diejenige vom täuschend ähnlichen Bild. Sie ist auch diejenige vom widerständigen Körper, der sich bemerkbar macht, durchdringt, sich erhebt, sich zeigt und expeauniert. Form und Grund, Darstellung und Körper an der Grenze der Haut.
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Resümee
Auf den vorangehenden Seiten wurde ein Bild des Denkens entworfen, das sich entlang des Bildes von Lucian Freud, seines nackten Körpers, seiner Haut, der Farben des Lebens, den Bleiweißklümpchen, den Pinselspuren, den Hebungen und Tiefen abarbeitet. Diese methodische Herangehensweise bedeutet eine Abgrenzung zur Bildwissenschaft wie zur Bildtheorie und forciert stattdessen, das Denken vom Bild leiten zu lassen, was im Falle von »Painter Working, Reflection« die Frage nach einer dezidiert korporalen Theorie der Bilder evozierte. Wie sich zeigte, ist eine solche in der Bildforschung bislang wenig vertreten, da in semiotischen Bildtheorien vor allem das Generieren von Bedeutung, in phänomenologischen Bildtheorien überwiegend das Erscheinen des Bildes, in anthropologischen Bildtheorien insbesondere die genuin menschliche Schaffenskraft und in differenztheoretischen Ansätzen großteils das Entzugsgeschehen im Vordergrund stehen, nicht aber die korporale Präsenz des Bildes. Diese wird zwar als notwendig anerkannt, gleichwohl nur in ihrem medialen Charakter und/oder als negative Bezugsfolie. Ebenso wie sich Freud bloßlegt, galt es daher auch, den Bildkörper bloßzulegen, der sich hinter der Darstellung verbirgt, sich gleichwohl aber immer selbst mitausstellt. Allerdings ist damit keine Umwertung der Duplizität des Bildes zugunsten des Bildkörpers intendiert, sondern der prekäre ontologische Status des Bildes steht im Zentrum – der Bildkörper kann nicht ohne den Bildinhalt und umgekehrt. Um dieses Spannungsverhältnis zu fassen, war es nötig, den Bildkörper zunächst als einen gleichwertigen Part gegenüber dem Bildinhalt zu verstehen. Aus diesem Grund wurde nicht nur der Bildkörper selbst thematisiert, sondern auch der künstlerische Prozess, die Darstellung, das Selbst, die Ähnlichkeit etc. – alles Elemente, die eine zentrale Stellung im Bild Freuds innehaben – auf ihre korporale Dimension hin befragt, mit dem Ziel, aufbauend auf der Philosophie von Jean-Luc Nancy ein affirmatives Konzept von Körperlichkeit zu entwerfen und Bildlichkeit ausgehend von der ontologischen Spannung als Vollzugsform neu zu denken. Damit wurden zentrale Themen im Denken von Bildlichkeit unter anderen methodischen Voraussetzungen neu aufgegriffen. Um diesen thematischen Schwerpunkten auch in ihrer historischen Reichweite gerecht zu werden, wurden klassische Konzepte von Körperlichkeit sowie Bildlichkeit anhand der drei Ursprungsmythen der Malerei, der platonischen Philosophie sowie deren Interpretationslinien in diversen historischen Malereitraktaten dekonstruiert und darauf aufbauend der Körper als Modus des (Sich-)Exponierens vorgestellt. Dabei wurden drei thematische Fragen vorangestellt, die schwerpunktmäßig in jeweils einem Teil leitend waren, gleichwohl in jedem der drei Teile angesprochen wurden. Die Ergebnisse werden in der Folge über die Grenzen der drei Teile hinweg noch einmal dargestellt. Wie lässt sich der künstlerische Schaffensprozess des Malens, in dem der Körper des Bildes zurücktritt und die Darstellung sichtbar wird, aus korporaler Perspektive denken? Der künstlerische Akt des Malens, wie ihn Lucian Freud ausführt, um das Bild zu malen, den er aber gleichzeitig ins Bild setzt und damit ausstellt, wurde be-
