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German Pages 241 [246] Year 2023
Daniel Trabalski
Weg vom Fenster Die Staublunge der Ruhrbergleute zwischen wissenschaftlicher Entdeckung, betrieblicher Regulierung und gesellschaftlichem Vergessen in der Bundesrepublik
VSWG Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte | Beiheft 258 Geschichte Franz Steiner Verlag Franz Steiner Verlag
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contubernium Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Herausgegeben von Mark Spoerer, Jörg Baten, Markus A. Denzel, Thomas Ertl, Gerhard Fouquet und Günther Schulz Beiheft 258
Weg vom Fenster Die Staublunge der Ruhrbergleute zwischen wissenschaftlicher Entdeckung, betrieblicher Regulierung und gesellschaftlichem Vergessen in der Bundesrepublik Daniel Trabalski
Franz Steiner Verlag
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – 322685540.
Umschlagabbildung: Ein an Silikose (Staublunge) erkrankter Bergmann mit der Röntgenaufnahme seiner Lunge, Essen 1953 © Anton Tripp/Fotoarchiv Ruhr Museum (Ausschnitt) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2023 www.steiner-verlag.de Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13355-5 (Print) ISBN 978-3-515-13356-2 (E-Book)
Danksagung
Wie die meisten Veröffentlichungen dieser Art hat auch die vorliegende Arbeit viele Mütter und Väter. Sie geht wesentlich auf meine Tätigkeit bei der Dokumentationsund Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger (sv:dok) in Bochum zurück, die mich unter anderem mit den umfangreichen historischen Beständen der Unfallversicherung und damit auch dem Gegenstand dieser Arbeit in Kontakt gebracht hat. Ganz besonderer Dank gilt meinen Eltern und Großeltern, die meinen akademischen Lebensweg vom Studienbeginn bis zur mündlichen Verteidigung meiner Dissertation unverbrüchlich unterstützt und gefördert und dadurch überhaupt ermöglicht haben. Während der Forschung zu diesem Buch im Rahmen meiner DFG-geförderten Tätigkeit am Deutschen Bergbau-Museum Bochum haben mich Lars Bluma und Lena Asrih in ihren leitenden Funktionen im Forschungsbereich Bergbaugeschichte betreut und unterstützt. Des Weiteren haben mich das Vertrauen und der fachliche Rat durch Herrn Professor Constantin Goschler bestärkt und mir dabei geholfen, die eine oder andere Hürde zu überwinden. Mein Dank gilt außerdem Herrn Professor Thomas Welskopp, dessen sozialhistorische Arbeiten wichtige Impulse für dieses Buch gegeben haben und der dieses Projekt durch sein Zweitgutachten geadelt hat. Er ist am 19. August 2021 nach schwerer Krankheit verstorben. Nicht unerwähnt lassen möchte ich Herrn Professor Helmut Blome, ehemaliger Direktor des Instituts für Arbeitsschutz, der mich Herrn Goeke senior in Bochum-Grumme unweit der einstigen Zeche Constantin bekanntgemacht hat, dessen eindrückliche Erinnerungen an die Hochzeit des Steinkohlenbergbaus und die Bergarbeiterkultur mir den Gegentand meiner Forschung plastisch vor Augen geführt haben. Das Forschungsprojekte lebte aber auch vom ständigen fruchtbaren Austausch in einem intellektuell und persönlich bereichernden Umfeld umtriebiger Bochumer Historikerinnen und Historiker. Neben Marcus Böick, mit dem mich eine langjährige Freundschaft verbindet und der nicht unschuldig daran ist, dass es mich einst ins Ruhrgebiet verschlug, danke ich deshalb Pia Eiringhaus, Jonas Fischer, Jan Kellershohn, Christopher Kirchberg, Julia Reus, Marcel Schmeer sowie meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen am Deutschen Bergbau-Museum Bochum für gemeinsame Lektüren, spannende Diskussionen und bierselige Nächte an Orten, an denen bereits der eine oder andere Kumpel seine Lohntüte verschlankte.
Inhaltsverzeichnis
.......................................................... 9 1.1 Erkundung: Die Krise im Boom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.2 Zeitgeschichtliche Verortung und begriffliche Orientierung . . . . . . . . . 15 1.3 Fragestellung und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
1.
Einleitung
2.
Von der Entdeckung zum Vergessen der Staublunge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Repräsentation und Macht nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Wiederentdeckung der Silikose durch die bundesrepublikanische Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Wissenschaft rettet den Bergmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Staublunge wird Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Zwischenfazit: Von geschlagenen und neuen Helden . . . . . . . . . . . . . . .
3.
Hierarchien und Wechselverhältnisse der Wissensgenese und des Wissenstransfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
4.
37 49 67 79 82 82 89 102 113 127
............................. Trial and Error in der betrieblichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Siegeszug der Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risikoregulierung, Probabilismus 1960–65 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit: Von der Physiologie des Einzelnen zum Probabilismus der Masse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
142 142 154 167
....................... 5.1 Schäden entschädigen, Leid erdulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Außen- und Innenansichten der bergmännischen Gesundheit . . . . . . . 5.3 Einer von Tausenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185 185 193 199
Die betriebliche Prävention in der Praxis
4.1 4.2 4.3 4.4
5.
Kontinuität und Neuanfang nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenspraxis: Das Problem ist der Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefahrenkommunikation und bergmännisches Verhalten . . . . . . . . . . . Schnittstellen zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft . . . . . . . . . . . .
26 26
Entschädigungspraxis und Krankheitserfahrung
182
8
Inhaltsverzeichnis
5.4 Häusliche Erfahrungs- und Leidensräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 5.5 Die soziale Rolle der Begutachtungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 6.1 Empirische Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 6.2 Historiografische Einordnung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
6.
Schluss
7.
Abbbildungsverzeichnis
8.
Quellen- und Literaturverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 8.1 Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 8.2 Literatur und gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
1.
Einleitung
1.1
Erkundung: Die Krise im Boom
Im kollektiven Gedächtnis alter Montanregionen wie dem Ruhrgebiet ist die Staublunge noch lebendig. Es ist erst wenige Jahrzehnte her, dass von der Sozialversicherung „kaputtgeschriebene“, das heißt von den Sachbearbeitern für Invalide erklärte ehemalige Bergmänner in großer Zahl nur noch auf die heimischen Fensterbretter gelehnt am gesellschaftlichen Leben teilnahmen, bis sie irgendwann verschwunden, eben sprichwörtlich „weg vom Fenster“ waren. Begibt man sich auf die Suche nach einer etwaigen historischen, allzumal fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Kapitel bundesrepublikanischer Nachkriegsgeschichte, kommt man dagegen nicht weit. Die Staublunge scheint – abgesehen von verstörend-verknöcherten Lungenpräparaten oder weiß gefärbten Röntgenaufnahmen, die gerne bei Ausstellungen präsentiert werden – keine memorablen Referenzen oder Ereignisse hervorgebracht zu haben. Das körperliche Drama dieses Lungenleidens scheint sich überwiegend im Stillen der Bergwerke und Zechensiedlungen abgespielt zu haben. Wie konnte die tödlichste Berufskrankheit der Geschichte jahrelang, mitten in einer grundlegenden Schlüsselindustrie des bundesrepublikanischen „Wirtschaftswunders“ wüten, ohne dass ein lautstarker Nachruf auf die sich auftürmenden menschlichen Opfer bis heute nachhallt? Eine völlig andere Erzählung aus derselben Zeit ist immerhin konstituierend für die Geschichte der Bundesrepublik. Die Währungsreform des Jahres 1948 gilt als Initialzündung des westdeutschen „Wirtschaftswunders“, das für einen ein Vierteljahrhundert andauernden Boom sorgte. Die Hungerkrisen der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden überwunden, die städtischen Trümmerberge wichen allmählich modernen Neubauten. Die bald vollbeschäftigte bundesrepublikanische Gesellschaft erfuhr von Jahr zu Jahr beispiellose ökonomische Wachstumsraten und schuf damit den Wohlstand, der die materielle Basis für eine sozialstaatliche Expansion bildete, und eine Erfolgsgeschichte, die die westdeutsche Gesellschaft und ihre kollektive Identität bis in die Gegenwart prägen. Das parteiübergreifende Versprechen „sozialer Sicherheit“ wurde zum wichtigen Baustein westdeutscher Wirtschafts- und Sozialpolitik und –
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Einleitung
gerade im Kontrast zu anderen westeuropäischen Staaten – zumeist im einvernehmlichen Konsens zwischen Gewerkschaften, Industrie und Staat ausgehandelt. Diese neue Zielvorstellung formulierte der einflussreiche Frankfurter Sozialwissenschaftler Hans Achinger zeitgenössisch im Jahr 1953 so: [E]s geht nicht mehr darum, den Einzelnen in seinen gegebenen Verhältnissen über Wasser zu halten, sondern es geht ganz allgemein um ein neues Niveau, um die Sicherung einer Untergrenze dessen, was für alle Staatsbürger als minimum decency gelten soll.1
Die Unfallversicherung und mit ihr die Gesundheit am Arbeitsplatz bezog er dabei explizit in seine Überlegungen ein. Sie wurde zwar seit ihrer Gründung 1884 kaum mehr als ein akutes Gegenwartsproblem wahrgenommen, weil man diese als endgültig geregelt angesehen habe, doch der neuerliche „Kampf gegen die Berufskrankheiten“ zeige, dass auch sie in den „Mahlstrom der allgemeinen Bewegung“ geraten sei, womit Achinger sich auf die wohlfahrtsstaatliche Expansionen in der noch jungen Bundesrepublik bezog. Wenn in den fünfziger Jahren von Berufskrankheiten die Rede war, dann überragte die Staublunge bald alle anderen. Der Schutz vor Berufskrankheiten, die erst seit den zwanziger Jahren überhaupt in der deutschen Sozialversicherung problematisiert wurden, war damit Teil eines neuen Versprechens, das im Hinblick auf die Weimarer Republik und die Sozialpolitik unter dem nationalsozialistischen Regime als so neu letztlich gar nicht erschien.2 Der Terminus der „sozialen Sicherheit“, der in den fünfziger Jahren breiten Eingang in den sozialpolitischen Diskurs fand, wurde sein fester Bestandteil und bezeichnete – so die einschlägigen Handbücher – ein ganzes Bündel sozialpolitischer Maßnahmen, „die unmittelbar nicht sowohl der Hebung der Lebenslage, als vielmehr dem Schutz der Lebenslage vor bestimmten Gefahren ihrer Verschlechterung“ dienten. Genauer genommen ging es um Gefahren, die der Einzelne abzuwenden nicht im Stande war.3 Sicherheit impliziert stets auch Sicherheit vor etwas. Als politisches Zukunftsprojekt der jungen Bundesrepublik, die sozialpolitisch breit an die Traditionen der Weimarer Republik anknüpfte, war das Trauma der Massenarbeitslosigkeit in den Jahren der Weltwirtschaftskrise gewiss eine wichtige Referenz für eine unverschuldete Gefahr für individuelle Arbeits- und Lebenslagen. Das Bewusstsein für die Prävalenz chronischer, sich über viele Jahre und Jahrzehnte manifestierender Krankheiten, erforderte im Sinne eines Schutzes vor Gefahren Maßnahmen, die nicht mehr allein im Sinne einer gesellschaftlichen Fürsorge etwaige Einkommensverluste entschädigte, obschon die Renten- und die Unfallversicherung dies im Fall von Invalidität und Berufskrankheit leisteten. Im Selbstverständnis der modernen Sozialstaaten konnte es nach AufAchinger 1953, S. 11. Mit Schwerpunkt auf den sozialpolitischen Konzepten noch während des Zweiten Weltkrieges, deren Umsetzung schließlich 1944 auf die Zeit nach dem Krieg vertagt wurden, vgl. Geyer 1987, S. 333 ff., S. 357 ff. 3 Handwörterbuch der Sozialwissenschaften 1964, S. 396. 1 2
Erkundung: Die Krise im Boom
fassung vieler Praktiker der frühen Nachkriegszeit deshalb nicht mehr allein um reine Kompensation für erlittene gesundheitliche Schäden gehen, sondern – und zwar in steigendem Maße – um die umfassende Prävention gesundheitlicher Risiken. Die bundesrepublikanische Zeitgeschichte ist also eng an eine Erzählung sozialstaatlichen Auf- und Ausbaus gekoppelt. Dabei wurde nicht zuletzt der Leistungsumfang der Unfallversicherung vergrößert, zu deren Domäne die Berufskrankheiten zählten. Gerade in der Montanindustrie, also auch im Bergbau, waren die dort besonders hohen, inhärenten gesundheitlichen Risiken wohlbekannt. Gleichwohl ein Unfall oder eine Krankheit den Einzelnen stets unverhofft zu treffen schien, forderte allein der Steinkohlenbergbau des Ruhrgebiets auch nach 1945 noch jedes Jahr verlässlich Hunderte, bald Tausende Tote. Die meisten von ihnen fielen nicht etwa den gefürchteten und spektakulären Grubenunglücken zum Opfer, bei denen die umgekommenen Bergmänner im Blickpunkt der Öffentlichkeit den Unfalltod starben, sondern der Staublunge, die im Verborgenen in den Zechenkolonien der Bergwerksgesellschaften wütete und die einst kräftigen, den Widrigkeiten der Welt unter Tage trotzenden Bergmannskörper bis zu ihrem langsam-qualvollen Erstickungstod dahinsiechen ließ. Aus der Retrospektive erschien dieser Befund eindeutig: Die Statistiken der Unfallversicherung zeigen detailliert, wie die Zahl der registrierten Erkrankten kurz nach dem Zweiten Weltkrieg dramatisch in die Höhe schoss – auf mehrere Tausend je Quartal –, sich in den späten fünfziger Jahren abflachte und nach 1970 unter die kritische Schwelle von 1.000 neuen Fällen pro Jahr fiel. Die Kurve der auf die Staublunge zurückgeführten Todesfälle zog mit Verzögerung nach. Zweifellos war dieser „Sieg“ über die Krankheit ein erklärtes Ziel – und dass dieses auch erreicht wurde, verbuchten die Bergbau-Berufsgenossenschaft, die Trägerin der Unfallversicherung im Bergbau, sowie die Bergbauunternehmen als großen Erfolg. Doch vor dem begrenzten Zeithorizont der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre war dieser „Sieg“ keineswegs gewiss. Obwohl die Staublunge, medizinisch Silikose, seit 1929 dem Versicherungsschutz unterlag, waren nach 1945 noch etliche Fragen in der Praxis offen: Wie entstand sie, wie war sie von anderen Lungenkrankheiten wie der Tuberkulose diagnostisch zu unterscheiden, wie ließ sie sich therapieren? Der wissenschaftlich-medizinische Kanon wurde von einer Handvoll ausgewiesener Experten bestimmt. Der praktische Umgang mit dem Problem der Staublunge warf noch weitere Fragen auf, allen voran, ob dieses Problem medizinisch-therapeutisch oder technisch-präventiv zu lösen sei. Und letztlich blieb die Frage bestehen, was aus diesen Expertendiskursen und den hieraus abgeleiteten Maßnahmenpaketen und Steuerungsversuchen eigentlich bis zu den Bergleuten unter Tage wirklich vordrang und vordringen sollte. Die vorliegende Arbeit nähert sich der Geschichte der Staublunge deshalb dezidiert wissenshistorisch an. Da der Gegenstand der Untersuchung aber bislang weitgehend unerforscht ist, soll sie einen möglichst facettenreichen Einblick in die ersten zwei Nachkriegsjahrzehnte gewähren, und zwar aus einer neuen Perspektive: Bildlich gesprochen werden wir uns nicht allzu lange mit den schillernden Fassaden der bundesrepublikanischen Wiederaufbaugeschich-
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12
Einleitung
te, sondern die meiste Zeit in ihren schlecht beleuchteten Gewölben aufhalten. Denn unter dem Gesichtspunkt der Arbeitergesundheit schien die beispiellose Prosperität des „Wirtschaftswunders“ eben genau jene Körper zu verzehren, die diese fernab des Tageslichts hervorbrachten. Wer waren diese Menschen? In „Gesellschaft als Urteil“ spürt der französische Soziologe Didier Eribon mit einem besonderen Interesse an der Genealogie von Arbeiterfamilien den Bedingungen der gesellschaftlichen Ordnung nach und gelangt zu der Überzeugung, dass der Einzelne darin – überwältigt von der Macht ungeschriebener Gesetze – zugleich Subjekt und Stimme eines kafkaesken „unsichtbare[n], ungreifbare[n] Gericht[s]“ zu sein scheint, dessen Richtersprüche „uns vorangehen, uns umgeben, uns begleiten, bewerten und ohne irgendeine weitere Erklärung verurteilen.“4 Weniger mystisch ließe sich auf die Staublunge gemünzt sagen: Die Bergarbeiterschaft fand sich in einer historisch gewachsenen Rolle wieder, die von politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kräften und Zwängen geformt worden war, die sich unter diesen Umständen aber auch verändern konnte. Ein Topos, der sich durch dieses Buch zieht, ist der des „abkehrenden“ Bergmanns: Der Bergbau war bei vielen unbeliebt und gefürchtet und selbst die Nachkommen ganzer Bergarbeiterdynastien sahen sich nach einer weniger körperbetonten und lebensgefährlichen Tätigkeit um, wenn sie nur konnten. Der Bergbau war unattraktiv und die Staublunge, das Wissen um sie und die Furcht vor ihr, trugen entscheidend dazu bei.5 Dessen ungeachtet beschäftigte der Ruhrkohlenbergbau allein Hunderttausende Männer, auch lange nach der ersten „Kohlenkrise“, die ab 1958 den sukzessiven Niedergang der Branche, das vieldiskutierte „Zechensterben“, einleitete. Die Erinnerungen der Bergleute und ihrer Familien an diese Zeit ist schlecht überliefert.6 Naturgemäß krankt auch die Erforschung der bergmännischen Arbeits- und Lebenswelten daran. Erhalten ist jedoch der Topos von einem die Generationen überspannenden, sehr spezifischen Verhältnis zur Todesnähe und zum raschen Auszehren der Kräfte durch die körperlich fordernde Tätigkeit, das gerade im Bergbau nicht zuletzt mit einer ausgeprägten Männlichkeitskultur verwoben war.7 Doch waren seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zugleich immer mehr Mechanismen der sozialen Sicherung in Kraft getreten, um die existenzgefährdenden Lebensrisiken wie Krankheit, Invalidität und Alter sowie Arbeitslosigkeit aufzufangen, und die politische Mobilisierung der von
Eribon 2017, S. 147. Zur Suche nach Arbeitskräften in den europäischen Steinkohlenrevieren nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Brüggemeier 2018, S. 317 ff. 6 Die auch von Eribon beklagt wird (Eribon 2017, S. 133 f.) und die sich überall dort offenbart, wo auf die sozialen und kulturellen Bedingungen bestimmter Verhaltensweisen verwiesen wird; z. B. im Hinblick auf männliches Risikoverhalten am Arbeitsplatz; vgl. Bluma 2012, S. 35–72, hier S. 50; auf Grund großzügiger Interview-Überlieferungen konkreter dagegen in britischen Studien wie bei McIvor/Johnston 2007, S. 264. 7 Hier sei beispielhaft verwiesen auf die anschaulichen Darstellungen des Milieus in Brüggemeier 1983, S. 13 ff., 22–24; sowie Kocka 2015. 4 5
Erkundung: Die Krise im Boom
diesen Risiken bedrohten Massen durch die aufstrebende Arbeiterbewegung hatte unleugbaren Anteil am umfassenden Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Regulierung durch den deutsch-preußischen Obrigkeitsstaat.8 Der Bergbau – und das grenzte ihn von den meisten anderen Berufsständen im frühen Kaiserreich ab – blickte auf eine lange Tradition gemeinschaftlicher sozialer Absicherung zurück. Bis heute pflegt die Knappschaft, die inzwischen eine gesetzliche Krankenkasse unter vielen geworden ist, ihre über 750 Jahre zurückreichende Geschichte.9 Doch die Sozialversicherung im Bergbau war seit dem 19. Jahrhundert mehr als eine bloße Weiterentwicklung der gemeinschaftlichen Knappschaftsstrukturen. Vielmehr wurde die Versicherung der Bergarbeiterschaft – die vor allem mit der Expansion des Steinkohlenbergbaus im 19. Jahrhundert deutlich wuchs – gegen die Gefahren ihrer Arbeit in ein gesamtgesellschaftliches System sozialer Sicherung eingebunden. Trotz einiger weiterbestehender Sonderstrukturen war der Bergbau eine Industrie unter anderen, war die Bergbau-Berufsgenossenschaft eine branchenspezifische Trägerin der Unfallversicherung unter vielen. Dennoch lässt sich der Bergbau auch im Kontext der Vergesellschaftung beruflicher Risiken als etwas Besonderes beschreiben. Die bergmännische Lebenswelt mutet gerade aus heutiger Perspektive wild, gefährlich und fremdartig an: Zwar hat das Traditionsbewusstsein mancher Bergbauregionen den eigensinnigen Berufsstolz vergangener Tage in die heutige Zeit gerettet und eine das Grau und Schwarz von Stahl und Kohle geradezu fetischisierende Erinnerungskultur am Leben gehalten. Doch gibt es nur noch sehr wenige Menschen, die in den fünfziger Jahren, als die untertätige Arbeitsweise noch viele Facetten ihrer archaischen Vergangenheit aufwies, auf den Steinkohlenzechen tätig gewesen sind. Der Mythos exzeptioneller Opferbereitschaft und männlicher Solidarität spielte für die Zeitgenossen der fünfziger und sechziger Jahre eine wichtige Rolle – nicht nur für die Bergleute selbst, sondern auch in den politischen wie gesellschaftlichen Deutungen ihres Platzes in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Damals mehr als heute war dieses heroisierende Selbstbild und die in der Öffentlichkeit eingeforderte und ausgesprochene Anerkennung noch überdeutlich an die erbrachten kollektiven Opfer gebunden: Tagtägliche schwere, oft tödliche Unfälle, immer wieder auftretende plötzliche Grubenexplosionen und ein in der Gegenwart oft vergessener, doch seinerzeit gefürchteter wie leisetretender Totengräber – die Staublunge – verlangten der Bergarbeiterschaft ihren Tribut ab. Die Krankheit selbst offenbart sich vor allem durch ihre unheilvollen Beinamen – „schleichender Tod“, „Geißel“, „Bergmannsfluch“ und andere – als die finstere Seite des Bergmannsmythos. Sie machte aus der untertägigen Heldenfigur eine tragische Existenz, schuf einen gemarterten Körper, der dem Berg in aufopferungsvoller Hin-
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Ritter 2010, S. 63 ff. Bingener/Fessner 2010.
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14
Einleitung
gabe die lebensnotwendige Kohle zum Wohle aller abrang und den zahlreichen Gefahren trotzte, um schließlich von der Tücke einer Krankheit niedergestreckt zu werden, die sich ungesehen, ungehört über Jahre und Jahrzehnte in den Lungen festsetzte. Wer würde den im Akkord „ranhauenden“ Bergmann davor retten können? Vielleicht ein anderer Held, im weißen Kittel – der Arzt? Ausgestattet mit allerlei arkanen Kräften und dem Vertrauen der Gesellschaft warfen Mediziner all ihr Wissen und Können in die Waagschale, um den Knoten zu durchschlagen, der den Bergmann im Zenit seines Lebens, nach Jahren kräftezehrender Schwerstarbeit, schicksalshaft wie unerbittlich in den Abgrund zu ziehen schien. Es waren die Ärzte, die die gefürchtete Staublunge auf diese Weise allmählich in ein wissenschaftlich mess- und beschreibbares Phänomen, die Silikose, verwandelten – oder dies zumindest versuchten. Die erfolgreiche Bekämpfung der Staublunge/Silikose war keine alleinige Sache zwischen Bergleuten und Ärzten. Sie wurde begleitet durch politische Interventionen auf Bundes- und Landesebene, organisatorische Maßnahmen der Bergbaubetriebe und der Aufsichtsorgane sowie durch die Forschungs- und Entwicklungsarbeit national und international vernetzter Fachleute verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, zu denen neben Medizinern auch Chemiker und Physiker, Bergbauingenieure und andere Experten gehörten. Hinzu kamen die Bergleute, die mal als schwer zu belehrende Adressaten guter Ratschläge, mal selbst als alltagsschlaue Erfinder, motzende Kritiker oder politisch mobilisierte Protestler in Erscheinung traten. Eine so komplexe Verzahnung verschiedenster Akteure auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Begegnungskontexten darzustellen ist eine große Herausforderung. Es braucht deshalb Querschnitte und Kristallisationskerne, an denen sich historische Prozesse beobachten und zu einer erzählbaren Geschichte verdichten lassen. Am Ende führt der Weg zu einer differenzierten Erzählung deshalb nicht über die unbegrenzte Hingabe an die zweifellose Komplexität des Gegenstandes, sondern über Vereinfachung, ohne aber allzu simple Antworten auf schwierige Fragen zu geben. Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga hat bereits in den dreißiger Jahren die Aufgabe einer Kulturgeschichte – und hierunter ließe sich eine Wissensgeschichte wie die vorliegende subsummieren – nicht in der Suche nach dem „Warum“ gesehen, sondern nach dem „Was“ und dem „Wie“.10 Was auf den ersten Blick unbefriedigend anmuten mag, führt vielleicht gerade zu einer weniger oberflächlichen, sondern tiefergehenden Durchdringung des Untersuchungsgegenstands, die einzelne Akteure und ihre Wahrnehmungen ebenso berücksichtigt wie die rahmenden Strukturen und Handlungsbedingungen, denen sie gleichermaßen unterworfen waren, wie sie sie mitzugestalten versuchten. Zu diesen Handlungsbedingungen gehörte in erheblichem Maße auch Wissen in dem Sinne, dass es handlungsermöglichend ist.
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Huizinga 1930, S. 51.
Zeitgeschichtliche Verortung und begriffiche
1.2
rientierung
Zeitgeschichtliche Verortung und begriffliche Orientierung
Der bundesrepublikanische Sozialstaat stand nach dem Zweiten Weltkrieg „im Zeichen von Kontinuität und Neubeginn“ und erfüllte unter dem omnipräsenten Eindruck der Systemkonkurrenz mit den Staatssozialismen östlich des Eisernen Vorhangs auch eine wichtige legitimitätsstiftende Rolle für das politische System der noch jungen Bundesrepublik und ihrer „Sozialen Marktwirtschaft“.11 Während die tragenden Säulen der seit der Kaiserzeit bestehenden Organisation der Sozialversicherung im Wesentlichen unberührt blieben, wurden ihr Umfang und ihre Leistungen im ersten Vierteljahrhundert nach 1949 deutlich ausgebaut. Dem Steinkohlenbergbau im industriellen Herzen des neugegründeten Staates kam im Nachkriegsboom, der diesen wohlfahrtsstaatlichen Ausbau ganz entscheidend mitermöglichte, eine tragende Rolle zu, die nicht allein zum Emblem jüngerer retrospektiver Genugtuung über die Bedeutung und die Opfer des Ruhrgebiets für den Wiederaufbau wurde, sondern auch Teil ihrer zeitgenössischen Rezeptionen war: ohne Kohle, das mythische „Grubengold“, gehe es nicht. Sie war essenzieller Ausgangsrohstoff für die Schwerindustrie und als wichtigster Energieträger auch in den Kellern und Küchen der meisten Haushalte allgegenwärtig. In Antizipation der von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael bereits vor einiger Zeit angestoßenen und seither andauernden „Nach dem Boom“-Debatte12 fragen auch die Geschichte der Wohlfahrtsstaatlichkeit sowie die ihr anverwandten Disziplinen nach der Historisierung sozialstaatlichen Denkens und Handelns im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.13 Die Bedeutung nachhaltiger makroökonomischer, arbeitsmarktlicher oder sozialer Veränderungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft für das, was der Sozialstaat leisten konnte und was von ihm erwartet wurde, erscheinen evident. Die veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der siebziger Jahre – vermindertes Wachstum, Stagflation, Arbeitslosigkeit sowie schließlich eine deutliche Abflachung der sozialstaatlichen Expansion – portraitieren dieses Jahrzehnt schließlich als eine „Umbruchszeit“.14 In der Mitte des Jahrzehnts verschärften sich die zeitgenössischen Debatten über die „Krise des Sozialstaats“ und neue wohlfahrtsstaatliche Diskurse und Praktiken etablierten sich. Das Narrativ vom Ende der Globalsteuerung und von der Zukunfts- und Planungseuphorie steht sinnbildlich für das rückblickend diagnostizierte neue Krisenbewusstsein.15 Diese Wandlungsprozesse vollzogen sich allerdings erstens nicht zwangsläufig als scharfe „Strukturbrüche“, auch wenn rahmende Schlüsselereignisse wie die „Kohlekrise“ 1957/58 oder die Ölpreis-
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Metzler 2003, S. 140 f. Doering-Manteuffel/Raphael 2008. Vgl. exemplarisch Lengwiler 2006; Geyer 2007, S. 47–93; Süß 2011. Süß 2007, S. 95–126, hier S. 95. Geyer 2007, S. 47–93, hier S. 62 f.
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16
Einleitung
krisen von 1973/79 wichtige und medial intensiv begleitete Meilensteine waren,16 und gestalteten sich zweitens auch in verschiedenen Regionen und Branchen sehr unterschiedlich. Gerade für das Ruhrgebiet gilt, dass der Nachkriegsboom schon zehn Jahre nach Gründung der Bundesrepublik wieder verebbte und die hochindustrialisierte Region sich den strukturellen Herausforderungen einer Zeit „nach dem Boom“ umfassend stellen musste.17 Auch die kulturhistorisch interessierte Präventionsgeschichte hat in den vergangenen Jahren die zäsurale Bedeutung der siebziger Jahre für das 20. Jahrhundert umfassend ausgelotet. Während die Risiko-Soziologie der achtziger Jahre das semantische Feld bestellt und erste seinerzeit gegenwartsnahe geschichtliche Deutungsangebote gemacht hatte,18 hat sich die foucauldianische Historiografie an einer Genealogie des Risikodenkens versucht und diese eng an den Begriff der „Biopolitik“ gekoppelt. Eine der einflussreichsten Weiterentwicklungen dieser Ideen bestand im François Ewalds „Vorsorgestaat“, einer beispielgebenden Studie über die Genese des französischen Wohlfahrtsstaats im ausgehenden 19. Jahrhundert. Versicherung sei demnach eine „Technologie des Risikos“ und das Ergebnis eines historischen Wissen-MachtSpiels, das sich in der „Geschichte der Problematisierung des Unfalls“ beobachten lasse. Der besondere Vorzug dieser Technologie hatte für Ewald darin gelegen, dass sich das unbezahlbare Leid von Tod und Verletzung als Kapitalverlust entschädigen ließ.19 Auch die neueren Arbeiten zum „präventiven Selbst“ gründen sich im Wesentlichen auf dem foucaultschen Gedanken einer voranschreitenden „Subjektivierung“ und der damit einhergehenden (Selbst-)Disziplinierung20 und sehen inzwischen in den siebziger Jahren den Scheitelpunkt einer langen Transition der präventiven Praxis von paternalistischen „Top-Down“-Ansätzen staatsinterventionistischer und betrieblicher (Gesundheits-)Vorsorge hin zu individuellen Präventionspraktiken: So habe das „präventive Selbst“ zunehmend an Bedeutung gewonnen und werde explizit als ein solches adressiert. Zwar hatten sich die öffentlichen Ausgaben und Investitionen in das Gesundheitswesen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich erhöht, aber die Verantwortung für die präventive Gesundheitspolitik schien in den westeuropäischen Staaten eher bei freipraktizierenden Ärzten verblieben. Gleichzeitig sei das öffentliche Interesse an gesundheitlichen Risiken enorm gestiegen, nicht zuletzt angesichts des
Vgl. hierzu jüngst Bösch 2019. Süß 2007, S. 95–126, hier S. 107. Ich verzichte in dieser Arbeit bewusst auf eine ausschweifende Exegese der umfangreichen sozialwissenschaftlichen Risiko-Literatur, auf die hier nur am Rande verwiesen sei. Zu nennen sind Bechmann 1993, S. VII–XXIX; Krohn/Krücken 1993, S. 9–44; Luhmann 1993, S. 138–185; dem Risiko-Begriff Vorschub geleistet hat außerdem fraglos Beck 1986; eine jüngere historisch-genealogische Arbeit zum Präventionsbegriff ist jüngst vorgelegt worden von Leanza 2017. 19 Vgl. Ewald 22015, S. 31, 209. 20 Rose 2001, S. 1–30, hier S. 20. 16 17 18
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wachsenden Bewusstseins für chronische Erkrankungen und deren Folgen.21 Für die Untersuchung der Staublunge im 20. Jahrhunderts ist außerdem die Rolle eines für das präventive Handeln erforderlichen „Willens zum Wissen“ interessant.22 Dieser bestehe in der retrospektiven Suche nach kausalen Wirkzusammenhängen, um (Wahrscheinlichkeits-)Aussagen über die Zukunft treffen zu können. Prävention bedeutete dabei stets auch, Zukunft aktiv zu bearbeiten: Im Gegensatz zu anderen Modi des Zukunftsbezugs ist diese wissenschaftsförmige prognostische Referenz durch aktives Handeln und präventive Maßnahmen geprägt.23 Gerade in Westdeutschland dürfte auch eine sich rasch verändernde Medienlandschaft ein wichtiger Katalysator bei diesem gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Deutungswandel gewesen sein. Individuen wurden so verstärkt mit präventiven Verhaltensnormen konfrontiert; in arbeitsweltlichen Kontexten lassen sich diese Prozesse an Hand der allmählich wachsenden Akzeptanz zunächst unpopulärer persönlicher Schutzmaßnahmen beobachten.24 Gesellschaftsübergreifend veränderte sich darüber hinaus auch das grundsätzliche Denken über den menschlichen Körper und seine Gesundheit. Die vielgestalte Anlage-Umwelt-Debatte, also die Frage, ob die (erbliche) Anlage des Individuums und die von außen wirkenden Einflüsse die Unterschiede zwischen den Menschen erkläre,25 hatte auch Folgen für die Medizin. Die in den zwanziger Jahren popularisierte Konstitutionslehre, die auch in der Nachkriegszeit lange nachwirkte, ließ die Neigung zu bestimmten Erkrankungen eher im Betroffenen selbst suchen. Den Gegenentwurf entwickelte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich eine neuartige Umweltmedizin, deren mit statistischen Methoden unterfütterte Heuristik allgemeingültige „Risiko-Faktoren“ und Wahrscheinlichkeiten identifizierte. Hinzu kamen aber auch neue Körperpraktiken wie die selbst-erarbeitete „Fitness“, die seit den späten siebziger Jahren zum intensiv diskutierten Fixstern der westlichen Leistungs- und Konsumgesellschaften emporgestiegen sei.26 Doch auch das grundsätzliche Verständnis von Arbeit und wie sie zu gestalten sei, wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Gegenstand gesamtgesellschaftlicher Debatten. So standen die siebziger Jahre arbeitsgeschichtlich ganz im Zeichen des Programms zur „Humanisierung der Arbeitswelt“, das an einen breiten politischen Konsens gekoppelt war und das für den inzwischen schrumpfenden Steinkohlenbergbau große Bedeutung hatte, dessen Arbeitsbedingungen seit jeher als besonders hart und schlecht galten.27 Lengwiler/Madarász 2010, S. 11–28. Vgl. dazu Bröckling 2008, S. 38–48, hier S. 42 f. Bröcklings neun Thesen zur Prävention als „Modus des Zukunftsmanagements“ gehören zu den prägnantesten Konzeptualisierungen des Begriffs. 23 Graf/Herzog 2016, S. 497–515, hier S. 502. 24 Kleinöder 2012, S. 163–194; Kleinöder 2015. 25 Goschler/Kössler 2016, S. 7–22, hier S. 11 f. 26 Martschukat 2019. 27 Bluma 2012, S. 35–72. 21 22
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Hieran verdeutlicht sich die zentrale Rolle, die Wissen und konkrete Akteure dabei spielten, die Gesundheit von Gruppen oder Kollektiven zu etablieren, zu legitimieren und zu verbreiten, aber auch die historische „Ausweitung und Ausdifferenzierung wissenschaftsförmigen Wissens über Menschen“ überhaupt.28 Der Aufbau von Sozialversicherungen in Europa war von den Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert an eng mit neu erzeugten und vermittelten Formen des Wissens verknüpft, die nicht allein die Durchführung sozialer Reformen rechtfertigten und rational begründeten, sondern deren Nachfrage umgekehrt auch durch die eingeleiteten Reformpolitiken befeuerten.29 Die für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmende zeitgenössische sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Phänomenen ist zu einer besonderen Herausforderung für die Zeitgeschichtsforschung geworden, die sich bisweilen gern der reichhaltigen semantischen Angebote der Soziologie, der Politologie oder der Wirtschaftswissenschaften dieser Zeit bedient.30 Die dort entlehnten Begriffe, die die augenscheinlich auf Wissen und Wissenschaftlichkeit beruhenden modernen Gesellschaften bezeichnen – Wissens- oder Wissenschaftsgesellschaft, Risikogesellschaft, Informationsgesellschaft –, sind daher inzwischen selbst historisiert worden.31 Auch der Topos der „Verwissenschaftlichung“ und seiner Implikationen für das Verhältnis zwischen der Wissenschaft und anderen Bereichen der Gesellschaft, wie etwa der Politik, hat kritische Reflektionen und Ergänzungen erfahren, vor allem in Bezug auf die gegenseitigen Kopplungen und dialektischen Verschränkungen zwischen den verschiedenen Akteuren sowie Diskurs- und Praxisfeldern.32 Die siebziger Jahre sind in diesen verschiedenen zeithistorischen Betrachtungen zum zentralen Fluchtpunkt einer Historiografie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworden. Zwar sind Annahmen von allzu scharfkantigen Brüchen inzwischen überwiegend relativiert worden, da es regionale Ungleichzeitigkeiten gegeben habe oder langfristige Prozesse lediglich verstärkt oder deutlicher zutage getreten seien. Dennoch scheinen die beiden vorangehenden Jahrzehnte sowie die unmittelbare Nachkriegszeit notwendig auf eben jene einschneidende Zäsur zuzulaufen, an der die modernitätseuphorische Aufbruchsstimmung, in der alles technisch machbar und die Zukunft durch beständiges Wachstum unbegrenzt gestaltbar schien, zum Erliegen kamen. Stattdessen schienen nun latenter Pessimismus und verbreitete Ängste vor den entfesselten Möglichkeiten, vor allem aber ihren ökonomischen Grenzen und ökologischen Gefahren, den Zeitgeist zu bestimmen – in einer Zeit des Umbruchs also, in der der unaufhaltsame Fortschritt seine Evidenz verlor, in der Träume ausgeträumt waren und die nun von Krisen heimgesucht wurde. Was darauf folgte, so scheint es, waren
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Raphael 1996, S. 165–193, hier S. 167. Rabinbach 1996, S. 48 ff. Raphael 1996, S. 165–193, hier S. 191 ff.; Graf/Priemel 2011, S. 479–508. Weingart 2001, S. 11 ff. Ebd., S. 30; Vogel 2004, S. 639–660, hier S. 654.
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nicht mehr enden wollende Krisen im Zuge struktureller Veränderungen und einer sich verschiebenden globalen wirtschaftlichen Tektonik, die die Zeit vor und „nach dem Boom“ scheiden.33 Die Gegenerzählungen zur satten Zufriedenheit der goldenen Boomjahre, die in Ludwig Ehrhard ihre fleischgewordene Ikone gefunden hat, sind nicht nur in der öffentlichen Wahrnehmung, sondern auch in der kritischen Historiografie randständig geblieben. In der Sozialgeschichte der achtziger Jahre spielten die immensen menschlichen Opfer gerade der Bergarbeiterschaft, auf denen der neue Wohlstand errichtet wurde, durchaus eine Rolle. Dietrich Milles wies im Hinblick auf die offenkundige Abwesenheit dieser Opfer in der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung im 20. Jahrhundert darauf hin, wie eng die Frage der (Arbeiter-)Gesundheit in den Kontext von Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit eingebettet war.34 Gabriele Moser fand anknüpfend an Milles dafür den Begriff einer „Normalisierung gesundheitsschädigender Arbeit“ durch das System der Unfallversicherung.35 Dieses Forschungsfeld fand jedoch nie den Anschluss an den zeithistoriografischen Mainstream. Es lohnt sich aber nach wie vor, einen zweiten Blick auf eben diese Kehrseite des „Booms“ zu werfen. Das vorliegende Buch blickt deshalb auf die Zeit des Aufbruchs zwischen 1945 und 1970. Die Akteure, die einander in dieser Geschichte begegnen, treten zumeist in einer von drei Formen auf: als Individuen, als Gruppen oder als Organisationen.36 Manche dieser Gruppen und organisationalen Gebilde konstituierten sich erst in jenen Nachkriegsjahren. Diese neuen Organisationen sind von besonders großem Interesse und eng an den Prozess einer sukzessiven Verwissenschaftlichung gekoppelt, in dessen Zuge sich Expertennetzwerke formierten und entsprechende Wissensfelder konfigurierten, die letztlich die Schaffung, Verbreitung und Anwendung wissenschaftsförmigen Wissens in organisationale Bahnen und serielle Routinen lenkten. Das Wechselverhältnis von Wissensbildung und Wissensanwendung – die Wissenspraxis also – war nach der Konstituierung dieser Netzwerke und Organisationen die treibende Kraft zunehmend intensiver betriebener Regulierungsversuche der zur Silikose transformierten Staublunge und bildet damit einen wichtigen Fluchtpunkt dieser Arbeit. Außerdem belebte und veränderte sich die in Presse und Politik geführte gesellschaftliche Debatte über das politische Problem der Staublunge. Zuletzt spielte sich die Wissenspraxis nicht nur in den betrieblichen Präventionsregimen, sondern auch die sozialstaatliche Entschädigungspraxis ab. Versicherte und ihre gewerkschaftlichen Interessenvertreter eigneten sich selbst Wissen an und machten dieses anderen durch Angebote wie die
Dementsprechend kommt kaum eine zeithistorische Arbeit noch ohne einen Verweis auf DoeringManteuffel/Raphael 2008 aus. 34 Vgl. Milles 2003, S. 25–58. 35 Moser 2003, S. 59–77, hier S. 67. 36 Zum heuristischen Potential der zielgerichteten Auseinandersetzung mit Organisationen in der Geschichte vgl. Böick/Schmeer 2020. 33
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gewerkschaftliche Rechtshilfe zugänglich und veränderten damit das Gesicht bzw. die alltägliche Praxis der Rentenverfahren. Für die Gruppe der Bergleute war der große gesamtgesellschaftliche Aufbruch lange vor den siebziger Jahren vorbei. Zum einen wegen des ab Ende der fünfziger Jahre einsetzenden langsamen Niedergangs des Bergbaus, zum anderen wegen der Gesundheits- und Sinnkrise, in die die um sich greifende Staublunge sie stürzte. Für viele einzelne Bergmänner war der Boom sogar bereits vorbei, bevor er überhaupt begonnen hatte, wie der Blick auf die frühen fünfziger Jahre zeigen wird. Ganz im Sinne einer Wissenschafts- und Wissensgeschichte, wie sie Jakob Vogel 2004 paradigmatisch entworfen hat,37 geht es in dieser Arbeit im Kern darum, den Prozess der „Verwissenschaftlichung“ näher zu be- und durchleuchten. In Anlehnung an Philipp Sarasin ist dabei die enge Verflochtenheit wissenschaftsförmigen Wissens und wissenschaftlicher Produktion und Stabilisierung von Wissen einerseits zu beachten, der andererseits die kulturellen und gesellschaftlichen, aber eben auch organisationalen Bedingungen dieser Prozesse gegenüberstehen. Wissen zirkuliert fortlaufend und konstituiert sich dabei immer wieder neu, und existiert neben anderen Wissensformen, mit denen es in einem Wechselverhältnis stehen kann. Dabei trägt es Spuren seiner kulturellen, politischen und sozialen Existenzbedingungen, aber auch seiner jeweiligen Verwendungsweisen.38 Damit es seine Evidenz entfalten kann, braucht es Formen der Repräsentation, und deren Formate und Medien können Wissen selektieren, hervorheben oder auch unterdrücken.39 Konkreter bedeutet dies: Wissen muss von Menschen bzw. Akteursgruppen hervorgebracht, festgehalten sowie verbreitet werden und sowohl die Rollenverteilung zwischen den Akteuren, als auch die Verbreitungswege unterliegen dabei historischen Bedingungen. Sie lassen sich besonders dort empirisch untersuchen, wo sich neue Wissensfelder gesellschaftlich ausformen. 1.3
Fragestellung und Methodik
Silikose ist ein medizinischer Fachterminus, der ein bestimmtes Krankheitsbild klinisch beschreibt, das neben den körperlichen Symptomen auch seine Ursachen umfasst. Geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzungen mit medizinischen Gegenständen beschränken sich jedoch nicht allein darauf, den Fortschritt von ihrer Entdeckung über ihre korrekte Beschreibung bis hin zu ihrer Lösung nachzuerzählen.40 Medizin
Vogel 2004, S. 639–660. Sarasin 2011, S. 159–172, hier S. 166. Ebd., S. 168. Vgl. dazu vor allem Rosenberg/Golden 1992; für einen breiteren Überblick über den kulturkonstruktivistischen Trend in der Medizingeschichte und seine kritische Rezeption vgl. außerdem Patterson 1998, S. 5–29.
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Fragestellung und Methodik
bezeichnet in einem neueren historiografischen Verständnis nicht einfach Medizinerinnen und Mediziner und ihr Fach, sondern das nicht selten spannungsreiche Verhältnis zwischen Arzt und Patient, oder im erweiterten Sinne auch die komplexen Wechselverhältnisse der Ärzteschaft zur Gesellschaft. Im Fall der Silikose müssen die Akteursgruppen, wie gezeigt, sogar noch weiter gefasst werden, da sie zwar als ein medizinisches Problem wahrgenommen wurde, sich aber nicht nur Mediziner mit ihrer Prävention, Diagnose oder Behandlung befassten, sondern auch Angehörige anderer Fachdisziplinen. Der Gegenstand reiht sich damit nahtlos ein in das weitere Feld der Wissenschaftsgeschichte vom Verhältnis zwischen Expertengruppen und Gesellschaft und empfiehlt sich deshalb als Fallstudie für eine Wissensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Die Geschichte der Silikose ist auch eine Geschichte der Prävention. Denn die Silikose erscheint geradezu als ein Lehrbuchbeispiel für präventives Handeln: Durch den Zusammenhang mit den veränderten Arbeitsbedingungen unter Tage, vor allem durch die Mechanisierung und einhergehenden schlechteren Luftverhältnisse, war sie ein menschgemachtes Problem, also ein risikobehaftetes Wagnis. Weil es kein Heilmittel gab, konnte sie außerdem nur durch Ursachenbekämpfung ausgeschaltet oder in ihrem stets tödlichen Verlauf aufgeschoben werden. Auf Grund der langen und graduellen Entstehungszeit über Jahre und Jahrzehnte schuf die Silikose überdies einen besonders breiten kontingenten Zukunftshorizont, den es zu bändigen galt. Im Rahmen dieser Arbeit soll Prävention allerdings nicht zu einem epochemachenden Episteme verabsolutiert werden. Ich begreife sie, hier Ulrich Bröckling folgend, pragmatisch als eine zukunftsgerichtete Sozial- und Körpertechnologie,41 deren Erfolg bestimmte Entstehungsbedingungen besaß, und die nicht auf allen gesellschaftlichen Ebenen die gleiche Bedeutung besaß. Das wissensgeschichtliche Design der Arbeit soll dabei helfen, nicht nur die Zeit-, sondern auch die Orts- und Kontextgebundenheit dieser Technologien und Praktiken greifbar zu machen, in der die öffentlichen und ExpertenDiskurse ihre empirische Konkretion fanden. Diese Wissensgeschichte der Silikose ist damit eine Vorgeschichte populärer Aneignungsweisen präventiven Denkens und präventiver Praktiken, wie sie eigentlich der Zeit seit den siebziger Jahren zugeschrieben werden.42 Ihre zahlreichen Facetten offenbaren die Silikose als ein weitgespanntes Wissensfeld, auf dem sich die vielschichtigen Akteursbeziehungen und komplexen Diskurs- und Praxisverschränkungen abspielten, und auf dem sie deshalb für eine historiografische Untersuchung handhabbar und darstellbar werden. Die starke Prävalenz der Silikose nach dem Zweiten Weltkrieg fiel in eine Zeit, in der sich charakteristische Prozesse der gesellschaftlichen Hinwendung zu präventiven, regulatorischen Lösungen sukzessive verdichteten. Zentrale Bedeutung kam dabei der
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Bröckling 2008, S. 38–48. Vgl. Lengwiler/Madarász 2010.
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Produktion von Wissen zu, auf deren Grundlage zukunftsgestaltende Entscheidungen getroffen werden sollten. Wer aber Autorität darüber besitzen sollte, dieses Wissen zu schaffen und zu kommunizieren, und welche Schlüsse daraus für die Praxis zu ziehen seien, war Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Es gehört zugleich aber auch zu den Rätseln, die am Anfang dieses Buches stehen, dass ein Problem von solcher sozialen Bedeutung – allein in den ersten zwei Jahrzehnten nach Gründung der Bundesrepublik wurden etwa 75.000 neue und silikosebedingten Rentenfälle anerkannt – so sehr vom Topos des Wiederaufbaus und der Wirtschaftswunderjahre überstrahlt wird, die bis heute als beispielloser Boom gedeutet werden. Es mag einleuchten, dass die Silikose ein Problem darstellte, dessen Bewältigung wissenschaftlichen Expertengruppen wie Medizinern zufiel, die in der Vergangenheit bereits bewiesen hatten, dass sie sich darauf verstanden, (sozial-)hygienische Herausforderungen zu meistern. Im Bergbau galt das zum Beispiel für die sich dort im 19. Jahrhundert ausbreitende Wurmerkrankung, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit bakteriologischen Mitteln zu Leibe gerückt wurde. Diese ab 1885 im Ruhrkohlenbergbau erstmals beobachtete Parasitenerkrankung hatte eine umfassende medizinische Erforschung nicht nur allein der Bergleute, sondern auch ihrer untertägigen Arbeitswelt zur Folge, an der Sozialversicherungsinstitutionen ebenso beteiligt waren wie Hygiene-Experten.43 Schnell ging es dabei nicht mehr ausschließlich um individuelle und kollektive körperliche Gesundheit, sondern auch um bergmännisches Verhalten, das durch die Experten problematisiert und disziplinarisch adressiert wurde. Mit der Silikose wiederholte sich eine ähnliche Geschichte, bei der es aber unter den verschärften Bedingungen der Schwere dieser irreversiblen Lungenkrankheit buchstäblich um Leben und Tod ging. Die Wurmerkrankung und die Silikose lassen sich zwar durchaus als Geschichten der Problementdeckung, der Konstituierung eines Wissensfelds und der schließlichen erfolgreichen Überwindung erzählen; aber sie waren nicht allein eine Angelegenheit zwischen Experten und Bergleuten, sondern immer auch zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. So ging es nicht allein darum, wie das Silikoseproblem zu lösen sei, sondern auch um grundsätzlichere Fragen arbeitsbezogener Problem- und Gefahrenwahrnehmungen sowie die hiermit verschränkten Selbst- und Fremdbilder der beteiligten Gruppen innerhalb der Gesellschaft. Wissen über Silikose beinhaltete in diesem Zusammenhang zwar szientistische Thesen über die physiologischen Ursachen sowie den Verlauf der Krankheit in den Lungen selbst. Es knüpften sich jedoch auch Annahmen über bergmännisches Verhalten, über versicherungsrechtliche Ansprüche und Verfahrensweisen daran, außerdem Vorstellungen von der Schicksalhaftigkeit oder möglichen Vemeidbarkeit; von individueller, betrieblicher oder gesellschaftlicher Verantwortung; und von der sozio-kulturellen Bedeutung des „Bergmannsfluchs“. In anderen Worten: die Silikose besaß eine
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Bluma 2011, S. 31–54.
Fragestellung und Methodik
zutiefst politische Dimension, die in dieser Arbeit einbezogen werden soll – gerade auch der durch die Arbeit verzehrte bergmännische Körper wurde damit politisch. Ausgangspunkt der Untersuchung ist das Versprechen sozialer Sicherheit, das dazu beitragen sollte, zentrale soziale Konfliktlinien zu begradigen, indem die biografischen Risiken der Arbeiterschaft – allen voran Alter, Invalidität, sowie Arbeitslosigkeit – durch gesellschaftliche Zuwendungen aufgefangen werden. Die Mittel, mit denen eine solche Zukunft sozialer Sicherheit herbeigeführt und gestaltet werden sollte, gelten gerade in der weiter oben bereits ausgeführten Geschichte des Versicherns als charakteristisch für den sich wandelnden Umgang mit „Kontingenz“, also mit der Unwägbarkeit und Zufälligkeit alles Künftigen: Das, was Foucault das Regieren nannte, eine auf die Zukunft gerichtete und sie dadurch ermöglichende „Bearbeitung“ und „Steuerung“, geschehe im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr nach der Ratio des Wahrscheinlichkeitskalküls. Dabei würden möglichst sparsame Mittel, zum Beispiel Maßnahmen indirekter Lenkung, gegen ihren künftigen Nutzen abgewogen.44 Allerdings sind bis heute andauernde gesellschaftliche Debatten über die Risiken vor allem von Technologien ein einprägsamer Beleg dafür, dass ein solcher Zugriff oder Vorgriff auf die Zukunft zwar von wachsender Bedeutung war, dass ihm in den politischen Auseinandersetzungen aber auch ganz andere „Generierungsmodi“ gegenüberstanden,45 die selbst bei gleichen inhaltlichen Zielvorstellungen – beispielsweise „sozialer Sicherheit“ – Spannungen zwischen gesellschaftlichen Akteuren und Gruppen erzeugen konnten. Während die von wissenschaftlichen Experten getragenen Risikokalkulationen eine immer wichtiger werdende Richtschnur für staatliches Handeln wurden, kristallisierten sich am anderen Ende des Konfliktfelds subjektivierende Semantiken der Emotionalisierung, zum Beispiel Rhetoriken der Angst, heraus.46 Zubzw. Vorgriffe auf die Zukunft konnten also vielfältig sein und koexistieren, sei es im Hinblick auf ihre jeweiligen Bezüge, ihre Modi, und nicht zuletzt ihre Träger.47 Zwar soll diese Arbeit keine dezidierte Geschichte der Zukunftsvorstellungen sein. Aber die Eigenheiten der Staublunge bringen ein stets präsentes temporales Spannungsverhältnis zwischen zu verarbeitender Vergangenheit, zu bearbeitender Gegenwart sowie einer stets kontingenten Zukunft in die Betrachtung ein, das nicht unausgesprochen bleiben darf. Eine in der Wissensgeschichte wirkmächtige Folie, vor der die vorliegende Arbeit zu betrachten ist, ist die von Martin Lengwiler auf die Geschichte der Sozialversicherung ausgeweitete These Peter Weingarts von einer Verwissenschaftlichung der Gesellschaft sowie einer Politisierung der Wissenschaft, die mit einer Kopplung zwischen
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Meyer 2009, S. 25–40. Graf/Herzog 2016, S. 497–515. Ebd., S. 513. Ebd., S. 500–504.
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Einleitung
Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen einhergehe.48 Es gilt bis heute als ein herausragendes Merkmal der modernen „Wissensgesellschaft“ oder „Wissenschaftsgesellschaft“, dass der Primat der Wissenschaft in alle anderen gesellschaftlichen Bereiche hineinzuwirken scheint, umgekehrt aber auch von diesen erfasst wird. Die Staublunge als ein zu bewältigendes gesellschaftliches Problem empfiehlt sich dabei als Fallstudie und empirischer Zugang zur übergeordneten Fragestellung nach der Genese dieses besonderen Verhältnisses. Die im Rahmen dieser Arbeit zu behandelnde Frage lautet vor diesem Hintergrund erstens, wie und unter welchen Bedingungen Wissen über die Silikose in der Öffentlichkeit zirkulierte, aber auch welche sich wandelnden Repräsentationen der für diese Arbeit besonders relevanten Gruppen der Experten und der Bergleute es zwischen der unmittelbaren Nachkriegszeit und den späten sechziger Jahren gab, die sowohl Wissen besaßen und hervorbrachten, aber auch Wissensgegenstände waren. Darüber hinaus soll gezeigt werden, wie Wissen und insbesondere wissenschaftsförmiges Wissen in konkreten sozialen und politischen Kontexten als Ressource mobilisiert werden konnte. Die zweite Frage knüpft daran an und blickt auf die Entstehungsbedingungen des Silikose-Wissens und sein Wechselverhältnis zur Anwendung in der betrieblichen Praxis. Die sozialstaatliche Gesetzgebung schuf zwar den normativen Rahmen, unter dem Sicherheit gegenüber Lebensrisiken geschaffen werden sollte; die konkreten Modalitäten ihrer alltäglichen Umsetzung wurden aber an Organisationen übertragen, allen voran die Träger der Sozialversicherung. So ist zu fragen, wie Wissen hervorgebracht wurde, wie es in die Praxis übersetzt wurde und wie sich durch die organisationale Regulierung das Silikose-Wissen veränderte. Die Hypothese lautet, dass diese Prozesse sich reziprok zueinander verhielten. Es geht mithin darum, Verhältnisse aufzuzeigen, nicht Kausalitäten. Drittens interessiert sich die Untersuchung für die von der Silikose-Gefahr bedrohten und betroffenen Bergleute als eigensinnig handelnde Subjekte.49 Die temporale Herausforderung der Krankheit wird vor allem dann deutlich, wenn man sich ihre biografische Dimension vergegenwärtigt: Die lange Latenz der Staublunge hatte zur Folge, dass die Vergangenheit Individuen auch noch in der vermeintlich besseren Zukunft unerbittlich einholen konnte. Biografische Zeitbezüge konterkarierten dadurch wissenschaftliche Risikokalküle, aber auch wohlfahrtsstaatliche Sicherheitsversprechen. Dies barg erhebliches gesellschaftliches Konfliktpotential: Statt sich mit dem Verhältnis zwischen so genanntem Experten- und Laienwissen und ihren reziproken Aneignungsweisen zu bescheiden, soll deshalb auch gefragt werden, wie Bergleute, inWie bereits weiter oben zitiert: Weingart 2001, S. 27. Eigen-sinnig auch im Sinne Alf Lüdtkes, sprich, mit besonderem Interesse für die individuelle Handlungsfähigkeit bergmännischer Subjekte jenseits historischer Metakonzepte kollektiven Handelns. Vgl. Lüdtke 1993.
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Fragestellung und Methodik
dividuell oder kollektiv, diesen Widerspruch deuteten und welche möglichen Gegenerzählungen zum gesellschaftlichen Diskurs daraus erwuchsen. Diesen Fragen nähert sich die Arbeit aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln an. Zunächst soll der öffentliche Diskurs im Untersuchungszeitraum der fünfziger und sechziger Jahre Orientierung bieten und die Debattenkonjunkturen sowie das öffentlich verhandelte Wissensfeld der Silikose auf einer Makro-Ebene ausloten. So soll gezeigt werden, wie die Krankheit in der Gesellschaft wahrgenommen und welche Rollen den davon berührten Akteuren zugeschrieben wurden (Kapitel 2). Im nächsten Schritt geht es um die Meso- und Mikroebene der berufsgenossenschaftlichen und betrieblichen Wissens- und Präventionspraxis. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Schnittstellen zwischen den Akteuren, an denen Wissen ausgetauscht und vermittelt wurde, und dem Verhältnis von Diskurs und Praxis bei der Lösungssuche für das Silikose-Problem; es geht mithin um die Transformation der Staublunge bei der Formierung eines Wissensfeldes zur Silikose. Die Silikose-Experten stehen bei dieser Betrachtung im Mittelpunkt (Kapitel 3 und 4). Im letzten Schritt geht es deshalb dezidiert um die Erfahrungen der betroffenen Bergarbeiter (Kapitel 5). Ihr Erleben der bergmännischen Arbeit und der Staublungenkrankheit unterschied sich zumeist fundamental von den wissenschaftsförmigen Objektivierungsansätzen der Ärzte und Wissenschaftler. Trotzdem war beides fester Bestandteil des gesellschaftlichen Wissensfeldes und stand in ständiger Austauschbeziehung zueinander. Zugleich geht es darum, die Handlungsfähigkeit der Akteure auszuloten, und zwar auch unter herrschenden deutlichen Machtungleichgewichten.50 Auf diese Weise wird aus einer Wissenschaftsgeschichte der Staublunge eine komplexe Wissens- und Körpergeschichte der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft.
Hier sei insbesondere verwiesen auf die an Anthony Giddens angelehnten Überlegungen bei Welskopp 2014, S. 62 ff.
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2.
Von der Entdeckung zum Vergessen der Staublunge
2.1
Repräsentation und Macht nach 1945
Die Staublunge war bereits vor 1945 bekannt, geriert nach ihrer gesetzlichen Anerkennung in Deutschland 1929 zunächst wieder in Vergessenheit. Nach dem Krieg kam es jedoch schnell zur Wiederentdeckung der Krankheit und ihrer sozialen Folgen. Betroffene Akteure – allen voran die zuständige Berufsgenossenschaft als Versicherungsträgerin, die Bergbaubetriebe sowie die Bergleute und ihre gewerkschaftlichen und parteipolitischen Interessenvertreter – rangen dabei um die Deutungshoheit. Über den reinen Diskurs hinaus ging es in diesen Auseinandersetzungen aber auch darum, welche Institutionen sich der gesundheitlichen und sozialen Probleme der Bergarbeiterschaft annehmen sollte, wie sie organisiert sein müssten und wer sie kontrollieren sollte. Zugleich war die gesamtgesellschaftliche Not in den Nachkriegsjahren groß und der Steinkohlenbergbau eine Schlüsselindustrie für die alltägliche Versorgung und den Wiederaufbau. Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war und die westdeutschen Montanregionen unter alliierter Besatzung und Verwaltung standen, befand sich der Steinkohlenbergbau in einer desolaten Lage. Viele Zechengelände waren von den Zerstörungen des Krieges betroffen und der wirtschaftliche Raubbau der nationalsozialistischen Regierung, insbesondere in der zweiten Kriegshälfte, hatte einen weit aufgetürmten Investitionsbedarf hinterlassen. Außerdem war es für die Betriebe nicht leicht, Arbeitskräfte für den körperlich fordernden Bergmannsberuf zu finden. Millionen Männer waren gefallen oder verwundet worden oder befanden sich in Gefangenschaft. Hinzu kam die akut verschlechterte Versorgungs- und Wohnsituation. Die während des Krieges in großer Zahl herangezogenen Zwangsarbeiter standen nicht mehr zur Verfügung. Von den über 400.000 Menschen, die 1943 allein im Steinkohlenbergbau des Ruhrgebiets arbeiteten, blieben damit im April 1945 noch weniger als 150.000 übrig.1 Dafür strömten vor allem aus den Ostgebieten Millionen Menschen
1
Abelshauser 1984, S. 18.
Repräsentation und Macht nach 1945
in die westdeutschen Besatzungszonen. Die Zahl der Beschäftigten im Bergbau konnte sich in den darauffolgenden Jahren auch deshalb wieder rasch erholen und in den Jahren des „Booms“, der bis zur ersten Kohlenkrise 1958 anhielt, auf etwa eine halbe Million wachsen. Das waren – je nach räumlicher Eingrenzung – immerhin fast zehn Prozent der Gesamtbevölkerung des Ruhrgebiets, einer der größten und bedeutendsten Montanregionen in Europa. Viele Familien dort waren folglich als Bergarbeiterfamilien. Häufig mussten allerdings neue Arbeitskräfte erst durch die Bergbauunternehmen angeworben werden. Viele wurden aus anderen Teilen des Landes rekrutiert, denn die lokale Bevölkerung konnte den enormen Personalbedarf des Steinkohlenbergbaus nicht stillen. Das lag nicht allein an den Folgen des Krieges: Seit den dreißiger Jahren waren Bergleute in andere, für sie wesentlich attraktivere Wirtschaftszweige abgewandert. Der Bergbau galt zwar als vergleichsweise gut bezahlt, doch die Arbeit unter Tage war hart und gefährlich.2 Der Bau der Stollen sowie Abbau und Transport der Kohle waren außerordentlich kräftezehrend. Der bergmännische Arbeitsplatz war aber auch als solcher ein unwirtlicher Ort. In der Mitte des 20. Jahrhunderts fuhren die Bergleute bereits mehrere Hundert Meter tief in die Schächte ein. Hier war es dunkel, heiß und staubig, viele Aufgaben erforderten nach wie vor menschliche Muskelkraft oder die der Grubenpferde, die etwa die kohlegefüllten Wagen zogen, bevor Maschinenantriebe sie nach und nach ablösten. Die Zeche Zollverein in Essen, deren beeindruckende bauliche Reste heute Weltkulturerbe sind, sollte in den frühen dreißiger Jahren mit ihren hochmodernen streng geometrischen Stahlfachwerkbauten beim Betrachter den Eindruck einer durch und durch rationalisierten, menschenleeren Bergwerks-Maschine erwecken, die kraft reiner Ingenieurskunst die Kohle aus der Tiefe förderte. Doch noch bis weit in die fünfziger und sechziger Jahre verbargen die Zechenmauern nur die Tausenden Arbeiter, die sich unter den beschriebenen und geradezu archaischen Bedingungen zu den tiefen Steinkohleflözen gruben und – immerhin mit maschineller Hilfe schwerer Presslufthämmern – Tonne für Tonne aus dem Berg brachen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war die erste Fahrt unter Tage für die meisten ein Schockerlebnis,3 führte sie doch in eine brachiale Welt der Finsternis, des Lärms und des Drecks, in der aller Mechanisierung zum Trotz buchstäbliche Knochenarbeit verrichtet wurde und der ein rauer Umgang herrschte. Kaum ein anderer Industriezweig forderte dabei so viele Menschenleben. Das Risiko, verletzt oder gar getötet zu werden, war hoch. Neben den gefürchteten Grubenund Schlagwetterexplosionen, bei denen Dutzende, gar Hunderte auf einmal ums Leben kamen wie 1946 auf der Zeche Monopol in Bergkamen (405 Tote) oder 1962 in der saarländischen Grube Luisenthal (299 Tote), waren es vor allem alltägliche Unfälle
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Vgl. Trischler 1988, S. 111–151. Brüggemeier 2018, S. 326.
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wie Stürze, herabfallendes Gestein, Kollisionen mit Loren und viele andere Gefahrenherde, die von der Bergarbeiterschaft einen überdurchschnittlich hohen Blutzoll forderten. Seit den zwanziger Jahren rückte eine weitere Bedrohung ins öffentliche Bewusstsein, die sich langfristig als noch tödlicher herausstellen sollte als alle Unfallgefahren zusammen: die Staublunge. Je tiefer der Bergbau unter die Erde vordrang und je vermehrter Sprengstoff und Maschinen zum Einsatz kamen, desto dichter wurden die Staubschwaden, die die Bergleute auf engstem Raum umgaben. Sie galten als zentrale Ursache der schweren Lungenerkrankung, die mehr und mehr Arbeiter heimsuchte. Schon seit Jahrhunderten waren Ärzten und Medizinern die „steinernen Lungen“ langjähriger Bergleute bekannt. Doch erst im 20. Jahrhundert begann die systematische wissenschaftsförmige Beschreibung der Erkrankung. Mit der wachsenden Zahl Betroffener drängte sie außerdem ins öffentliche Bewusstsein und setzte außerdem das bestehende System sozialer Sicherung unter Druck. Der Zweite Weltkrieg wirkte zunächst als Dämpfer für die Problemwahrnehmung: Während des NS-Regimes fand eine kritische öffentliche Debatte über die Arbeitergesundheit praktisch nicht statt. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Silikose zum Politikum. Das Feld der politischen Auseinandersetzungen war die künftige Organisation der Sozialversicherung im Spannungsverhältnis zwischen den Bergbauunternehmen, die den größten Einfluss auf die Unfallversicherung ausübten, und der Bergarbeiterschaft, deren Interessen der neu gegründete „Industrieverband Bergbau“, ab 1948 Industriegewerkschaft Bergbau, vertrat. Das Ringen um die Gestaltungsmacht in der Sozialversicherung war auch ein Ringen um die Repräsentation der Akteure und hatte damit bedeutende Implikationen für die öffentliche Debatte, in der der jeweilige Umgang mit dem Staublungenproblem diskursiv gerahmt wurde. In den ersten Jahren nach dem Ende des Kriegs war die Not in den industriellen Ballungsräumen so drängend, dass zunächst andere Probleme im Vordergrund standen. Die Städte des Ruhrgebiets waren wie viele andere urbane Räume überproportional von den Bombenangriffen der Alliierten betroffen, sodass es an Wohnraum fehlte. Hinzu kam die schwierige Ernährungslage, die sich im Winter 1946/47 besonders zuspitzte. Auch Brennstoffe waren knapp, vor allem in den kalten Wintermonaten. Heizkohle, Strom und Lebensmittel wurden deshalb streng rationiert. Der Mangel war allgegenwärtig.4 Flucht, Vertreibung, Versehrtheit und die Knappheit an eigentlich fast allem erfasste große Teile der Bevölkerung, insbesondere auch die Bergarbeiterschaft. Wenn von „den Bergleuten“ oder der Bergarbeiterschaft die Rede ist, so stand dahinter eine Gruppe von mehreren Hunderttausend Männern, die gerade in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs enormen Fluktuationen ausgesetzt war, und in der sich fraglos verschiedenste persönliche und politische Meinungen tummelten. In
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Sachße/Tennstedt 2012, S. 16 ff.
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der Öffentlichkeit fanden diese Einzelmeinungen allerdings kaum Gehör. Stattdessen stritten politische Organisationen darum, als Sprachrohr dieser Gruppe wahrgenommen zu werden: Neben der SPD und der KPD waren es nicht zuletzt die Gewerkschaften, die sich als Stimme der Arbeiter verstanden wissen wollten. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges und mit der Besetzung Deutschlands durch die Alliierten traten die während der NS-Herrschaft verbotenen Gewerkschaften wieder aus der Deckung und als institutionalisierte Interessenvertretung in Erscheinung. Zu Beginn konkurrierten unter den Bergarbeitern noch sozialdemokratische und kommunistische Strömungen,5 doch konnten sich Letztere nicht im Industrieverband Bergbau durchsetzen. Ab 1948 brachte der Industrieverband Bergbau seine eigene Zeitschrift heraus. Die „Bergbauindustrie“, ab 1964 „Einheit“, wurde zu ihrem wichtigsten Organ, um nach außen hin aufzutreten und gewerkschaftliche Forderungen unter den Mitgliedern und in der Öffentlichkeit publik zu machen. Die Gremienarbeit wurde in den Anfangsjahren noch vor allem von altgedienten Gewerkschaftern aus der Zeit vor deren Verbot durch die NS-Regierung im Jahr 1933 bestritten. Diese beklagten in den ersten Jahren noch die große Interesselosigkeit der jüngeren Neumitglieder am gewerkschaftlichen Leben.6 In der neuen alten gewerkschaftlichen Führung herrschte in den vierziger Jahren die Hoffnung, dass der schon in der Vorkriegszeit geträumte Traum von der Enteignung der Bergwerkseigentümer wahr werden würde. De facto war dies unter alliierter Besatzung zunächst auch geschehen. Die Interessen der Gewerkschaft deckten sich insoweit mit denen der Besatzungsmächte, die die deutsche Montanindustrie per Sozialisierungen zu entflechten gedachten. Im Steinkohlenbergbau wurde 1947 die Deutsche Kohlebergbau-Leitung (DKBL) als branchenweite Gesamtleitung gegründet, deren Gremien paritätisch besetzt wurden. Die Spitze des Industrieverbands Bergbau schöpfte daraus die Zuversicht, dass es auch bald zu einer weitgehenden Verstaatlichung des westdeutschen Bergbaus kommen würde.7 Trotzdem gab sie sich mit dieser Erwartung nicht zufrieden, sondern forderte für die weiterhin bestehenden Einzelbetriebe analog zur Eisen- und Stahlindustrie die paritätische Mitbestimmung durch die Arbeiter.8 Auf der betrieblichen Ebene ermöglichte das Betriebsrätegesetz vom 10. April 1946 schon erste Partizipationsmöglichkeiten für die Belegschaften der Zechen, nachdem ein entsprechendes Gesetz aus der Weimarer Republik 1934 unter nationalsozialistischer Regierung außer Kraft gesetzt worden war. Unter diesen Vorzeichen einigten sich Gewerkschaften, alliierte Kontrollbehörden sowie die privaten Eigentümer der Eisen- und Stahlkonzerne im Sommer 1947 auf die paritätische Mit-
Vgl. dazu die ersten Zusammenkünfte von Belegschaftsvertretern 1945: Mielke 1987, S. 213 ff. Der gewerkschaftliche Bruderkampf darf sich nicht wiederholen!, in: Die Bergbauindustrie, 30. April 1948. 7 Jäger 1998, S. 123. 8 Ebd. 5 6
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bestimmung in den Bergbaubetrieben. Diese beginnende „Montanmitbestimmung“ war der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Gesetzen, die die Wirtschaft, aber auch die Sozialversicherung einschließlich der Unfallversicherung demokratisieren sollten, die letztlich auch zu einer Ablösung der im 19. und frühen 20. Jahrhundert weitgehend praktizierten „Herr-im-Hause“-Politik der privaten Zechenbesitzer führen sollte. Die Unfallversicherung und die Bergbauunternehmen waren eng verflochten. Im Bergbau, aber auch in anderen Branchen sahen die Unternehmen in der Berufsgenossenschaft „ihre“ Organisation. Die Gründe dafür reichen in die Entstehungsphase der deutschen Sozialversicherung unter Otto von Bismarck zurück: Bis zur Errichtung der Unfallversicherung im Jahr 1885 waren die Kosten von Heilbehandlungen und Verdienstausfällen bei Arbeitsunfällen durch die Haftpflicht der Betriebe geregelt und damit bereits Angelegenheit der Unternehmen. Im Jahr 1885 hatten sie den gesetzlichen Auftrag erhalten, die neuen gesetzlichen Regelungen umzusetzen und sich selbst zu entsprechenden Organisationen, den Berufsgenossenschaften, zusammenzuschließen. Diese waren Körperschaften öffentlichen Rechts, die durch die Mitgliederunternehmen der jeweiligen Branche verwaltet wurden und durch Beiträge finanziert wurden. Der Bergbau nahm dabei eine Sonderstellung ein, weil wegen der außerordentlichen beruflichen Gefahren, die mit ihm verbunden waren, bereits soziale Sicherungssysteme etabliert waren. Regionale sozialversicherungsartige Knappschaften bildeten ein System der gemeinschaftlichen Fürsorge im Bergbau. Das Knappschaftssystem ging bis ins Mittelalter zurück und war im 19. Jahrhundert verrechtlicht und in die staatliche Sozialpolitik eingegliedert worden.9 Im bismarckschen Sozialversicherungssystem fungierten die Knappschaften nunmehr als berufsständische Kranken- und Rentenversicherung der Bergleute. Zwischen der Berufsgenossenschaft und den Knappschaften bestand deshalb von Anfang an ein Spannungsverhältnis. Immer wieder erhoben die Knappschaften den Anspruch, auch für den Bereich der Unfallversicherung zuständig sein, sprich, nach ihren Bedingungen mit der Berufsgenossenschaft zu verschmelzen. Die Unfallversicherung und mit ihr die Berufskrankheitenversicherung wurden damit zum politischen Konfliktfeld zwischen Berufsgenossenschaft und Knappschaft. Der Antagonismus zwischen den beiden Organisationen deckte sich nämlich im Wesentlichen mit der Opposition zwischen Unternehmern und der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft: Während sich die berufsgenossenschaftliche Selbstverwaltung mehrheitlich in der Hand von Werksvertretern befand, waren es Versichertenvertreter und unter ihnen vor allem Gewerkschafter, die in der knappschaftlichen Selbstverwaltung den Ton angaben. Es ging also um nichts Geringeres als die sozialpolitische Gestaltungsmacht im Bergbau.
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Bingener/Fessner 2010.
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Nach 1945 forcierten die Knappschaften einen erneuten Versuch, sich die Berufsgenossenschaft einzuverleiben. Am energischsten bemühte sich die Ruhr-Knappschaft um einen Zusammenschluss mit der Bochumer Bezirksverwaltung der BergbauBerufsgenossenschaft. Der Versuch scheiterte zwar und die Konfliktlage wurde eine Reform der berufsgenossenschaftlichen Selbstverwaltung entschärft, wie wir in diesem Kapitel sehen werden. Der Verlauf der Auseinandersetzung, die zwischen 1946 und 1948 ausgetragen wurde, zeigt jedoch anschaulich, wie sich Arbeiter- und Unternehmerschaft kurz nach dem Krieg noch als unversöhnliche Antagonisten gegenüberstanden, bis mit der demokratischen Reform in der Sozialversicherung, deren Ausarbeitung der Gründung der Bundesrepublik sogar vorausging, dauerhaft ein politischer Kompromiss gefunden wurde. Berufsgenossenschaft und Knappschaft betonten gleichermaßen, dass es sich um eine Sache der verwaltungstechnischen Vernunft handle. So waren Kompetenz, Kosten und das Verhältnis der Versicherten zur Versicherung die wesentlichen Argumente, die gegeneinander in Stellung gebracht wurden. Der Vorstoß der Ruhr-Knappschaft war ein Affront gegen die Unternehmer des Ruhrbergbaus. Sie sollten ihre Bochumer Bezirksverwaltung de facto an die RuhrKnappschaft abtreten. Die Argumente speisten sich aus den vorangegangenen Bestrebungen der zwanziger und dreißiger Jahre: Es würde die Verwaltung vereinfachen, die Kosten senken und einen einzigen Ansprechpartner für die versicherten Bergleute in Fragen der Sozialversicherung schaffen. In einer knapp achtzehnseitigen Ausarbeitung skizzierte die Ruhr-Knappschaft im August 1946 in einem erkennbar gewerkschaftlichen Duktus einen Gegenentwurf der unternehmergeführten Berufsgenossenschaft und machte dabei vor allem ihre Vorstellungen zur künftigen Machtverteilung in der Selbstverwaltung deutlich: Die Sozialversicherung dient dem Wohl der Versicherten, die somit das größte Interesse an der Versicherung haben, also auch den größeren Einfluss auf die Verwaltung der Mittel und die Durchführung der Aufgaben besitzen müssen. Wenn früher die Organe der Willensbildung Orte waren, an denen Interessenkämpfe zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgetragen wurde[n], so dürfte das in Zukunft weniger als je in Frage kommen, und das umso weniger, als die Kohlengruben beschlagnahmt sind und auch später nicht wieder in Privatbesitz gelangen sollen. Der z. Zt. bestehende Zustand kann als eine Vorstufe der Verstaatlichung des Bergbaus betrachtet werden.10
In anderen Worten: Selbst die vierzigprozentige Beteiligung, die die Knappschaft und die Gewerkschaft den Unternehmern zuzubilligen gedachte, würde sich in absehbarer Zeit von selbst erledigen. Die Verstaatlichung des Bergbaus war in der britischen Besatzungszone die zentrale gewerkschaftliche Forderung. 1947 verstaatlichte Großbri-
sv:dok 15/2, Die Zusammenlegung der Bergbau-Berufsgenossenschaft, Bezirksverwaltung Bochum, mit der Ruhrknappschaft und ihre praktische Durchführung, 03.08.1946.