griffen als körperlicher Prozess, in dem aus Materie differentielle materielle Fakten geschaffen werden. Jeder gesetzte Pinselstrich, jeder Farbauftrag kommt in Kontakt mit anderen Farben, berührt sie, die Leinwand und setzt sich gleichzeitig von ihnen ab, tritt in Distanz. Auf diese Weise eröffnet sich ein materielles Differenzgeschehen. Um dieses zu beschreiben, wurde Nancys Modifikation von Derridas Konzept der différance aufgegriffen und dezidiert für das Denken von Bildlichkeit fruchtbar gemacht. Im künstlerischen Akt, im Setzen eines Strichs, im Tätigen eines Zugs ereignet sich nicht nur ein Aufschub und Entzug, sondern auch ein materielles Aussetzen und Nach-vorne-Stellen von Farben, Formen etc. Bilder stellen sich immer und zuvorderst aus, sie können sich nicht verneinen, sie müssen immer zeigen. Insofern können Bilder nicht als bloße Spur oder Repräsentationen verstanden werden, vielmehr heißt die Korporalität der Bilder zu denken, sie auch in ihrer Präsenz zu begreifen. Der ontologisch prekäre Status des Bildes bedeutet, dass Bilder genau in diesem Zwischen von Präsenz und Absenz statthaben. Das prae verweist dabei auf das Vorausgehen sowie das Nach-vorne-Stellen der Bilder und ihren affirmativen Charakter – und das sogar in potentia: Das Bild stellt nicht nur seine Darstellung nach vorne, sondern gleichzeitig und unabdinglich stellt es auch immer seinen Körper nach vorne, setzt ihn aus, liefert ihn aus, ist berührbar und berührend. Im performativen künstlerischen Schaffensprozess wird also nicht der Bildkörper bemalt, um ihn zu verdecken und auf seine Kosten, eine Darstellung hervortreten zu lassen, die auf eine Abwesenheit verweist. Der künstlerische Akt ist vielmehr die Potenzierung der Körperlichkeit, da durch ihn neben dem Körper auch die Darstellung nach vorne tritt, sich aussetzt, sich den Blicken preisgibt. Verbunden ist der schöpferische Prozess mit einer Lust, die nicht auf Mangel und Kompensation beruht, sondern auf dem Hervorziehen, dem Überschießen der Formen. Diese Lust ist es, welche die erste Malerin, Butades, ebenso wie den ersten Bildermacher, aber auch Lucian Freud antreibt. Wie kann dasjenige, das ins Bild gezogen wird, das also seinen Körper vermeintlich verliert – die Darstellung –, korporal und in seiner Präsenz gedacht werden? Und welche Konsequenzen hat dies für die (vor allem im Selbstporträts) zentralen Charakteristika der Ähnlichkeit, der Wiedererinnerung und des Subjekts? Wenn der nackte Maler, Lucian Freud, seinen Körper ins Bild bringt, ist dies kein Abdruck, keine Kopie, kein Übergang von einer Anwesenheit in eine Abwesenheit, sondern ein Transfer von einem Körper zu einem anderen Körper. Der Körper muss dafür eine Passage durchlaufen, in der er deformiert und transformiert wird, gleichwohl entsteht er auf der Leinwand als exponierter Körper wieder. Es ist dies, wie in den Malereitraktaten der Renaissance beschrieben wird, eine carnagione: aus Materie wird Materie, im Gegensatz zur Inkarnation, bei der etwas Körperlosem, Immateriellem, ein Körper, eine Materie, Fleisch gegeben wird. In jedem Pinselstrich, den die Malerin oder der Maler auf die Leinwand setzt, ereignet sich ein Aufschub, ein Entzug, der vom Modell (von sich selbst) entfernt und dieses (sich