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tannien seinen eigenen Steinkohlenbergbau unter dem Dach des National Coal Board. Das Szenario war unter diesen Umständen also ernst zu nehmen. Im Dezember 1946 forderte der Industrieverband Bergbau per Entschließung offiziell, die Knappschaft um die Aufgaben der Unfallversicherung zu ergänzen, sprich, die Bergbau-Berufsgenossenschaft aufzulösen und vollständig im Versicherungssystem der Knappschaft aufgehen zu lassen.11 Wesentlicher Advokat der Idee war Fritz Victor. Victor war bereits in der Weimarer Republik bis 1933 als Sozialpolitiker aktiv gewesen und hatte während des nationalsozialistischen Regimes zeitweise in politischer Haft gesessen.12 In den unmittelbaren Nachkriegsjahren war er als Bochumer Hauptvorstand nicht nur eine der Führungsfiguren im neugegründeten Industrieverband Bergbau, sondern war in der Bochumer SPD aktiv und Vorstandsvorsitzender der Ruhr-Knappschaft.13 Aus dieser Position heraus trieb er die Idee einer berufsständischen Bergarbeiterversicherung unter dem Dach der Knappschaft voran. Allerdings gab es innerhalb des sozialdemokratischen Lagers Gegenstimmen, vor allem im Lichte der in den sowjetisch besetzten Gebieten bereits vollzogenen Zerschlagung der gewerblichen Unfallversicherung.14 Aus Sicht der unternehmergeführten Bergbau-Berufsgenossenschaft stellte sich die Lage völlig anders dar: Eine Vereinfachung und insbesondere Ersparnisse seien von einer Fusion nicht zu erwarten; es sei widersinnig, die Unfallversicherung im Bergbau der Knappschaft zu übertragen. Auch eine Beteiligung der Versicherten sei hinreichend gewährleistet.15 Der „wahre Grund für die Bestrebungen einer Vereinigung der beiden Versicherungsträger“ sei „der Wunsch der linksgerichteten Parteivertreter“ nach ausschlaggebendem Einfluss in der Berufsgenossenschaft. Während die Knappschaft aber in erster Linie eine Rentenkasse sei, sei der hauptsächliche Zweck der Unfallversicherung „die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten“ und die medizinisch bestmögliche Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit verletzter oder erkrankter Arbeiter. Dazu sei ein speziell qualifiziertes Personal von Sachbearbeitern erforderlich. Eine Überführung der „individuellen berufsgenossenschaftlichen Betreuung der Unfallversicherten und Berufskranken […] in die bürokratische Verwaltung der RuhrKnappschaft“ sei nicht nur für den Bergbau selbst, sondern vor allem auch die Bergleute schlecht.16 Der organisationale Zusammenschluss der Sozialversicherungszweige im Bergbau blieb bis etwa 1948 ein denkbares Szenario und beunruhigte nicht nur die unternehmerische Selbstverwaltung, sondern auch die Angestellten der Berufsgenossenschaft.17 Wissell, Rudolf, Bergbau-Einheitsversicherung?, in: Westfälische Rundschau, 31. Dezember 1946. Hansen/Tennstedt 2018, S. XXIII. Lauf 2016, S. 14–21. Wissell, Rudolf, Bergbau-Einheitsversicherung?, in: Westfälische Rundschau, 31. Dezember 1946. sv:dok 15/2, Zusammenlegung der Bergbau-Berufsgenossenschaft mit der Ruhrknappschaft, 06.09.1946. sv:dok 15/2, Einheitsversicherung und einheitlicher Versicherungsträger für den Bergbau?, 15.10.1946. 1948 erneuerte die Gewerkschaft ihren Wunsch nach einer Angliederung der bergbaulichen Unfallversicherung an die Knappschaft. Vgl. Industrieverband Bergbau 1948, S. 221.
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Als sich die andauernden knappschaftlichen Bestrebungen zu einer einheitlichen Versicherung für den Bergbau in den Bezirksverwaltungen herumsprach, stärkten die dortigen Betriebsräte der Bochumer Hauptverwaltung Anfang 1948 demonstrativ den Rücken. Sie seien „stolz darauf, daß die Bergbau-Berufsgenossenschaft an der Spitze der Reichsunfallversicherung marschierte und auch heute noch unbestritten in ihren Leistungen für den Bergmann unvergleichliche Verdienste hat.“18 Eine Zusammenlegung sei weder einleuchtend noch notwendig und mit ihr einhergehende Ortswechsel der Verwaltungen seien mit unzumutbaren persönlichen Härten für die Angestellten verbunden.19 Den Bestrebungen der Ruhr-Knappschaft müsse deshalb ein Riegel vorgeschoben werden. Die Frage der Zusammenlegung wurde zurückgestellt, ohne dass die Ruhr-Knappschaft und die Bergbau-Berufsgenossenschaft sich einander angenähert hätten. Die Angelegenheit sollte „im Zusammenhang mit einer allgemeinen Neuordnung der Sozialversicherung entschieden werden“,20 wobei die Hauptgeschäftsführung der Berufsgenossenschaft bereits in einer gemeinsamen Ausschuss-Sitzung zugestand, nichts gegen eine paritätische Beteiligung der Versicherten einzuwenden zu haben, ja diese Forderung sogar selbst in der Vergangenheit geäußert habe.21 Die Bestrebungen, die Unfallversicherung im Bergbau der Knappschaft anzugliedern, war mit der Frage der Mitbestimmung in der Berufsgenossenschaft verbunden. Aus Sicht der Bergbau-Berufsgenossenschaft war die Forderung der Gewerkschaft und der Knappschaft, einen berufsgenossenschaftlichen Vorstand zu bilden, in dem auch Versicherte vertreten sein sollten, nur der Versuch, eine künftige Fusion zu erleichtern.22 Nach einem ersten Entwurf, wie eine künftige Einheitsversicherung aussehen könnte, wären Arbeitgeber nur noch zu einem Drittel, Arbeitnehmer hingegen zu zwei Dritteln in den Entscheidungsgremien der Selbstverwaltung vertreten gewesen.23 Allerdings untersagte die britische Militärregierung zunächst jedwede Organisationsänderungen in der Sozialversicherung. Die Leitung der Bergbau-Berufsgenossenschaft war der Bildung eines Vorstandes nicht abgeneigt. Um die damit verbundene Frage, ob und in welchem Umfang Versicherte beteiligt sein sollten, aber nicht wieder auf die Tagesordnung zu bringen, sollte zunächst eine gesetzliche Regelung abgewartet werden. Mit der nun beabsichtigten paritätischen Besetzung des Vorstands könne man leben.
sv:dok 15/2, Bezirksverwaltung Bonn/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 19.02.1948. sv:dok 15/2, Betriebsausschuss der Bezirksverwaltung Clausthal-Zellerfeld/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 26.02.1948. 20 LAV NRW W Oberbergamt Dortmund/3116, Bizonaler Arbeitsausschuss für Knappschaftsfragen, Protokoll über die Tagung am 5. März 1948, 12.03.1948. 21 Ebd. 22 sv:dok 15/1262, Leiterbesprechung am 24. Februar 1950, 24.02.1950. 23 Ebd.; Insgesamt legte der Alliierte Kontrollrat zwei Entwürfe eines Gesetzes über die Sozialversicherung vor, die allerdings beide nicht angenommen wurden. Vgl. Gitter 2005, S. 529–585, hier S. 540. 18 19
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Am 22. Februar 1951 trat das Bundesgesetz zur Wiederherstellung der Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger in Kraft. Wie vorgesehen wurden die berufsgenossenschaftlichen Gremien im Sinne der Sozialpartnerschaft paritätisch besetzt. Die Idee einer westdeutschen Einheitsversicherung war damit endgültig vom Tisch. Stattdessen blieben die alten Strukturen der Sozialversicherung im Bereich der Unfallversicherung im Wesentlichen unverändert.24 Bedeutend weitreichendere gesetzliche Veränderungen blühten der Bergbau-Berufsgenossenschaft bei der Neuregelung der Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO), die seit 1946 maßgeblich von gewerkschaftlichen Forderungen nach einer Ausweitung der Entschädigungspflicht bei Silikosen vorangetrieben wurde. Die Silikose war schließlich auch Hauptgegenstand der Verhandlungen über die Neufassung.25 Spätestens seit 1947 hatte es politische Bestrebungen gegeben die Berufskrankheiten-Gesetzgebung neu zu regeln.26 Die praktischen Schwierigkeiten bei der Regulierung der Silikose hatten wesentlichen Anteil daran, dass die bisherigen Bestimmungen für reformbedürftig gehalten wurden. Bereits die 2. BKVO von 1929, die 3. BKVO von 1938 sowie die 4. BVKO von 1943 hatten wesentliche Änderungen für die Staublunge gebracht, die vor allem in der Ausdehnung ihres Geltungsbereichs bzw. des Kreises der Rentenempfänger bestanden hatten. Das zentrale Problem, das von den Gewerkschaften in der nach dem Krieg geltenden 4. BKVO gesehen wurde, war die Eintrittsschwelle zu einer Berufskrankheiten-Rente: diese wurde erst ab einer gutachterlich festgestellten Erwerbsminderung des Versicherten von wenigstens 50 Prozent gewährt, ab der von einer „schweren Staublungenerkrankung“ die Rede war. Das lief nicht nur dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Bergleute zuwider und führte zu rechtlichen Auseinandersetzungen über die „tatsächliche“ körperliche Beeinträchtigung.27 Es brachte die Bergbau-Berufsgenossenschaft auch in Konflikt mit den Knappschaften als Träger der Rentenversicherung. Denn aus ihren Rententöpfen mussten die invalidisierten, weil berufsunfähig gewordenen Bergleute ihr Auskommen beziehen, wenn sie wegen einer nach ärztlicher Auffassung nicht hinreichend schweren Silikose noch nicht zur berufsgenossenschaftlichen Rente berechtigt waren, aber ebenso wenig schwere Bergarbeit bewältigen konnten. Die Einschränkung des Unfallversicherungsschutzes auf „schwere“ Fälle der Krankheit hatte eine lange Vorgeschichte, die in die zwanziger Jahre zurückreichte, als die 1929 in Kraft tretende 2. BKVO verhandelt wurde. Es handelte sich um einen langwierig zwischen den Ländern der Weimarer Republik ausgehandelten Kompromiss, der für die Versicherten weitreichende Konsequenzen hatte: Wenn sie aus gesundheitlichen Gründen aus dem Bergbau als Invalide ausschieden, kamen sie zwar unter Um24 25 26 27
Gitter 2005, S. 529–585, hier S. 556. Gitter 2005, S. 489–514, hier S. 507. Dietrich 2001, S. 239. Dies ist wesentlicher Gegenstand des 5. Kapitels dieser Arbeit.
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ständen in den Genuss einer Rente durch die Knappschaft. Diese war aber deutlich geringer als eine Berufskrankheitenrente aus der Unfallversicherung, die wiederum nur gewährt wurde, wenn ein durch die Berufsgenossenschaft zugelassener Gutachter zu dem Urteil kam, dass es sich um eine „schwere“ Staublunge handelte. Das Gesetz selbst machte zum Begriff keine näheren Angaben, ein ebenfalls 1929 erschienener Kommentar wurde allerdings zur Maßgabe. Demnach mussten der klinische Befund des Patienten sowie das Röntgenbild eindeutige Merkmale erfüllen; in der Regel war das Röntgenbild ausschlaggebender.28 Im Februar 1947 wandte sich die Gewerkschaft direkt an das Zentralamt für Arbeit in der britischen Zone und forderte die Ausdehnung der berufsgenossenschaftlichen Leistungen: Die an Silikose leidenden Bergarbeiter sind der Ansicht, dass der Entschädigungspflicht bei dieser Berufskrankheit auf gerechtere und sozialere Art nachgekommen werden könnte, wenn das Wort „schwere“ in der Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten gestrichen und die Entschädigung auch dieser Berufskrankheit ebenso wie der Unfälle und der anderen Berufskrankheiten nach dem Grad der durch sie bedingten Erwerbsunfähigkeit erfolgen würde.29
Die britische Militärregierung sah sich in dieser komplizierten Angelegenheit allerdings nicht zuständig und leitete die Eingabe an die Bergbau-Berufsgenossenschaft weiter.30 Diese widersprach der gewerkschaftlichen Auffassung entschieden, da sie sich nicht mit der Versicherungspraxis decke: Diese Abhängigkeit der Entschädigungspflicht von einem besonderen Entwicklungsgrad der Erkrankung ist offenbar deshalb gegeben, weil die Krankheit an sich in gewissen Stadien anders als bei einem Unfall die Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsfeld nicht notwendig wesentlich beeinträchtigt.31
Da die britische Militärregierung nicht in die gesetzliche Regulierung intervenierte, blieb der Vorstoß des Industrieverbands Bergbau 1947 letztlich folgenlos für die Gesetzeslage. Im Jahr darauf preschte allerdings die KPD-Fraktion im Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes der verschmolzenen amerikanischen und britischen Zonen mit einem neuerlichen Antrag vor, der eine „Sonderverordnung für an Silikose
Die genaueren gesetzgeberischen und rechtlichen Umstände werden ausführlich behandelt bei Schürmann 2011, S. 65 ff. 29 BArch Z40/281, Industrieverband Bergbau für die britische Zone/Zentralamt für Arbeit in der britischen Zone, 19.02.1947. 30 Schürmann 2011, S. 206. 31 Hervorhebungen im Original. BArch Z40/281, Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung/ Zentralamt für Arbeit in der britischen Zone, 07.03.1947. 28
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erkrankte Bergarbeiter“ vorsah.32 Die Idee einer gesetzlichen Sonderregelung für den Bergbau stieß vor allem bei der Bergbau-Berufsgenossenschaft und dem Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften auf strikte Ablehnung. Im daraufhin gebildeten Unterausschuss „Silikose“ des Ausschusses für Arbeit beim Wirtschaftsrat stimmten Vertreter der CDU, SPD und KPD, Vertreter der Verwaltung für Arbeit sowie Sachverständige und der Hauptgeschäftsführer der Bergbau-Berufsgenossenschaft sowie Fritz Victor als Vertreter der Gewerkschaft nun darin überein, dass die bisherigen gesetzlichen Bestimmungen nicht mehr aufrechterhalten werden könnten. Nach Ansicht der geladenen Experten genügte die Bezeichnung „Staublungen-Erkrankung“ ohne den Zusatz „schwere“, solange eine „leistungsmindernde Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf “ vorliege.33 Dabei waren die eingereichten Gutachten namhafter Ärzte auf dem Gebiet der Silikose durchaus zwiespältig ausgefallen. Zwar gebe es zuweilen semantische Unschärfen, gerade im Hinblick auf die „mittelgradige“ Silikose.34 Die Einschränkung auf „schwere“ Silikosen sei aber deshalb berechtigt, weil die menschliche Lunge so viele Reserven besitze, dass „lange Zeit hindurch Ausfälle, die röntgenologisch imponieren, einwandfrei kompensiert werden können.“ Unkomplizierte mittelgradige Fälle führten zu keiner messbaren Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit der Betroffenen.35 Vertretern des Industrieverbands Bergbau blieben die vorliegenden Gutachten nicht verborgen: Den Verwaltungsbürokraten kam die Stellungnahme dieser Aerzte sehr gelegen. Sie verstiegen sich zu der Behauptung, daß der Antrag des Verbandes, das Wort „schwere“ zu streichen und eine graduelle Entschädigung von 20 % an zu verlangen, ein Unsinn wäre. Staublungenerkrankungen (Silikose) gibt es aber nicht nur in Deutschland, sondern auch anderwärts. Sie werden auch im Auslande von der Unfallversicherung als Berufskrankheit anerkannt und entschädigt.36
Im Ausland, z. B. der Schweiz, sei es bereits möglich, eine Teilinvalidität von 20 Prozent festzustellen und zu entschädigen. Warum also nicht in Deutschland? Gegen den parteiübergreifenden Konsens konnten sich die Kritiker einer Ausweitung der Entschädigungspflicht nicht durchsetzen. Vertreter der Bergbauunternehmer wurden nicht mehr konsultiert. Stattdessen dienten die Beschlüsse des Ausschusses für Arbeit als Grundlage für die 5. BKVO, deren Erarbeitung mit Gründung der Bundesrepublik Antrag der KPD-Fraktion betr. Sonderverordnung für an Silikose Erkrankte (Drucksache 559), 24.09.1948. 33 sv:dok 15/526, Sitzung des Unterausschusses „Silikose“ des Ausschusses für Arbeit am 15.12.1948, 21.12.1948. 34 BArch Z40/281, Gutachten Prof. Dr. Baader, 15.04.1948. 35 BArch Z40/281, Gutachten Prof. Dr. Parrisius, 13.04.1948. 36 Vergütung von Staubschäden durch die Unfallversicherung, in: Die Bergbauindustrie, 15. Oktober 1948. 32
Die Wiederentdeckung der Silikose durch die bundesrepublikanische Öffentlichkeit
1949 begonnen hatte.37 Das neueingerichtete Bundesministerium für Arbeit stellte sich in seiner offiziellen Begründung gegen die Bedenken der Industrie und der Berufsgenossenschaft, dass eine Ausweitung der Leistungen zu übermäßigen Belastungen für die Unfallversicherung führen würde. Ohne Widerstände aus anderen Ministerien oder aus den Bundesländern wurde die 5. BKVO angenommen und trat schließlich am 1. August 1952 in Kraft.38 Auf Grund der langen Kontinuitätslinien des deutschen Sozialversicherungssystems und insbesondere wegen der sozialpolitischen Akzente der Weimarer Republik, die nach dem Krieg fortgeführt wurden, und nicht zuletzt auch wegen der sozialpolitischen Debatten in der NS-Zeit scheinen die rechtlichen Entwicklungen nach 1945 durch die Vorgeschichte bis 1945 präjudiziert.39 Dieser Umstand darf jedoch nicht verschleiern, dass die ersten Jahre nach dem Krieg eine Zeit größter Kontingenz und auch Konflikte waren, vor deren Hintergrund eine grundsätzliche institutionelle Neuordnung aus Sicht der Zeitgenossen plausibel erschien und von den einen ersehnt, den anderen jedoch gefürchtet wurde. Die Akteurskonstellation in der Debatte über die Silikose in den vierziger bis sechziger Jahren war damit nicht vorgezeichnet, sondern wurde erst erstritten. Die Wiederherstellung der Selbstverwaltung, die in der Unfallversicherung sogar eine deutlich größere Beteiligung der Versicherten ermöglichte als in der Weimarer Republik, nahm dem Verhältnis der Gewerkschaft zu den Unternehmen einen Gutteil ihrer antagonistischen Schärfe. Die Debatte über den richtigen Umgang mit der Silikose war mit der Demokratisierung der Sozialversicherung und mit der Reform der Berufskrankheiten-Verordnung aber nicht vorbei.40 Vielmehr veränderte sie im Verlauf von etwa zwanzig Jahren ihre Gestalt, wie wir in den nächsten Kapiteln sehen werden. 2.2
Die Wiederentdeckung der Silikose durch die bundesrepublikanische Öffentlichkeit
In den ersten Jahren nach Kriegsende war die öffentliche Aufmerksamkeit für das Silikose-Problem noch gering; die politische Auseinandersetzung spielte sich überwiegend direkt zwischen Gewerkschaft, Unfallversicherung, Unternehmen und staatlichen Organen ab. Während der Industrieverband Bergbau seit 1948 mit seiner Zeitschrift über gewerkschaftliche Zusammenkünfte hinaus einen medialen Resonanzraum für
Schürmann 2011, S. 207. Ebd., S. 208. Vgl. dazu vor allem Geyer 1987. Die einzige dezidierte wissenschaftliche Monografie zur Geschichte der Silikose endet mit diesen rechtlichen Zäsuren. Siehe Schürmann 2011 auch deshalb konzentriert sich diese Arbeit auf die Regulierungspraxis.
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den Diskurs schuf und im Chor des Deutschen Gewerkschaftsbundes in die Forderungen nach Mitbestimmung und Verstaatlichung einstimmte, koordinierte sich die Bergbau-Berufsgenossenschaft mit ihrem Hauptverband der gewerblichen Unfallversicherungen in zentralen Richtungsfragen und vertrat ihre Positionen nach außen (und innen) über ihre Zeitschrift „Kompass“, die in Sachen Silikose über technische, versicherungsrechtliche und statistische Aspekte und Neuigkeiten informierte, darin auf gewerkschaftliche Agitationen aber nicht einging. Die Debatte über die bergmännische Gesundheit war dabei hochpolitisch und im gewerkschaftlichen Diskurs der späten vierziger Jahre eng an die Kernforderungen der Gewerkschaftsbewegung gebunden. Neben der Enteignung der Bergbauunternehmer oder zumindest einer bedeutenden Mitsprache der Arbeiter als erstem Schritt ging es dabei auch um die mehrheitliche Beteiligung der Arbeitnehmer in den Selbstverwaltungen der Sozialversicherung. Alle anderen erklärten sozialen Ziele, darunter auch die Absicherung gegen gesundheitliche Risiken, waren diesen Hauptzielen untergeordnet und schienen sich mit deren Umsetzung von selbst zu verwirklichen, z. B. durch eine Vereinfachung der Silikosebekämpfung, indem die Bergbau-Berufsgenossenschaft der Knappschaft im Rahmen einer völligen Neugestaltung der Sozialversicherung angegliedert würde, um eine „Berufsversicherung der Bergleute“ zu schaffen.41 Unter der Führung des Hauptvorstands Fritz Victor, der sich zu dieser Zeit noch mit seinen weiter oben erläuterten Fusionsbemühungen in offener Konfrontation mit der Berufsgenossenschaft und den Bergbauunternehmern befand, wurde die fundamental ablehnende Haltung gegen das Lager der Unternehmer mit deren früherer Kollaboration mit dem NS-Regime begründet. Seither habe kein Bruch mit den nationalsozialistischen Traditionen stattgefunden. Das galt zum Beispiel für die Einführung eines „Knappenpasses“, der zur besseren gesundheitlichen Überwachung 1947 für jeden Bergarbeiter ausgestellt werden sollte. Ergebnisse der letzten ärztlichen Untersuchung sowie ein Röntgenbild sollten darin bei regelmäßigen Folgeuntersuchungen Auskunft über etwaige pathologische Veränderungen geben. Ein solcher Pass habe sich, so der Bochumer Hauptvorstand Fritz Victor, schon während des Nationalsozialismus in Vorbereitung befunden, wäre aber nicht im bergmännischen Interesse gewesen. Vermerke über bestehende Krankheiten wie Tuberkulose und Silikose seien überdies ein Stigma, wie Betroffene in Lungenheilanstalten immer wieder an ihn herantrügen, und es fehle nur noch, dass sie „wie ein Leprakranker in heißen Zonen eine Klapper“ bekämen, damit auch jeder wisse, dass „ein Staublungenkranker mit beginnender Tuberkulose daherkommt.“42 Daraus könnten sich – neben dem sozialen Stigma – insofern Nachteile ergeben, als dass es den Erkrankten und als solche sofort Erkannten die beruflichen „Fortkommensmöglich-
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Industrieverband Bergbau 1948, S. 203; Industriegewerkschaft Bergbau 1950, S. 168 ff. Industrieverband Bergbau 1948, S. 214.
Die Wiederentdeckung der Silikose durch die bundesrepublikanische Öffentlichkeit
keiten“ erschweren könnte. Die Haltung zum „Knappenpass“ offenbart ganz nebenbei aber auch, dass innerhalb der Gewerkschaft große Uneinigkeit über den richtigen Kurs herrschte, denn 1946 hatten Gelsenkirchener Gewerkschaftsmitglieder bei der Militärregierung noch selbst einen Antrag auf eben jenen Pass gestellt.43 Bezeichnenderweise tauchte ein ähnlicher Antrag auf der folgenden Generalversammlung 1950, kurz nach dem Zerwürfnis des Vorstands mit Fritz Victor, auf, diesmal unter dem Namen „Gesundheitspass“.44 Zur Einführung eines solchen Passes kam es zwar nicht; ein ganz ähnliches Prinzip setzte sich aber dafür wenig später in der betrieblichen Präventionspraxis durch.45 Starken Widerstand mobilisierte die Gewerkschaft auch gegen das etablierte System der Werksärzte, in dem führende Mitglieder ein Unterdrückungsinstrument der Bergbauunternehmen sahen, weil den Beschäftigten ein vom Betrieb angestellter und also vom Betrieb abhängiger Mediziner vor die Nase gesetzt würde. Die freie Arztwahl für Bergleute zu erstreiten, wofür das Gängelband des noch während der NS-Herrschaft ausgebauten Werksärztesystems zu durchtrennen wäre, war dabei an die Aussicht gekoppelt, dass damit für eine bessere bergmännische Gesundheit gesorgt sei. Denn „ein vom Werk abhängiger Arzt [neige] stets dazu, die Freiheit des Arbeiters […] im Interesse seines Auftraggebers einzuengen.“46 Damit begann 1948 in der Bergbauindustrie eine ganze Artikelserie zur „Arztfrage“ im Bergbau. Darin rekurrierte der noch amtierende Fritz Victor auf die nach wie vor herrschenden Verhältnisse, die aus der Zerschlagung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung nach 1933 heraus geschaffen worden waren: die Knappschaftsärzte, die für die Bergleute im Krankheitsfall meist der erste Ansprechpartner waren, waren vorher direkt von den bergbaulichen Rentenversicherern, den Knappschaften, angestellt worden. In den Knappschaften besaßen die Versicherten mehr Mitspracherechte und das Verhältnis zur Gewerkschaft war traditionell enger. Danach sei aber das bei den Bergleuten unbeliebte Werksärztesystem immer bedeutender geworden. Betriebe stellten nach diesem System selbst Ärzte als erste Ansprechpartner für die Gesunderhaltung ihrer Belegschaften ein. Nach dem Krieg begannen die Bergbaubetriebe wieder damit, Werksärzte anzustellen und zu erwirken, dass diese mit umfangreicheren Rechten ausgestattet würden, um etwa Rezepte ausstellen zu können. Die gewerkschaftliche Position suggerierte, dass der Arzt nicht die Hand beiße, die ihn füttert. Ein Arzt im Dienst des Betriebes würde demnach ohne Zweifel auch im Sinne des Unternehmers untersuchen. Das Interesse der Unternehmen an ihren Profiten und das ureigene Interesse des Bergmanns an der Unversehrtheit seines Körpers erschie-
sv:dok 4/2938, Antrag des Industrieverbandes Bergbau Bezirk V auf Einführung eines Knappenpasses für alle im Bergbau angelegten Kameraden, 08.10.1946. 44 Industriegewerkschaft Bergbau 1950, S. 337. 45 Siehe dazu die Kapitel 3 und 4. 46 Zur Arztfrage im Bergbau, in: Die Bergbauindustrie, 15. Mai 1948. 43
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nen unvereinbar. Der Industrieverband Bergbau müsse daher unbedingt verhindern, dass die Stellung der Betriebsärzte weiter gestärkt wird: Zu den Freiheiten innerhalb einer freien menschlichen Gemeinschaft gehört auch die Freiheit, über seinen eigenen Körper verfügen zu können. Ein vom Werk abhängiger Arzt wird aber stets dazu neigen, die Freiheit des Arbeiters in dieser Hinsicht im Interesse seines Auftraggebers einzuengen.47
Der Artikel löste ein „lebhaftes Echo“ unter Bergleuten und Ärzten gleichermaßen aus,48 woraufhin die Bergbauindustrie die Erwiderung eines praktizierenden Werksarztes abdruckte, der darin zu begründen versuchte, dass der Werksarzt eben doch ganz im Sinne der bergmännischen Gesundheit sei.49 Während die Knappschaftsärzte nämlich für die Behandlung des krankfeiernden „Kumpels“ zuständig seien, liege die Betreuung des arbeitenden „Kumpels“ im Verantwortungsbereich des Werksarztes, damit dieser gar nicht erst krank werde. Hiermit gehe schließlich auch eine viel größere praktische Erfahrung mit betriebshygienischen Fragen einher, für deren Beantwortung der Werksarzt die nötige Zeit und Kompetenz besitze, die dem im Krankenhaus tätigen Knappschaftsarzt naturgemäß fehle. Die Rolle der Ärzte und ihr Verhältnis zu den Bergleuten griff die Bergbauindustrie im Jahr 1950 erneut auf. Anlass war eine arbeitsmedizinische Fachtagung, über die das Blatt umfassend berichtete und aus den dort gehaltenen Vorträgen paraphrasierte. Entgegen der noch 1948 von Fritz Victor verfochtenen Opposition gegen das Werksärztesystem,50 wurde nun hingegen ein ganz neuer und „wahrhaft sozialer Arzttypus“ beworben. Dieser könne entstehen, wenn die arbeitsmedizinische Forschung ausgebaut und die gewonnenen Erkenntnisse der betrieblichen Praxis bereitgestellt würden. Als „Facharzt des arbeitenden Menschen“ gehöre dieser neue Typus „in den Betrieb hinein, um der Arbeitsschutzgesetzgebung als einem toten Schema erst wirklich Leben zu verleihen.“51 Das gewisse Misstrauen, das zwischen Arbeitern und Betriebsärzten herrsche, sei im Wesentliche eine Sache der politischen Mitbestimmung und ließe sich beheben, wenn den Versicherten die Selbstverwaltung der Sozialversicherung in die Hand gegeben würde.52 Ein durch die Weihen arbeitsmedizinischer Expertise gegangener, von seinen künftigen Patienten mitbestellter Arzt also würde die Abhängigkeiten eines Werksarztes von Direktors Gnaden sprengen. Die Serie warf auch noch
Ebd. Zur Arztfrage im Bergbau, in: Die Bergbauindustrie, 30. Juni 1948. Zur Arztfrage im Bergbau, in: Die Bergbauindustrie, 15. Juli 1948. Fritz Victor geriet 1950 mit der Mehrheit der gewerkschaftlichen Führung in Konflikt und verlor danach seine prominente Position innerhalb der Industriegewerkschaft; vgl. Industriegewerkschaft Bergbau 1950, S. 155 ff. 51 Arbeitsmedizin und Gewerkschaften (III.), in: Die Bergbauindustrie, 29. Juli 1950. 52 Arbeitsmedizin und Gewerkschaften (II.), in: Die Bergbauindustrie, 22. Juli 1950. 47 48 49 50
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eine andere, grundsätzliche Frage auf, die seit den späten vierziger Jahren immer stärker ins Blickfeld gerückt war: Der Arbeiter bringt als einziges Kapital in den Wirtschaftskampf seine Arbeitskraft mit. Wir kennen den sogenannten „Leistungsknick“, der infolge Überlastung in der Jugend oder Einsatz am falschen Arbeitsplatz den Menschen in der Mitte der 40er Jahre bereits oft an die Grenze der Invalidität bringt. Was nützt der höhere Akkordlohn, wenn er durch Ausschaltung des Staubschutzes oder des Unfallschutzes oder durch Überlastung der körpereigenen Staubabwehr oder Übermüdung zur Staublunge der zum Krüppeltum führt? Ohne entsprechende Aufklärung und die dadurch gewonnene Einsicht des Arbeiters kann nur unvollkommen geholfen werden.53
Weil die Unternehmer in den Betrieben nach wie vor das Sagen und kein eigenes Interesse an der langfristigen Gesundheit der Arbeiter hätten, ließen sie diese in allen Fragen des – aus Unternehmersicht tendenziell kostspieligen – Arbeitsschutzes im Unwissen. Die Lösung lag in den Augen der Gewerkschaft deshalb auch hier darin, die betriebliche Mitbestimmung auszuweiten, zum Beispiel indem die Betriebsräte stärker in die Grubensicherheit eingebunden würden. Aus dem „Nur-Lohn-Arbeiter“ müsse „ein gleichberechtigter Mitarbeiter werden, aus dem paternalistischen Fürsorgeverhältnis der kapitalistischen Vergangenheit ein Arbeitsplatz mit menschenwürdiger Existenz.“54 Die Silikosegefahr war dabei bereits ein wichtiges Argument für die Forderungen der Gewerkschaft. Gegenüber der Deutschen Kohlenbergbau-Leitung (DKBL), die die Interessen der Bergwerksbetriebe wahrnahm, forderte der Industrieverband Bergbau Ende 1948 an erster Stelle die „Verminderung der Staubentwicklung und Beseitigung des Steinstaubes und des Kohlenstaubes an der Entstehungsstelle“, um der grassierenden Staublunge Einhalt zu gebieten.55 Die Beteiligung der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter, idealerweise in einem verstaatlichten Bergbau, führe demnach notwendigerweise zu geringeren gesundheitlichen Risiken, weil gleichberechtigte Mitarbeit die Umsetzung bergmännischer Forderungen nach und Ideen zur höheren Arbeitssicherheit bedeutete. Im Umkehrschluss war das Voranschreiten der Silikose unter den Bergleuten eine Folge unternehmerischer Profitinteressen, die einer „Wirtschaftsdemokratie“ im Wege stünden und ein „Verbrechen an [den] Bergarbeiter[n]“ darstellten.56 Dennoch gaben sich die Gewerkschaftsvertreter nicht einfach der Vorstellung hin, dass die gesundheitlichen Gefahren damit vollständig getilgt sein würden; zu untrennbar verbunden schien sie mit dem bergmännischen Beruf und dem entsprechenden Arbeitsalltag:
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Arbeitsmedizin und Gewerkschaften (III.), in: Die Bergbauindustrie, 29. Juli 1950. Betriebsrätewahlen im Bergbau, in: Die Bergbauindustrie, 15. Oktober 1948. Vier Aufgaben der Bergbautechnik, in: Die Bergbauindustrie, 15. November 1948. Wer beauftragte Oberbergrat Kalleis, in: Neue Volks-Zeitung, 27.11 1949.
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Überall dort, wo Bodenschätze zutage gehoben werden, müssen sich Menschen bereitfinden zu schwerer körperlicher und gleichzeitig auch gefährlicher Arbeit. Manche dieser anstrengenden Arbeiten können in der Zukunft von der Maschine übernommen werden. Die Gefahren aber, die der Gesundheit und dem Leben drohen, werden niemals ganz auszuräumen sein, solange Menschen noch nach Untertage fahren müssen.57
Hier war schließlich neben der besseren Vorsorge durch betriebliche Mitbestimmung die bessere Fürsorge durch die Sozialversicherung angezeigt, die analog durch die stärkere Beteiligung der Arbeiter an deren Selbstverwaltungsorganen erzielt werden sollte. Der Industrieverband Bergbau drängte weiter auf gesetzliche Bestimmungen, die den Weg zu einer Sozialversicherung in Versichertenhand ermöglichen sollten. Die Hauptanstrengungen gegen die Krankheit müssten dabei trotzdem in den Betrieben selbst erfolgen, denn „zu den Aufgaben einer Gewerkschaft gehört die Verpflichtung, dafür einzutreten, daß die Berufsarbeit ihrer Mitglieder unter Bedingungen erfolgt, die Leben und Gesundheit möglichst wenig gefährden.“58 In erster Linie stellte sich in dieser Lesart die Krankheit dabei als ein technisches Problem dar: Obwohl sie schon lange bekannt sei, sei es noch nicht gelungen, sie mit entsprechenden Hilfsmitteln zu beseitigen. Über die zugrundeliegenden Ursachen herrschte dabei keine Einigkeit, sodass sich auch die Gewerkschaftsvertreter an Spekulationen über die Gründe und also die zuvorderst zu ergreifenden Maßnahmen beteiligten: In einem Anfang 1949 veröffentlichten Artikel machte Fritz Victor dabei das so genannte „Streustaubverfahren“ zum Hauptverantwortlichen für die grassierende Staublunge.59 Bei diesem Verfahren wurden zum Schutz gegen Grubenexplosionen so genannte Steinstaubsperren errichtet, die aus staubgefüllten Wannen bestanden und etwaige Explosionen auffangen und abmildern sollten. Bereits Ende 1948, als der Unterausschuss „Silikose“ beim Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes über die Reform der Berufskrankheiten-Verordnung beraten hatte, war Victor auf die Explosionssperren zu sprechen gekommen und hatte in einer gemeinsam mit Friedrich Hess60 von der Bergbau-Berufsgenossenschaft erarbeiteten Darstellung darauf verwiesen, dass darauf zu achten sei, dass der dabei verwendete Staub nicht silikoseverursachend sei.61 Nun ging er damit an die gewerkschaftliche Öffentlichkeit und erhob den Vorwurf, dass mit dieser Sicherheitsmaßnahme „im wahrsten Sinne des
Die Aufgaben der neugewählten Betriebsräte, in: Die Bergbauindustrie, 31. Oktober 1948. Verhütung und Vergütung von Staublungenschäden, in: Die Bergbauindustrie, 15. April 1948. Victor, Fritz, Auf den Bergmann lauert der Tod, in: Der Bund, Nordrhein-Westfalen-Beilage, 1. Januar 1949. 60 Hess, geboren 1899, war langgedienter Angestellter der Berufsgenossenschaft und ab 1935 stellvertretender Geschäftsführer, ab 1947 Hauptgeschäftsführer der Bergbau-Berufsgenossenschaft. Er blieb bis zu seinem Tod 1956 im Amt. 61 sv:dok 15/526, Sitzung des Unterausschusses „Silikose“ des Ausschusses für Arbeit am 15.12.1948, 21.12.1948. 57 58 59
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Wortes versucht [werde], den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.“ Anhand der Unfallziffern seit den zwanziger Jahren rechnete Victor vor, dass seit Einführung des Verfahrens nicht weniger, sondern sogar mehr Bergleute ums Leben gekommen seien, und zwar einerseits trotz der Staubsperren durch Grubenexplosionen, und andererseits durch immer mehr Staublungen aufgrund der schlechten Luftverhältnisse. Im Frühjahr 1949 erneuerte Victor seine Vorwürfe. Bestätigt sah er sich durch einen auf der Eröffnungsveranstaltung des Silikose-Forschungsinstituts der Bergbau-Berufsgenossenschaft gehaltenen Experten-Vortrag. Es seien große Mengen an schädlicher Kieselsäure „in die Lungen der Bergarbeiter der so eingestaubten Gruben hineingepumpt worden“. Schließlich mahnte er: Auch das Gewissen der Öffentlichkeit muß hier aufgerüttelt werden. Hat eine Katastrophe über 100 Menschenleben auf einmal gefordert, so ist die Anteilnahme allgemein, sinken in einem Jahre über 1000 unter qualvollen Umständen einzeln vorzeitig ins Grab, stören sich nur wenige daran.62
Auf gewerkschaftlicher Seite fand sich darüber allerdings keine einheitliche Linie. In Reaktion auf Fritz Victors Kampagne gegen das Steinstaubverfahren erschien in der Bergbauindustrie auch eine gegenteilige Darstellung: Hauptursache sei vielmehr das Bohren, Laden und Kippen von Gestein. Entscheidend sei deshalb ein Wasserrohrleitungssystem in allen Bergwerken, um den Staub mit Wasserdüsen und Nassbohrer zu binden. Vor allem komme es auf die Mitarbeit der untertägigen Belegschaften an: Den Bergleuten rufe ich zu: Haltet die zu eurem Schutz bereitgestellten Mittel in Ordnung, bohrt kein Loch ohne Wasser, berieselt vor dem Laden das Haufwerk und bedenkt, daß ihr bei Nichtbefolgung der befohlenen Anordnungen eure eigene Gesundheit, das höchste Gut das ihr besitzt, untergrabt, das Wohl der Familie zerstört, das Leben und die Gesundheit eurer Arbeitskameraden, die in demselben Wetterstrom beschäftigt sind, in große Gefahr bringt.63
An die Bergbehörde gerichtet hieß es darüber hinaus, dass auch neue Verordnungen und Verfügungen und ihre strengere Überwachung vonnöten seien, um die Silikose „von ihrem ersten Platz zu verdrängen“. Darüber hinaus empfahl die Bergbauindustrie auch die neuste Methode zur Verringerung des Kohlenstaubs mittels „Stoßtränken“. Dabei wurden tiefe Löcher in die Kohlenflöze gebohrt, um die Kohle mit Wasser zu durchfeuchten und so die Staubbildung beim mechanisierten Abbau zu verringern. Solche Verfahren würden gerade in Deutschland und im Ausland entwickelt. Ihr Urteil stützte die Bergbauindustrie dabei auf die ersten Erfahrungen eines aktiven Kohlen-
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Einweihung des Bochumer Silikose-Instituts, in: Die Bergbauindustrie, 15. Februar 1949. Zur Staubbekämpfung im Steinkohlenbergbau, in: Die Bergbauindustrie, 30. April 1949.
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hauers, der von einer Verbesserung des Wohlbefindens und einer erheblichen Leistungssteigerung berichtete: Als Gewerkschaft haben wir die Pflicht, angesichts der Vorteile, die sich aus dem Stoßtränk-Verfahren ergeben, der Bergbehörde nahezulegen, überall da, wo der Kohlenstaub gesundheitliche Schäden bewirkt und in starkem Maße anfällt, solche Maßnahmen anzuordnen.64
Die Gewerkschaft signalisierte öffentlich, dass sie mitreden wollte, und auch im Stande war, an einer wissenschaftlichen Debatte teilzunehmen. Die Diskussion über Ursachen und Möglichkeiten der Prävention gewann damit um 1949 an Fahrt und Fragen der Staub- und Silikosebekämpfung wurde zum Gegenstand einer politischen Debatte; wissenschaftliche Fragen wurden auf diese Weise in die Öffentlichkeit getragen. Auch einige Arbeiter äußerten sich in Leserzuschriften an die Bergbauindustrie zu dieser Diskussion und forderten, dass man nicht mehr nur die Gründe für die Silikose hören wolle, die seien den Bergleuten als „Hauptleidenden“ hinreichend bekannt. Man wolle nun aber, so ein Oberhausener Bergmann, „moralisch stärkende Tatsachen“ hören, damit „der Kumpel sich selbst [nicht] den Glauben aufzwingt, er sei nur dazu da, die Welt mit Kohle zu versorgen, um dann in verhältnismäßig jungen Jahren, mit einer Staublunge versehen, als Todeskandidat zu gelten.“65 Auch er wolle schließlich einmal an einen gesunden Lebensabend denken können. In der übernächsten Ausgabe nahm die Redaktion direkten Bezug auf die abgedruckte Leserzuschrift,66 denn der Genosse habe „ohne Zweifel“ recht: Es brauche „eine moralische Hilfe bei ihrer schweren und gefährlichen Arbeit.“ Den Auftakt zu einer Serie, die den Forderungen Rechnung tragen sollte, bildete ein Artikel über das berufsgenossenschaftliche Krankenfürsorge im Klinikum Bergmannsheil in Bochum und die dort stattfindende Forschungsarbeit über die Silikose. In der darauffolgenden Ausgabe steuerte die Abteilung Grubensicherheit der Industriegewerkschaft Bergbau, wie der Industrieverband Bergbau seit 1948 hieß, einen Artikel über die praktische Staubbekämpfung bei und verwies darin auf eine jüngst von ihr veranstaltete Ausstellung, auf der die Geräte praktisch vorgeführt worden waren. Die Autoren bekräftigten: Die Zeit des Theoretisierens über das Problem muß nun vorbei sein. Der Kumpel, auf den es ankommt, will handgreifliche Dinge sehen. Er will das Gefühl haben, daß wirklich Entscheidendes getan wird.67
Der gewerkschaftliche Standpunkt lag damit nicht im grundsätzlichen Widerspruch zu dem der Berufsgenossenschaft und der Unternehmer. Tatsächlich wurde das akute 64 65 66 67
Kohlenstaubbekämpfung durch Stoßtränke-Verfahren, in: Die Bergbauindustrie, 15. April 1949. Kameraden schreiben uns an, in: Die Bergbauindustrie, 31. Mai 1949. Krankenhaus Bergmannsheil in Bochum, in: Die Bergbauindustrie, 30. Juni 1949. Wirksame Steinstaubbekämpfung, in: Die Bergbauindustrie, 15. Juli 1949.
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und wachsende Problem der Silikose in deren Kreisen keineswegs geleugnet. Auch aus Sicht der Versicherung handelte es sich um ein in erster Linie technisches Problem, das sich auch technisch lösen ließe. Alle Hoffnungen ruhten dabei auf dem wissenschaftlichen Erfindungsreichtum der Silikose-Experten. Sie sollten mit den Mitteln der Wissenschaft gegen die Silikose vorgehen. Die Veröffentlichungen der Berufsgenossenschaft in ihrer Zeitschrift Kompass beschränkte sich entsprechend im Wesentlichen auf Berichte über wissenschaftliche Veröffentlichungen und den Stand der Silikoseforschung.68 Eine zentrale Rolle nahm dabei das in Bochum neben dem Klinikum Bergmannsheil ansässige berufsgenossenschaftliche Silikose-Forschungsinstitut ein, das 1929 als kleine Versuchs- und Forschungsstelle gegründet und Ende der vierziger Jahre stark ausgebaut wurde und nach dem Willen der Bergbau-Berufsgenossenschaft der führende Akteur bei der Erforschung der Krankheit werden sollte. Die Debatte über die Staublunge gewann bereits ab 1949 auch außerhalb des gewerkschaftlichen Milieus immer mehr Raum im öffentlichen Diskurs. In der zunehmenden Berichterstattung der regionalen Presse über die Staublunge war dabei von einem „Kampf “ der Wissenschaft gegen die Krankheit und ihre Ursachen die Rede. Die Hauptakteure dieses Kampfes waren die Bergarbeiter als Betroffene und die wissenschaftlichen Experten und forschenden und behandelnden Ärzte. Ähnlich bellizistisch hatten sich bereits die Berichte der dreißiger Jahre gelesen, in denen etwa der „Kampf gegen den weißen Tod“ oder der „Kampf gegen den schleichenden Bergmannstod“ beschworen wurde, ganz gleich ob in gewerkschaftlichen Texten der frühen oder etwa in einer aufwendigen Reportage der Westfälischen Landeszeitung aus der NS-Zeit der späten dreißiger Jahre.69 Anlass zur größeren medialen Aufmerksamkeit gaben unter anderem öffentlichkeitswirksam vorgestellte neue betriebliche Maßnahmen auf großen Zechen im Ruhrgebiet sowie die Eröffnung neuer Institute, in denen die Krankheit und ihre Verhütung nun wissenschaftlich erforscht werden sollten. Ein prominentes Beispiel war das vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaft in Bonn 1951 gegründete „Staubforschungsinstitut“, das mit modernster technischer Ausstattung aufwartete.70 Doch auch aus der Masse der Bergarbeiterschaft herausragender Erfindungsgeist fand Eingang in die entsprechende Berichterstattung. Im Sommer 1949 wusste die Neue Ruhr-Zeitung zu berichten, dass das „Problem der Silikosebekämpfung“ durch eine Erfindung des Moerser Fahrsteigers Anton Löbbert gelöst worden sei. Die Vorzüge der von ihm entwickelte Bohrstaubhaube, die den beim maschinellen Bohren entstehenden Staub direkt am Bohrloch auffing, sei von seinen Kollegen bereits erkannt
Vgl. dazu beispielhaft: Aus der Arbeit des Silikose-Forschungsinstituts, in: Kompass 60/3 (1950), S. 37–39. 69 Aus dem Ruhrgebiet. Der Kampf gegen den „weißen Tod“ im Bergbau, in: Die Bergbau-Industrie, 28. März 1931; Kampf dem schleichenden Bergmannstod, in: Westfälische Landeszeitung, 17. Januar 1939. 70 Unsichtbarer Staub bedroht Leben und Arbeitskraft, in: General-Anzeiger, 31. Februar 1951. 68
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worden. Luftdicht abgeschlossen könne der aufgefangene Staub einfach entsorgt werden.71 So leicht schien der Kampf gegen den „unsichtbaren Feind“72 aber dann doch nicht gewonnen. Im selben Jahr spekulierte die Neue Ruhr-Zeitung mit dem Untertitel „Die Wissenschaft im Kampf gegen die Silikose“ über den Einsatz von gerade in den Vereinigten Staaten erprobten Ultraschallwellen, die im Bergbau eine neue Aufgabe finden könnten: […] die Reinigung staubgesättigter Luft! Zeit seines Lebens ist der Bergmann gezwungen, Steinstaub einzuatmen, der sich in seinen Lungen absetzt, bis dicke, schwielige Gewebeschichten den Atemraum einengen und der Arzt die berüchtigte Steinhauerlunge feststellt. Gegen diesen tückischen Feind des Hauers vor Ort hofft man ebenfalls mit Hilfe des Ultraschalls vorgehen zu können.73
Um dem „heimtückischen Feind“ beizukommen, müssten Ingenieure neuartige Technologien entwickeln und rasch praxistauglich machen. So waren es vor allen Dingen einzelne Kapazitäten auf dem Gebiet der Silikoseforschung, Forschungsinstitute oder „die Wissenschaft“ im Allgemeinen, auf denen die Hoffnung ruhte, die Silikose zu „bannen“.74 Im Bochumer Anzeiger war davon zu lesen, dass die Wissenschaft der Silikose dank neuer, an der Universität Münster entwickelter Methoden zu Leibe rücke: Man versucht […], die früheren Versuche der Kanadier und von Prof. Jötten weiterzutreiben. Im Ruhrgebiet und im Siegerland hat man neuerdings ein geeignetes Gegenmittel, indem man Sucal-Puder einatmet. Ein Ergebnis dieser Versuche steht noch aus, der Erfolg läßt sich erst nach Jahren beurteilen.75
Wann ein entscheidender Sieg über die Silikose errungen werden könne, sei zwar noch nicht abzusehen; der Münsteraner Mediziner Karl Wilhelm Jötten sei aber überzeugt, dass es irgendwann gelinge. Für Ende November kündigte Jötten hierzu einen wissenschaftlichen Kongress mit ausländischen Gästen an. Alle paar Jahre fanden ab 1949 in Münster internationale Tagungen zum Thema Silikose statt. Doch es fanden sich auch rauere Töne im medienöffentlichen Raum. Im Frühjahr 1950 bezichtigte die kommunistische Neue Volks-Zeitung die „Vertreter der Ausbeuterklasse“, die Rentabilität des Betriebs über die Gesundheit der Bergarbeiter zu stellen. So weigerten die Betriebsleitungen sich, Wasserleitungen anzulegen und empfahlen den Bergleuten stattdessen, Staubmasken zu tragen. Dabei wisse der Betriebsrat längst, „daß eine Staubmaske keinen besonderen Schutz gegen den Staub“ biete.76 Der Bohr-
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Ein Ruhrbergmann bannt die Silikosegefahr, in: Neue Ruhr-Zeitung, 7. Juni 1949. Ebd. Nebelschwaden weichen dem Ultraschall, in: Neue Ruhr-Zeitung, 9. November 1949. Mancher hat „einen Stein in der Brust“, in: Bochumer Zeitung, 12. November 1949. Ebd. Kumpels von Hannover/Hannibal murren, in: Neue Volks-Zeitung, 24. März 1950.
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staub müsse vielmehr mit Wasser gebunden und niedergeschlagen werden. Die harsche Kritik verhallte nicht, sondern rief innerhalb der Bergarbeiterschaft auch Widerspruch hervor. Eine entsprechende Erwiderung kam aus Moers von einem anderen Bergmann, der um Abdruck seiner eigenen Meinung gebeten hatte.77 So sei der Vorschlag der Bochumer Kumpel zwar „sicherlich gut gemeint“, beruhe aber auf dem weit verbreiteten Irrtum, dass die Niederschlagung des sichtbaren Staubes die Gefahr der Silikose banne. Dies sei jedoch nicht der Fall: Die unsichtbaren gefährlichen Partikel ließen sich kaum mit Wasser binden wie in Bochum gefordert, das habe die Silikoseforschung bewiesen. Beim Hantieren mit den Wasserschläuchen werde man nur pudelnass und es nütze doch nichts. Die bessere Lösung sei es, den Staub mit Papiersäcken aufzufangen, wie im vorangegangenen Sommer mit der Erfindung Anton Löbberts in Oberhausen erfolgreich erprobt. Einig war man sich aber in einem: Die Gewerkschaft tue nicht genug, damit diese Innovationen schnell ihren Weg in die Zechen finden. Für die Industriegewerkschaft Bergbau ging es etwa zur selben Zeit, Ende 1949 und in der ersten Jahreshälfte 1950, noch ein letztes Mal um die Sozialversicherung als Ganzes. Die Neuordnung der bundesrepublikanischen Sozialversicherung war das Hauptthema der gewerkschaftlichen Anstrengungen sowie ihrer Pressearbeit. Hintergrund war das in Vorbereitung befindliche Gesetz über die Wiederherstellung der Selbstverwaltung, bei der die künftige Gestaltung der Selbstverwaltungsorgane in den Sozialversicherungsorganisationen zur Debatte stand. Die Industriegewerkschaft Bergbau und der Deutsche Gewerkschaftsbund beklagten einhellig, dass der bereits vor Gründung der Bundesrepublik entstandene Gesetzentwurf ohne gewerkschaftliche Mitwirkung entstanden sei und die Forderung einer Selbstverwaltung ausschließlich durch die Versicherten darin keine Berücksichtigung gefunden habe.78 Allerdings materialisierte sich aus dieser Kritik kein handfester Protest. Vielmehr gewann das Silikoseproblem, dessen Lösung aus Sicht der Gewerkschaften bislang in den Forderungen nach einer Verstaatlichung des Bergbaus unter Mitbestimmung der Bergarbeiterschaft eingepreist war, als eigenständiges Diskursfeld weiter an Profil. Im Sommer 1950 erschien in der Bergbauindustrie eine dreiteilige Artikelserie, die ganz dem Thema Silikose gewidmet war. Während bislang vor allem die technische Staubbekämpfung unter Tage im Mittelpunkt gestanden hatte, gingen die umfangreichen Artikel nun äußerst detailliert auf die Geschichte und die medizinischen Aspekte der Krankheit ein. Die Gewerkschaft signalisierte mit diesem Engagement ihren Anspruch, sich kompetent zur laufenden Forschungsdebatte über die noch unklaren Ursachen der Silikose,79 aber auch experimentelle medizinische Prophylaxen, von denen Der Kampf gegen den Steinstaub, in: Neue Volks-Zeitung, 14. April 1950. Selbstverwaltung oder Mitbestimmung in der Sozialversicherung, in: Die Bergbauindustrie, 25. Februar 1950. 79 Silikose und ihr Verhüten (I), in: Die Bergbauindustrie, 19. August 1950. 77 78
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sich Mediziner eine Schutzwirkung versprachen,80 äußern zu können. Zugleich leistete sie gegenüber ihren Lesern Informationsarbeit, indem sie über den berufsgenossenschaftlichen Versicherungsschutz aufklärte.81 Die zunehmende Berichterstattung über neuartige Technologien und Ideen, die Abhilfe gegen die Staublunge schaffen sollten, stießen aber auch auf offene Vorbehalte, solange die Krankheit weiterhin akut blieb. Ein prominentes Beispiel waren die Inhalationstherapien, von denen sich einige Mediziner eine therapeutische oder prophylaktische Wirkung erhofften, wenn nur das richtige Mittel angewendet würde. Hierüber hatte bereits im Herbst 1949 ein Bergmann in einem von der Neuen Volks-Zeitung veröffentlichten Brief gespottet: Gegen die Silikose kann sich der amerikanische Kumpel, so oft er Dollars hat, Aluminium oder Kalkstaub in den Hals blasen lassen. Man nennt das ‚Inhalieren‘. Es kostet einen Dollar. Gesund soll bis heute noch keiner davon geworden sein.82
Der bitter-ironische Unterton solcher Zuschriften, die gegen den anscheinend hilflosen Aktionismus in den Bergbaubetrieben gerichtet war, deutet auf die wahrgenommene Ratlosigkeit angesichts des verstärkt ins öffentliche Bewusstsein tretenden Silikoseproblems hin. Denn obwohl die Berichterstattung über die in den Bergwerken ergriffenen Maßnahmen um 1950 inzwischen bedeutenden Raum in der regionalen Presse einnahm, blieb eine Frage noch vollkommen im Dunkeln: Würden diese auch Früchte tragen? Es war bekannt, dass die Silikose nicht urplötzlich auftrat, sondern sich über mehrere Jahre entwickelte. Aus diesem Grund schwebte der Vorbehalt über diesen Maßnahmen, dass sie vielleicht doch nicht ausreichen könnten, um der Lage in Zukunft Herr zu werden. Denn bis Anfang der fünfziger Jahre vermeldete die Unfallversicherung jedes Jahr noch mehr Fälle als im Jahr zuvor. Jährlich wurden Tausende neue Rentenfälle anerkannt. Die Zahl der Verdachtsfälle überstieg diese Zahlen noch um ein Vielfaches. Da der sprunghafte Anstieg erst nach 1945, also wenige Jahre zuvor, sichtbar geworden war, schien die weitere Entwicklung noch vollkommen unvorhersehbar. Die Presseöffentlichkeit, die Ende der vierziger Jahre begann, vermehrt über die Staublunge zu berichten, war räumlich und lebensweltlich nah an den betroffenen Bergleuten. Zum einen handelte es sich um die gewerkschaftliche oder gewerkschaftsnahe Presse des Industrieverbands Bergbau und einige dem gewerkschaftlichen, sozialdemokratischen oder kommunistischen Milieu nahestehender Zeitungen. Für sie war die Staublunge das dramatischste Symptom des kapitalistischen Privateigentums im Steinkohlenbergbau zum Nachteil der dort beschäftigten Arbeiter. Dementsprechend war ihre Problematisierung in die politischen Forderungen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft eingewoben. Die Staublunge wurde ein politisches 80 81 82
Silikose und ihr Verhüten (II), in: Die Bergbauindustrie, 26. August 1950. Silikose und ihr Verhüten (III), in: Die Bergbauindustrie, 2. September 1950. Schafft Sicherungen gegen den Staub in den Gruben, in: Neue Volks-Zeitung, 15. Oktober 1949.
Die Wissenschaft rettet den Bergmann
Problem und Symbol, das eine politische Lösung erforderte. Um diese zu erreichen musste folgerichtig der Bergbau verstaatlicht und die Unfallversicherung in die Hände der Versicherten selbst gelegt werden. Im anderen deutschen Staat, der DDR, war beides formell geschehen. Der Bergbau war verstaatlicht und die Unfallversicherung schon unmittelbar nach 1945 zerschlagen worden und in einer Einheitsversicherung aufgegangen. Mit den schrittweisen Zugeständnissen in Form der Montanmitbestimmung, die im Montan-Mitbestimmungsgesetz von 1951 gipfelte, und schließlich der gesetzlichen Wiederherstellung der demokratischen Selbstverwaltung in der Unfallversicherung im selben Jahr, die den Versicherten in den Berufsgenossenschaften mehr Mitspracherechte verlieh als je zuvor, wurden die dahingehenden politischen Ambitionen des sozialdemokratisch geprägten Industrieverbands Bergbau schließlich weitgehend befriedigt. Zum anderen waren es hauptsächlich regionale Zeitungen, die sich jedoch darauf beschränkten, über technische und wissenschaftliche Neuerungen im Kampf gegen die Silikose zu berichteten. Die Hoffnung auf eine baldige Lösung des Silikoseproblems wurde dabei an die Wissenschaft – personifiziert durch wissenschaftliche Experten – delegiert. Aus Sicht oppositioneller linker Blätter handelte es sich dabei um „verlogene Propaganda“ der „bürgerlichen Presse“,83 schien der beschwichtigende, optimistische Tonfall doch dem Problem die Brisanz und damit das politische Gewicht abzusprechen. Zugleich lässt sich aber auch in den gewerkschaftsnahen Diskussionen beobachten, dass grundlegende Wissensfragen über die Staublunge – das heißt die mutmaßlichen Ursachen ihrer Vermehrung und die richtigen Mittel ihrer Bekämpfung – hier rasch aufgegriffen wurden, wohingegen die sozialistischen Verstaatlichungs- und Demokratisierungsforderungen nach 1950 an Nachdruck verloren und außerdem außerhalb der gewerkschaftlichen Presse kaum noch rezipiert wurden. 2.3
Die Wissenschaft rettet den Bergmann
Im Laufe der fünfziger Jahre verschärfte sich die Krisenwahrnehmung hinsichtlich der gesundheitlichen Lage der Bergarbeiterschaft deutlich. Im März 1954 berichtete die Neue Ruhr-Zeitung von einem erschreckenden Anstieg der Todeszahlen. So hätte die Silikose trotz aller betrieblichen Bemühungen der vergangenen Jahre und der Stärkung der Forschung immer weiter um sich gegriffen. Während seit 1943 jährlich dreimal so viele Bergarbeiter einer Staublunge statt eines Arbeitsunfalls erlägen, sei der Anteil der Silikose-Renten an der Gesamtlast der Unfallversicherung im Bergbau auf 60 Prozent geklettert, immerhin 138 Millionen DM allein 1953. Obwohl im Bergbau seit 35 Jahren versucht werde, den gefährlichen Staub einzudämmen und die Bergleute regelmäßig
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Silikose, Geißel des Bergmanns, in: Neues Volk, 31. Mai 1950.
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medizinisch untersucht würden, schienen die Zeichen immer noch schlecht zu stehen. Die laufenden Versuche mit prophylaktischen Inhalationsbehandlungen schienen ein hoffnungsvolles Mittel zu sein, aber ob sie sich bewähren würden, musste noch ungewiss bleiben.84 Der im Ausschuss für Staub- und Silikosebekämpfung beim Steinkohlenbergbauverein, dem Verband der Unternehmer, engagierte Direktor der Zeche Hannover-Hannibal, Fritz Lange, bestätigte die deutliche Skepsis: Die Zechen hätten immerhin 31 Millionen DM in die betriebliche Silikosebekämpfung investiert. Insgesamt sei damit jede Tonne Kohle mit 25 Pfennig Kosten belastet. Zwar würden seit nunmehr drei Jahren alle Bergleute regelmäßig ärztlich untersucht: Ein Allheilmittel gegen die Silikose wurde aber bis heute noch nicht gefunden. Jedoch geben dreijährige Versuche und praktische Erfahrungen in der Anwendung der Aerosolmethode Hoffnung, daß dies vielleicht der richtige Weg sei. […] Warum sollte es nicht gelingen, wird in Kreisen des Bergbaues heute gefragt, ein Medikament zu finden, mit dem man die Silikose schon im Keim erstickt?85
Die Suche nach dem „Wunderstoff “86 ging damit vorerst ergebnislos weiter; wie bei den früheren Inhalationsversuchen war deren Wirksamkeit stets umstritten. Trotz aller „bedeutender Fortschritte“ war das „graue Gespenst“ also noch immer nicht besiegt.87 Der Kampf gegen die Krankheit, so die einhellige Stimmung in den westdeutschen Zeitungen, war 1954 noch lange nicht gewonnen, ja hatte vielleicht gerade erst richtig begonnen.88 In den frühen fünfziger Jahren hatte sich damit auf ganzer Breite öffentlich das Narrativ weitgehend verfestigt, dass dieser Kampf eine vordringliche Aufgabe der Wissenschaftler sei. Aus „der Wissenschaft“ wurden dabei entsprechende Forscher-Helden herausgehoben, die mit der vermeintlichen Schicksalskrankheit der Bergleute an die Wurzel des Übels gingen, um die leidgeplagten Arbeiter von dieser „Geißel“ zu lösen. Traten die Helden der Wissenschaft im Modus des Forschens auf, harrten die Bergleute demgegenüber mal hoffend, mal verzweifelnd des großen Durchbruchs, der die Silikose entscheidend schlagen sollte – so der Grundtenor der medialen Debatten in den fünfziger Jahren, der die diskursiven Attribute der beiden wesentlichen Akteursgruppen vorzeichnete, denn auch das bergmännisch-eigensinnige Alltagswissen und -verhalten um die Gefahren der Silikose wurden ebenfalls zunehmend thematisiert. Die vermeintliche Passivität und Schicksalsergebenheit der leidenden Bergarbeiter wurden dabei problematisiert. Denn während die Technik helfe, weil „Ingenieure,
Verstärkte Silikosebekämpfung gefordert, in: Neue Ruhr-Zeitung, 5. März 1954. Verstärkter Kampf gegen die Bergmannsgeißel, in: Die Heimat am Mittag (Hattinger Zeitung), 31. März 1954. 86 Ebd. 87 Silikosebekämpfung mit vereinten Kräften, in: Westfälische Rundschau, 6. Mai 1954. 88 Kampf gegen Gesteinsstaub ist noch nicht gewonnen, in: Westdeutsche Allgemeine, 30. April 1955. 84 85
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Chemiker, Mediziner und Physiker Hand in Hand“ und aktiv den „Großangriff “ gegen die Silikose bewerkstelligten, komme es, wie ein Journalist im Jahr 1952 in der Gelsenkirchener Morgenpost formulierte, letztlich auch darauf an, dass sich die Bergleute richtig verhielten, zum Beispiel indem sie die richtige Atemtechnik sowie die vorhandenen Ausrüstungen und Gerätschaften gewissenhaft anwendeten, um sich selbst besser vor dem schädlichen Staub zu schützen, der sich trotz aller Anstrengungen der Betriebe und der Experten noch nicht vollständig verhindern oder bändigen lasse.89 Die Idee einer falschen Atemtechnik war mit Berichten über einen Ingenieur und „Bergbau-Fachmann“ in die Presse gelangt, der die Beobachtung gemacht hatte, dass die Sahara-Völker inmitten schädlichen Quarzstaubes lebten und doch silikosefrei blieben. Hierin schien eine Erklärung dafür zu liegen, dass manche Menschen sehr schnell, andere hingegen überhaupt nicht an einer Staublunge erkrankten. Wenn sie doch alle der gleichen belastenden Luft ausgesetzt waren, dann lag dies entweder an ihrer unterschiedlichen Veranlagung, oder aber daran, wie gut sie die „natürlichen“ Mittel ihres eigenen Körpers nutzten. Müsste man den Bergleuten also nur das richtige Luftholen nahebringen? Schließlich sei die Nase der natürliche Filter der menschlichen Atmungsorgane. Diese Ansicht vertrat auch ein ungenannter „Göttinger Gelehrter“, der mahnte, dass der Mund als „Eintrittspforte für schädlichen Staub“ versiegelt werden müsse. Um die falschen Atemgewohnheiten mancher Arbeiter zu überlisten, schlug er entsprechende Kautabletten vor, die ganz nebenbei den Effekt hätten, dass die Männer beim Kauen den Mund geschlossen hielten.90 Das Wissen um den Auslöser der Staublunge schien bei den Experten hinlänglich bekannt. Allein bei manchen Bergleuten schien es noch nicht angekommen zu sein, so der Duktus. Auch in anderen Berichten war davon zu lesen, dass die Silikose „für den Bergmann kein unabwendbares Schicksal“ mehr sei,91 dem sich die Arbeiter fatalistisch ergeben sollten. Es erschien deshalb folgerichtig, mehr Aufmerksamkeit auf die bisherigen technischen Erfindungen zu lenken, deren Wirksamkeit allerdings von ihrer systematischen und konsequenten Anwendung auf den Zechen abhängig war. Anlässlich einer der zahlreichen in den fünfziger Jahren durchgeführten Arbeitsschutz-Ausstellungen, deren Zweck nach den Worten des Direktors die Stärkung des „Abwehrwillens der Bergleute“ war, hieß es, dass die Unternehmen ihren Teil zur Bekämpfung der Krankheit täten, indem sie Schutzgeräte zur Verfügung stellten und technische Staubbekämpfung betrieben, dass nun aber auch die „Mitaktivität der Bergleute verlang[t]“ werden müsse. Denn:
Gelsenkirchener Zechen planen Großangriff gegen die Silikose, in: Gelsenkirchener Morgenpost, 20.01 1952. 90 Der Mund ist nur beim Sprechen zu öffnen!, in: Abendpost, 3. Oktober 1953. 91 MBV leistet Pionierarbeit im Kampf gegen die Silikose, in: Mühlheimer Tageblatt, 15. Mai 1956. 89
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Niemand braucht der Silikosegefahr zu erliegen, wenn er verantwortungsbewußt die Mittel verwendet, die ihm zur Verfügung stehen.92
Auf den Punkt brachte die Auffassung, dass das Problem zuvorderst bei den Gefährdeten und ihrem Verhalten selbst anzupacken sei, ein ausführlicher Bericht des Handelsblatts über einen wissenschaftlichen Kongress zu Fragen des Arbeitsschutzes 1957. Unter dem Titel „Nicht die Technik, der Mensch ist schuld“ wurde das Fehlverhalten von Arbeitern besonders deutlich in den Mittelpunkt des betrieblichen Gesundheitsschutzes gerückt. Die niedrigeren Unfallzahlen kurz vor den Weihnachtsfeiertagen seien allein Indiz dafür, dass sich die Arbeiter dann zusammennähmen, sprich, großen Einfluss auf ihre persönliche Gesundheit hätten; immerhin sei menschliches Fehlverhalten für weit über die Hälfte der Unfälle verantwortlich. Doch auch im großen Ganzen sei eine verstärkte Erziehung der Arbeitnehmer angezeigt, um positiven Einfluss auf die Unfall- und Krankenziffern zu nehmen: Je härter die Arbeitsanforderungen sind, um so eher neigt der Arbeiter dazu, seinen erhöhten Sauerstoffbedarf durch eine hastige Mundatmung zu decken, um so größer ist demzufolge die Gefahr, daß riesige Staubmengen in den Organismus gelangen und dort verhängnisvolle, krankhafte Veränderungen hervorrufen.93
Doch dagegen gebe es nun ein Mittel: Die Probe aufs Exempel wurde in einer Zeche in Westfalen gemacht, wo täglich an eine große Zahl schwer arbeitender Bergleute je zwei dieser Kautabletten ausgegeben wurden. Der Erfolg entsprach vollkommen den Erwartungen. Es wurde nicht nur ein ständiger Mundverschluß bewirkt, sondern gleichzeitig auch das lästige Durstgefühl herabgesetzt. […] Es wäre falsch, „menschliches Versagen“ als schicksalsbedingte unabänderliche Ursache hinzunehmen. Freiwillige Mitarbeit an den Aufgaben des Arbeitsschutzes und der Grundsatz der Selbstverwaltung sind wirksamer als staatlicher Zwang.94
Die Annahmen über den körpereigenen Staubfilter fußten auf einem wissenschaftsförmigen Fundament, das bereits einige Jahre zuvor in die Presse kolportiert worden war. Die Neue Ruhr-Zeitung hatte zunächst über einen Forscher und ausgewiesenen Bergbauexperten namens Isajiw berichtet, der zum Advokaten der natürlichen Filterwirkung der Nase avancierte, und der „Eisenoxyd“ als „Schutzstaub“ empfahl. Die Bergleute des Ruhrgebiets sollten flächendeckend damit „beatmet“ werden, um sie gegen die Silikose resistent zu machen. Auch seine Thesen fußten auf empirischen Beobachtungen über Menschen in den Sandwüsten der Sahara:
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Ebd. Der Mund ist nur beim Sprechen zu öffnen!, in: Abendpost, 3. Oktober 1953. Nicht die Technik, der Mensch ist schuld, in: Handelsblatt, 19. Oktober 1957.
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Es ist eine vielumrätselte Tatsache, daß alle Wüstenvölker, deren Umwelt ja aus silikotischem Quarzsand besteht, die Silikose überhaupt nicht kennen. Könnte dieses Phänomen nicht auch dem Bergbau Hinweise geben? […] Im übrigen hat man im täglichen Leben festgestellt, daß die Silikoseerkrankung bei verschiedenen Personen verschieden verläuft; einer erkrankt bereits nach fünf Jahren, der andere aber erst nach zwanzig Jahren oder überhaupt nicht.95
Die einzige Erklärung dafür könne sein, dass der Gesteinsstaub der Wüste gar nicht erst in die Lungen der Wüstenvölker gelangte – und das wiederum könne, so die These Isajiws, nur darauf zurückgeführt werden, dass sie die richtige Atemtechnik anwendeten. Es würde ihnen gar nicht einfallen, bei einem Wüstensturm durch den Mund zu atmen, sondern stattdessen durch den natürlichen Staubfilter Nase. Im deutschen Bergbau würde dieser Aspekt aber vollkommen vernachlässigt: Man kann oft Bergleute mit offenem Mund atmen sehen oder sie bei der Arbeit erzählen, pfeifen, schreien und singen hören; das rächt sich bitter!96
Zwar sei der Saharasand inzwischen von französischen Forschern eingehend untersucht worden. Tatsächlich dringe er doch in die Lungen der Menschen in der Wüste ein, aber die Analyse der Zusammensetzung der Staubkörner habe ergeben, dass er zu bis zu 4,6 Prozent Eisenoxyd enthalte. Außerdem seien die Körner im Vergleich zu denen, die beim Bohren unter Tage entstünden, nicht scharfkantig und deswegen weniger silikoserregend. Das Eisenoxyd neutralisiere zusätzlich das Siliziumdioxyd und entfalte dadurch eine weitere Schutzwirkung. Doch an der Filterwirkung der Nase sei trotz dieser Ergebnisse nicht zu zweifeln. Andere Studien zeigten nämlich, dass sie „ein idealer zyklonartiger Entstauber“ sei.97 Konnten sich die Betriebe jedoch nicht darauf verlassen, dass sich die Bergarbeiter so verhielten, wie man es von ihnen verlangte, dann war es wieder an der Wissenschaft, die menschlichen Schwächen zu kompensieren: Staubmasken und Filtergeräte erschienen stets als eine günstige Möglichkeit, individuellen Staubschutz zu gewährleisten. Doch die technischen Hürden erwiesen sich als höher als anfangs antizipiert, weil die bisher vorhandenen Staubmasken nicht den Ansprüchen genügten, die der bergmännische Arbeitsalltag und der feingängige Staub an sie stellten, wie ein Journalist 1956 in der Westfälischen Rundschau urteilte: Trotz fieberhafter Anstrengung hat die Wissenschaft tatsächlich bisher noch kein hundertprozentiges Mittel gegen die Geißel des Bergbaus, die Steinstaublunge, entdeckt. Weder um sie zu verhüten, noch um sie zu heilen. In zahlreichen Forschungslabors sitzen Wissen-
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Atemtechnik vor Ort schützt Bergmann vor Silikose, in: Neue Ruhr-Zeitung, 24. August 1953. Ebd. Ebd.
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schaftler über Mikroskopen und Staubproben gebeugt und suchen nach Wegen im Kampf gegen die Silikose.98
Artikel wie diese, die technische Neuerungen dokumentierten und damit Erlösungshoffnungen zu befeuern versuchten, erschienen jedes Jahr, und noch immer schien die Silikose nicht besiegt. Detaillierte mediale Berichte über die technologischen Neuerungen der Staub- und Silikosebekämpfung Gegenstand bildeten einen wichtigen Diskursstrang, der sich durch den gesamten Untersuchungszeitraum zieht. Ihnen allen zu eigen war der hoffnungsvolle Bezug auf eine mittelfristige Zukunft, in der die neuartigen Methoden ihre Wirkung voll entfalten würden. Auf der anderen Seite kristallisierte sich Mitte der fünfziger Jahre ein weiterer Diskursstrang heraus, bei dem der Bergmann als Opfer im Mittelpunkt stand, das zwischen den gesundheitlichen Risiken seiner Arbeit und den hohen Mauern der Sozialversicherungsbürokratie aufgerieben wurde. Die Deutsche Woche nutzte das Schicksal des Bergmanns „Helmut“ als Aufhänger für ihre Berichterstattung und beschrieb es im Jahr 1956 als eines von vielen, welches sich gerade immer wieder und ganz alltäglich im Ruhrgebiet abspiele: Helmut schlug auch gut an, er machte seine Hauerprüfung und wollte Steiger werden. Auf der Bergvorschule war er bereits. Doch sein Gesundheitszustand änderte sich in den letzten Monaten in auffallender Weise. Der Knappschaftsarzt schickte ihn zur Untersuchungsstation, und dort stellte man nach eingehender Untersuchung und Beobachtung fest, daß er eine Steinstaublunge im Entwicklungsstadium, als eine Silikose 1. Grades habe. Man schlug einen Arbeitsplatzwechsel vor und befürwortete den Bergmannsversorgungsschein. Helmut war aus allen Wolken gefallen. Das hatte er nicht erwartet. Der Arbeitsplatzwechsel im Bergbau klappte nicht, weil die finanzielle Einbuße zu groß war und weiter alle Pläne mit der Bergschule über den Haufen geworfen wurden. Auf den Bergmannsversorgungsschein verzichtete er, denn der habe ja doch keinen Zweck. Es handelt sich hier leider nicht um einen Ausnahmefall, sondern um ein Musterbeispiel von Tausenden von Fällen, besonders im Ruhrbergbau. Damit werden, blitzlichtartig, die tieferen Gründe angestrahlt, weshalb die Belegschaftszahlen im Ruhrbergbau trotz aller Anstrengungen immer weiter zurückgehen und weshalb der Großteil der Neubergleute nicht seßhaft wird, im Laufe der Zeit dem Bergbau den Rücken kehrt und sich anderen Berufen zuwendet.99
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Staubschutzatmer soll die Silikose besiegen, in: Westfälische Rundschau, 16. August 1956. Silikose-Gefahr wird ständig größer, in: Die Deutsche Woche, 28. April 1956.
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Indessen erhoben sich aus den Reihen der Betroffenen selbst Stimmen, die die Silikose als kollektives Unrecht an ihnen und der Bergarbeiterschaft insgesamt brandmarkten. Im Laufe der fünfziger Jahre hatten sich erste Interessengemeinschaften gegründet, die sich ab Mitte des Jahrzehnts zunehmend Gehör in der Öffentlichkeit zu verschaffen suchten, um der Sicht vor allem der Bergbau-Berufsgenossenschaft und der Bergbaubetriebe Widerspruch entgegenzuhalten. Die meiste Aufmerksamkeit konnte dabei ein von einem arbeitslosen Bergmann 1950 in Gelsenkirchen gegründeter kleiner Verein auf sich ziehen, der sich unter dem Namen „Bund Silikoseerkrankter, -rentner und ihrer Hinterbliebenen“ (Silikose-Bund) auf die Fahnen geschrieben hatte, für die Rechte und Ansprüche der Betroffenen einzutreten. Erklärter Zweck war es, die Interessen der Vereinsmitglieder gegenüber dem Gesetzgeber, der öffentlichen Verwaltung sowie der Wirtschaft zu vertreten. Das Verhältnis zur Industriegewerkschaft Bergbau war dabei von Anfang an merklich unterkühlt. So zeigte man auf Seiten der Gewerkschaft unter Verweis auf die gewerkschaftliche Rechtsberatung kein Verständnis dafür, dass ein solcher Verein neben der organisierten Interessenvertretung überhaupt eine eigene Daseinsberichtigung habe, und strafte ihn mit weitgehender Nichtbeachtung; Gewerkschaftsmitgliedern wurde sogar vom Vereinseintritt abgeraten.100 Das Silikoseproblem blieb auch nach den gesetzlichen Regelungen der frühen fünfziger Jahre im politischen Diskurs präsent. So kulminierte die zunehmende Problemund Krisenwahrnehmung der Staublunge im Bergbau in einer Debatte im nordrheinwestfälischen Landtag. Die Fraktionen diskutierten am 7. Juni 1955 auf Antrag der SPD die Anfertigung einer „Denkschrift“,101 die einerseits das Ausmaß sowie die bisher aufgebrachten Präventions- und Entschädigungsleistungen dokumentieren sowie nach den Worten des Antragstellers Heinrich Jochem vor allem aber auch das Bewusstsein für die soziale Bedeutung der Silikose stärken sollte. Im Duktus parlamentarischer Debatten wurde deren Virulenz zunächst vor allem in nackten Zahlen begründet; diese zeugten in den Augen der Abgeordneten vor allem von einem besorgniserregenden Trend, der seit den dreißiger Jahren anhielt: So war die Zahl der gemeldeten Berufskrankheiten seither immer weiter gestiegen, wobei die Silikose einen überwältigenden Anteil an diesem Anstieg hatte. Allein zwischen 1938 und 1953 habe sich, so der SPDAbgeordnete Jochem in der Begründung des Antrags, diese Zahl verfünffacht, für die Staublunge allein gerechnet fast versechsfacht. Die vor Augen stehenden Statistiken waren ungeachtet aller Bemühungen besorgniserregend und die weitere Entwicklung in den kommenden Jahren war ungewiss (vgl. Abbildung 1).
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AfsB 19081, Bund Silikoseerkrankter, gefährdeter und deren Hinterbliebener e. V. Landtag NRW, 3. WP, 21. Sitzung am 7. Juni 1955, Bd. 1, S. 664 ff.
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Abb. 1 Zeitgenössische Darstellung der Entwicklung der Silikosefälle 1948 bis 1954. Quelle: Unfälle und Berufskrankheiten im 2. Halbjahr 1954, in: Kompass 65/4 (1955), S. 37–41, hier S. 39.
Die Daten, die nun durch eine eigene Studie erhoben werden sollten, sollten erstens die Entwicklung der Silikose seit ihrer versicherungsrechtlichen Anerkennung 1929 umfassen; zweitens die jährlichen Aufwendungen für die Erkrankten erfassen; drittens die Höhe der seit 1949 für Forschung und Prävention aufgebrachten Mittel ermitteln; viertens die von den Betrieben selbst aufgewendeten Mittel und deren Kosten für den Bergbau eruieren; fünftens die aus finanziellen Gründen nicht zur Anwendung gebrachten Verhütungs- und Bekämpfungsmittel erfassen; und sechstens „die wahrscheinlichen Auswirkungen der Silikose auf den Nachwuchs und den Leistungseffekt des Bergbaus“ kalkulieren.102 Inzwischen, hieß es in der Antragsbegründung, überstieg die Zahl der Silikosetoten die Anzahl der tödlichen Arbeitsunfälle jährlich um das Dreifache. Aus den fast 60.000 laufenden Silikose-Rentenfällen ergaben sich neben den sozialen Kosten nicht zuletzt auch handfeste finanzielle Belastungen für die gesamte Unfallversicherung. Wie aber könnte eine politische Intervention Abhilfe verschaffen? Heinrich Jochem und seine Genossen gaben sich überzeugt, dass die wichtigste Frage sei, ob die Entwicklung dieser „tückischen Krankheit“ aufgehalten werden könne, und dass es
102 16/2493, Kurzbericht über einige neuere Arbeiten der Unterausschüsse und der Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung, 27.11.1956.
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möglich sein müßte, sie durch irgendwelche Maßnahmen, die zu treffen wären und die wirksamer sind als die bisher durchgeführten, mindestens einzudämmen. Die Meinungen über die Möglichkeiten der Verhütung und der Bekämpfung gehen im Bergbau selbst weit auseinander. Das ist aber nicht nur im Bergbau der Fall, sondern auch bei den Medizinern und bei den Forschungsstellen. Alle sind sich aber darüber einig, daß wir eine größere Systematik in der Verhütung durchführen müssen, und daß dadurch mindestens eine Eindämmung dieser Krankheit erfolgen könnte.
Hier seien nun die Sachkenner gefragt, um sich um diese „rein mechanische Angelegenheit“, also die Beseitigung des schädlichen Staubes unter Tage, zu kümmern, damit Bergleute in Zukunft von dieser Krankheit verschont blieben. Diese Versachlichung der gesundheitlichen Krise der Bergarbeiterschaft vermied es, die Silikose im Parlament zu einem spaltenden Politikum zu machen. In der Landtagsdebatte offenbarte sich vielmehr ein fraktionsübergreifender Konsens zwischen der Regierungskoalition aus CDU, FDP und Zentrum und der sozialdemokratischen Opposition. Dieser wurde gewiss dadurch erleichtert, dass mit der vorgeschlagenen Denkschrift weder für die Landesregierung noch den Steinkohlenbergbau größere finanzielle Belastungen oder langfristige Verpflichtungen erwuchsen. Der Diskurs über das Leid der Bergleute wurde von allen Teilnehmern der Landtagsdebatte getragen. Der Schrecken früher Invalidität und des vorzeitigen Todes konnte unmöglich gutgeheißen, allenfalls geleugnet werden. Doch dazu sah sich im nordrhein-westfälischen Landtag niemand im Stande. Die Politik sei gerade auch für diese Menschen verantwortlich, die „ihr Bestes für das Funktionieren unseres Wirtschaftslebens hergeben“103 (Heinrich Peterburs, Zentrum). FDP-Wirtschafts- und Verkehrsminister Peter Middelhauve bekräftigte seine tiefe Anteilnahme angesichts der „erschütternde[n] Zahlenbilanz“. Gegen die „Seuche“, als welche die Silikose mit Recht bezeichnet wurde, bemühe sich die Wissenschaft mit allen Kräften. Der Staat könne immerhin mit einer verstärkten Aufsicht seinen Teil tun. Die Hoffnung ruhte aber weiterhin auf „anerkannte[n] Wissenschaftler[n] von Rang und Ruf, die Spezialisten auf dem Gebiet der Silikoseforschung“ seien. Mit der breiten parlamentarischen Aussprache über die schweren gesundheitlichen wie gesellschaftlichen Folgen des Bergbaus auf Kosten seiner Arbeiter, also mit ihrem breitenwirksamen Eingang in den öffentlichen politischen Diskurs aller Parteien in Nordrhein-Westfalen, scheint die soziale Visibilität der Staublunge der Bergleute Mitte der fünfziger Jahre ihren dramatischen Höhepunkt erreicht zu haben. Trotz der gegenüber den Betroffenen empathischen Antragsdebatte zog die hieraus resultierende und 1956 veröffentlichte Denkschrift ein alles in allem optimistisches Resümee, denn auch wenn die Kosten für die Sozialversicherung unverkennbar hoch seien, so wären in den zurückliegenden Jahren doch auch bedeutende Fortschritte beim Ausbau der
103
Landtag NRW, 3. WP, 21. Sitzung am 7. Juni 1955, Bd. 1, S. 668.
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Präventionsmaßnahmen erzielt worden. Zahlreiche statistische Daten, die der Steinkohlenbergbauverein als Verband über seine Bergbaubetriebe zusammengetragen hatte, erschienen als Beleg dafür.104 Weit nachhaltiger schien dagegen der Imageschaden für den Bergbau selbst, denn „bei der Anwerbung der erwachsenen Bergarbeiter wird von den Angesprochenen vielfach die Silikose, die durch die Presse und Rundfunk auch außerhalb der Bergbaugebiete bekannt ist, als Grund für die Ablehnung der Arbeitsaufnahme im Bergbau angegeben.“105 Selbst traditionelle Bergarbeiterfamilien rieten ihren Söhnen von der Arbeit auf der Zeche ab und diese Zurückhaltung färbe schließlich auch auf deren Mitschüler ab. Weil die „wissenschaftlichen Grundlagen der Silikosentstehung“ immer noch unsicher seien, komme es künftig auf eine funktionierende ärztliche Aufsicht an, um die Bergleute vor Schäden zu schützen und der Krankheit endgültig Einhalt zu gebieten.106 Ungeachtet der vorsichtigen Signale der Beruhigung, die die NRW-Denkschrift 1956 ausstrahlte, blieb die Frage offen, ob die Silikose sich bereits auf dem Rückzug befinde und die ergriffenen Maßnahmen zu ihre Regulierung damit bereits die Früchte zukünftiger Arbeit trügen – oder ob die immer noch hohe Zahl der gemeldeten Neuerkrankungen nicht vielmehr ein weiteres Alarmsignal seien, dass eben noch mehr – betrieblich wie wissenschaftlich – unternommen werden müsse. Die Denkschrift signalisierte der Öffentlichkeit jedoch, dass der Höhepunkt 1953 erreicht worden war und die „Silikose-Kurve“ seither nach unten weise, was nach Aussagen der Fachleute zu „gedämpfte[m] Optimismus“ berechtige.107 Die Bergbauunternehmen hätten in den zurückliegenden Jahren keine Kosten gescheut, die Staubbekämpfung zu intensivieren. Was nun noch bliebe, seien die hohen Belastungen durch die Renten für bereits erkrankte Bergleute und die „Furcht vor der Silikose“, die dazu beitrage, dass schon angelernte und völlig gesunde Arbeitskräfte dem Bergbau den Rücken kehrten.108 Auch die Bergbau-Berufsgenossenschaft nahm die Ergebnisse zum Anlass zu vermelden, dass der deutliche Rückgang der gemeldeten Silikosefälle sicheren Anhalt dafür gebe, dass „die Silikose im Bergbau ihren Höhepunkt überschritten haben dürfte“.109 Dem widersprachen jedoch die Mitglieder des Silikose-Bundes auf einer Versammlung in Palenberg, zu der auch Pressevertreter geladen waren: Die sinkende Zahl sei vielmehr dadurch zu erklären, dass die Berufsgenossenschaft so viele Anträge auf eine Berufskrankheiten-Rente ablehne. Die tatsächliche Zahl der Erkrankungen habe sogar zugenommen. Der Silikose-Bund stemmte sich damit gegen die Deutung, dass das ProMinister für Wirtschaft und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen 1956. Ebd., S. 50. Ebd., S. 56. Kapitel 5 wird die Sicht der Bergarbeiterfamilien auf die Krankheit näher in den Blick nehmen. 107 Silikose-Kurve sinkt stetig, in: Westdeutsche Allgemeine, 14. November 1956. 108 Staub gefährlicher als Verkehr, in: Frankfurter Rundschau, 23. November 1956. 109 Die Entwicklung der Unfälle und der Berufskrankheiten im Bergbau im Jahre 1956, in: Kompass 66/4/5 (1956), S. 47–51, hier S. 51. 104 105 106
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blem der Lungenkrankheit weitgehend gelöst und sein völliger Abschluss nur noch eine Frage der Zeit sei. Die Vertretung griff also in den Deutungskampf ein, der seit 1954 schwelte und mit jeder veröffentlichten Statistik wieder aufflammte. Der Bundesvorsitzende Karl Vogt äußerte sich bei der Gelegenheit auch zum schwierigen Verhältnis zur Industriegewerkschaft Bergbau: Er wandte sich nochmals gegen die irrige Meinung der IG Bergbau, daß der Bund Gegner der IG sei. Im Gegenteil: Alle Mitglieder des Bundes seien auch Mitglieder der IG. Sie wollten keinen Kampf untereinander haben. Während die IG sich stark für das Wohlergehen in den Betrieben einsetze, führte der Bund einen schweren Kampf mit der Bergbauberufsgenossenschaft. Da der gesamte Vorstand des Bundes sich aus Silikosekranken zusammensetzt, kenne er auch die Leiden der Kranken. Zu der Ablehnung von Anträgen durch die Bergbau-Berufsgenossenschaft sagte er noch, daß selbst Anträge mit Gutachten des Hauptgutachters, Professor Parrisius, abgelehnt worden seien. Nach der Obduktion von Verstorbenen hätte sich vielfach die Silikose als Todesursache herausgestellt. Man wolle sogar die Silikose nicht mehr als Berufskrankheit anerkennen.110
Es kristallisierten sich also in der Mitte der fünfziger Jahre zwei unterschiedliche, ja gegensätzliche Repräsentationen der Silikose in der Bundesrepublik heraus: Auf der einen Seite erschien sie als ein wirtschaftliches, soziales und moralisches Problem, dessen Prävalenz sich in den jährlichen Statistiken des Bergbaus sowie der Unfallversicherung niederschlug und sich auch daran messen ließ. In der medialen Debatte zeichnet sich deutlich ab, wie solche Statistiken als politisches Argument um 1956 an Bedeutung gewannen. Auf der anderen Seite standen die individuellen Schicksale der von der Krankheit direkt Betroffenen, die in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre auch aufgegriffen wurden. Hierin zeigte sich ungeachtet statistischer Erfolge, dass das soziale Sicherheits- und Versorgungsversprechen in der Praxis uneingelöst blieb. Beide Modi, in denen über die Silikose berichtet und diskutiert wurde, konnten auch Hand in Hand gehen, wie die Debatte im Düsseldorfer Landtag verdeutlichte. Etwaige Fragen der Verantwortung und Schuld blieben dabei aber außen vor. Selbst 1955, als trotz der ausgeweiteten betrieblichen Maßnahmen die Zahl der Silikoserentner noch beständig stieg, entfachte die „erschütternde Zahlenbilanz“ keinen öffentlichen Skandal mehr. Die Staublunge wurde im öffentlichen Diskurs vornehmlich als eine natürliche Begleiterscheinung der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung beschrieben, als rein mechanische Angelegenheit, der mit den entsprechenden Mitteln, also besserer Technik auf der Grundlage besseren Wissens, begegnet werden musste. Diese Aufgabe kam letztlich den wissenschaftlichen Experten zu. Auch hier wird ihre zugewiesene Rolle als aktiv Vermessende und Handelnde deutlich, während die Bergleute der „Seu-
110 Der Bund der Silikosekranken hat einen schweren Stand, in: Geilenkirchener Volkszeitung, 14. November 1956.
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che“ als passive Opfer ausgeliefert zu sein schienen. Herausragende Persönlichkeiten auf dem Gebiet der Silikoseforschung wurden derweil symbolträchtig für ihr Wirken geehrt, wie der langjährige Chefarzt des Bochumer Klinikums Augusta, Arthur Böhme, der im Mai 1953 für seine „Pionierleistungen“ seit den zwanziger Jahren das Große Verdienstkreuz des Landes Nordrhein-Westfalen verliehen bekam.111 Gerade die Mediziner stachen also als Hoffnungsträger heraus, gleichwohl sie gegen die Erkrankung selbst weitgehend machtlos blieben. Die besondere Stellung der Bergarbeiter bemaß sich indes an ihrer überdurchschnittlichen Exposition gegenüber ihren beruflichen Gefahren, die es zu überwinden galt. Vor allem an Hand der Mitte der fünfziger Jahre immer häufiger in der medialen Berichterstattung auftauchenden „Lebenserwartung“ der Bergleute zeigt sich exemplarisch,112 dass das politische Ziel sein müsse, ihre Lebensspanne an den gesellschaftlichen Durchschnitt anzugleichen und den bergmännischen Exzeptionalismus damit zu überwinden. Der Bergmann schien den Gefahren seiner Arbeit aber augenscheinlich machtlos gegenüberzustehen. Wie der Fokus auf technische und wissenschaftliche Fortschritte und die Bedeutung der medizinischen Überwachung eindrücklich zeigen, schlug unzweifelhaft die Stunde der Experten. Als Beleg dafür, dass dieser Prozess der Normalisierung der Bergarbeiterschaft gegenüber der Gesamtgesellschaft bereits im Gange sei, diente etwa das durchschnittliche Sterbealter der Bergleute, das zeige, dass auch der Kumpel in den Genuss der Altersrente kommen könne: Auf Grund der nach unten weisenden Zahl der Neuerkrankungen, dem stetig steigenden (Berufs-) Alter der Neuerkrankten, und dem wachsenden Sterbealter nicht nur aller Bergleute, sondern vor allem auch derer, die bereits an Silikose litten, sah die Bergbau-Berufsgenossenschaft das Silikose-Problem 1957 schon im Wesentlichen als gelöst an.113 Der Umstand, dass ein Bergarbeiter sogar mit einer Staublunge, die ihn generell zur Aufgabe seiner Arbeit zwang, ein normales Lebensalter erreichen konnte, galt ihr als wichtigster Indikator dafür, dass die Silikose nun endgültig Geschichte war. Berichte über die Annäherung der Lebenserwartung von Bergarbeitern und „normalen“ Leuten waren ab Mitte der fünfziger Jahre in der medialen Berichterstattung über die Staublunge omnipräsent. Im Vorgriff darauf, dass die nach unten weisenden Graphen der jährlichen Neuerkrankungen früher oder später null erreichen müssten, wurden in den darauffolgenden Jahren immer wieder neue Siegesnachrichten über die gefürchtete Krankheit gemeldet:
111 Großes Verdienstkreuz ehrt Bochumer Arzt. Vom Landesarbeitsminister an Prof. Dr. Böhme überreicht – Pionierleistung in Silikoseforschung, in: Bochumer Anzeiger, 23. Mai 1953. 112 Vgl. dazu beispielsweise Forderung: verstärkte Staubbekämpfung, in: Westdeutsche Allgemeine, 7. November 1957. 113 Statistisches über die Silikose im Bergbau der Bundesrepublik, in: Kompass 67/3 (1957), S. 29–34.
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Bei allen Sorgen an der Ruhr gibt es eine erfreuliche Nachricht: Der Erbfeind Nr. 1 des Bergmannes, die Silikose, dürfte zur Strecke gebracht sein. Kaum eine Jubilarehrung in diesen Wochen vergeht, auf der nicht mitgeteilt wird, daß die gefürchtete Bergmannskrankheit heute kaum noch ein Problem ist. Die Entwicklung hat bisher zuversichtlichen Feststellungen rechtgegeben, die vielleicht noch vor 20 Jahren als schlechter oder makabrer Scherz gekennzeichnet worden wären. […] Nach Ansicht der [Bergbau-Berufsgenossenschaft, D. T.] ist der Erfolg vor allem der strengen Beachtung der Schutzvortschriften zuzuschreiben. Die Auswirkungen lassen sich bereits jetzt erkennen: das durchschnittliche Sterbealter der Kumpel hat sich auf 63 Jahre erhöht!114
Dem entsprechenden Normalisierungsdiskurs der Genossenschaftsvertreter, der sich auf die positiven Ausblicke stützte, die die Statistiken der Sozialversicherung suggerierten, wollten sich die Gewerkschaften nicht im gleichen Umfang anschließen. Dennoch schlugen sie in dieselbe Kerbe, argumentierten auf Basis von Vergleichsdaten zwischen Bergleuten und dem Bevölkerungsdurchschnitt aber gerade gegen die verbreitete Behauptung, es sei bereits eine bedeutende Annäherung erzielt worden: Diese Gegenposition stützte dabei zugleich handfeste politische Forderung nach einer Andersbehandlung der Bergleute, weil es sich bei ihnen eben nicht um eine Berufsgruppe wie jede andere handle. Aus Gründen einer ausgleichenden Gerechtigkeit stehe den Bergleuten deshalb ein früherer Renteneintritt zu, weil ihre Arbeitskraft rascher verbraucht worden sei. Hierfür zogen die Gewerkschaftsexperten den Kenntnisstand medizinischer Statistiken zu Rate, um den Beweis im Sinne ihres politischen Standpunkts zu führen: Die Lungenfunktion beginne beim Bergmann zehn Jahre früher abzunehmen als bei der nicht-bergmännischen Bevölkerung; besonders deutlich zeige sich dieser Abfall im „schicksalhaften fünfte[n] Lebensjahrzehnt“ und führe häufig zu einer frühzeitigen Invalidität. Das belege eine Studie des Archivs für Gewerbehygiene.115 Das Ziel der Silikose-Experten, die „Staubkonzentrationen […] so weit herabzusetzen, daß zu Zeiten der menschlichen Lebenserwartung Silikosen nicht mehr entstehen“,116 war in dieser Lesart also noch keineswegs erreicht. Mit der kritischen Beobachtung des technischen und wissenschaftlichen Diskurses über die Silikose und ihre Bekämpfung wollte sich die Industriegewerkschaft Bergbau letztlich auch als kompetente Stimme in der Debatte profilieren. Gewerkschaftsvertreter beließen es nicht allein bei der Beobachtung des wissenschaftlichen Diskurses, sondern brachten sich auch selbst als Veranstalter von Tagungen ein. Vorstand Fritz Pott bekräftigte vor den 1959 auf Einladung erschienenen 1.000 Gästen, darunter auch Vertreter der Bundesregierung, der Bergämter und der 114 115 116
Bergbau besiegt die Silikose, in: Westfälische Nachrichten, 17. März 1960. Das schicksalhaft fünfte Lebensjahrzehnt, in: Die Bergbauindustrie, 11. Juli 1959. In Essen: Die Gesundheit ist unser höchstes Gut, in: Die Bergbauindustrie, 12. Dezember 1959.
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Versicherungsträger, dass die Gefahr der Silikose zu bändigen sei. Es müsse aber nur noch mehr Bewusstsein bei den Betrieben und den Bergarbeitern geschaffen und noch mehr getan werden.117 Die Verwirklichung sozialer Sicherheit war nicht mehr an eine neue Gesellschaftsordnung gebunden, sondern hatte sich in eine Frage der aufzubringenden sozialstaatlichen Ressourcen transformiert. Nicht nur die politischen Zielvorstellungen der unterschiedlichen Stakeholder im Steinkohlenbergbau waren damit weitgehend kongruent, sondern auch, wie diese Ziele umzusetzen seien. Reibungsflächen bot damit nur noch die Frage, ob genug und die richtigen Ressourcen aufgebracht würden, um für Arbeitssicherheit zu sorgen – und wie der bisherige Erfolg zu bewerten sei. Die Silikose-Statistiken suggerierten dabei weiterhin einen positiven Trend, denn „das durchschnittliche Lebensalter der von dieser heimtückischen Berufskrankheit befallenen Patienten“ hatte sich stetig erhöht.118 Jedoch entbrannten gerade um derartige Statistiken über das Sterbealter oder die Lebenserwartung, aber auch um die Statistiken der Unfallversicherung, also um die Erfolgsmesser der Silikoseregulierung, politische Deutungskämpfe. Denn das umfangreiche Zahlenmaterial bot, wie wir gesehen haben, ungeachtet des Entwicklungstrends unterschiedliche Lesarten: Während Berufsgenossenschaft und Unternehmen sich auf Grund der sinkenden Zahl neuer Rentenfälle in ihrem Kurs bestätigt sahen, konzentrierten sich die gewerkschaftlichen Gegenstimmen auf das schon existierende Heer jener, die als Erkrankte in der Bundesrepublik lebten, und das nicht zu beziffernde Leid, welches diese zu erdulden hätten. Schwere Bergwerksunglücke gaben diesem Diskurs zusätzlichen Auftrieb, weil sie die besondere Stellung des Bergbaus öffentlich in Erinnerung riefen. Im Jahr 1956 sorgte die schwere Bergwerks-Katastrophe in „Du Bois du Cazier“ in Frankreich weit über die Landesgrenzen hinweg für Aufsehen und warf ein Schlaglicht auf die tödlichen Gefahren des Bergbaus. Die öffentliche Schockwirkung und die gesellschaftliche Anteilnahme an solchen Unfallkatastrophen, bei denen viele Männer auf einmal starben oder verletzt wurden, versuchte die Industriegewerkschaft Bergbau für ihre politischen Forderungen argumentativ zu nutzen. 1956 ging es ihr dabei um Nachdruck für ihre Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung.119 Die Strapazen bergmännischer Arbeit, vor allem der Raubbau an ihrer Gesundheit und Lebenszeit, für die die spektakulären Massenunfälle symbolisch standen, gereichten dabei zum politischen Argument, weil sie die außergewöhnliche Natur der Bergarbeit zum Ausdruck brachten: Ausgerechnet der Bergmann, dem oft kein langes Leben vergönnt sei, habe die meisten Arbeitsstunden zu leisten. Es seien menschliche und soziale Argumente, die die Forderungen angesichts des „Menschenverschleißes“ bei inzwischen 1697 Silikosetoten und 738 tödlichen Unfällen im Jahr begründeten. Hinzu kämen die außeror117 118 119
Die Silikosegefahr ist zu bändigen, in: Ruhrnachrichten, 7. Dezember 1959. Ebd. Es geht um den Menschen, in: Die Bergbauindustrie 9/34 (1956).
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dentlichen Aufwendungen, die der Sozialversicherung allein aus der Versorgung und Behandlung der Silikosekranken entstünden. Aber mehr als das: Die ungeheuren Leiden der Bergarbeiter kommen in diesen Zahlen jedoch nicht zum Ausdruck; sie kann man nur begreifen und in ihrer ganzen Tragik ermessen, wenn man selbst einmal miterlebt hat, wie es gesundheitlich um unsere silikosekranken Kameraden bestellt ist […].120
Die Gewerkschaft nahm für sich aus ihrer unmittelbaren Nähe zur Bergarbeiterschaft, die sie repräsentierte, eine besondere Autorität in Anspruch, das wahre Elend und folglich das wahre Ausmaß der Silikose benennen zu können, das sich in den rein quantitativen Statistiken gerade nicht niederschlage. Auch in diesem Narrativ, das sich auf die Besserung der als unheilbar geltenden Krankheit bezog, spielten Medizin und Wissenschaft die tragende Rolle, denn die Hoffnungen ruhten auf den forschenden Ärzten und anderen Experten. Es ging nicht mehr nur allein um die Fürsorge für die von der Staublunge Invalidisierten. Es müsste Wege geben, mit den Mitteln der modernen Wissenschaft auch dieses scheinbar unlösbare Problem doch zu lösen, um den siechen Bergmann vor dem sicheren frühzeitigen Tod zu retten. Mitunter umgab die Forscher eine geradezu mystische Aura. So berichtete die Bergbauindustrie vom „Miefdoktor“ auf der Bochumer Zeche Hannibal, dem „Chemierat Dr. Cauer“. Den Beinamen hatte sich Hans Cauer durch seine praktischen Entwicklungen zur U-Boot-Klimatisierung erworben.121 Nun sauste das von den US-Amerikanern begehrte und mit Angeboten umworbene Genie „des Morgens auf einem klapprigen Fahrrad in hoher Geschwindigkeit durch das Zechentor“. Gemeinsam mit seiner Ehefrau forschte er an der Wirksamkeit von Inhalationstherapien gegen die Staublunge. Er sei ein „Wissenschaftler aus dem guten alten Holz“, dessen Selbstlosigkeit und Selbstvergessenheit besonders herausgestrichen wurden: Auf die Frage, wie alt er sei, antwortet er: „Ich bin 1899 geboren – dann muß ich jetzt 50 oder 51 Jahre alt sein. Rechnen Sie doch mal nach!“ Währenddessen analysiert er mit seiner Frau unermüdlich weiter. „Mutti meint ja, ich hätte noch nichts dazugelernt“; sagt er noch. Lachend schlägt er sich auf die Schenkel. Nun, die ihn kennen, sind anderer Meinung.122
Die Angebote aus den USA habe Hans Cauer selbstverständlich alle ausgeschlagen; als Deutscher wolle er in Deutschland bleiben, weil man doch auch in schweren Zeiten zusammenhalten müsse. Ebd. Cauer war während des Zweiten Weltkriegs an der Entwicklung von U-Booten beteiligt. Seine Expertise machten sich nach 1945 US-amerikanische Entwickler zunutze, ehe Cauer sich in der Bundesrepublik der zivilen Forschung widmete und über die Aerosol-Forschung zur Silikosebekämpfung kam und auf der Zeche Hannibal ein Forschungslabor zur Verfügung gestellt bekam. Vgl. u. a. Wir suchen Sie, Mr. Cauer, in: Das Grüne Blatt, 20. April 1952. 122 Ebd. 120 121
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Dieses heroisierende Hoffnungsnarrativ entfaltete sich unter anderem auch in den Berichten über das ein in den späten vierziger Jahren entstehendes Silikose-Krankenhaus im Hochsauerland,123 in das die Bergbau-Berufsgenossenschaft jedes Jahr eine begrenzte Zahl an Versicherten auf deren Antrag und mit ärztlicher Empfehlung zur mehrwöchigen Kur schickte. Die Presse berichtete umfänglich über das „modernste Silikose-Hospital“ der Welt, dessen Leiter Karl Bisa als „Deutschlands jüngster Chefarzt“ beworben wurde.124 Als Personifizierung wissenschaftlicher Tugenden fungierte er dabei in seinem Kampf gegen die Staublunge als besonderer Hoffnungsspender, der neue „Lichtblicke“ bot. Während die wichtigste Aufgabe der Silikoseforscher, den Gesteinsstaub vom Lungengewebe der Bergleute fernzuhalten, im Wesentlichen ein Unterfangen der Techniker sei, suchten Mediziner nach anderen Wegen. In einem Verfahren, das Bisa125 gemeinsam mit einer Elektrofirma „ausgetüftelt“ hatte, entstand ein vielversprechender „Heilnebel“. Außerdem habe er eine Methode entwickelt, mit der sich am Hautbild des Menschen erkennen lasse, ob das Lungengewebe besonders anfällig für die Silikose sei. Wenn sich damit bald zuverlässig über die individuelle Anfälligkeit befinden ließe – schließlich erfreuten sich viele Bergleute trotz des Staubes noch nach Jahren bester Gesundheit – dann „dürfte der Silikose bereits ein entscheidendes Schnippchen geschlagen sein.“ In Kloster-Grafschaft im Sauerland, in dem sich das Krankenhaus Dr. Bisas befand, kamen indessen den schon kranken Bergleuten die saubere Bergluft und die medizinische Behandlung zugute. Durch eine „elektrische Beatmungsmassage“ würden die „lahmgelegten Teile der Lunge […] durch raffiniert ausgeklügelte Stromstöße wachgekitzelt‘“.126 Medizinische Koryphäen und hingebungsvolle Jung-Genies, die alle Faktoren des komplexen Silikose-Problems zu beherrschen schienen, Persönlichkeiten wie der junge Arzt Bisa also, der „sich jetzt nicht auf seinem frischen Ruhm zur Ruhe“ zu setzen gedachte, gaben dem wissenschaftlichen Heldenkampf gegen die tückische Berufskrankheit ein mediales Gesicht. Mit seiner Vita erfüllte Bisa die besten Anforderungen dafür, die Silikose ein für alle Mal zu besiegen, denn er war „nicht nur Mediziner, sondern auch ein höchst talentierter Physiker und Techniker“, wodurch er die Reibungsverluste zwischen den verschiedenen Expertengruppen kunstvoll zu überbrücken schien. Er habe sich bereits in der technischen Prophylaxe mittels Aerosol-Versprühung („Heil-Nebel“) und in der Frühdiagnose verdient gemacht. Der Diskurs über die Tragik des geschlagenen Bergmanns fand so sein komplementäres Gegenstück im
Die im sauerländischen Kurort Grafschaft gelegene Lungenfachklinik existiert bis heute. Silikose-Krankheit, in: Benrather Tageblatt, 7. Januar 1956. Karl Bisa hatte in den dreißiger Jahren in Bonn Medizin studiert, wo er sich mit Willi Graf anfreundete, dem späteren Mitglied der „Weißen Rose“. So geriet er 1943 zwischenzeitlich ins Fadenkreuz der Gestapo. Vgl.. 126 Silikose-Krankheit, in: Benrather Tageblatt, 7. Januar 1956 wie auch die nachfolgenden Zitate. 123 124 125
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aufopferungsvollen Mediziner, der sich seiner selbstlos annahm oder der auf der Suche nach einer Heilung die technokratischen Kräfte der Wissenschaft beschwor und sich aufschwang, die Bergleute von der vermeintlich schicksalhaften Malaise ihres Berufs loszueisen. Offen war aber nach wie vor, was aus den Tausenden Arbeitern werden würde, die „in den verschiedenen Stadien zum Opfer der Silikose wurden“. Auch hier konnte die Klinik gute Ergebnisse vorweisen, schließlich verließ noch immer die Mehrzahl der hier Behandelten das Kurkrankenhaus mit sichtlich gebessertem Befinden, wie der Bericht fast euphorisch beschreibt: Neben Ausgleichsgymnastik, ständiger medizinischer Kontrolle unter Aerosol-Behandlung verordnet Dr. Bisa seinen Patienten eine elektrische Beatmungsmassage, die große Erfolge verzeichnet. Die lahmgelegten Teile der Lunge werden dabei durch raffiniert ausgeklügelte Stromstöße „wachgekitzelt“ und beginnen so, ihre Atemfunktion langsam wieder auszuüben. Hoffnung für viele! Aber es ist noch immer begrenzte Hoffnung. Denn die Quarzkristalle verbleiben in der Lunge, und bei unvorsichtiger Lebensweise können sie wieder aktiv werden. Dr. Bisa jedoch läßt behutsame Zuversicht durchblicken, wenn dieses Thema berührt wird. Er arbeitet an einer neuen Methode, die auch dieses Problem lösen könnte. Der Silikose wäre damit der Todesstoß versetzt.127
Da noch immer kein Mittel einen nachweislichen Heilerfolg erzielen konnte, mussten die Hoffnungen weiterhin darauf ruhen, das Silikose-Schicksal erträglicher zu gestalten und den vorzeitigen Tod durch Ersticken oder Kreislaufversagen einzudämmen. Daneben gerann die grassierende Silikose indessen allmählich zum Symbol einer ganzen Industrieregion, in der die dunkle Kehrseite des wirtschaftlichen Wiedererstarkens in wachsender Deutlichkeit aus den Steinkohlenbergwerken zu Tage trat. Dass Karl Bisa aus Bochum, dem geografischen Herzen des Ruhrgebiets, stammte, schien kein bloßer Zufall zu sein: Denn der Kampf gegen die Silikose sei für den Vierzigjährigen eine „Herzenssache“ und „Lebensaufgabe“. Es ging ihm darum, den „drohenden Schatten der Silikose, der nach wie vor über dem Kohlenpott lagert“, zu bekämpfen.128 Die Staublunge war damit nicht mehr allein Sinnbild der sozialen Probleme der Bergarbeiterschaft. Die Krankheit wurde zunehmend mit der Industrieregion Ruhrgebiet überhaupt verknüpft, die schon wenige Jahre später in der Kohlenkrise selbst zum kranken Mann der aufstrebenden Bundesrepublik werden sollte. Neben den medial inszenierten medizinischen Helden- und Hoffnungsfiguren verschaffte sich indessen auch die wachsende Zahl betroffener Bergarbeiter weiter Gehör.
127 Ebd.; Im fast gleichen Wortlaut wurde der Artikel drei Jahre später noch einmal veröffentlicht, und erfuhr im Titel eine stärkere Betonung des regionalen Schwerpunkts der Krankheit: Der Schatten über dem Kohlenpott: Silikose, in: Welt der Arbeit, 1. Mai 1959. 128 Silikose-Krankheit, in: Benrather Tageblatt, 7. Januar 1956; der „Hype“ um Aerosole war nicht auf die Silikosebekämpfung beschränkt. Karl Bisa selbst forschte gemeinsam mit Fachkollegen auch am Einsatz gegen mögliche atomare Schäden, vgl. 1957, S. 48–49.
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Der Silikose-Bund blieb nicht die einzige nicht-gewerkschaftliche Interessenvertretung für deren Anliegen. Auch das „Soziale Hilfswerk“ versammelte einige Tausend Mitglieder und erklärte Ende der fünfziger Jahre zu ihrem Ziel, auch die Bronchitis als Berufskrankheit anerkennen zu lassen, um mehr lungenkranken Bergarbeitern zu ihrem Recht zu verhelfen. Das Verhältnis zur Industriegewerkschaft Bergbau war auch hier überaus spannungsgeladen.129 1958 trug der Silikose-Bund seinen Protest auf die Straße und lud im Sommer zu einer Großkundgebung in Wanne-Eickel ein, wo sich „über 1000 Berginvaliden und aktive Bergleute“ einfanden.130 Zugleich waren die Forderungen des Verbandes aber keineswegs fundamental oder politisch-ideologisch, sondern an den partikularen Anliegen berufsgenossenschaftlicher und knappschaftlicher Rentenbezieher ausgerichtet. Im Wesentlichen ging es um leichter zu erhaltende und höhere Leistungen, eine bessere ärztliche Versorgung sowie um die Berechnungsgrundlagen der Rentenbestimmung. Der Protest des Verbandes fiel damit weit weniger konfrontativ aus als noch in der klassenkämpferischen Presse der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre. Die in diesen kleineren Vereinen organisierten Aktivisten, die für mehr Anteile am sozialstaatlichen Kuchen stritten, wollten der „Sauerteig“ sein, aus dem der aus ihrer Sicht erlahmte Elan der Gewerkschaft in Sachen Silikose neue Kraft generieren sollte.131 Diese Rechnung schien aufzugehen. Die bergmännischen Erfahrungen von Elend und Krankheit erfuhren im Gravitationsfeld ihrer steigenden medialen Präsenz auf der 1960 stattfindenden nächsten Generalversammlung der Gewerkschaft tatsächlich wieder neuen Schwung. Wichtiges Oberthema war hier die „völlige Neugestaltung der Sozialversicherung“: Weil sie inzwischen zu einem „echten Bestandteil“ der gesellschaftlichen Ordnung geworden sei, sähen die Gewerkschaften nun ihre Aufgabe darin, ihr Richtung und Ziel zu geben. Und diese lägen vor allem darin, jedem Arbeitnehmer die Existenzunsicherheit zu nehmen. Die Sicherung des Einzelnen sei nur noch „in der Gemeinschaft und durch die Gemeinschaft aller Bürger“ zu gewährleisten. Soziale Sicherheit bedeute nicht mehr einfach nur Arbeit und Lohn, es bedeute auch Unterstützung im Krankheitsfall durch Geld und beste medizinische Leistungen, darin liege gerade für Bergleute die Befreiung von der berufsbedingten Existenzunsicherheit.132 Den nach wie vor unheilbar kranken „Silikotikern“ war hiermit zwar nur noch bedingt zu helfen. Die Forderungen gingen aber ohnehin weit über diesen Kreis hinaus. In der gewerkschaftlichen Debatte wurden sie nun vermehrt zu fast märtyrerhaften Kronzeugen der Rechte der Bergarbeiterschaft. Ihr Schicksal und ihre Erfahrungen wurden zum Politikum, das den Sonderstatus innerhalb der westdeutschen „Gemeinschaft aller Bürger“ unterstrich:
Mehr Hilfe für Silikose-Kranke, in: Rheinische Post, 6. Januar 1958. Kundgebung der Silikosekranken. Bergleute fordern Verbesserungen, in: Ruhr-Nachrichten, 4. August 1958. 131 Mehr Hilfe für Silikose-Kranke, in: Rheinische Post, 6. Januar 1958. 132 Industriegewerkschaft Bergbau 1960, S. 270 f. 129 130
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Es genügt nicht, wenn die Öffentlichkeit am Schicksal des Bergmannes nur Anteil nimmt an Tagen, an denen sich ein großes Bergwerksunglück hier oder irgendwo in der Welt ereignet. Wer bedenkt schon in der Öffentlichkeit, daß allein im letzten Jahr 1852 Bergleute an der Silikose, der Geißel der Bergleute, verstorben sind und daß damit seit 1945 – also in einem Zeitraum von nur 15 Jahren – insgesamt 24.537 Bergleute allein an den Folgen der Silikose ihr Leben gelassen haben? Wir meinen, der Bergmann hat ein Anrecht darauf, früher in den Ruhestand zu treten und seinen kürzeren Lebensabend in Muße zu verbringen.133
Aus dem Blutzoll der Bergarbeiterschaft ließ sich somit ein unmittelbares historisches Anrecht auf eine Arbeitszeitverkürzung ableiten: Die Beschäftigten des Bergbaus, die am Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft maßgebenden Anteil hatten und die auch nach wie vor ständig Gesundheit und Leben einsetzen, appellieren noch einmal mit allem Nachdruck an den Gesetzgeber, dem vom Hauptvorstand erarbeiteten Gesetzentwurf seine Zustimmung nicht zu versagen. […] Der Gesetzgeber hat hier die Möglichkeit, dem schwer arbeitenden Bergmann nicht nur eine Anerkennung für seine Leistungen beim Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft auszusprechen, sondern gleichzeitig zur sozial sinnvollen Lösung der Krise im Bergbau beizutragen.134
Innerhalb der gewerkschaftlich organisierten Bergarbeiterschaft verfestigte sich damit das Bild eines gemeinschaftlichen Opfers im Dienste der bundesrepublikanischen Wachstums- und Wohlstandsgesellschaft, an dessen angemessener Kompensation sich die sozialstaatlichen Versprechen messen lassen müssten. Offen blieb hingegen, wie und ob derlei Botschaften auch nachhaltig in den breiteren öffentlichen Diskurs gelangen und dauerhaft politisches Gewicht entfalten würde. Denn obwohl die Auseinandersetzung mit der Staublunge im nordrhein-westfälischen Landtag noch 1955 zunächst unisono Anteilnahme zum Ausdruck gebracht hatte, so hatten bei der folgenden Denkschrift bereits die geleisteten Erfolge im Vordergrund gestanden. 2.4
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Auch in den sechziger Jahren blieben Statistiken der Sozialversicherung ein wichtiger Indikator, um den Erfolg im Kampf gegen die Staublunge öffentlich zu messen. Die jährlichen Bilanzen fielen dabei positiv aus und suggerierten, dass die Erkrankung im Verschwinden begriffen sei. Zugleich schwanden die Hoffnungen auf eine medizini-
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Ebd., S. 281. Ebd., S. 284.
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sche Lösung für die bereits Erkrankten allerdings wieder: Allein die präventive Umstellung der Technik und Arbeitsweise im Bergbau, Bereiche, in denen es „große Fortschritte“ gegeben hatte, trugen den bisherigen Erfolg und würden dies auch in Zukunft tun. Der Beitrag der Medizin lag vornehmlich in der ärztlichen Überwachung der Zechenbelegschaften, um bereits den ersten Anzeichen von Lungenerkrankungen zuvorzukommen.135 Die wachsende Lebenserwartung der Bergleute und ihre Angleichung an den Durchschnitt der Bevölkerung blieb weiterhin wichtiger Gradmesser für den Erfolg, wodurch der Bergmannsberuf für die Jüngeren seinen vormaligen „Schrecken“ inzwischen verloren habe, wie eine Essener Lokalzeitung im Jahr 1961 vermeldete: In dem wesentlich größeren „Lebensaltergewinn“ der Silikoseerkrankten darf man zusammen mit dem jetzt seit fast einem Jahrzehnt zu beobachtenden Rückgang der erstmalig entschädigten Silikosefälle einen Erfolg der vielseitigen Maßnahmen zur Verhütung der Staublungenerkrankung sehen.136
Während in den fünfziger Jahren noch technische Neuerungen bei der betrieblichen Prävention der Aufmerksamkeit der Presseöffentlichkeit zuteilwurden, schien die damals noch weitgehend machtlose Medizin wieder vor einem Durchbruch zu stehen, der nicht nur den gegenwärtigen Berufsanfängern zugutekommen sollte, sondern vor allem den älteren, bereits erkrankten Bergleuten. Mit Unterstützung des „in der ganzen Welt bekannten ‚Siegers über die Malaria‘, Professor Kikuth“, wurde im Jahr 1962 in Düsseldorf das „Institut für Lufthygiene und Silikoseforschung“ gegründet, dessen Leiter, der Mediziner Hans-Werner Schlipköter, sich bereits als Experte auf dem Gebiet der Silikose einen Namen gemacht hatte. So habe er ein Mittel entdeckt, das das bislang als unaufhaltsam geltende Voranschreiten der Erkrankung aufhalte, und erprobe es im Augenblick noch in Tierversuchen: Es besteht die Hoffnung, daß die Silikose, eine der gefährlichsten Berufskrankheiten vor allem im Bergbau, in absehbarer Zukunft erkannt und durch Vorbeugungsmaßnahmen endlich überwunden werden wird.137
Würden die Silikose-Kranken also doch noch in absehbarer Zeit in den Genuss des medizinischen Fortschritts kommen wie seinerzeit auch die Opfer der Malaria und anderer, einst tödlicher, inzwischen behandelbarer Infektionskrankheiten? Dem statistisch immer deutlicher werdenden Erfolg der Silikose-Bekämpfung standen zwar die täglichen Sorgen derer gegenüber, die eine Rente bezogen oder eine solche noch beziehen wollten. Aber die positive Bilanz der Unfallversicherung sprach eine deutliche Sprache:
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Kein Wundermittel gegen Steinstaub, in: Neue Rhein-Zeitung, 19. April 1961. Gefahr der Staublunge verliert ihre Schrecken, in: Essener Stadt-Anzeiger, 14. April 1961. Angriff auf die Silikose, in: Westfälische Rundschau, 2. Februar 1962.
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Nach der fünften Berufskrankheitenverordnung aus dem Jahre 1953 wurde die Schwere der Silikoserkrankung zur Berechtigung einer Rente von 50 auf 20 Prozent gesenkt. Der Bergmann sagt: „Für mich ist es heute noch genau so schwer wie früher, meine Rente zu bekommen.“ Eine Statistik der Bergbau-Berufsgenossenschaft zeigt, daß die Zahlen der Rentenfälle von 7000 in den Jahren 1951 gegenüber heute auf 2500 gesunken ist. Das unterstützt die Behauptung der Bergleute nicht, wie es den Anschein hat, sondern ist die positive Seite der Bekämpfungsbilanz.138
Die Sprache der Statistik erwies sich als überaus wirkmächtig und evident. Beklagenswerte Einzelschicksale mochte es geben, so der Tenor, aber im Großen und Ganzen erschien es eindeutig, dass das Ausmaß des Silikose-Problems immer weiter schrumpfte. Nach den offenen Deutungskämpfen der fünfziger Jahre, ob schon von einem „Sieg“ über die Silikose gesprochen werden könne oder nicht, schienen die anhaltend positiven Zahlen letztlich den Siegesgewissen Recht zu geben. Die kranken und immer noch erkrankenden Bergarbeiter liefen damit Gefahr, vom statistischen Erfolg der gegenwärtigen Präventionsarbeit überblendet zu werden, gleichwohl sie noch von den gesundheitlichen Spätverfolgen früherer Jahre eingeholt werden konnten. Die Statistiken der Unfall- und der Rentenversicherungen boten allerdings auch weiterhin Munition für Forderungen nach einer besonderen Behandlung der Bergleute trotz des Annäherungsprozesses bei der Lebenserwartung, der den Diskurs über die Normalisierung der Bergarbeiterschaft gegenüber der Gesamtgesellschaft speiste. Das Problem des höheren körperlichen Verschleißes gerade im Bergbau, repräsentiert durch die hohe Zahle Invalider im berufsfähigen Alter, bildete das Kernargument für einen Vorstoß von SPD und Gewerkschaft, das reguläre Pensionsalter für Bergleute auf 55 Jahre zu senken, als Ausgleich für die verlorenen Lebensjahre. Anknüpfend an eine entsprechende Studie des „Archivs für Gewerbehygiene“ aus dem Jahr 1959, die den Bergarbeitern ein „schicksalhaftes fünftes Lebensjahrzehnt“ attestiert hatte, bedienten sie sich dafür ebenfalls sozialer Statistiken, aber nicht etwa des durchschnittlichen Sterbealters. Stattdessen bezogen sie sich auf die frühere Arbeitsunfähigkeit. So ließ sich die besondere Härte des Bergmannsberufs in die immer wichtiger und evidenter gewordene Debattensprache der Statistik übersetzen, denn: Eine vorzeitige Pensionierung der Untertagearbeiter sei ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit. In keinem anderen Bereich der gewerblichen Wirtschaft gebe es eine Tätigkeit, die mit einer auch nur annähernd so starken Abnutzung der Arbeitskraft verbunden sei. Viele Bergleute könnten bereits nach 20 oder 25 Berufsjahren ihre bis dahin ausgeübte Tätigkeit nicht mehr verrichten.139
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Kein Wundermittel gegen Steinstaub, in: Neue Rhein-Zeitung, 19. April 1961. Bergleute sollen schon mit 55 Jahren in Pension gehen, in: Westdeutsche Allgemeine, 5. April 1962.
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Es sei mithin „unbestritten“, dass der Bergmann, dessen Beruf „der schwerste“ sei, im Schnitt zehn Jahre früher invalidisiert werden müsse, als seine Kollegen in anderen Industrie-Branchen. Neben diesem individuellen Risiko schien aber auch das Kollektivopfer der Bergarbeiterschaft teuer zu Buche zu schlagen: Während sich allein die tödlichen Unfälle Anfang der sechziger Jahre auf etwa 500 Fälle im Jahr beliefen, verlören im selben Zeitraum 1500 Bergmänner ihr Leben auf Grund einer Silikose. Niemand könne die Forderung nach einem früheren Renteneintritt „ernsthaft als unberechtigt ablehnen“, hieß es von Seiten der Industriegewerkschaft. Der SPD-Abgeordnete und Gewerkschafter Walter Arendt zog das Militär zum Vergleich heran. Wie Soldaten warf auch der Bergmann sein ganzes Leben in die Waagschale, und zwar im Dienst der Gesellschaft: Wenn Offiziere der Bundeswehr, die die sogenannte Majorsecke nicht erreichen, sich mit 55 Jahren zur Ruhe setzen können, so habe dies erst recht ein Bergmann verdient, der jahrzehntelang seine Arbeitskraft und Gesundheit unter Tage vor dem Kohlenstoß für das Wohlergeben der Allgemeinheit geopfert hat.140
Das geleistete Opfer der Bergarbeiter für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Westdeutschlands wurde damit zum wichtigen Faustpfand für die gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Bestrebungen, für eine neuerliche „Spitzenstellung“ des Bergmanns zu streiten. Der explizite Bezug auf die bergmännischen Leistungen der Vergangenheit, die es im Rentensystem zu berücksichtigen gelte, verwiesen bereits auf eine historisierende Repräsentation der Bergarbeiterschaft. Für eben diese Zukunft versprach aber die Wissenschaft indessen das Ende des frühen Staublungentodes. Denn Anfang der sechziger Jahre schienen die Koryphäen der Silikose-Forschung siegessicher. Die Silikose sei nun „kein Todesurteil“ mehr. Zwar seien die letzten Antworten noch nicht gefunden, man habe inzwischen allerdings „Boden unter den Füßen“, bemerkte der Arzt Heinz Reploh.141 Sein Kollege Werner Klosterkötter bekräftigte: Wenn heute ein Junge einer Bergmannsfamilie zu mir kommt, der auch auf die Zeche will, würde ich ihm sagen: Geh getrost, das Risiko, das[s] du wie dein Vater Staublunge kriegst, ist nur noch gering; und alle Bergleute, die jetzt unter Tage arbeiten, werden wahrscheinlich an keiner schweren Form von Silikose mehr erkranken.142
140 Jährlich sterben 1500 an Silikose. Offiziere mit 55 Jahren in Pension, in: Westfälische Rundschau, 22. März 1962. 141 Heinz Reploh war in den dreißiger Jahren Assistent bei Karl Wilhelm Jötten und nach 1933 Advokat der nationalsozialistischen eugenischen Praxis. Wie Jötten gelang es ihm aber nach 1945, sich als Kapazität auf dem Gebiet der medizinischen Forschung und der Lungenheilkunde zu profilieren. Vgl. dazu Nussbaum 2007. 142 Tiertests gaben letzte Sicherheit: Silikose ist kein Todesurteil mehr, in: Westfälische Rundschau, 7. April 1962.
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Auch wenn das „Gespenst dieser heimtückischen Krankheit“ noch nicht zur Gänze „verscheucht“ sei, gebe der medizinische und technische Fortschritt doch Anlass zu solchem Optimismus. Die Gewerkschaft gab die Deutungshoheit über Zukunft der Bergarbeit allerdings nicht kampflos auf und verwahrte sich gegen den paternalistischen Versuch, den Bergbau bereits als weitgehend gefahrlos zu portraitieren. Als auf einer Berufsausstellung auf der Essener Zeche Zollverein „der Presse ein tolles Bild des bergmännischen Berufes“ gezeigt wurde, wonach auch die Silikose inzwischen „ausradiert“ sei, gab die gewerkschaftliche Presse ausführliches Kontra gegen die „fragwürdigen Werbemethoden“ um Nachwuchs seitens der Industrie. Die Sorgen um den Nachwuchs seien zwar angesichts der offenen Stellen berechtigt, aber die Behauptungen, das „Schreckgespenst“ gebe es nicht mehr, zeuge von sachlicher Unkenntnis. Siegesgewisse Aussagen über das Ende der Staublunge, die dem Bergbau sein zentrales Attribut der Gefährlichkeit abzusprechen schienen, blieben folglich nicht unwidersprochen: Denn die Silikose gefährdet weiterhin Gesundheit und Leben unserer Bergleute. Sicher sind die ärztlichen Methoden verfeinert gegenüber vergangenen Zeiten. Aber ‚ausradiert‘? Das stimmt einfach nicht!143
Diese Problemwahrnehmung beschränkte sich jedoch im Wesentlichen auf die Gewerkschaftspresse im engeren Sinne. Im breiteren öffentlichen Diskurs dominierte hingegen der Eindruck, dass der Einzug technischer Errungenschaften das Problem inzwischen beseitigt hätten. Der Ludwigsburger General-Anzeiger sprach bereits vom Sieg über die Staublunge und orakelte, dass es in Zukunft keine „Dörfer der Witwen“ mehr im Siegerland geben werde, das neben dem Ruhrgebiet besonders stark von der Silikose betroffen war. Diese Prognose wurde dabei auch hier mit den Berichten über die gestiegene Lebenserwartung auf 68 Jahre verknüpft und führte die bisherigen Fortschritte explizit auf die technischen Maßnahmen der Staubbekämpfung zurück, die zwar auf die Skepsis der Bergarbeiter getroffen seien, aber letztlich zu ihrem Wohle erheblich beigetragen habe. Am Anfang hätten sich die Arbeiter noch über die Belästigung durch das viele dafür eingesetzte Wasser beklagt, die Zufuhr abgestellt oder gar nicht erst angestellt. Automatische und zwangsweise Wasserzufuhr habe aber inzwischen vielerorts effektive Abhilfe geschaffen.144 Der Sieg über die Silikose war damit ein Sieg der Wissenschaft und der Technik. Die Vergewisserung im gewerkschaftlichen Milieu der Bergarbeiterschaft, dass die Bergarbeit nach wie vor hart und gefährlich sei, liest sich als explizite Gegenreaktion auf diese Erfolgsgeschichte, der zu Folge Medizin und Technik, die im Bergbau Einzug gehalten hatten, das Problem Silikose endgültig gelöst hätten. Die wahrnehmbaren 143 Das tolle Bo(a)mberg aus Essen: Im Bergbau ist die Silikose ausradiert, in: Die Bergbauindustrie, 2. November 1962. 144 Kampf gegen „Staublungen“ hatte Erfolg: Bergleute müssen nicht mehr früher sterben, in: GeneralAnzeiger, 21. Oktober 1965.
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technologischen Veränderungen wirkten sich dabei nicht allein auf das Krankheitsrisiko aus, sondern strahlten auf das gesamte (Selbst-)Bild des Bergmanns aus, der bislang den uralten Naturgewalten unter der Erde allein entgegenstand und ihnen männlich trotzte. Anlässlich eines öffentlichkeitswirksam inszenierten Besuchs des Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier quittierte die Einheit, wie die gewerkschaftliche Zeitung Die Bergbauindustrie ab 1964 hieß, mit ostentativer später Genugtuung dessen anerkennende Worte über die „Manneswürdigkeit“ der geleisteten Bergarbeit: Als der Präsident nach fast zweistündiger Grubenfahrt wieder an die Oberfläche zurückkam, erwarteten ihn auf der Hängebank die Fotografen und Reporter. Vor den Mikrophonen des Rundfunks und Fernsehens sagte er dann das, was unten mit keiner Silbe erwähnt hatte: Die Arbeit der Bergleute sei trotz der Mechanisierung nach wie vor schwer und hart und erfordere den ganzen Mann.145
Dennoch entzogen die öffentlichen Statistiken, die einen stetigen Abfall der Neuerkrankungen suggerierten, dem „Schreckgespenst“ Silikose seine Evidenz. Schließlich schienen Wissenschaft und Industrie das Problem inzwischen unter Kontrolle zu haben. Nach dem Alarmismus der frühen fünfziger Jahre konnten die deutlich geringeren Erkranktenziffern zehn Jahre später, die darüber hinaus weiter nach unten und nicht nach oben wiesen, keinen politischen Handlungsdruck evozieren. Der öffentliche Diskurs verlagerte sich im Verlauf der sechziger Jahre zunehmend auf den Umgang mit den erkrankten, nun meist älteren Versicherten, und ihr gemeinschaftliches Kollektivopfer im Dienste der Gesamtgesellschaft. Für sie, so schien es, hatte die Krankheit durchaus noch Schicksalscharakter, für das ihnen „Schmerzensgeld“ zustand, das ihnen aber häufig von den begutachtenden Ärzten verwehrt werde, wie die gewerkschaftliche Presse klagte. Häufig werde nur eine leichte Erkrankung unterhalb der Schwelle von 20 Prozent oder andere Lungenleiden wie Bronchitis bescheinigt, aber keine entschädigungspflichtige Berufskrankheit. Die Bergleute sparten deshalb darauf, sich zusätzliche Gutachten von unabhängigen niedergelassenen Ärzten einzuholen, denn: Wer sich in der Grube die silberne Ehrennadel für 25jährige Arbeit vor Ort verdient habe, so argumentieren Privatärzte, sei mit großer Wahrscheinlichkeit ernsthaft lungenkrank.146
So zeichnete sich in der weiteren öffentlichen Debatte auch ein generationeller Bruch ab zwischen denen, die mit dem Versprechen gesundheitlicher Sicherheit in den bergmännischen Beruf einstiegen, also von der „Geißel des Bergmanns“ befreit schienen, und jenen, die durch ihren Dienst an der Gesellschaft, ohne Rücksicht gegen sich selbst und ihre Gesundheit, an das sichere Silikose-Schicksal gekettet blieben und
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Bundestagspräsident Dr. Gerstenmaier besuchte die Bergleute, in: Einheit, 15. Oktober 1964. Kumpels wollen ihr Schmerzensgeld, in: aktuell, 7. Juli 1962.
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drohten, aus dem Sichtfeld eben jener Gesellschaft zu geraten. Die Spätfolgen der als überwunden geltenden schlechten Arbeitsbedingungen der dreißiger und vierziger Jahre überlagerten damit die optimistischen Versprechungen der aktuellen betrieblichen Prävention in den sechziger Jahren, nach denen die Silikose der Vergangenheit angehörte. Doch diese Vergangenheit war noch nicht damit abgeschlossen, dass die alten lungenkranken Bergleute in Invaliden- oder Altersrente gingen. Die Vergangenheit koexistierte als langer Schatten einer überholten Zeit: Während nun auch überall in den bundesdeutschen Revieren Jobber der Genossenschaft unterwegs sind, um die jungen Bergleute in Sachen ‚Kampf gegen die Silikose‘ zu schulen, kämpfen viele alte Kumpels noch um ihre Entschädigung. Auch ein Lehrfilm ist für die Jungen gedreht worden. Sein Titel: „Das kann dir doch nicht passieren“.147
Das Silikose-Risiko schien damit in den sechziger Jahren insofern gelöst zu sein, als dass die jungen Neubergleute nicht mehr das gleiche Schicksal ereilen sollte wie ihre älteren Kollegen, die noch unter erheblich schädlicheren Bedingungen gearbeitet hatten. Damit gewann die Frage der gerechten Entschädigung der „Alten“ für ihre aufgebrachten gesundheitlichen Opfer das Übergewicht in der öffentlichen Problemwahrnehmung der Staublunge. Dabei ging es inzwischen auch nicht mehr ausschließlich um die Silikose, sondern um die Gesundheit bergmännischer Körper insgesamt. Das diskursive Feld, auf dem die Entschädigungen für Bergleute aus der Sozialversicherung thematisiert wurden, verbreiterte sich nämlich, als die Gewerkschaft und ihre Vertreter dafür plädierten, dass der Katalog der Berufskrankheiten auf die „EmphysemBronchitis“ ausgeweitet würde, was wiederum einen neuen Raum schaffen sollte, um die Prävalenz sozialer Benachteiligung der Bergarbeiterschaft anzuprangern. Die häufig bei Bergleuten diagnostizierte Lungenerkrankung wurde bislang medizinisch und juristisch von der Silikose entkoppelt betrachtet. Dagegen erhob sich allerdings zunehmend Kritik. Die Industriegewerkschaft Bergbau brachte das Thema offensiv in die öffentliche politische Debatte ein, bis es Anfang 1964 auch erstmals im Bundestag thematisiert wurde. Demnach komme die chronische Emphysem-Bronchitis vor allem bei älteren Bergleuten relativ häufig vor, allerdings lägen noch keine eindeutigen Forschungsergebnisse darüber vor,148 das hieß, die Frage war unter Medizinern noch umstritten. Die Gewerkschaft wollte sich deshalb mit der Antwort der CDU/FDP-Bundesregierung nicht zufriedengeben.149 Die gewerkschaftliche Berichterstattung führte zu einer seltenen Welle von Leserzuschriften an die Einheit:
Ebd. Deutscher Bundestag, 4. WP, 110. Sitzung, 05.02.1964; Deutscher Bundestag, Drucksache IV/2343, 10.06.1964; Deutscher Bundestag, Drucksache IV/2451, 10.07.1964. 149 Neue Berufskrankheit?, in: Einheit, 2. Februar 1964. 147 148
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Es ist geradezu eine Sensation: Die ansonsten „schreibfaulen“ Bergleute haben uns mit Leserzuschriften überschüttet. Diese Schreibwut hat einen fast tragischen Hintergrund. Es geht um die Frage, ob die Emphysem-Bronchitis durch den Bundestag für die Bergleute als Berufskrankheit anerkannt wird oder nicht. Schreibt uns Friedrich St. aus Essen, ein Bergmann mit 32jähriger Untertagetätigkeit, in aller Offenheit: „Die im Bundestag haben doch keine Ahnung, wie elend wir dran sind. Die Ärzte sagen, ich hätte keine Silikose, und meine Bronchitis wäre keine Berufskrankheit. Dabei japse ich wie ein junger Hund, wenn ich nur ein paar Treppen ’raufgehe.“150
Die Debatte über die chronische Emphysem-Bronchitis brachte die Prävalenz von Lungenerkrankungen unter den bundesrepublikanischen Bergarbeitern Mitte der sechziger Jahre ein letztes Mal prominent in den öffentlichen Diskurs. Während die Neuigkeiten über die Silikose in dem Maße abgeebbt waren, in dem sie für die in den Beruf eintretenden Männer kein drohendes Schicksal mehr zu sein schien, bot die „neue“ Lungenerkrankung noch einmal den Gewerkschaftsvertretern eine Möglichkeit, Opfer und Elend der (älteren) Bergarbeiterschaft zum Gegenstand einer gesamtgesellschaftlichen Debatte zu machen. Politisches Gewicht gewann das Thema auch dadurch, dass sich aus den Kreisen anerkannter Experten prominente Fürsprecher fanden. Denn der wissenschaftliche Beweis, dass es sich dabei um eine berufliche Lungenerkrankung ähnlich der Silikose handle, die nicht allein anlage- oder altersbedingt sei, war eine wichtige Stütze für die Argumentation der Gewerkschaft. Sie fand ihren Kronzeugen im Chefarzt des Knappschaftskrankenhaus Recklinghausen, Max Carstens, der sich bereits seit längerem mit der Frage auseinandersetzte.151 Auch das unmittelbare Elend der Betroffenen blieb dabei nicht unausgesprochen: Mit einem harmlos scheinenden Hustenreiz fängt es bei den Bergleuten an. Die Lunge „meldet“ sich. Und das schon in frühen Arbeitsjahren. Je länger die Bergleute dann dem Staub ausgesetzt sind und je älter sie werden, um so mehr wird aus diesem anfänglichen Hustenreiz ein handfester Husten. Dieser Husten wird immer quälender und schließlich von Atemnot und Auswurf begleitet. Ein steter Verfall der körperlichen Kräfte zeigt dann an, wie ernsthaft doch der Gesundheitszustand gefährdet ist. „In meiner Lunge pfeift es wie in einem zugigen Zimmer, durch das der Wind bläst“, schrieb uns ein alter Bergmann, der schon seit Jahren von einer Emphysembronchitis gequält wird und mit seinem Beispiel deutlich machen wollte, wie erbärmlich es um seine Lunge bestellt ist.152
Die Auffassung, dass es sich bei der Emphysem-Bronchitis der Bergleute um eine Berufskrankheit wie die Silikose handle und oft mit dieser verschränkt auftrete, gewann 150 151 152
Bergleute schreiben uns über Emphysem-Bronchitis: Berufskrankheit!, in: Einheit, 2. April 1964. IG Bergbau verweist erneut auf die Emphysem-Bronchitis, in: Hertener Allgemeine, 29. April 1964. Gefahr für unsere Lunge, in: Einheit, 2. Mai 1964.
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durch weitere Aussagen namhafter Mediziner zusätzliche wissenschaftliche Autorität, denen zufolge die „Unsinnigkeit der bisherigen Beurteilungen längst bewiesen“ sei.153 Im internationalen Vergleich werde die Erkrankung im Übrigen bisher vollkommen willkürlich als berufsbedingt anerkannt oder nicht. Der im Jahr 1964 frisch ins Amt gewählte Oer-Erkenschwiecker Bürgermeister Heinz Netta von der SPD, der selbst als Maschinensteiger im örtlichen Bergbau gearbeitet hatte, schaltete sich öffentlich als Anwalt der Initiative ein, schließlich seien 5.000 der 24.000 Einwohner seiner Stadt in der Montanindustrie beschäftigt, und Ärzte erlebten „immer wieder das vorzeitige und qualvolle Ende solcher Männer, die ein Opfer ihrer harten Arbeit wurden.“154 Die neuerliche Debatte über die EmphysemBronchitis eröffnete damit einen diskursiven Raum, der die erneute Thematisierung bergmännischer Gesundheit überhaupt erst wieder ermöglichte, nachdem die Debatte über den Umgang mit der Silikose inzwischen merklich abgeflaut war. Die als neues Problem entdeckte Krankheit bot mithin Anknüpfungspunkte, um auch das Staublungenleid noch einmal prominent in den öffentlichen Diskurs einzubringen, nachdem alle Berichte über die beruhigenden Statistiken zur Berufskrankheit das baldige Ende der einst so akuten Silikose bereits vorzuzeichnen schienen. Hierin lag 1964 die vorrangige Bedeutung dieser Debatte, der nämlich zunächst kein gesetzespolitischer Erfolg beschieden war. CDU-Bundesarbeitsminister Theo Blank hielt den sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Forderungen die Vorbehalte seines „Chefmediziners“ entgegen, der auf ein vielfältiges Ursachenbündel verwies, das an der Entstehung der Krankheit beteiligt sei. Dabei sei auch die „Staubbelastung innerhalb und außerhalb des Bergbaus“ von Bedeutung, schließlich leide auch ein großer Teil der allgemeinen Bevölkerung daran. Es gehe nun darum, die „wissenschaftliche Problematik“ aufzuklären.155 Die neuerliche Debatte über die bergmännische Gesundheit war damit aber nicht abgewendet. Die „wissenschaftliche Problematik“ war zuvorderst ein diskursiver Ankerpunkt, um historisches Unrecht am Bergmann überregional erneut ins öffentliche Bewusstsein Westdeutschland zu tragen. Der SPDBundestagsabgeordnete Walter Arendt, ab 1964 an der Spitze der Industriegewerkschaft Bergbau, gab von der Westdeutschen Allgemeinen befragt nach seinen persönlichen Beweggründen für sein politisches Engagement emotional zu Protokoll: Als ich im Krieg war, starb mein Vater – er war noch keine 58 – den schweren Tod des Silikose-Opfers. Das gab mir den letzten Anstoß, alles daran zu setzen, etwas gegen diese mörderische Krankheit und etwas für den Lebensabend des Bergmannes zu tun. Ich halte es nicht für ein Element des bergmännischen Berufsethos, […] in den Sielen zu sterben.
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Bürgermeister will kranken Bergleuten helfen, in: Westdeutsche Allgemeine, 20. Mai 1964. Der tödliche Staub unter Tage, in: Westfälische Rundschau, 2. Mai 1964. Bürgermeister will kranken Bergleuten helfen, in: Westdeutsche Allgemeine, 20. Mai 1964.
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Ich halte es vielmehr mit Theodor Heuss, der für jeden, der seine Pflicht getan hat, einen Lebensabend wünschte, an dem er in Muße Mensch sein könne.156
Die Kopplung von gesundheitlichem Opfer und politischem Anspruch der Bergarbeiterschaft verselbstständigte sich im öffentlichen Diskurs der sechziger Jahre zunehmend und wurde auch von anderen Bundespolitikern aufgegriffen, die nicht notwendigerweise aus dem Lager der Industriegewerkschaft Bergbau und der SPD stammten. Der Bochumer CDU-Abgeordnete und aktive Bergbau-Manager Gerd Springorum brachte das Thema auch im Zusammenhang mit der finanziellen Entlastung der Bergbau-Berufsgenossenschaft ein. 1945 habe die deutsche Volkswirtschaft am Boden gelegen, habe aber gewaltige Mengen an Energie gebraucht. Diese hätte der deutsche Bergmann vom ersten Tage nach der Kapitulation an unermüdlich herangeschafft und sich dabei „in rücksichtsloser Pflichterfüllung gesundheitlich ruiniert.“ Gerade in dieser Zeit hätten sich viele der heute Kranken ihre Silikose zugezogen, da man unter Vernachlässigung jeder Gesundheitsfürsorge gearbeitet habe.157 Die Repolitisierung der Silikose Mitte der sechziger Jahre wurde von zwei Veränderungen des Diskurses begleitet, die besondere Erwähnung verdienen und bereits angeklungen sind: Zum einen wurden die Staublunge und ihre sozialen Folgen zum regionalen Sinnbild vor allem des Ruhrgebiets, in dem die meisten Bergleute arbeiteten und lebten. Zum anderen setzte bereits eine Geschichtswerdung des Bergmanns ein, der unter den inzwischen überholten, archaischen Bedingungen der vierziger und fünfziger Jahre gearbeitete hatte und den Gefahren unter Tage – vor allem dem schädlichen Staub – schutzlos ausgeliefert gewesen war; jenes sinnbildlichen Bergmanns also, der „in den Sielen stirbt“, wie es Walter Arendt markant ausgedrückt hatte, als er dieser Schicksalsergebenheit den Kampf ansagte. Der Regionalbezug wurde durch eine seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre stattfindende Paralleldebatte flankiert, die 1961 im Brandt’schen Wahlkampf-Slogan „Blauer Himmel über der Ruhr“ kulminierte. Denn auch der Diskurs über Luftverunreinigungen durch die wachsenden Emissionen vor allem der Montanindustrie rückte das Ruhrgebiet nun umweltpolitisch verstärkt in den Mittelpunkt. Seit 1952 waren Luft- und Gewässerreinheit Gegenstand der Bundespolitik.158 Danach waren der schwere Dunst über dem Ruhrgebiet und die dunkelgrauen Fassaden seiner Häuser immer häufiger die sinnbildlichen Kulissen, vor denen sich die dramatischen Schicksale der Bergarbeiter abspielten, die von Einfachheit, Krankheit und frühem Tod handelten und damit eine alte Ungerechtigkeit und einen berufsständischen Exzeptionismus repräsentierten, und die auch das öffentliche Bild des Ruhrgebiets maßgeblich mitprägten: 156 157 158
Papas Gewerkschaft ist tot, in: ZEIT, 2. Oktober 1964. Deutscher Bundestag, 5. WP, 80. Sitzung, 16.03.1966. Ditt 2003, S. 305–348, hier S. 319 ff.
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Fast 18 Jahre lang hatte Hauer L. aus der großen grauen Ruhrgebietsstadt vor Kohle gestanden. Jetzt besitzt er ein nettes Siedlungshäuschen. Seiner Frau und seinen beiden Kindern geht es gut, aber L. wird seines Lebens nicht mehr recht froh. Eigentlich war er nie richtig krank gewesen, […] bis dieses Stechen in der linken Brustseite begann, die Luft bei der Arbeit so seltsam knapp wurde […].159
Bald war es aber nicht mehr allein der Bergmann, dessen Gesundheit bedroht war und der sein Leben für das Wohl seiner Familie hergab. Mit dem wachsenden Bewusstsein für die Gefahren, die den Lungen auch außerhalb der Zechentore drohten, schien die Geißel des Staubes nicht mehr vor den Orten der Erholung und der Familie Halt zu machen, sondern sich als graues Leichentuch über die gesamte Region zu legen: Der Bergmann wrackt nicht nur in einer gefahrvollen, schweren und verantwortungsvollen Arbeit, sondern ist auch noch den Unbilden von Staub und Dreck ausgesetzt, die im krassen Gegensatz zu den Verhütungsmaßnahmen stehen. Der Würger Staub fügt ihm von Schicht zu Schicht ungeheuren Schaden zu; denn die Geißel Silikose wird immer bedrohlicher. Kommt der Kumpel nach Hause, ist er einer neuen Gefahr ausgesetzt. Nicht nur er, sondern auch seine Familie, seine Kinder und die Mütter und Frauen werden von einer Geißel geschlagen. Die Luft im Ruhrgebiet ist lauter Gift und Pest.160
Die inzwischen einsetzende Umweltdebatte, die sich an den verschmutzten Gewässern und der belasteten Luft im Ruhrgebiet entzündete, erreichte eine wesentlich höhere Aufmerksamkeit in den überregionalen Medien der Bundesrepublik, und schuf neuartige mediale Repräsentationen des „Ruhrbewohners“. Dieser hauste inmitten des Steinkohlenbergbaus und der Eisen- und Stahlindustrie, die gleichzeitig die wichtigsten Arbeitgeber der Region waren, doch er lebte „mithin gefährlich“ unter dem erstickenden Dauerfeuer der Schlote, die sein Zuhause mit Tonnen giftigen Staubes bedeckten. Kinder entwickelten sich schlechter und litten häufiger an Lungenerkrankungen und Erwachsene erkrankten signifikant häufiger an Lungenkrebs, wie die Ärzte aus den regionalen Kliniken zu Protokoll gaben.161 Bislang hätten die „Ruhrbewohner“ mit den Alltagsmiseren – „Revierlack“ auf dem Auto, Kellner, die dreimal täglich das weiße Hemd wechselten – weitgehend abgefunden; diese schimpften zwar, aber resignierten schließlich. Mit dem SPD-Wahlkampf Willy Brandts, der auf die „erschreckenden Untersuchungsergebnisse“ über den Zusammenhang von industrieller Umweltbelastung und Gesundheitsschäden verwies, sei das Problem nun aber der gesamten
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Geißel der Bergleute: Silikose, in: Westfälische Rundschau, 16. April 1955. Staub – Staub – Staub, in: Die Bergbauindustrie, 2. Februar 1957. Zu blauen Himmeln, in: SPIEGEL 1961/33 (1961).
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bundesrepublikanischen Gesellschaft nahegebracht worden.162 Denn auch wenn das Ruhrgebiet im Fokus einer neuen Umweltdebatte stand, so ließ sich Staubbelastung durch Verkehr und Industrie doch überall messen – nicht nur in Bergwerken tief unter der Erde des „Kohlenpotts“. Während die Umweltdebatte um Luftverschmutzung und andere Belastungen ab Ende der sechziger und dann insbesondere in den siebziger Jahren eine bis dahin beispiellose Konjunktur erlebte,163 verschwand die Silikosegefahr fast vollständig aus dem öffentlichen Blickfeld. Das Bild des staubschluckenden, von krankmachenden Umwelteinflüssen geplagten Bergmanns verschmolz nun allmählich mit dem Bild des „Ruhrbewohners“ und den Repräsentationen, die als charakteristisch für das Ruhrgebiet und seine (post-)industrielle Gegenwart und Vergangenheit galten. Der durch die schwere Arbeit gemarterte und bis zur Hinfälligkeit gealterte BergmannsKörper war damit aber nicht mehr omnipräsente Mahnung vor einer gefahrvollen, unsicheren Zukunft, die ins letztendliche Schicksals eines frühen, unverdienten und ungerechten Todes führte, und die es durch sozialpolitische Maßnahmen abzufedern und wissenschaftliche Interventionen umzuformen galt. Vielmehr setzte eine erinnerungskulturelle Historisierung der „staubfressenden“ Bergleute ein: Während der einzelne Kranke wieder aus dem öffentlichen Diskurs verschwand, ging der Topos des Staublungenkranken auf in einer rekonfigurierten Meister-Erzählung über „das Ruhrgebiet“ insgesamt, die im Wesentlichen noch bis heute Bestand hat. Als regionale, aber entpersonalisierte Repräsentation stand er symbolisch für die industriell-traditionelle Geschichte des Ruhrgebiets als Ganzes und nicht mehr so sehr für das Leiden der Bergarbeiterschaft im engeren Sinne. Das bedeutete aber auch, dass im Diskurs über die Silikose nicht mehr Fragen der Eigentums- und Machtverhältnisse im Bergbau und in der Sozialversicherung, die Gestaltung des Arbeitsschutzes oder die individuellen Leistungen aus der Kranken-, Renten- oder Unfallkasse problematisiert und politisiert wurden, sondern der Aufstieg und Fall einer Industrieregion. Die Vorstellung vom bergmännischen Opfer im Dienste der Gesellschaft, die in den fünfziger Jahren noch auf die Teilöffentlichkeit der (organisierten) Bergarbeiterschaft beschränkt gewesen war, ging darin auf und übertrug sich sogar vom Bergmann auf die Region, für dessen Geschichte er inzwischen sinnbildlich stand. Was ihm der Quarzstaub unter Tage gewesen war, waren dem „Ruhrbewohner“ nun Smog und Schwefel der westdeutschen Montanindustrie. Diese umstrittene erinnerungskulturelle „Normalisierung“ der Kumpel im Verhältnis zur bundesrepublikanischen Gesellschaft fand ihre Entsprechung im einsetzenden regionalen Strukturwandel eines Gebiets, das nach dem „Boom“ der ersten beiden Jahrzehnte nach Gründung der Bundesrepublik immer stärker landesweit als ökonomische wie soziale Problemzone wahrgenommen wurde,
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Ebd. Vgl. Radkau 2011.
Zwischenfazit: Von geschlagenen und neuen Helden
für sich aber in Anspruch nahm – nicht zuletzt mit Verweis auf den Steinkohlenbergbau – die materiellen Grundlagen des westdeutschen Wohlstands erwirtschaftet zu haben. So rückte die Staublunge der Bergleute gerade in jener Zeit aus dem öffentlichen Problemhorizont, als die gesamte Bergbauindustrie nicht mehr als boomende, sondern als kränkelnde, ja absterbende Branche wahrgenommen wurde. 2.5
Zwischenfazit: Von geschlagenen und neuen Helden
Ein sprachliches Bild, das sich durch den gesamten Untersuchungszeitraum zog, war das eines beständigen Kampfes des Menschen gegen die Naturgewalten. Es war ein verlustreicher Kampf, in dem Menschen der Erde die kostbaren Rohstoffe abtrotzen, von denen das moderne Leben – allzumal kurz nach dem Zweiten Weltkrieg – energiewirtschaftlich so abhängig war. Auf dem Altar der Industrie-Moderne opferte der Bergmann dabei seine Gesundheit. Mit dem „Fluch“ der Silikose belegt schienen die Bergleute geschlagen, doch es nahte Hilfe: die Wissenschaft betrat als deus ex machina die Bühne, um zu leisten, was die Arbeiter allein zu schaffen außer Stande waren: nämlich die tückische Silikose mithilfe von Medizin und Technik zu „besiegen“. Die öffentliche Debatte über die Silikose gliederte sich in drei Phasen, die einen Bogen von der Entdeckung der Berufskrankheit als sozialem und gesellschaftlichem Problem über ihre Bewältigung bis schließlich hin zu ihrem allmählichen Vergessen spannten. Darüber legten sich freilich noch andere, längerfristige Entwicklungen, die sich in dieser Debatte niederschlugen: eine sich pluralisierende kritische Medienöffentlichkeit; der schrittweise Ausbau der sozialstaatlichen Institutionen und Leistungen; und nicht zuletzt die wachsende Bedeutung wissenschaftsförmigen Wissens im politischen Diskurs – der in den Sechzigern stets wachsende Glaube an eine umfassende Machbarkeit und Gestaltbarkeit des Sozialen.164 Die zentrale Bedeutung der politischen Zäsuren 1945 bzw. 1949 ist vor diesem Hintergrund unbestreitbar: Die Schaffung eines seinem Selbstverständnis nach demokratischen und sozialen Staates im Westen bestimmten die Rahmenbedingungen der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit nach NS-Diktatur und Weltkrieg. Dagegen war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch kaum bestimmt, welche Stimmen die mit Fragen der Gesundheit im Bergbau befassten gesellschaftlichen Gruppen in einer öffentlichen Debatte haben und welches Verhältnis ihre Repräsentanten zueinander finden würden. Erst mit den gesetzlichen Weichenstellungen zu Beginn der fünfziger Jahre, die die Mitbestimmung in den Montanbetrieben und in der Sozialversicherung regelten, wurden auch die Bestrebungen zur Verstaatlichung des Bergbaus und zur Schaffung einer Einheitsversicherung, wie sie im anderen deutschen Staat, der DDR, direkt nach dem Krieg umfassend Wirklichkeit geworden war,
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Vgl. hierzu bspw. Hartmann/Vogel 2010.