selbst) doch auf der Leinwand neu entstehen lässt, indem es sich mit jedem Zug aussetzt. Es ist diese sich auf der Leinwand vollziehende Exposition, welche nicht nur konstitutiv für eine korporal verstandene Bildlichkeit ist, sondern auch für ein korporal verstandenes Konzept von Selbst, wie mit Nancy herausgestellt werden konnte: Das Selbstporträt bildet nicht eine Person, ein Subjekt ab, sondern exponiert die Subjektwerdung/Sujetwerdung. Dies zeigt sich zwar in potenzierter Form im Selbstporträt, gilt aber für alle Bilder: Sie sind Selbstporträts, nicht weil die eigenen Züge, der eigene Charakter anderen Figuren aufgedrückt werden, sondern weil der Prozess des Malens eine Form der Öffnung und Entäußerung ist, die Subjektivität und Selbstheit erst ermöglichen. Ebenso wie sich ein Bild immer aussetzt, sich nicht vor den Blicken verschließen kann, stellt sich auch das Subjekt immer aus, ist immer zur Welt und damit nie zur Gänze bei sich. Selbstheit bestimmt sich also durch Kontakt, Fremdheit. Ein so begriffenes (Selbst-)Porträt ist nicht an Abbildlichkeit oder Wiedererkennbarkeit gebunden, wie es der Mythos des Narcissus und seine Interpretation als Ursprung der Malerei in den Kunsttraktaten der Renaissance nahelegen. Ebenso wie dem Selbst das Fremde zukommt und dieses erst ermöglicht, ist das Fremde, das Andere, der Aufschub und Entzug bereits der Ähnlichkeit eingeschrieben, wie anhand des Begriffs der Auto-Allo-Mimesis nach Lacou-Labarthe und Nancy argumentiert wurde. Das Bild ist folglich kein Ort der Abbildung, keine Einschreibung von Transzendenz in eine Immanenz oder einer Idee/Form in Materie. Es folgt keiner Architektonik der Vertikalität, die streng hierarchisch wäre, sondern es ist Schichtung von Oberflächen, wodurch Ideen, Bilder, Darstellungen, ein Selbst erst entstehen. Auf der Leinwand Freuds – ihm gegenüber und uns gegenüber – ereignen sich Form- und Selbstwerdung durch Exposition. Ein solches Konzept des Porträts ist nicht als figurativ, sondern als figural zu begreifen. Das hat zur Folge, dass sich das Porträt nicht ausreichend über die Wiedererkennbarkeit bzw. die Wiedererinnerung an eine Person, an das Modell oder das Darzustellende definiert ist. Was wiedererinnert wird bzw. was den Betrachtenden im Bild widerfährt, ist der Prozess der Selbstwerdung, der durch Öffnung und In-Kontakt-Treten mit anderen statthat. Evoziert und herausgefordert wird dieses Widerfahrnis, durch das Blickgeflecht, in welches das (Selbst-)Porträt die Betrachtenden einbezieht: Das Porträt ist nicht nur ausgesetzt, den Blicken schonungslos preisgegeben, sondern der Blick des Porträts trifft die Betrachtenden, macht sie selbst zu Exponaten, führt ihnen ihr eigenes Ausgesetztsein und damit auch ihre eigene Entzogenheit und Fremdheit vor. Wie können Körper affirmativ gedacht werden und wie lassen sich darauf aufbauend das Verhältnis von Träger und Darstellung, der ontologisch prekäre Status des Bildes bzw. die ikonische Differenz verstehen? Der nackte Körper, wie ihn Freud exponiert, hat kein Dahinter mehr, hat seine Tiefe verloren, ist Oberfläche geworden, gleichwohl ist es sein Körper, mit dem