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beerdigt. War die Arbeitergesundheit aus Sicht der Gewerkschaften bis dato noch eng mit den politischen Ambitionen einer Sozialisierung der gesamten Montanwirtschaft verbunden, wurde das Thema Gesundheit zu Beginn der fünfziger Jahre und im Kontext eines scharfen Systemwettstreits zwischen West und Ost von utopisch-politischen Großvisionen entkoppelt und in einem sehr technischen Diskurs problematisiert, der sich um die richtigen betrieblichen Verhütungsstrategien konzentrierte. In der ersten Phase versuchten Gewerkschaftsvertreter über ihr Presseorgan bereits früh an den wissenschaftlich-technischen Debatten über das entdeckte Problem teilzuhaben und beteiligten sich an den Spekulationen über die „wahren“ Ursachen der massenhaften Silikose sowie die richtigen Maßnahmen, um ihr konsequent zu begegnen. In der verbreiteten Gewissheit, dass durchaus schon Technologien existierten, die wirksam gegen den gefährlichen Staub eingesetzt werden könnten, ergaben sich dabei zwei unterschiedliche Deutungsweisen: Die Bergbaubetriebe unternähmen entweder noch nicht genug, um diese Techniken zu implementieren; oder die mangelnde konsequente Mitarbeit aller Bergarbeiter stand ihrem Erfolg im Wege. Selbst auf gewerkschaftlicher Seite bestanden Bedenken, ob nicht einzelne schwarze Schafe im Betriebsalltag alle Anstrengungen zunichtemachen könnten. Die Bergarbeiter konnten das Problem also nicht allein bewältigen. Doch aus der Welt der Wissenschaft und Technik vermeldete die Presse der fünfziger Jahre immer wieder neue, Hoffnung weckende Entdeckungen und teilweise abenteuerliche Innovationen. Der Held, der der neuen untertägigen Naturgewalt letztlich die Stirn bieten würde, war nun aber gerade nicht mehr der kohleverschmierte Kumpel, sondern der weißbekittelte Wissenschaftler. Prominente Fachvertreter verliehen der Wissenschaft dabei als wagemutige Forscherpersönlichkeiten öffentlich ein Gesicht. Die Herausforderung bestand nun darin, das Problem mit den Mitteln der Wissenschaft, Medizin und Technik zu bewältigen. Das Narrativ der Mediziner und Ingenieure, die dem unter der „Geißel“ der Silikose darbenden Bergarbeiter zu Hilfe eilten, wurde während der zweiten Phase der öffentlichen Diskussionen in den fünfziger Jahren von Deutungskämpfen darüber begleitet, ob die akute Gesundheitskrise bereits überwunden sei oder nicht. Stets schwang dabei ungeachtet der Autorität der wissenschaftlichen Experten der Vorbehalt mit, dass trotz aller Forschung doch noch nicht alle Geheimnisse der Krankheit, ihrer Ursachen sowie ihrer Behandlung gelüftet seien. Wichtigster Anhaltspunkt wurden deshalb die amtlichen Statistiken, die in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre noch bedrohliche Signale aussendeten, bevor sie in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts den Optimisten Recht zu geben schienen, die das Schlimmste überwunden sahen. Stimmen gegen einen solchen Optimismus speisten ihre Argumente in der Folge entweder auf eine kritischere Lesart desselben Zahlenmaterials oder aber auf intimere, individuelle Portraits des bergmännischen Elends, das die Silikose in den zurückliegenden Jahren hinterlassen hatte. Persönliche Schicksale konterkarierten damit die rosigen Zahlen zum steigenden Sterbealter erkrankter Bergleute.
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Diese Grundspannung verstärkte sich am Anfang der dritten Phase in den sechziger Jahren noch weiter. Die Statistiken über Lebenserwartung und Sterbealter schienen sich jedes Jahr weiter zu bessern, die Zahl der neuen Versicherungsfälle sank ebenfalls. Die einst unter den außerordentlichen Gefahren leidende Bergarbeiterschaft schien sich gegenüber der Durchschnittsbevölkerung gesundheitlich zu normalisieren. Gegen die Vorstellung, dass die Bergarbeit eine Tätigkeit wie jede andere sei, kämpfte ihre Gewerkschaft allerdings mit Nachdruck an, und je mehr ihr die politische Hebelwirkung besorgniserregender Silikose-Statistiken abhandenkam, desto stärker rückte sie die Frage der sozialen Gerechtigkeit in den Fokus: Denn die Bergarbeit sei nicht nur weiterhin außergewöhnlich hart; die Bergarbeiterschaft habe darüber hinaus auch persönliche Opfer im Dienste der Gesamtgesellschaft gebracht. Während die meisten Westdeutschen inzwischen den Wohlstand des Nachkriegsbooms genössen, so die Argumentation, fristeten jene, die ihn im Steinkohlenbergbau zupackend miterwirtschaftet hatten, ein schlecht entschädigtes Rentnerdasein mit kaputten Lungen. Es war, um im Bild zu bleiben, der Versuch, den vermeintlich geschlagenen Helden Berg-Mann zu rehabilitieren und zu seinem Recht auf gesellschaftliche Anerkennung und gebührende Kompensation zu verhelfen. Mit der Konjunktur der Umweltdebatte im Laufe der sechziger und der siebziger Jahre schmolz das symbolische Bild des geschlagenen, kranken und problematischen Bergarbeiters jedoch in einen breiteren und bis heute prominenteren Ökologie-Diskurs über die Folgen moderner Industriearbeit für die Umwelt.
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3.
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3.1
Kontinuität und Neuanfang nach 1945
Wissen erscheint als äußerst fluide und wandelbar; seine Ursprünge lassen sich nie punktgenau an einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort festmachen. Und doch lässt es sich als ein historisches Phänomen untersuchen, wenn die Fragen nach diesem Wissen auf seine Träger, seine Medien und seine gesellschaftliche Produktion, Konstitution und Zirkulation abzielen.1 Das vorangegangene Kapitel hat aus einer diskursanalytischen Vogelperspektive nachgezeichnet, wie Wissensfragen über die Silikose immer häufiger an der Schnittstelle von öffentlichem Diskurs und wissenschaftlichen Fachdebatten über das Staublungenproblem aufgegriffen wurden und welche Repräsentationen dabei nicht allein die Krankheit selbst, sondern auch die bedrohten und betroffenen Bergleuten sowie die Ärzte und Wissenschaftler erfuhren. Unter der Oberfläche pressemedialer wie politischer Konjunkturen spielte das Wissen über die Silikose auch eine zentrale praktische Rolle bei der alltäglichen Regulierung der bergmännischen Körper und ihrer Gesundheit, und zwar sowohl in den Betrieben als auch in der Versicherungspraxis. In beiden Perspektiven standen die Bergleute im Fokus des Problems, nämlich als Wissensobjekte, die es zu verstehen galt. Die praktischen Fragen, die daran anknüpften, waren, wie sich die Krankheit zweifelsfrei feststellen ließ und warum sie bei manchen schnell, bei anderen überhaupt nicht aufzutreten schien, und hinsichtlich ihres Verhaltens, vor allen Dingen am Arbeitsplatz, aber auch als Geschädigte und Rentner. Den betroffenen Bergleuten gegenüber standen wissenschaftlich ausgebildete, akademische Experten, die für Entscheidungen der betrieblichen Prävention und bei Rentenverfahren entsprechendes Handlungswissen bereitstellen sollten. In diesem Kapitel soll es deshalb erstens darum gehen zu zeigen, wie diverse Expertengruppen zu ihrer Rolle im Rahmen der Silikoseregulierung gelangten und unter welchen Be-
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An dieser Stelle sei noch einmal verwiesen auf Sarasin 2011, S. 159–172.
Kontinuität und Neuanfang nach 1945
dingungen ihr Wissen in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in die Praxis der Regulierung der Silikose übersetzt wurde. Zweitens soll aber auch gezeigt werden, wie derartiges Wissen konkret kommuniziert, modifiziert oder ausgetauscht wurde. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es bedeutsam daran zu erinnern, dass es nicht allein wissenschaftsförmiges Wissen im Wissensfeld über die Staublunge gab, und dass etwaige Richtungen, in denen Wissen „floss“ sowie Hierarchisierungen von Wissen nicht etwa naturgegeben oder linear, sondern selbst das Resultat gesellschaftlich-historischer Entwicklungen waren, auf die der nun folgende nähere Blick auf die Praxis der Silikose-Regulierung einige Schlaglichter werfen soll. Drittens soll vor diesem Hintergrund dem Zusammenhang von Wissen und Macht an Hand der organisationalen Strukturen nachgespürt werden, die den formellen und institutionellen Rahmen für die Erforschung der Silikose und die gesundheitliche Regulierung im Bergbau bildeten. In Anlehnung an Foucault ist der Zusammenhang zwischen humanwissenschaftlichem Wissen sowie sozialer Kontrolle und staatlicher oder unternehmerischer „Disziplinierung“ zwar immer wieder unterstellt worden; vereinfachende Vorstellungen über hierarisch-lineare Konstellationen zwischen „Oben“ und „Unten“, in denen sich Herrschaft abspiele, können den komplexen Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Akteuren aber kaum befriedigend Rechnung tragen.2 Das zeigt sich umso deutlicher am Beispiel der (west-)deutschen Sozialversicherung, in der verschiedene Körperschaften mit zum Teil unterschiedlichen Organisationskulturen und Selbstverwaltungen ihre gesetzlichen Aufträge interpretierten und gegenläufige Interessen verfolgen konnten – und noch konkreter im Fall der gesetzlichen und praktischen Regulierung der Silikose. Es existierten zwar bereits seit den zwanziger Jahren staatliche Regelungen. Trotzdem war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht klar, wer oder welche Organisation angesichts des allmählich sichtbar werdenden Problems die Initiative ergreifen sollte.3 Mit der Versicherung von Berufskrankheiten durch die gesetzliche Unfallversicherung ab 1925 und der Aufnahme der Silikose in diesen Katalog mit der 2. Berufskrankheiten-Verordnung im Jahre 1929 begann zunächst die Aushandlung der organisationalen Zuständigkeiten, die bis in die Nachkriegszeit andauerte. Den Berufsgenossenschaften fielen zwar die Kosten zu, die durch erwerbsgeminderte und damit rentenberechtigte Arbeiter anfielen; aber neben ihnen hatten auch andere Organisationen und Gruppen ein Interesse daran, die Praxis der Regulierung mitzubestimmen.4 Als die gesetzliche Unfallversicherung im Jahr 1885 geschaffen wurde, hatte es im Bergbau längst im Zuständigkeitsbereich der staatlichen Bergämter gelegen, die Unfallverhütung zu über-
Lutz Raphael kritisiert das Modell der „Sozialdisziplinierung“ für das 20. Jahrhundert daher als anachronistisch: Raphael 1996, S. 165–193, hier S. 184. 3 Überhaupt hat es erst jüngst neue Anstöße dazu gegeben, die Rolle von Organisationen in historiografischen Arbeiten zu konzeptualisieren und kritisch zu reflektieren, vgl. dazu Böick/Schmeer 2020, S. 9–65. 4 Boyer 1995, S. 222. 2
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wachen und entsprechende verbindliche Vorschriften auszusprechen. Dieses Sonderstellung blieb auch nach 1885 weitgehend unangetastet. Die Silikose zeigte sich jedoch nicht nur als eine neuartige, sondern auch grundsätzlich anders geartete Gefahr, weil sie mit langer Verzögerung auftrat und sich graduell wie unaufhaltsam verschlimmerte. Wessen Kompetenz sollte es sein, Vorschriften zu ihrer Bekämpfung zu erlassen und deren Einhaltung zu gewährleisten? Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich diese Frage neu. Dabei war zugleich offen, auf welcher Wissensgrundlage überhaupt entsprechende politische Entscheidungen getroffen sowie administrativ-bürokratische Maßnahmen ergriffen werden sollten. Kurzum: Wer besaß eigentlich entsprechende Expertise oder konnte diese schaffen? Ab 1929 war diese Frage zunächst zwischen der damaligen Knappschafts-Berufsgenossenschaft (ab 1945 Bergbau-Berufsgenossenschaft), der Bergbehörde sowie den Bergbauunternehmen intensiv verhandelt worden, ab 1933 hatte auch die Deutsche Arbeitsfront (DAF) versucht, ihren sozialpolitischen Einfluss geltend zu machen.5 Bereits 1929, im selben Jahr, in dem die 2. Berufskrankheiten-Verordnung in Kraft getreten war, war bei der Bochumer Bezirksverwaltung der Knappschafts-Berufsgenossenschaft die „Hauptprüfstelle für Bohrstaubschutz“ aus der Taufe gehoben worden. Diese kleine Forschungsstelle unterhielt einen untertägigen Versuchsstand und sollte technische Mittel zur Bekämpfung des Staubes entwickeln, der beim maschinellen Bohren entstand. Im Sommer 1935 schlossen sich die Betriebe des Siegerländer Erzbergbaus, wo ähnlich wie im Steinkohlenbergbau ein besorgniserregender Anstieg der Zahl der Erkrankten verzeichnet worden war, zu einer „Notgemeinschaft für Silikosebekämpfung“ zusammen. Das Siegerland befand sich im Zuständigkeitsbereich der Bonner „Sektion I“ der Berufsgenossenschaft, deren 1934 bis 1945 amtierende Geschäftsführer und promovierte Bergbau-Experte Walther Matthiass Sympathien für die DAF hegte und auch die Leitung der Siegerländer Forschungsstelle übernahm, ohne sich aber medizinisch zu betätigen. Diese konzentrierte sich auf die Untersuchung gefährlicher Stäube. Die Hauptgeschäftsführung der Berufsgenossenschaft wollte einen Einfluss der DAF aber um jeden Preis verhindern. Die Bochumer Hauptprüfstelle für Bohrstaubschutz wurde daher 1936 in „Hauptstelle für Staubbekämpfung im Bergbau“ umgewidmet und trug ihren Anspruch nun deutlich im Namen. Die Forschungsbemühungen sollten so in Bochum gebündelt werden; die Kosten teilte sich die Sektionsverwaltung fortan mit der Hauptverwaltung. Staub- und Silikose-Bekämpfung sollten alleinige Angelegenheit der Unfallversicherung sein. Doch es gab bereits Konkurrenz: Auch die in Dortmund ansässige staatliche Bergbehörde machte ihre Kompetenz geltend, während zugleich andernorts weitere Forschungsorganisationen die wissenschaftliche „Führerschaft“ auf diesem Feld beanspruchten. So entstand parallel unter Leitung des Medizinprofessors Karl Wilhelm Jötten und durch Unterstützung
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der Reichsregierung in Münster das „Reichsinstitut für Silikoseforschung“, das sich nicht nur als maßgebliche Forschungseinrichtung verstand, sondern ihr Tätigkeitsgebiet auch ganz explizit im Bergbau sah.6 Karl Wilhelm Jötten und sein Assistent Heinz Reploh – ebenfalls profilierter Silikose-Experte – machten sich bis 1945 mit ihrem 1928 gegründeten Hygienischen Institut an der Universität Münster vor allem einen Namen als Advokaten der eugenischen und rassenhygienischen Lehre, die dem Zwangssterilisierungsprogramm des NS-Regimes Vorschub leistete.7 Nach dem Krieg arbeiteten die Wissenschaftler in Münster weiter, verlagerten ihre Tätigkeit jedoch unter dem veränderten politischen Klima auf die Silikose-Forschung. Nicht zuletzt auf Grund des Krieges arbeiteten die konkurrierenden Stellen auf diesem Gebiet aber mit im Vergleich zur späteren Bundesrepublik bescheidenen Mitteln, limitierten Techniken und dünnen Personaldecken. Die Zahl derer, die die Kompetenz für die wissenschaftliche Grundlagenarbeit auf dem Gebiet der Silikose und die Zuständigkeit für die betriebliche Überwachung der Silikosebekämpfung in Anspruch nahmen, vergrößerte sich erst nach 1945: Während Jötten in Münster Rückendeckung durch die westfälische Provinzialregierung sowie die Universität Münster erhielt, eröffnete der aus Berlin kommende und auf Arbeitsmedizin spezialisierte Professor Ernst Wilhelm Baader in Hamm ein „Institut für Berufskrankheiten“, das auf ärztliche Initiative innerhalb der Ruhr-Knappschaft zurückging. Folglich war das Institut an das örtliche Knappschaftskrankenhaus angegliedert und sollte sich der Silikoseforschung widmen. Auch der „Reichsverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften“, ein Zusammenschluss der deutschen gesetzlichen Unfallversicherer, hatte an seinem Berliner Standort eine eigene „Staubbekämpfungsstelle“ unterhalten. In Bonn wurde ein ähnliches Institut neugegründet, wo der Verband bereits eine Geschäftsstelle unterhielt, die bald darauf sein neuer Hauptsitz als „Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften“ wurde. Die Konkurrenz für die Bergbau-Berufsgenossenschaft in Sachen Silikoseforschung war damit nach dem Krieg sogar zunächst gewachsen. Dagegen war die Tätigkeit ihrer eigenen Hauptstelle in den letzten Kriegsmonaten vorerst ganz zum Erliegen gekommen. Im Sommer 1945 übertrug ihr der Leiter der Berufsgenossenschaft trotzdem absichtsvoll „die gesamte Silikoseforschung im Bergbau“.8 Die zahlreichen Forschungsstellen arbeiteten anfangs mit sehr begrenzten Ressourcen, sodass sie einander nicht verdrängten. Sie gingen überwiegend unabhängig voneinander verschiedenen medizinischen und naturwissenschaftlichen Forschungsfragen nach. Für die diversen Körperschaften, die diese Institute betrieben, besaß eine eigene Forschungsstelle aber auch eine deutliche Signalwirkung: Gerade für die Berufsgenossenschaft erschien es wichtig, sich gegenüber ihren Mitgliedsbetrieben und der Berg6 7 8
Ebd.; BBA 30/229, Organisation der Silikosebekämpfung, 22.11.1946. Vgl. hierzu umfassend Dicke 2004. BBA 30/229, Organisation der Silikosebekämpfung, 22.11.1946.
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behörde als in der Silikosefrage besonders sachverständig zu profilieren. Eigene wissenschaftliche Kompetenz gerade in dieser Zeit, in der noch vieles über die Krankheit unklar war, versprach zugleich auch Handlungswissen für konkrete Maßnahmen. Die Berufsgenossenschaft besaß zwar nicht die Handhabe, um Verordnungen durchzusetzen wie die staatlichen Bergbehörden. Sie wandte sich aber unter Berufung auf die eigene Expertise mit Nachdruck an die Bergbaubetriebe, um auf diese Weise praktische Maßnahmenempfehlungen auszusprechen und das Vorgehen gegen die Staublunge zu konzertieren. Sie setzte ihr Handlungsmuster aus der Kriegs- und Vorkriegszeit fort, indem sie ohne Absprache mit den Bergämtern Nischen in der staatlichen Regulierungspraxis ausfüllte. Dies zeigte sich etwa in den Aktivitäten der Hauptstelle – dem späteren Silikose-Forschungsinstitut – in Bochum, die auf dem Markt erhältliche technische Mittel zur Staubbekämpfung untersuchte und Empfehlungen aussprach.9 Nach dem Krieg mahnte die Berufsgenossenschaft in regelmäßigen Rundschreiben eine technische Staubbekämpfung in den Gruben an und begann außerdem mit der Schaffung einer eigenen Infrastruktur für die Überwachung der betrieblichen Verhältnisse.10 Die Hauptstelle für Staubbekämpfung fungierte dabei als wichtiger Mittler zwischen der Hauptverwaltung der Berufsgenossenschaft und den Zechen, indem sie eigene Kontrolleure in die Betriebe entsandte. Ihre Beobachtungen über die Verhältnisse unter Tage flossen schließlich bereits im Sommer 1946 in konkrete technische Empfehlungen der Berufsgenossenschaft ein. Dazu gehörte auch, vorbildliche Ansätze bekannt zu machen: In jüngster Zeit sind einzelne Zechenverwaltungen dazu übergangen, erfahrene Fahrhauer oder Hauer einzusetzen, die den Sicherheitsbeauftragten unterstehen und sich ausschließlich der Frage der Staubbekämpfung widmen, die insbesondere die Bergleute mit der richtigen Anwendung aller Maßnahmen vertraut machen und geeignete Vorschläge zu einer noch stärkeren Erfassung aller Staubquellen unterbreiten. Diese Verstärkung des Gesundheitsschutzes hat sich nach unserm Eindruck durchaus bewährt. Wir empfehlen deshalb den Zechenverwaltungen, sich dem gekennzeichneten Vorgehen der einzelnen Schachtanlagen anzuschließen.11
Im Zuge dieser Empfehlung brachte die Berufsgenossenschaft ihre eigene WissensKompetenz ins Spiel, denn die Aufsichtspersonen sollten von der Hauptstelle für Staubbekämpfung geschult werden. Deren Leiter war vom Vorstoß zunächst überrumpelt. Durch die starken Zerstörungen im Krieg leitete Martin Landwehr die Hauptstelle mit einer Handvoll Mitarbeitern unter schwierigen Bedingungen. Der promovierte Ingenieur war seinerzeit von der Siegerländer „Notgemeinschaft“ bestellt und noch Boyer 1995, S. 223. Schürmann 2011, S. 187. sv:dok 15/645, Rundschreiben der Bergbau-Berufsgenossenschaft an die Zechenverwaltungen, 14.08.1946.
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1944 nach Bochum abgeordnet worden. Hier drängte die Hauptverwaltung der Berufsgenossenschaft im Sommer 1946 nun auf einen möglichst raschen Beginn der Ausbildungskurse für die zecheneigenen Aufsichtspersonen, die zunächst vorwiegend aus dem umliegenden Ruhrgebiet kommen sollten. Kurz vor Weihnachten 1946 konnte der erste zweitätige Kurs mit spartanischen Lehrmitteln stattfinden. Das Interesse, so berichtete Landwehr unmittelbar im Anschluss, sei lebhaft gewesen und die erschienenen Bergleute – überwiegend Gewerkschaftsmitglieder – hätten ihn mit allerlei Fragen zur Silikose bestürmt. Es waren dabei nicht nur technische Anliegen, die die Bergleute vorgebracht hätten: „Es wurde manchmal versucht, auch juristische Fragen anzuschneiden oder Bedenken gegen die ärztliche Begutachtung vorzubringen. In diesen Fällen wurde keine Antwort erteilt, sondern die Diskussion auf das praktische Gebiet zurückgelenkt.“12 In dieser unangenehmen Szene, die Martin Landwehr eindrücklich beschrieb, offenbarte sich bereits die prinzipielle Wissensvielfalt, die um die noch immer rätselhafte Erkrankung existierte. Sie war nicht nur eine physische Krankheit, eine technische oder medizinische Herausforderung, ein administrativer Versicherungsfall, ein ökonomischer Kostenfaktor, oder etwa eine unheimliche Unbekannte. Sie war potenziell all das und zu jeder Zeit: ein disparates Diskurs- und Wissensfeld, aus dem sich situativ schöpfen ließ. Es zeigt sich aber auch, dass dies kein freier Diskurs und offener Austausch war, sondern dass dieser stets an die Hierarchisierung der Akteure gekoppelt war. Die Ausbildung der betrieblichen Aufsichtspersonen in der Bochumer Hauptstelle verstetigte sich ab 1947 und machte die Einrichtung zum häufig frequentierten und von der Berufsgenossenschaft in ihren Rundschreiben beworbenen Ansprechpartner der Zechen in Fragen der Staub- und Silikosebekämpfung. Um diese zentrale Stellung auch gegenüber den zahlreichen anderen Instituten zu festigen, sollte die Stelle nun kräftig ausgebaut werden. In mehreren Abteilungen sollten Spezialisten unterschiedlicher Fachgebiete die verschiedenen Aspekte der Krankheitsursachen und -folgen erforschen und hiermit ein wissenschaftliches Fundament schaffen, um die Krankheit erfolgreich zurückzudrängen. Dabei blieb zunächst die Frage offen, welche wissenschaftliche Disziplin überhaupt die maßgebende sein sollte: War die Silikose in erster Linie als ein klinisch-medizinisches Problem zu begreifen, das zuvorderst von Ärzten anzugehen war – oder handelte es sich nicht vielmehr um eine technisch-naturwissenschaftliche Herausforderung, deren Ursache der Staub war, sodass die erfolgreiche Silikosebekämpfung mithin von der genauen Kenntnis seiner chemischen oder physikalischen Eigenschaften abhing? Im von der Hauptgeschäftsführung der Bergbau-Berufsgenossenschaft noch Ende 1946 an die Bergbauunternehmen versandten Entwurf waren fünf Abteilungen vorge-
sv:dok 15/645, Hauptstelle für Staubbekämpfung im Bergbau an die Hauptverwaltung der BergbauBerufsgenossenschaft, 21.12.1946.
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sehen, erstens eine physikalisch-chemische, zweitens eine petrographisch-geologische, drittens eine medizinische, viertens eine technische sowie fünftens eine statistische Abteilung.13 Die ersten beiden Abteilungen schienen ein Erbe der von Bergbauexperten in Bonn und Bochum bislang eher theoretisch angelegten Staubforschung gewesen zu sein, der nun neue Abteilungen zur Seite gestellt werden sollten. „Allergrößte Bedenken“ gegen diese anscheinende Priorisierung wurden in einer ersten Stellungnahme der Betriebe hervorgebracht: Auf Grund der Bedeutung der ärztlichen Fragen gehöre die medizinische Abteilung nicht nur an die erste Stelle der Abteilungen, sondern sollte an die Spitze des Instituts, das den Namen „Institut zur Erforschung und Bekämpfung der Berufskrankheiten im Bergbau“ tragen sollte, auch ein ausgewiesener Arzt treten. Direkt an zweiter Stelle müsse außerdem die technische Abteilung folgen, deren Aufgabe die Entwicklung geeigneter Staubbekämpfungs- und Schutzmaßnahmen sein sollte. Der Entwurf verdeutlichte die Vorstellung, dass die Gewinnung theoretischen Wissens und seine praktische Anwendung, aber auch die praktischen Voraussetzungen für seine Gewinnung eng miteinander verknüpft sein mussten. Die minutiöse Bestimmung der chemischen und geologischen Beschaffenheit der Gesteine und Stäube hatte, so die pragmatischen Überlegungen der Unternehmerseite, hinter ihrer möglichst schnellen und effektiven Beseitigung zurückzustehen. Außerdem müsse noch eine sechste, entscheidende Abteilung geschaffen werden: Während des Zweiten Weltkrieges waren die deutschen Silikoseforscher weitgehend von der internationalen Publikationstätigkeit abgeschnitten gewesen. Eine eigenständige „Schrifttumsabteilung“ sollte die Rückstände aufarbeiten, damit das Institut wieder Anschluss an die Erfahrungen ausländischer Experten finden konnte.14 Die spätere organisationale Gliederung ging in weiten Teilen auf diese Vorschläge ein. Unter dem Dach der berufsgenossenschaftlichen Hauptverwaltung sollte eine personale Doppelspitze aus ärztlichem und technischem Leiter das neue Institut leiten, das nun „Silikose-Forschungsinstitut“ heißen sollte. Während die medizinische Seite über eigenes ärztliches Personal sowie einen Beirat namhafter Koryphäen verfügen sollte, wurden die naturwissenschaftlichen Disziplinen der praktischen Staubbekämpfung zur Seite gestellt. Über die Hauptverwaltung sollten die für die betriebliche Praxis relevanten Erkenntnisse an die Bezirksverwaltungen weitergegeben werden, in deren Hand auch die Überwachung der Einzelbetriebe lag, in denen wiederum die vom Silikose-Forschungsinstitut ausgebildeten Aufsichtspersonen die alltägliche Anwendung der Staubbekämpfungsmittel überwachen und anmahnen sollten.15
BBA 30/229, Organisation der Silikosebekämpfung, 22.11.1946. BBA 30/229, Organisation der Silikosebekämpfung, Stellungnahme zur Ausarbeitung Hess vom 22.11.1946, 06.01.1947. 15 sv:dok 15/526, Organigramm, 1948. 13 14
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Die Jahre 1947 und 1948 wurden im Silikose-Forschungsinstitut weiter von der Instandsetzung und vom Ausbau seiner Räumlichkeiten geprägt. Wegen des Mangels an Material und Arbeitskräften kamen die Arbeiten nur schleppend voran. Im September 1947 beherbergte die Stelle 13 Mitarbeiter, wobei Hausmeister, Kraftfahrer und drei Schreibkräfte inbegriffen waren. Die ärztliche Leitung wurde von Viktor Reichmann in freier Mitarbeit neben seiner eigentlichen Stelle beim berufsgenossenschaftlichen Klinikum Bergmannsheil in Bochum wahrgenommen, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft sich auch das Institut befand. Reichmann galt als einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Silikoseforschung. Seine 1931 erschienene Arbeit über die Begutachtung der Silikose war maßgeblich für die praktische Auslegung der gesetzlichen Grundlage des Rentenanspruchs wegen einer Staublunge.16 Die technische Leitung unter Martin Landwehr und seinem Stellvertreter verfügte lediglich über einen Assistenten und zwei ausgebildete Bergleute. Um zu überprüfen, ob die Vorschriften zur Staubbekämpfung in den Betrieben auch eingehalten wurden und um statistische Daten zu erheben, stand die technische Abteilung der genossenschaftlichen Bezirksverwaltung dem Institut mit zwei Kontrolleuren zur Seite.17 Das Dach, die Fassade sowie die Fenster des Gebäudes trugen indessen 1948 immer noch deutliche Spuren der Kriegszerstörungen, die beseitigt werden mussten. Im Inneren musste die notwendige Technik für die Büros und Labore Raum für Raum aufwendig wiederhergerichtet werden. Die meisten dieser Arbeiten kamen erst Ende 1948 nach der Währungsreform spürbar voran. Ende des Jahres beschäftigte das Institut 22 Angestellte und Arbeiter.18 Der gezielte Ausbau der Hauptstelle für Staubbekämpfung zum Forschungsinstitut wurde den Bewerksbetrieben als grundsätzliche Neuorganisation der Staubbekämpfung im Bergbau angekündigt. Fortan würde dieser Zentralstelle „die gesamte wissenschaftliche, technische und medizinische Erforschung der Staublungenerkrankungen und die einheitliche Lenkung auf dem Gebiete der Silikosebekämpfung im Bergbau“ obliegen. Die mit der praktischen Durchführung beauftragten Bezirksverwaltungen der Berufsgenossenschaft seien dabei aber auf die Mitarbeit der Mitgliedsbetriebe angewiesen: Denn damit die Forschungsarbeit in der Praxis rasch Früchte tragen könne, müssten die entwickelten Bekämpfungsmaßnahmen auch konsequent zur Anwendung kommen.19 Die Intensivierung der Forschungstätigkeit brachte die Experten des Reichmann 1931. sv:dok 15/3879, Vierteljahresbericht der Hauptstelle für Staubbekämpfung im Bergbau vom 1. April bis 30. Juni 1947, 08.10.1947; sv:dok 15/3879, Vierteljahresbericht der Hauptstelle für Staubbekämpfung im Bergbau vom 1. Juli bis 30. September 1947, 08.10.1947. 18 IGF 0433, Jahresbericht des Silikose-Forschungsinstitutes der Bergbau-Berufsgenossenschaft für das Jahr 1948. 19 BBA 40/468, Hauptverwaltung der Bergbau-Berufsgenossenschaft an die Mitgliedswerke, Bekämpfung der Staublungenerkrankungen, 09.04.1947.
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Silikose-Forschungsinstituts über diese Kooperation in engen Kontakt mit den Betrieben, ihrem Leitungspersonal sowie den Belegschaften. Sie blieben dennoch nicht die einzigen, die sich über die Silikose und ihre Ursachen Gedanken machten: Insbesondere kurz nach dem Krieg kursierten verschiedene Hypothesen über die Staublunge, die von unterschiedlichen Akteuren in Umlauf gebracht oder in Umlauf gehalten wurden, die die Ursache mal in der körperlichen Schwäche der betroffenen, mal in den geologischen Eigenheiten der Bergbaureviere sahen. Auch die Ruhr-Knappschaft, regionaler Träger der bergmännischen Kranken- und Rentenversicherung, trieb die Frage an, ob und in welchem Maße sich die Silikose zu einer Bedrohung für den gesamten Bergbau auswachsen würde. Im Frühjahr 1946 wandte sich zunächst der Verein der Knappschaftsärzte an die Ruhr-Knappschaft und vertrat die Auffassung, dass die höheren Erkrankungsziffern in ihrem Einzugsbereich Resultat der regionalen geologischen Beschaffenheit sei, die zu einer höheren Konzentration kieselsäurehaltigen Staubes führe. Diese These war nicht neu, sondern entsprang im Wesentlichen der Forschung der bislang von Technikern und Geologen dominierten berufsgenossenschaftlichen Hauptstelle für Staubbekämpfung bis 1946. Der Brief lag auch dem Leiter der berufsgenossenschaftlichen Hauptstelle für Staubbekämpfung, Martin Landwehr, vor. Landwehr war selbst Autor einen solchen geologischen Atlas gewesen. Allerdings hatte er sich mittlerweile eine andere, physiologische Erklärung angeeignet. Gegenüber der Berufsgenossenschaft bezog er Stellung zur These der Ruhr-Knappschaft und teilte mit, dass die Art des Staubes […] nicht als Grund für die Zunahme der Erkrankungsziffer angenommen werden [kann], vielmehr wird derselbe z. T. in den Ernährungsverhältnissen liegen, da im hiesigen Bezirk landwirtschaftliches Hinterland praktisch nicht vorhanden ist. Hinzu kommt die augenblickliche Einstellung der Bergleute zur Arbeit an sich, wofür von den Bergleuten in erster Linie ebenfalls die Ernährungsverhältnisse als Ursache angegeben werden. […] Wir vertreten die Ansicht, daß mit Eintritt geordneter Verhältnisse und einer Verbesserung des Lebensstandards der gesamten Bevölkerung des Ruhrreviers das Krankheitsbild in günstigem Sinne beeinflußt wird.20
Demgegenüber argumentierten die Fachärzte der knappschaftlichen Kliniken mit den geologisch-chemischen Ergebnissen eben jenes Mannes, der sich auf der anderen Seite auf die medizinische These eingelassen hatte, dass die kriegs- und mangelbedingt vorrübergehend kollektiv geschwächte Konstitution der Ruhrbevölkerung die steigende Zahl registrierter Erkrankungen erkläre. Dies steht sinnbildlich für die fachübergreifende Zusammenarbeit unterschiedlicher Expertengruppen und ihren regen diskursi-
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IGF H0087, Dr. Landwehr/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Bezirksverwaltung Bochum, 01.03.1946.
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ven Austausch; gemeinsam war ihnen in der Nachkriegszeit aber die Suche nach einer physiologischen Lösung für das Problem. Die Ursache der Silikose schien in den Augen der forschenden Zeitgenossen irgendwo im individuellen menschlichen Körper verborgen zu liegen und hing maßgeblich von der Beschaffenheit des Staubes ab. Wie der Krankheitsagent, der feine Gesteinsstaub, in die Lungen gelangte, sich dort festsetzte, und wie er pathogen wirkte, also der Silikose zum Ausbruch verhalf, schien letztlich im jeweiligen Körper des Bergmanns begründet zu liegen. Dementsprechend galt dieser menschlichen Schnittstelle zwischen Gefahrenquelle und Krankheit die ganze Aufmerksamkeit der Silikose-Experten. Irgendwie musste es möglich sein, so die Überlegungen, in den physiologischen Prozess einzugreifen, um die Pathogenese günstig zu beeinflussen. Hierfür gab es bereits Praxisbeispiele, an die sich anknüpfen ließ und die Ende der vierziger Jahre rasch mit Hoffnungen aufgeladen wurden: die Inhalation von „Schutzstoffen“. Vorreiter auf diesem Gebiet war in Deutschland der Münsteraner Medizinprofessor Karl Wilhelm Jötten, der bereits vor 1945 in Konkurrenz zur berufsgenossenschaftseigenen Staubforschung gestanden hatte. Seit den zwanziger Jahren führte Jötten in Münster Tierexperimente durch, um Lungenerkrankungen zu erforschen. Sein besonderes Interesse galt dabei der Suche nach Mitteln und Wegen der medizinischen Prophylaxe, die er in Stoffen wähnte, die den lungengängigen Feinstaub unschädlichen machen würden.21 Jöttens Überlegungen und Experimente stützten sich auf eine umfangreiche internationale Forschung zu „Leitstäuben“, die als Alternative zur mit Wasser betriebenen technischen Staubbekämpfung dienen sollte. Die Suche nach einem „Schutzstoff “, der nur noch in die Lungen eingebracht werden müsste und den Prozess der Silikoseentstehung unterbinde, ging in verschiedenste Richtungen. Gewiss schien nur, dass es einen solchen Stoff geben musste. Von den Experten auf diesem Gebiet kam ausgerechnet die Kohle selbst besonders in Betracht. Britische Forscher hätten die Beobachtung gemacht, dass Kohlenhauer gegenüber der Silikose resistent seien.22 Außerdem schienen verschiedene Calciumverbindungen wie Kreide einen günstigen Effekt zu haben, ferner auch Gips, Kalkschiefer, Magnesiumoder Eisenverbindungen. Am weitesten gingen die Meinungen in der internationalen
Vgl. dazu den auf der ersten internationalen Silikose-Konferenz in Südafrika von Böhme veröffentlichten Bericht: Böhme 1930, S. 339–383, hier S. 350 ff. 22 Gleichzeitig war die Kohlenstaublunge ein in Großbritannien beschriebenes eigenes Krankheitsbild, das später auch als Berufskrankheit anerkannt wurde. Ich habe in einem Beitrag zu einem Tagungsband für einen internationalen Workshop in Shanghai bereits auf die trotz aufwendigen internationalen Austauschs lange persistierenden semantischen nationalen Unterschiede in den Staublungendiskursen hingewiesen, die sich vor allem an Hand der Kohlenstaublunge zeigen lassen. Leider ist der Beitrag bislang nur in seiner chinesischen Übersetzung erschienen, sodass ich Ihnen den Literaturverweis an dieser Stelle erspare. Die Beobachtung ergab sich aus Gesprächen mit Arthur McIvor, der das Thema vor allem für Schottland und Wales intensiv historisch untersucht hat. Vgl. zur Debatte über die Kohlenstaublunge in Großbritannien sein Buch McIvor/Johnston 2007. 21
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Forschungsdebatte bei Aluminium auseinander: Von kanadischen und US-amerikanischen Experten für günstig befunden, waren die europäischen Kollegen skeptisch bis ablehnend gestimmt. Doch auch bei den anderen Stoffen kamen verschiedene Versuche zu unterschiedlichen Ergebnissen.23 Die berufsgenossenschaftliche Silikose-Forschung erprobte sich ebenfalls auf diesem Gebiet und versuchte den Nachweis direkt am Menschen zu führen. Die Hauptstelle für Staubbekämpfung hatte in Zusammenarbeit mit einigen Zechen schon während des Krieges und dann wieder Ende 1945 entsprechende Inhalationsexperimente mit Bergleuten durchgeführt. Bereits im August 1945 hatten sich die beiden berufsgenossenschaftlichen Experten Martin Landwehr und Viktor Reichmann dazu entschlossen, Wilhelm Silberkuhl, seit 1934 Chefarzt am berufsgenossenschaftlichen Unfallklinikum Bergmannsheil II in Gelsenkirchen-Buer,24 hinzuzuziehen. Bei ersten Versuchen, die noch im April 1937 im Siegerland unternommen worden waren, hatten sich noch keine aus medizinischer Sicht verwertbaren Erkenntnisse ergeben. Nun sollte aber noch einmal geprüft werden, ob es vielleicht doch Sinn ergäbe, derartige Reihen-Experimente durchzuführen.25 Am 12. Dezember 1945 kamen Martin Landwehr, Friedrich Hess26 als stellvertretender Geschäftsführer der Hauptverwaltung der Berufsgenossenschaft sowie der Sicherheitsbeauftragte der Gelsenkirchener Zeche Hugo bei Wilhelm Silberkuhl im Bergmannsheil II in Buer zusammen, um sich über die bisherigen Erfahrungen mit den Inhalationsexperimenten der letzten Jahre auszutauschen, die auf Hugo durchgeführt wurden. Von anfänglich 18 Bergleuten nahm Ende 1945 allerdings nur noch ein einziger teil und inhalierte regelmäßig Kalkstaub, von dem sich die Forscher eine prophylaktische Wirkung gegen schädlichen Gesteinsstaub versprochen hatten. Das nachlassende Interesse der anderen Männer sei damit zu begründen, dass sie aus betrieblichen Gründen nicht mehr später ein- und früher ausfahren dürften, um so am Experiment teilzunehmen.27 Der individuelle Anreiz eines potentiellen gesundheitlichen Schutzes war dieser Deutung nach nicht stark genug, als dass die Arbeiter dafür zeitliche Verluste in Kauf nehmen wollten. Dafür waren nach einem zwei Monate zurückliegenden Aufruf der Zechenleitung sieben neue Arbeiter hinzugekommen, denen Erleichterungen beim Atmen versprochen worden waren:
sv:dok 15/620, Jötten, K. W.: Die Bekämpfung der Silikose, insbesondere durch Leitstäube, 29.03.1944. Silberkuhl, Wilhelm (1897–1977), in: Kolling, Hubert (Hrsg.): Biographisches Lexikon zur Pflegegeschichte. Who was who in nursing history, Bd. 9, Hungen 2020, S. 224–229.. 25 sv:dok 15/618, Vermerk, betr. Staubinhalation, 10.11.1945. 26 Hess war von 1935 bis 1947 stellvertretender Geschäftsführer der Hauptverwaltung der BergbauBerufsgenossenschaft und wurde daraufhin Hauptgeschäftsführer. Er hatte diese Funktion bis 1954 inne. Vgl. 1956, S. 101. 27 sv:dok 15/618, Aktennotiz, 14.12.1945. 23 24
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Die Inhalierer erschienen freiwillig, drückten sich auf Befragen sehr zuversichtlich aus, können aber keine nennenswerten Erfolge durch das Inhalieren angeben, was seinen Grund in der kurzen Inhalationsdauer haben kann. […] Ablehnende Äusserungen über das Inhalieren wurden nicht gemacht.28
Trotzdem ließ das Interesse der Bergleute an der Kalkstaubinhalation aus Sicht der Experten erheblich zu wünschen übrig. Martin Landwehr nahm gemeinsam mit einem Kollegen von der Hauptverwaltung persönliche Ermittlungen auf, um den Ursachen genauer auf den Grund zu gehen. Diese entdeckte er schließlich in der in seinen Augen bedauernswerten Mentalität der Bergleute auf der Zeche Hugo: Als Begründung für das mangelnde Interesse wird immer wieder der Umstand angegeben, daß die Bergleute an allem, was nicht mit dem körperlichen Wohl zusammenhängt, außerhalb der Schichtzeit uninteressiert seien. Jeder Zeitverlust wird abgelehnt und lieber auf eine mögliche Besserung des gesundheitlichen Befindens verzichtet, als daß ein Zeitverlust in Kauf genommen wird. Besprechungen mit der Betriebsleitung und dem Sicherheitsbeauftragten bestätigten dies immer wieder, so daß der Unterzeichnete [Martin Landwehr, D. T.] den Eindruck gewinnen mußte, daß der Menschenschlag in der Gegend von Buer ganz besonders geartet sein muß.29
Nicht nur seien die Buerer Bergleute besonders schlecht mit den umliegenden Bauernschaften des Ruhrgebiets verbunden, sodass sie sich auch in einem besonders schlechten Ernährungszustand befänden; sie seien zudem auch politisch vollkommen desinteressiert, nur zur Hälfte gewerkschaftlich organisiert und blieben politischen Veranstaltungen größtenteils fern. Nicht einmal Vergünstigungen bei der Essensausgabe hätten die Inhalierer dauerhaft bei der Stange halten können. Der hieraufhin befragte Betriebsrat schlug vor, dass das Inhalieren innerhalb der reinen Schichtzeit durchgeführt werden sollte, damit die Teilnehmer nicht mehr Zeit als sonst auf der Zeche zubringen müssten. Aber die Vorbehalte innerhalb der Belegschaft schienen bereits so groß geworden zu sein, dass inzwischen die Fortführung des Experiments zur Disposition stand.30 Auf Grund ähnlicher Experimente im Siegerland herrschte unter den Fachleuten ohnehin Skepsis, ob durch die Kalkstaubinhalationen überhaupt ein positiver Effekt erreicht werden könne. Silberkuhls Bericht über seinen Austausch mit Jötten über dessen Tierexperimente mit Hamstern und Mäusen in Münster gaben aber Anlass zur Hoffnung, die die Anwesenden zumindest dazu bewegte, sich auf eine Fortführung der Versuche auf der Zeche Hugo zu verständigen. Hess beklagte gegenüber dem noch Ebd. sv:dok 15/618, Ermittlungen über das Nachlassen des Interesses bei der Kalkstaubinhalation auf Zeche Hugo am 2. August 1946, 02.08.1946. 30 Ebd. 28 29
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in Berlin weilenden amtierenden Hauptgeschäftsführer Arnold Röhrig, dass nach Angaben Landwehrs sowohl das Interesse der Bergleute als auch die Zuversicht Silberkuhls gegenüber den Inhalationen gering seien und mahnte, dass nun entweder wieder ein fester Stamm freiwilliger Inhalierer geschaffen werden müsse oder er veranlassen werde, das Experiment ganz einzustellen. Es erschien ihm schließlich zwecklos, „solche halben Sachen zu machen.“31 Ab Mitte August 1946 wurden dafür auf zwei weiteren Zechen der Gütehoffnungshütte in Oberhausen, Osterfeld und Jakobi, zusätzliche Inhalationsversuche aufgenommen, an denen insgesamt 31 Bergleute teilnehmen und neben Kalkstaub auch andere Substanzen einnehmen sollten. Das war kaum mehr als ein halbes Prozent der untertägigen Belegschaft: Im Jahr 1947 beschäftigten beide Zechen zusammen etwa 5.500 Arbeiter unter Tage.32 Gleichzeitig wuchsen auch die Bedenken gegen die zur Inhalation vorgeschlagenen und nun zur Erprobung gelangenden Schutzstoffe: Nach dem vorliegenden Material erschien die Weiterverfolgung der Trocken-CalciumInhalation nicht unbedenklich, so dass eingehendes Studium der vorhandenen Literatur erforderlich war. Da die Bedenken hierdurch noch vermehrt wurden, wurden die medizinischen Gutachter Dr. Pfalzdorf und Dr. Chantraine ausführlich um ihre Stellungnahme zu dem Gesamtproblem gebeten. Nachdem Übereinstimmung darin erzielt war, dass sich die Inhalation nur für die Anfangsstadien der Staublungenerkrankung eignet, wurde bei den im Ruhrgebiet in sehr begrenztem Umfange laufenden Inhalationsversuchen dafür gesorgt, dass nur derartige Fälle zur Inhalation zugelassen werden.33
Bis diese Versuche allerdings signifikante Ergebnisse zeitigen würden, müssten noch einige Jahre vergehen. Von großem Interesse waren daher noch immer die Erfahrungen aus dem Siegerland, wo am 27. Juni 1947 der Bergmann Fritz L. verstorben war, der sich seit 1938 mit besonderer Gewissenhaftigkeit einer Trocken-Calcium-Inhalationstherapie unterzogen hatte. Bei einer ersten Untersuchung Ende November 1938 war bei ihm eine leichte Silikose und „wahrscheinlich inaktive[r]“ Lungentuberkulose diagnostiziert worden, 1939 und 1942 sei diese jeweils als „leichte bis mittlere Silikose“ beschrieben worden. Nach Angaben des behandelnden Arztes habe L. in dieser Zeit weder günstige noch ungünstige Auswirkungen seiner Inhalationen verspürt. Die vorliegenden Informationen aus den Befragungen der Inhalierer ließen allerdings
sv:dok 15/618, Hess/Röhrig, 22.07.1946. Deutsche Kohlenbergbau-Leitung 1949, S. 135 f. IGF 0433, Vierteljahresbericht der Technischen Abteilung der Bergbau-Berufsgenossenschaft, Bezirksverwaltung Bochum, 1. Januar 1946 bis 31. März 1946, 15.04.1946.
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auf unregelmäßiges Erscheinen zu den Sprechtagen schließen, woraus vermutet werden kann, daß auch die Durchführung der Inhalation in der Praxis nicht so gewissenhaft erfolgte, wie dies theoretisch der Fall zu sein scheint.34
Nach Auskunft der Witwe habe ihr Mann aber durch das Inhalieren eine Linderung seiner Beschwerden verspürt und noch bis zum September 1946 „die Inhalation regelmäßig und gewissenhaft durchgeführt“. Allerdings schmälerten nach Martin Landwehrs Auffassung mehrere Umstände das Ergebnis dieser immerhin fast neunjährigen Studie: So könnte der krankheitsbedingte Wechsel vom Gesteinshauer zum Fuhrmann 1937 „auch ohne Inhalation das Krankheitsbild nur den Naturgegebenheiten entsprechend entwickeln“; und dass die Inhalationen wirklich so gewissenhaft wie beteuert durchgeführt worden seien, müsse in Zweifel gezogen werden. Außerdem habe sich das Krankheitsbild im Untersuchungszeitraum letztlich sukzessive verschlechtert. Die von Walter di Biasi, dem Leiter des Pathologischen Instituts am Bergmannsheil Bochum, vorgenommene Obduktion habe „praktisch keinerlei Abweichungen von sonstigen Silikosebildern an obduzierten Leichen“ ergeben.35 Silberkuhl, der sich schon in der Vergangenheit skeptisch geäußert hatte, hielt alle Bemühungen in Sachen Kalkstaubinhalation für vergeblich. Es sei zwar wünschenswert, aber illusorisch, dass ein und derselbe Bergmann zehn bis fünfzehn Jahre ständig regelmäßig inhaliere. Nach seiner Erfahrung „gäben die Leute schon meist nach kurzer Zeit das Verfahren auf. Es sei ihnen lästig, vor und nach jeder Schicht 10 Minuten darauf zu verwenden.“36 Viel praktischer wäre es, einfach ganze Teile der Grube mit Kalkstaub einzustäuben, ohne einzelne Leute an ein Inhaliergerät zu bitten und darauf zu hoffen, dass sie dies auch jahrelang durchhielten. Seine Fachkollegen hielten das für undurchführbar. Aber völlig aufgeben sollte man die Experimente trotz der Rückschläge nicht, das sei schon „mit Rücksicht auf das Aufsehen in der Öffentlichkeit nicht zu empfehlen.“37 Es durfte – gerade bei diesem als drängend wahrgenommenen Gesundheitsproblem – auf keinen Fall negative Schlagzeilen geben. Die Inhalationsexperimente der Kriegs- und Nachkriegszeit offenbarten damit die eklatanten Schwierigkeiten, mit denen sich die frühen Silikose-Experten in ihrem gerade an Konturen gewinnenden Wissensfeld konfrontiert sahen. Nicht nur war es schwierig, überhaupt willige Bergleute zu finden, die sich den Versuchen mit bisher kaum am Menschen erprobten Substanzen aussetzen wollten. Die Zahl derer, die einen solchen Versuch über mehrere Jahre durchhielten, war noch geringer. Der Bergmann offenbarte sich in seinem alltäglichen Verhalten als allzu widerborstiges und
sv:dok 15/655, Ergebnis der mineralogischen Untersuchung von Inhaliererlungen aus dem Siegerländer Spateisenstein-Bergbau, 14.12.1948. 35 Ebd. 36 sv:dok 15/618, Vermerk, 11.03.1948. 37 Ebd. 34
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eigensinniges Studienobjekt, als dass er sich den strengen Ansprüchen der Forscher beugte. Aber selbst die wenigen aus den Experimenten gewonnenen Beobachtungen schienen kaum der Diskussion wert zu sein, denn aus Sicht der Experten blieb meist völlig offen, ob die eingesetzten Schutzstoffe wirksam waren, ob sie auch tatsächlich eingenommen worden waren, und ob nicht ganz andere Faktoren im Untersuchungszeitraum überwogen hatten. Die erhofften Laborbedingungen, unter denen man in der Theorie eine schützende Wirkung zu erwarten hatte, ließen sich im untertägigen Arbeitsalltag unmöglich herstellen. Mit den einsetzenden Reformbestrebungen zur Berufskrankheiten-Verordnung ab 1947 stellte sich unterdessen die Frage der künftigen gesetzlichen Regelung der weiteren Silikose-Regulierung, sodass das politische Interesse an ihr wuchs. Die Bergämter standen zwar als staatliche Kontrollorgane zur Verfügung und waren ermächtigt, über die Bergverordnungen entsprechende Maßnahmen zur Bekämpfung der Silikose anzuordnen. Für deren praktische Ausgestaltung und Umsetzung waren sie allerdings nicht zuständig, denn das blieb Angelegenheit der Bergbaubetriebe. Noch drängender als die Frage, wie die gesetzliche Grundlage zur Eindämmung der Staublunge aussehen sollte, war 1947 aber, wie in der betrieblichen Praxis effektiv gegen die Krankheit vorgegangen werden könnte. Das Zentralamt für Arbeit in der britischen Zone nahm deshalb Fühlung mit der Bergbau-Berufsgenossenschaft sowie der Knappschaft auf, um technische und gesundheitliche Verbesserungsvorschläge für die Betriebe zu machen.38 Grundlage für die zu empfehlenden Maßnahmen sollte ein am 24. März 1947 von Viktor Reichmann, Leiter der Inneren Abteilung am Bergmannsheil Bochum und führender Silikose-Experte, gehaltener Vortrag sein, in dem er in aller Ausführlichkeit darlegte, wie medizinisch gegen die Silikose vorgegangen werden könne.39 Reichmann bekräftigte darin, dass die im Bergbau üblichen ärztlichen Anlegeuntersuchungen dafür Sorge zu tragen hätten, dass die unter Tage eingesetzten Männer gesund und kräftig seien und nicht an chronischen Erkrankungen, insbesondere Bronchitis oder Tuberkulose, litten. Den Erkrankten wurde damit tendenziell eine nicht frühzeitig erkannte mindere Eignung für die harten Bedingungen der Bergarbeit unterstellt. Zugleich gestand der Mediziner aber ein, dass die Arbeitsbedingungen inzwischen so widrig seien, dass auch eine sorgfältige Auslese des Nachwuchses allein nicht ausreiche: Es ist nun möglich, mit Hilfe der techn. und ärztlichen Prophylaxe auch der Silikose wirksam zu begegnen. Ich gehöre nicht zu den Optimisten, die sagen, in absehbarer Zeit wird die Silikose ähnlich wie die Wurmkrankheit der Bergarbeiter der Vergangenheit angehören. Aber ebenso wahr ist auch, dass sie noch zu keiner Zeit ein solches Ausmaß angenommen und zu so schweren Formen wie der jetzigen geführt hat. Es gibt hierfür keine andere
38 39
BArch B149/3142, Verbesserung der vorbeugenden Massnahmen gegen Silikose, 19.12.1947. BArch Z40/281, Abschrift: Vortrag Prof. Reichmann, gehalten am 24.4.1947.
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Erklärung als die, dass für das in unserem Jahrhundert im Bergbau eingeführte maschinelle Bohren verantwortlich zu machen ist.40
Reichmann zeigte sich zuversichtlich, dass es vor allem mit technischen Mitteln der Staubbekämpfung künftig möglich sein würde, das Ausmaß der Staublungen mindestens auf „ihr früheres Niveau“ herabzubringen. Davon schien man seiner Meinung nach nicht mehr weit entfernt, obwohl er gegenwärtig nicht in der Lage [sei, D. T.], Ihnen jetzt anhand von Rö[ntgen]-Bildern oder Statistiken ein Abebben der Silikose vor Augen zu führen. Aber nicht nur wir, auch die Knappschaftsärzte haben die Beobachtung gemacht, dass eine Verlangsamung der Entwicklung der Silikose, und zwar besonders der schweren Formen, stattfindet.41
Einer der profiliertesten Silikose-Experten seiner Zeit musste damit also eingestehen, dass er keinen Überblick über das bloße Ausmaß der Krankheit hatte. Von den Hunderttausenden Bergleuten, die im Bergbau gearbeitet hatten oder neu in den Bergbau gekommen waren, wurde bis 1947 nur ein Bruchteil auf seinen gesundheitlichen Zustand untersucht. Als der Mediziner die guten Aussichten der technischen Staubbekämpfung referierte, hatte demnach noch niemand einen Überblick darüber, wie viele Bergleute tatsächlich betroffen sein könnten. Denn eine Krankheit konnte nur bei denen festgestellt und erfasst werden, die auch ärztlich untersucht wurden. Das sollte sich möglichst schnell ändern. Um die Untersuchungen der Bergleute auszuweiten und zu verstetigen, bat der Unterausschuss „Silikose“ des Ausschusses für Arbeit des Vereinigten Wirtschaftsgebietes den Wirtschaftsrat Ende 1948 um Unterstützung. Auf Grundlage der vorliegenden medizinischen Expertenmeinungen sei es dringend geboten, alle unter Tage tätigen Bergleute zwangsweise und wenigstens alle zwei Jahre ärztlich untersuchen zu lassen. Dafür fehlte es aber immer noch an der notwendigen medizinischen Ausrüstung, vor allem an Röntgengeräten und -filmen. Der Unterausschuss erhoffte sich deshalb Schützenhilfe bei der Beschaffung solcher Bedarfsgüter.42 Die Verwaltung für Arbeit des Wirtschaftsrates erklärte sich für nicht zuständig; der Unfall- und Gesundheitsschutz im Bergbau sei eine Angelegenheit für die Verwaltung für Wirtschaft und damit der ihr unterstehenden Bergämter.43 Die Praxis der medizinischen Überwachung wurde allerdings hauptsächlich durch die Bergbau-Berufsgenossenschaft gelenkt. Ob Staat, Unternehmen, Genossenschaften oder Experten: das Rad der Zuständigkeiten drehte seine Kreise und kam an keiner Stelle zum Stehen.
Ebd. Ebd. BArch B149/3142, Der Vorsitzende des Unterausschusses „Silikose“ des Ausschusses für Arbeit/Verwaltung für Arbeit, 20.12.1948. 43 BArch B149/3142, Vermerk betr. Verhütung der Silikose im Bergbau, 22.01.1949. 40 41 42
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Fritz Paetzold von der Verwaltung für Arbeit, der auch Mitglied des Unterausschusses „Silikose“ war, wandte sich daraufhin direkt an den Hauptgeschäftsführer der Bergbau-Berufsgenossenschaft, Friedrich Hess, um ein fachliches Urteil einzuholen, ob ein zweijähriger Untersuchungsturnus zu bewerkstelligen und zu finanzieren sei. Ein solcher Turnus sollte nämlich in einer geplanten späteren Neufassung der Berufskrankheiten-Verordnung festgeschrieben werden. In der Bizone schätzte die Verwaltung für Arbeit die Zahl der Gefährdeten auf etwa 320.000, was bei einer jeweils alle zwei Jahre durchgeführten Untersuchung 160.000 Röntgenaufnahmen pro Jahr entspräche, und zwar am besten kostspieligere Großaufnahmen, „will man den Forderungen der Fachärzte folgen.“44 Mit einem solchen Untersuchungssetting käme man letztlich auf das Fünffache dessen, was die Bergbau-Berufsgenossenschaft im Jahr 1948 durchgeführt hatte. Für das ehrgeizige Unterfangen bräuchte es deshalb deutlich mehr Röntgengeräte, Röntgenmaterial und ausgebildetes Fachpersonal. Während des Krieges habe man bei Massendurchleuchtungen „ausländischer Arbeitskräfte“ für Röntgenbilder der Lungen allerdings große Fortschritte bei der Rationalisierung solcher Verfahren erzielen können, die optimistisch stimmten. Besonderen Wert legte die Verwaltung für Arbeit auf die Meinung Viktor Reichmanns sowie des Bochumer Silikose-Forschungsinstituts. Fritz Paetzold war langgedienter Ministerialbeamter und bereits vor 1945 im Reichsarbeitsministerium tätig gewesen.45 Aus eigenen Erfahrungen heraus zeigte er sich zuversichtlich, dass die Aufgabe einheitlich zu lösen sei, wenn sie nur an die richtige Stelle delegiert werde: Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß die Durchführung aller etwa zu planenden Maßnahmen zweckmäßig in der Hand des meist interessierten Versicherungsträgers, als Ihrer Berufsgenossenschaft, zusammengefaßt werden müßte. Hoffentlich werden Sie mir alle diese zunächst etwas utopisch anmutenden Anregungen nicht verübeln. Wir Deutschen neigen ja gern dazu, zu „organisieren“. Hier lohnt es sich vielleicht. Jedenfalls sprechen meine persönlichen Erfahrungen aus der Kriegszeit und ebenso meine Erfahrungen, die ich in 25 Jahren bei der Organisation der orthopädischen Versorgung der Kriegsbeschädigten des Reiches gesammelt habe und die zu Einsparungen vieler Millionen im Reichshaushalt führten, für Maßnahmen in dieser Richtung.46
Die meisten Untersuchungsstellen für Bergleute, die geeignet waren, entsprechende Röntgenbilder anzufertigen, lagen in knappschaftlichen oder berufsgenossenschaftlichen Krankenhäusern. 1950 existierten im gesamten Ruhrgebiet 28 Untersuchungs-
sv:dok 15/526, Verwaltung für Arbeit des Vereinigten Wirtschaftsgebietes/Bergbau-Berufsgenossenschaft, 28.12.1948. 45 Münzel 2017, S. 494–550, hier S. 522. 46 sv:dok 15/526, Verwaltung für Arbeit des Vereinigten Wirtschaftsgebietes/Bergbau-Berufsgenossenschaft, 28.12.1948. 44
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stellen. Sie fehlten aber dort, wo die Bergarbeiter anzutreffen waren: auf den Zechen selbst. Um diesem räumlichen wie logistischen Problem zu begegnen und um die Zahl der jährlich durchgeführten Untersuchungen zu erhöhen, wurde im Auftrag des Silikose-Forschungsinstituts der Bergbau-Berufsgenossenschaft 1949 ein neuartiger „Röntgenzug“ von einer Bochumer Firma konstruiert. Dieser Röntgenzug bestand aus einem umgebauten Bus und verschmolz mit seinem Anhänger zu einem mobilen Untersuchungsstelle mit eigenem Fotolabor.47 Am 15. Februar 1950 wurde der Bus in Betrieb genommen.48 Bis Juni wurden mit Hilfe des Röntgenzuges immerhin 2155 Untersuchungen durchgeführt.49 Die mobile Untersuchungsstelle erweiterte nicht nur die Gesamtkapazitäten, sie sparte der Berufsgenossenschaft auch die Kosten für die Anreise der Bergleute zu den Krankenhäusern und den Zechen etwaige Fehlschichten durch den Gang zum Arzt.50 Inzwischen war auch das Silikose-Forschungsinstitut erheblich gewachsen. Seit Anfang Februar 1950 war mit einem Oberarzt des Bergmannsheils Bochum, Helmut Beckmann, ein hauptamtlicher medizinischer Leiter eingesetzt worden, da sein Vorgänger Reichmann wenig Zeit für das Institut hatte aufbringen können.51 Im selben Jahr sollte für die medizinische Grundlagenforschung eine eigene Klinik eingerichtet werden – das in Altenbochum gelegene „Haus Goy“, das bereits vorher mit 45 Betten als Ausweichstelle des vom Krieg beschädigten Bergmannsheil der stationären Behandlung verletzter und kranker Bergleute gedient hatte.52 Nach seiner Renovierung war es im Herbst bezugsfertig und bot Platz für etwa 35 Patienten, überwiegend Bergleute aus dem Einzugsgebiet der berufsgenossenschaftlichen Bezirksverwaltung Bochum. Betreiber war das Bergmannsheil Bochum. Die Silikose-Fachleute, die als behandelnde Ärzte praktizierten, sollten dort für ihre Forschung besonders interessante Fälle beobachten können; aber auch strittige Grenzfälle aus Tauglichkeitsuntersuchungen sollten vorübergehend für weitere Untersuchungen im Haus untergebracht werden.53 Über den Verbleib des Hauses Goy ist nichts Näheres bekannt. Es dürfte sich dabei um ein vorübergehendes Provisorium gehandelt haben, denn noch im Jahre 1955 erhielt die medizinische Abteilung des Silikose-Forschungsinstituts auf dem Gelände des Bergmannsheils eine neue Klinik, um erkrankte Bergleute zu untersuchen und zu behandeln. Welche Ärzte überhaupt zugelassen waren, die Erstuntersuchungen (die sogenannten Anlegeuntersuchungen) und die Nachuntersuchungen der Bergleute durchzuführen, unterlag seit 1935 entsprechenden Durchführungsbestimmungen der Bergverordnung 47 48 49 50 51 52 53
Der Röntgenzug der Bergbauberufsgenossenschaft, in: Die Bergbauindustrie 1950/12 (1950), S. 70. sv:dok 15/1262, Leiterbesprechung am 24. Februar 1950, 24.02.1950. sv:dok 15/1262, Leiterbesprechung am 3. Juni 1950, 03.06.1950. Schürmann 2011, S. 187. sv:dok 15/1262, Leiterbesprechung am 24. Februar 1950, 24.02.1950. Bleidick 2015, S. 31. sv:dok 15/3879, Haus Goy, 17.07.1950.
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des Oberbergamtes, die am 1. September 1950 in neuer Fassung erschienen waren. Die staatlich regulierte Zulassung der Fachärzte erfolgte auf eigenen Antrag und im Einvernehmen zwischen Oberbergamt und dem staatlichen Gewerbearzt. Zuvor waren die Anträge von einem hinzugezogenen ärztlichen Sachverständigenrat erörtert worden.54 Kurze Zeit später hatte die Bergbau-Berufsgenossenschaft Ende Februar 1952 ein „Seminar für die Ausbildung von Werksfürsorgeärzten auf dem Gebiet der Silikose“ ins Leben gerufen, das direkt vom medizinischen Leiter des Silikose-Forschungsinstituts, Helmut Beckmann, geleitet wurde. Als Dozenten hatte die Berufsgenossenschaft alle namhaften Experten auf dem Gebiet gewinnen können.55 In „Seminar-Vorlesungen“ und praktischen Übungen sollten sie ihre einschlägige Expertise direkt an die Werksärzte weitergeben.56 Seitens des Oberbergamtes gab es feste Bestimmungen, welche Qualifikation die in Frage kommenden Ärzte vorweisen müssten. Grundsätzlich sollten sie dazu befähigt werden, „nicht nur Abweichungen vom Normalzustand und Krankheiten“ zu erkennen, sondern auch „die Gesamtkonstitution und damit die Eignung zur Arbeit im untertägigen Bergwerksbetrieb beurteilen können.“57 Der Zusammenhang zwischen der untertägigen Staubbelastung und dem Auftreten der Silikose war spätestens seit der gesetzlichen Anerkennung als Berufskrankheit im Grundsatz unbestritten. So schien zwar klar, dass es „unwahrscheinlich sei, dass Gesteinshauer – auf die sich die frühen Studien über Entstehung und Verlauf der Staublungenkrankheit konzentrierten – überhaupt keine Silikose entwickelten, solange sie nur lange genug im Bergbau tätig seien.58 Das Hauptaugenmerk der Medizin galt aber nach wie vor dem einzelnen Menschen und damit auch der Frage, warum manche schneller und schwerer erkrankten als andere.. In der zeitgenössischen Medizin war es ein Gemeinplatz und eine auch auf die Silikose ausgeweitete Deutungsschablone, dass Menschen erblich zu bestimmten Krankheitsbildern veranlagt seien. Der „dispositionelle Faktor“, so die zeitgenössische Schlussfolgerung, müsse sich auf die Geschwindigkeit der Krankheitsentstehung auswirken:
Zulassung von Ärzten für die Tauglichkeitsuntersuchungen, in: Kompass 61/11 (1951), S. 146. Neben dem zuständigen staatlichen Gewerbearzt Buckup gehörten dazu Schulte, Chefarzt des Knappschaftskrankenhauses Recklinghausen; Husten vom Knappschafts-Krankenhaus in Essen-Steele; Böhme von der Augusta-Krankenanstalt Bochum; Parrisius, Chefarzt des Knappschaftskrankenhauses in EssenSteele; di Biasi und Beckmann vom Silikose-Forschungsinstitut; und Zorn, Chefarzt am Bergmannsheil Bochum. Bei fast allen handelte es sich um Ärzte, die für die Bergbau-Berufsgenossenschaft medizinische Gutachten verfassten, die über Berufskrankheiten-Renten entschieden. Hier zeigt sich neben der geringen Größe der Expertengemeinschaft auch exemplarisch die enge personelle Verflochtenheit zwischen der scientific community und der Wissenspraxis, sowie zwischen versicherungsrechtlicher und betrieblicher Präventionspraxis. 56 Seminar für die Ausbildung von Werksfürsorgeärzten auf dem Gebiet der Silikose, in: Kompass 62/2 (1952). 57 Ebd. 58 Reichmann/Schürmann 1935, S. 18–29, hier S. 21. 54 55
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Da im Ruhrgebiet fast alle Gesteinsarbeiter mit genügend langer Tätigkeit wenigstens leichte silikotische Veränderungen bekommen, vermag sich der angeborene dispositionelle Faktor bei ihnen (wohl auch infolge der Auslese) nur hinsichtlich des Entwicklungstempos der Silikose auswirken.59
Es erschien deshalb notwendig, einen Berufswechsel so frühzeitig vorzunehmen, „bevor das leichte Stadium der Silikose deutlich ausgebrochen“ sei. Seit Einführung der sogenannten Anlegeuntersuchungen im Bergbau war es bereits etablierte Praxis, anzulegende, das heißt angehende Bergarbeiter im Rahmen einer umfassenden Visitation auf ihre körperliche Eignung zu prüfen. Teil der Selbstauskunft der zu Untersuchenden war neben ihrer Arbeitsbiografie, ob sie oder ihre Angehörigen je an einer Tuberkulose gelitten hätten, jener bakteriologischen Lungenkrankheit, die über viele Jahrzehnte die öffentliche Gesundheitsvorsorge und -fürsorge bestimmt hatte – und die überdies bei langgedienten Bergleuten häufig mit einer Staublunge verschränkt war. Die Veranlagung des Menschen zur Silikose ist recht unterschiedlich, so daß im Interesse des Bergmanns selbst gefordert werden muß, daß bereits bei seiner Einstellung durch eine ärztliche Untersuchung festgestellt wird, ob der Betreffende die nötige Widerstandsfähigkeit gegen die Stäube besitzt, oder ob er in Folge Vererbung oder schwächlicher Konstitution dazu neigt, schon in verhältnismäßig kurzer Zeit die Auswirkungen der Staubeinatmung zu bekommen.60
Solche Anlegeuntersuchungen wurden seit der Verschärfung der bergbehördlichen Vorschriften 1935 im Ruhrbergbau und 1940 im gesamten deutschen Bergbau durchgeführt.61 Das dabei ausgestellte ärztliche Zeugnis musste Auskunft über den Zustand der Lunge geben, allerdings war es nicht zwingend vorgeschrieben, hierzu auch ein Röntgenbild des Organs anzufertigen, solange kein begründeter Verdacht einer Silikose oder Lungentuberkulose bestand. Der Hauptzweck der Untersuchungen war vielmehr eine vorsorgliche Auslese angehender Bergleute: Nur nach ärztlicher Auffassung gesunde und kräftige Arbeiter ohne erkennbare Vorerkrankungen sollten so in den Bergbau gelangen. Die Bergbehörden gingen fest davon aus, dass diese weniger schnell an einer Silikose erkranken würden.62 Weitergehende Richtwerte, worin die Widerstandsfähigkeit gegenüber den Staub genau liege, besaßen die untersuchenden Ärzte indes nicht: Ihr Maß blieb die allgemeine Konstitution der Männer, von der allein letztlich auf ihre körperliche Resistenz geschlossen wurde.
59 60 61 62
Ebd., S. 26. sv:dok 15/814, Landwehr, Martin: Wie verhüte ich die Silikose? Schürmann 2011, S. 149. Ebd., S. 149 f.
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3.3
Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren
Regelmäßige Nachuntersuchungen sollten es ermöglichen, so die ärztliche Kalkulation, mutmaßlich anfällige Bergleute aus der staubgefährdeten Arbeit frühzeitig herauszunehmen. In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs hatten diese Vorschriften allerdings immer seltener in der Praxis gegriffen; sowohl Anlege- als auch Nachuntersuchungen waren nicht mehr systematisch durchgeführt worden. Ein wesentlicher Grund dafür war der immer stärkere Einsatz von Zwangsarbeitern im Bergbau gewesen, die überhaupt keinen berufsgenossenschaftlichen oder knappschaftlichen Versicherungsschutz genossen hatten und die in der Regel von Lagerärzten auf ihre Eignung für den Bergbau untersucht worden waren.63 Je intensiver der Krieg tobte und sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche auswirkte, desto stärker wurden die gesundheitlichen Vorkehrungen gegen schwere Staublungen im Sinne einer möglichst hohen Förderleistung gelockert. Ab 1943 sollten nur noch solche Arbeiter für einen Arbeitsplatzwechsel in Frage kommen, bei denen nach einer Herausnahme aus der Staubarbeit wegen einer „Überempfindlichkeit“ noch „genügend Aussichten auf Lebensverlängerung“ bestünden. Selbst schwer Erkrankte konnten somit, falls sie älter als 50 Jahre waren, in der Staubarbeit verbleiben, da gesundheitliche Verbesserungen nicht mehr zu erwarten seien.64 Der bewusste wirtschaftliche Raubbau zu Gunsten kurzfristiger Produktivitätssteigerungen beschränkte sich so nicht allein auf die bergbauliche Infrastruktur,65 sondern die umfassenden Mobilisierungsmaßnahmen des NS-Regimes schlossen insbesondere auch die bergmännischen Körper mit ein. Kurz nach Kriegsende blieben die bergbehördlichen Vorschriften zunächst unangetastet. Als sich die geleerten Ränge der Bergarbeiterschaft – auf Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene konnten die Zechen nun nicht mehr zurückgreifen – in den ersten Monaten nach dem Krieg schnell wieder mit altgedienten sowie neuen Arbeitskräften füllten, wurde allmählich deutlich, wie weit verbreitet die Silikose unter den Bergarbeitern war. Die Bergbau-Berufsgenossenschaft ergriff zuerst die Initiative, besaß aber im Gegensatz den staatlichen Bergämtern keinerlei Befugnis, den Bergwerksunternehmen Vorschriften aufzuerlegen. Daher wollte sich die Berufsgenossenschaft auf die Kraft ihrer Argumente und ihrer Expertise sowie ihre traditionell guten Beziehungen zu den Bergbauunternehmen verlassen. Die für den Ruhrkohlenbergbau zuständige Bezirksverwaltung Bochum argumentierte wirtschaftlich und mahnte gegenüber den Zechenleitungen die drohenden Kosten an, die mit der rasch steigenden Zahl der Staublungenerkrankungen immer weiter wachsen würden und bereits jetzt, im Herbst 1945, etwa ein Drittel der Gesamtausgaben verschlängen. Die Hauptursache lag nach
63 64 65
Ebd., S. 150. Ebd., S. 150 f. Abelshauser 1984, S. 16 ff.
Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren
Auffassung der Bochumer Bezirksverwaltung in der mangelhaften gesundheitlichen Überwachung der Bergleute vor allem während des Krieges. Die seit Jahren durchgeführte ärztliche Untersuchung der für die Aufnahme von Gesteinsarbeit vorgesehenen Bergleute ist während der Dauer des Krieges wegen des Ärztemangels teilweise unterblieben. Sie muß, damit sie ungeeignete Bergleute von der Gesteinsarbeit fernhält, jetzt wieder allgemein durchgeführt werden. Es darf daher künftig niemand mehr vor Gestein tätig sein, der dazu nicht nach ärztlichem Attest tauglich ist. Wir bitten die Zechenverwaltungen dringend darum, uns jeden Bergmann, der eine Gesteinsarbeit aufnehmen soll, zu melden. […] Es ist beabsichtigt, die Gesteinshauer wieder, wie früher, in regelmäßigen Abständen auf ihre Tauglichkeit zur Verrichtung von Gesteinsarbeiten untersuchen zu lassen.66
Diese aus der Vorkriegszeit stammende Praxis, ganz gezielt bestimmte Gruppen der untertätigen Arbeiter stärker zu überwachen, ging auf eine bergpolizeiliche Verordnung noch aus der Zeit vor Aufnahme der Silikose in die Unfallversicherung 1929 zurück, bei deren Durchführung die Berufsgenossenschaft und Knappschaft eng miteinander kooperierten. Da der bei den Bohrarbeiten entstehende Feinstaub inzwischen als wesentliche Ursache der Silikose identifiziert worden war, sollten die mit diesen Arbeiten betrauten Bergleute, also die Gesteinshauer, fortan besonders genau überwacht werden, um im Falle einer beginnenden Erkrankung den Arbeitsplatz zu wechseln.67 Die Erstuntersuchung sowie laufende Folgeuntersuchungen stützten sich im Wesentlichen auf Röntgenaufnahmen und sollten dazu dienen, besonders silikoseanfällige Arbeiter zu identifizieren und von staubigen Betriebspunkten fernzuhalten. Untersuchte, deren Gesundheit nach Auffassung des Arztes gefährdet war, sollte „dringend empfohlen werden, die Arbeit zu wechseln.“68 Ob solchen Empfehlungen im Regelfall nachgekommen wurde, erscheint vor diesem Hintergrund fraglich, denn ebenso unverbindlich war die Absicht, dass die „Zechenverwaltungen […] versuchen [werden, D. T.], den notwendigen Arbeitswechsel ohne Schädigung der wirtschaftlichen Belange des in Frage kommenden Mannes durchzuführen.“69 Dass sich die Maßnahme zunächst nur auf die geschätzt 4.000 bis 5.000 am stärksten Gefährdeten unter den Gesteinsarbeitern beschränkt geblieben war, hatte vor allem praktische Gründe. Es schien den Ärzten und Beamten unmöglich, alle mutmaßlich Gefährdeten oder gar die Gesamtheit der Ruhrbergleute auf einmal mit den limitierten Ressourcen der Berufsgenossenschaft und der kooperierenden Ruhr-Knappschaft IGF H0076, Rundschreiben der Bergbau-Berufsgenossenschaft, Bezirksverwaltung Bochum, an die Zechenverwaltungen, 06.10.1945. 67 BBA 40/468, Knappschafts-Berufsgenossenschaft, Sektion 2, Rundschreiben an die Zechenverwaltungen, 17.10.1928. 68 BBA 40/468, Preußisches Oberbergamt in Dortmund, Merkblatt für die ärztliche Untersuchung der Gesteinshauer auf Gefährdung durch Bohrstaub, 1928. 69 Ebd. 66
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einem Arzt vorzustellen, zumal unter den akuten Mangelbedingungen der frühen Nachkriegszeit. Außerdem hegten Vertreter der Berufsgenossenschaft und der Bergbauunternehmen gegenüber regelmäßigen Untersuchungen einige Vorbehalte, da sie die Belegschaften beunruhigen und die Nachwuchswerbung erschweren könnten.70 Nach dem Krieg war die Problemlage eine ähnliche, doch die schiere Anzahl an Staubgefährdeten stellte sich bald noch viel gravierender dar als in der Vorkriegszeit angenommen. Eine Nachuntersuchung sämtlicher Arbeitskräfte des Steinkohlenbergbaus erschien den zuständigen Experten dringend notwendig, um einen Überblick über die Gesamtzahl der in den vorangegangenen Jahren Erkrankten zu erlangen, war aber praktisch undurchführbar.71 In der ersten Jahreshälfte 1946 geschah deshalb noch wenig. Die Berufsgenossenschaft erhielt zwar Meldung über beschäftigte und neueingestellte Gesteinshauer; die regelmäßigen Untersuchungen blieben aus Mangel an Ärzten und an Röntgenfilmen aber noch aus.72 Als sich dies allmählich änderte, überstieg die Zahl der angeordneten Arbeitsplatzwechsel bald das aus Sicht der Betriebe erträgliche Maß. Die bereits dünne Personaldecke der Zechen geriet durch die ärztlichen Verbote für die Staubarbeit unter zusätzlichen Druck. Seitens der Betriebsleitungen wurde der Verdacht genährt, Bergleute würden die ärztlichen Bescheinigungen vor allem ausnutzen, um in die für sie angenehmere und lukrativere Arbeit vor der Kohle wechseln zu können, ganz egal, ob die Staubbelastung dort tatsächlich niedriger sei oder nicht.73 Mit anderen Worten: Die Praxis des Arbeitsplatzwechsels diene gar nicht der bedrohten Gesundheit, sondern lediglich der notorischen Bequemlichkeit der Arbeiter. Kaum waren die regelmäßigen Untersuchungen wieder angelaufen, zeigte sich die Berufsgenossenschaft 1947 dennoch insgesamt optimistisch: Während die seit 1929 beständig steigende Zahl der Erkrankten vor allem auf die sukzessive Ausweitung der Versicherungspflicht durch die Berufskrankheitenverordnungen zurückzuführen sei, hätten die bereits ergriffenen Maßnahmen „die Ausbreitung der Erkrankungen trotz der steigenden Staubgefährdung gehemmt und zurückgedrängt.“74 Demnach sei nicht die reale Zahl der Betroffenen gestiegen, sondern lediglich ihre administrative Erfassung in der Statistik der Unfallversicherung. Der Leiter der Hauptstelle für Staubbekämpfung gab als Ziel an „zu erreichen, daß durch die Maßnahmen fühlbare Staublungenveränderungen in Zukunft bei den Bergleuten zu Lebzeiten überhaupt nicht mehr eintreten.“75 Wichtige Voraussetzung dafür sei vor allem, so der zentrale Vorbehalt, die aktive Mitarbeit des Bergmanns. Schürmann 2011, S. 90. BBA 30/252, Aktenvermerk, betrifft Besprechung bei der Ruhrknappschaft, 28.12.1945. BBA 40/468, Bekämpfung der Staublungenerkrankungen, 01.07.1946; BBA 40/468, Bergamt Witten an sämtliche Zechenverwaltungen des Bergamtsbezirks Witten, 03.01.1947. 73 BBA 40/468, Rückgang der produktiven bergmännischen Belegschaft, 06.01.1947. 74 sv:dok 15/815, Die Organisation der Silikosebekämpfung im Bergbau, 07.01.1947. 75 sv:dok 15/814, Landwehr, Martin: Wie verhüte ich die Silikose? 70 71 72
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Allerdings konnten auch 1947 nur wenige Untersuchungen tatsächlich durchgeführt werden. Die dazu notwendigen Einrichtungen befanden sich noch im Aufbau. Sowohl die Berufsgenossenschaft als auch die Bergämter hatten nur sporadische Einblicke in die Gesundheit eines sehr kleinen Teils der Bergarbeiterschaft. Während die bergpolizeiliche Untersuchungspflicht unberührt bleib, intensivierte die staatliche Bergbehörde 1948 die Überwachung der Vorschriften. Während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren hatten Kontrollen nicht stattgefunden.76 Spätestens 1948 sollte sich dies allerdings ändern. 1945 wurden im Ruhrbergbau noch fast gar keine ärztlichen Erst- oder Nachuntersuchungen vorgenommen; auch 1946 blieben es im Verhältnis zu den Beschäftigtenzahlen im Bergbau nur 2723. Dabei wurden aber bereits 1877 Fälle einer wenigstens beginnenden Silikose diagnostiziert, was immerhin mehr als zwei Drittel aller Untersuchten ausmachte.77 Tab. 1 Ärztliche Untersuchungen von Bergleuten 1945–1951 Jahr
Erst- und Nachuntersuchungen
Silikosefälle
Neue Rentenfälle
Todesfälle
1945
148
110
1.422
110
1946
2.723
1.877
2.878
284
1947
8.175
5.005
2.675
216
1948
28.884
16.661
3.360
232
1949
33.678
20.199
4.543
208
1950
29.979
17.707
5.425
213
1951
34.303
20.946
4.261
179
Bei der überwiegenden Mehrheit der gemeldeten Fälle handelte es sich um „beginnende“ oder „leichte“ Staublungen. Dennoch bereiteten die Zahlen den Experten einigen Anlass zur Sorge, zum einen, weil Bergleute mit ersten Anzeichen einer Silikose an „staubarme“ Arbeitsplätze versetzt werden sollten, von denen es aber wenige gab; zum anderen, weil die heute lediglich leicht Erkrankten die schwer Erkrankten von morgen sein könnten. Die wachsende statistische Datenbasis eröffnete der Berufsgenossenschaft zudem ein erschreckendes Fenster in die sorglose Vergangenheit und die zu versorgende Zukunft: Die Untersuchungsergebnisse suggerierten zurückliegende Versäumnisse der gesundheitlichen Prävention und die steile Zunahme der gestellten Diagnosen sowie der anerkannten Renten verhieß auch finanziell nichts Gutes für die kommenden Jahre.
Schürmann 2011, S. 187. BBA 12/367, Statistische Angaben über die Entwicklung der Silikose im Ruhrbergbau (Bezirksverwaltung Bochum der BBG).
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Über die etwaige Verbreitung der Krankheit gab es durch die Ausweitung der ärztlichen Untersuchungen nun immerhin mess- und vergleichbare Zahlen. Weit größere Unklarheit herrschte bei der Frage, was einen staubgefährlichen und einen weniger staubgefährlichen Arbeitsplatz qualifizierte und wie Letzterer am besten bereitzustellen sei. Die Zechen waren hier im Wesentlichen auf sich allein gestellt. Die anfängliche Ausbildung betrieblicher Aufsichtspersonen, die die Hauptstelle auf Betreiben der Bergbau-Berufsgenossenschaft noch im Winter 1946 begonnen hatte, war zwar ein Versuch der Hilfe zur Selbsthilfe, bei dem Expertenwissen in den Zechenalltag hineindiffundieren sollte. Dies war aber nur ein Teilerfolg geblieben. Auch wenn das Interesse der zu den ersten Kursen entsandten Bergleute groß gewesen war, hatten doch nicht alle Zechen überhaupt geeignete Personen angegeben, die als Silikose- oder StaubBeauftragte in Frage kämen. Die entscheidende Schnittstelle zwischen den berufsgenossenschaftlichen Silikose-Fachleuten und den Praktikern in den Unternehmen war somit noch sehr dünn besetzt. Des Weiteren wurden Messgeräte benötigt, um die Staubbelastung überhaupt bestimmen zu können. Die Berufsgenossenschaft griff die Sache Mitte 1948 erneut auf, da „die Angelegenheit […] bei der Hauptstelle für Staubbekämpfung allmählich eingeschlafen war“, und wies ihre Bezirksverwaltungen an, mit den säumigen Unternehmen erneut in Verbindung zu treten.78 Wie sich herausstellte, hatte sich die Hauptstelle in der Zwischenzeit damit beholfen, die Sicherheitsbeauftragten jener Zechen zu Ausbildungskursen einzuladen, die noch keine „Silikose-Beauftragten“ namhaft gemacht hatten.79 Da die Silikose-Beauftragten ohnehin den bereits seit längerem etablierten Sicherheitsbeauftragten unterstehen sollten – auch hierin hätte die Bergbau-Berufsgenossenschaft den Betrieben keine rechtlichen Vorschriften machen können – wurden diese in Absprache mit der Deutschen Kohlenbergbau-Leitung (DKBL) enger in die Fragen der Silikose- und Staubbekämpfung eingebunden. Treffen zwischen Vertretern der Berufsgenossenschaft und den Sicherheitsbeauftragten hatte es in der Vergangenheit schon gegeben. Per Rundschreiben verkündete die DKBL ihren Bergwerksgesellschaften, dass man künftig wieder an diese Praxis anknüpfen wolle, um sich über Unfallverhütung sowie die Bekämpfung von Berufskrankheiten auszusprechen. Zwischen dem 31. Januar und dem 15. Februar 1949 sollten in enger Taktung gleich fünf solcher Veranstaltungen an verschiedenen Orten überall im Ruhrgebiet stattfinden, um angesichts der noch immer unter Kriegsfolgen leidenden und deshalb schwierigen Verkehrslage möglichst viele Betriebe zu erreichen.80 In der Folge kamen Vertreter der DKBL, des Silikose-Forschungsinstituts und der Bochumer Bezirksverwaltung der Bergbau-Berufsgenossenschaft regelmäßig zu TrefIGF H0066, Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung/Bezirksverwaltung Bochum, 26.06.1948. IGF H0066, Hauptstelle für Staubbekämpfung/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Bezirksverwaltung Bochum, 06.07.1948. 80 sv:dok 15/645, Deutsche Steinkohlenbergbau-Leitung, Rundschreiben Nr. I-3, 19.01.1949. 78 79
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fen zusammen, an denen außerdem die Hauptsicherheitsbeauftragten der meisten großen Zechenverwaltungen aus dem Ruhrgebiet teilnahmen. Drängende Themen waren im Jahr 1949 die Beschaffung von Wasserrohren für die Staubbekämpfung, Unterweisungslehrgänge für die Sicherheitsbeauftragten und Silikosebeauftragten, die wieder intensiviert werden sollten, sowie die praktische Ausgestaltung der betrieblichen Maßnahmen, um die Zahl der Silikose-Neuerkrankungen einzudämmen.81 Auf den Zechen sollten nach dem Willen der Berufsgenossenschaft niemand länger als sechs Wochen „an einem Arbeitsplatz mit möglicher Gesteinstaubgefährdung“ beschäftigt sein, ohne sich einer ärztlichen Untersuchung seiner körperlichen Tauglichkeit unterzogen zu haben. Die Hauptsicherheitsbeauftragten brachten dagegen vor, dass das Zeitfenster zu klein sei. Aus betrieblicher Sicht sei die Produktion gefährdet, zumal sich nicht alle Bergleute mit Tauglichkeitsbeschränkungen, also einem Arbeitsverbot für stark staubbelastete Betriebspunkte, produktiv mit anderen Tätigkeiten beschäftigen ließen. Denn die technischen Mittel der Staubbekämpfung waren noch nicht verbreitet und ausgereift genug, um unbedenkliche Bereiche in ausreichender Zahl auszuweisen. Derartige Richtlinien sollten deshalb erst dann eingeführt werden, wenn die Betriebe mit den dafür erforderlichen Einrichtungen ausgestattet wären.82 Hintergrund war ein Rundschreiben der Bochumer Bezirksverwaltung der BergbauBerufsgenossenschaft vom Februar 1949, in dem in Absprache mit der staatlichen Bergbehörde verlangt wurde, dass bereits ab dem 1. März des Jahres […] Ungeeignete von solchen Betriebspunkten fernzuhalten [sind], an denen sie Gefahr laufen, wesentliche Mengen kieselsäurehaltigen Staubes einzuatmen, und aus diesen Betriebspunkten diejenigen rechtzeitig hinauszuziehen, bei denen auf Grund der Feststellung von Staublungenveränderungen anzunehmen ist, daß sie bei Fortführung ihrer derzeitigen Tätigkeit außergewöhnlich gefährdet sind.83
Überdies sollten die Sicherheitsbeauftragten für ihre jeweiligen Schachtanlagen eine „Kartei der Gesteinstaubgefährdeten“ anlegen, diese aktuell halten und der Berufsgenossenschaft übermitteln. Die jeweilige Karteikarte eines jeden Bergmanns sollte ihn stets zu anderen Schachtanlagen oder Betrieben begleiten, falls er dorthin wechselte. Die DKBL wollte die Hauptsicherheitsbeauftragten darüber abstimmen lassen, ob die Richtlinien überhaupt umzusetzen seien, und dem Bergamt schriftlich mitteilen, welche wirtschaftlichen Bedenken gegen die berufsgenossenschaftliche Richtlinienentwurf sprächen. Eine rechtlich bindende Verordnung auf dieser Grundlage sollte aus Unternehmersicht auf keinen Fall erlassen werden. Die Teilnehmer der Besprechung
IGF H0066, Niederschrift über die Besprechung mit den Hauptsicherheitsbeauftragten am 30.3.1949, 04.04.1949. 82 Ebd. 83 IGF H0076, Bergbau-Berufsgenossenschaft, Bezirksverwaltung Bochum, Rundschreiben an die Zechenverwaltungen, 28.02.1949. 81
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einigten sich aber schließlich mehrheitlich darauf, dass die Richtlinien „als ein Versuch aufgefaßt werden [sollten], über dessen Ergebnis“ Mitte des Jahres „berichtet werden soll.“84 Vertreter der Berufsgenossenschaft und der Zechen beklagten jedoch, dass die Betriebe nicht in die Ausarbeitung der Richtlinie einbezogen, sondern zu Anfang des Jahres vor vollendete Tatsachen gestellt worden waren. Gleichwohl seien sich alle einig, dass „das Möglichste zur Bekämpfung der Silikose getan werden müsse.“ Es sei deshalb wichtig, dass „die neuen Richtlinien in großzügiger Weise und nicht kleinlich gehandhabt werden.“85 Das Oberbergamt in Dortmund regelte indessen in einer neuen Bergverordnung die Erst- und Nachuntersuchungen der Bergleute und entsprach dabei im Wesentlichen den bereits 1949 ausgearbeiteten Vorschlägen des Landesarbeitsministeriums von Nordrhein-Westfalen. Ab 1951 sollten alle Arbeiter turnusmäßig ärztlich untersucht werden, um eine etwaige Staublungenerkrankung frühzeitig zu erkennen und die betreffenden Personen an einen weniger gefährlichen Arbeitsplatz zu versetzen. Zugleich wurde die Gesundheitsüberwachung den Betrieben auferlegt.86 Hierfür wurden die Werksärzte eingebunden, zumal viele Bergwerksbetriebe bereits über einen eigenen Werksarzt verfügten, dessen Aufgabe es war, im Rahmen der betrieblichen Gesundheitspolitik die Arbeitskraft der Belegschaft zu erhalten.87 Zu Beginn liefen die Untersuchungen unter betrieblicher Verantwortung allerdings noch nicht überall reibungslos. Wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, war das Werksärztesystem umstritten und bei den Bergleuten unbeliebt. Die Bergwerksgesellschaft Gute Hoffnungshütte ließ im Sommer 1952 ihre Arbeiter im Raum Oberhausen, Sterkrade und Walsum untersuchen. Tatsächlich ließen sich aber nur jeweils Dreiviertel der Belegschaften durchleuchten, der Rest blieb den Untersuchungen fern. Der Unternehmensvorstand war mit diesem Ergebnis nicht zufrieden, hatte aber auch keine direkte Handhabe, die Säumigen vor den Röntgenschirm zu zwingen. Als besonders abschreckendes Beispiel für dieses fahrlässige Verhalten, das im Grunde eine Selbstvernachlässigung sei, wurde seitens der Bergwerksgesellschaft der Fall des Arbeiters B. angeführt, der nach Tuberkuloseverdacht nicht zur nächsten Nachuntersuchung erschienen sei und nach der diesjährigen Untersuchung mit einem schweren Ausbruch in beiden Lungenflügeln sofort in ein Krankenhaus überwiesen und für invalide erklärt wurde. Daraufhin diskutierte der Vorstand, wie sich die Teilnehmerquote verbessern ließe:
IGF H0066, Niederschrift über die Besprechung mit den Hauptsicherheitsbeauftragten am 30.3.1949, 04.04.1949. 85 Ebd. 86 Schürmann 2011, S. 187 f. 87 Auf dieser Geschichte des Werks- oder Betriebsärztewesens und der zwischenzeitlichen Vereinnahmung durch die Deutsche Arbeitsfront ab 1936 fußte auch die kritische Haltung der Gewerkschaft, die weiter oben bereits angesprochen worden ist. Vgl. auch ebd., S. 171. 84
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Die Ausführungen […] lösen einen lebhaften Meinungsaustausch aus, in dem die Notwendigkeit vorbeugender Maßnahmen und eingehender Einstellungsuntersuchungen betont wird. Auf alle Werksangehörigen, die sich nicht untersuchen ließen und damit den Mangel ihrer Fähigkeit einer Einordnung in die Werkgemeinschaft unter Beweis stellten, solle ein moralischer Druck ausgeübt werden; auf jeden Fall seien sie von allen sozialen Leistungen des Werkes auszuschließen.88
Um alle Werksangehörigen dazu zu bewegen, an den Untersuchungen teilzunehmen, müsse auch der Betriebsrat eingespannt werden. Das Beispiel illustriert im Übrigen ganz nebenbei, dass der verbreitete hierarchische Paternalismus im Bergbau nicht gleichbedeutend mit einer vollen disziplinarischen Kontrolle der Betriebsleitungen über ihre Arbeiter verwechselt werden darf. Im Vergleich zu den ersten Nachkriegsjahren gelang es den Ärzten im Ruhrgebiet nach und nach, immer mehr Untersuchungen durchzuführen. Die medizinische Überwachung der Bergarbeiterschaft war damit zwar weitgehend hergestellt. Doch die Gretchenfrage der Silikoseregulierung blieb, wie sich der Kreis der potenziell Gefährdeten überhaupt erkennen ließ und wo die vermeintlich Gefährdeten, Anfälligen und leicht Erkrankten wirklich sicher waren, wenn sie weiterhin im Bergbau beschäftigt bleiben sollten. Darüber hinaus war ein solches Frühwarnsystem mit wirtschaftlichen Konsequenzen für die Arbeiter verbunden, weil die verschiedenen Tätigkeiten im Bergbau unterschiedliche Lohntüten einbrachten. Während die klinische und vor allem radiologische Diagnostik der Silikose zu Beginn der fünfziger Jahre ein in der Versicherungspraxis weitgehend etabliertes Verfahren war, herrschte bei der Frage der richtigen Methode, um die Gefährlichkeit der Arbeitsplätze zu ermitteln, noch kein Konsens. Messgeräte gab es bereits, doch was sie wirklich aussagten, darüber herrschte unter den Experten große Uneinigkeit, ganz zu schweigen von ihrer untertägigen Praktikabilität. Die beiden wichtigsten konkurrierenden Techniken waren das fotometrisch messende „Tyndalloskop“ und das „Konimeter“, bei dem die Partikelzahl der untersuchten Luft mikroskopisch nachgezählt werden musste. Die Angelegenheit beschäftigte im Jahr 1951 hochrangige Vertreter der westdeutschen Steinkohlenbergbaureviere, vor allem aus dem Ruhrgebiet, die Bergbau-Berufsgenossenschaft und die Ingenieure des Silikose-Forschungsinstituts sowie die Industriegewerkschaft Bergbau. Die Kernfrage war, welches Messverfahren das effektivste für den Bergbau sei.89 Praktische Versuche wurden bereits allerorten durchgeführt. Das Silikose-Forschungsinstitut stand gerade mit der Firma Leitz in Verbindung, um das schon seit etwa 20 Jahren BBA 30/256, Niederschrift über die Besprechung des Vorstandes der GHH mit den Vertretern der Betriebsräte Sterkrade, Walsum, Düsseldorf, Schwerte und Oberhausen am 22. Juli 1952, 01.08.1952. 89 BBA 12/367, Niederschrift über die 2. Sitzung des Ausschusses für Staub- und Silikosebekämpfung am 5. Juli 1951, 09.1951. 88
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eingesetzte und optisch messende Tyndalloskop weiterzuentwickeln, dessen Messgenauigkeit aber noch nicht den Erwartungen entsprach. Auf der Gelsenkirchener Zeche Consolidation war der Nachbau eines belgischen Filtergeräts im Einsatz; auch eine englische „Handpumpe“ wurde dort erprobt. Ein weiteres Privatunternehmen war derweil mit dem Bau eines gravimetrischen Geräts befasst, das die Staubmenge elektrostatisch sammeln und elektrisch wiegen sollte. Nun wollten sich die Betriebe aber auf ein Gerät einigen, das am besten für die betrieblichen Staubmessungen geeignet sein würde, damit nicht nur die Verantwortlichen vor Ort damit arbeiten, sondern die Betriebe auch untereinander ihre Daten austauschen konnten. Es sollte einfach zu bedienen sein, sofort messen und schnell auszuwertende Daten liefern, um die Staubverhältnisse kurzfristig bestimmen zu können. Die Wahl wollten die Zechen dabei nicht allein dem Silikose-Forschungsinstitut überlassen. Im Durcheinander der vorbehaltlichen Ergebnisse, die die verschiedenen Messgeräte im Augenblick lieferten, sollten die in den Betrieben ermittelten Staubkonzentrationen allerdings auf keinen Fall an die staatlichen Aufsichtsbehörden weitergegeben werden: Die noch bestehenden Unklarheiten bei der Bewertung der Meßergebnisse in Bezug auf die Silikosegefährlichkeit der untersuchten Betriebe läßt es nicht zu, daß die Meßergebnisse an nicht unmittelbar berührte Stellen, etwa das Oberbergamt, weitergegeben werden. Dem Recht des Oberbergamtes auf Unterrichtung über diese Fragen müsse auf andere Weise, auf keinen Fall unter Nennung des Namens der Zeche Genüge getan werden. Jeder Eingriff von außen wirkt jetzt nur störend auf die beabsichtigte Förderung der Staubbekämpfungsmaßnahmen und der Staubmessungen. Wesentlich für den Erfolg ist das Vertrauen der Belegschaft und der psychologische Antrieb aus den Kreisen der Belegschaftsmitglieder.90
Das Silikoseproblem ließ sich jedoch nicht allein dadurch lösen, die Staubmengen und den Anteil des darin befindlichen gefährlichen Gesteinsstaubs in der Luft zu bestimmen. Denn was sagten die ermittelten Daten überhaupt aus? Ohne Erfahrungswerte aus der Vergangenheit oder genauere Aufschlüsse darüber, wie genau der Staub überhaupt krankmachte, blieb zunächst im Dunkeln, welche Werte als bedenklich und welche als unbedenklich gelten sollten. Damit es wenigstens in der Zukunft empirische Anhaltspunkte geben würde, um das Gemessene einzuordnen, sollten die in den Betrieben ermittelten Daten – sobald denn vergleichbare Werte erhoben werden könnten – eine zentrale Statistik speisen, die den Werksärzten helfen sollte, die gesundheitliche Gefährdung der Arbeiter einschätzen und qualifizierte Empfehlungen für etwaige Arbeitsplatzwechsel geben zu können. Auch deshalb war den Unternehmen ein einheitliches Messverfahren wichtig. Da der Arzt aber auch wissen müsse, wie lange der jeweilige Bergmann überhaupt exponiert gewesen ist und wie er sich
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„konstitutionell“ gegenüber dem Grubenstaub schlug, müsse eine solche Datenbank noch viel weiter gehen. Die ursprüngliche Idee dieser erweiterten Datenerfassung trug deutliche Spuren physiologischer und körperbezogener Annahmen über die Krankheit, denn vor allem die Informationen über die einzelnen Bergleute selbst, ihre Physis und Gesundheit müssten einbezogen werden: Noch ungeklärt ist die Frage, wie der Arbeiter gemäß seiner eigenen Konstitution auf die eingeatmete Staubmenge reagiert. Das Silikose-Forschungsinstitut hofft nach einer größeren statistischen Arbeit, […] wertvolle Schlüsse über den Einfluß der Konstitution des Menschen auf seine Silikoseanfälligkeit zu finden. Eine solche Erkenntnis ermöglicht vielleicht eine Auswahl der neu anzulegenden Arbeiter vor der Aufnahme ihrer Beschäftigung untertage.91
Die Mediziner konnten den Ausbruch einer Silikose, wie gezeigt, nicht in flagranti festhalten, weil diese sich graduell und über Jahre entwickelte und sich in ihren Anfangsstadien häufig noch nicht zu erkennen gab. Trotzdem hielten sie mehrheitlich an der Hypothese fest, dass es eine unterschiedlich verteilte Veranlagung zur Krankheit geben musste. Was der klinische Blick des Arztes nicht enthüllen konnte, sollte deshalb die medizinische Statistik als neue Technologie einer individuellen biologischen Auslese sichtbar machen und damit zugleich regulatorisches Handeln ermöglichen. Ungeachtet dessen schienen konzertierte betriebliche Maßnahmen geboten, um die Gefahrenquellen entschieden einzudämmen, weil die meisten Experten in der konstitutionellen Veranlagung des Einzelnen inzwischen nur noch den Grund für das unterschiedliche Tempo der Pathogenese sahen. Vollkommen sicher war also niemand vor dem Staub. Auch die Versuche, der Krankheit mit Mitteln einer medizinischen Prophylaxe direkt am Menschen zu Leibe zu rücken und eine solche Resistenz künstlich zu erzeugen, etwa mit den bereits in den vierziger Jahren durchgeführten Inhalationsexperimenten, waren bislang ergebnislos geblieben. Auf der anderen Seite waren sich die Staubforscher noch immer nicht darüber im Klaren, wonach sie auf ihrer Jagd nach dem entscheidenden Auslöser eigentlich suchen sollten: nach der Menge des Feinstaubes, seiner Konzentration, Form oder chemischen Zusammensetzung? All diese physikalischen Eigenschaften des Staubes ließen sich durch Messungen bestimmen. Die kursierenden wissenschaftlichen Hypothesen darüber, was genau der maßgebliche Krankheitsauslöser war, harrten jedoch immer noch der empirischen Überprüfung.92 Außerdem herrschte im medizinischen Diskurs weiterhin nicht nur bei der Frage Unsicherheit, wie die Ursachen der Staublunge zu erkennen waren, sondern auch wie Ebd. Von der Arbeit der Bezirksverwaltung Bochum zur Bekämpfung der Staublungenerkrankungen, in: Kompass 62/1 (1952), S. 2–9, hier S. 6.
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sich ihre Symptome objektiv bewerten ließen. Obwohl die Silikose-Diagnostik seit 1929 fester Bestandteil der Versicherungspraxis war, waren noch nicht alle Kontroversen um die Aussagekraft eines Röntgenbildes und der klinischen Beschwerden erschöpfend geklärt. Insbesondere der graduelle Krankheitsverlauf schuf diagnostische Probleme. Während in der Entschädigungspraxis trotzdem rechtsgültige Entscheidungen getroffen wurden, stellte sich die Frage in der betrieblichen Regulierungspraxis neu. Denn ab wann sollte ein Betroffener als untauglich für bestimmte Arbeiten im Bergbau, ab wann als krank und invalide gelten? Die zentrale Technologie, mit der das Fortschreiten der Erkrankung gemessen werden sollte, war das Röntgengerät. Im berufsgenossenschaftlichen Krankenhaus Bergmannsheil in Bochum war bereits 1896 ein „Röntgen-Cabinet“ eingerichtet worden. Da das Bergmannsheil zugleich zentraler Ort der ärztlichen Begutachtung für die anhängigen Rentenfälle war, bildete sich hier über die Jahre umfangreiche praktische Expertise über die röntgenologische Diagnostik der Staublunge. Viktor Reichmann, der ab 1920 Chefarzt der Inneren Abteilung des Bergmannsheil war, gründete seine medizinische Autorität auf die hier gesammelten Erfahrungen.93 Mit der wachsenden Verbreitung der Röntgengeräte und der vermehrten Zahl an Silikose erkrankter Bergleute bildete sich im Ruhrgebiet schließlich ein eng vernetztes, hochspezialisiertes Expertennetzwerk aus Berufsgenossenschafts- und Knappschaftsärzten, dem die meisten landesweit anerkannten Kapazitäten auf dem Gebiet der Silikose-Forschung und -begutachtung angehörten. Der Röntgenaufnahme wurde besondere Objektivität und Beweiskraft zugeschrieben. Der unverfälschte ärztliche Blick in die Lunge versprach objektive Belege für subjektive Beschwerden.94 Im Fall der Silikose lieferte das Röntgenbild aber sogar Belege für eine Erkrankung, die der Betroffene noch gar nicht spürte: Lange vor klinischen Symptomen seien Staubveränderungen in den Lungen nachweisbar, waren Experten wie Viktor Reichmann und Arthur Böhme, der Silikose-Experte der Augusta-Klinik in Bochum, überzeugt.95 Um die radiologische Bildgebung entstand eine eigene etablierte Fachsemantik. Trotzdem kamen bisweilen Zweifel an der Aussagekraft eines Röntgenbildes auf, die sich vor allem dann zeigten, wenn objektiver Befund und subjektive Beschwerden deutlich auseinanderfielen, etwa wenn massive Ausfälle von Kreislauf und Atmung einem uneindeutigen Lungenbild gegenüberstanden. Kapitel 5 wird zeigen, welche weitreichenden Konsequenzen sich daraus für die Versicherungspraxis und den einzelnen Bergmann ergaben. Für die betriebliche Prävention bedeutete das Röntgenverfahren in der Theorie, dass beginnende Erkrankungen frühzeitig erkannt und die betroffenen Bergleute rasch von den Gefahrenstellen entfernt werden konnten. Während des Zweiten Weltkriegs 93 94 95
Martin 2014, S. 223–243, hier S. 228 f. Ebd., S. 233. Ebd., S. 235.
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war dies kaum noch praktiziert worden, selbst wenn die Krankheit bereits diagnostiziert worden war. Doch auch nach dem Krieg war im Betriebsalltag oft nicht klar, was eine „Untauglichkeit“ bei Bergleuten bedeutete und was ein staubarmer Arbeitsplatz war, an den die Arbeiter versetzt werden dürften.96 Zumindest in Sachen Staubmessgeräte zeichnete sich Ende 1951 ein technischer Durchbruch ab: Der Generaldirektor der DKBL, Heinrich Kost, äußerte sich anlässlich einer Jubilarfeier bei der Rheinpreußen AG am 19. Dezember 1951 vor Pressevertretern demonstrativ zuversichtlich: Im kommenden Jahr würde endlich ein Apparat fertiggestellt, der auch die kleinsten Staubteilchen messen könne. Da das Gerät somit verraten könne, wo sich gefährlicher Staub befinde, werde man „in absehbarer Zeit der Silikose Herr“ werden.97 Wie genau das geschehen würde, ließ der Bergwerksdirektor und Spitzenfunktionär jedoch noch offen. Aber allein die schnelle Entwicklung und Verfeinerung von Messtechniken, die der Präventionsarbeit dienlich erschienen, schien Anlass zur Entwarnung zu geben. Die Gefahr wäre, so die Hoffnung, nun bald gebannt, dafür würden die entsprechenden Fachleute sorgen. Die Gefahr war nun sichtbar. 3.4
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Bereits kurz nach dem Krieg, als die Bergbau-Berufsgenossenschaft mit dem Aufbau des Silikose-Forschungsinstituts begann, zeigte sich deutlich, dass Versicherung, Unternehmen und die staatlichen Organe ein Bewusstsein für die politische und soziale Sprengkraft besaßen, die mit jeder Äußerung über die Silikose verbunden war. Es ging mithin darum, die Kontrolle über das allgemeine Meinungsbild zu behalten. Auf keinen Fall, hieß es in einem internen Vermerk der Berufsgenossenschaft 1946, sollten Meinungen in Umlauf kommen, die zur Beunruhigung der Bergarbeiterschaft oder der Öffentlichkeit beitragen könnten. Die Sorgen wurden von der britischen Militärregierung geteilt. Andererseits sollten die verstärkten Bemühungen der Experten hinreichend gewürdigt werden. Die baldige Eröffnung des Bochumer Silikose-Forschungsinstituts müsse daher, wie es in einem Rundschreiben der Bergbau-Berufsgenossenschaft an die Zechenleitungen hieß, durch „eine Eröffnungsfeierlichkeit mit geladenen Behördenvertretern, Rundfunkreportage und Pressenachrichten“ flankiert werden. Im Hinblick auf das konkurrierende „Reichsinstitut“ in Münster könne eine solche medienwirksame Eröffnung nicht viel länger auf sich warten lassen.98 Doch noch war nicht daran zu denken. Während das Silikose-Forschungsinstitut auch 1947
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IGF H0283, Aktennotiz, 18.03.1948. Dr. Kost hofft: Bald Herr über Silikose im Bergbau, in: Westdeutsche Allgemeine, 20. Dezember 1951. BBA 30/229, Organisation der Silikosebekämpfung, 22.11.1946.
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noch teilweise in Ruinen stand, versuchten bereits andere Akteure ihre eigenen Auffassungen über die Staublunge in Umlauf zu bringen. Im Frühjahr 1947 wurde bekannt, dass der frühere Angestellte Walther Matthiass, unter dessen Leitung die Bonner Sektion I der Berufsgenossenschaft bis 1945 gestanden und der die Siegerländer „Notgemeinschaft“ zur Erforschung der Silikose mitorganisiert hatte, unter eigenem Namen Publikationen über die Staublunge herausbrachte. Die Schriften richteten sich dezidiert auch an Bergleute. Weil er wegen seiner politischen Belastung seine Stelle bei der Berufsgenossenschaft verloren hatte, verdingte er sich inzwischen als Privatmann. Bei seinem alten Arbeitgeber und bei der Militärregierung stieß er mit seinen Schriften allerdings auf harten Widerstand. Nach Einschätzung des Leiters der Hauptstelle für Staubbekämpfung, Martin Landwehr, gereichten die darin gemachten „tendenziösen“ Angaben und Empfehlungen den Interessen des Bergbaus zu erheblichen Nachteil: Wenn ein Führer bei seiner Belegschaft eine Werbeaktion einleiten will, so erscheint der Weg, das Ziel über die Mitteilung der zu erwartenden oder erfahrungsmäßig ermittelten Verluste an Menschenleben zu erreichen, denkbar ungeeignet. In der vorliegenden Schrift wird die zahlenmäßige Wiedergabe der angeblich außerordentlich hohen Gesundheitsschädlichkeit der verschiedenen Bergbaugebiete sicherlich nicht als Werbemittel für den bergmännischen Nachwuchs angesprochen werden können. Dies ist zu einer Zeit, wo dem Bergbau besondere Bedeutung im Interesse der Erhaltung des Lebens der deutschen Bevölkerung zukommt, und wo zu befürchten steht, daß einer derartige „Propaganda“ dem Willen der Militärregierung entgegensteht, geradezu gefährlich und unverantwortlich.99
Walther Matthiass versuchte nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst der Berufsgenossenschaft, durch seine im Bonner Hans Scheur-Verlag erscheinenden Schriften mit den Titeln „Bergbau, Heilwissenschaft und Silikose“ sowie „Bergmann und Staublunge“ irgendein ein Einkommen zu erzielen. Die beiden Schriften waren am 24. März 1947 Gegenstand einer Unterredung zwischen dem Offizier und Silikose-Fachmann der Militärregierung, Major Kennedy, und Vertretern der Bergbau-Berufsgenossenschaft. Kennedy war von Martin Landwehr eingeschaltet worden und hatte sich mit der britischen Besatzungs-Bergaufsicht, der North German Coal Control, beraten. Alle erklärten sich einig, dass Matthiass in seinen Schriften „die Gefahr der Silikose [übertreibe]“ und „die technischen Staubbekämpfungsmaßnahmen [unterschätze]“. Deshalb seien die Schriften „für den Bergmannsberuf sehr gefährlich, besonders für die Nachwuchsfrage.“ Als Teil eines wissenschaftlichen Diskurses seien die Ansichten zwar vertretbar. Gerieten sie in die Hände von unkundigen Laien, seien sie jedoch eine Gefahr. Ihre Verbreitung sollte daher verboten und die bereits in Umlauf gebrachten
sv:dok 15/634, Stellungnahme zu der Veröffentlichung Bergbau, Heilwissen und Silikose von Bergassessor Dr. Matthiass, 05.02.1947.
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Exemplare eingezogen werden.100 Entsprechende Rundschreiben an die Betriebe und Appelle an die Bergbehörde unterstrichen den Anspruch der Berufsgenossenschaft, dass die von ihr selbst in Umlauf gebrachten Publikationen und Empfehlungen vorzuziehen seien und „den gegenwärtigen Stand der Forschung und Technik“ wiedergäben.101 Während die Berufsgenossenschaft sich darum bemühte, die als bedenklich eingestuften Schriften ihres ehemaligen Angestellten aus dem Verkehr zu ziehen, beteiligte sie sich zeitgleich auf Anfrage eines Zechenvertreters an einer Publikumsausstellung über „Mangelberufe“, die mit dem Segen des NRW-Arbeitsministers des August Halbfell vom Arbeitsamt Groß-Dortmund ausgerichtet wurde. Die ministeriale Schirmherrschaft unterstrich die politische Rückendeckung für den Bergbau, schließlich kam der Steinkohlenförderung eine zentrale Rolle für den industriellen Wiederaufbau sowie für den täglichen Heizmittelbedarf der Bevölkerung zu. In puncto SilikoseBekämpfung wollte man dort „nur die positive Seite hervorheben und auch evtl. diesbezügliches statistisches Material nach diesen Gesichtspunkten aussuchen.“102 Derartige Werbeveranstaltungen hatten also einen Balanceakt zu meistern: Es sollte auf die bestehenden gesundheitlichen Gefahren des Bergbaus aufmerksam gemacht werden, weil die bisherige betriebliche Präventionspraxis – wenn sie überhaupt existierte – sich auf persönliche Schutzausrüstung oder auf Mittel der technischen Staubbekämpfung, deren Anwendung wesentlich von den Bergarbeitern vor Ort abhingen, beschränkte. Zugleich sollte die allgegenwärtige Angst vor der Silikose nicht weiterwachsen, da bereits jetzt immer mehr junge Männer einen Bogen um den Bergbau machten oder kurz nach Beginn ihrer Arbeit bereits wieder ausschieden. Außerdem sollten die betrieblichen und sozialpolitischen Bemühungen zu ihrer Behandlung und vor allem Verhinderung in der Öffentlichkeit bekannter gemacht werden. Um einen möglichst großen Kreis von Interessenten zu erreichen, sollte ein informativer Film produziert und auch in Kinos aufgeführt werden. Die Initiative ging von Arbeitsminister August Halbfell aus, der von guten Erfahrungen mit einer ähnlichen Produktion über den Schwerbeschädigteneinsatz mit dem Titel „Das geht auch Dich an“ zu berichten wusste.103 Die hiermit beauftragte Firma „Westfilm“ sollte auch für die Nachfolgeproduktion Drehbuch, Regie und Schnitt leisten. Offizieller Auftraggeber war das Düsseldorfer Arbeitsministerium. Halbfells Vorschlag folgend sollte der Film „zur Aufklärung der Bevölkerung über die Silikosegefahr in der deutschen Industrie und die Möglichkeiten ihrer Bekämpfung dienen.“104 Zu diesem Zwecke entstanden sv:dok 15/634, Schriften Dr. Matthiass, 25.03.1947. sv:dok 15/634, Silikosebekämpfung – Schriften des Dr. Matthiass, 21.04.1947. sv:dok 15/814, Hauptstelle für Staubbekämpfung im Bergbau/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 04.02.1947. 103 sv:dok 15/871, Arbeitsminister des Landes Nordrhein-Westfalen/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 13.04.1949. 104 Film über „Silikose“, in: Kompass 60/1 (1950), S. 14. 100 101 102
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mehrere Schnittfassungen für verschiedene Industriezweige; die Unterschiede bestanden im Wesentlichen in der jeweiligen filmischen Darstellung der Staubquellen und Präventionstechniken.105 Der Fokus der gezeigten Szenen und eingesprochenen Erzählung lag jedoch auf dem Steinkohlenbergbau mit einem Arzt und einem Bergmann in den Hauptrollen. Bevor die durch die Bergbau-Berufsgenossenschaft koordinierte Produktion beginnen konnte, wurden auch die Meinungen der DKBL und des Oberbergamts Dortmund eingeholt, um sich auf diese Weise auf ein allen Interessen gerecht werdendes Drehbuch zu einigen. Was sollte wie gezeigt werden, was besser nicht? Im Sommer 1949 lag ein erster Rohentwurf vor. Die Reaktionen waren verhalten. Das Oberbergamt Dortmund erhob schwere Bedenken gegen eine allzu kleinredende Darstellung: Ein Bergmann ist angeblich wegen seiner Atembeschwerden beim Arzt gewesen. Der Arzt hat nach der Röntgenuntersuchung gelacht und gesagt, daß die Steinstaublunge sich als Gespinst […] viel mehr verbreitet, als in keuchenden Lungen anzutreffen ist [sic]. Durch diese Art der Darstellung wird einmal der Eindruck hervorgerufen, als ob die Silikose als Angstvorstellung häufiger als in Wirklichkeit anzutreffen sei. Wenn über diese an sich sehr heikle Frage im Film gesprochen werden soll, so erscheint es uns schon richtiger, die Silikose nicht allzu harmlos hinzustellen […].106
Zudem sollte die gezeigte ärztlichen Untersuchung nicht so dargestellt werden, dass der Bergmann bereits an Atembeschwerden leide – denn dann sei es eigentlich schon zu spät – sondern dass er vielmehr gewissenhaft der Aufforderung zu einer regelmäßigen ärztlichen Untersuchung folge. Auf diese Weise solle dem Bergmann verdeutlicht werden, wie wichtig vorbeugende Maßnahmen zur Verhütung der Krankheit seien. In dasselbe Horn stieß auch die DKBL. Die Eröffnungsszene des Films solle lieber vom […] positiven Moment der regelmäßig durchgeführten Untersuchung auf Silikose [ausgehen, D. T.], bei der die Erfahrung, dass durchaus nicht jeder Untersuchte an Silikose leidet, ebenfalls zum Ausdruck gebracht werden könnte.107
Außerdem sollten Röntgenbilder allenfalls kurz und unkenntlich gezeigt werden, um jedwede Diskussion über deren Deutung zu vermeiden. Das sah auch das Oberbergamt so. Entsprechende Untersuchungsbefunde zu zeigen könne „in der Öffentlichkeit sehr leicht falsche Vorstellungen und Beunruhigungen hervorrufen“.108 Schließlich solle der Film nämlich „einerseits aufklärend wirken, aber andererseits muss vermieden 105 Dadurch existieren verschiedene Filmfassungen in unterschiedlichen Längen. Für diese Arbeit stand nur eine kürzere etwa fünfzehnminütige Fassung zur Verfügung; einige Zitate stammen daher aus dem überlieferten Drehbuch der Langfassung. 106 sv:dok 15/871, Oberbergamt Dortmund/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 20.07.1949. 107 sv:dok 15/871, Deutsche Kohlenbergbau-Leitung Essen/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 04.07.1949. 108 sv:dok 15/871, Oberbergamt Dortmund/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 28.06.1949.
Gefahrenkommunikation und bergmännisches Verhalten
werden, dass der Film abschreckend wirkt, um die Nachwuchsfrage für den Bergbau nicht nachteilig zu beeinflussen“,109 wie die Berufsgenossenschaft der Gewerkschaftsvertretern mitteilte, welche die Sorgen um ausreichend bergmännischen Nachwuchs im Grundsatz teilte. Die Lösung des inszenatorischen Dilemmas zwischen beruhigender Aufklärung und warnender Abschreckung fand sich schließlich in der klaren Autoritätsfigur des Arztes, der eine glaubhafte Expertise über die Krankheit und ihre Entstehung im Bergbau verkörperte. Aus der ruhigen Selbstsicherheit des Fachmanns heraus würde der Mediziner die diffusen Ängste versachlichen und sachkundige Ratschläge geben, wie die gesundheitlichen Gefahren zu vermeiden seien. In der folgenden Schnittfassung wurden die Bedenken des Oberbergamts jedoch nur teilweise berücksichtigt: Es war sowohl ein Röntgenbild zu sehen, und der gezeigte Bergmann, der circa 30 Jahre alt und von stattlicher Statur sein sollte, fand den Weg zum Arzt „wegen [seinem] Luftholen“, wie er seinem älteren Kollegen beim Tabakschnupfen tags darauf erzählte. Von dort aus führt der Film in seiner 20-Minuten-Fassung für den Bergbau mit einem Schnitt zurück in die Arztstube, in der man die Röntgenuntersuchung des Mannes beobachten konnte. Danach gab der Arzt – vom Typ eines erfahrenen älteren Mediziners – dem besorgten jungen Arbeiter schließlich doch Entwarnung: „Lieber Freund, ist nischt mit Deiner Angst von vorhin! Die Aufnahme zeigt es deutlich …“ Besser früher als später, erwidert der Bergmann schüchtern. Und da, so der Doktor, liege „des Pudels Kern“. Er empfiehlt „weniger Tabak und nicht so viele Stunden am verqualmten Kartentisch“. Die Szene griff damit die Beunruhigung über die Silikose ganz unmittelbar auf und ließ diese sodann von der vertrauenserweckenden Figur des Arztes entkräften. Mit einem jovialen Handstreich wischt dieser die Sorgen des Bergmanns beiseite und hat zugleich ein paar einfach zu befolgende medizinische Ratschläge zur Hand. Die Medizin sei ein Helfer der Menschen, führt er weiter aus, doch wo sie helfen solle, müssten die Menschen aufzeigen. Als mahnendes Beispiel zieht er aus dem Aktenkasten ein Röntgenbild hervor, das von einem Bergmann stamme, der „seine Gesundheit nur als Beiwerk“ und „alle Schutzmaßnahmen des Bergbaus als überflüssig“ angesehen habe. Der direkt an die Bergleute in die Kamera gerichtete Appell lautet, dass sie die Verhaltensvorschriften beachten müssten, um langfristig gesund zu bleiben.110 Fortan behält der Arzt, der „unbedingt vertrauenserweckend“ aussehen sollte, das Wort und leiht auch den dokumentarischen und instruktiven Fahrten durch die bergbaulichen Schauplätze seine Stimme aus dem Off. Er führt den Zuschauer auf einen Zechenhof, auf dem der Röntgenwagen der Bergbau-Berufsgenossenschaft zur Reihenuntersuchung bereitsteht. In Reih und Glied stehen die Männer davor an, um ihre 109 AHGR IGBE 753, Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung/Industrieverband Bergbau, 25.06.1949. 110 sv:dok 15/876, „Silikose“. Ein Dokumentar-Film der West-Film-Düsseldorf, 1951.
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Lungen durchleuchten zu lassen. „Bedauerlich, dass menschlichem Gleichmut oft Zwang entgegengesetzt werden muss“, heißt es dazu. Zurück im Untersuchungszimmer offenbart sich der Doktor seinem Patienten als langjähriger Knappschaftsarzt, der die Sorgen und Nöte der Bergmänner nur allzu gut kenne. Dadurch wisse er auch, welchen Dingen in ihrem Beruf nur wenig Beachtung geschenkt werde. Dazu gehörte auch die langfristige Gesundheit.
Abb. 2 Szene aus dem Film „Silikose“; der Arzt zeigt dem Bergmann Röntgenbilder Quelle: sv:dok 15/9201
Auf diese Weise sieht der Zuschauer die Welt des Bergbaus mit den Augen des Arztes: Im quarzhaltigen Feinstaub liege die Gefahr für die Lunge, und der entstehe vom Bohren, Fräsen und Schaben sowie beim „Bruchbau“, einer Technik, bei der die Decke der durch den Abbau der Kohle ausgehöhlten Areale zum Einsturz gebracht wird. Hier herrsche Maskenpflicht – die Maske sei kein Wärmetuch, sondern „gehört vor die Schnauze“. Noch wichtiger sei es, den Staub unmittelbar an seinen Quellen zu bekämpfen, der Bergmann müsse sich aber auch konsequent der zur Verfügung stehenden Technik bedienen, da dies nicht nur dem eigenen Wohl, sondern auch dem der Kollegen diene. Wenn nicht aus Rücksicht gegen sich selbst, dann sollten sie wenigstens aus Kameradschaftlichkeit handeln. Nach all diesen Belehrungen sah das Drehbuch schließlich ein versöhnlich-pathetisches Ende vor. Ein 70 Jahre alter Bergmann würde den Enkel auf seinen Schultern mit den großväterlichen Schlussworten beschwören:
Gefahrenkommunikation und bergmännisches Verhalten
Gottfried – auf diesem Boden, der uns immer heilig bleiben sollte, wanderte schon mein Vater. Ich selbst habe mit Gottes Hilfe ein ganzes Leben im Kohlenrevier verbringen können. Unter uns mag vielleicht eben Dein Vater sein Tagewerk verrichten. Halte auch Du die gleiche Straße ein und lasse Deinen Mund mit Stolz den Gruß entbieten: Glück auf!
Der ausgesprochene Paternalismus solcher Appelle war typisch für die gesamte Montanindustrie.111 Er zog sich folglich auch durch andere Szenen. Eine von ihnen zeigt einige Dutzend Bergleute, junge und alte, im Vorführraum des Silikose-Forschungsinstituts in Bochum. Sie sitzen in ihrer Straßenkleidung auf Schulbänken und blicken nach vorn. Die Szene wurde im Seminarraum des Silikose-Forschungsinstitut gedreht, in dem neben theoretischer Unterweisung auch Vorführungsveranstaltungen von Bohrern stattfinden konnten. Die dabei visualisierten Wissenshierarchien sind klar: Die Männer lauschen mit konzentrierter und ernster Miene dem am Pult stehenden Vortragenden im weißen Kittel. Hier wird hinter den arkanen Mauern entdecktes Wissen von Autoritätspersonen, unbestreitbaren Experten auf ihrem Gebiet, direkt an die gefährdeten Kumpel weitergegeben. Man hört den vertrauenserweckenden Arzt aus dem Off: Was immer auch an Erfahrungen im Silikose-Forschungsinstitut gesammelt wird, muss durch Schrift und Wort denen übermittelt werden, die es angeht: nämlich den Bergleuten. Ihre Mitarbeit ist erforderlich, damit aus wissenschaftlichen Theorien Erfolge für die tägliche Arbeit erwachsen. Durch Vorträge und praktische Vorführungen werden den Bergleuten im Silikose-Forschungsinstitut die erarbeiteten Erkenntnisse vermittelt. Der Bergmann hat es nun in der Hand, diese zu seinem eigenen Wohl anzuwenden.112
Den verschiedenen Drehbuch- und Schnittversionen waren bestimmte Grundelemente gemeinsam, die sich nicht in augenfälligem Paternalismus erschöpften. Die Verantwortung für die erfolgreiche Bekämpfung lag allem voran bei den Bergarbeitern selbst, denen ein nachlässiger Umgang mit den zur Verfügung gestellten Mitteln unterstellt wurde.113 Auffallend ist darüber hinaus die sehr prominente Stellung des Arztes. Das mag auf den ersten Blick nicht verwundern, schließlich ging es um die Bekämpfung einer Berufskrankheit. Fast alle gezeigten Maßnahmen, die wirkungsvolle Vorbeugung gegen die Silikose sein sollten, waren allerdings rein technischer Natur. Trotzdem war es die Stimme des Arztes aus der Eröffnungsszene, die dem Rat suchenden Bergmann die Maßnahmen erläuterte. Denn, so die Botschaft des Films, die notwendige Technik war vorhanden. Es war nun allerdings an den Bergleuten, diese konsequent zum Einsatz zu bringen, wenn nicht für ihre eigene Gesundheit, dann wenigstens im Sinne ihrer Kollegen. Der ruppige Ton des Knappschaftsarztes, der demonstrativ die rohe Sprache 111 112 113
Vgl. dazu Kleinöder 2015. „Silikose“ (1951), Min. 18:44. Der Diskurs knüpfte damit nahtlos an die Zeit vor 1945 an, vgl. Schürmann 2011, S. 153.
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des Kumpels sprach, kann als eine überparteiliche Brücke über die betrieblichen Klassenhierarchien verstanden werden, um die Botschaft „von oben“ an den Mann „ganz unten“ zu bringen. Visualisiert wird dabei ein asymmetrisches Beziehungsgefüge, in dem Medizin und Wissenschaft ihren Teil mit aller gebotenen Sorgfalt tun, doch vor allem sei es nun an den Bergleuten selbst, eigenverantwortlich das Ihrige zu leisten und den betrieblichen und ärztlichen Anweisungen zu folgen. Der Arzt fungierte als die wohlmeinende väterliche Vertrauensperson. So war es gewiss kein Zufall, dass er im Film bewusst nicht als betriebseigener Werksarzt oder berufsgenossenschaftlicher Gutachter in Szene gesetzt wurde, bedenkt man das herrschende Misstrauen gegenüber ablehnenden Bescheiden gegen Gesuche, dass eine Berufskrankheit anerkannt werde. Am 24. Januar 1951 wurde der Film im Bochumer Union-Theater uraufgeführt. Zum ausgesuchten Publikum gehörten neben dem inzwischen ehemaligen Landesarbeitsminister Halbfell Vertreter von Ministerien, den Bergämtern, Gewerkschaften und Angehörigen von Mitgliedsbetrieben der Bergbau-Berufsgenossenschaft.114 Bei der Presse stieß er auf ein kritisches Echo. Die Rheinische Post nannte den Film „enttäuschend“ und fand es befremdlich, dass zweifellos modernere Methoden der Staubbekämpfung nur sehr kurz gezeigt würden. Immerhin komme der Appell an die Belegschaften an: Wenn der Film nur die Aufgabe hat, dem Bergmann zu zeigen, was er selbst vor Ort tun kann, um den gefährlichen Staub zu bannen, dann dürfte der Film geeignet sein, belehrend und erzieherisch zu wirken.115
Das gewerkschaftliche Presse gab sich allerdings auch damit nicht vollends zufrieden, solange die entsprechenden modernen Techniken vorwiegend nur in der Theorie vorhanden seien: Leider könnte der Film den Eindruck erwecken, als brauche der Bergmann nur die vorhandenen Brausen und Düsen aufzudrehen. Da dies mit der Praxis nicht übereinstimmt, haben sowohl unsere Betriebsräte als auch die Werksleitungen eine Verpflichtung: sie müssen dafür sorgen, daß genügend Sprüh- und Berieselungsmöglichkeiten an den Staubquellen unter Tage vorhanden sind, um den Staub niederzuschlagen. Wenn dann die notwendige Erziehungsarbeit hinzutritt, werden ganz bestimmt die Kumpels davon Gebrauch machen.116
Doch auch nach Veröffentlichung des Films ließ sich jedoch keine einschneidende Veränderung in der Wahrnehmung der gesundheitlichen Gefahren des Bergbaus konstatieren. Ursprünglich hätte er nach dem Willen Halbfells als Vorfilm in den westdeutschen Kinos gezeigt werden sollen, doch das war auf energischen Widerstand der Bergbauunternehmen gescheitert. Die anhaltende Sorge um den beruflichen Nach114 115 116
„Silikose“ ein Lehr- und Kulturfilm, in: Kompass 61/2 (1951), S. 19–21. Heimtückischer Feind: Steinstaub, in: Rheinische Post, 3. Februar 1951. Silikose, in: Die Bergbauindustrie, 3. Februar 1951.
Gefahrenkommunikation und bergmännisches Verhalten
wuchs trieb die Zechenunternehmen gerade in den Jahren des Steinkohlenbergbaubooms in den fünfziger Jahren weiterhin um und die nachteiligen Effekte, von denen angesichts schlechter Presse bereits im vorherigen Kapitel ausführlich die Rede war, bestanden darin, dass junge männliche Schulabgänger künftig wenig geneigt sein würden, sich ohne Not und bei attraktiveren Alternativen in die Knochenmühlen der Zechen zu begeben. Deshalb wurde der Film lediglich aktiven Bergleuten vorgeführt, etwa auf speziellen Bildungsveranstaltungen und -ausstellungen. Auch bis Ende der fünfziger Jahre setzte die betriebliche Werbung für Unfallverhütung, zu der auch die Berufskrankheiten-Prävention gehörte, vornehmlich auf paternalistische Appelle an die Belegschaften. Außerdem sollten die untertägigen Aufsichtspersonen, die man mit der Ausbildung der Silikose- oder Staubbeauftragten mit einer entsprechenden Expertise ausgestattet hatte, die Arbeiter dazu anhalten betriebliche Vorschriften zu beachten und die präventiven Techniken der Staubbekämpfung anzuwenden. Doch wie bereits der Silikose-Film von 1951 in seinen Schlussworten gemahnt hatte, müsse darüber hinaus das Experten-Wissen über die Gefahren des krankmachenden Feinstaubs auf eine Weise bei den Kumpeln verfangen, dass es ein eigenverantwortliches Risikobewusstsein und damit einen intrinsischen Anreiz schaffe. Neben dem Filmprojekt gab es auch andere, klassischere Bemühungen das Wissen über die Staubbekämpfung unter den Bergleuten zu verbreiten. Im Mai 1951 fand auf der Gutehoffnungshütte in Oberhausen erstmals eine auf einem Zechengelände abgehaltene großangelegte Informationsveranstaltung mit dem Titel „Staubbekämpfungswoche“ statt, auf der insbesondere das leitende Bergwerkspersonal adressiert wurde. Der dortige Bergwerksdirektor Wilhelm Nebelung hielt zur Eröffnung die Ansprache und verwies darauf, dass nun die technischen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Staubbekämpfung gegeben seien. Nun komme es – ganz im Duktus des Films aus demselben Jahr – vor allem auf die folgsame Einsicht und die aktive Mithilfe der Arbeiter an. Hier ist nun Ihre ureigenste Aufgabe als Aufsichtspersonen und Betriebsratsmitglieder, die Säumigen zu belehren, und zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen anzuhalten. Denken Sie stets daran, daß Unterlassungssünden in der Staubbekämpfung sich nicht nur an denen rächen, die die Unterlassungssünde begehen, sondern auch an den Unbeteiligten […].117
Die Veranstaltung war sowohl durch die DKBL, die Bergbau-Berufsgenossenschaft als auch Gewerkschaftsvertreter hochrangig besucht. In umfangreichen Bild- und Wortplakaten sowie Vorträgen sollten die einschlägigen Appelle an die Arbeiter gebracht werden. Außerdem wurde die Belegschaft dazu ermuntert, eigene Verbesserungsvorschläge einzureichen. Ziel der Zusammenkunft solle es schließlich sein, sie zur „tätigen Mithilfe bei der Staubbekämpfung anzuspornen“ und die auf der Zeche zum Einsatz
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Staubbekämpfungswoche der Gutehoffnungshütte, in: Kompass 8/61 (1951), S. 114–115.
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kommenden Gerätschaften „anschaulich darzustellen“.118 Insgesamt war eine Teilnahme von 1.558 Belegschaftsmitgliedern vorgesehen, immerhin 17,6 Prozent des gesamten Untertagepersonals der Zeche, aber überwiegend Aufsichtspersonen und Bergleute mit Führungsaufgaben. Die Bergbau-Berufsgenossenschaft war im selben Jahr in eigener Sache auf einer Ende Juni in Köln abgehaltenen Gesundheitsausstellung vertreten, da ihr „Wirken um die Silikose-Verhütung im Vordergrund des allgemeinen Interesses“ stand. Präsentiert wurden sowohl neue Messverfahren als auch technische Methoden der Staubbekämpfung, außerdem wurde die gesundheitliche Überwachung der Bergarbeiter vorgestellt. Das Publikum setzte sich allerdings überwiegend aus Vertretern staatlicher Regierungen und Behörden sowie in- und ausländische Wissenschaftler auf dem Gebiet des Gesundheitswesens zusammen.119 Vier Jahre später, Ende Juni 1955, veranstaltete die Zechengesellschaft Neue-Hoffnung eine weitere „Silikose-Bekämpfungswoche“. Erklärtes Ziel blieb es, so Bergwerksdirektor Wilhelm Nebelung, die laufende Überwachung der Verhältnisse an den Arbeitsplätzen dank der inzwischen eingeführten Messverfahren und -routinen und die regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen zu kommunizieren – und zwar sowohl den Belegschaften als auch einer breiteren Öffentlichkeit. Da die Zahl der Neuerkrankungen 1953 und 1954 zurückgegangen seien, schien die Silikose ihren Höhepunkt überschritten zu haben, gleichwohl war „die Schlacht gegen die Silikose“ noch nicht gewonnen. Denn dazu müsse, wie es im berufsgenossenschaftlichen Bericht über die Veranstaltung nachdrücklich hieß, „jeder Bergmann verantwortungsbewußt an der Staubbekämpfung“ mitarbeiten, weil die meisten Vorrichtungen zur Staubbekämpfung noch nicht zwangsläufig arbeiteten, sondern von den Arbeitern bedient oder angeschaltet werden mussten.120 Die Ausstellung wanderte anschließend im Wechsel zwischen den verschiedenen Zechen des Unternehmens und wurde von etwa 30.000 Personen und damit von gut zwei Dritteln der Untertagebelegschaft besucht. Es wurden Handzettel und Merkblätter ausgegeben und der Film „Silikose“ vor insgesamt 1.750 Zuschauern – überwiegend Aufsichtspersonal, Betriebsratsmitgliedern und für die Staubbekämpfung besonders verantwortlichen Untertagearbeitern aufgeführt. Die hohen Besucherzahlen wertete das Unternehmen als Beweis dafür, dass die Ausstellung ihren Zweck, nämlich das allgemeine Interesse der Bergleute zu wecken, im Kern erfüllt habe und ihre aktive Mitarbeit bei der Bekämpfung der Silikose stetig wachse. Medien der betrieblichen Wissensverbreitung dürften neben den einzelnen Ausstellungsveranstaltungen vor allem aber auch die Werksnachrichten gewesen sein, die in großer Detailfülle über das wissenschaftliche Wissen bezüglich der mutmaßlichen Ursachen der Silikose sowie 118 119 120
sv:dok 15/456/2, Staubbekämpfungswoche auf den Zechen der GHH, 28.04.1951. Große Gesundheitsausstellung Köln 1951, in: Kompass 61/5 (1951), S. 99–102. Silikose-Bekämpfungswoche der Bergbau-AG. Neue Hoffnung, in: Kompass 65/3 (1955), S. 81–82.
Gefahrenkommunikation und bergmännisches Verhalten
der Bekämpfung gefährlichen Staubes berichteten. Im gleichen Duktus, wie er auch in der allgemeinen Presse und auf den Plakaten zur Arbeitsschutzpropaganda vorherrschte, wurde hier martialisch der „Kampf dem Staub“ beschworen. Ein Heft aus dem Jahr 1954 vermittelt ein beispielhaftes Bild der verbreiteten Inhalte in der bergwerkseigenen Presse. Die Silikose sei bislang noch nicht heilbar und daher sei die Beseitigung ihrer Ursachen das einzige wirksame Mittel gegen sie. Der Staub, der die Krankheit auslöste, sei jedoch unsichtbar und so fein und leicht, dass er kilometerweit durch die Grube schweben könne. Wer an einem Ende zum Beispiel „eine Nebeldüse, die den Staub niederschlagen soll, weil sie ihm unbequem ist,“ eigenmächtig abstelle, der gefährde damit nicht allein sich selbst, sondern möglicherweise auch Kollegen am anderen Ende. Wer sich so unbedacht verhalte, mache sich mitschuldig am Erkranken anderer.121 Der Mühlheimer Bergwerksverein betitelte seine auf der Zeche Rosenblumendelle im Jahr 1956 abgehaltene Ausstellung als „Staubschutzerziehungswoche zum Kampf gegen die Silikose“, mit der erreicht werden solle, dass die auf dieser Zeche „eingerichteten Staubschutz- und Bekämpfungsmittel mit größerem Verständnis als bisher von den Bergleuten“ angewendet würden. Konkret bedeutete dies, wie der hiesige Bergwerksdirektor vor den anwesenden Zeitungskorrespondenten betonte, den „Abwehrwillen“ der Männer zu stärken. Wegen der großen Fluktuation der Belegschaft müssten diese immer wieder neu auf die Silikosegefahr aufmerksam gemacht werden. Der auf der Ausstellung anwesende Vertreter der staatlichen Bergbehörde fügte hinzu, dass nun, da die Zeche als eine der ersten moderne Abwehrmittel wie die neuartige Schutzmaske der Firma Dräger eingeführt habe, der Betrieb auch die „Mitaktivität“ seiner Bergleute erwarten dürfe.122 Das Beispiel verdeutlicht eine eigenwillige Paradoxie der beständigen Gefahrenkommunikation in Bezug auf die Staublunge: Auf der einen Seite wurde die vermeintlich übertriebene Angst vor der Krankheit und den allgemein widrigen Arbeitsbedingungen im Bergbau für das mangelnde Interesse am Bergmannsberuf verantwortlich gemacht, in deren Folge es auch zur hohen Fluktuation der Beschäftigten komme. Auf der anderen Seite verhielten sich die Arbeiter aber allzu sorglos und müssten deshalb fortwährend auf die gesundheitlichen Gefahren hingewiesen und zum umsichtigen Umgang mit den technischen Mitteln zu ihrem eigenen Schutze erzogen werden. Wie verbreitet diese Auffassung war zeigen nicht zuletzt die Werbeprospekte für Staubschutzmasken in den fünfziger Jahren, z. B. für den Druckluft-Atemmaske „Molch“ der Hamburger Firma Karl Bernhardt von 1954 (vgl. Abbildung 3): Die bergmännischen Vorbehalte gegen das Tragen von Masken wurden im Prospekt explizit aufgegriffen:
121 Hier exemplarisch zitiert aus: Kampf dem Staub!, in: Werksnachrichten (Dortmunder Bergbau AG) IV/6, S. 41–43. 122 MBV leistet Pionierarbeit im Kampf gegen die Silikose, in: Mühlheimer Tageblatt, 15. Mai 1956.
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Hand aufs Herz: Tun es nicht Ihre Leute auch manchmal? Die Atemfilter hängen, wie üblich, ungenutzt an der Wand. Ein Tuch vor dem Mund ist bequemer, man arbeitet lieber so … aus Furcht vor Atemnot, in Abwehr gegen Schweiß, … aus Leichtsinn und Trägheit! So arbeiten viele Männer in Gasen, Farbnebel und Staub. Nur ist der „Lungenschutz“ durch ein Tuch vor Mund und Nase lebensgefährliche Illusion! […] Weil die Betriebsleiter den Atemschutz immer wieder vergeblich nahelegen, wurde der Molch entwickelt.123
Abb. 3 Werbung für die Schutzmaske „Molch“ aus dem Jahr 1954 Quelle: IGF H0919
Die Betriebe verließen sich dabei nicht allein auf den langfristigen pädagogischen Effekt der großen Aufklärungsveranstaltungen, um den „Leichtsinn“ und die „Trägheit“ ihrer Arbeiter gegenüber der Staubgefahr anzugehen. In der Unfallverhütungspraxis war es bereits länger üblich, Arbeiter durch Arbeitsschutzplakate auf Gefahren aufmerksam zu machen und mit konkreten Imperativen zum richtigen, sichereren Handeln aufzurufen. Solche Appelle wurden auch für die Berufskrankheiten-Prävention in Umlauf gebracht. Das besondere darstellerische wie kommunikative Problem lag dabei in der Veranschaulichung der Gefahr, die sie darstellen sollten: Während Unfälle
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IGF H0919, Molch, 1954.
Gefahrenkommunikation und bergmännisches Verhalten
unmittelbar geschahen und im Regelfall mit einer einzelnen Inzidenz auf den Punkt gebracht werden konnten – ein Sturz, ein herabfallender Stein, ein explodierender Stollen etc. – waren unsichtbarer Staub und eine langfristige Lungenschädigung deutlich schwieriger zu visualisieren. Tatsächlich blieben entsprechende Plakate oft abstrakt und wenig anschaulich oder beschränkten sich darauf, das Bewusstsein für den „Feind Staub“ wachzuhalten sowie auf konkrete Handlungsanweisung zur alltäglichen Anwendung der Techniken zur Staubbekämpfung. Entworfen und Vertrieben wurde die Unfallverhütungspropaganda einschließlich ihres gegen Berufskrankheiten gerichteten Pendants durch die Bergbau-Berufsgenossenschaft.124 Trotzdem sahen sich die Bergbauunternehmen öffentlich – insbesondere durch die gewerkschaftliche Presse – auch weiterhin dem kapitalismuskritisch grundierten Vorwurf ausgesetzt, nicht ausreichend gegen die Staublunge vorzugehen. Die für die Arbeiter organisierten Ausstellungen auf Zechengeländen, die durch die Presse begleitet wurden, erfüllten deshalb nicht zuletzt auch eine wichtige Kommunikationsrolle nach außen: Sie stellten das Problembewusstsein sowie die Problemlösungskompetenz der Bergbauunternehmen selbst heraus. Die eingeladenen Rundfunk- und Pressevertreter sollten dafür Zeuge stehen. Insbesondere die Betonung der technischen Seite der Silikose ermöglichte es überdies, mit Verweis auf die beständigen technischen Verbesserungen auch eine Verbesserung der Lage insgesamt zu suggerieren – vorausgesetzt, die vorhandene Technik würde auch gewissenhaft angewandt. Exemplarisch zeigte sich dies auf der 1956 auf der Oberhausener Schachtanlage Concordia abgehaltenen Ausstellung unter dem Titel „Kampf der Silikose“, die genau diesem Duktus folgte. Es gehe nunmehr darum, den „Willen zur Anwendung der Staubbekämpfungsmaßnahmen“ zu wecken und zu stärken, wie es in der Einladung hieß, die unter anderem an hochrangige Mitglieder der Bergbehörde, der Stadt Oberhausen, verschiedene Ärzte sowie die Redaktionen regionaler Zeitungen verschickt wurde.125 Sie zog als Wanderausstellung von Zeche zu Zeche, die sich jeweils dafür angemeldet hatten.126 Die Ausstellungen erfüllten auf diese Weise ihre wichtige Doppelfunktion, indem sie ihren Zweck als Mittel der Gefahrenkommunikation gegenüber den eigenen Belegschaften erfüllte, aber gleichzeitig durch ihre medienwirksame Inszenierung auch eine Botschaft an die breitere bundesrepublikanische Öffentlichkeit sandte. Diese lautete nach wie vor, dass der Einzelne es – allen intensiven technologischen Anstrengungen zum Trotz – am Ende auch selbst in der Hand habe, ob er der Gefahr einer Staublunge ausgesetzt war oder nicht. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass die Betriebe nicht ihrer Fürsorgepflicht für ihre Belegschaften nachkämen.
Siehe sv:dok Plakatbestand in Bestand 15. BBA 16/2493, Kampf der Silikose, 07.06.1956. 16/2493, Kurzbericht über einige neuere Arbeiten der Unterausschüsse und der Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung, 27.11.1956. 124 125 126
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Entsprechend aufmerksam verfolgte auch der Steinkohlenbergbauverein als Verband der Bergbauunternehmen die Presseberichte über die Ausstellungen. In Kreisen der Bergbauunternehmer war bereits 1953 geäußert worden, dass darunter „immer wieder auch Veröffentlichungen erscheinen, die für den Bergbau nicht nützlich sind oder um mindesten störend wirken.“127 Auch kritische Artikel, die im gewerkschaftlichen Umfeld erschienen, wurden aufmerksam verfolgt. Die Kritik an den betrieblichen Anstrengungen fiel dort – sehr zum Missfallen der Bergwerksbetreiber – in der Regel am deutlichsten aus und gebot entsprechende Gegenreaktionen, um die Vorwürfe im öffentlichen Raum nicht unkommentiert zu lassen. In einer Sitzung des Direktoriums der DKBL wurde diskutiert über […] einen Artikel der „Bergbau-Rundschau“ (Organ der IGB [Industriegewerkschaft Bergbau] für Bergbauangestellte), Nr. 6 von Juni 1953, über die Silikose. Da darin die Arbeiten zur Bekämpfung der Silikose als höchst ungenügend bezeichnet werden – es wird ferner von einer energielosen Bekämpfung gesprochen –, schlägt er vor, der Presse eine Unterlage über die auf diesem Gebiet geleistete Gemeinschaftsarbeit zur Verfügung zu stellen. Das Direktorium stimmte diesem Vorschlag zu.128
Die zunehmend intensivierte Außenkommunikation des Bergbaus gegenüber der Presseöffentlichkeit sowie deren größere Aufmerksamkeit für das Thema reflektierte zugleich auch das steigende öffentliche Interesse an der Silikose und ihrer Bewältigung im Verlauf der fünfziger Jahre; die Öffentlichkeit wurde damit für den Umgang mit der Krankheit immer bedeutsamer. Wie bereits der Blick auf den medialen Diskurs gezeigt hat, erschienen Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit als zentrale Referenzpunkte. Die konkreten Schnittstellen zwischen der Öffentlichkeit und der Expertengemeinschaft sowie den Organisationen, die sie vertraten, waren dennoch in beide Richtungen durchlässig: Das zeigte sich zum einen daran, dass der Steinkohlenbergbauverein und die Berufsgenossenschaft die Debatte aufmerksam verfolgten und ihre Außenwirkung reflektierten; zum anderen aber auch daran – und das wird Gegenstand näherer Betrachtung im folgenden Kapitel sein –, dass die Wissensbildung über die Silikose und ihre praktische Bekämpfung letztlich ein reziproker Prozess war, der vom Eigensinn des Betriebsalltags geprägt wurde.
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1953.
BBA 12/367, Schrödter/Direktor Büchner, Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung, 11.03.1953. BBA 12/366, Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Direktoriums der DKBL am 8. Juli
Schnittstellen zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft
3.5
Schnittstellen zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft
Die reziproke Kommunikation von Experten-Wissen erfolgte letztlich auf zwei unterschiedlichen Wegen: Zum einen kommunizierten die Berufsgenossenschaft, die Bergbaubetriebe und die mit der Silikose befasste Expertengemeinschaft über ihre Veröffentlichungen sowie öffentliche Veranstaltungen nach außen und verfolgten die medialen Reaktionen in der Öffentlichkeit aufmerksam. Zum anderen wandten sich aber auch andere gesellschaftliche Akteure – vor allem Unternehmen und Privatpersonen – an die Berufsgenossenschaft, um eigene Ideen oder Vorschläge an die Versicherung heranzutragen. Eine der Ausgangshypothesen dieser Arbeit war, dass die Hierarchisierung zwischen Wissenssystemen und ihren -feldern nicht einfach statisch gegeben ist, sondern als historisches Produkt gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse ist und damit auch dem beständigen Wandel unterliegt. Die in Kapitel 2 nachgezeichneten öffentlichen Debatten über die Staublunge in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten markierten zugleich auch verschiedene Konjunkturen des Wissensaustauschs. Angesichts der von Unternehmen und Berufsgenossenschaft absichtsvoll in Umlauf gebrachten Pressemitteilungen, der organisierten Publikumsveranstaltungen sowie des Primats der Wissenschaftlichkeit erscheint dieser Austausch zunächst sehr einseitig aus der Expertensphäre der Mediziner und Ingenieure und der Bergbaubetriebe in den öffentlichen Diskurs zu fließen. Gleichwohl immer wieder Zweifel am langfristigen Erfolg der technischen und medizinwischen Bewältigung der Silikose aufkeimten und die Debatte nicht allein technokratisch, sondern im Laufe der sechziger Jahre auch vermehrt über die Skandalisierung von Einzelschicksalen geführt wurde, schienen sich doch auch die erklärten Kritiker der Unternehmensinteressen, allen voran die Industriegewerkschaft Bergbau, grundsätzlich auf die besondere Autorität wissenschaftsförmigen Wissens eingelassen zu haben, wie etwa die Debatte über die Anerkennung der Emphysem-Bronchitis bei Bergleuten im Jahr 1964 anschaulich gezeigt hat. Der Topos des unaufhaltsamen wissenschaftlich-technologischen Fortschritts, der dazu verhelfe die Bergarbeiterschaft von ihrer schicksalhaften Geißel zu befreien, war in der medialen Darstellung des Staublungenproblems überaus präsent, er war aber nicht unangefochten. Denn solange die Silikose noch als weitgehend unerforscht galt, war der vermeintliche Sieg der Wissenschaft noch keine ausgemachte Sache. Der Presseöffentlichkeit blieben die Vielfältigen und Konkurrenzen der medizinischen Meinungen nicht verborgen, ja sie machte die andauernde wissenschaftliche Kontroverse, wie im Kapitel über die öffentliche Debatte gezeigt, schon sehr früh zum Gegenstand ihrer Berichterstattung über das Staublungenproblem. Die Westdeutsche Allgemeine berichtete etwa über die 6. Sitzung des medizinischen Beirats des SilikoseForschungsinstituts, die Ende September 1949 in Bochum stattgefunden hatte: Man weiß auch heute, daß es nicht allein die mechanische Wirkung des splittrigen, kristallinen Quarzstaubes ist, der die Silikose hervorruft. Leute, die 25 Jahre nicht mehr in der
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Grube gearbeitet haben, Leute, die siebzig, ja sogar achtzig Jahre alt sind, haben plötzlich Silikose. Es muß also ein progressiver Vorgang sein, eine Entwicklung. Der Quarzstaub hat also nicht nur eine mechanische, sondern auch eine chemische Wirkung. Und nur aus dieser Doppelwirkung kann Silikose entstehen. Vielleicht löst die Lungenflüssigkeit mit den Jahren den Quarz auf, vielleicht – – Vielleicht, – denn man weiß viel über die Silikose, aber man weiß nicht das Entscheidende. Man kennt die Ursache, sozusagen den Erreger, aber man kennt nicht die Entwicklung.129
Vielleicht – aber vielleicht auch nicht. Die Schwierigkeit schien darin zu liegen, die vorgebrachten Theorien zu falsifizieren oder zu bestätigen, wie es doch als das Wesen der Wissenschaftlichkeit galt. Denn die lange Pathogenese der Krankheit ließ kurzfristige Beobachtungen im Zeitraffer nämlich kaum zu. Die chemischen Experimente im Labor blieben stets unter Vorbehalt. Ob es jemals eine medikamentöse Behandlung geben würde, bleibe abzuwarten, doch könnten die seelisch zerknirschten Kranken bislang nur auf ein Wunder hoffen und bis dahin mit den Wundertees einschlägiger Quacksalber wenigstens ihren „seelischen Widerstand gegen die Krankheit“ stärken.130 In regionalen Zeitungen des Ruhrgebiets und seiner Umgebung fanden sich regelmäßig Werbunganzeigen für derlei Mittel, die auf kommerziellem Wege eine Linderung bei Staublungenbeschwerden verschaffen sollten. Zwischen den Werbetreibenden, der Bergarbeiterschaft und der Gemeinschaft der Silikoseexperten eröffnete sich dabei ein breiter Diskursraum, in dem wissenschaftliche Theorien, alltägliche Beobachtungen und Körperbilder sowie die hartnäckige Hoffnung, dass sich jede Krankheit besiegen lassen müsse, in enge Wechselwirkung traten. Trotz des großen öffentlichen und politischen Vertrauensvorschusses waren die Silikose-Experten in den fünfziger Jahren bei fast allen die Krankheit betreffenden Fragen noch weit davon entfernt, sich auf einen Konsens verständigen zu können. Die Bergbau-Berufsgenossenschaft zeigte sich allerdings offen für Anregungen von außen, seien sie experimentell oder auf bergmännischem Erfahrungswissen begründet. Der Diskurs über die Krankheit war zu dieser Zeit noch sehr fluide. Die Berufsgenossenschaft ließ vorbehaltlos alle Ideen, die von Bergleuten, anderen Privatpersonen und Unternehmen an sie herangetragen wurden, gewissenhaft durch ihr hauseigenes Forschungsinstitut prüfen. In dem Wissen, dass die Experten noch keine tragfähige Lösung zur Hand hatten, und dass gleichzeitig die Zeit drängte, versprachen die Zuschriften immerhin neue Impulse und mögliche Innovationen. Die nachfolgenden Beispiele
129 Koch, Wilhelm Herbert, Silikose-Forschung geht zahlreiche Wege und Umwege, in: Westdeutsche Allgemeine, 24. September 1949 Der aus Bochum stammende Autor, Wilhelm Herbert Koch, sollte in den späten 1950er Jahren Bekanntheit durch seine Comic-Zeichnungen des „Kumpel Anton“ erlangen, die er viele Jahre in der WAZ veröffentlichte. 130 Ebd.