er sich den Betrachtenden entgegenstellt. Dem folgend wurde argumentiert, dass Bilder das Ereignis von Körperlichkeit auf der Fläche präsentieren. Um dies darzustellen, wurden mit Bezug auf Nancy und Ferrari zwei Begriffe eingeführt: Es ist dies erstens der Begriff der Nacktung, mit dem die Bloßlegung Freuds von der Freilegung einer tieferliegenden Wahrheit unterschieden wurde, in der das Nackte gemäß einer platonischen Tradition auf die Ideen oder Wahrheit verweisen soll. Die Nacktung stellt dar, dass es kein Dahinter gibt, dass der Körper als Grenzgeschehen, als notwendiges In-Kontakt-Kommen, schon die Wahrheit ist. Der zweite Begriff ist derjenige der Expeausition, womit das konstitutive Ausgesetztsein, das Zur-Welt-Sein der Körper entlang der Haut beschrieben ist. Körper sind keine Substanz, sind nicht für sich, sie berühren und werden berührt, sie stehen immer zur Welt, zu anderen Körpern, grenzen an und ab. Diesen Zug verlieren die Körper auch nicht, wenn sie ins Bild gebracht werden oder als Medium für eine Darstellung agieren: Sie lösen sich nicht auf, sondern berühren, bleiben widerständig, was sogar der Meister der Malerei, Zeuxis, schmerzlich erfahren hat. Damit wurde ein affirmatives Gegenmodell zum Konzept des Körpers in der Semiotik wie auch der Phänomenologie vorgeschlagen, in denen dieser eine untergeordnete Rolle einnimmt. Wenn Freud seinen nackten Körper auf die Leinwand bringt, wird aus Fleisch, Blut, Knochen reine Haut – deren Herstellungstechnik aufgrund ihrer entscheidenden Rolle im Bild stets von zentraler Wichtigkeit war, wie eine Analyse von historischen Malereitraktaten ergab. Ihre Bezeichnung als Inkarnat, carne, carnagione verweist dabei auf das zu illusionierende Fleisch. Dementgegen wird das Bild selbst aufgrund seiner ausgeprägten Oberflächenstruktur, seiner dünnen Leinwand als Haut, pelle, bezeichnet. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Körper und Fläche, Körper und Darstellung ist charakteristisch für das Bild und wurde anhand des Konzepts der Porosität beschrieben: So wie die Haut keine undurchlässige Mauer ist, sondern aus durchlässigen Poren besteht, ist auch das Bild in seiner Durchlässigkeit, seiner Spannung, seiner Bewegung zwischen Körper und Fläche zu denken. Damit wurde ein Gegenentwurf zu der weit verbreiteten Einteilung des Bildes in Bildinhalt und Bildträger, Körper und Darstellung, Form und Inhalt oder Faktum und Akt vorgeschlagen. Diese Trennung ist zum einen verbunden mit einer Dichotomisierung zugunsten der Darstellung und des Symbolischen. Zum anderen hat die Trennung zur Folge, dass das Bild anhand von zwei Identitäten begriffen wird, von denen eine (die materielle Beschaffenheit) die andere (die Bedeutung) hervortreten lässt. Auch wenn es sich bloß um eine methodische Trennung handelt und beide Elemente in einem wechselseitigen Verhältnis stehen, führt dies zu einer problematischen Abstraktion, durch welche die jeweiligen Teile als Konstanten vorausgesetzt werden. Demgegenüber wurde in der Arbeit argumentiert, dass sich Bildträger wie auch Bilddarstellungen in ihrer Körperlichkeit aussetzen und nur durch ihr gegenseitiges Berühren und Berührtwerden hervorgebracht werden.