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geben Einblicke in die große Vielfalt des kursierenden Alltags- beziehungsweise Laienwissens über die Silikose, das jeweils wissenschaftsförmige Versatzstücke, persönliche Beobachtungen sowie weitergehende Spekulationen enthalten konnte. Der Austausch über dieses Wissen ermöglicht dabei zugleich Einblicke in die im Laufe der Zeit merklich zunehmende Hierarchisierung verschiedener Wissensformen im Wissensfeld der Silikose. Privatpersonen beriefen sich in ihren schriftlichen Eingaben vornehmlich auf Beobachtungen und Erfahrungen aus ihrem unmittelbaren Arbeits- und Lebensalltag. So wurde der Hattinger Taubenzüchter Alois G. gegenüber dem Silikose-Forschungsinstitut mit dem Gedanken vorstellig, dass [w]enn es der Fach-Wissenschaft möglich wäre, Lebertran, bzw. die gleichwertigen hieraus gewonnenen Produkte derart fein zu zerstäuben, daß derselbe auf dem Inhalationsweg in die Lunge aufgenommen werden könnte […] die Anbahnung eines neuen und erfolgreichen Weges in der Verhütung bzw. Bekämpfung der Silikose ermöglicht [werde].131
Das Verfahren käme einer Behandlung des Gewebes mit Öl oder Fett gleich; ob eine solche Schicht aus Lebertran die Lunge vor dem Staub schützen könnte, müsse man freilich im Tierversuch erproben. Er selbst behandle damit erfolgreich äußerliche Erkrankungen seiner Zuchttauben. Institutschef Martin Landwehr leitete die Idee an die Hauptverwaltung der Bergbau-Berufsgenossenschaft weiter und spekulierte im Begleitschreiben darüber, ob es vielleicht möglich wäre, dass eine „künstlich fettgehaltene Lunge keine Ablagerungen von Staub in sich bergen kann“. Am besten sollte sein Institutskollege, der medizinische Leiter Viktor Reichmann, unterrichtet werden und zu dem Vorschlag Stellung nehmen.132 Dieser konnte dem Vorschlag aber schließlich nicht viel abgewinnen. Ideen wie diese, die rückblickend kurios erscheinen, vor allem aber ihre Rezeption zeigen, wie vermeintliches Laien-Wissen und Experten-Wissen um 1950 in engem Austausch standen; die Grenzen zwischen beiden Sphären waren fließend. In der öffentlichen Darstellung genoss dennoch das Prädikat der Wissenschaftlichkeit einen bedeutend höheren Stellenwert. Das zeigen die Werbestrategien gewerblicher Anbieter von pharmazeutischen Produkten, die ihre Präparate als mögliche Vorsorge- oder Heilmittel gegen die Silikose anboten und dabei kursierende offene Forschungsdebatten der Silikose-Experten in ihrer Werbung selbstbewusst aufgriffen. So versprach ein bayerischer Vertreter133 vom „Institut für Schwingungs- und Strahlenforschung“ nach angeblich in Eigenregie vorgenommenen Untersuchungen, dass das Lungenpräparat seines Unternehmens innerhalb von vier Monaten, wenn nicht mit Sicherheit zur Heilung, dann zumindest zur merklichen Linderung der Krankheitssymptome führen würde. 131 132 133
sv:dok 15/666, Abschrift: Vorschlag zur Verhütung bzw. Bekämpfung der Silikose. sv:dok 15/666, Silikose-Forschungsinstitut/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 09.11.1949. Möglicherweise handelte es sich dabei um den österreichischen Ingenieur Prof. Dr. Walter Bernatzik.
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Ziel sei es, dem Körper „Nährstoffe“ zu geben, Zellen zur „Regeneration“ anzuregen und der Lunge Kalk zuzuführen, um den Regenerationsprozess zu unterstützen. Bei der Gelegenheit könne auch das ebenfalls feilgebotene Herzpräparat eingenommen werden, schließlich werde auch der Kreislauf durch die Silikose in Mitleidenschaft gezogen. Für einen ersten viermonatigen Testlauf bräuchte es 15.000 DM, hieß es in einer Offerte an die Bergbau-Berufsgenossenschaft Ende 1949, von der sich der Verfasser der Eingabe eine entsprechende Anschubfinanzierung versprach, ohne dass diese jedoch in Erfüllung gehen sollte.134 Die privaten Anbieter wandten sich auch direkt an die Bergbauunternehmen und versprachen eine schnelle Problemlösung. Sie vertrieben Mittel, die eine Linderung oder gar Heilung staubgeplagter Lungen suggerierten und stellten die SilikoseExperten in Bochum – sehr zu deren Leidwesen – bisweilen vor vollendete Tatsachen. So bewarb die „Messelken Kräuterextrakte GmbH“ aus Uerdingen Mitte 1948 einen trinkfertigen „Bergmannstrunk“, denn er behütet den Bergmann in der Grube vor den ihm dort drohenden Gefahren durch Stein und Staub und schafft ihm anhaltende Erfrischung und Linderung. So […] stillt [er] den durch Steinstaub verursachten Brand auf der Lunge anhaltend. Er wirkt dortselbst lösend auf die eingedrungenen Fremdkörper und zugleich befreiend von dem Druck eines dursterzeugenden und die Atmungsorgane belastenden Zustandes. […] Wer unter Stein und Staub arbeitet und ladet [sic!], dem hilft Messelken’s Waldkräutergetränk ‚Bergmannstrunk‘ […].135
In einem Werbeprospekt ging das Unternehmen sogar noch weiter und verwies auf die eigene zehnjährige Forschungsarbeit, die die Wirksamkeit des feilgebotenen Naturpräparats belegen sollte. Tausende Urinuntersuchungen hätten zu diesen Erkenntnisgewinnen beigetragen. So sei der „angehende Bergmann […] in der ersten Zeit seiner neuen Tätigkeit Umwelteinflüssen ausgesetzt, die außerordentlich stark auf sein Gemüt“ schlügen und „mit den Einwirkungen der Staubentwicklung […] Gemütsdepressionen“ erzeugten.136 Diese wirkten sich negativ auf die körperliche Abwehr aus und machten gegenüber der Silikose-Erkrankung anfällig. Hier zeigte sich sehr anschaulich, wie Beobachtungen über die Lebens- und Arbeitsrealität der Bergleute, die mit diesem Text angesprochen werden sollten, mit ostentativer Wissenschaftlichkeit verbunden wurden, die wiederum die Wirksamkeit der feilgebotenen Mittel verbürgen sollte. Zugleich richtete sich die Werbung auch an die Bergbaubetriebe, die Interesse an der langfristigen Arbeitsfähigkeit ihrer Belegschaft haben müssten:
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sv:dok 15/666, Bernatzik/Dr. Franz Wächter, zu Händen der Bergbau-Berufsgenossenschaft, 27.12.1949. sv:dok 15/792, Abschrift: Messelken’s Waldkräutergetränk „Bergmannstrunk“. sv:dok 15/792, Abschrift: Natur gegen Silikose.
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Entsprechend diesen Erkenntnissen muss auch der Kampf gegen die Silikose geführt werden. Da die Silikoseerkrankung bestehende Gemütsdepressionen wesentlich verstärkt, diese aber der Silikose weiteren Vorschub leisten, muss das dringendste Augenmerk auf der Verhütung dieser Erkrankung gerichtet werden.137
Hier komme der angebotene „Bergmannstrunk“ ins Spiel, da er sich positiv auf die Stimmung der von der Silikose bedrohten Bergleute auswirke. Indem er Zuversicht, Hoffnung, Frohsinn und Freude fördere, beuge es der Krankheit vor. Der Unternehmer Messelken wurde mit seinen Ideen am 15. September 1948 auch persönlich beim Vorgänger des Silikose-Forschungsinstituts, der Hauptstelle für Staubbekämpfung, vorstellig und traf dort auf Martin Landwehr. Nach eigenen Angaben hätten auf der Duisburger Zeche Rheinpreußen in der Vergangenheit bereits Versuche stattgefunden, bei denen die besagten Urinproben genommen worden seien. Auch mit der Ruhr-Knappschaft, die ihren Knappschaftsmediziner und in der Fachwelt bekannten Silikose-Experten Walter Parrisius damit betraut habe, das Präparat zu testen, sowie mit der Sozialpolitischen Abteilung der Gewerkschaft stehe das Unternehmen in Verbindung.138 Auf die eigene Definition der wesentlichen Krankheitsattribute hin, die in der Schwächung der natürlichen körperlichen Abwehrkräfte lägen, hatte das Unternehmen ein maßgeschneidertes Gegenpräparat zur Hand, und stieß damit bei den Betroffenen auf offene Ohren. Die allgemeine Bereitschaft, an eine medizinische Lösung zu glauben, war groß. Die Verantwortlichen bei der Hauptverwaltung der Bergbau-Berufsgenossenschaft sahen den Vorschlag zwar skeptisch. Andererseits hatten die Ruhr-Knappschaft und die Industriegewerkschaft anscheinend bereits eigene Untersuchungen aufgenommen. Die Berufsgenossenschaft zog schließlich nach: Viktor Reichmann wurde darum gebeten, das Mittel Bergleuten zu verabreichen und seine Wirkung zu beobachten. Wenn sich zeige, dass wenigstens subjektive Beschwerden gelindert würden, sei man bereit, den „Bergmannstrunk“ Silikose-Erkrankten zur Verfügung zu stellen.139 Letztlich entschied sich die Hauptverwaltung aber doch gegen die von der Firma vorgeschlagenen Versuche, da sie der Ansicht war, „dass etwa abgegebene gutachterliche Äußerungen in unzweckmäßiger Weise ausgenutzt werden und nur dazu führen können, bei Silikoseerkrankten und insbesondere bei Silikosegefährdeten unbegründete Hoffnungen zu erwecken.“140 Die leichtfertige Annahme, dass sich die Krankheit durch kommerziell dargebotene Mittelchen und wortreich beworbene Tinkturen problemlos behandeln ließe, wurde nun als Gefahr für die fortwährenden Bemühungen der Experten und
Ebd. sv:dok 15/792, Aktenvermerk, 16.09.1948. sv:dok 15/792, Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung/Prof. Dr. Reichmann, 24.09.1948. sv:dok 15/792, Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung/Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften, 03.01.1950. 137 138 139 140
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Zechenleitungen wahrgenommen, verändernd auf das Verhalten der Bergarbeiter einzuwirken. Danach blieb es zunächst still um den verbeugenden Trunk aus Uerdingen. Nachdem sich der Anbieterkreis ähnlicher Produkte im Jahr 1950 aber weiter vergrößert hatte, wandte sich die Bergbau-Berufsgenossenschaft in ihrem Presseorgan mit Nachdruck an die Mitgliedsbetriebe und warnte vor aufwendig beworbenen vermeintlichen Wundermitteln gegen die Staublunge.141 Der Mühlheimer Bergwerks-Verein setzte sich daraufhin direkt mit der Medizinischen Abteilung des Silikose-Forschungsinstituts in Verbindung und bat um eine eingehende Begutachtung des Präparats „Silikose-Standard“ der Firma Messelken. Auf seiner Zeche Rosenblumendelle würde es seit einem Jahr nach der Schicht als Heißgetränk an die Bergleute ausgegeben und wirke nach Angaben des Herstellers hustenreizmindernd bei chronischer Bronchitis, Emphysem und Silikose.142 Hieraufhin sah sich Helmut Beckmann, Reichmanns Nachfolger als medizinischer Leiter des Silikose-Forschungsinstituts, dazu veranlasst, eine nachdrückliche Warnung vor überhöhten Erwartungen auszusprechen: Die Behauptungen der Firma Messelken entbehrten nicht nur „jeglicher wissenschaftliche[r] Grundlage“, ihre genaueren Ausführungen seien auch „durchaus laienhaft und nicht belegt“. Entgegen der geäußerten Versprechung, dass zumindest das Mittel „Silikosa-Extra“ eine Siliko-Tuberkulose nicht nur stoppen, sondern sogar rückbilden könne, seien alle Präparate der Firma allenfalls krampflösend, eine „verhütende oder gar heilende Wirkung gegen die Silikose kann jedoch keinem dieser Präparate zugesprochen werden, sondern es handelt sich lediglich um Linderungsmittel bei evtl. vorhandenen spezifischen oder unspezifischen Katarrhen.“143 Auch die Kollegen Parrisius, Silberkuhl sowie die Knappschaftsärzte Müller und Wecker seien zu dieser Auffassung gelangt, würden aber vom Hersteller zu Reklamezwecken irreführend zitiert. Der kommerzielle Anbieter bewarb seine Produkte nämlich mit eklektischen Zitaten aus wissenschaftlichen Gutachten, nach denen sich anerkannte Experten scheinbar für die Wirksamkeit und Güte der Mittel verbürgten. Die Bergbau-Berufsgenossenschaft erneuerte und erweiterte hierauf ihre bereits ausgesprochene Warnung vor aggressiv beworbenen Silikose-Mitteln und hatte inzwischen auch das Bochumer Gesundheitsamt eingeschaltet, um die Werbung mit der Androhung von Zwangsmitteln unterbinden zu lassen. Es müsse vermieden werden, wie es in einem Bericht im Sommer 1950 hieß, dass „den Bergleuten dieses Mittel in ähnlicher Form an anderer Stelle angeboten wird und daß dadurch eine Beunruhigung unter den Bergleuten verursacht wird“.144 Das Prädikat der Wissenschaftlichkeit, 141 142 143 144
„Heilmittel“ gegen Silikose, in: Kompass 60/5 (1950), S. 75. sv:dok 15/792, Mühlheimer Bergwerks-Verein/Silikose-Forschungsinstitut, 22.01.1951. sv:dok 15/792, Silikose-Forschungsinstitut/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 23.02.1951. Heilmittel gegen Silikose, in: Kompass 61/5 (1951), S. 66.
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das sich die Firma in ihrer Werbung für die vertriebenen Silikosepräparate zu eigen machte, wollten die Bergbau-Berufsgenossenschaft und das Silikose-Forschungsinstitut dem Unternehmen angesichts der aus ihrer Sicht offenkundigen Unwissenschaftlichkeit auf keinen Fall überlassen. Allerdings waren weder die Bergbau-Berufsgenossenschaft noch das Silikose-Forschungsinstitut dazu ermächtigt, die Verwendung der Medikamente auf den Zechen zu verbieten. Sie mussten sich daher weiterhin auf eindringliche schriftliche Appelle an die Mitgliedsbetriebe beschränken, mit denen sie auf die Werbekampagnen der Hersteller reagierten und auf Ermahnungen, dass die Kräuterextrakte zwar eine lindernde, jedoch keine vorbeugende oder gar heilende Wirkung hätten. Entsprechende Warnungen sprach die Berufsgenossenschaft erneut im Sommer 1953 und im Herbst 1955 aus.145 Inzwischen war auch der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie auf die Firma Messelken aufmerksam geworden und hatte ein Ermittlungsverfahren gegen das Unternehmen eingeleitet.146 Auf dem Markt der Silikose-Präparate konkurrierten noch weitere kommerzielle Anbieter um die Gunst der Bergarbeiter und der Betriebe. Die „Kräuterfarm Paracelsus“ des Unternehmers Franz Teufert warb dabei mit einer Teetherapie, die eine „Immunisierung“ des Körpers gegen die Krankheit versprach. Teufert wandte sich damit 1958 an die Ruhr-Knappschaft. Da der Bergmann sowieso Malzkaffee, Wasser oder Coca-Cola mit zur Arbeit nehme, erschiene es zweckmäßig, wenn er stattdessen den von ihm entwickelten speziellen Kräutertee verzehre und damit ganz nebenbei vor den schädlichen Stäuben unter Tage geschützt werde. Dieser Tee basiere auf seiner „genauen Kenntnis und Erfahrung“ und auch die Abteilung Arbeitsmedizin der Bonner Bundesregierung habe bereits Interesse daran angemeldet.147 Die betriebliche Anwendung seiner Teetherapie habe bereits 1955 begonnen, wie Teufert schrieb. Damals hätte er sich mit einem Gewerkschaftssekretär darüber ausgetauscht, eine solche Therapie breitenwirksam im Bergbau einzuführen. Vor Vertrauensärzten habe Teufert dann seine guten Erfahrungen mit dem Tee geschildert. Jene, die ihn schon seit drei Jahren tranken und bislang an einer leichtgradigen Silikose gelitten hatten, seien immer noch voll arbeitsfähig und außerdem gesund durch die jährlichen Grippewellen gekommen. Aber nicht nur das, es gebe sogar Anhaltspunkte für eine heilsame Wirkung bei Vollinvaliden, bei denen es nach Beginn der Teetherapie zu einem schwarzen Auswurf gekommen sei, weil der Tee alte Ablagerungen in den Atemwegen lösen würde, die nun auf dem Atemwege herausbefördert werden könnsv:dok 15/792, Bergbau-Berufsgenossenschaft, Bezirksverwaltung Bochum, Rundschreiben Nr. 13/1953, 30.06.1953; sv:dok 15/792, Bergbau-Berufsgenossenschaft, Bezirksverwaltung Bochum, Rundschreiben Nr. 26/ 1955, 01.10.1955. 146 sv:dok 15/792, Bundesverband der pharmazeutischen Industrie e. V./Silikose-Forschungsinstitut, 13.04.1955; sv:dok 15/792, Bundesverband der pharmazeutischen Industrie e. V./Silikose-Forschungsinstitut, 22.09.1955. 147 sv:dok 15/666, Kräuterfarm Paracelsus, Franz A. Teufert/Ruhrknappschaft, 10.05.1958. 145
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ten. Klinische und radiologische Befunden hätten zudem gezeigt, dass bei diesen Invaliden eine Verbesserung ihres Zustands eingetreten sei. Doch trotz dieser Erfolge habe Teufert noch immer Absatzschwierigkeiten, weil die Bergleute den Tee nur auf eigene Kosten erhielten. Bei dem Versuch, finanzielle Unterstützung durch die Sozialversicherung einzuwerben, griff er auf eine ganze Reihe von Wissensversatzstücken zurück, die zeitgenössisch über die Silikose kursierten, und schrieb sein Vorhaben dabei in die gesamtgesellschaftlichen Bemühungen ein, die unvermeidbaren Krankheitsfälle abzumildern: Staat, Bergbauverwaltungen und Wissenschaftler sind seit Jahrzehnten unablässig bemüht, mit arbeitstechnischen Methoden, Verfügungen, Bestimmungen usw. die Silikose zu bekämpfen. Die Lebenserwartung des Bergmanns wurde fortschreitend gehoben und trotzdem sterben jährlich 3.000 Silikosekranke […]. Es ist eine Tatsache, daß schon wenige Wochen Bergmannsarbeit genügt um einen Silikosekranken zu züchten, wer zur Silikoseerkrankung prädestiniert ist, wird sofort krank. Durch Testung ist es nicht möglich eine Veranlagung herauszufinden um damit eine Erkrankung zu verhüten.148
Angesichts dieser Umstände und durch die „außerordentliche Wirkung“ seines Tees erschien ihm die Idee naheliegend, die Bergleute durch die von ihm entwickelte Therapie so weit zu immunisieren, so dass sie die Silikose wenigstens nicht vor Eintritt ins Rentenalter zur Aufgabe ihrer Arbeit zwinge. Dabei würde das Präparat neben der Silikose auch allen möglichen anderen Erkrankungen vorbeugen, z. B. Erkältungen, Magen- und Nierenerkrankungen. Vor und nach der Schicht eingenommen, sollten zwei eigens abgestimmte Mittel, die „Mischung No. 177“ und die „Mischung No. 178“, die erwünschten Effekte zeitigen. Das Geheimnis liege in den ätherischen Ölen, die über den Blutkreislauf schließlich auch in die Lunge gelangten und in der ausgeatmeten Luft nachweisbar seien. Auch hier offenbarte sich die herrschende Vorstellung, dass die Lungen von Fremdkörpern befallen seien, die sich unter Anwendung der richtigen Mittel wieder lösen und ausscheiden ließen. Teufert übermittelte seinen Plan einer Teetherapie auch der Bergbau-Berufsgenossenschaft. Viele Fachärzte könnten die Güte des Produkts bezeugen, ebenso sprächen die positiven Erfahrungen der Patienten, die er bereits mit dem Spezial-Tee versorgte, für sich. Man müsse nun „trotz aller Skepsis mutig an die Prophylaxe bei Silikose herangehen“, auf der ersten Grube beginne demnächst die Ausgabe an eine Bergbaubelegschaft.149 Bei dem Betrieb handelte es sich um eine Eisenerzmine im Siegerland, die auf eine folgende Anfrage durch die Berufsgenossenschaft jedoch explizit hervorhob, dass Ebd. sv:dok 15/666, Kräuterfarm Paracelsus, Franz A. Teufert/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 23.05.1958. 148 149
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man die Teetherapie nicht therapeutisch einsetze, sich davon aber eine prophylaktische und allgemein positive gesundheitliche Wirkung „von einem guten Kräutertee“ verspreche. Man gebe sich „keiner übertriebenen Hoffnung“ hin, aber der Tee könne immerhin auch „unter keinen Umständen eine schädliche Wirkung haben“.150 Die medizinischen Experten vom Silikose-Forschungsinstitut kritisierten wie auch schon im Fall der Firma Messelken, dass Teuferts Vorschlag jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehre und allein auf zusammengeklaubten Hypothesen und szientistischen Versatzstücken beruhe. Die Erleichterung, die der Tee bei anderen Krankheiten als der Silikose erreiche, solle zwar nicht grundsätzlich bestritten werden; zumal der berichtete vermehrte Auswurf vermutlich auf der anregenden Wirkung des Tees auf die Schleimhäute zurückzuführen sei. Die Wirksamkeit gegen die Staublunge sei aber nicht erwiesen. Trotzdem wäre es „von besonderem Wert“, wenn Teufert mehr Fälle benennen könne, in denen seinen Angaben nach Röntgenaufnahmen eine Besserung der Silikose belegt hätten.151 Weil Teufert solche Nachweise letztlich schuldig blieb, teilte die Berufsgenossenschaft der „Kräuterfarm Paracelsus“ mit, dass man ohne wissenschaftliche Nachweise für die Wirksamkeit der Präparate die Durchführung der Teetherapien in Bergbaubetrieben nicht befürworten könne, jedoch jederzeit bereit sei, weitere Anregungen für Mittel gegen die Staublungenkrankheit zu überprüfen.152 Die Vorstellung, den irreversiblen Prozess, den die Staubeinlagerungen in den bergmännischen Lungen verursachten, nicht nur zu stoppen, sondern sogar rückgängig zu machen, war ein stets wiederkehrendes Motiv in den an die Berufsgenossenschaft herangetragenen Ideen und Erfindungen. Es durfte nicht sein, dass es keine medizinische Lösung für dieses drängende Problem gab. Wenn die Lunge verstaubt war, dann müssten die Fremdkörper auch wieder aus der Lunge herausgelangen können. Mit einem solchen Vorschlag eines „medizinischen Gerätes zur Bekämpfung der Staublunge“, der eine solche Reinigung der Lungen versprach, wandte sich ein Oberhausener Erfinder nicht näher bezeichneter Profession namens Hermann Schmett 1956 an die Bergbau-Berufsgenossenschaft. Die von ihm theoretisch entworfene Anlage könne garantieren, dass die Staublunge der Vergangenheit angehöre. Durch Lektüre wissenschaftlicher Bücher und eigene Überprüfung – er selbst habe „laufend mit technischen Sachen zu tun“ – sei er zu dem Schluss gekommen, dass sie auch „gut in die praktische Wirklichkeit umgesetzt“ werden könne.153 Das Prozedere sollte folgendermaßen aussehen: Meine Methode ist folgende: Mit dem von mir entwickelten Gerät soll man in der Lage sein, jeden einzelnen Lungenflügel mit einem chemischen Flüssigkeitsmittel zu füllen, und 150 sv:dok 15/666, Erzbergbau Siegerland Aktiengesellschaft/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 09.06.1958. 151 sv:dok 15/666, Silikose-Forschungsinstitut/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 30.06.1958. 152 sv:dok 15/666, Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung/Kräuterfarm Paracelsus, 23.07.1958. 153 sv:dok 15/666, Hermann Schmett/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 11.02.1956.
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danach wieder auszupumpen. Durch die vielseitigen Einfüllungen können die Lungen regelrecht gereinigt werden, ohne dem Körper einen Schaden zuzufügen.154
Um der Theorie auch Taten folgen zu lassen, erbat sich der Erfinder Geld für eine entsprechende Erstkonstruktion. Sein Ansinnen blieb allerdings vergeblich, denn die Erfindung wurde vom medizinischen Leiter des Silikose-Forschungsinstituts, Helmut Beckmann, knapp und schroff abgetan, weil der „darin gemachte Vorschlag, die Lunge mit irgendwelchen chemischen Flüssigkeiten auszuspülen“, aus medizinischer Perspektive dermaßen abwegig sei, dass sich eine nähere Auseinandersetzung damit erübrige.155 Mit der offenen Zurückweisung mochte sich der Erfinder zwar nicht zufriedengeben, sodass er den Experten enttäuscht vorhielt, dass er sich wohl darin geirrt habe, dass es sich um „ein ‚Forschungsinstitut‘ für Silikosebekämpfung“ handle; aber auch seine weiteren Ausführungen über die genaue Funktionsweise des noch zu konstruierenden Apparats konnten die Verantwortlichen bei der Berufsgenossenschaft letztlich nicht umstimmen. Derartige Eingaben an die Bergbau-Berufsgenossenschaft, die sich als ihr Adressat in ihrer Rolle als wichtigster Akteur der Silikoseforschung bestätigt sehen konnte, sind ein wichtiger Hinweis dafür, dass die Versicherung und das ihr angeschlossene Forschungsinstitut als zentrale Ansprechpartner und Autoritätsinstanz anerkannt wurden. Es ist darüber hinaus ein Indiz dafür, dass die Silikose weiterhin als ungelöstes Problem wahrgenommen wurde. Die meisten Vorschläge hielten der kühlen wissenschaftlichen Überprüfung der Mediziner jedoch nicht stand. Das bedeutete aber offenkundig nicht, dass sie nicht trotzdem praktische Anwendung fanden. Trotz der Autorität des Silikose-Forschungsinstituts – das selbst keine Lösung parat hatte und nur auf laufende Forschungsaktivitäten verweisen konnte – war die Wissenschaftlichkeit ein Mantel, unter dem auch andere Akteure agieren konnten. Dies belegen die mit eigener Forschung oder mit Gutachten geadelten Tinkturen und Wundermittel, die zeitweilig trotz der Experten-Bedenken in Betrieben zur Anwendung kamen. Sie waren konkrete Handlungsangebote, die die Betriebe dankbar aufgriffen. Die wissenschaftsförmige Performanz bestand im vermeintlich experimentellen Nachweis der Wirksamkeit der bereitgestellten Mittel und seiner theoretischen Erläuterung. Die angeblichen positiven Urteile ausgewiesener medizinischer Experten wurden als Gütesiegel geführt. Beim Silikose-Forschungsinstitut war insbesondere die Frage der Therapie eine äußerst sensible, sodass etwaige Heilsversprechen, wie gezeigt, mit größter Skepsis betrachtet wurden. Das Leiden eines Tages doch noch mit den Mitteln der modernen Medizin heilen zu können, blieb ein unerfüllter frommer Wunsch der Forscher. Die Silikose giltauch heute noch als unheilbar. Der lungenverändernde Prozess, der die lang-
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sv:dok 15/666, Hermann Schmett/Silikose-Forschungsinstitut, 26.02.1956. sv:dok 15/666, Silikose-Forschungsinstitut/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 29.02.1956.
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fristig oft tödlichen Symptome auslöst, erwies sich allen therapeutischen Bemühungen zum Trotz als irreversibel. Mindestens bis in die sechziger Jahre hinein herrschte aber die gesellschaftsübergreifende Hoffnung vor, dass ein Heilmittel, oder wenigstens ein Hilfsmittel, das erbarmungslose Fortschreiten der Krankheit aufzuhalten, entdeckt werden würde. Hatte die Menschheit nicht schon so viele andere, einst tödliche Seuchen erfolgreich besiegt? Gegenüber den fatalistischen Deutungen der Silikose als Schicksalskrankheit des Bergmanns stellte sich deshalb die dem Fatalismus entgegengesetzte wissenschaftliche Optimismus in Form einer modernen Technologie- und Fortschrittsgläubigkeit. Von einer wirklich wirksamen medizinischen Prophylaxe- oder gar einem Heilmittel waren die Experten aber weit entfernt. Erfolge schienen allein bei der Behandlung der Symptome möglich, sodass „Heilkuren“ für schon silikosekranke Rentner angeboten wurden, um ihnen wenigstens zeitweilige Linderung gegen die häufig auftretenden Begleiterkrankungen zu verschaffen. Allerdings brauchte es noch einen Ort, um diese Kuren auch durchführen zu können. Ein entsprechender Tipp kam von einem Vertreter der DKBL: Das im Sauerland gelegene Kloster Grafschaft, das im Herbst 1948 noch von Nonnen bewirtschaftet wurde, könne genutzt, sobald es nach einigen Um- und Ausbauten zu einem vollwertigen Erholungsheim umfunktioniert worden sei. Damit bald ein geregelter Kurbetrieb durchgeführt werden könne, sollten sich die Bezirksverwaltungen der Berufsgenossenschaft bereiterklären, die Kosten zu übernehmen: Die Verpflichtung der Berufsgenossenschaft zu solchen Heilkuren bei rentenberechtigten Silikotikern ergibt sich aus § 558a RVO [Reichsversicherungsordnung]. Die Kuren wurden bisher nicht gewährt, weil sich die Ärzte davon keinen Erfolg versprachen. Sie stehen auch heute noch auf dem Standpunkt, dass bei einer entschädigungspflichtigen Silikose Bronchitis und Emphysem nur vorübergehend gebessert werden können. Das gleiche gilt für Herzschädigungen. Dagegen glaubt man, den Ausbruch einer aktiven Tuberkulose und damit Erhöhung der Renten verhindern und den Eintritt des Todes wesentlich hinausschieben zu können.156
Im Mai 1950 erzielten die Bezirksverwaltungen der Bergbau-Berufsgenossenschaft mit mehreren Ärzten und Vertretern von Kloster Grafschaft sowie der DKBL eine Einigung darüber, jährlich etwa 400 Silikose-Kranken eine Kur im Sauerland zu ermöglichen. Die Ärzte sollten Richtlinien erarbeiten, nach denen Versicherte für einen zweimonatigen Aufenthalt im Erholungsheim ausgewählt werden würden. Im Bereich der Bezirksverwaltung Bochum sollte ein bereits im Auftrag der Berufsgenossenschaft tätiger ärztlicher Gutachter für Silikosefälle die ersten Versicherten benennen.157
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sv:dok 15/1262, Leiterbesprechung am 3. Juni 1950, 03.06.1950. Ebd.
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Die Aktion rief ein positives Medienecho hervor, in das auch die Gewerkschaft der Bergleute einstimmte. Nach einem Bericht der Bergbauindustrie im Sommer 1951 statteten einige Gewerkschaftsvertreter dem Kurhaus im Frühling 1952 einen Besuch ab und befragten den Mediziner Karl Bisa, der die neue Klinik leitete.158 Die Besucher wollten vom Klinikleiter wissen, ob er nicht nur an die Besserung des Krankheitszustandes, sondern auch an die Heilung der Silikose glaube; eine drängende Frage, die Anfang der fünfziger Jahre anscheinend viele Leser bewegte: Aus allen Gegenden Deutschlands erhielten wir Anfragen, ob in Grafschaft die Silikose geheilt werden kann. Nach dem heutigen Stand der medizinischen Forschung muß eine solche Frage verneint werden. Man darf jedoch der Überzeugung sein, daß die Silikoseforscher sich ihrer großen Aufgabe bewußt sind und sich intensiv mit der Lösung dieses Problems befassen. Wenn Sie mich nach der Besserungsmöglichkeit des Krankheitsbildes fragen, so könnte ich Ihnen mit Statistiken antworten. Sicher aber wird Ihnen das Echo der Kurteilnehmer genügen […].159
Die Zahl derer, die in den Genuss solcher Kuren kommen konnten, blieb angesichts der begrenzten Kapazitäten aber gering. Zum Zeitpunkt des Interviews 1952 fanden gerade 800 Kurgäste Platz im Sauerland. Allein im Vorjahr hatte sich aber die Zahl der anspruchsberechtigten Silikose-Rentner bereits um über 4.000 Mann erhöht. Jedoch wurden die Erholungsaufenthalte in den folgenden Jahren eine etablierte Gesundheitspraxis, die von vielen Betrieben sowie von der Knappschaft als probates Mittel der körperlichen Erholung und der allgemeinen Stärkung angeboten wurden. Von einer etwaigen Heilung war indes nicht die Rede. Bei der Ruhr-Knappschaft firmierten die ab Ende der fünfziger Jahre angebotenen Aufenthalte in guter Luft als „Gesundheitsvorsorgekuren“ und waren damit eher eine Ergänzung der betrieblichen Vorsorge, die der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit der Bergleute dienen sollte.160 Der Beitrag der medizinischen Behandlung der Silikose-Kranken blieb damit gegenüber den Investitionen in die betriebliche Staubbekämpfung und die Gesundheitsvorsorge marginal. Doch im Gegensatz zu den rein technischen Lösungen gegen den gefährlichen Staub, die in Zukunft zu weniger Neuerkrankungen führen sollten, schimmerte in den medizinischen Ansätzen – gleichwohl Immunisierung und Prophylaxe dabei im Vordergrund standen – stets die Hoffnung, dass vielleicht doch irgendwann eine Therapie oder gar Heilung möglich sei oder die Silikotiker wenigstens darauf hoffen könnten, dass die ihre Lungen verzehrende Krankheit gestoppt werden könnte.
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Kumpels am Fuße des Kahlen Asten, in: Die Bergbauindustrie, 9. Juni 1951. Ein Silikose-Krankenhaus im Hochsauerland, in: Die Bergbauindustrie, 12. April 1952. Bartholomae 1961, S. 1139–1142.
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Mitte der sechziger Jahre schien der wissenschaftliche Durchbruch bevorzustehen. Das lang ersehnte mögliche Heilmittel trug die sperrige Bezeichnung Polyvinylpyridin-N-Oxyd, kurz PVNO oder „P 204“. Eine der treibenden Kraft hinter der Entwicklung war der in Düsseldorf ansässige Umweltmediziner Hans-Werner Schlipköter, der das Mittel jahrelang in Tierversuchen auf seine Wirksamkeit prüfte. Gemeinsam mit seinem Mentor Walter Kikuth stand er der in Nordamerika verbreiteten Praxis, die Silikose durch die Inhalation von Aluminium an ihrer Entstehung zu hindern, skeptisch gegenüber.161 Er suchte seinerseits als Direktor des 1962 geschaffenen Düsseldorfer Instituts für Lufthygiene und Silikoseforschung mit Experimenten nach einer anderen geeigneten Prophylaxe mit einem besseren Mittel, über das erstmals 1964 in entsprechenden Fachkreisen berichtet wurde.162 Während zahlreiche Ansätze schnell wieder fallen gelassen wurden, schien „P 204“ das lange ersehnte Wundermittel zu sein. Auf einer Tagung der Rheinisch-Westfälischen Vereinigung für Tuberkulose- und Lungenheilkunde offenbarte Hans-Werner Schlipköter seinen Optimismus vor seinen Fachkollegen und fand damit das Interesse der Presseöffentlichkeit. In aller Ausführlichkeit wurde in der Rheinischen Post erklärt, wie das Mittel wirke. Nach bisweilen „jahrelangen vergeblichen Bemühungen“ hätten Schlipköter und sein Mitarbeiter, der Chemiker Arthur Brockhaus, „eine Substanz“ identifizieren können, das besagte PVNO, die ursächlich gegen die Silikose eingesetzt werden könne. Durch wöchentliche Einspritzung dieser Substanz in die Blutbahn werde die Silikose zum Stillstand gebracht, die Reinigung der Lunge gefördert und das allgemeine erheblich Wohlbefinden verbessert, hieß es weiter.163 Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung ging noch näher auf das lange Ringen der Wissenschaftler ein: Diese hätten seit 1952 lange ergebnislos geforscht, bis Schlipköter und sein Mitarbeiter eher zufällig auf die „kunststoffartige Substanz“ gestoßen seien, welche die gesuchten Eigenschaften aufwies. Tierversuche hätten dann gezeigt, dass „P 204“ das tiefere Eindringen gefährlichen Feinstaubs ins Lungengewebe verhindere.164 Nun arbeiteten die Bayerwerke in Leverkusen an der Marktreife des neuen Produkts, um dessen Unschädlichkeit für den Menschen sicherzustellen, bevor es bald in den Kliniken verwendet werden könne. Danach wurde es wieder still um das Wundermittel, gleichwohl die Forschung daran weiterging. Im März 1970 empfing Wolfgang Ulmer, der seit 1958 das SilikoseForschungsinstitut leitete und heute als einer der wissenschaftlichen Pioniere der Lungenheilkunde in der Bundesrepublik gilt,165 fünfzig Spezialisten zum regelmäßig
Kikuth 1954, S. 78. Fünfte Tagung über Grundfragen der Silikose-Forschung, in: Kompass 74/2 (1964), S. 25–26. Wird die Staublunge besiegt?, in: Rheinische Post, 15. November 1965. Hoffnung für „Staublungen“, in: Westdeutsche Allgemeine, 9. März 1966. Die Leitlinien der gegenwärtigen ärztlichen Begutachtungspraxis liegen die Arbeiten Wolfang Ulmers neben anderen wesentlich zu Grunde, vgl. dazu exemplarisch Baur u. a. 622008, S. 659–684. 161 162 163 164 165
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Hierarchien und Wechselverhältnisse der Wissensgenese und des Wissenstransfers
stattfindenden „Silikoseseminar“, das dem fachlichen und praktischen Austausch gewidmet war. Dort nahm das Thema P 204 „natürlich […] einen breiten Raum ein.“166 Schlipköter war weiterhin damit beschäftigt, Tausende Ratten und etwa fünfzig Affen unter der „Frage der Heilung und Vorbeugung der Silikose“ mit dem Mittel zu behandeln und sie experimentell schädlichem Staub auszusetzen. Es sei aber „doch noch […] einige Forschungsarbeit nötig“, bis man mit Sicherheit sagen könne, inwieweit das Medikament auch am Bergmann eingesetzt werden könne.167 Es seien noch „einige Probleme aufgetaucht“, die geklärt werden müssten, bevor auch Versuche am Menschen vorgenommen werden könnten. Man war mit der Duisburger Zeche Walsum aber bereits in Vorfühlung gegangen, um dort im größeren Stil die direkte Anwendung am Menschen zu proben, sobald diese Probleme ausgeräumt seien.168 So weit sollte es aber nie kommen: Nachdem bei den Versuchsaffen keine schützende Wirkung festgestellt werden konnte und die Ratten Krebstumore entwickelten, wurde das Experiment aufgegeben. Das Silikose-Forschungsinstitut, das die Experimente aufmerksam verfolgt hatte, befasste sich danach wie die nordamerikanischen Kollegen mit der Prophylaxe mittels Aluminium,169 doch auch daraus ergab sich jedoch nie eine in der Bundesrepublik anerkannte Prophylaxe-Methode. Sowohl der Taubenzüchter Alois als auch der aufsteigende Star der Silikose-Forschung scheiterten schließlich mit ihren Ideen. Worin bestand nun der Unterschied zwischen zerstäubtem Lebertran und „P 204“, wenn ihnen beiden kein Erfolg beschieden war, was machte die eine Lösung aus Sicht der Zeitgenossen plausibler als die andere? Zweifellos waren Status und Ressourcen ungleich zwischen den Erfindern verteilt, doch diese Grenzen waren verschieblich. Das zeigte sich deutlich an jenen Beispielen, in denen andere Akteure sich die Spielarten der Wissenschaftlichkeit geschickt aneigneten und über die Mittel verfügten, ihre Produkte öffentlich zu bewerben und kommerziell zu vertreiben, statt in einer berufsgenossenschaftlichen Akte über nutzlose Erfindungen zu verschwinden. Gleichwohl die Silikose-Experten für sich besondere Wissensautorität beanspruchten und in diesem Anspruch durch den medialen Diskurs Unterstützung erfuhren, zeigen die Beispiele der Erfinder- und Firmeneingaben, wie die beständige Suche nach einem Heilmittel oder einer definitiven technischen Lösung des Silikose-Problems verschiedene gesellschaftliche Akteure mobilisierte, die ihrerseits zur Verbreitung und Zirkulation von Wissen beitrugen. Insbesondere die vielgescholtenen kommerziellen Werbeprospekte privater Anbieter illustrieren anschaulich, wie sich wissenschaftsförmiges Wissen, alltägliches
166 14. Silikoseseminar der Bergbau-Berufsgenossenschaft im Silikose-Forschungsinstitut, in: Kompass 80/4 (1970), S. 152–153. 167 Ebd. 168 Ulmer 1970, S. 110–112. 169 IGF H1084, Anlage 1 zur Niederschrift über die 9. Sitzung des Fachausschusses „Staubbekämpfung und Pneumokonioseverhütung“, 28.05.1980.
Schnittstellen zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft
Erfahrungswissen sowie verschiedene Annahmen über Physiologie und Verhalten der Bergarbeiter miteinander vermischten, in die Öffentlichkeit gelangten und auf diese Weise sogar in die Expertengemeinschaft zurückgespiegelt wurden. Zugleich zeigt sich, dass wissenschaftsförmigem Wissen sowie ihren ausgewiesenen Gralshütern besondere Autorität zugesprochen wurde. Doch dies war nicht gleichbedeutend damit, dass die Silikose-Experten den Ton vorgaben oder etwa ein öffentliches Deutungsmonopol beanspruchen konnten: Wissenschaftlichkeit konnte auch von anderen angeeignet werden, sodass eine facettenreiche Konkurrenz der Ideen entstand.
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4.
Die betriebliche Prävention in der Praxis
4.1
Trial and Error in der betrieblichen Praxis
Sooft auch Hoffnungsschimmern aufkeimten, dass die Staublunge bald geheilt werden könne, arbeiteten die Bergbau-Unternehmen an der Umsetzung praktischer, sofort verfügbarer präventiver Lösungen. Wie die Beispiele der mit Erfolg vermarkteten Teetinkturen und der ersten Inhalationsversuche bereits gezeigt haben, waren die Zechenleitungen offen und pragmatisch gegenüber verschiedensten Ansätzen. Unterdessen sollten die technische Staubbekämpfung intensiviert und die medizinischen Angebote ausgebaut werden, um die die staubgefährdeten Arbeiter besser zu schützen und konstitutionell zu stärken. Unter ständiger ärztlicher Aufsicht sollten jene, die noch gesund waren, durch Schwefelbäder, Inhalationen und „mit leichter sportlicher Betätigung bei guter kräftiger Verpflegung“ widerstandskräftiger gegen die Silikose und ihr Fortschreiten werden. Die Versuche galten als Ergänzung der Forschungsanstrengungen des Silikose-Forschungsinstituts auf der niemals endenden Suche nach einem Medikament gegen die Silikose.1 Die Bergbaubetriebe bildeten die zentralen Orte, an denen Vorstellungen und Annahmen über die Krankheit auf die arbeitsweltliche Praxis stießen. Dieses Kapitel wird deshalb einige Topoi des Silikose-Diskurses noch einmal aufgreifen und in ihren betrieblichen Kontext stellen. Während das vorangegangene Kapitel den Schwerpunkt auf die Perspektive der Bergbau-Berufsgenossenschaft und ihres Forschungsinstituts gelegt hat, wird dieses Kapitel überwiegend den Standpunkt der Betriebe einnehmen, die im Verlauf der fünfziger Jahre deutlich aktiver wurden. In Kapitel 3 haben wir bereits gesehen, dass das Verhalten der Bergleute als Störfaktor der Silikoseforschung angesehen wurde. Auch in den Betrieben war das Verhalten der Bergarbeiter ständiger Gegenstand der Problemwahrnehmung. Exemplarisch zeigte sich das an der immer wieder aufkeimenden Frage, ob das Atmen durch den Mund die Lungenkrankheit besonders begünstige. Die Auffassung, dass das alltägliche Atmungsverhalten der Bergleute eine Rolle spielen könnte, wurde von verschiedenen
1
Kuren für silikosegefährdete Bergleute, in: Die Bergbauindustrie, 31. August 1949.
Trial and Error in der betrieblichen Praxis
Medizinern und langedienten Experten beim Silikose-Forschungsinstitut geteilt. Über Fachzeitschriften wie die Bergbau-Rundschau fand die Hypothese Eingang in den breiteren betrieblichen Diskurs (und selbst in die Presseöffentlichkeit). Die „ungünstige Wirkung der Mundatmung in Staubbetrieben“ sei ein „wohlbekannter Begriff und hat in zahlreichen Veröffentlichungen ihren Niederschlag gefunden“,2 hieß es beispielsweise in einem 1953 erschienenen Artikel. Die These von der richtigen und falschen Atemtechnik sei physiologisch einleuchtend, denn da das Staub-Absorptionsvermögen des Rachens viel geringer als das der Nase sei, gelange bei „Mundatmern“ viel mehr Staub bis in die Lungen als bei „Nasenatmern“: Da wir uns darüber klar sind, daß zur Hintanhaltung von Staubschäden zumindest die Nasenatmung besser ist als die Mundatmung, müssen wir die Frage aufwerfen: Gibt es Möglichkeiten, den Menschen zu veranlassen, vorzugsweise durch die Nase zu atmen?3
Tatsächlich gab es bereits Ideen, wie dies umzusetzen sei. Sie kamen aber nicht aus Forschungsinstituten, sondern entsprangen alltäglichen Beobachtungen. Im Oktober 1949 wandte sich die Verwaltung der Oberhausener Gutehoffnungshütte an das Silikose-Forschungsinstitut. In einer Besprechung der Betriebsobmänner sei die Idee geäußert worden, die Belegschaft der Zeche zur Benutzung von Kautabak anzuhalten – eine unter Bergarbeitern bereits weit verbreitete Praktik. Die verstärkte Speichelproduktion könne vielleicht die Schleimhäute feucht halten und so auch den Staub binden, bevor er in die Lungen gelange, hieß es. Außerdem würde das Kauen verhindern, dass Arbeiter zum Atmen den Mund öffneten.4 Die Zechenverwaltung erhob gewisse gesundheitliche Bedenken dagegen, ihre Bergleute zum Tabakkauen zu ermuntern und schlug als Substitut Kaugummi vor, der nach bereits eingeholter ärztlicher Meinung sogar der Gesundheit zuträglich sei. Beim Silikose-Forschungsinstitut der Berufsgenossenschaft wollte sich der Betrieb dennoch rückversichern und sondierte bei der Gelegenheit auch die Möglichkeit, aus dem Vorstoß ein wissenschaftliches Experiment zu machen, das letztlich auch im ureigenen Interesse der Unfallversicherung läge: Bevor wir nun irgendwelche praktischen Versuche unternehmen, bitten wir Sie, uns Ihre Meinung über den etwaigen Nutzen der Verwendung von Kaugummi für gesteinsstaubgefährdete Bergleute mitzuteilen und sich ferner zu äußern, ob Sie bereit sind, sich an den Kosten eines solchen Versuches zu beteiligen.5
Das Silikose-Forschungsinstitut holte seinerseits die Meinung des Bochumer Silikose-Arztes Arthur Böhme ein, der sich eher verhalten äußerte. Er könne sich nicht 2 3 4 5
Greuer 1953, S. 197–200, hier S. 198. Ebd. sv:dok 15/456/2, Gutehoffnungshütte, Bergbauverwaltung/Silikose-Forschungsinstitut, 14.10.1949. Ebd.
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Die betriebliche Prävention in der Praxis
vorstellen, dass Kaugummi oder Kautabak erfolgversprechend bei der Verhütung von Staublungenerkrankungen seien.6 Der damalige medizinische Leiter des Silikose-Forschungsinstituts Viktor Reichmann schloss sich dem Urteil an. Nach den Beobachtungen seines Instituts sei das Kauen von Tabak oder Kaugummi zwar unter den Bergleuten weit verbreitet, ein Einfluss auf die Silikose-Prophylaxe habe man aber noch nicht beobachten können.7 Trotzdem nahm genau die gleiche Idee nur Monate später plötzlich erheblich an Fahrt auf, als ein ganz ähnlicher Vorschlag unternehmerische Unterstützung erfuhr. Der Rentner und ehemalige Bergmann Peter Berg glaubte einen Weg gefunden zu haben, die Silikose zu verhindern, und berief sich auf die Erfahrungen und Beobachtungen, die er in der langen Zeit gesammelt hatte, die er selbst unter Tage gewesen war. Im Frühjahr 1950 hatte er erstmals mit Gewerkschaftsvertretern über seine Idee gesprochen, die ihn wiederum dazu ermutigt hatten, seinen Vorschlag zu veröffentlichen. Im August erschien schließlich sein Artikel in der Zeitschrift Bergbau-Rundschau.8 Unterstützt wurde Peter Berg insbesondere von einem Vertreter der Industriegewerkschaft Bergbau, Hans Willy Peupelmann, der ihn auch mit dem Dortmunder Medizin-Professor und Arbeitsphysiologen Gunther Lehmann vom Max-Planck-Institut bekanntmachte. Sie besprachen die verbreitete Ansicht, dass die Nase als natürlicher Filter gegen gefährlichen Staub umgangen werde, wenn Bergmänner bei schweren Arbeiten durch den Mund zu atmen beginnen. Peter Berg hatte beobachtet, dass Kautabak und Kaugummi halfen, mehr staubbindenden Speichel zu produzieren und den Mund geschlossen zu halten. Um sich dies zunutze zu machen käme es darauf an, ein Präparat herzustellen, das ganz besondere Eigenschaften habe. Vor allem müsse es wohlschmeckend sein und diesen Geschmack lange halten, damit es auch lange im Mund verbleibe.9 Diese Anforderungen versprach das Göttinger Unternehmen „Penicillin-Gesellschaft“ zu erfüllen, mit dem die beiden Herren in Kontakt traten, um Kautabletten auf den Markt zu bringen. Dennoch wandten sie sich auch an das Silikose-Forschungsinstitut, um Hilfestellung für etwaige weitere, größer angelegte technische Versuche zu erbitten, die die Wirksamkeit und Akzeptanz der Dragees auf die Probe stellen sollten. Man traf sich am 19. September 1950 in größerer Runde in Bochum. Neben dem Erfinder Peter Berg und Hans Peupelmann waren ein Vorstand der Ruhr-Knappschaft, ein Vertreter der Bezirksverwaltung der Bergbau-Berufsgenossenschaft, Vertreter des Unternehmens aus Göttingen sowie Martin Landwehr und Helmut Beckmann und
sv:dok 15/456/2, Prof. Dr. Böhme, Augusta-Kranken-Anstalt Bochum/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 27.10.1949. 7 sv:dok 15/456/2, Prof. Dr. Reichmann, Silikose-Forschungsinstitut/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 27.10.1949. 8 Berg 1950. 9 Peupelmann 1953. 6
Trial and Error in der betrieblichen Praxis
ein weiterer Mitarbeiter vom Silikose-Forschungsinstitut versammelt. Der Tisch war damit prominent besetzt. Landwehr fühlte sich als Techniker nicht zuständig in der Angelegenheit und gab direkt an den Mediziner Beckmann ab; dieser hatte die neuen Produkte bereits an sich selbst erprobt und gab zu bedenken, dass es äußerst schwierig werden würde, den Effekt des Mittels experimentell zu überprüfen. Dem hielten die Firmenvertreter die praktischen Erfahrungen „verschiedenster Bergleute“ entgegen, die nach der Einnahme über besseres Wohlbefinden berichteten.10 Das Silikose-Forschungsinstitut zeigte sich offen für größere Versuche, doch die PenicillinGesellschaft schuf bereits eigenmächtig Tatsachen, indem sie 1951 einen Vorversuch mit 60.000 Kautabletten auf der Zeche Emscher-Lippe in Datteln unternahm, um die Akzeptanz der Geschmacksbeigaben und die Alltagstauglichkeit des Mittels auszuprobieren.11 In Kooperation mit der Bergbau-Berufsgenossenschaft wurde schließlich auch ein weiterer Großversuch auf der Bochumer Zeche Constantin ins Auge gefasst, über den der dortige Werksarzt zu Protokoll gab, die ausgegebenen „Sikoletten“ hätten einhelliges Lob der Bergleute geerntet.12 Die Beobachtung, dass die Silikose zwar viele, aber eben nicht alle Arbeiter befiehl, schien mit aller Macht zu suggerieren, dass der geheime Schlüssel zur Ursache und damit auch zur Vorbeugung gegen die gefürchtete Krankheit im individuellen Verhalten zu suchen sei. Gerade unterschiedliche Alltagsgewohnheiten erwiesen sich dabei als empirisch beobachtbare und dadurch problematisierbare Anhaltspunkte. Neben Kautabak und Kaugummi war wegen des in den Gruben herrschenden Rauchverbots auch Schnupftabak ein verbreitetes Genussmittel unter Bergleuten, das gleichwohl nicht von allen Männern konsumiert wurde. Das gab Anlass zu eigenen Schlüssen und Spekulationen. Im März 1955 ging die Idee eines bayerischen Tabakfabrikant beim Silikose-Forschungsinstitut ein: Als eine der größten deutschen Schnupftabakfabriken, die besonders im Ruhrgebiet sehr gut eingeführt ist, hören wir nun aus Bergarbeiterkreisen immer wieder, daß unser Erzeugnis ein hervorragendes Vorbeugungsmittel gegen die Silikose darstellt, ja daß sogar nachgewiesenermaßen durch den Gebrauch des Schnupftabaks in den Schächten die Bildung der Silikose verhindert wurde. […] Wenn der Schnupftabak tatsächlich vorbeugende Wirkung hat, was wir übrigens nicht bezweifeln, dann wird das nach unserer Ansicht durch die damit verbundene häufigere Nasenreinigung kommen. Eine andere Möglichkeit wäre auch die, daß der Schnupftabak durch seine Soßierung befeuchtend auf die Nasenschleimhäute wirkt und dadurch gewissermaßen als Filter die Eindringung des gefährlichen Steinstaubes in die Lunge verhindert.13 sv:dok 15/628, Aktenvermerk, 23.09.1950. sv:dok 15/628, Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung/Prof. Dr. Reichmann, 07.07.1951. Peupelmann 1953. sv:dok 15/666, Alois Pöschl Schnupf- und Rauchtabakfabriken/Hauptstelle für Staubbekämpfung beim Steinkohlenbergbauverein, 15.03.1955.
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Die betriebliche Prävention in der Praxis
Die fachliche Erwiderung der Experten des Silikose-Forschungsinstituts gegenüber der Geschäftsidee des Tabakfabrikanten aus Bayern fiel trocken aus. Die gefährlichen Staubpartikel, also jene, die kleiner als 5 oder gar 3 µm sind, würden von keiner Nase zurückgehalten; Schnupftabak sei deshalb gewiss kein zuverlässiges Präventionsmittel. Das war inzwischen unter den Experten etablierter Konsens, sodass die Antwort nicht weiter verwundert. Trotzdem hatte das Silikose-Forschungsinstitut entschieden, die Versuche mit den von Peter Berg ersonnenen Kaugummis noch unter Vorbehalt zu unterstützten – jede halbwegs realistische Lösungsmöglichkeit des drängenden Problems schien den Experten zunächst einmal die Mühe wert. Die vermeintlichen Widersprüche, die sich hier offenbaren, zeigen vor allem die Grenzen auf, die dem praktischen Einfluss der Silikose-Experten der Bergbau-Berufsgenossenschaft gesetzt waren. Zwar wurde ihr Urteil in Sachfragen gern erbeten, aber ihr Segen war nicht unbedingt erforderlich, um entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Die Großversuche mit den Kautabletten konnten durchgeführt werden, weil die Initiatoren um die „Penicillin-Gesellschaft“ die entsprechenden Betriebe von ihrem Unterfangen überzeugen konnten. Der Privatanbieter war nicht etwa der Autorität des berufsgenossenschaftlichen Forschungsinstituts unterworfen, sondern stand mit diesem letztlich sogar im Wettbewerb um das Vertrauen der Bergbauunternehmen, denen vor allem an einer kostengünstigen und effektiven Lösung des Silikose-Problems gelegen war. Die Bergbau-Berufsgenossenschaft warnte vor zu großem Vertrauen in die Wirksamkeit von kommerziell vertriebenen Kautabletten. Ähnlich wie bei den Kräuterwundermitteln anderer privater Anbieter sei zumindest Skepsis angebracht. So sei erwiesen, dass die Nase den silikogenen Feinstaub nicht filtern könne und auch die untersuchten Kaugummis ihn nicht zu binden im Stande seien, wie die Berufsgenossenschaft über ihre Zeitschrift mitteilen ließ, wobei sie unter anderem auf ihre hauseigene Kapazität Viktor Reichmann verwies. Grund für die entschiedene Warnung waren Bedenken, solche vermeintlich einfachen Lösungen könnten das Problembewusstsein der Bergleute für die gesundheitlichen Gefahren des Staubes und damit die mühsame Aufklärungs- und Erziehungsarbeit bei den Belegschaften unterminieren: Reklameschriften über derartige Kaumittel benutzen zum Teil völlig abwegige Angaben. Es werden in ihnen teilweise Behauptungen aufgestellt, die niemals zutreffen können. Wenn der Bergmann durch solche Schriften beeinflußt wird und in gutem Glauben diese Mittel benutzt, besteht die Gefahr, daß er den technischen Staubschutzeinrichtungen gegenüber gleichgültiger wird und sich mehr schädigt als bei gewissenhafter Durchführung der Staubschutzmaßnahmen notwendig wäre.14
Die Betriebe wurden mit Nachdruck gebeten, aufklärerisch auf ihre Arbeiter einzuwirken. Die Kaumittel könnten zwar den Durst vermindern und subjektive Beschwerden
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Silikose-Vorbeugung durch Kaugummi?, in: Kompass 63/12 (1953), S. 134.
Trial and Error in der betrieblichen Praxis
lindern, auf keinen Fall solle aber den Eindruck entstehen, dass sich damit in irgendeiner Weise ein wirksamer Schutz gegen die Krankheit erzielen lasse. Fälle wie dieser zeigen, dass die Berufsgenossenschaft zwar Wissensautorität für sich beanspruchte, dass sie sich dieser bei den Bergleuten in der alltäglichen Praxis aber niemals sicher sein konnte. Bergmännische Eigeninitiativen in Anbetracht der Silikose-Gefahr war zwar grundsätzlich erwünscht, aber sie dürften nicht die wissenschaftliche Überprüfung durch die Experten unterlaufen. Hinzu kam auch das bereits geschilderte kommunikative Dilemma, wie die Silikose-Gefahr angemessen vermittelt werden sollte, ohne dass dies dem Ansehen des Bergbaus nachhaltig schadete. Mitte der fünfziger Jahre wurde immer deutlicher, dass die Bergbau-Berufsgenossenschaft kein Wissensmonopol über die Silikose besaß. Die betrieblichen Experimente mit medizinisch-technischen Interventionen am Bergmann gewannen in dieser Zeit ein Momentum, dem sich auch die gegenüber mancher allzu simplen Erklärung skeptischen Silikose-Experten nicht entziehen konnten, schließlich waren diese selbst noch auf der Suche nach einer eleganten, einfachen wie effektiven Lösung und setzten viel Vertrauen in den Einsatz von Schutzstoffen, die in die Grubenluft oder die Arbeiterlungen einzubringen wären. Das Silikose-Forschungsinstitut und das um es herum bestehende Netzwerk westdeutscher Silikose-Experten blieb zwar für die Bergbauunternehmen jederzeit wichtigster Ansprechpartner in wissenschaftlichen Fragen der Silikoseverhütung. Ob Präventionstechniken in den Betrieben auch zur Anwendung kamen, war in letzter Instanz aber an den Willen und mithin das unternehmerische Kalkül der Betriebsführungen geknüpft. Die betrieblichen Versuche mit Kautabletten, die gegen die Skepsis des Silikose-Forschungsinstituts durchgeführt worden waren, zeigten die Handlungsfähigkeit der Unternehmen sowie ihr dringendes Bedürfnis nach schnellen und praktikablen Lösungen. Entsprechend offen gaben sich die Betriebe gegenüber Vorschlägen der medizinischer Silikose-Verhütung, insbesondere wenn diese von anerkannten Experten auf dem Gebiet mit einer Empfehlung geadelt waren. Zum wichtigen Ankerpunkt derartiger Initiativen wurden die nach und nach auf den Zechen errichteten „Gesundheitshäuser“. Diese schufen einen neuen Raum an der Schnittstelle von Wissensproduktion und Alltagspraxis, der sich mit gesundheitlichen Praktiken ausfüllen ließ. Medizinische Fürsorgeangebote aller Art gehörten ebenso dazu wie die regelmäßigen Sprechtage der Berufsgenossenschaft, die darüber den direkten Kontakt zu Bergleuten und ihren versicherungsrechtlichen Angelegenheiten herstellte. Allerdings waren es vor allem die Zechen großer Betriebe, die sich ab Ende der vierziger Jahre solche Anlaufstellen leisten konnten und wollten, wie die Hannover-Hannibal AG und Rheinpreußen AG oder die Mannesmannröhren-Werke, die auf der Gelsenkirchener Zeche Consolidation ein eigenes Gesundheitshaus unterhielten.15
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de la Sauce/Regul/Schorn 1951, S. 192.
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Gesundheitshäuser boten auch Platz für die experimentellen Inhalationen. Die Impulse dazu gingen vermehrt von den Unternehmen selbst aus. Trotz der durchwachsenen Ergebnisse, die man mit den Kalkstaubexperimenten während des Krieges und kurz danach erzielt hatte, waren die Versuche in Ermangelung besserer Alternativen fortgeführt worden. Das berufsgenossenschaftliche Silikose-Forschungsinstitut war stets in Fühlung mit den Betrieben geblieben, um interessierten Zechen entsprechende Versuche zu ermöglichen. Die Direktion der Zeche Shamrock 1/2, die gut 2.000 Mann unter Tage beschäftigte,16 meldete Ende September 1948 Interesse an, sich bzw. ihre Belegschaft an größer angelegten Inhalationen mit Kalkstaub zu beteiligen. Bei einem ersten Treffen, an dem auch der Werksarzt, der Betriebsführer und einige Steiger, Betriebsrats- und interessierte Belegschaftsmitglieder teilnahmen, wurde die schon laufende Inhalation auf der Oberhausener Zeche Jacobi besichtigt. Bei der anschließenden Aussprache kam zum Vorschein, dass seitens der Belegschaft vermutlich größere Widerstände zu erwarten sind als der Betriebsführer annahm; trotzdem glaubt dieser, die Zahl von 50 Inhalierern zusammenbringen zu können. Die Zusammenkunft verlief aus dem Grund besonders instruktiv, als die Besucher der Zeche Shamrock wahllos Inhalierer und solche, die nicht inhalieren, nach ihren Eindrücken über die Inhalation fragten und dabei übereinstimmend befriedigende Urteile hörten.17
Auf Eigeninitiative der Krupp-Zechen ging im August 1950 eine hochmoderne Inhalationsanlage unter der Leitung des Chemikers Hans Cauer in Betrieb. Fritz Lange, Vorstandsmitglied und Bergwerksdirektor der Bochumer Zechen Hannover und Hannibal, der das Projekt vorangetrieben hatte, hielt eine feierliche Ansprache anlässlich der Eröffnung. Der energische Kampf gegen den Staub, der technisch bereits weit fortgeschritten sei, fände in der neuen Inhalationsanlage seine Vollendung. Ihr Geheimnis sei ein spezielles Verfahren durch die „Barthels-Düse“, durch die ein ionisiertes Aerosol versprüht werde. Für dessen Wirkung verbürgte sich der Werksarzt der Zeche Hannover-Hannibal, N. Neymann, der seine Versprechungen am Ende aber vorsichtig formulierte: Es ist zu hoffen, sagte Dr. Neymann, daß wir, indem wir feinstverteilte Materie durch Einatmen in die Lunge bringen, das Anfangsstadium der Silikose beseitigen und sie in leichteren Fällen an einer weiteren Ausbreitung hindern können.18
Diese Ausführungen lösten eine rege Diskussion unter den anwesenden Ärzte aus, von denen sich einige beflügelt über die künftigen Therapieaussichten äußerten. Ein Wiesbadener Professor wurde damit zitiert, dass sich im Falle eines Erfolgs „völlig neue de la Sauce/Schorn/Schrödter 1954, S. 172. Zahlen für das Jahr 1952. sv:dok 15/618, Hauptstelle für Staubbekämpfung im Bergbau/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 29.09.1948. 18 Hannibal geht neue Wege in der Gesundheitsfürsorge, in: Bochumer Stadtanzeiger, 30. August 1950. 16 17
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Aussichten für die Therapie“ ergäben. Auch Viktor Reichmann äußerte sich unterstützend.19 Man sei sich einig gewesen, dass „hier ein Verfahren entwickelt worden sei, das zu den größten Hoffnungen berechtigte.“20 Während der Erfinder Fritz Barthel im Sommer 1951 plötzlich und unerwartet starb,21 ging das Großexperiment unter der Leitung Hans Cauers weiter und die Hannover-Hannibal AG profilierte sich mit der Förderung der Aerosol-Inhalation neben der Rheinpreußen AG als führender unternehmerischer Akteur auf dem Gebiet der angewandten Silikoseforschung.22 Auf die dort von Cauer erprobte neue Technik aufbauend wurden vom Silikose-Forschungsinstitut bereits weitere Anlagen geplant. Um möglichst vielen noch gesunden Bergleuten eine prophylaktische Inhalation zu ermöglichen, sollte für die Belegschaft ein neuartiger „Brauseraum“ eingerichtet werden. Idealerweise wäre eine solche Inhalation nach Schichtende verpflichtend; bestimmte, mutmaßlich therapeutische Präparate könnten bei Bedarf in Form von Einzelinhalationen gereicht werden. Das Silikose-Forschungsinstitut hatte sich schon 1951 mit näheren Informationen direkt an die Bergbaubetriebe gewandt: Da vor allem im Steinkohlenbergbau besondere Gesundheitseinrichtungen geschaffen oder geplant sind, sei auf die sich aus obigen Ausführungen ergebende Zweckmäßigkeit von Inhalationseinrichtungen hingewiesen. Den Mitgliedswerken steht für die Beratung in allen damit zusammenhängenden Fragen die Medizinische Abteilung des Silikose-Forschungsinstituts zur Verfügung.23
Abb. 4 Aerosol-Inhalationsraum mit Ionisierer 1955 in Dortmund (links) und Aerosolgang auf der Zeche sterfeld in berhausen 1957 (rechts). Quelle: BBA 47/685 (links), BBA 30/868 (rechts).
19 Jetzt „Lungenwäsche“ für Hannibal-Kumpels, in: Wanne-Eickeler Zeitung, 1. September 1950. 20 Entscheidend ist, daß etwas getan wird, in: Wanne-Eickeler Zeitung, 1. September 1950. 21 BArch B149/1710, Prof. Dr. M. Bauer, Leiter der Ärztlichen Abteilung des Bundesministeriums
beit/Helene Barthel, 02.08.1951. 22 Schrödter 1954, S. 15*–40*, hier S. 26*. 23 Die Inhalations-Therapie, in: Kompass 61/5 (1951), S. 94–99, hier S. 99.
für Ar-
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Technologische Innovationen wurden dabei dankbar aufgegriffen, um vormals umständliche prophylaktische Ansätze in vollkommen neuem Umfang durchzuführen. Die neuen technischen Möglichkeiten, mutmaßliche Prophylaxe- oder Heilmittel als Aerosole in großen Mengen in die Atemluft einzubringen, schienen das mühsame Prozedere obsolet zu machen, Probanden an einzelnen Inhaliergeräten atmen zu lassen. Ursprünglich hatten Versuche mit Aerosolen in der experimentellen Silikosetherapie Anwendung gefunden. Winzige zerstäubte Wassertröpfen sollten als Vehikel für allerlei Substanzen dienen, denen man eine heilsame oder wenigstens vorbeugende Wirkung nachsagte. Ein wichtiger Ausgangspunkt für die schnelle Verbreitung der Inhalationsanlagen war das auf der Zeche Hannover-Hannibal 1951 errichtete Gesundheitshaus mit modernem Inhalationsraum. Dieser Ort fungierte zugleich als experimentelle Versuchsstätte für Hans Cauer. Obwohl dieser noch mit seiner Grundlagenforschung beschäftigt war, schufen die Bergbaubetriebe Fakten und übernahmen das Gruppeninhalationsprinzip auch für weitere Zechen. Zum Teil gingen sie dabei noch weiter. Mit dieser eher hemdsärmeligen, proaktiven Herangehensweise an ein unter den Wissenschaftlern noch umstrittenes Problem begannen sie, die implizite Vorreiterstellung der Bergbau-Berufsgenossenschaft als exklusive Wissensautorität zu untergraben. Die zuvor in einem engen Expertendiskurs eingekapselte und auf Fachkongressen debattierte konzeptionelle Idee der Inhalation verselbstständigte durch die experimentelle Praxis in den Betrieben. Wie die neuartige Raum-Inhalation aussah, schilderten eindrucksvoll die Werksnachrichten der Dortmunder Bergbau AG. 1952 in einem detaillierten Bericht über das hiesige neue Gesundheitshaus, der werbenden Charakter nach innen wie nach außen besaß: Allen Belegschaftsmitgliedern, die an einer Staublunge leiden, ist die Benutzung der Gemeinschaftsinhalation anzuraten. Zur Behandlung wird Wiesbadener Kochbrunnen zerstäubt. Dieses Heilwasser enthält Kalzium, das mit dem Siliziumoxyd, dem Erzeuger der Staublunge, bei der Inhalation eine Verbindung eingeht und dadurch dem Siliziumoxyd seine Gefährlichkeit nimmt. Der versprühte Kochbrunnen wird negativ elektrisch aufgeladen. Die unipolare Aufladung, d. h. die Aufladung mit nur einer Stromphase, bewirkt, daß die mit Preßluft zerstäubten Wassertröpfchen sich durch Abstoßung der gleichnamig geladenen Elektrizitätsteilchen noch weiter in sich zerreißen und so als feinste Nebel bis in das letzte Lungenbläschen vordringen, um hier ihre Aufgabe zu erfüllen. […] In dem gekachelten Raum der Inhalation haben etwa 20 Heilungssuchende gleichzeitig Platz. Die Dauer einer Behandlung ist auf 25 Minuten bemessen. […] Während der Inhalation fühlt sich der Patient so, als ob er in einem trockenen Raum säße. Er kann seine Zeitung oder ein Buch mitnehmen und so gleichzeitig die Zeit der Inhalation als Entspannungspause benutzen. […] Mit diesem Gesundheitshaus jedenfalls, das im Ruhrgebiet seines gleichen sucht, ist allen Schaffenden unserer Zechen und ihren Familienangehörigen die Möglichkeit gegeben, be-
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stehende Krankheiten zu heilen, durch Abhärtung, Vorbeugung für sich und ihre Familie Sorgen weitestmöglich zu vermeiden, die durch Krankheit bedingt sind. Nehmt also die Einrichtung des Gesundheitshauses wahr!24
Zu den in die Aerosol-Inhalationen gesetzten Hoffnungen hatte Hans Cauer erheblich beigetragen, indem er „auf verschiedenen Tagungen und in einigen Veröffentlichungen“ den Eindruck erweckt habe, dass „es sich hierbei um ein sicheres Verfahren in der Prophylaxe der Silikose handele“, wie der medizinische Leiter des Silikose-Forschungsinstituts in einem anderen Artikel bemerkte.25 Im selben Text erfahren wir die Funktionsweise der Elektro-Aerosol-Inhalation: Das Problem der Raum-Inhalation war, dass sich der feine Dampf schnell wieder auf dem Boden und den Wänden absetzte. Um dies zu verhindern, wurden die Teilchen unter hoher elektrischer Spannung – mehreren Zehntausend Volt – ionisiert. Zugeführte Pressluft zerstäubte dann das Aerosol in den Raum hinein. In einem Versuch sollte 1952 bei der Bochumer Bergbau A. G. die Wirkungsweise zunächst genauer untersucht werden, gleichwohl derartig Anlagen bereits vollkommen betriebsfertig von entsprechenden Privatanbietern an die Zechen verkauft wurden. Die besondere Aufmerksamkeit der Experten galt neben den Schwebeeigenschaften der Teilchen der Verträglichkeit für die Bergleute. Während die bei 50.000 und 30.000 Volt beklagten Kopfschmerzen, Schwindelgefühle und „andere Mißempfindungen“ noch auf frühere Kopfverletzungen der Probanden zurückgeführt wurden, schienen andere Begleiterscheinungen jedoch alle Inhalierer zu betreffen. So standen „den Männern die Haare senkrecht“ und ein „leichter Ozongeruch“ wurde im Raum wahrgenommen.26 Doch die sehr unterschiedlichen Auswirkungen auf Herzfrequenz und das vegetative Nervensystem schienen auf eine stark schwankende „individuelle Empfindlichkeit“ hinzudeuten. Weit mehr Sorgen bereiteten aber wie schon bei den beschriebenen Einzelinhalationsversuchen die Motivation und Disziplin der Bergleute. So suggerierten die niedrigen Werte bei der ärztlichen Messung der Vitalkapazitäten im Belastungstest im eigens dafür angerückten Auto-Röntgen-Zug der Berufsgenossenschaft, dass sich die eigentlich voll arbeitsfähigen Männer „z. T. nur wenig Mühe gaben.“27 In den folgenden Jahren nahm außerdem das bergmännische Interesse an der Inhalation im Allgemeinen stetig ab. Im Monat Oktober 1952, kurz nach der Eröffnung, nahmen insgesamt fast 6.000 Männer teil. Ab dem Sommer 1954 lag diese Zahl bereits unter 1.000 monatlich. Bei den weiteren laufenden Untersuchungen der Probanden schlug den Medizinern bisweilen direkte Verweigerung entgegen:
Das Gesundheitshaus Stein/Hardenberg. Welche Krankheiten werden behandelt, und wie kommt man in den Genuss dieser Behandlung?, in: Werksnachrichten (Dortmunder Bergbau AG) II/3 (1952). 25 Beckmann/Reif 1955, S. 10. 26 Ebd., S. 33 f. 27 Ebd., S. 37. 24
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Bei der Reihenuntersuchung einer größeren Zechenbelegschaft stößt man immer wieder auf Widerstand, weil die Männer an ärztlichen Maßnahmen z. T. desinteressiert sind oder sie sogar strikt ablehnen. Aus diesem Grunde war es uns auch nicht möglich, eingehende spirometrische Untersuchungen auszuführen. Gegen Blutentnahmen und sonstige Untersuchungen wehrten sich die Männer ebenfalls, so daß wir darauf verzichten mußten.28
Wie bereits bei den Einzelinhalationsversuchen in den vierziger Jahren zeigte sich, wie schwierig langfristige medizinische Studien durchzuführen waren. Von einer 339 Mann starken Probandengruppe erschien nach 300 Inhalationssitzungen im Jahr 1955 nur noch ein einziger zur Untersuchung. Um eine tatsächliche positive Wirkung der eingesetzten Aerosole festzustellen, müssten aber zwei körperlich, altersmäßig und hinsichtlich ihrer Gefährdung vergleichbare Gruppen über Jahre miteinander verglichen werden. Alle bisher erschienenen Veröffentlichungen über vermeintliche Erfolge der Inhalationstherapie seien deshalb kritisch zu bewerten, gaben die Forscher zu bedenken. Trotz der bleibenden Vorbehalte setzten viele Betriebe großes Vertrauen in die Gruppeninhalation ihrer Belegschaften. Allein die sekundären Effekte, die im Wesentlichen im allgemein verbesserten Wohlbefinden gesehen wurden, schienen die Investitionen wert zu sein. In einer Anfang 1954 durchgeführten Erhebung des Steinkohlenbergbauvereins zeigte sich, dass „die Inhalierung von Kochsalzbrunnen auf den Zechen des Ruhrgebietes schon eine erhebliche Verbreitung gefunden hat und daß noch eine ganze Reihe von Zechen die Einrichtung derartiger Inhalieranlagen plant.“29 Obwohl Zweifel unter Experten herrschte, ob die Kochsalzaerosole überhaupt eine vorbeugende oder heilende Wirkung besaßen, schienen die Unternehmen dennoch davon überzeugt, dass die von Bergleuten geschilderte „wesentliche Linderung ihrer klinischen Beschwerden“ den Ausbau rechtfertigten. Das zu Grunde liegende Prinzip ließ sich außerdem leicht modifizieren. Großen Anteil daran schrieb sich Helmut Beckmann vom Silikose-Forschungsinstitut zu, der die Aerosol-Behandlung trotz der anhaltenden Bedenken als neuste medizinische Innovation auf verschiedenen Ärzte-Kongressen sowie im Seminar für Silikose-Begutachtung propagiert hatte. Er hob dabei die zwar noch nicht erwiesene, aber potenzielle prophylaktische Wirkung besonders hervor. Auf Vermittlung der Werksärzte drang die neue medizinische Hoffnung auch zu den Werksleitungen durch, die ab 1953 nicht mehr nur Inhalationsräume, sondern ganze Gänge einrichteten, die von Bergleuten auf dem Weg in die Zeche durchschritten werden konnten (vgl. Abbildung 4).30 Plötz-
Ebd., S. 44. BBA 16/2491, Niederschrift über die 6. Sitzung des Ausschusses für Staub- und Silikosebekämpfung am 3. Februar 1954, 19.02.1954. 30 sv:dok 15/816, Silikose-Forschungsinstitut, Beckmann/Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung, 10.11.1954. 28 29
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lich schien es auch nicht mehr grundsätzlich notwendig, dass Menschen überhaupt zusätzliche Zeit dafür aufbringen müssten, sich in einen separaten Inhalierraum zu begeben – bislang schien darin die größte Alltagshürde für den Erfolg medizinischer Prophylaxe bestanden zu haben, nicht zuletzt wegen der in der Studie Reichmanns erhobenen Bedenken gegen das erlahmende Interesse der Bergarbeiter. Die noch wenige Jahre zuvor abwegige Idee, am besten ganze Betriebspunkte mit Aerosolen zu besprühen, schien Mitte der fünfziger Jahre plötzlich durchaus praktikabel. Die Bochumer Bergbau-A. G., auf der Beckmann das mehrjährige Experiment mit einem Inhalationsraum durchgeführt hatte, errichtete 1954 auf einer anderen Zeche einen 96 Meter langen Gang, der von speziellen Aerosol-Geräten besprüht wurde. Dieser wurde von Bergarbeitern auf dem Weg zur Einfahrt in den Schacht einfach durchschritten. Das Silikose-Forschungsinstitut war gemeinsam mit dem Hauptsicherheitsbeauftragten des Betriebs direkt an der Planung beteiligt gewesen. Auf Nachfragen gaben die Bergleute an, dass sie den Effekt positiv beurteilten. Auch die Zechenleitung selbst gab an, Fälle von Erkältungen, Asthma und Bronchitis seien um etwa 25 Prozent zurückgegangen. Auf den Zechen Consolidation, Friedrich der Große und Sterkrade wurden ähnliche Inhalationsgänge gebaut und in Betrieb genommen. Die Bergleute empfänden die angewendeten Aerosole als wohltuend. Die Versorgung der Inhalationsgänge sowie der in den Gesundheitshäusern bestehenden oder entstehenden Inhalationsräume wurden durch die Krankenhausapotheke des berufsgenossenschaftlichen Bochumer Bergmannsheil zentral versorgt. Ab Juni 1954 wurde ein spezielles Präparat eigens aus den USA eingeführt. Ob aber auch der Entstehung der Silikose ein Riegel vorgeschoben war, blieb zunächst offen. Die positiven Darstellungen der Masseninhalation hoben zwar die vermeintlichen Erfolge gegen allgemeine symptomatische Lungenbeschwerden hervor, die zum Teil als Begleiterscheinungen der Silikose auftraten. Die Antwort auf die entscheidende Frage, ob sich die eingesetzten Mittel auch als wirkungsvolle Prophylaxe gegen die gefürchtete Staublunge bewähren würden, mussten sie aber mangels belastbaren Datenmaterials über längere Zeiträume weiterhin schuldig bleiben. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre verblasste der hoffnungsvolle Stern der heilsamen Inhalationen bereits wieder. Vier Jahre, nachdem Hans Cauer und sein Mitarbeiterstab 1951 auf der Zeche Hannibal mit großen Erwartungen aufgeladenen Inhalationsexperimente begonnen hatte, fielen die mittelfristigen Ergebnisse bescheiden aus. Wie die Resultate zeigten, waren Aerosole nicht die ersehnte Wunderwaffe im Kampf gegen die Silikose. Zum einen waren die parallellaufenden Versuche, mittels versprühter Substanzen unter Tage den Feinstaub aus der Grubenluft zu binden und damit unschädlich zu machen, noch nicht von Erfolg gekrönt. Zum anderen blieb Cauer nur festzustellen, dass auch der „Wiesbadener Kochbrunnen“ die Silikose nicht heilen konnte. Nach Untersuchung zahlreicher Staublungenkranker ließe sich aber trotzdem Positives berichten, um zumindest dem technischen Prinzip der Aerosolbehandlung eine Ehrenrettung angedeihen zu lassen, wie Cauer 1955 der Westfälischen
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Rundschau erklärte. Die Elektro-Rauminhalation habe vielen Bergleuten immerhin eine über Monate andauernde Erleichterung ihrer Symptome beschert, es handle sich nun „nur noch darum, die entsprechenden Pharmaka zu entwickeln und zu erproben“, um doch noch alsbald eine Heilung der Staublunge zu ermöglichen. Dazu müssten noch verschiedenste Aspekte der Inhalationstherapie genauer studiert werden.31 De facto kam dies dem Eingeständnis einer Niederlage gleich. Der „Kampf um [die] Gesundheit des Bergmanns“32 schien mit den Mitteln der Medizin kaum noch zu gewinnen. 4.2
Der Siegeszug der Risikofaktoren
Die experimentellen Versuche einer Prophylaxe oder gar Heilung der Silikose mittels Inhalation bedienten die Überzeugung, dass die Medizin wie schon so viele andere Krankheiten auch diese bezwingen würde. Dies überblendete eine Parallelentwicklung, die in der betrieblichen Praxis im Laufe der fünfziger Jahre schnell viel größeren Raum einnahm als die spektakulären Aerosolräume in den modernen Gesundheitshäusern der Bergbaubetriebe. Auch dabei spielte die Eigeninitiative der Unternehmen eine entscheidende Rolle. Die erfolglose Suche der Mediziner nach einer nachweislich wirksamen Therapie oder Prophylaxe war für die Deutsche Kohlenbergbau-Leitung (DKBL) ein wesentlicher Beweggrund, eine eigenen Forschungsstelle zu gründen. So sei es „die unerfreuliche Tatsache“ gewesen, dass es in absehbarer Zeit „von der medizinischen Seite her [kein, D. T.] Mittel gegen diese Krankheit“ geben werde, die 1951 zur Gründung der „Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung“ bei der DKBL in Essen führte, die im Übrigen nicht mit dem Vorgänger des Silikose-Forschungsinstituts, der Hauptstelle für Staubbekämpfung, zu verwechseln ist.33 Die Hauptstelle sollte durch einen „Ausschuss für Staub- und Silikosebekämpfung“ für den praktischen und theoretischen Austausch zwischen den Unternehmen und namhaften Experten unterstützt werden. Die Bergbauunternehmen betrieben auf Verbandsebene bereits seit Langem bergbauliche Forschung. Doch sollte sich die unternehmerische Forschungstätigkeit nun erstmals auch auf Fragen der betrieblichen Gesundheit erstrecken. Im Sommer 1953 übernahm der neugegründete Verband der Bergbauunternehmer, der Steinkohlenbergbauverein, diese Forschungsaufgaben, nachdem die DKBL im selben Jahr aufgelöst worden war. Etwa zeitgleich führte diese wissenschaftliche Parallelstrukturen zum bereits existierenden Silikose-Forschungsinstitut der Bergbau-Berufsgenossenschaft zu ersten Spannungen. Im Mai 1953 wandte sich die Hauptverwaltung der Bergbau-Berufsgenos31 32 33
Keine Heilung der Silikose durch Inhalieren, in: Westfälische Rundschau, 11. August 1955. 3000 Röntgenaufnahmen beim Werksarzt, in: Recklinghäuser Zeitung, 17. April 1953. IGF H0072, Vortrag über Aufgaben der Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung, 22.04.1953.