Sie sind folglich nichts für sich, keine Identität oder Entität, sondern erst indem sie zueinander sind. Darauf aufbauend wurde in der Arbeit Bildlichkeit selbst in einem dynamischen Verhältnis als Vollzugsform gedacht, um damit dem ontologisch prekären Status gerecht zu werden. Von diesem sind auch die Betrachtenden nicht ausgeschlossen, vielmehr konnte durch eine Umdeutung der Konzepte von Methexis und Mimesis die performative Struktur der Bilder betont werden. Während Mimesis und Methexis bei Platon und in seiner Nachfolge dazu dienten, das Bild in seiner Repräsentationsfunktion zu verankern, wurden sie mit Nancy als Nachahmung ohne Vorbild, das heißt als schöpferisches Potential, sowie als Teilhabe im Sinne eines Partizipierens der Betrachtenden am Bild, der Form am Grund und vice versa verstanden. Mimesis und Methexis bedingen sich gegenseitig. Die hier entworfene korporale Philosophie der Bilder begreift diese anhand ihrer potenzierten Exposition als Vollzugsformen: Auf der Oberfläche des Bildes kommen der Körper und die Darstellung, Formen und Grund miteinander in Beziehung, in Kontakt. Sie stehen auf der dünnen Oberfläche des Bildes, der Haut, in einem Spannungsverhältnis, das sich im materiellen Gemälde durch Spannungsrisse zeigen kann wie auch durch Schollenbildung. Das Ereignis von Körperlichkeit auf der Fläche der Leinwand übt eine Anziehungskraft, eine Intensität und Intimität auf die Betrachtenden aus, wodurch diese daran partizipieren. Das Bild ist ein exponiertes dynamisches Kräfteverhältnis, dem sich die Betrachtenden aussetzen, dem sie aber auch ausgesetzt sind.
Abkürzungen
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Lucian Freud (1993): Painter Working, Reflection. Öl auf Leinwand. 101,2 x 81,7 cm. Privatbesitz. Fotografie des Kunsthistorischen Museums Wien (Stefan Zeisler, Sanela Antic)......................................................................10 Abb. 2: Richard Gerstl (1908): Selbstbildnis als Akt. Öl auf Leinwand. 139,3 x 100 cm. Leopold Museum. Wien, Inv. 637. Fotografie von Manfred Thumberger.................................................................................................271 Abb. 3: Josef Kern (1979): Ich male, daher bin ich. Öl auf Leinwand. 145 x 80 cm................................................................................................271 Abb. 4: Maria Lassnig (2010-2013): Selbstporträt mit Pinsel. Öl auf Leinwand. 210 x 155 cm. Fotografie von Roland Krauss. Maria Lassnig Stiftung..............................................................................................272 Abb. 5: Xenia Hausner (1994): Vorher. Acryl auf Hartfaser. 170 x 160 cm. Privatbesitz............................................................................................273 Abb. 6: Xenia Hausner (1994): Nachher. Acryl auf Hartfaser. 170 x 160 cm. Sammlung Dr. Fuchs. Wien.......................................................................273 Abb. 7: Albertus C louwet: L’idea. Kupferstich........................................274 Abb. 8: Vicente C arducho (1633): Tabula Rasa. En la que table rasa tanto excede, que vee todas las cosas en potencia, sólo el pincel con soberana ciencia reducir la potencia al acto puede. Kupferstich..................................................274 Abb. 9: Lucian Freud (1993): Painter Working, Reflection. Detail I. Öl auf Leinwand. 101,2 x 81,7 cm. Privatbesitz. Fotografie des Kunsthistorischen Museums Wien (Stefan Zeisler, Sanela Antic)......................................................275 Abb. 10: Lucian Freud (1993): Painter Working, Reflection. Detail II. Öl auf Leinwand. 101,2 x 81,7 cm. Privatbesitz. Fotografie des Kunsthistorischen Museums Wien (Stefan Zeisler, Sanela Antic)......................................................275 Abb. 11: Lucian Freud (2002): Self Portrait (Reflection). Öl auf Leinwand. 66 x 50,8 cm. Privatsammlung. Fotografie des Kunsthistorischen Museums Wien (Stefan Zeisler, Sanela Antic)..............................................................276 Abb. 12: Lucian Freud (2005). Fotografie von David Dawson....................276 Abb. 13: Claude Monet (um 1920): Der Schatten Monets auf dem Seerosenteich.