Der Siegeszug der Risikofaktoren
senschaft direkt an den Vorsitzenden des Ausschusses für Staub- und Silikosebekämpfung und äußerte sich irritiert über die dort verbreitete Darstellung der Aufgaben der neugeschaffenen Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung. Bislang sah sich die Berufsgenossenschaft mit den Unternehmern im Einvernehmen darin, dass die DKBL bzw. der Steinkohlenbergbauverein „zusätzliche freiwillige Maßnahmen“ neben den Maßnahmen der Berufsgenossenschaft in ihren Betrieben anrege.34 Ein in einer Vorstandssitzung des Steinkohlenbergbauvereins präsentierter Entwurf, in dem die neue Hauptstelle vorgestellt wurde, zeichne nun aber ein ganz anderes und aus berufsgenossenschaftlicher Sicht fragwürdiges Bild. Die Hauptverwaltung der Berufsgenossenschaft vertrat den Standpunkt, dass ihr Silikose-Forschungsinstitut für die grundlegende Forschungsarbeit verantwortlich sei und die berufsgenossenschaftlichen Bezirksverwaltungen die praktische Durchführung koordinieren und überwachen sollten. Die Bergbauunternehmer beriefen sich allerdings auf die im September 1951 in Kraft getretene Bergverordnung der Oberbergamtes Dortmund, die die Unternehmen des Ruhrkohlenbergbaus in Sachen Silikose stärker in die Pflicht nahm und ihnen unter anderem die Verantwortung für die ärztlichen Untersuchungen ihrer Arbeiter übertragen hatte, die bislang von der Bergbau-Berufsgenossenschaft organisiert worden waren. Diese Pflicht erstreckte sich auch auf die regelmäßige Überwachung des Gesundheitszustandes der Belegschaften, sprich turnusmäßige Nachuntersuchungen. Eine genauere rechtliche Klärung, wie die eigenverantwortliche Staub- und Silikosebekämpfung der Unternehmen und der Berufsgenossenschaft voneinander abzugrenzen seien, gab es nicht. Stattdessen bestanden die beiden Parallelstrukturen fort. Auf Grund der personellen Überschneidungen zwischen den Mitarbeitern und Gremienmitgliedern des Silikose-Forschungsinstituts und des Ausschusses für Staub- und Siliosebekämpfung des Steinkohlenbergbauvereins etablierte sich der Ausschuss aber rasch als zusätzliches Forum, um die praktischen Erfahrungen in den Betrieben zu diskutieren. Dadurch wurde der Austausch zwischen Grundlagenforschung und betrieblicher Anwendung intensiviert. Die Berufsgenossenschaft und der Steinkohlenbergbauverein einigten sich schließlich auf eine zukünftige Arbeitsteilung zwischen den beiden Organisationen: Wir bitten Sie daher im Einvernehmen mit der BBG [Bergbau-Berufsgenossenschaft, D. T.], sich in Zukunft in allen Fragen der Forschung und der sonstigen gesetzlichen Aufgaben der BBG an diese (Silikose-Forschungsinstitut bzw. zuständige Bezirksverwaltung), dagegen in allen Fragen der Staub- und Silikosebekämpfung, welche die Werke durch betriebseigene Maßnahmen durchführen, insbesondere des betrieblichen Staubmeßwesens, an unsere Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung zu wenden und beide Institutionen auf ihren Arbeitsgebieten zu unterstützen.35
34 35
sv:dok 15/3879, Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung/Bergassessor Nebelung, 04.05.1953. IGF H0078, Rundschreiben Nr. I-24 der DKBL an alle Bergwerksgesellschaften und Zechen, 30.05.1953.
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Die Auseinandersetzung um die Kompetenz in Sachen betrieblicher Präventionspraxis schien damit beigelegt. Nach dem Grundsatz „freie Initiative und verantwortliche Mitarbeit der Betriebe“ sollte die Hauptstelle und der ihr angegliederte Ausschuss die betrieblichen Maßnahmen nun weiterentwickeln und den Unternehmen des Steinkohlenbergbauvereins praktische Hilfe bei der Durchführung anbieten.36 Sie diente damit als organisationales Bindeglied zwischen der durch die Berufsgenossenschaft betriebenen und geförderten Forschungsarbeit und der betrieblichen Implementierung ihrer Resultate. Über ihr Engagement im Ausschuss nahmen große Bergbaubetriebe eine führende Rolle als Zugpferde der unternehmerischen Präventionsinitiativen wahr. Das zeigte sich bereits in der personellen Zusammensetzung: Die vertretenen Ausschussmitglieder waren Führungspersonen der großen Ruhrgebietszechen wie Rheinpreußen, Hannover-Hannibal oder Constantin der Große. Es waren diese großen und finanzstarken Zechenunternehmen, die Vorreiter bei der Schaffung betrieblicher Strukturen der gesundheitlichen Vorsorge und Fürsorge waren. Hierbei galt die technische Staubbekämpfung, also die Beseitigung des Staubes durch Verfahren der Niederschlagung, Absaugung oder Filterung, als das künftige Herzstück aller Anstrengungen, der öffentlich intensiv diskutierten Ausbreitung der Silikose Herr zu werden.37 Hinzu kamen Maßnahmen wie die persönliche Schutzausrüstung in Form von Masken und Atemgeräten sowie zunächst auch noch die medizinische Prophylaxe durch „Schutzstoffe“. Während der Erfolg der vorbeugenden Inhalationen im Laufe der Experimente immer fraglicher wurde und in den Bereich einer symptomatischen Therapie gerückt war, schrumpfte auch die Bedeutung der persönlichen Schutzausrüstung. Staubmasken wurden zwar weiterhin entwickelt und vertrieben und insbesondere für Arbeiten empfohlen, bei denen eine verhältnismäßig starke Staubentwicklung zu erwarten war. Die bekannten technischen Schwierigkeiten, die sich aus der Balance zwischen Dichtigkeit gegenüber dem Feinstaub und der Einschränkung des Trägers vor allem durch den Atemwiderstand ergaben, führten dazu, dass den Staubmasken Mitte der fünfziger Jahre allenfalls noch „der Charakter eines Notbehelfs“ zugeschrieben wurde und zwar für solche Fälle, in denen „alle Bemühungen um die Verhütung und Bekämpfung gesundheitsschädlichen Staubes noch nicht zu befriedenden Ergebnissen führen“ könnten.38 Aber auch alle praktischen Versuche, den Grubenstaub durch Luftfilter, Wasser, Schaum oder andere Bindemittel niederzuschlagen, blieben immer nur Teilerfolge, sodass bald klar wurde: Trotz aller Maßnahmen der technischen Staubbekämpfung treten Reststaubmengen auf. Wenn sie auch bei weitem nicht mehr den mit Recht gefürchteten Gefahrengrad der unbe-
Ebd. Lange 1954, S. 29. BBA 16/2494, Niederschrift über die 10. Sitzung des Ausschusses für Staub- und Silikosebekämpfung am 30. November 1956, 15.05.1957.
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Der Siegeszug der Risikofaktoren
hinderten Staubentwicklung aufzuweisen haben, so sind sie doch noch gefährlich genug, um einen schädlichen Einfluß auf die Gesundheit unserer Bergleute ausüben zu können. Der Wirksamkeit der technischen Staubbekämpfung sind daher bestimmte Grenzen gesetzt.39
Wenn das Problem sich weder medizinisch noch technisch lösen ließ, musste ein anderer Weg gefunden werden. So gewannen parallel zu den weiterlaufenden Staub- und Silikose-Bekämpfungsmaßnahmen innerbetriebliche organisatorische Ansätze an Bedeutung. Wenn sich nicht vollständig verhindern ließ, dass krankheitserregender Staub in die Lungen der Bergleute eindrang, dann ließ sich vielleicht wenigstens verhindern, dass einzelne Arbeiter überdurchschnittlich stark belastet wurden und dadurch rasch erkrankten. Hier kamen wieder die medizinischen Untersuchungen ins Spiel. Ärztliche Urteile über den Gesundheitszustand der Bergarbeiter enthielten aber keine konkreten betrieblichen Handlungsanweisungen. Die Praxis der ärztlichen Diagnose mit Röntgenbefunden beschränkte sich bislang darauf, eine Silikose auszuschließen oder festzustellen. Grundsätzlich bestand mit den Arbeitsplatzwechseln für Arbeiter mit radiologisch erkannten „Frühsilikosen“ die etablierte Praxis des Arbeitsplatzwechsels, um den offenen Ausbruch der Krankheit zu verhindern. Aber das Wissen, auf dessen Grundlage diese ärztlichen Empfehlungen ausgesprochen wurden, war nicht sehr verlässlich. Weder die Erwerbsbiografie der Bergleute noch die tägliche Arbeit waren erschöpfend dokumentiert und beschränkten sich auf die vom Arbeiter selbst gemachten Angaben. Welchen Staubmengen er in der Vergangenheit „tatsächlich“ ausgesetzt gewesen war, ließ sich auf diese Weise kaum ermitteln, und auch die Frage, was einen „staubarmen“ Arbeitsplatz ausmachte, blieb ständiger Diskussionsgegenstand. Diese Wissenslücken sollten geschlossen werden. Zu diesem Zweck wurde allerdings keine neue Instanz im Sinne einer neuen Dokumentations- und Informationsinfrastruktur geschaffen, auf die sich Bergämter, Berufsgenossenschaft und Bergbaubetriebe erst hätten verständigen müssen. Stattdessen wurde eine Karteikarte, mit der der Bergbau bereits Erfahrungen gesammelt hatte, zum zentralen Medium und Wissensträger der gewünschten Informationen. Als sich die Untersuchungspflicht für unter Tage arbeitende Bergleute noch auf die als besonders gefährdet geltenden Gesteinshauer konzentrierte, wurde über diese begrenzte Zahl von Männern eine ausführliche Kartei geführt. Diese Kartei wurde in abgewandelter Form nun auf alle unter Tage beschäftigten Arbeiter ausgeweitet. Implizit bedeutete dies nunmehr, dass jeder, der dort arbeitete, auch „gesteinstaubgefährdet“ war. Diese jedem einzelnen Arbeiter jeweils zugewiesenen Karteikarten fungierten als so genannte Tätigkeitsnachweise, die einen dokumentarischen Zweck erfüllten. Zugleich
39
Lange 1954, S. 25.
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sollten sie auch der retrospektiven Beurteilung bislang ungenauer Selbstauskünfte der Bergarbeiter bei den ärztlichen Untersuchungen dienen und wichtigster Anhaltspunkt für ärztlich verordnete Arbeitsplatzwechsel werden, wenn die körperliche Untersuchung Anlass dazu gab. In anderen Worten: Die Gesundheit und die Erwerbsbiografie jedes einzelnen Arbeiters sollte einheitlich und objektiv erfasst und dokumentiert werden. Damit praktische Schlüsse daraus gezogen werden konnten, sollte außerdem die Staubbelastung der untertägigen Arbeitsplätze gemessen werden. Das dahinterstehende Konzept stellte sich im Frühling 1953 im Bericht der Experten folgendermaßen dar: Der Plan geht dahin, einen Tätigkeitsnachweis mit der dabei entstandenen Staubbelastung zu führen, der für den Arzt ein wertvolles Hilfsmittel darstellen wird zur Beurteilung des Gesundheitszustandes jedes einzelnen Mannes. Diese Kartei geht zusammen mit dem Gesundheitszeugnis zurück zum Betrieb und stellt hier ein wertvolles Hilfsmittel dar für den Arbeitseinsatz und die Regelung des Arbeitsplatzwechsels. Durch beide Maßnahmen, also durch die Übersicht über den Staubzustand der Betriebe und den Überblick über den Gesundheitszustand der Belegschaften hoffen wir, den Betrieben die Maßnahmen zur Staubbekämpfung und zum Arbeitsplatzwechsel wesentlich zu erleichtern.40
Entstanden war die Idee einer solchen Karteikarte in einem vom Ausschuss für Staubund Silikosebekämpfung initiierten „Arbeitskreis der Staub- und Silikosebeauftragten“, in der sich Angehörige verschiedener Betriebe über die Ergebnisse ihrer jeweiligen Staubmessungen ausgetauscht hatten. Die Arbeitskreismitglieder schlugen dem Ausschuss vor, eine solche Karteikarte zunächst auf den Zechen erproben zu lassen, die bereits umfangreiche Staubmessungen vornahmen.41 Die Unternehmen sollten, so die Idee, mit praktischen Hinweisen dazu ermutigt werden, die vorgeschlagene Karteikarte oder eine ihr entsprechende Methode der Erfassung einzuführen. Bis zum Mai 1956 erfasste das Karteikartensystem bereits etwa 55 Prozent der untertägigen Arbeiter der Steinkohlenbergbaubetriebe im Ruhrgebiet und im Raum Aachen.42 Zu Anfang blieb noch offen wer dafür verantwortlich sein sollte, die Kartei zu führen und auszuwerten. Aus Sicht der Mitglieder des Ausschusses für Staub- und Silikosebekämpfung sollte diese Rolle besser nicht den Ärzten zufallen, „weil der Arzt auf die bergmännischen und betrieblichen Gesichtspunkte zu wenig Rücksicht nimmt.“43 Stattdessen brauche es in jedem Betrieb einen dort eingebundenen „Staubbeauftragten“, der vorübergehend zunächst auch der Sicherheitsbeauftragte sein könne. Grundsätzlich existierten mit den am Ende der vierziger Jahre ausgebildeten „SilikosebeaufIGF H0072, Vortrag über Aufgaben der Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung, 22.04.1953. BBA 16/2491, Niederschrift über die 5. Sitzung des Ausschusses für Staub- und Silikosebekämpfung am 29. Mai 1953, 06.1953. 42 BBA 16/2493, Niederschrift über die 9. Sitzung des Ausschusses für Staub- und Silikosebekämpfung am 29. Mai 1956, 27.11.1956. 43 IGF H0072, Vortrag über betriebliches Meßverfahren und Auswertung der Meßergebnisse, gehalten in der Sitzung des Ausschusses für Staub- und Silikosebekämpfung von Bergassessor Schulte, 29.05.1953. 40 41
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tragten“ bereits solche Personen. Besonders gut schien das bei der Gelsenkirchener Zeche Hibernia schon etablierte System zu funktionieren. Die Hauptstelle für Staubund Silikosebekämpfung hatte dort bereits Staubbeauftragte ausgebildet, die wiederum selbstständig die weitere Schulung ihrer Messtechniker unternahmen, die auf den Zechen die notwendigen Daten für die Kartei sammelten.44 Soweit es auch anderen Unternehmen möglich war, sollte ihnen dieses System als Vorbild für das eigene Vorgehen dienen. Schließlich mussten die Messtechniker im richtigen Umgang mit den Instrumenten geschult werden; idealerweise würden sie auch die mikroskopische Auswertung selbstständig vornehmen. Da man „vollwertige Steiger“ für dieses umfassende Aufgabenspektrum aus personellen Gründen nicht entbehren konnte, sollten die hierzu angelernten Hilfskräfte wenigstens eine „leichte Auffassungsgabe“ mitbringen.45 Die betriebliche Regulierung der Silikose wurde ab Mitte der fünfziger Jahre vollends vom Steinkohlenbergbauverein bzw. der Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung dirigiert. Immer wieder wurden in den Sitzungen des Ausschusses die großen „Nachwuchsschwierigkeiten im Steinkohlenbergbau“ thematisiert, die ausdrücklich in den gesundheitlichen Gefahren sowie der Schwere der Arbeit und der damit verbundenen geringen Attraktivität des Bergbaus wurzelten. Erst wenn ein „erheblicher Fortschritt in der Staub- und Silikosebekämpfung“ erreicht sei, „wenn man in der Öffentlichkeit davon sprechen könne, daß die Silikose keine tödliche, sondern nur noch eine unangenehme Berufskrankheit sei“,46 ließe sich dieser entscheidende Makel tilgen. Vor allem darin liege der Anreiz für die Branche, proaktiv gegen die gesundheitlichen Gefahren des Bergbaus vorzugehen. Die Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung entwickelte sich zu einer zentralen Schaltstelle. Sie bildete die betrieblichen Messtechniker und Staubbeauftragten aus, nachdem die Silikosebeauftragten zuvor noch vom Silikose-Forschungsinstitut geschult worden waren. Im Jahr 1954 durchliefen über 200 Personen entsprechende Kurse bei der Hauptstelle. Auf den einzelnen Zechen nahmen die Messtechniker und Aufseher ihre Aufgaben jedoch unterschiedlich wahr: Während einige Bergbauunternehmen zunächst probeweise in einzelnen Betrieben damit begannen, Erfahrungen mit regelmäßigen Staubmessungen zu sammeln, entsandten andere – darunter Hibernia, Consolidation, Dortmunder Bergbau AG. und Friedrich der Große – bereits flächendeckend Staubmesser unter Tage.47 Dort nahm man die ersten gesammelten Daten zum Anlass, Schwerpunkte mit besonderem Handlungsbedarf zu ermitteln, um dort priorisierte Maßnahmen zu ergreifen. Teilweise standen die gewonnenen Ebd. Ebd. BBA 16/2493, Niederschrift über die 8. Sitzung des Ausschusses für Staub- und Silikosebekämpfung am 20. Oktober 1955, 21.11.1955. 47 BBA 16/2493, Bericht über die Tätigkeit der Unterausschüsse und der Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung in der 7. Sitzung des Ausschusses für Staub- und Silikosebekämpfung am 13.12.1954, 01.10.1955. 44 45 46
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Erkenntnisse im völligen Widerspruch zu den ursprünglichen Erwartungen der Experten, weil die Konzentration des ohne die eingesetzten neuartigen Messinstrumente nicht wahrnehmbaren Feinstaubs nicht immer dort am größten war, wo auch der meiste sichtbare grobe Staub vorgefunden wurde. Der krankmachende Feinstaub schien sich vielmehr im gesamten Bergwerk zu verteilen und war nicht, wie noch in den dreißiger und vierziger Jahren gemeinhin angenommen, auf die Orte seiner unmittelbaren Entstehung beschränkt. Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren war trotz der einschneidenden Bedeutung, die die technologische Seite dabei spielte, nicht etwa durch die neue Technik prädeterminiert. Das Datenmaterial, das die Messgeräte lieferten, musste auch eingeordnet und gedeutet werden, um daraus Konsequenzen für die alltägliche Präventionspraxis zu ziehen. So, wie die ärztlichen Untersuchungen der Bergleute zwar Handlungswissen bereitstellten, aber keinen konkreten Anhalt gab, wie zu handeln sei, so war die Aussagekraft der Staubmessdaten Gegenstand eines intensiven interdisziplinären Aushandlungsprozesses zwischen den Silikose-Experten. Die bereits behandelte Frage, welche Messgeräte überhaupt zum Einsatz kommen sollten, war ebenso Teil dieser Debatte wie die Deutung der Messwerte. Die schließlich eingesetzten Geräte bestimmten zwei Werte, aus denen die Experten die „Gefährlichkeit“ der Stäube ableiten wollten: die relative Staubkonzentration in der untersuchten Luft sowie den „Bergeanteil“, das war der prozentuale Anteil des als besonders schädlich geltenden mineralischen Gesteins an der Gesamtstaubmenge. Was mit den auf diese Weise gesammelten Werten anzustellen und wie sie einzuordnen seien, wurde zur vordringlichen Fragestellung. Denn wegen der zeitlichen Verzögerung, mit der die Staublunge entstand, konnten die noch jungen Messreihen keine Auskunft darüber erteilen, welchen Belastungen all jene Bergleute ausgesetzt gewesen waren, die gegenwärtig erkrankten. Aktuelle Staubwerte lagen zwar vor; mit den medizinischen Daten über die Gesundheit der Bergarbeiterschaft würden sie sich aber erst in Zukunft korrelieren lassen. Dennoch versuchten die Forscher bereits jetzt, im Jahr 1955, die theoretischen Grundlagen für eine künftige Ursachensuche zu legen. Damit waren vor allem Grundlagenforscher vom Silikose-Forschungsinstitut, vom Hygienischen Institut Münster unter der Leitung Karl-Wilhelm Jöttens, der Medizinischen Akademie Düsseldorf unter Walter Kikuth und die Silikose-Forschungsabteilung unter Hans Cauer bei der Rheinpreussen A. G., der nebenbei noch seine Inhalationsexperimente auswertete, befasst.48 Auch die Hauptstelle beteiligte sich, schließlich brauchte es nun, da erste Gesundheits- und Staubdaten vorlagen, verbindliche Richtwerte für die Regulierungspraxis auf Grundlage dieser Daten. Der systematische Ausbau des Staubmesswesens in den Zechen gab der Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung vor allem statistisch nutzbares Zahlenmaterial an
48
Ebd.
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die Hand. Die bislang große Unbekannte – der Bergmann selbst – rückte damit wieder an den Rand der Betrachtung. Seine zuvor in den Expertenzirkeln intensiv diskutierte individuelle Veranlagung zur Staublunge wurde mithin zu einer variablen Größe unter vielen. Als „dispositioneller Faktor“ stand sie nun als kleine Unbekannte neben den dank der Messdaten besser quantifizierbaren Faktoren „der Konzentration, der Kornverteilung, der mineralogischen Beschaffenheit sowie […] Zeit [und] der Dauer der Einwirkung“.49 Obschon es dabei im engeren Sinne um die betriebliche Prävention der Erkrankung ging, wurden die etwaigen Konsequenzen nicht allein für die präventive Versicherungspraxis, sondern auch der Entschädigungspraxis mitproblematisiert. Dies zeigte sich etwa in semantischen Fragen: Unsere Kenntnisse über diese Faktoren sind noch zu unzureichend, daß es unmöglich ist, Angaben über die Gefährlichkeit zu machen, insbesondere aber den Gefährlichkeitsgrad festzulegen. Wenn man diese dennoch macht, so mag das als wissenschaftliche Arbeitshypothese interessant sein; für die Beurteilung des Einzelfalles in der Praxis besonders dann, wenn es sich darum handelt, feste Tatsachen, z. B. in Gerichtsverfahren, festzulegen, sieht das ganz anders aus. Über diese Frage ist eine gemeinsame Stellungnahme zwischen dem Silikose-Forschungsinstitut und der Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung erarbeitet worden, die von Herrn Dr.-Ing. Landwehr und mir [Karl Schulte, D. T.] unterschrieben wurde. Sie war Gegenstand einer eingehenden Erörterung mit den Oberbergämtern insbesondere mit dem Oberbergamt Dortmund. Dabei wurde […] vereinbart, in Zukunft auf das Wort „Gefährlichkeit“ zu verzichten und lediglich die bisherigen Meßergebnisse als Grundlage zu wählen.50
Statt von „Gefährlichkeit“ mit seiner weitreichenden Konnotation sollte allein von „Staubbelastungsstufen“ von gering bis sehr hoch die Rede sein, um die erzielten Messergebnisse besser einzuordnen und den Betrieben konkrete Anhaltspunkte zu geben, welche Maßnahmen der besseren technischen Prävention und gesundheitlichen Überwachung der exponierten Arbeiter bei welchen Ergebnissen zu ergreifen seien. Hinter der sprachlichen Neurahmung verbarg sich aber mehr als nur Versicherungskalkül im Hinblick auf spätere rechtliche Auseinandersetzungen oder die Außenwahrnehmung des Bergmannsberufs: Die Silikose erschien nun nicht mehr als ein in der Gesundheit des Einzelnen verwurzeltes Problem, sondern ein quantitatives Zahlensowie graduelles, vorwiegend technokratisch zu behandelndes Regulierungsproblem. Jede Staubmessung erschien als Punkt auf der Skala der Staubbelastungsstufen und stand in einem faktoriellen Verhältnis zur Gesundheit des Einzelnen, der der gemes-
BBA 16/2493, Einführung von Staubbelastungsstufen auf Grund der Ergebnisse der bisherigen Staubmessungen und der Arbeiten des Arbeitskreises zur Staubbekämpfung beim Bergeversatz und Bruchbau, 27.11.1956. 50 Ebd. 49
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senen Belastung ausgesetzt war. Ob jedoch in der Praxis wirklich konkrete Gefahr bestand oder nicht, musste offenbleiben.
Abb. 5 Zeitgenössische Darstellung der „Staubbelastungsstufen“, auf deren Grundlage die Staubbekämpfung und der Arbeitseinsatz der gefährdeten Bergleute gesteuert werden sollte. Quelle: BBA16/369
Die statistischen Erfahrungswerte bildeten schließlich das Richtmaß dafür, was als geringe oder starke Staubbelastung anzusehen sei. Künftig teilten sich die Messergebnisse in vier Staubbelastungsstufen ein, die der Einordnung gewonnener Werte dienten, aus denen Dringlichkeit technischer Maßnahmen abgeleitet werden sollte. Zugleich sollte diese aber auch der gesundheitlichen Überwachung der Zechenbelegschaften dienen, indem Arbeiter nach Ermessen des Arztes nur noch für Tätigkeiten an Orten
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der Kategorie I oder II zugelassen wurden, etwa wenn erste silikotische Veränderungen in der Lunge festgestellt wurden. Wegen der großen Zahl an Bergleuten, die solchen Beschäftigungsbeschränkungen bereits unterlagen, blieb es vordringliches Ziel der Zechenbetreiber, mehr solcher Arbeitsplätze zu schaffen. Im Gegensatz zu den vierziger Jahren gab es dafür nun konkrete und überprüfbare Vorgaben. Mit der immer größeren Verbreitung potenter technischer Maßnahmen der Staubverhütung und -niederschlagung sahen sich die Betriebe in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre auf einem guten Weg. Das Prinzip, die Arbeitskräfte in den Bergwerken zu rotieren, damit Einzelne nicht über längere Zeit zu großen Belastungsspitzen ausgesetzt wären, wurde als Arbeitseinsatzlenkung bezeichnet. Der Begriff wurde bereits in der Vergangenheit in Bezug auf entsprechende Arbeitsplatzwechsel verwendet, erhielt mit der Definition von Staubbelastungsstufen und organisatorischen Mechanismen, die solche Ortswechsel veranlassen sollten, aber erst seine spezifische Bedeutung. Implizit sollten damit die ortsgebundenen Risiken gleichmäßig auf die Schultern aller Beschäftigten verteilt werden.
Abb. 6 Der Kopf des „Tätignachweises für Staubbelastung“, der dokumentieren sollte, welchen Risiken der betreffende Bergmann am Arbeitsplatz ausgesetzt war. Quelle: IGF H0091
Im Jahr 1957 wurde die bereits etablierte Praxis per Verfügung durch das staatliche Oberbergamt verbindlich.51 Alle Zechen wurden nun dazu verpflichtet, planmäßige Staubmessungen vorzunehmen, und zwar vor allem an jenen Arbeitsplätzen, an denen Bergleute beschäftigt wurden, die bereits Staubveränderungen in ihren Lungen aufgewiesen hatten und deshalb an diese „staubarmen“ Orte versetzt worden waren. Außerdem sollten die Messergebnisse sowie die Ergebnisse der vorgeschriebenen Erst- sowie turnusmäßigen oder ärztlich verordneten Nachuntersuchungen in einer LAV NRW W Oberbergamt Dortmund/6197, Oberbergamt Dortmund, Änderung der Bergpolizeiverordnung für die Steinkohlenbergwerke vom 1. Mai 1935, 08.01.1958; LAV NRW W Oberbergamt Dortmund/6197, Oberbergamt Dortmund, Verfügung 117.02/1325/58, 18.03.1958.
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„möglichst einheitlichen Kartei“ erfasst werden. Die medizinischen Untersuchungsergebnisse wurden nach „Beurteilungsziffern“ (A1 bis B3) klassifiziert, aus denen etwaige Arbeitsbeschränkungen abzulesen waren. Die Mitglieder des Ausschusses für Staub- und Silikosebekämpfung verständigten sich darauf, dass man sich zumindest auf Mindeststandards einigen sollte, die die Karteikarten in den jeweiligen Betrieben erfüllen sollten.52 Die Kartei trug fortan den Titel „Tätigkeitsnachweis und Staubbelastung“ (vgl. Abbildung 6). Die neuen amtlichen Regelungen waren in enger Absprache mit dem Ausschuss entstanden. Die Hauptstelle sowie einige große Betriebe hatten bereits umfangreiche Erfahrungen gesammelt und dokumentiert. Regelmäßige Staubmessungen fanden bereits 1956 auf „praktisch allen Zechen“ statt.53 Die neuen Vorschriften waren damit im Wesentlichen eine verbindliche Festsetzung der in den vorangegangenen Jahren erprobten und zwischen den Unternehmen und Experten sorgsam ausgehandelten und inzwischen verfeinerten Praxis. In den darauffolgenden Jahren justierte das Oberbergamt Dortmund mit kleineren Änderungen in den Vordrucken und bei den Bestimmungen der regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen nach. Der Steinkohlenbergbauverein rechnete zwar mit Schwierigkeiten, die sich für manche Betriebe durch die neue Bergverordnung ergeben könnten, nahm dies jedoch in Kauf, um die Zahl der Silikosefälle endlich spürbar zu verringern. Für die Ausbildung der Staubmesser hatten sich die Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung und die Bergämter auf einen Plan verständigt. Dieser sah einen dreiwöchigen Grundlehrgang vor, an den sich Nachschulungslehrgänge und Speziallehrgänge für die Auswertung der Messergebnisse anschlossen. Die Lehrgänge würden wie gehabt bei der Hauptstelle stattfinden.54 Mit der systematischen Sammlung und Dokumentation nummerischer Daten veränderte sich die Gestalt der betrieblichen Regulierung der Silikose ab Mitte der fünfziger Jahre maßgeblich. Statistische Methoden waren weder im Versicherungswesen noch in der Medizin grundsätzliche Neuheiten. Bislang hatte es allerdings an einer einheitlichen und verlässlichen Datengrundlage über die bergmännische Gesundheit sowie die Staubverhältnisse an den Arbeitsplätzen gefehlt. Mit der Einführung und verbindlichen Verbreitung der Karteikarten änderte sich dies. Damit begann sich auch der Blick der Experten und Unternehmen auf die Silikose grundlegend zu wandeln: Denn der statistische Blick interessierte sich nicht für die schwer bestimmbaren qualitativen und individuellen Voraussetzungen, die im Einzelfall zu einer Erkrankung führten oder nicht. Vielmehr versuchten die Statistiker, die aufwendig gemessenen und dokumentierten Staubkonzentrationen mit dem Ausbrechen und dem Schweregrad BBA 16/2494, Niederschrift über die 10. Sitzung des Ausschusses für Staub- und Silikosebekämpfung am 30. November 1956, 15.05.1957. 53 BBA 35/369, Steinkohlenbergbauverein, Rundschreiben Nr. 46, 23.08.1956. 54 BBA 35/369, Steinkohlenbergbauverein, Rundschreiben Nr. 37, 27.07.1957. 52
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der Staublunge zu korrelieren und probabilistisch umfassend auszuwerten. Die Frage lautete, wieviel des aus Sicht der Experten nie vollkommen zu eliminierenden Feinstaubs den Arbeitern zuzumuten wäre, damit sie im Laufe ihres Lebens wahrscheinlich nicht an einer (entschädigungspflichtigen) Staublunge erkranken würden. Dieser epistemische Wandel im Wissensfeld vollzog sich jedoch nur allmählich. In der betrieblichen Praxis der Arbeitseinsatzlenkung nahm zunächst noch die bekannte Problemwahrnehmung der „Staubanfälligen“ eine prominente Rolle ein. Obschon bei den strengen Erstuntersuchungen, also bevor Arbeiter überhaupt in den Bergbau gelangten, all jene für untauglich erklärt wurden, von denen man aufgrund familiärer Vorbelastungen oder überhaupt jedem Verdacht auf bereits vorhandene Lungenveränderungen auf eine besondere Disposition auch gegenüber der Silikose schloss, wurden immer wieder Fälle beobachtet, in denen aktive Bergarbeiter bei den regelmäßigen Nachuntersuchungen besonders schnell auffällige Veränderungen im Röntgenbild zeigten. Die Spezialdiagnostik zu einer solchen Früherkennung wurde in der Medizinischen und neurologischen Klinik am Bergmannsheil Bochum unter Chefarzt Otto Zorn durchgeführt.55 Die Zahl der „zu Silikose neigende[n] junge[n] Bergleute“ wurde 1955 auf etwa 350 Mann im gesamten Ruhrgebiet beziffert. Medizinisch seien sie zwar vollkommen gesund; dennoch müsste von einer besonderen Empfindlichkeit gegenüber der untertägigen Staubeinwirkung ausgegangen werden. Durch Maßnahmen der Berufsfürsorge sollten diese Männer zu anderen Berufen umgeschult werden, auch um ihnen den Übergang in andere Industriezweige zu ermöglichen.56 Als Rechtsgrundlage wurde die Reichsversicherungsordnung angeführt, in der die Eckpfeiler des bundesrepublikanischen Sozialrechts geregelt waren: Diese sah solche Maßnahmen allerdings für nur für Berufskranke vor und die Berufsgenossenschaft legte größten Wert darauf, dass es sich bei den betroffenen Bergleuten nicht um „Frühsilikotiker“, also Kranke, sondern lediglich um potenziell „Staubanfällige“ handelte, die nach ärztlicher Diagnose allenfalls eine symptomlose, „eben leichte“ Silikose aufwiesen und deshalb nicht an einer versicherungspflichtigen Krankheit litten. Das Gesetz ließ sich deshalb nicht ohne Weiteres anwenden. Schon in den vierziger Jahren hatten die Betriebe alle Mühe gehabt, vermeintlich staubärmere Arbeitsplätze für bereits erkrankte Bergarbeiter zu finden und die Berufsgenossenschaft hatte zumindest übergangsweise Ausgleichsrenten gezahlt, um den geringeren Lohn in einer weniger staubgefährlichen aber auch teilweise deutlich geringer vergüteten Arbeit zu kompensieren. Jeder, der mutmaßlich staubanfällig war und den Betrieb verließ, bedeutete deshalb eine materielle Entlastung für die Unfallversicherung. Allerdings besaßen die Berufsgenossenschaft und der begutachtende Arzt IGF H0076, Anlage zum Rundschreiben Nr 15/1953, Merkblatt über den Arbeitseinsatz von Bergleuten mit Beschäftigungsbeschränkungen aus Gründen der Silikoseverhütung, 04.07.1953. 56 sv:dok 15/1149, Niederschrift über die 8. Sitzung des Genossenschaftsvorstandes der Bergbau-Berufsgenossenschaft am 3. Juni 1955, 15.07.1955. 55
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keinerlei Zwangsmittel und konnten sich auch nicht auf das Sozialrecht berufen: Den Betrieb blieb nur, den Betroffenen „nahezulegen“, zur Verhütung einer Berufskrankheit die Beschäftigung unter Tage schnellstmöglich aufzugeben. Zwischen Bergmann und Betrieb konnten darüber Einvernehmen, aber auch unterschiedliche Auffassungen bestehen. Durch die mögliche Kündigung des bestehenden Arbeitsverhältnisses und den Wechsel in einen anderen und möglicherweise gar nicht erwünschten, zum Beispiel kaufmännischen Beruf, sahen sich Bergleute in ihrer beruflichen Autonomie beschränkt, vor allem dann, wenn sie sich in ihrer Gesundheit subjektiv gar nicht beeinträchtigt fühlten.57 Der Fall eines Noch-nicht-Erkrankten, aber für die Krankheit „Anfälligen“ war indes ein Novum für die berufsgenossenschaftliche Versicherungspraxis. Zwar existierten ältere Regelungen für den Umgang mit Arbeitern, die ihre bisherige Tätigkeit nicht mehr ausüben konnten. Für sie bestand ein Anspruch auf Berufsfürsorge. Dieser galt jedoch nur für Unfallverletzte. Nach Auffassung der Bergbau-Berufsgenossenschaft fielen „Bergleute, bei denen die Gefahr besteht, daß bei einer Weiterbeschäftigung unter Tage eine Berufskrankheit entsteht“, nicht darunter, denn sie waren ja nicht krank und auch nicht verletzt im Sinne einer Beeinträchtigung ihrer körperlichen Leistungs- und Arbeitsfähigkeit.58 Dadurch bestand abgesehen von möglichen Übergangsleistungen aus der Unfallversicherung kein dauerhafter Rentenanspruch, etwa durch die knappschaftliche Rentenversicherung. Aus Sicht der betroffenen „Frühanfälligen“ ergab es deshalb Sinn, sich entschieden gegen diese Einstufung zu wehren. Die Betroffenen sollten deshalb schließlich doch berufsfürsorgerische Unterstützung für eine Umschulung erhalten, damit sie unter möglichst geringen finanziellen Einbußen vom Bergbau Abschied nehmen konnten. Im Beratenden Ausschuss des Vorstands der Bergbau-Berufsgenossenschaft wurde die Praxis im Herbst 1959 noch einmal bekräftigt, nachdem Bundesarbeitsminister Anton Storch anlässlich der Eröffnung eines knappschaftlichen Versorgungsheims das Recht und die Pflicht der Berufsgenossenschaft betont hatte, solche Maßnahmen für junge Bergleute zu ergreifen.59 Es gehe nunmehr darum, […] dass der Lebensstandard, den der Betroffene im bergmännischen Leben sich erworben hat, etwa erhalten bleibt. Dies ist umso mehr erforderlich, wenn eine Beschäftigungsmöglichkeit im entsprechenden Sozialstand auf dem Werk selbst übertage nicht gegeben ist.60
Vgl. dazu exemplarisch: sv:dok 15/3276, Grubensteiger Heinz M. gegen die Bergbau-Berufsgenossenschaft, Az. S 9 KnU 174/63, 04.06.1965. 58 sv:dok 15/3276, Anfrage des Ringes ehemaliger Bergschüler e. V. über Umschulungen berufskranker Bergleute, 30.04.1959. 59 sv:dok 15/3276, Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Beratenden Ausschusses am 13. und 14.10.1959. 60 sv:dok 15/3276, Bergbau-Berufsgenossenschaft/Bergwerksdirektor Bergassessor Vahle, 25.02.1959. 57
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Geschulte Berufsfürsorger und neu eingestellte Arbeitspsychologen unterstützten ab 1960 staubanfällige jüngere Bergarbeiter beim Berufswechsel in eine andere, „zumutbare“ Beschäftigung.61 Das Auftreten einer entschädigungspflichtigen Silikose sollte damit bereits im Vorfeld verhindert werden. In der „Staubanfälligkeit“ war die bloße Möglichkeit einer späteren Erkrankung somit bereits eingepreist. Die Krankheit wurde als Risiko greifbar. 4.3
Risikoregulierung, Probabilismus 1960–65
Die Regulierung der Silikose mit Hilfe der Arbeitseinsatzlenkung verwischte allmählich die Grenzen dessen, was die Silikose zu sein schien. Das Wissen über die Silikose hatte bislang vor allem darin bestanden, Krankheit von Gesundheit klar voneinander zu unterscheiden, die Silikose von anderen Lungenerkrankungen abzugrenzen und prädisponierte Arbeiter frühzeitig zu erkennen. Die probabilistische Deutung machte sie nun zu einem Wahrscheinlichkeitsproblem mit einem interpretationsbedürftigen Spektrum. Der einzelne Bergmann in seiner eigenen körperlichen Erfahrung spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Im präventiven Vorgriff auf seine zukünftige Gesundheit ging es für die Berufsgenossenschaft und die Bergbauunternehmen vorrangig darum, die immensen finanziellen Schadenssummen zu verringern. Abhängig von verschiedenen beeinflussbaren Faktoren war die Silikose ganz im Sinne von Niklas Luhmann62 von einer unwägbaren „Gefahr“ zum zu einem prinzipiell beherrschbaren „Risiko“ geworden. Die Zukunft schien sich nun umfassend berechnen und gestalten zu lassen. Die Karteikarte „Tätigkeitsnachweis und Staubbelastung“ avancierte nach ihrer Einführung zum beliebten Untersuchungsgegenstand der Silikose-Experten, die mit diesem Datenschatz nach Korrelationen zwischen den erfassten statistischen Werten suchten. Im Vordergrund stand aber die Suche nach verbindlichen Grenzwerten, die den Bergleuten zuzumuten seien, ohne dass sich versicherungsrechtlich relevante Lungenveränderungen bildeten. Im Ausschuss für Staub- und Silikosebekämpfung einigten sich die Mitglieder bereits im Frühling 1958 darauf, dass erste Auswertungen der Karteikarten ins Auge gefasst werden sollten, um diese „zur Klärung der verschiedenen Fragen“ zu nutzen. Der Unterausschuss der Staubbeauftragten, in dem die Kar-
sv:dok 15/3276, Bergbau-Berufsgenossenschaft, Bezirksverwaltung Bochum/I. G. Bergbau, Ortsgruppe I, 22.04.1960. 62 Demnach ist der entscheidende Wesenszug des Risikos, dass es in Abgrenzung zur nicht greifbaren lauernden Gefahr stets bewusst herbeigeführt ist. Trotz der zu erwartenden Konsequenzen wird gehandelt um der zu erreichenden Ziele wegen. Das Risiko entspricht dem Wissen über die Eintrittswahrscheinlichkeit dieser negativen Konsequenzen. Vgl. dazu in aller Ausführlichkeit Luhmann 1993, S. 138–185. 61
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teikarte entstanden war, sollte einen entsprechenden Arbeitskreis einrichten, um die umfassende Auswertung vorzubereiten.63 Wenige Jahre später, 1961, stellte der Steinkohlenbergbauverein die erzielten Ergebnisse der Fachöffentlichkeit in der Zeitschrift Glückauf vor. Auf der Grundlage der Karteiakatendaten wurde in den ersten großangelegten statistischen Auswertungen die so genannte „Staubsumme“, also der Wert, der die gesamte Menge des jeweils vom einzelnen Bergmann eingeatmeten Staubes abbilden sollte, mit dessen routinemäßig dokumentierten ärztlichen Lungenbefunden in Beziehung gesetzt. Die Auswertung ergab statistisch eine deutliche Korrelation zwischen der Staubsumme und dem Schweregrad der Lungenbefunde. Die Ergebnisse wirken zwar retrospektiv nicht überraschend, sie waren aber aus zweierlei Gründen eine gute Nachricht für die Betriebe: Sie zeigten zum einen, dass die ermittelten Messergebnisse für die Praxis brauchbar waren; schließlich war nach den Auseinandersetzungen über die richtige Messtechnik noch nicht klar gewesen, welche Aussagekraft die ermittelten Werte überhaupt besitzen würden. Zum anderen schien sich bereits nach der relativ kurzen Zeit, die seit der 1957 verbindlich gewordenen umfassenden Datenerhebung vergangen war, zu zeigen, dass die darauf beruhende Lenkung des Arbeitseinsatzes Wirkung zeigte. Entsprechend optimistisch fiel das Resümee der Experten aus: Die Arbeitseinsatzlenkung erfüllt also ihren Zweck, und es dürfte sicherlich gelingen, das Fortschreiten von Staubveränderungen der Lungen so stark zu verlangsamen, daß die Veränderungen nicht zu einer Minderung der Lebenserwartung und der Einschränkung der Gesundheit und der Erwerbsfähigkeit führen.64
Aus Sicht der Bergbauunternehmen schien der Fall damit klar. Nachdem alle medizinischen Experimente mit Kautabletten, Inhalierräumen und Inhaliergängen keine eindeutigen Ergebnisse erbracht hatten und sich der gefährliche Staub nicht restlos beseitigen ließ, erwies sich die Methode, die Bergarbeiter unter Tage genauer zu überwachen und ihren Arbeitseinsatz zu lenken nicht nur als effektiver, sondern sie lieferte den statistisch gut nachvollziehbaren Beweis ihrer Wirksamkeit gleich selbst mit: Die Datenerfassung, auf der die Arbeitseinsatzlenkung beruhte, akkumulierte eindeutige Messwerte und nach Kategorien aufgeschlüsselte ärztlichen Untersuchungsbefunde, die – beide in der Kartei vereint – nur noch ins Verhältnis gesetzt werden mussten und im Laufe der Zeit eine retrospektiv nachvollziehbare und verlässliche Historie mit starken Kausalmustern abbildeten. Diese Form der praktischen Risikoregulierung erschien als eine echte Innovation bei der betrieblichen Bekämpfung der Silikose. Die Innovation war auch eine diskursive, denn das Silikose-Problem wurde nun mit Hilfe einer statistischen Semantik eingehegt. Zweifellos, das darf an dieser BBA 16/2494, Niederschrift über die 11. Sitzung des Ausschusses für Staub- und Silikosebekämpfung am 17.4.1958, 05.07.1958. 64 Hawner/Hermanns 1961, S. 1142–1145. 63
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Stelle nicht unerwähnt bleiben, wurden die Maßnahmen zur Staubverhütung und Staubniederschlagung im Laufe der fünfziger Jahre deutlich ausgeweitet und auch auf Zechen gebracht, die bis in die vierziger Jahre kaum oder gar keinen Gebrauch von ihnen gemacht hatten. Technische Neuerungen bei der Förderung und der massive Ausbau von Druckwasserleitungen, um auf Wasser basierende Staubbekämpfungsmaßnahmen verfügbar zu machen, hielten im Laufe der fünfziger Jahre überall in den Bergwerken des Ruhrgebiets Einzug. Gleichzeitig führte die weiter vorangetriebene Mechanisierung des Bergbaus in dieser Zeit aber auch zu noch größeren Staubmen-
Abb. 7 Zeitgenössische schematische Darstellung der betrieblichen Regulierung (1961) Quelle: Heidemann, Wilhelm/Schulte, Karl, Entwicklung und Aufbau des Ausschusses für Staubund Silikosebekämpfung sowie Stand der Arbeiten, in: Glückauf 97/19 (1961), S. 1130–1132, hier S. 1131.
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gen, die sich noch schwerer beherrschen ließen. Das galt vor allem dort, wo neue und leistungsfähigere Gewinnungsmaschinen zum Einsatz kamen, die die Ingenieure vor größere praktischere Herausforderungen bei der Unterdrückung dieses Staubes stellten.65 So gelang es letztlich nie, mittels technischer Maßnahmen mit der wachsenden Staubentwicklung Schritt zu halten und die zentrale Ursache der Silikose vollständig zu beseitigen. Auch Staubschutzmasken und so genannte Frischluft- oder Schlauchatmer, die den Arbeitern über eine Maske, einen Schlauch und das untertägige Druckluftsystem staubfreie Luft zuführen sollten, blieben weiterhin nur eingeschränkt praktikabel. Das Dortmunder Oberbergamt verteidigte gegenüber den Betrieben sogar einzelne Bergleute, die es ablehnten, solche Schutzmasken dauernd zu tragen, wenn sie sich dadurch bei ihrer Arbeit behindert fühlten. Die damit verbundenen Einschränkungen seien ihnen nicht zuzumuten. Vielmehr müsse neben der technischen Staubbekämpfung vor allem „der richtige Arbeitseinsatz der Bergleute mit Staubveränderungen der Lunge […] mit größter Aufmerksamkeit verfolgt werden.“66 Eine staatlich verordnete Pflicht für Bergleute, Staubmasken zu tragen, wurde im Steinkohlenbergbau der Bundesrepublik letztlich nie eingeführt. Die entwickelten Masken und Schlauchatmer wurden zwar technisch immer besser, als Mittel der Silikoseverhütung sollten sie aber anderen Maßnahmen der Staubbekämpfung nicht gleichgesetzt werden, weil „nur in Ausnahmefällen die Maske während der ganzen Schicht getragen werden“ könne.67 In Vorbereitung für eine 1970 in Genf stattfindende Tagung der Internationalen Arbeitsorganisation hieß es dazu im Bericht der Bundesrepublik über den Stand der Dinge lediglich: Für den persönlichen Staubschutz stehen der Belegschaft in ausreichendem Umfang Staubmasken zur Verfügung, deren Wirksamkeit gutachtlich geprüft ist. Ein Zwang zum Tragen der Masken wird jedoch nicht ausgeübt. Die Verwendung ist der Entscheidung des einzelnen Belegschaftsmitglieds überlassen. Die Reinigung und Wartung der Masken wird vom Arbeitgeber veranlaßt. Dafür sind besondere Masken-Körper-Waschmaschinen eingesetzt.68
In der täglichen Praxis lief die Steuerung des Arbeitseinsatzes allerdings nicht immer reibungslos. Das betraf einerseits die routinemäßigen Messungen für die Staubkartei,
Konferenz der Sachverständigen für Staubverhütung und Staubbekämpfung im Bergbau, in Steinbrüchen und in Tunnelbaubetrieben beim Internationalen Arbeitsamt in Genf, in: Kompass 66/9 (1956), S. 105–110, hier S. 106. 66 Bergamt Recklinghausen 1/Emscher-Lippe Bergbau A. G., Abschrift Oberbergamt Dortmund, 09.02.1957. 67 Erläuterungen zu der vom Oberbergamt in Dortmund herausgegebenen Sammelliste der geprüften und nicht beanstandeten Atemschutzgeräte, in: Kompass 79/6 (1969), S. 153–156. 68 BArch B149/36122, Bericht der Regierung der Bundesrepublik Deutschland für die Vorbereitung der 9. Tagung des Ausschusses für den Kohlenbergbau der Internationalen Arbeitsorganisation, 13.12.1969. 65
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und andererseits vor allem, wie diese Kartei in den Betrieben geführt wurde. Offenkundig wurde die sehr unterschiedliche Handhabung der Karteikarten allerdings erst 1961, nachdem die auf den verschiedenen Zechen gesammelten Daten zum ersten Mal im großen Stil von der Hauptstelle zur statistischen Auswertung erhoben worden waren. Um die Karteikartenführung stärker zu vereinheitlichen, wurden die auf den jeweiligen Zechen verantwortlichen Personen vom Steinkohlenbergbauverein zu Nachschulungskursen gebeten.69 Die staatlichen Bergämter waren hier nicht eingebunden, sie beschränkten sich weiterhin darauf, die ausgebildeten Personen formal zu verpflichten. Auch bei der personellen Umsetzung der Arbeitseinsatzlenkung selbst gab es einige Reibungen, gleichwohl sich keine ausgeprägte Beschwerdekultur gegen wahrgenommene Verstöße gegen den Schutz vor schädlichem Staub nachweisen lässt. Ein exemplarischer Fall für die betrieblichen Konflikte, die entstehen konnten, war die Beschwerde des Oberhausener Bergmanns Kurt B., er sich im Dezember 1964 an die Bergbau-Berufsgenossenschaft wandte. Eigenen Angaben zu Folge war er nach ärztlichem Urteil seit 1961 als bedingt tauglich für die Arbeit an staubbelasteten Orten eingestuft. Die vorgesetzten Steiger nähmen darauf jedoch keine Rücksicht: Ich sollte im Streb eine Arbeit verrichten. Es war mir bekannt, daß dort zu diesem Zeitpunkt der Bruch angebohrt wurde, wie üblich trocken. Ich machte den Steiger, Herrn H., darauf aufmerksam. Es nützte nichts, ich mußte in den Streb, da er mir mit Hauer-Mindestlohn und mit einer Geldbuße von 10 DM drohte. Im Streb waren drei Mann mit Bohrarbeiten beschäftigt, der Spülkopf war nicht am Wasser angeschlossen, sondern an der Luft. […] Ich weiß, daß Trockenbohren grundsätzlich verboten ist, es sei denn mit Absauggerät. Ich sehe nicht ein, daß ich meine Gesundheit, mein höchstes Gut, wegen der Gleichgültigkeit Anderer aufs Spiel setzen soll. […] Mein Fall ist gegenüber anderen eine Bagatelle, es gibt härtere Sachen. […] Ich bin in dieser Angelegenheit nur der Beschwerdeführer, eine Gruppe geschädigter Kumpels steht hinter mir. […] Wenn Herr Steiger H. Sicherheitssteiger werden sollte, können wir jetzt schon unser Testament machen und einen Sarg bestellen, der Mann trägt eine rosarote Brille.70
Doch die Bochumer Bezirksverwaltung der Bergbau-Berufsgenossenschaft verwies auf das zuständige Oberbergamt, denn man habe lediglich noch einen Sachbearbeiter für stichprobenhafte eigene Staubmessungen zur Verfügung und müsse sich auf die Angaben der Betriebe verlassen.71 Das Oberbergamt Dortmund wies die Beschwerde jedoch ab. Nicht nur mache B. sich „unaufgefordert zum Sprecher der Betroffenen“ und könne keine Beweise für seine Behauptungen vorbringen; auch würden seine BeBBA 35/369, Steinkohlenbergbauverein, Rundschreiben Nr. MZ 15, 20.03.1961. sv:dok 15/456/1, Kurt B./Bergbau-Berufsgenossenschaft, 15.12.1964. sv:dok 15/456/1, Bergbau-Berufsgenossenschaft, Bezirksverwaltung Bochum/Hauptverwaltung, 01.03.1965.
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fürchtungen nicht vom Betriebsrat und vom Betriebsratsvorsitzenden geteilt. Überdies stellten seine Bedenken gegen den Steiger H. seine persönliche Meinung dar, der sich die Betriebsführung nicht angeschlossen habe.72 B. ließ nach seiner Beschwerde in ein anderes Revier verlegen, wie er angab, um weiteren Schikanen aus dem Weg zu gehen. Aus dem Lager der Ärzteschaft kamen indessen kritische Stimmen gegenüber der zunehmend statistischen Herangehensweise an das Silikose-Problem. Die Mediziner wollten sich nicht nur als bloße Datengeber für das System der betrieblichen Arbeitseinsatzlenkung verstanden wissen, die nach Eingruppierung der Untersuchten in ihre jeweilige Beurteilungsziffer irgendwelche Automatismen in Gang setzten. So sah es zumindest der Mediziner und Werksarzt Martin Bartholomae – selbst Mitglied im Ausschuss für Staub- und Silikosebekämpfung – der 1961 über die betriebliche Gesundheitspflege reflektierte und die gewachsene Bedeutung des nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen werksärztlichen Dienstes betonte: In den Jahren 1951 bis 1960 seien im Ruhrbergbau 712.262 Anlegeuntersuchungen und 1.185.823 Nachuntersuchungen durchgeführt worden, und zwar immer häufiger durch die Werksärzte, die 1958 für Dreiviertel der Anlege- und Zweidrittel der Nachuntersuchungen verantwortlich zeichneten. Nach dem Stand des Jahres 1960 waren durch die Ärzte für etwa ein Fünftel der aktiven Ruhrbergleute entsprechende Einschränkungen ausgesprochen worden.73 Die umfangreichen statistischen Auswertungen dieser Gesundheitsdaten sollten aber nicht davon ablenken, dass es den Werksärzten immer um die „ganze Person“ gehen solle, denn es gelte, „Veranlagung, Konstitutionstyp, Verhaltensweise bei der Arbeit, Fragen der gesundheitlichen Lebensführung und anderes mehr“ und ihren möglichen Einfluss auf die Silikose im Blick zu behalten.74 Kurzum, es waren eben jene individuellen Aspekte der medizinischen Betrachtung des Silikose-Problems, die mit der systematischen Einführung der quantitativ-statistisch ausgerichteten Arbeitseinsatzlenkung als Handlungswissen für die betriebliche Regulierung in den Hintergrund gerückt waren. Die meisten Bergbaubetriebe hatten ab 1951 eigene werksärztliche Dienste. Die damalige DKBL hatte in ihrer „Kommission für soziale Aufgaben im Kohlenbergbau“ im selben Jahr die Leitlinien für einen solchen Dienst entworfen. Darin waren „die Erhaltung und Förderung der Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Arbeits- und Lebensfreude der Belegschaft“ als vordringliche Ziele definiert worden. Die unverbindlichen Vorgaben der DKBL-Leitlinien differenzierten sich in den darauffolgenden Jahren zu verschiedenen Aufgabenbereichen innerhalb der betrieblichen Gesundheitsfürsorge aus und sollten durch weitere Angebote der vorbeugenden Gesundheitspflege einer-
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sv:dok 15/456/1, Oberbergamt Dortmund/Kurt B., 12.04.1965. Bartholomae 1961, S. 1139–1142, hier S. 1141. Ebd., S. 1142.
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seits und Gesundheitserziehung andererseits gerahmt werden.75 Nach der Auflösung der DKBL setzte sich die betriebliche Zusammenarbeit auf der Ebene des Werksärztewesens im Steinkohlenbergbauverein und seinen Ausschüssen fort. Der Kreis der Werksärzte war dort aber nicht gegenüber anderen Gruppen privilegiert. Die Mediziner waren wichtig für die Regulierung der Silikose, doch ihre professionelle Rolle blieb klar eingegrenzt. Ähnlich verhielt es sich auch mit den Staubbeauftragten, die von der Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung ausgebildet wurden. Ihre Rolle als Aufsichtspersonen war in der Bergverordnung festgeschrieben worden. Auch die von der Hauptstelle entworfenen Ausbildungspläne wurden bergbehördlich genehmigt. Als qualifiziertes Fachpersonal waren sie dafür zuständig, den Arbeitseinsatz der Belegschaft zu steuern. In der betrieblichen Regulierungspraxis waren sie damit der betriebspraktische Knotenpunkt, an dem die Messergebnisse und die Ergebnisse der ärztlichen Untersuchungen zusammenliefen. Ab den sechziger Jahren kam der Lenkung der „B2-Leute“ eine immer wichtigere Rolle zu.76 Bei diesen Bergleuten handelte es sich nach den Kategorien der Kartekarte aus ärztlicher Sicht um Männer mit beginnender Silikose, die aber noch weitgehend frei von körperlichen Symptomen waren. Für sie galten besondere Beschränkungen, damit sich das Krankheitsbild nicht weiter verschlechtere. Zugleich waren sie meist langgediente und erfahrene Arbeiter, auf die die Betriebe wegen der nie nachlassenden Nachwuchsprobleme nicht verzichten wollten. Sie durften allerdings nur an Betriebspunkten eingesetzt werden, die bestimmte Staubgrenzwerte erfüllten. Wie der Fall von Kurt B. gezeigt hat, sah die Praxis aber zuweilen anders aus. Je nach Betriebsgröße konnten sich die Überwachungs- und Aufsichtsaufgaben der Staubbeauftragten auf verschiedene Stellen verteilen, etwa auf einen Hauptstaubbeauftragten und auf zentrale Staubmess- oder Auswertungsstellen sowie auf eine zentralisierte Führung der Karteikarten.77 Als leitende Angestellte unmittelbar vor Ort fungierten „Staubsteiger“, die in Sachen Staubbekämpfung den Staubbeauftragten unterstanden. Sie bildeten die Schnittstelle zwischen dem auf dem Papier oder an der Magnettafel geplanten Arbeitseinsatz und dessen praktischer Ausführung unter Tage. Die Professionalisierung der 1953 neugeschaffenen Rolle der Staubbeauftragten im weiteren Verlauf der fünfziger Jahre und in den sechziger Jahren, in deren Ausbildungsplan komplexes theoretisches Wissen über das gesamte Aufgabenspektrum einfloss, strahlte auf die gesamte Ausbildung des höheren bergmännischen Personals aus. Allgemeine Kenntnisse über die betriebliche Staub- und Silikosebekämpfung sollten bereits seit Längerem dem bergmännischen Nachwuchs umfassend vermittelt werden.78
Ebd., S. 1140. Rüger/Wendisch 1964, S. 75–77. IGF H0076, Empfehlung für eine Dienstanweisung für Staubbeauftragte, 05.03.1965. BBA 16/2494, Niederschrift über die 11. Sitzung des Ausschusses für Staub- und Silikosebekämpfung am 17.4.1958, 05.07.1958.
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Weil sich die Lehrgänge für die Staubbeauftragten auf deren ganz spezifische Aufgaben konzentrieren sollte, sollten Teile ihrer Lehrinhalte auf Druck der Unternehmen an den Hoch- und Bergschulen in die Curricula des gesamten höheren bergmännischen Personals einfließen.79 Wie andere Bereiche der Bergbaupraxis wurde die gesamte Regulierung der Silikose zu einem eigenen Spezialgebiet der Betriebsführung unter vielen und sollte auch mit der gleichen Selbstverständlichkeit der unternehmerischen Autorität unterstehen. Wie gefestigt diese inzwischen war, verdeutlichte das Verhältnis des Steinkohlenbergbauvereins zu den staatlichen Bergbehörden. Am 18. Dezember 1964 wurde durch das Oberbergamt Dortmund die neue Bergverordnung verabschiedet, nach der sich an der seit 1954 gepflegten Praxis der Überwachung und der Staubmessungen nichts Wesentliches ändern sollte. Der genaue Turnus der Messungen wurde im Einvernehmen zwischen den Bergbeamten und den Betrieben bestimmt.80 Zugleich wurden die nunmehr im vergangenen Jahrzehnt angehäuften statistischen Daten ausgewertet. In der Folge entbrannte eine langwierige Auseinandersetzung zwischen dem Oberbergamt und dem Steinkohlenbergbauverein darüber, welche wissenschaftlichen Schlüsse aus den seit 1954 akkumulierten Daten zu ziehen seien: Der Steinkohlenbergbauverein brachte sich unter Berufung auf seine Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung und die Fachdiskussionen in seinem Ausschuss selbstbewusst in diesen wissenschaftlichen Diskurs der Experten ein. Die zentrale Frage lautete, welche Schlüsse aus der statistischen Auswertung der Karteikarte für die staatlichen Vorgaben der betrieblichen Regulierung durch die Bergämter zu ziehen seien. Konkret ging es in der Debatte darum, wie die für den gesundheitlich begründeten Beschäftigungsbeschränkungen für bestimmte Bergarbeiter-Gruppen auf der Grundlage der durchgeführten Staubmessungen und ärztlichen Untersuchungen verbindlich ausgestaltet werden sollte. Der Grenzwert, der dem Oberbergamt vorschwebte, ging den Bergbauunternehmen entschieden zu weit. Die Mitglieder des Ausschusses bei der Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung trafen sich außerplanmäßig im Februar 1965 in kleinerer Runde in Oberhausen, um das weitere Vorgehen zu beratschlagen. Das Oberbergamt wollte eine Beschränkung auf 500 Schichten in fünf Jahren in der Staubbelastungsstufe III festschreiben (vgl. Abbildung 5) – aber diese Einschränkung entbehre jedweder wissenschaftlichen Grundlage. Die Ausschussmitglieder sahen dieses wissenschaftliche Fundament naturgemäß in ihren eigenen Berechnungen, die sie mit den von ihnen entworfenen Staubbelastungsstufen ermittelt hatten. Sie waren sich einig, dass die Bergbauunternehmen „mit allen Mitteln“ versuchen sollten, gegen die geplanten Vorschriften anzugehen. Das hieß, das Oberbergamt vom selbst entwickelten „Staubsummenwert“ zu überzeugen, BBA 16/2495, Niederschrift über die 13. Sitzung des Ausschusses für Staub- und Silikosebekämpfung am 8. April 1960, 03.06.1960. 80 LAV NRW W Oberbergamt Dortmund/6198, Oberbergamt Dortmund, Kontrollstaubmessungen der Bergämter, 09.03.1965. 79
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denn dieser werde „den tatsächlichen Verhältnissen unter Tage und dem gewünschten Ziel weit besser gerecht.“81 Ferner ging es auch um die kontroverse Rolle der Werksärzte. Es sei Aufgabe des Steinkohlenbergbauvereins, die Ärzte in den Betrieben über „fachliche Fragen spezieller Art“ – wie sie im Streit zwischen Hauptstelle und Oberbergamt vorlagen – zu unterrichten. Doch die in den Gremien des Vereins organisierten Werksärzte wollten eigene Fachgruppen bilden, um diese fachlichen Fragen zu diskutieren. Wie wir weiter oben gesehen haben, strebten sie eine maßgeblichere Rolle in der gesundheitlichen Regulierung im Bergbau an. Die Unternehmen wiegelten derartige Bestrebungen jedoch ab, dass die Ärzte „oft zu stark auf ihre Sonderstellung verwiesen“ und daraus Sonderinteressen und Deutungsansprüche herleiteten, wobei ärztliche und unternehmerische Beurteilungen in Konflikt geraten konnten. Diese sollten aber nicht Bestandteil des engeren fachlichen Austauschs über die Silikose-Regulierung sein. Hier hatten sich die Werksärzte ins System der betrieblichen Regulierung einzuordnen, sprich, lediglich ihre fachlich eingegrenzten Urteile über die Tauglichkeit der untersuchten Bergarbeiter für die Karteikarte beizusteuern. Die Gestaltungsansprüche des Oberbergamts Dortmund konnte der Steinkohlenbergbauverein jedoch nicht mit einem solchen Machtwort in die Schranken weisen. Um die neuen Beschäftigungsbeschränkungen, die erst Ende 1966 in Kraft treten sollten, trotzdem abzuwehren, schlug der Ausschuss die Anfertigung eines umfassenden „Gutachtens“ vor. Wegen der bestehenden Schonfrist blieb noch Zeit, das Oberbergamt davon zu überzeugen, dass es falsch lag.82 Einen solchen Großversuch „am Menschen“ lehnte dieses entschieden ab, solange die Richtigkeit der Hypothese des Ausschusses nicht mit „an Sicherheit grenzender“ Wahrscheinlichkeit garantiert sei.83 Ende Oktober 1964, hatte in Essen eine „Informationstagung über Staubgrenzwerte“ stattgefunden. Mit Verweis auf die auf der Tagung präsentierten Forschungsarbeiten unterfütterte der Steinkohlenbergbauverein seinen Überzeugungsversuch und beantragte eine Ausnahme, um die Arbeitseinsatzlenkung unter Tage nach dem vom Ausschuss ersonnenen Verfahren der „Staubsumme“ durchzuführen. Danach sollte über den Zeitraum eines Jahres das akkumulierte „Staubdepot“ gemäß der am Arbeitsplatz gemessenen Staubwerte überwacht werden. Würden bestimmte Schwellenwerte überschritten, sollte dies eine frühere ärztliche Untersuchung und die Versetzung an staubärmere Arbeitsplätze veranlassen, bis die jährlich für zulässig befundene Staubmenge wieder unterschritten war.84 In dieser Debatte teilten nicht alle betrieblichen BBA 16/2496, Niederschrift über eine Besprechung im kleinen Kreis über Fragen der Staub- und Silikosebekämpfung am Donnerstag, dem 11. Februar 1965, 24.02.1965. 82 IGF H0932, Entwurf: Auftrag für ein Gutachten über die derzeitig möglichen Methoden zur Arbeitseinsatzlenkung im Steinkohlenbergbau, 19.07.1965. 83 IGF H0932, Oberbergamt Dortmund/Steinkohlenbergbauverein, 02.08.1965. 84 IGF H0076, Entwurf: Antrag auf Bewilligung einer Ausnahme von den Bestimmungen der §§ 21 Abs. 1 bis 3 und 14 Abs. 2 der BVOSt vom 18.12.1964, 11.08.1965. 81
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Vertreter den Standpunkt des Steinkohlenbergbauvereins. So meldete ein Ingenieur der Dortmunder Bergbau AG Zweifel an, ob der „Staubsummenwert“, der gerade von Vertretern der Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung als geeignetes Richtmaß propagiert wurde, „der Weisheit letzter Schluß“ sei,85 und sandte dem kaum in die Debatte eingebundenen Silikose-Forschungsinstitut eine mehrseitige eigene Ausarbeitung zu, in der er seine statistischen und praktischen Beobachtungen darlegte. Im September 1965 erteilte der Steinkohlenbergbauverein einen Auftrag über ein „Gutachten zur Arbeitseinsatzlenkung im Steinkohlenbergbau“, das von einem sechsköpfigen Gutachterausschuss – überwiegend bestehend aus Medizinprofessoren – ausgearbeitet und im Juli 1966 vorgelegt wurde.86 Auf knapp fünfzig Seiten nahmen die Gutachter zu statistischen Modellen der Arbeitseinsatzlenkung ausführlich Stellung. Bei dieser würden „Bergleute mit hoher Staubbelastung von besonders exponierten Betriebspunkten weggenommen“ und „an diesen Punkten müssen dann Arbeiter von geringer gefährdeten Arbeitsplätzen eingesetzt werden.“ Damit handle es sich lediglich um „Verschiebungen bei konstanter Summe aller Expositionen“. Der unvermeidbare Feinstaub, der an den bergmännischen Arbeitsplätzen entstand und sich in der untertägigen Luft verteilte, wurde möglichst gleichmäßig auf alle Lungen verteilt, um einen „Risikoausgleich“ zwischen den Arbeitern zu erzielen.87 Die offene Frage blieb, inwieweit sich dieser theoretische Risikoausgleich in einer tatsächlichen Verminderung der entschädigungspflichtigen Silikosen materialisierte, die hier als maßgeblich angesehen wurden. Das in Auftrag gegebene Gutachten stützte im Wesentlichen das vom Steinkohlenbergbauverein favorisierte Modell: Die Gesamtstaubmenge sollte allein schon deshalb „bei der gewerbehygienischen Beurteilung einer Staubbelastung im Vordergrund stehen“, weil eine im Röntgenbild ersichtliche massive Staubbelastung die Betroffenen zu einer Berufskrankheiten-Rente berechtigen könnte, selbst wenn die Vernarbung im Lungengewebe noch geringfügig wäre.88 Auch hier zeigte sich wieder die enge Verzahnung von betrieblicher Präventions- und berufsgenossenschaftlicher Versicherungspraxis im Wissensfeld der Silikose.89 Der Streit zwischen dem Steinkohlenbergbauverein und dem Oberbergamt zog sich schließlich bis ins Jahr 1968, als sich das Oberbergamt schließlich doch auf den „Staubsummenwert“ einließ, wenn in dieser Rechnung in irgendeiner Form auch der „Mineralfaktor“ berücksichtigt werde, den die hauseigenen Experten des Oberbergamts immer noch für entscheidend hielten, gleichwohl hierzu noch nicht genug empirische Ergebnisse vorlagen, welche die Expertengemeinschaft zu einem Konsens über dessen IGF H0074, Dortmunder Bergbau Aktiengesellschaft, Dr. Flügge/Silikose-Forschungsinstitut, 15.05.1967. IGF H0934, Gutachten zur Arbeitseinsatzlenkung im Steinkohlenbergbau, 07.1966. Ebd., S. 19. Ebd., S. 44. Wichtiger Advokat des hier so umstrittenen Modells der Arbeitseinsatzlenkung war der Ingenieur Manfred Reisner, dessen Dissertation zum Thema dezidierter Kerngegenstand des Gutachtens gewesen war und der umfassend zu seiner auf statistischen Verfahren beruhenden Forschung publizierte.
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Bedeutung hätte zusammenbringen können. An den Treffen zwischen Vertretern des Steinkohlenbergbauvereins und des Oberbergamts nahmen auf Einladung auch Angehörige des Silikose-Forschungsinstituts teil, die wiederum ihre eigenen Auffassungen und Bedenken vorbrachten. In Kooperation mit anderen medizinischen Instituten sei man gerade noch damit beschäftigt, die „gesamte Problematik“ zu erforschen, abschließende Ergebnisse lägen aber erst in zwei Jahren vor. Der Kompromiss sollte aber jetzt, 1968, endlich zu Stande kommen: Das Oberbergamt Dortmund kritisierte einen weiteren mehrjährigen Aufschub als „nicht mehr vertretbar“. Um den Wünschen des Oberbergamtes gerecht zu werden, flocht der Steinkohlenbergbauverein schließlich die „Quarzfeinstaubkonzentration“ in das schematische Stufenmodell mit ein, die unter bestimmten Bedingungen gesondert gemessen werden und ab einem bestimmten Schwellenwert eine frühere medizinische Untersuchung veranlassen sollte.90 Aus der Reihe der Mess- und Bestimmungsfaktoren, aus denen die Statistiker „das Risiko, sichere Staublungenveränderungen zu erhalten“ zu errechnen versuchten, war eine Unbekannte inzwischen ganz verschwunden: die individuelle Veranlagung. Stattdessen war die Rede von der „unbekannten Staubvorbelastung“.91 Die mutmaßlich „Frühanfälligen“ wurden indessen mit der ärztlichen Beurteilungsziffer „B3“ versehen und rasch aussortiert.92 Diese verbliebene Unbekannte sollte die probabilistische Berechnung des Silikoserisikos aber nicht in Zweifel ziehen. Ende der sechziger Jahre wurde hauptsächlich über die Höhe des festzulegenden Staubsummenwertes über einen Zeitraum von fünf Jahren gefeilscht. Der Vorschlag des Steinkohlenbergbauvereins für den Grenzwert lautete: Tausend Schichten bei einer durchschnittlichen Staubbelastung, „k-Wert“ genannt, von 40, also Staubsumme 40.000. Hieraus ergäbe sich auf Basis der bisher gesammelten statistischen Erfahrungswerte ein zweiprozentiges Risiko, dass im Laufe des Lebens Staubveränderungen in der Lunge auftreten könnten. Die im Ausschuss vertretenen Gewerkschaftsmitglieder unterboten den vorgeschlagenen Grenzwert und forderten 35.000, was einem einprozentigen Risiko entspräche, an einer entschädigungspflichtigen Staublunge zu erkranken. Doch der Steinkohlenbergbauverein mahnte: Eine so geringe zulässige Staubsumme würde in der Praxis notwendigerweise zu einer höheren Fluktuation des Personals und damit auch zu einer 2,3fach höheren Unfallgefahr führen.93
IGF H0932, Niederschrift über eine Sitzung beim Oberbergamt in Dortmund am 16.1.1968, 17.01.1968; IGF H0932, Niederschrift über die Ergebnisse der Besprechung beim Oberbergamt in Dortmund am 16. Januar 1968, 08.02.1968; IGF H0932, Aktenvermerk, 05.03.1968. 91 IGF H0937, Zur Frage des Pneumokoniose- und Unfallrisikos bei der Arbeitseinsatzlenkung nach dem Staubsummenwert, 06.11.1968. 92 Oberbergamt Dortmund 1964, S. 19. 93 IGF H0937, Zur Frage des Pneumokoniose- und Unfallrisikos bei der Arbeitseinsatzlenkung nach dem Staubsummenwert, 06.11.1968; eine umfassende Darstellung extensiver statistischer Untersuchungen über die Verteilung des Silikose-Risikos findet sich bei Reisner 1968, S. 1–112 es drängt sich an dieser Stelle au90
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Die Berechnungen des Silikose-Risikos wurden in den folgenden Jahren zwar komplexer und zunehmend in den Kontext kollaborativer Forschung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft eingebunden, welche zentrale Forschungsmittel in ihren Mitgliedsstaaten verteilte, von denen auch die deutsche Silikoseforschung profitierte. Sie blieben unter dem neuen Begriff der „Maximalen Arbeitsplatzkonzentration (MAK)“ aber in ihren in den sechziger Jahren entstandenen probabilistischen Grundzügen erhalten. Die Fachdebatten drehten sich nun vor allem um Detailfragen. Auch Vergleiche zur Handhabung des Problems im Ausland wurden zur Orientierung herangezogen.94 Auf Grundlage weiter wachsender statistischer Datenschätze ließen sich mit den zu Grunde gelegten Faktoren verschiedene Zukunftsszenarien mit variierenden Risiken für Staubveränderungen in den Lungen entwerfen, deren Referenzrahmen die radiologischen Klassifikationen und der Umfang der Versicherungspflicht war, sprich, wie weit ließ sich die Schwelle zur Rentenberechtigung mit den Mitteln der Arbeitseinsatzlenkung ausreizen. Nach den nun leicht modifizierten Berechnungen lag das Risiko von „Staubveränderungen der Kategorie 2“, die ganz für die Arbeit unter Tage disqualifizierten, bei fünfunddreißig Berufsjahren im Bergbau bei drei Prozent.95 Zu Beginn der siebziger Jahre ging das beständige Katz- und Mausspiel zwischen der stauberzeugenden Mechanisierung des Bergbaus und den arbeitsschutzbezogenen Regulierungsversuchen weiter. Inzwischen sahen sich die Betriebe nicht nur durch die immer größere Leistungsfähigkeit der unter Tage eingesetzten schweren Maschinen unter Druck gesetzt, sondern auch durch die Altersstruktur der Belegschaften. Modellrechnungen prognostizierten, dass das durchschnittliche Alter der Bergarbeiter bis 1980 immer weiter steigen würde, womit im Mittel auch eine höhere Gesamtbelastung durch Staubveränderungen der Lungen zu erwarten seien.96 Während sich die höhere Staubbelastung durch Maschinen „durch den Einsatz von Entstaubungsvorrichtungen in erträglichen Grenzen halten“ ließe, würde der wachsende Anteil nur „bedingt einsatzfähige[r] Bergleute“, die an weniger belastete Arbeitsplätze versetzt werden müssten, hingegen weiter steigen. Neben technischen Verbesserungen komme es deshalb vor allem darauf an, der „Ausbildung und Information der Spezialisten in der Staubbekämpfung und der gesamten Belegschaft […] in Zukunft eine größere Bedeutung beizumessen“.97
genfällig die Reflexivität der Beckschen Risikogesellschaft auf, in der Risiken gegeneinander abgewogen werden. 94 IGF H0288, Niederschrift über die Sitzung der Arbeitsgruppe „Festlegung von Grenzwerten für Stäube“ der Kommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 09.07.1970. 95 IGF H0288, Breuer, Hans: Überlegung zur Festlegung eines MAK-Wertes für die Konzentration des Feinstaubes (Respirable Dust) im Steinkohlenbergbau der Bundesrepublik Deutschland, 09.07.1970. 96 Breuer 1971, S. 514–519. 97 Ebd., S. 519.