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Expeausition
Fotografie. 4 x 5 cm. Sammlung Philippe Piguet. Paris............................277 Abb. 14: Lodovico C ardi, genannt C igoli (o.J.): Narziss. Vorderseite. Pinsel, braun laviert, Feder in brauner Tinte, weiß gehöht auf Kreidelinien, auf grün getöntem Papier. 28,4 x 39,3 cm. Musée de Louvre (Graphische Sammlung). Paris.................................................................................................277 Abb. 15: Lodovico C ardi, genannt C igoli (o.J.): Narziss. Rückseite. Pinsel, braun laviert, Feder in brauner Tinte, weiß gehöht auf Kreidelinien, auf grün getöntem Papier. 28,4 x 39,3 cm. Musée de Louvre. Paris.................................................................................................277 Abb. 16-19: Andreas Vesalius: Muskelmänner. Holzschnitte.....................278 Abb. 20: William Marshall: Kupferstich................................................279 Abb. 21: Anonym: Kupferstich............................................................279 Abb. 22: Giacomo Berengario da Carpi: Stehende Figur, die Unterleibsmuskeln zeigend. Holzschnitt........................................................................280 Abb. 23: Nicolas Béatrizet nach einer Zeichnung von Gaspar Becerra: Bauchhöhle. Kupferstich..................................................................280
Bildcorpus
Abb. 2: Richard Gerstl (1908): Selbstbildnis als Akt. Öl auf Leinwand. 139,3 x 100 cm. Leopold Museum. Wien, Inv. 637. Fotografie von Manfred Thumberger. Abb. 3: Josef Kern (1979): Ich male, daher bin ich. Öl auf Leinwand. 145 x 80 cm.
Abb. 2 entn. aus: Verena Borgmann/Frank Laukötter (Hg.) (2013): Sie. Selbst. Nackt. Paula Modersohn-Becker und andere Künstlerinnen im Selbstakt. Ostfildern, 10. Abb. 3 entn. aus: Wilfried Skreiner (1981): Neue Malerei in Österreich I. Ausstellung von 14. 3. bis 5. 4. 1981. Graz, o. S., Kat. 16.
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Expeausition
Abb. 4: Maria Lassnig (2010-2013): Selbstporträt mit Pinsel. Öl auf Leinwand. 210 x 155 cm. Fotografie von Roland Krauss. Maria Lassnig Stiftung.
Bildcorpus
Abb. 5: Xenia Hausner (1994): Vorher. Acryl auf Hartfaser. 170 x 160 cm. Privatbesitz. Abb. 6: Xenia Hausner (1994): Nachher. Acryl auf Hartfaser. 170 x 160 cm. Sammlung Dr. Fuchs. Wien.
Abb. 5 u. 6 entn. aus: Verena Borgmann/Frank Laukötter (Hg.) (2013): Sie. Selbst. Nackt. Paula Modersohn-Becker und andere Künstlerinnen im Selbstakt. Ostfildern, 120 u. 121, Abb. 48.
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Expeausition
Abb. 7: Albertus Clouwet: L’idea. Kupferstich. Abb. 8: Vicente Carducho (1633): Tabula Rasa. En la que table rasa tanto excede, que vee todas las cosas en potencia, sólo el pincel con soberana ciencia reducir la potencia al acto puede. Kupferstich.
Abb. 7 entn. aus: Giovanni Pietro Bellori (1672): L’idea […]. In: ders.: Le vite de’ pittori, scultori et architetti moderni. Rom, 3. Abb. 8 entn. aus: Vicente Carducho (1633): Dialogos de la pintura. Su defensa, origen, essencia, definicion, modos y diferencias. Madrid, Anhang.
Bildcorpus
Abb. 9: Lucian Freud (1993): Painter Working, Reflection. Detail I. Öl auf Leinwand. 101,2 x 81,7 cm. Privatbesitz. Fotografie des Kunsthistorischen Museums Wien (Stefan Zeisler, Sanela Antic). Abb. 10: Lucian Freud (1993): Painter Working, Reflection. Detail II. Öl auf Leinwand. 101,2 x 81,7 cm. Privatbesitz. Fotografie des Kunsthistorischen Museums Wien (Stefan Zeisler, Sanela Antic).
Abb. 9 u. 10 ent. aus: Sabine Haag/Jasper Sharp (Hg.) (2013): Lucian Freud. München, London, New York, 213, Kat. 36.
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Expeausition
Abb. 11: Lucian Freud (2002): Self Portrait (Reflection). Öl auf Leinwand. 66 x 50,8 cm. Privatsammlung. Fotografie des Kunsthistorischen Museums Wien (Stefan Zeisler, Sanela Antic). Abb. 12: Lucian Freud (2005). Fotografie von David Dawson.
Abb. 11 ent. aus: Sabine Haag/Jasper Sharp (Hg.) (2013): Lucian Freud. München, London, New York, 223, Kat. 41. Abb. 12 entn. aus: David Dawson (2014): A Painter’ s Progress. A Portrait of Lucian Freud. London, 245.
Bildcorpus
Abb. 13: Claude Monet (um 1920): Der Schatten Monets auf dem Seerosenteich. Fotografie. 4 x 5 cm. Sammlung Philippe Piguet. Paris. Abb. 14: Lodovico Cardi, genannt Cigoli (o.J.): Narziss. Vorderseite. Pinsel, braun laviert, Feder in brauner Tinte, weiß gehöht auf Kreidelinien, auf grün getöntem Papier. 28,4 x 39,3 cm. Musée de Louvre (Graphische Sammlung). Paris. Abb. 15: Lodovico Cardi, genannt Cigoli (o.J.): Narziss. Rückseite. Pinsel, braun laviert, Feder in brauner Tinte, weiß gehöht auf Kreidelinien, auf grün getöntem Papier. 28,4 x 39,3 cm. Musée de Louvre. Paris.
Abb. 13 entn. aus: Victor Stoichita (1999): Eine kurze Geschichte des Schattens. Aus dem Französischen übers. von Heinz Jatho. München, 108. Abb. 14 entn. aus: Jacques Derrida (1997): Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. Aus dem Französischen übers. von Andreas Knop/Michael Wetzel. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Michael Wetzel. München, 70, Abb. 31. Abb. 15 entn. aus: Jacques Derrida (1997): Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. Aus dem Französischen übers. von Andreas Knop/Michael Wetzel. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Michael Wetzel. München, 70, Abb. 30.
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Abb. 16-19: Andreas Vesalius: Muskelmänner. Holzschnitte.
Ent. aus: Andreas Vesalius (1543): De humani corporis fabrica libri septem. Basel, 178; 181; 184; 187.
Bildcorpus
Abb. 20: William Marshall: Kupferstich. Abb. 21: Anonym: Kupferstich.
Abb. 20 entn. aus: Alexander Read (1638): Manuall of the Anatomy or Dissection of the Body of Men. London, Frontispiz. Abb. 21 entn. aus: Thomas Bartholin (1651): Anatomia Reformata. Leiden, Frontispiz.
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Abb. 22: Giacomo Berengario da Carpi: Stehende Figur, die Unterleibsmuskeln zeigend. Holzschnitt. Abb. 23: Nicolas Béatrizet nach einer Zeichnung von Gaspar Becerra: Bauchhöhle. Kupferstich.
Abb. 22 entn. aus: Giacomo Berengario da Carpi (1521): Commentaria cum amplissimis additionibus super anatomia Mundini. Bologna, LXXXI.. Abb. 23 entn. aus: Juan Valverde de Hamusco (1556): Historia de la composicion del cuerpo humano. Rom, tab. primera del lib. terzero.
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