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Die gesamte Debatte zeigt exemplarisch, wie weit sich die unternehmerische Expertise über die Regulierung der Silikose von der Bergbau-Berufsgenossenschaft und knappschaftlichen und anderen vor allem medizinischen Experten in den sechziger Jahren emanzipierte und verselbstständigte. De facto besetzten die Bergbaubetriebe alle Schaltstellen der von ihnen selbst entworfenen betrieblichen Silikose-Regulierung: Über die Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung bildeten sie ihre eigenen Messtechniker aus; das Gros der regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen geschah durch die Werksärzte in den Betrieben; die staatlichen Bergverordnungen hatten sich schon 1957 weitgehend den bereits geschaffenen betrieblichen Strukturen angepasst und die unternehmerische Intervention gegen die Bestimmungen der Bergverordnung in den Jahren 1964 bis 1968, die als wissenschaftliche Fach-Debatte ausgetragen wurde, untermauerte überdies die Autonomie und die wirkmächtigen Deutungsansprüche der unternehmereigenen Expertise um die Hauptstelle und den Ausschuss für Staub- und Silikosebekämpfung. Die Debatte verdeutlicht aber auch die wachsende Zahl an Akteuren, die sich an der wissenschaftlichen Debatte beteiligten. Die eigene Forschungsarbeit bei manchen Bergbauunternehmen unterstrich diesen Trend ebenso wie die Grundlagenforschung beim Silikose-Forschungsinstitut sowie die hier nicht näher behandelte Forschung, die europaweit auf Ebene der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl koordiniert wurde. Neue Methoden der elektronischen Datenverarbeitung, die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre nach und nach Einzug hielten und eine maschinelle Karteiführung ermöglichten, haben womöglich zusätzlich dazu beigetragen, dass immer mehr Daten und statistische Modelle abgerufen werden konnten und dem Diskurs zusätzliche Nahrung lieferten.98 In der Folge pluralisierte sich die Debatte, in der sich der Ausschuss für Staub- und Silikose-Bekämpfung des Steinkohlenbergbauvereins aber mit kleineren Zugeständnissen an die Bedenken des Oberbergamtes durchsetzen konnte. Die letztendliche Zuspitzung der Debatte auf die so genannte „Staubsumme“, auf die sich neben dem Steinkohlenbergbauverein auch das Oberbergamt und die Gewerkschaft einließen, verdeutlicht außerdem, dass ein probabilistischer Blick auf die Silikose bzw. das Silikose-Risiko rasch an Evidenz und Wirkmächtigkeit gewann, sobald entsprechendes Wissen in kalkulierbarer, also numerischer Form vorlag. Obwohl das grundsätzliche System der Arbeitsplatzwechsel, um die Silikose zu verhindern, bereits lange zuvor praktiziert wurde, hatte es seine Gestalt innerhalb von etwa zwanzig Jahren deutlich verändert. Ursprünglich eingeführt, um „Frühsilikotiker“ schnell zu
IGF H0932, Sachgebiet: Arbeitseinsatzlenkung, Pneumokoniose und Umgebungsfaktoren, Frühdiagnose, Statistik, 19.09.1967 Das sei hier aber als Nebenbefund nur am Rande erwähnt. Entsprechende historiografische Untersuchungen zur Rolle computergestützter Verfahren seit den sechziger Jahren sind rar gesät. Sowohl die Sozialversicherungen als auch die wissenschaftliche Forschung dieser Zeit im Allgemeinen bieten sich hier jedoch als Untersuchungsgegenstände an.
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erkennen und wegen ihrer Untauglichkeit für die Arbeit unter Staubbelastung auszusortieren, schrumpfte die etwaige konstitutionelle Disposition seitens der Bergleute zu einer marginalisierten Größe neben sonstigen Umwelteinflüssen, die einen mutmaßlich verstärkenden oder hemmenden Einfluss ausübten, aber in der Regulierungspraxis nicht mehr gesondert problematisiert wurden.99 Möglich wurde eine solche stille Verschiebung durch die prinzipiell „ergänzungsoffene Grundstruktur des Risikofaktorenansatzes“,100 aus der im Umkehrschluss auch folgte, dass neben der Aufnahme neuer Faktoren alte Stellgrößen wieder aus den Listen verschwinden konnten. In der betrieblichen Regulierungspraxis spielte die „Konstitution“ oder die „Disposition“ zur Silikose schon deshalb bald keine Rolle mehr, weil sie sich nicht quantifizieren ließ. Entsprechend tauchten die Begriffe nur noch in medizinischen Spekulationen über die immer noch nicht befriedigend geklärten Frage der genauen Ursache und Pathogenese der Staublunge auf. Bei allen wachsenden Forschungsaufwendungen verloren Mediziner in der betrieblichen Risikoregulierung indes als Experten weiter an Einfluss. Die routinemäßigen ärztlichen Untersuchungen der Bergarbeiter steuerten nur noch eine einzige Zahl bei, nämlich die Kategorie der Tauglichkeit zur Arbeit unter Staubexposition. Das ermöglichte es den größeren Betrieben ab 1967, die Arbeitseinsatzlenkung Computern vom Typ IBM 360 zu übertragen. Dies führte anfänglich zu einigen Konflikten mit den Bergbehörden, die als sanktionsbefähigte Aufsichtsbehörde die jeweiligen Staubbeauftragten als verantwortliche Personen erhalten wollten und die anonyme digitale Datenpflege auf Magnetbändern zunächst mit einigem Argwohn betrachteten. Vorreiter war die Rheinelbe Bergbau AG, zu der unter anderem die Zeche Zollverein in Essen gehörte. Als der bergbehördliche Aufsichtsbeamte diese Form der Datenpflege erstmals vor Ort überprüfte, staunte er nicht schlecht: Es gab ja gar keine Karteikarten mehr! Stattdessen erhielt er eine lange Liste der geforderten Daten, die der Nadeldrucker des Rechenzentrums vom Magnetband unmittelbar ausgegeben hatte: Seit Januar 1967 werden die üblichen Staubkarteikarten nicht mehr geführt. Die auf den Staubkarteikarten ausgewiesenen Daten und Werte werden elektronisch gespeichert. Auf Verlangen des Bergamtes wird eine Liste gedruckt. […] Das Verfahren erscheint zweckmäßig und bietet die Gewähr für eine vorschriftsmäßige Überwachung der Beschäftigten. Jedoch kann der nach § 24 verantwortliche Staubbeauftragte nicht für die Richtigkeit der Listen, für die termingerechte Nachuntersuchung und für den jeweils den Vorschriften entsprechenden Einsatz der staubgefährdeten Leute verantwortlich gemacht werden.101
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Reisner 1968, S. 1–112, hier S. 13. Leanza 2017, S. 224. LAV NRW W Bergämter/8525, Verfügung B 117.00/66/66, 23.06.1967.
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Aus betrieblicher Sicht war das aber auch gar nicht mehr notwendig, denn der Computer konnte diese Aufgabe viel zuverlässiger und schneller erledigen. Der Staubbeauftragte müsste nur noch entsprechende Maßnahmen anweisen, denn ab Juli 1967 beherrschte die Rechenmaschine automatische Datenabgleiche zwischen dem tatsächlichen Arbeitseinsatz der einzelnen Beschäftigten und den Messwerten an den Arbeitsorten.102 Ende 1967 erteilte das Oberbergamt Dortmund dem Unternehmen schließlich eine Ausnahmegenehmigung dafür, die Karteikartendaten digital auf Magnetband vorzuhalten, verwies jedoch darauf, dass eine Änderung der Vorschriften noch nicht angezeigt sei, solange es noch viele kleinere Betriebe gebe, die sich kein Rechenzentrum leisten könnten und also weiterhin wie gewohnt eine Kartei aus Papier führten.103 Die Digitalisierung des Verfahrens hebt die Programmhaftigkeit der betrieblichen Risikoregulierung der Silikose ab 1964 hervor. Denn die einzige Anpassung, die das Rechenzentrum der Rheinelbe Bergbau AG vornehmen musste, damit der IBM 360 die Daten der Staubkartei verarbeiten konnte, war die Umstellung der Tauglichkeitskategorien von lateinischen auf arabische Ziffern. Darüber hinaus erledigte die Maschine von Geisterhand, was der Staubbeauftragte bislang unter Überwachung durch die zuständigen Bergämter von Menschenhand zu besorgen hatte (bei größeren Betrieben im Übrigen aber auch vorher bereits mit der Unterstützung von Lochkartenmaschinen). Das Programm blieb grundsätzlich dasselbe, es war lediglich in die binäre Welt übersetzt worden. Individuelles Fehlverhalten, dem mit paternalistischen Erziehungsapellen beizukommen war, oder die Mysterien der individuellen biologischen Veranlagung des einzelnen Bergarbeiters spielten längst keine Rolle mehr. Die organisationale Regulierungspraxis auf der Grundlage klar bestimmbarer Richtwerte war diesen Deutungen inzwischen entrückt und wurde durch die programmhaft-digitalen Automatismen einer abstrakten Staubsummenformel bestimmt. Von dieser anscheinend leviathanischen betrieblichen Hochwarte aus gesehen existierte das in früheren Jahrzehnten intensiv verhandelte Problem der einzelnen Lunge mit ihrer schwer zu verstehenden Physiologie sowie der kaum nachvollziehbaren Biografie ihres Trägers nicht mehr. Als Versicherungs- und damit Kostenproblem ging die Masse der Gefährdeten im Risikokalkül auf.
102 LAV NRW W Bergämter/8525, Niederschrift über die Besprechung des Antrags der Dortmunder Bergbau AG vom 13.4.1967 bzw. der Rheinelbe Bergbau AG vom 26.4.1967 auf Bewilligung einer Ausnahme von den §§ 22 und 23 BVOSt am 10.7.1967, 10.07.1967. 103 LAV NRW W Bergämter/8525, Oberbergamt Dortmund/Rheinelbe Bergbau AG, 28.12.1967.
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Zwischenfazit: Von der Physiologie des Einzelnen zum Probabilismus der Masse?
Es scheint, als schließe sich der Kreis der betrieblichen Regulierungspraxis doch wieder bei den Befunden von François Ewald aus der Vorbetrachtung dieser Arbeit: Das „Risiko“ ist ein Episteme der Moderne, in dem die biopolitischen Stränge des „Regierens“ zusammenlaufen. Irgendwo zwischen der Entdeckung des Staublungenkranken und der Inbetriebnahme des IBM 360 ist der einzelne Bergmann aus der Problembetrachtung verschwunden, möglicherweise 1957, als er als Karteikarte systematisch erfasst worden und prinzipiell maschinenlesbar geworden war. Sieben Jahre später passte das komplexe Problem der Staub- und Silikose-Bekämpfung in das verkehrsampelfarbene Diagramm der „Staubbelastungsstufen“ mit ihren regulatorischen Imperativen einer feinjustierten Arbeitseinsatzlenkung. Ins Chaos von Staub und Körpern der vierziger Jahre war mathematische Ordnung gekommen; die Rollen der Akteure waren inzwischen klar verteilt. Aus betrieblicher Sicht war der gesamte Problemkomplex damit gegen Ende der sechziger weitgehend eingehegt. Das ist ein wichtiger Befund, schließlich hat die Auseinandersetzung um die bergpolizeilichen Bestimmungen gezeigt, mit welcher Durchsetzungsfähigkeit der Bergbauunternehmen ihre Vorstellungen von der Silikose-Bekämpfung gegenüber der staatlichen Gewerbeaufsicht behaupteten. Doch es erscheint einige Vorsicht geboten, unter diese Erzählung von der Genese des Wissensfelds der Silikose bereits den Strich zu ziehen, nach der sich der Prozess der Verwissenschaftlichung entlang klarer gesellschaftlicher Machtbeziehungen entfaltet. Die Versuchung ist groß, die hier gemachten Befunde des prozessoralen Übergangs von einer physiologischen, am einzelnen Körper ausgerichteten Praxis der Silikosebekämpfung hin zu einer statistischen, probabilistischen Regulierungspraxis als empirischen Beweis für Foucaults Konzept einer modernen Biopolitik und der „Kunst des Regierens“ anzuführen, auf denen die Thesen von Ewald beruhen. So scheint es doch, als stehe der frühe Versuch, paternalistisch auf den einzelnen Bergmann unter Tage einzuwirken, sowohl auf seinen Körper als auch auf sein Verhalten, geradezu archetypisch für eine „Disziplinartechnik“, die „individualisierende Wirkungen“ produziert und auf „individuelle Dressur“ abzielt.104 In der darauffolgende Entwicklung hin zu einer abstrakten Regulierung, ja seriellen Programmierung durch die Arbeitseinsatzlenkung materialisiert sich dagegen die „Sicherheit des Ganzen vor seinen inneren Gefahren“ und mithin eine moderne Regulierungstechnologie, die die „Serie von Zufallsereignisse[n]“ zu kontrollieren und zu beherrschen sucht.105 Diese beiden von Foucault behaupteten, einander in ihrer exemplarischen Herleitung im 19. Jahrhundert überlagernden Großtrends scheinen sich hier im Kleinen noch einmal zu entfal-
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Foucault 2010, S. 73. Ebd.
Zwischenfazit: Von der Physiologie des Einzelnen zum Probabilismus der Masse?
ten und einander abzulösen. Dazu passt auch der biopolitische Imperativ, das Wissen zusammenzutragen, das für die jeweilige „Machtintervention“ über die Subjekte notwendig erscheint.106 Die Evidenz der foucaultschen Thesen soll dabei nicht grundsätzlich verneint werden. Im Gegenteil ergibt sich der Einwand gegen sie gerade aus ihrer erstaunlich vielseitigen Erklärungskraft mit Blick auf die Geschichte der Gesundheit und des menschlichen Körpers in modernen Gesellschaften, vor deren Hintergrund die jeweiligen historischen Zeitbedingungen zu verschwimmen drohen, ohne neue Erkenntnisse preiszugeben. Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle noch einmal die übergeordneten Probleme, mit denen sich diese Arbeit beschäftigt. Die hier betrachteten zentralen Untersuchungsachsen markieren zum einen das Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Sicherheitsversprechen und den inhärenten Gefahren der Erwerbsarbeit in einer gesellschaftlich besonders kritischen und zugleich außerordentlich gefährlichen Industrie. Der gesellschaftliche Umgang mit diesem prekären Verhältnis lässt sich als Regulierungspraxis untersuchen, die Gegenstand dieses und des vorangegangenen Kapitels war. Zum anderen steht das mit der Silikose verknüpfte Wissen im Mittelpunkt der Untersuchung. Nach dem hier angewandten Verständnis ist dieses Wissen flüchtig, hat keinen definitiven Ort und keine fest umrissene Zeit, sondern mäandert zwischen verschiedensten Medien und Trägern, und zwar prinzipiell in alle Richtungen. Wissen ist zwar machtbesetzt, aber – so ließe sich schließen – nicht a priori hierarchisch, sondern grundsätzlich reziprok und relational. Wie das Wissen hervorgebracht, hierarchisiert und ausgetauscht wird, ist deshalb die Kernfrage einer Wissensgeschichte der Silikose. Das Interesse galt und gilt dabei den Zuschreibungen und Verbindungen der Wissensmedien und Wissensträger sowie konkreten Aneignungsprozessen. Insbesondere um Letztere wird es im nächsten Kapitel gehen, das aus den Quellen der berufsgenossenschaftlichen Versicherungspraxis heraus versucht, vor allem den betroffenen Bergleuten und ihren Familien eine Stimme zu verleihen, nachdem bislang Ärzte, Techniker und andere Experten im Mittelpunkt gestanden haben. Deren Experten-Diskurse, die hier den Korrespondenzen und Ausschusssitzungen der wichtigsten Akteure sowie wissenschaftlichen Publikationen entnommen worden sind, haben jedoch eindrücklich die innere Logik ihrer spezifischen Wissensordnung bei der Konstituierung und Transformation eines eigenen Wissensfeldes der Silikose gezeigt, das sich in den sechziger Jahren weiter ausdifferenzierte und in der betrieblichen Präventionspraxis probabilistischen Risikomodellen Vorschub leistete. Bei dieser Entwicklung, die von der Gründung und vom Ausbau von Forschungsinstituten, vom regen Austausch zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen sowie einem augenfälligen Vertrauensvorschuss für bestimmte wissenschaftliche Experten geprägt war, lässt von
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einer Verwissenschaftlichung des gesellschaftlichen Umgangs mit der Silikose sprechen. Doch dem Heldendiskurs über herausragende Wissenschaftsgenies, die sich im Kampf gegen die Geißel der Bergleute verausgabten, standen im Laufe der sechziger Jahre die kalten und berechnenden statistischen Analysemethoden entgegen, die das Silikose-Problem mit maschineller Systematik zu lösen versprachen: Maschinen statt Mediziner. Der tiefe empirische Blick in das Wissensfeld der Silikose hat bis hierhin bereits die prinzipielle Handlungsfähigkeit, die Agency zahlreicher Akteure – auch die der Bergarbeiterschaft – in den ausgetragenen Debatten und ausgehandelten Prozessen verdeutlicht. Verwissenschaftlichung bedeutete demnach nicht einfach, dass Wissenschaftlern und ihrer Expertise entsprechend exklusive Deutungsautorität zufiel. Diese musste auch von dahinterstehenden Organisationen wie der Bergbau-Berufsgenossenschaft und ab Mitte der fünfziger Jahre vom Steinkohlenbergbauverein durchgesetzt werden. Auch wissenschaftsförmiges Wissen war fluide und Gegenstand der Aneignung, wie die mit vermeintlichen Studien und ärztlichen Empfehlungen beworbenen Heiltinkturen gezeigt haben. Die wachsende Prävalenz wissenschaftsförmigen Wissens besaß nach 1945 somit zwei Komponenten: eine epistemische und eine soziale. Epistemisch bestand sie in der zunehmenden Verfügbarkeit und praktischen Bedeutung quantifizierbaren Wissens über die Silikose, das hier namentlich in den statistischen Daten über die bergmännische Gesundheit und über die Staubverhältnisse in den Bergwerken zusammenlief. Sozial zeigte sie sich vor allem in der wachsenden Zahl ihrer Träger und den daraus erwachsenden Deutungskämpfen. Bei alledem darf gerade im Hinblick auf diese soziale Dimension nicht vergessen werden, dass auch dieses Wissen zunächst nur grundsätzlich ermöglichend wirkte, ohne jedoch Handlungen einzelner oder eigensinniger Subjekte dabei vollends zu determinieren. Im Fallbeispiel der Beschwerde des Bergmanns Kurt B. hat sich bereits schlaglichtartig gezeigt, dass die wissenschaftlich begründeten gewerblichen Regelungen der Bergämter ungeachtet ihrer Aufsichtstätigkeit kein zwingendes Abbild der täglichen individuellen Arbeitspraxis waren und dass die flächendeckend gepflegten Statistiken über die örtlichen Staubbelastungen lediglich blitzlichtartige Momentaufnahmen waren, die immer einen spezifischen praktischen Entstehungskontext besaßen. Es verlief letztlich ein fundamentaler Bruch zwischen dem auf Vortragsveranstaltungen und Arbeitsschutzausstellungen propagierten Ideal der technischen Staub- und Silikoseverhütung auf der einen Seite und dem arbeitsweltlichen Erleben der Bergleute im Alltag auf der anderen Seite.
5.
Entschädigungspraxis und Krankheitserfahrung
5.1
Schäden entschädigen, Leid erdulden
In den voranstehenden Kapiteln haben zuerst die bundesrepublikanische mediale Öffentlichkeit sowie die Expertendiskussionen im Mittelpunkt der Untersuchung gestanden. Doch die Silikose war nicht nur gesellschaftlicher Krankheitsdiskurs und nicht nur ein betriebliches Regulierungsproblem. Sie war für die Betroffenen auch ganz unmittelbar körperlich erfahrbar und emotional besetzt. Die Furcht vor der Krankheit sowie die Introspektion der gefährdeten Bergarbeiter sind aber in der Regel nur für die historische Untersuchung empirisch greifbar, wenn sie verbalisiert und schriftlich überliefert wurden. Solche alltagsgeschichtlichen Spuren finden sich kaum in den regionalen Zeitungen und den Presseorganen der Gewerkschaften, der Bergbauunternehmen und der Berufsgenossenschaft, da sich der Alltags-Diskurs spontan und unmittelbar zwischen Bergleuten, ihren Angehörigen, behandelnden Ärzten und den Angestellten der Sozialversicherung abspielte. Umfassend dokumentiert ist vor allem die Kommunikation zwischen versicherten Bergleuten und der Bergbau-Berufsgenossenschaft. Das Verhältnis zwischen ihnen begann oft als ein zutiefst antagonistisches. Der kurz nach dem Krieg suspendierte ehemalige Leiter der Bezirksverwaltung Bonn, Walther Matthiass, der uns weiter oben im Zusammenhang mit den Ursprüngen des Silikose-Forschungsinstituts und seinen Schriften über die Staublunge schon einmal begegnet ist, hatte um 1945 über dieses Wechselverhältnis und die hiermit verknüpften gegenseitigen Wahrnehmungen und entsprechenden Interessenkollisionen folgendermaßen geurteilt: Der Bergmann sieht in der Berufsgenossenschaft als einer Einrichtung der Bergwerksunternehmer einen Gegner. Die Gründe solcher Einstellung sind sattsam bekannt. Den Gegner, so folgert der Bergmann, darf man mit allen Mitteln hinters Licht führen, und so stellt er seine Lage so dar, wie ihm das dem Zwecke, nämlich der Erlangung von Leistungen der BG [Berufsgenossenschaft; D. T.], irgend dienlich zu sein scheint und kehrt sich nicht an Moral oder Ethik.1 1
sv:dok 15/650, Gutachten.
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Entschädigungspraxis und Krankheitserfahrung
Diese besonders drastische Darstellung mag bewusst überspitzt gewesen sein.2 Auf die bergmännische Gegenperspektive „von unten“ wird dieses Kapitel an späterer Stelle noch ausführlicher eingehen. Das Zitat illustriert jedoch das unauflösliche Grunddilemma, in dem sich Versicherte und Versicherung in jedem Schadensfall gegenüberstanden: Erkrankte sahen sich kraft der sozialen Sicherungssysteme gegenüber der Berufsgenossenschaft im Recht, für empfundene gesundheitliche Probleme in Folge ihrer Arbeit entschädigt zu werden. Die individuelle Entschädigung konnte dabei kaum zu hoch, gewiss aber meist viel zu niedrig ausfallen. Das Leid selbst lässt sich nicht beziffern, in den Worten des französischen Historikers François Ewalds werden körperlicher Schaden und monetäre Entschädigung deshalb in der Versicherungspraxis voneinander entkoppelt und getrennt betrachtet.3 Auf der anderen Seite stand die Berufsgenossenschaft als Sozialversicherungsträger. Aus deren wirtschaftlich geleiteter Sicht war jeder Rentenfall eine finanzielle Belastung, und diese galt es zu verringern. Die Unfallversicherung wurde und wird in der Bundesrepublik durch Beiträge der Unternehmen finanziert. Darin sollte ein Anreiz liegen, durch entsprechende Maßnahmen der betrieblichen Vorsorge Unfälle und Berufskrankheiten zu vermeiden und Verletzte und Kranke durch medizinische Leistungen wieder arbeitsfähig zu machen. Jene, für die jede Vorsorge zu spät kam und die auch die ärztliche Kunst nicht mehr wiederherstellen konnte, schlugen der Versicherung als Rentenbezieher zu Buche. Das galt in besonderem Maße für die Silikose, weil sie sich schleichend manifestierte und die Präventionsmaßnahmen der Nachkriegszeit erst mit großer Verzögerung Effekte zeitigen konnten – und weil sie unheilbar blieb. Das geschilderte Grunddilemma galt im Wesentlichen auch nach 1945. Allerdings änderten sich die Spielregeln der Versicherungspraxis in einigen entscheidenden Punkten. Für die Versicherten hatten zwei gesetzliche Einschnitte besonders prägenden Einfluss auf die Entschädigungschancen nach 1952. Der erste war die 5. Berufskrankheiten-Verordnung, deren Neuerungen insbesondere die Silikose betrafen. Die Schwelle der ärztlich festzustellenden Erwerbsminderung wurde auf 20 Prozent herabgesetzt. Das kam zumindest in der Theorie all jenen zugute, die mit der Diagnose einer noch nicht „schweren“ Staublunge versehen waren, aber bereits über Symptome klagten. Bisher hatten sie nur auf eine möglichst lange Übergangsrente hoffen können, um die beträchtlichen Einkommenseinbußen aufzufangen, die ihnen durch das Ausscheiden aus gut bezahlter, oft schwerer Arbeit entstanden. Die vom Bundestag beschlossenen Änderungen in den Bestimmungen der Berufskrankheiten-Verordnung, die am 1. August 1952 in Kraft trat, führten zunächst zu einem sprunghaften Anstieg der eingehenden Rentenanträge sowie der zuerkannten Berufskrankheiten-Renten im selben Jahr und im Folgejahr (vgl. Diagramm 1). Es sei an dieser Stelle aber auch noch einmal an seine Nähe zum NS-Regime erinnert, die zu seinem Ausscheiden 1945 geführt hatten. 3 Ewald 22015. 2
Schäden entschädigen, Leid erdulden
Die praktische Umsetzung der neuen Regelung lief allerdings nicht ohne Misstöne an. Noch mindestens bis Ende 1953 häuften sich Beschwerden darüber, dass die neue Schwelle, die nun bei einer zwanzigprozentigen Minderung der Erwerbsfähigkeit festgesetzt worden war, von den begutachtenden Ärzten oft übergangen würde. Der amtierende Bundesarbeitsminister Storch erklärte, dass die gerade in der Anfangszeit des neuen Gesetzes zuweilen nicht zufriedenstellenden Urteile dadurch zu erklären seien, dass die diagnostischen Verfahren noch nicht vollständig ausgereift und eingespielt seien. Schließlich könne man erst seit neustem überhaupt einen so niedrigen Grad der Leistungsminderung objektiv ermitteln, nämlich dank verbesserter Röntgentechnik sowie neuartigen Methoden der Frühdiagnostik, die Atmung und Kreislauf prüften.4 35.000 neue Rentenfälle
30.000
gemeldete Silikosen
25.000 20.000 15.000 10.000
1963
1962
1961
1960
1959
1958
1957
1956
1955
1954
1953
1952
1951
1950
1949
0
1948
5.000
Diagramm 1 494 Diagramm 15
Doch die Beschwerden gingen noch weit darüber hinaus. Kritik kam nicht nur aus dem Bergbau, sondern auch in anderen betroffenen Industrien wie der keramischen Industrie auf. In einer umfassenden Stellungnahme äußerte sich die Industriegewerkschaft Chemie, Papier, Keramik zur neuen Verordnung und prangerte nicht nur an, dass die neue gesetzliche Grundlage in der Praxis häufig nicht beachtet würde, sondern auch, dass es in den individuellen Beurteilungen durch die Ärzte zu eklatanten Unterschieden komme. So gelangten drei Ärzte beim selben Patienten zu teils widersprüchEntwicklung des Berufskrankheitenrechts nach dem Erlaß der Fünften Berufskrankheiten-Verordnung, in: Der Sozialversicherungs-Beamte und -Angestellte IV/7 (1953), S. 126. 5 Wohlberedt 1967, S. 361. 4
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lichen Auffassungen. Noch dramatischer wurden die örtlichen „Schand-Diagnosen“ geschildert, gegen die das gesamte Dreher-Personal eines bayerischen Betriebs 1953 aufbegehrte. Das dortige Gesundheitsamt hatte in Zusammenarbeit mit der Berufsgenossenschaft damit begonnen, verstorbene Arbeiter, die mutmaßlich an einer Silikose gestorben waren, zu exhumieren. Angehörige seien zu Einwilligungen genötigt wurden. Das Vorgehen, so die darauffolgende Entschließung der Gewerkschaft, verstoße gegen „jedes menschliche Gefühl und gegen jede Pietät“.6 Das Problem der zum Teil deutlich voneinander abweichenden ärztlichen Diagnosestellungen betraf auch den Steinkohlenbergbau. Die einzige Orientierung bot ein Gesetzeskommentar zur 2. Berufskrankheiten-Verordnung aus dem Jahr 1929, in der die Silikose erstmals in die Unfallversicherung aufgenommen wurde. Über die im Kommentar dargelegten Bewertungsgrundsätze hinaus waren die Gutachter im Wesentlichen auf ihre Erfahrung angewiesen, die sie in den spezialisierten Krankenhäusern sammeln und anwenden konnten. Die bergbaunahen berufsgenossenschaftlichen und knappschaftlichen Kliniken wurden auf diese Weise wichtige Wissensorte. Doch mit der steigenden Zahl durchzuführender Untersuchungen stieg auch die Zahl der Ärzte, die einzubeziehen waren. Damit die ärztlichen Beurteilungen möglichst einheitlich ausfielen, unterhielt die Bergbau-Berufsgenossenschaft ein „Seminar für Silikose-Begutachtung“, das die Gutachter im Sinne eines gemeinsamen Wissens und damit einer einheitlichen Linie diagnostisch weiterbilden sollte. Dieses Seminar bestand zunächst bis 1966 und wurde 1969 auf Wunsch mehrerer Bergämter wieder zurück ins Leben gerufen.7 Die zweite wesentliche gesetzliche Änderung war die im September 1953 vom Bundestag beschlossene und 1954 in Kraft getretene Errichtung der Sozialgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik. Dadurch wurden die Streitfälle in Rentenverfahren nicht mehr von den Schiedsstellen der Versicherungsämter verhandelt wurden, sondern von Sozialgerichten. Nun sollten unabhängige Richter nach Maßgabe der Sozialgesetzgebung über die Ansprüche der Versicherten entscheiden und den Ausgleich zwischen den Entschädigungsansprüchen der einzelnen Versicherten und ihrer Angehörigen und Hinterbliebenen auf der einen Seite und dem Gesamtvermögen der Versichertengemeinschaft auf der anderen Seite schaffen. Mit dem Ziel, dabei vor allem die Interessen der Versicherten zu stärken, stand die neue Sozialgerichtsbarkeit im engen Zusammenhang mit der Wiederherstellung der Selbstverwaltung in der Unfallversicherung, bei der die Unternehmen zu Gunsten einer paritätischen Besetzung der Gremien auf ihre bisherige fast uneingeschränkten Mehrheiten verzichtet hatten (siehe Kapitel 2). Im Gegensatz zur Wiederherstellung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung wasv:dok 15/535, Stellungnahme der Branchenleitung Keramik als Organ der Industriegewerkschaft Chemie, Papier, Keramik zur 5. Berufskrankheitenverordnung und den Ziffern 27a) bzw. 27b), 1953. 7 Bergbau-Berufsgenossenschaft: Niederschriften des Genossenschaftsvorstands, 4. Wahlperiode, Band 1, Sitzung vom 04.03.1969. 6
Schäden entschädigen, Leid erdulden
ren die Sozialgerichte allerdings eine gänzlich neugeschaffene Instanz. Für nötig erachtet wurde der umfassende Aufbau einer solchen Sondergerichtsbarkeit auch deshalb, weil die bisherige Regelung über die Versicherungsämter, in denen weisungsgebundene Verwaltungsbeamte entschieden, dem „gesetzlich verankerten Rechtsstaatspostulat der Unabhängigkeit der Richter“ elementar widersprach, weil die Rechtsprechung nicht von der Exekutive getrennt war.8 Enttäuschungen über Entscheidungen der neuen Sozialgerichte blieben jedoch nicht aus. So erhoben sich kurz nachdem sie ihre Tätigkeit aufgenommen hatten kritische Pressestimmen, die ihnen das „Muster des früheren Reichsversicherungsamtes“ unterstellten: Sie würden dem „fortschrittliche[n] Geist“, soziale Gerechtigkeit zu schaffen, noch nicht genügen und sich an die „überholte Rechtsprechung“ der alten Versicherungsämter halten.9 Außerdem türmten sich bald Hunderttausende Klagen bei den Gerichten, die unerledigt blieben. Das Vertrauen in die neu geschaffenen Rechtsinstanzen habe darunter erheblich gelitten, wie es in einem Artikel aus dem Jahr 1956 hieß, schließlich sei es doch ihre „vornehmste Aufgabe“ den sozial Schwachen zu helfen. Erheblichen Anteil an der Überlastung hätten die Versicherungen, die selbst in eindeutigen Fällen in Berufung gingen, bis dem „kleinen Mann“ Mut und Luft ausgingen.10 Insgesamt blieb der Umfang der pressemedialen Kritik aber gering. Die Industriegewerkschaft Bergbau sah sich jedenfalls zu keinen gleichartigen Angriffen auf die neue Sozialgerichtsbarkeit veranlasst. Die sozialgesetzliche Rechtsprechung wurde also reformiert und die Eintrittsschwelle zu einer berufsgenossenschaftlichen Rente zu Gunsten der Versicherten herabgesetzt. Beides änderte jedoch nichts Wesentliches am geschilderten inhärenten Interessenkonflikt zwischen Versicherungsfall und Versicherung. Auch die Kritik an den neuen Gerichten deutet darauf hin, dass die Trennung von Verwaltung und Rechtsprechung zwar im Hinblick auf die neue bundesrepublikanische Rechtsordnung wichtig war,11 dass damit aber kein gravierender Wandel in der alltäglichen Urteils- und Entscheidungspraxis eintrat. Auch wenn nun unabhängige Richter und nicht Verwaltungsbeamte der Versicherungsämter über die Klagen und Revisionen zu entscheiden hatten, waren sie doch im Falle der Silikose an die Vorgaben der Berufskrankheiten-Verordnung gebunden und damit im Wesentlichen abhängig von den ärztlichen Gutachten. Die Untersuchungs- und Beurteilungspraxis hatte sich auch mit der neuen Sozialgerichtsbarkeit nicht geändert. Eine andere, für diese Untersuchung bedeutendere Veränderung trat dagegen sukzessive ein, nämlich die allgemeine Verfügbarkeit und die individuelle Wissensaneignung der Versicherten über die Krankheit sowie über die versicherungsrechtlich 8 9 10 11
Hockerts 1980, S. 161. Enttäuschung über die Sozialgerichte, in: Neue Woche Welt am Samstag, 21. September 1954. Sozialgerichte sind überfordert, in: Neue Ruhr-Zeitung, 1. November 1956. Hockerts 1980, S. 429.
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relevanten Verfahrensabläufe. In den vorangegangenen Hauptkapiteln sind uns die Bergleute bislang vor allem als Gegenstände der politischen, wissenschaftlichen und betrieblichen Betrachtung begegnet: als bedauerliche Krankheitsopfer in öffentlichen Narrativen oder als bisweilen schwierige Wissens- und Regulierungsobjekte der Versicherung und der Unternehmen. Zeitgenössische Quellen aufzuspüren, in denen bergmännische Perspektiven festgehalten sind, stellt hingegen eine große historiografische Herausforderung dar. Die zu Beginn des Buchs nachgezeichneten Debattenkonjunkturen und insbesondere die Beispiele bergmännischen Erfindergeistes haben zwar veranschaulicht, dass die Silikose nicht nur ein Thema war, das viele Bergleute bewegte, sondern in das sie sich auch aktiv und eigensinnig einbrachten. In die Erfahrungswelt der Bergarbeiterschaft einzudringen, allzumal um zu erfahren, wie sie Gefahren wahrnahmen und Krankheit erlebten, ist aber ein ungleich schwierigeres Unterfangen, als Pressedebatten zu collagieren, einen publizistischen Wissenschaftsdiskurs einzufangen oder der protokollarisch umfassend überlieferten Konsenssuche der Expertengremien und Ausschüsse zu folgen. Denn wie die Zeitschrift der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie in der Emphysem-Bronchitis-Debatte bereits 1964 lautstark beklagt hatte: In der Regel seien die Bergleute „schreibfaul“. So verwundert es nicht, dass viele populäre Erzählungen und Wissensfragmente über den Bergbau mündlicher Überlieferung entspringen und erst später in Texten festgehalten worden sind. Der hustende Bergmann, der irgendwann „weg vom Fenster“ ist, ist womöglich eines der einschlägigsten Beispiele dafür. Dieses Kapitel fragt im Bewusstsein dieser empirischen Hürden nach den individuellen Wahrnehmungen, Deutungen und Praktiken der Bergleute selbst. Es soll dabei nicht darum gehen, dem öffentlichen und dem Expertendiskurs „von oben“ eine notwendigerweise „authentischere“, weil unmittelbarere alltagsgeschichtliche Opferperspektive „von unten“ gegenüberzustellen, oder die Wahrheitsgehalte einander widersprechender Darstellungen abzuwägen. Im Mittelpunkt steht vielmehr der ursprungslose „Fluss des Wissens“, der eine methodische Ausgangsbedingung dieser Arbeit bildet. Folglich geht es hier darum, durch wen bestimmtes Wissen in welchen sozialen Kontexten vorgebracht wurde, welche zentralen Problemfelder damit adressiert wurden und wie es Handlungen ermöglichte. Auf Grund der spezifischen Entstehungsbedingungen der Quellen, die hierfür verwendet werden, handeln dabei nie nur allein die Bergleute, sondern sie standen dabei immer in einem interaktiven Kommunikationsverhältnis zu anderen Akteuren, häufig zu Ärzten oder zu Vertretern der Berufsgenossenschaft. Wissen, das sei an dieser Stelle noch einmal erwähnt, bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht im engeren Sinne nur auf die Silikose und die mit ihr verknüpften physiologischen Beschreibungen. Das Wissen in diesem Feld schließt auch kulturelle und soziale Zuschreibungen sowie Handlungs- und Entscheidungswissen der Arbeits- und der Versicherungspraxis ein. Die außerordentliche Quellenproblematik bei der Beantwortung dieser Frage wurde bereits angeschnitten. Sie besteht sowohl für Material aus dem Untersuchungszeit-
Schäden entschädigen, Leid erdulden
raum selbst, als auch für retrospektive Interview-Studien späteren Ursprungs.12 Umso wertvoller sind deshalb die vom Soziologen Carl Jantke 1953 veröffentlichten Ergebnisse der „teilnehmenden Beobachtung“ vor Ort zu Beginn der fünfziger Jahre, deren qualitative Befragung der Bergleute die damals hochaktuelle Problematik der grassierenden Silikose einschloss. Außerdem haben Bergarbeiter auch eigene Spuren hinterlassen. Sie finden sich in den Versichertenakten der ehemaligen Bergbau-Berufsgenossenschaft. Gleichwohl die meisten Versicherten durch Kassation obsolet gewordener Unterlagen oder durch einen mehr oder minder reibungslosen Ablauf des Versicherungsfalls letztlich für immer stumm geblieben sind, sind zahlreiche Fälle überliefert, in denen sie sich wortreich an die Berufsgenossenschaft wandten und uns heute Einblicke in bergmännische (und oft sogar „berg-ehe-frauliche“) Narrative erlauben. Zugleich sind die Versichertenakten spezifisch produzierte Artefakte bzw. Überreste der Kommunikation zwischen diesen beiden Akteursgruppen, denn der Austausch fand in der Regel brieflich sowie zweck- und regelgebunden statt. Daneben standen Angestellte der Berufsgenossenschaft auch auf einigen großen Zechen an „Sprechtagen“ für Anliegen zur Verfügung.13 Die ausgewerteten Fallakten geben neben brieflichen Korrespondenzen der Versicherten zugleich auch Auskunft über die gegenseitige Wahrnehmung der Versicherung, der begutachtenden Ärzte und der Versicherten; sie können ferner Auskunft über die Verfahrensabläufe bei der Rentengewährung gewähren – und wie Versicherte sich zu diesen verhielten. Die bergmännische Perspektive zur betrieblichen Präventionsarbeit bleibt dagegen auch an diesem Punkt weitaus lückenhafter. So kann auf Grund der Quellenlage rasch der sicherlich verzerrte Eindruck entstehen, dass während Unternehmer und Experten tatkräftig handelten, die Arbeiter, die es betraf, passive Objekte blieben, die im Gewirr unternehmerischer und wissenschaftlicher Stimmen, präventiver Innovationen und betrieblicher Verordnungen untergingen oder sich diesen Maßnahmen womöglich Das von Lutz Niethammer und Alexander von Plato in den achtziger Jahren durchgeführten Interviews im Rahmen des Projekts „LUSIR“ sind beispielsweise, gleichwohl Arbeiter dabei im Fokus standen, nicht dezidiert Fragen der Gesundheit nachgegangen. Der 2014 bis 2018 geschaffene „Digitale Gedächtnisspeicher“ des Deutschen Bergbau-Museums Bochum, der „Menschen im Bergbau“ zum Gegenstand seiner hierzu durchgeführten umfassenden Oral History-Studie hat, hat sich zwar auch mit Fragen der medizinischen Versorgung im Steinkohlenbergbau auseinandergesetzt, der große Abstand zum Untersuchungszeitraum birgt dabei allerdings ganz eigene methodische, vor allem aber praktische Probleme: Die in dieser Arbeit im Fokus stehenden Akteure der vierziger bis siebziger Jahre stehen überwiegend nicht mehr für Interviews zur Verfügung. Das gilt insbesondere für die Bergarbeiter, allzumal die an Silikose erkrankten. Die inzwischen digitalisierte „Bonner Längsschnittstudie des Alterns“ (BOLSA), auf die mich Frau Christina von Hodenberg freundlicherweise verwiesen hat und die bis in die sechziger Jahre zurückreicht, hat sich bei ersten Probebohrungen als teilweise einschlägig erwiesen, stand zum Zeitpunkt des vorliegenden Projekts aber nur eingeschränkt zur gezielten Recherche zur Verfügung. An dieser Stelle möchte ich Frau Katrin Moeller von der Universität Halle für ihre freundliche Unterstützung danken, die mir erste Einblicke ermöglicht hat. Inzwischen ist das Projekt online gegangen unter: https://bolsa.uni-halle.de/ (zuletzt abgerufen am 18.06.2020). 13 Wann und wo diese Sprechtage stattfanden, ist in der Zeitschrift „Kompass“ überliefert.
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widerborstig entzogen. Dabei waren auch die Bergleute in ihrem Arbeitsalltag zweifellos mit zahlreichen Problemen konfrontiert, die es zu lösen galt, und oft werden diese auch die praktische Staubbekämpfung und den Schutz gegen die gefürchtete Silikose betroffen haben. Solange dies aber nicht „nach oben“ durchdrang oder von den Unternehmen oder Experten selbst nicht als Probleme anerkannt wurde, sind sie schwerlich überliefert worden.14 Während die ältere Arbeitergeschichte angesichts dieses Missverhältnisses zwischen unternehmerischer und bergmännischer historischer Überlieferung noch nach empirischen Artefakten suchte, die die eigensinnigen Perspektiven und Widerständigkeiten „von unten“ dokumentierten, hat sich die jüngere Präventionsgeschichte, welche die moderne Gesundheitspolitik als die Genese des „präventiven Selbst“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt, zwar auch zur Aufgabe gemacht, „auf der Ebene von Einzelpersonen“ nach neuen Zugängen zum „Widerspruch zwischen wissenschaftlichem Präventionsanspruch und alltäglichen Präventionspraktiken“ zu suchen.15 Antworten auf die Frage nach den partikularistischen „handlungsleitenden Maximen“16 sind bisher aber eher im Vagen einer diffusen „Arbeiterkultur“ geblieben, wenn Arbeiter überhaupt Gegenstand der Betrachtungen waren. Die konkreten Krankheits- und Körpererfahrungen jenseits der Antizipation von Risiken blieb dabei ebenfalls auf der Strecke. Dies erstaunt nicht zuletzt auch mit Blick auf die schiere Menge der Betroffenen. Noch 1979 bezogen in der Bundesrepublik knapp 60.000 aktive und ehemalige Bergleute eine Berufskrankheiten-Rente wegen Silikose verschiedenster Schweregrade.17 Eine Vielzahl von ihnen dürfte auf das Ruhrgebiet entfallen sein. Aus der medialen öffentlichen Wahrnehmung waren die Silikose-Kranken zu dieser Zeit schon weitgehend verschwunden. Als Versicherungsproblem und als Krankheitssubjekte existierten sie aber noch. Wenngleich der Schwerpunkt der in Kapitel 2 beschriebenen gesellschaftlichen Problemwahrnehmungen in den vierziger und fünfziger Jahren lag, so warf die Silikose doch einen sehr langen Schatten auch auf die darauffolgenden Jahre. Gerade unter dem Eindruck der langen Entstehung und graduellen Verschlimmerung des Krankheitsbildes spielte es neben der Frage, wie der eigene Körper, das eigene Verhalten und das soziale Sicherungssystem von den Gefährdeten und Betroffenen selbst thematisiert und problematisiert wurde, auch eine Rolle, welchen Stellenwert die Krankheit und ihre Ursachen als Teil der eigenen biografischen Erzählungen innehatten – und wie sich darin das Verhältnis der Bergarbeiterschaft zur Gesamtgesellschaft im westdeutschen Sozialstaat spiegelte.
14 15 16 17
Auf diese Grundproblematik der Überlieferung verweist auch Brüggemeier 1983, S. 77. Lengwiler/Madarász 2010, S. 11–28, hier S. 16. Ebd. Vgl. Bergbau-Berufsgenossenschaft 1981.
Außen- und Innenansichten der bergmännischen Gesundheit
5.2
Außen- und Innenansichten der bergmännischen Gesundheit
In einer seltenen soziologischen Studie, die von Carl Jantke von der Sozialforschungsstelle der Universität Münster 1950 in Dortmund durchgeführt wurde, gehörten die „gesundheitliche Gefährdung und die damit zusammenhängenden Probleme des Unfallschutzes [und] der vorbeugenden Sicherung gegen die verschiedenen Berufskrankheiten“18 zu den besonderen Interessen der Forscher. Die 116 befragten Dortmunder Untertagearbeiter gaben ihnen darin ihre persönlichen Erfahrungen mit der Silikose, mit Ärzten und mit der Sozialversicherung zu Protokoll. Aus „Rücksicht auf die Tragweite des Problems und das in diesem Falle […] ernsthafte Bedürfnis nach Mitteilung“,19 beschränkte sich die quantitative Hauptfrage der Soziologen darauf, ob die Befragten selbst der Überzeugung seien, an einer Staublunge zu leiden. Etwa vier von zehn Männern beantworteten diese Frage mit ja, gleichwohl der Befund nur einem Drittel von ihnen auch ärztlich verbürgt war. Die Diskrepanz zwischen dem subjektiv erfahrenen und dem medizinisch objektivierten Gesundheitszustand war offenkundig. Die beträchtliche Skepsis der Bergleute gegenüber den ärztlichen Bescheiden stach entsprechend hervor. Da viele die Silikose als festen Bestandteil des bergmännischen Berufsschicksals begriffen, zeigten sie sich davon überzeugt, nach einer bestimmten Zeit unter Tage notwendigerweise auch staublungenkrank sein zu müssen. Das verbreitete Misstrauen gegenüber den ausgestellten medizinischen Gutachten spiegelte sich in einem umso genaueren Hineinhorchen in den eigenen Körper wider, folgerten die Forscher. Die Männer, die sich überwiegend im mittleren Alter befanden, beobachteten mögliche Symptome an sich mit großer Sensibilität und Sorgfalt. Neben den gängigen Anzeichen wie schlechterem Luftholen, Schweißausbrüchen und Husten gehörten dazu auch subtilere Anzeichen wie die verminderte Kondition beim Sport und Fahrradfahren. Diese Männer, die bereits viele Jahre im Bergbau tätig waren, quälte „das Gefühl des Ausgeliefertseins an ein ungewisses Schicksal“ – und das Ungewisse sei das Schlimmste.20 Es waren auch wirtschaftliche Nöte damit verbunden. Die Herausnahme aus lukrativer Arbeit und die Versetzung auf Stellen mit schlechterer Bezahlung führten zu schmerzhaften Verdienstausfällen. Als die Studie durchgeführt wurde, wurde erst ab einer ärztlich festgestellten Leistungsminderung von 50 Prozent eine Berufskrankheiten-Rente gewährt. Doch man könne nicht mehr wie ein junger Mensch arbeiten, gab ein 37jähriger Bergmann zu Protokoll, obwohl man sicher wolle. Man wolle schließlich die Familie „hochbringen“ und nicht sterben.21 Die Ärzte würden versprechen, man 18 19 20 21
Jantke 1953, S. 160. Ebd., S. 190. Ebd., S. 191. Ebd.
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könne noch Jahrzehnte im Bergbau arbeiten, doch selbst wisse man besser, wie es um den eigenen Körper bei der Arbeit bestellt sei.22 Auch wenn manche der Befragten sich aufsässig äußerten und sich gegen die verbreitete Auffassung von der unbarmherzigen aber ausweglosen Schicksalshaftigkeit der Krankheit auflehnten, indem sie den Ärzten vorwarfen sich daran zu beteiligen, die Leute „bis zum letzten Blutstropfen“ auszunutzen, wollten die Münsteraner Soziologen keine grundsätzlichen Zweifel der Bergarbeiterschaft an der fachlichen Autorität des Arztes erkennen können. Vielmehr äußerte sich das „Gefühl der Sorge und Ungewißheit“ sowie „nicht selten der Angst“23 vor allem solcher Arbeiter, die erst vor wenigen Jahren aus anderen Berufen in den Bergbau gekommen waren und sich im Gegensatz zu den Älteren mental noch nicht „angepaßt“ hätten. Bei diesen Jüngeren lägen „offensichtlich psychische Störungen und Beunruhigungen unter dem Eindruck der Silikosegefährdung“24 vor. Wie man schließlich in den Genuss einer Knappschafts- oder Unfall- bzw. Berufskrankheiten-Rente komme, darüber gab etwa die Hälfte an, kaum oder überhaupt nicht Bescheid zu wissen. Unter Verweis auf Probleme innerhalb der Familie mit der Rentengewährung – meist die der Väter oder sogar der Großväter – wurde das Verfahren als schwierig und langwierig beschrieben. Die Begegnung mit der Versicherung im Falle eines Rentenverfahrens wurde als Konfrontation mit einer bürokratischen Mauer geschildert; die Rentenleistungen selbst seien am Ende zu gering, die Versicherungsbeiträge hingegen zu hoch. Kaum mehr als ein Zehntel der befragten Bergleute bezog positiv Stellung zur beruflichen Rentenversorgung.25 Sorgen um das persönliche und familiäre Auskommen beherrschten auch die Antworten, die im Rahmen der familiensoziologischen Erhebung von den Ehefrauen von knapp Einhundert Dortmunder Bergleuten erteilt wurden: Nicht der tägliche Arbeitsablauf unter den gegebenen technischen und organisatorischen Bedingungen ist Gegenstand der Anteilnahme der Frauen, sondern die Arbeit in dem weiteren Rahmen des persönlichen und beruflichen Schicksals, in das die Bergmannsfrau ihren Mann und ihre Familie gestellt sieht. Selbst in den Fällen, wo der Wunsch geäußert wird, selbst einmal einzufahren und den Arbeitsplatz unter Tage kennen lernen zu dürfen, schwingt immer etwas von der Sorge mit, die sich auf die Gesundheit des Mannes, auf die Sicherung der materiellen Existenz der Familie oder auch auf die Berufswahl der Söhne erstreckt.26
22 23 24 25 26
Ebd., S. 192. Ebd., S. 192 f. Ebd., S. 193. Ebd., S. 200–202. Ebd., S. 207 f.
Außen- und Innenansichten der bergmännischen Gesundheit
Denn die befragten Frauen teilten einhellig die Auffassung, dass ihre Söhne nicht in den Bergbau gehen, sondern es „einmal besser haben“ sollten. Die Zechen, in denen die Ehemänner täglich einfuhren, schimpften sie „mit Vorliebe als ‚Knochenmühle‘, ‚Polizeipütt‘ usw.“27 Wirtschaftliche Sorgen, existentielle Zukunftsängste und der Groll der Männer gegen die betrieblichen Arbeitsverhältnisse bestimmten das häusliche Erzählen über den Bergbau. Es sind Schilderungen, die sich beinahe nahtlos einfügten in das Portrait einer renitenten und unzufriedenen Bergarbeiterschaft des 19. Jahrhunderts, über die der ehemalige Bergmann Hans Marchwitza in seinen Memoiren einen Kameraden zitierte, der jedes Mal auf dem Weg zur Zeche inbrünstig hoffte, „der Schacht sei über Nacht eingestürzt und für immer in der Erde versunken.“28 Dass die Arbeit einerseits vor allem Mittel zum Broterwerb war und die Sorgen um Leib und Leben angesichts der bekannten untertägigen Gefahren stets präsent erschienen, steht dabei jedoch nicht im Widerspruch zu einem andererseits ausgeprägten Berufsstolz und einer betont rauen, gefahrenverachtenden Männlichkeits- und Körperkultur unter den Bergarbeitern.29 Das persönliche Opfer, das sie zu erbringen sich bereiterklärt hatten, mag diesen Stolz noch weiter genährt haben. Die soziologisch eingefangenen Eindrücke und Deutungen der Bergleute erweisen sich damit als ausgesprochen vielschichtig. Sie oszillieren zwischen der Angst vor dem Ungewissen und der Überzeugung, als Untertagearbeiter auf jeden Fall früher oder später der Krankheit anheim zu fallen und daraus Ansprüche gegenüber der Sozialversicherung geltend machen zu können – ein Schwanken also zwischen ohnmächtigem Ausgeliefertsein gegenüber einer unsichtbaren Gefahr für das eigene Leben und die Existenz der Familie sowie dem trotzigen Stolz auf die persönliche Opferbereitschaft und den kameradschaftlichen Zusammenhalt. Die Dortmunder Studie gliederte die untersuchte Personengruppe in Alteingesessene und Zugezogene sowie in ältere und jüngere Bergarbeiter auf. Je länger die Männer bereits im Bergbau tätig waren, desto eher setzten sie sich mit der Möglichkeit auseinander, schon jetzt oder sehr bald an einer Staublunge erkrankt zu sein, oder beobachteten entsprechende Symptome an sich. Zugleich beschrieben sie einen Berufswechsel nach so langer Zeit aber als undenkbar. Vor solche prekären Entscheidungen gestellt gaben sich viele dem Fatalismus eines unausweichlichen frühen Siechtums hin, sahen sich darin aber gleichzeitig gegenüber der Sozialversicherung – oder, abstrakter, der Gesellschaft – im Recht, hierfür eine monetäre Kompensation verlangen zu können. Die Untersuchungen und Kontrollen, mit denen die Ärzte und VersicherungsangeEbd., S. 210. Zit. n. Brüggemeier 1983, S. 18; siehe Marchwitza 1964, S. 96. Bluma 2012, S. 35–72, hier S. 50 ff.; Klassengegensätze zwischen Bergarbeiterschaft und Betriebsleitungen, die sich auf Seiten der Arbeiter in einer besonders ausgeprägten Männlichkeitskultur niederschlugen, besitzen eine erstaunliche Prävalenz in allen Bergbauregionen. Exemplarisch sei hier verwiesen auf eine Fallstudie zu Chile: Klubock 1996, S. 435–463; außerdem zu Großbritannien: Johnston/McIvor 2004, S. 234–249. 27 28 29
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stellten diese Ansprüche prüften, stellten sich in dieser Sichtweise als unangemessene Gängelung dar. Für schicksalsergebene Bergarbeiter war der Fall schließlich klar: die Arbeit im Bergbau bedeutete Staublunge und frühen Tod. Eine solche Wahrnehmung beschränkte sich nicht auf die frühen fünfziger Jahre, in denen die soziologische Studie über den Bergbau entstanden war. Sie lässt sich auch für spätere Jahrzehnte belegen. In einer in den sechziger Jahren an der Universität Bonn begonnenen sozialwissenschaftlichen Interviewstudie über das Altern wurden Personen regelmäßig zu ihrem Leben und ihrer Gesundheit befragt.30 Darunter befanden sich auch ehemalige Bergleute aus dem Ruhrgebiet. Ein ehemaliger Oberhausener Bergarbeiter, der fünfzehn Jahre unter Tage gearbeitet und dort „viele Tote gesehen“ hatte, gab 1972 an, dass er alle vierzehn Tage zum Arzt gehe. Zwar stehe es grundsätzlich gut um seine Gesundheit. Aber auf Grund seiner bergmännischen Vergangenheit trieb ihn ein Verdacht um, der sich bei einer kürzlichen Untersuchung beim Arzt zu bestätigen schien: Ich muss Steinstaub haben, nech, durch die fünfzehn Jahre, die ich auf Zeche war. Denn wie ich durchröntgt wurde, da sagt der Arzt: ‚Wie lang waren Sie denn auf Zeche?‘ Ich sach: ‚Wieviel Prozent Staubstaub hab’ ich denn?‘ – ‚So ist das ja nicht gemeint‘, sagt er.31
Er wusste, wie er seinem Interviewer erklärte, dass es ab einem bestimmten Punkt eine Rente gebe. Seit er glaube, an einer Staublunge zu leiden, nehme er jeden Abend einen Teelöffel „dieses Zeug hier“, das alles mitnehme und herunterspüle, im Übrigen auch den Zigarettenrauch. Was genau er einnahm, erfahren wir aus den Tonbandmitschnitten nicht. Es erinnert jedoch an ähnliche Vorstellungen einer spülenden Reinigung, die uns in den Zuschriften an die Bergbau-Berufsgenossenschaft und das Silikose-Forschungsinstitut in Kapitel 3 begegnet sind, in denen Tinkturen und Tabletten beworben wurden, die den krankmachenden Staub aus dem Körperinneren herunterspülen oder anderweitig nach draußen beförderten sollten. Zugleich zeugt die Aussage von einer genauen körperlichen Selbstbeobachtung und von einer wenigstens ungefähren Kenntnis von den gesundheitlichen Bedingungen, unter denen ein Rentenanspruch gegenüber der Unfallversicherung entstand. An sich selbst beobachtete der ehemalige Bergmann inzwischen „Luftnot bei Belastung“, und dabei seien sechzig Jahre noch kein Alter, so der bereits Sechsundsechzigjährige. Erst ab siebzig Jahre könne man davon sprechen.
Aus dem oben erwähnten und jüngst veröffentlichten Bestand der „Bonner Längsschnittstudie des Alterns“ (BOLSA). 31 Schlüter, Alexander: Proband, in: Digitalisierung der Bonner Gerontologischen Längsschnittstudie (BOLSA), hg. vom Historischen Datenzentrum Sachsen-Anhalt, Halle 2020, https://bolsa.uni-halle. de/suche/#/document/1866 (letzter Aufruf: 23.06.2022),.BLSA_E_16525_A01 (1652), Interview 1972, 01:32:24 ff. 30
Außen- und Innenansichten der bergmännischen Gesundheit
Die sozialwissenschaftliche Studie Carl Jantkes und seiner Kollegen über die Dortmunder Bergleute in den frühen fünfziger Jahren verdeutlicht, wie die Arbeitswelt der Bergarbeiter als ein eigener, exzeptioneller Kosmos wahrgenommen wurde, zu dem neben den Bergleuten selbst und ihrem Arbeitsplatz insbesondere auch ihre Wohnorte und Familien gehörten. Auch in den bergmännischen Selbstbeschreibungen spielte sich das eigene Leben im Wesentlichen zwischen Zeche und Zechenkolonie ab, ein Sozialgefüge, innerhalb dessen es dem einzelnen Bergmann auf seiner kurzen Lebensbahn allenfalls entlang der Kneipen vergönnt war, neuen Schwung zu holen. Exemplarisch lässt sich diese Selbstverortung am Beispiel der (fiktiven) Geschichte des ehemaligen Bergmanns Bernhard Holler zeigen, die durch einen namenlosen IchErzähler überliefert und deren Manuskript durch einen archivarischen Zufallsfund unter dem Titel „Die Männer von Luise“ veröffentlicht worden ist.32 Diese zeichnet das Bild eines inzwischen verbrauchten Mannes, dessen einst „breite Brust“ nur noch pfiff „wie ein poröser Blasebalg“,33 bevor er im Alter von 52 Jahren starb, an sein Bett gefesselt in den eigenen vier Wänden und gepflegt von seiner Frau. Bis zuletzt hatte Holler „die Wahrheit“ über den Bergbau vor seinem jüngsten Sohn verborgen, der selbst gern Bergmann werden wollte, weil er „den Familiennamen hochhalten wollte“. Würde der Sohn aber die bittere Wahrheit über den körperlichen Preis der „Maloche“ kennen, dann wäre gewiss, dass er „die zwölf Pfund schwere Grubenlampe in den 700-Meter-Schacht [schmeiße, D. T.], dass Satan sie hole.“ Schon der Großvater war als Lungenkranker gestorben. Nun war Hollers eigene Lunge vom „nur mikroskopisch“ sichtbaren Staub fast vollständig versteinert, den er fünfundzwanzig Jahre lang mit jedem Atemzug „gefressen“ hatte.34 Doch er zog seinen Sohn nicht ins Vertrauen, weil „er selbst zu denen gehörte, die stolz auf ihren Berufsethos“ waren. Dieser Stolz speiste sich im Wesentlichen aus zwei Dingen. Erstens waren er und seine Kameraden, so wie auch jetzt sein Sohn, im Gegensatz zu „einem Bürolehrling oder einem Friseurstift oder sonst einem anderen Jungen“ kräftig und muskulös, von dem die Mädchen wüssten, dass er ein Herz in der Brust habe, jeder „eine geballte Kraft, ein Dreiklang von Muskeln, Sehnen und harten Knochen“, deren Berufsstolz nur zwei Möglichkeiten kenne: den Stein zu zertrümmern oder von ihm erschlagen zu werden.35 Zweitens war da noch eine weitere Gefahr, der er wie kein anderer bei seiner Arbeit gegenüberstehe: Das Kumpeldasein sei im Allgemeinen erbarmungslos, die AkkordPiorr 2017. Zur Quelleneinordnung vgl. ebd, S. 117 ff. Der Autor, entweder selbst Bergmann oder bestens mit dem Bergbau vertraut, hat die Geschichte etwa Mitte der sechziger Jahre zu Papier gebracht. Für eine diskurskritische Untersuchung ist es dabei sogar von Vorteil, dass es hier bei der „Übernahme bereits bekannter Schablonen“ (S. 123) bleibe, da der Text auf diese Weise als Zeitdokument verbreitete erzählerische Elemente aus dem Untersuchungszeitraum zitierfähig macht. 33 Ebd., S. 8. 34 Ebd., S. 14 f. 35 Ebd., S. 15. 32
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arbeit verlange Entsagung.36 Während der Bergmann aber dem Steinschlag oder dem Feuer unter Tage noch täglich die grimmige Stirn zu bieten vermochte, gab es „auch einen Bergmannstod […], der seine Opfer so teuflisch wie ein Meuchelmörder holte“ und den einst stolzen Muskelprotz in ein „welkendes, fleischiges Wrack“ verwandelte.37 Dieser schwitze, huste und röchle schließlich seinem Ende entgegen, nur noch von den Medikamenten und Sauerstoffflaschen an seinem Bett kümmerlich am Leben gehalten, das im Grunde kein Leben mehr sei. Von den Ärzten würden sie stumm, steif und konventionell behandelt; die Distanz zwischen Kumpel und Arzt sei sogar größer als zwischen Kumpel und Bergwerksdirektor.38 Doch Holler war nun gestorben. Sein alter Weggefährte Kwasny, der über ihn berichtete, lebte noch. Aber er wusste, dass ihn eines Tages ein ähnliches Schicksal erwarten würde. Nach dem Tod seines Freundes ließ er in der nahegelegenen Kneipe bei einigen Gläsern Schnaps und dem Anblick der noch kräftigen Jungbergleute „voll heimlichen Stolz“ die alten Erinnerungen wachwerden: Für ihn war es nie Beruf, sondern Berufung. Dort unten kann ein Mann beweisen, ob er Kraft und Verstand hat. Den Schicksalsschlägen und den Höheren Gewalten kann niemand ausweichen. Aber Gefahren, die sich berechnen oder vernunftmäßig erkennen lassen, können gebändigt werden. Der Weiße Tod allerdings zählt weder zu der einen noch zu der anderen Kategorie. Er ist weder Höhere Gewalt noch erkennbare Gefahr, sondern der Fluch der Erdentiefe. Er schleicht Jahre oder auch Jahrzehnte um seine Opfer, unsichtbar, denn auch das schärfste Bergmannsauge ist keine mikroskopische Linse.39
Hier expliziert sich gegenüber der Geschichte Hollers noch einmal, dass die Silikose in ihrem schleichenden, aber lebensraubenden Heranwachsen im Körper des Bergmanns eben jenen maskulinen Stolz konterkariert, dessen wichtiger Bestandteil die inhärenten Gefahren des Bergbaus eigentlich sind. Die Arbeit des Bergmanns war ein Drahtseilakt. Das austarierte Sowohl-als-auch zwischen dem materiellen und immateriellen Lohn auf der einen, und den schweren Unfallgefahren auf der anderen Seite ging im Falle der Silikose aber nicht auf. Vor diesem „Fluch“ konnte der Bergmann, ganz gleich wie stark und klug, seinen Kopf nicht aus der Schlinge ziehen. Er erkannte diese ihm unsichtbare Gefahr erst dann, wenn es längst zu spät war. Darin lag die vielbeschriebene „Heimtücke“ der Krankheit.
36 37 38 39
Ebd., S. 17 f. Ebd., S. 19. Ebd., S. 24. Ebd., S. 37.
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5.3
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Das Leben der Silikose-Kranken spielte sich zwar häufig im Wesentlichen in der unmittelbaren Nachbarschaft, der Zechenkolonie, ab. Es gab jedoch noch zwei weitere Bezugspunkte, an denen sich die Auseinandersetzung mit der eigenen sozialen Lage entzünden konnte und über die deshalb bergmännische Erzählungen über das subjektive Krankheitserleben und das spannungsreiche Verhältnis des Berufsstandes zur Gesamtgesellschaft überliefert worden sind: Dies waren einmal die Sozialversicherungsträger, also die Bergbau-Berufsgenossenschaft und die Knappschaft, und andererseits die behandelnden und begutachtenden Ärzte. Wie zu Beginn dieses Kapitels erwähnt sind diese Begegnungen durch Fallakten der Unfallversicherung überliefert. Sie dienten ursprünglich dazu, die Erlangung oder Nicht-Erlangung einer beantragten Entschädigungsrente zu dokumentieren. Da die Silikose eine chronische Erkrankung ist, konnten sich auch die jeweiligen Fallakten über einen sehr langen Zeitraum erstrecken. Eine Laufzeit von mehreren Jahrzehnten war eher die Regel als die Ausnahme. Verschaffen wir uns zunächst einen Überblick über die verschiedenen Begegnungskontexte, indem wir hier exemplarisch den Bergmann W. aus Wanne-Eickel biografisch begleiten. W. wurde 1902 in Gelsenkirchen geboren und würde sein gesamtes Leben im Ruhrgebiet verbringen. Abwechselnd auf den Zechen Pluto und Königsgrube in Wanne-Eickel beschäftigt, begann er seine Bergbaukarriere 1920 als Schlepper, bis er ab 1929 als Hauer direkt in die Kohleförderung kam. Im Januar 1972 starb er schwer an Silikose und Tuberkulose erkrankt im Bergmannsheil Bochum an Kreislaufversagen. Seine Krankheitsgeschichte und mit ihr seine Beziehung zur Bergbau-Berufsgenossenschaft begannen aber fünfundzwanzig Jahre zuvor mit einer ersten ärztlichen Untersuchung und einem ärztlichen Brief an die Bergbau-Berufsgenossenschaft. Am 5. April 1947 ließ W. sich erstmals vom Knappschaftsarzt Dr. B. schriftlich den Verdacht auf eine Silikose mit Tuberkulose bescheinigen.40 Die formale Verdachtsanzeige, die gemäß der Berufskrankheiten-Verordnung verpflichtend war, war auch die Voraussetzung dafür, dass bei der zuständigen Berufsgenossenschaft ein Rentenverfahren eröffnet werden konnte. Die Bergbau-Berufsgenossenschaft legte eine Berufskrankheiten-Akte an und übersandte W. ein auszufüllendes Formular, in dem sie erste Daten von ihm abfragte, vor allem zur bisherigen Arbeitsbiografie, dem bestehenden Arbeitsverhältnis und zum derzeitigen Gesundheitszustand. W. gab an, dass er seit Anfang 1920 im Bergbau beschäftigt sei. Danach war er in verschiedenen Funktionen eingesetzt, zuletzt als Kohlenhauer.41 Das Formular füllte W. nicht zu Hause aus, sondern in einer Heilstätte der Ruhr-Knappschaft, in die er zur Kur und Heilbehandlung überstellt worden war. Dort erfolgte bereits eine genauere medizinische Untersuchung
40 41
sv:dok 15/8251, fol. 3 (05.04.1947). Ebd., fol. 8 (14.05.1947).
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einschließlich Röntgenbild seiner Lunge, nach der ihm eine „offene, hochaktive […] Lungentbc“ bei „ganz leichte[r] Silikose“ durch die Ärzte bescheinigt wurde. Die eingeleitete Behandlung bestand aus „Freiluftliegekuren und allgemeinen hygienisch-diätischen Maßnahmen“, für die Zukunft empfahlen die Ärzte der Heilstätte aber je nach bestehenden Möglichkeiten eine „häusliche Asylierung oder Krankenhauspflege“.42 Ende September 1947 wurde der damals 45 Jahre alte W. schließlich für ein genaueres ärztliches Gutachten zur Untersuchung vorgeladen. Dabei wurde ihm zwar eine bestehende Tuberkulose bestätigt, die silikotischen Veränderungen seien aber nicht wesentlich genug, um eine entschädigungspflichtige Staublungenkrankheit festzustellen.43 Ende Oktober erging der entsprechende Bescheid an W. sowie an seinen Knappschaftsarzt Dr. B. Gegen diesen Bescheid legte W. jedoch dreieinhalb Wochen später Einspruch ein. Bereits im Januar 1946 sei er schon einmal in einem Knappschaftskrankenhaus untersucht worden und dort hätten die Ärzte eine Staublunge mittleren Grades bei ihm festgestellt. Im Sommer desselben Jahres habe sich dieser Befund in einem anderen Krankenhaus, in dem er sich zur Behandlung aufgehalten hätte, noch einmal bestätigt. Er verlangte deshalb eine oberärztliche Untersuchung und zeigte sich zuversichtlich, dass diese die Diagnosen aus dem Jahr 1946 bestätigen würde.44 Im schriftlichen Wortlaut des damaligen Befundes war zum Nachteil von W. aber die Rede von einer „Emphysembronchitis mit leichten silikotischen Veränderungen“, und nachdem dem staatlichen Gewerbearzt der Befund sowie die Röntgenaufnahmen der Lunge vorgelegt worden waren,45 wurde auch der erneute Einspruch gegen das erste Gutachten durch die Berufsgenossenschaft abgelehnt.46 Dagegen ging W. beim Oberversicherungsamt in Dortmund in Berufung, das bis zur Errichtung der Sozialgerichte die zuständige Schiedsinstanz war. Er scheiterte aber auch damit, weil sich die Spruchkammer den vorliegenden und im Wesentlichen gleichlautenden ärztlichen Urteilen anschloss.47 Ein halbes Jahr später beantragte W. erneut über seinen Arzt Dr. W. eine Berufskrankheiten-Rente. W. geriet an denselben Gutachter wie schon bei seiner ersten berufsgenossenschaftlichen Untersuchung, doch dieser stellte nun „eine wesentliche Änderung“ im röntgenologischen Befund fest, nach der „die Staubeinlagerungen sowohl in substantieller als auch in funktioneller Hinsicht jetzt als wesentlich zu beurteilen“ wären und bemaß die Erwerbsminderung mit 100 Prozent, auch weil sich unter dem Einfluss der offenen Tuberkulose der allgemeine Zustand des Untersuchten merklich verschlechtert habe.48
42 43 44 45 46 47 48
Ebd., fol. 9 (12.08.1947). Ebd., fol. 10 (30.09.1947). Ebd., fol. 12 (24.11.1947). Ebd., fol. 14 (29.12.1947) u. 15 (19.12.1947). Ebd., fol. 16 (20.01.1948). Ebd., fol. 18 (30.01.1948) u. 21 (01.07.1948). Ebd., fol. 24 (11.02.1949).
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Die Berufsgenossenschaft entsprach dem fachärztlichen Urteil und wies die Lohnermittlung an, auf deren Grundlage die Rente berechnet wurde. Hinzu kamen weitere Zulagen für die beiden minderjährigen Kinder. Doch W. ging abermals in Berufung: Denn die Rente würde ihm erst ab dem Tag der Untersuchung gewährt. Für W. stand aber fest, dass er auch vorher schon krank gewesen war und dass ihm deshalb eine Rente zugestanden hätte. Am Ende fand sich ein Kompromiss darüber, wann die Berufskrankheit begonnen haben sollte: Im öffentlichen Verfahren beim Oberversicherungsamt Dortmund verständigten sich die beiden Parteien auf einen Vergleich. Die Bergbau-Berufsgenossenschaft erklärte sich bereit, vom 1. November bis zum Tage der Untersuchung eine siebzigprozentige Rente zu zahlen. W. zeigte sich damit einverstanden.49 Als Nächstes erbat sich W. die Erstattung seiner Aufwendungen für Milch. So stand schwer Silikose- und Tuberkulosekranken als Ergänzung ihrer Diät täglich ein Viertelliter Milch zu.50 Danach waren die monetären Möglichkeiten aus der Unfallversicherung zunächst ausgeschöpft. Im Jahr 1952 erlitt W. einen häuslichen Unfall. Seine Silikose sei gerade besonders schlimm gewesen, sodass er unter schweren Schwindelanfällen litt. Durch einen Hustenanfall sei er frühmorgens vier Steintreppen heruntergestürzt. W. hatte sich bei diesem Sturz beide Knie schwer verletzt und war in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Auf beiden Seiten hatte er sich Frakturen zugezogen und musste über zwei Monate stationär im Gips liegen. Während die behandelnden Ärzte den Hustenanfall zumindest für glaubhaft hielten, beauftragte die Berufsgenossenschaft einen eigenen Kontrollbeamten damit, weitere Ermittlungen aufzunehmen, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Unfallverletzungen und der Berufskrankheit bestand. Für die Bergbau-Berufsgenossenschaft ging es dabei darum, ob die Behandlungskosten ihr als Unfallversicherungs- oder der Ruhr-Knappschaft als Krankenversicherungsträgerin zufallen würden.51 Dafür beschwor sie das Misstrauen gegenüber dem Versicherten und seinen Angaben über den Hergang sowie seinen allgemeinen Gesundheitszustand. In Rücksprache mit dem behandelnden Revierarzt Dr. B. kam der Ermittler zu dem Verdacht, dass W. vielmehr betrunken gewesen sein könnte und deshalb gestürzt sei, nicht etwa wegen eines starken Hustenanfalls. Ohne stichhaltige Belege für die Theorie fielen die Behandlungskosten aber dennoch der Berufsgenossenschaft zu.52 Eine typische Selbstbeobachtung der Erkrankten war die Saisonalität der Staublungensymptome. Im November 1953 stellte W., inzwischen fast 52 Jahre alt, einen Antrag auf zusätzliches Pflegegeld für sich. Er habe „im Oktober bis April immer eine schwere Zeit“, in der der Husten schlimmer werde. Die Bronchien hätten „ein Rauschen angenommen, als wäre in meinem Brustkörper ein regelrechter Wasserfall.“ Aber auch 49 50 51 52
Ebd., fol. 41 (18.07.1949). Ebd., fol. 42 (10.08.1949). Ebd., fol. 67 (19.05.1952), 73 (25.05.1952), 74 (25.05.1952), 77 (04.06.1952). Ebd., fol. 83 (14.07.1952), fol. 88 (01.08.1952).
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der heiße Sommer bringe seine Probleme mit sich für einen Silikose-Kranken, denn, „wenn wir die Mittagshitze haben muß ich im Keller sitzen,“ wie W. schrieb. Spaziergänge riskiere er zurzeit allenfalls noch mit Begleitung, ansonsten liege er im Bett oder auf der Wohnzimmercouch.53 Sein behandelnder Arzt Dr. B. füllte das Formular für den Antrag auf Pflegegeld bei der Berufsgenossenschaft aus. Darin waren Angaben über den derzeitigen Gesundheitszustand zu machen, etwa wo sich die Toilette befand und ob der Versicherte diese noch selbstständig aufsuchen könne.54 Diese Bedingungen für das Pflegegeld waren allerdings nicht gegeben und der Antrag wurde von der Berufsgenossenschaft abgelehnt. Die zusätzliche finanzielle Unterstützung stand dem Antragssteller letztlich nur zu, wenn „für zahlreiche Verrichtungen des täglichen Lebens fremde Hilfe notwendig ist und bei Staublungenerkrankten im Allgemeinen nur dann, wenn sie nicht nur zeitweilig, sondern überwiegend oder dauernd wegen der Staublungenerkrankung bettlägerig sind.“55 Danach kehrte Stille im Briefverkehr zwischen W. und der Bergbau-Berufsgenossenschaft ein, bis die Bezirksverwaltung Bochum das bislang unter bestimmten Umständen gewährte „Milchgeld“ im Sommer 1961 für alle Empfänger wieder strich, da es sich hierbei um eine freiwillige Maßnahme gehandelt habe, die nicht zu den grundsätzlichen Aufgaben der Unfallversicherung gehöre.56 Gleich im Monat darauf sah man es bei der Berufsgenossenschaft für angezeigt, die seit 1949 bestehende Vollrente zu überprüfen, weil bislang keine erneute Nachuntersuchung erfolgt sei.57 Im Oktober kam die Siliko-Tuberkulose-Ambulanz, die eigens am Bergmannsheil Bochum betrieben wurde, der Bitte nach und lud W. zu einer entsprechenden Untersuchung vor. Dort traf er in so schlechtem Zustand ein, dass der untersuchende Arzt die Vollrente weiterhin für gerechtfertigt hielt und veranlasste, dass W. wieder regelmäßig untersucht werde.58 In den folgenden Jahren verschlechterte sich sein Zustand zunehmend. Im Frühjahr 1962 beantragte seine Ehefrau für ihren inzwischen vollständig bettlägerigen Mann Pflegegeld, weil sie ihn betreuen müsse. Nachdem der Berufsgenossenschaft wieder das entsprechende Formular durch den behandelnden Arzt Dr. B. zugegangen war, entsandte diese einen Kontrollbeamten, um die Lage direkt vor Ort einzuschätzen und den Anspruch zu prüfen.59 Der Beamte berichtete: Ich traf den Erkrankten allein in seiner Werkskoloniewohnung an. Nach dem von ihm geschilderten Krankheitsverlauf sei der erhöhte Fieberzustand vor etwa 2 Wochen abgeklungen. Dr. B. habe die Strophantinkur beendet und beschränke seine Hausbesuche z. Zt. auf
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Ebd., fol. 96 (20.11.1953). Ebd., fol. 97 (27.11.1953). Ebd., fol. 98 (08.12.1953). Ebd., fol. 105 (08.06.1961). Ebd., fol. 106 (18.07.1961). Ebd., fol. 108 (13.10.1961). Ebd., fol. 111 (28.02.1962), 112 (10.03.1962).
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einmal wöchentlich. An Medikamenten werden verordnet: Dicodid, Dextropur, DyspnéInhalat. Ehefrau W. bestätigte nach Rückkehr vom Einkauf im Wesentlichen die Angaben ihres Mannes […].60
Die Hilflosigkeit sei, so die Einschätzung des Beamten, inzwischen wieder überwunden, falls sie bislang vorgelegen hatte, sodass der Anspruch dadurch abgegolten sei, wenn für die zurückliegenden beiden Monate einmalig gezahlt werde. In der folgenden Zeit bezog W. immer wieder phasenweise Pflegegeld. Der Berufsgenossenschaft teilte er am Tag vor seinem sechszigsten Geburtstag in einem erneuten Antrag mit: Ich wollte einmal ohne meinen Doktor auskommen, weil er viel Hausbesuche bei Kranken hat. […] Habe vorher noch sehr lange krankgelegen, deshalb wollte ich einmal ohne den Arzt auskommen. Wenn es mir geglückt wäre, dann hätte ich mich gefreut. Aber leider, es geht noch nicht ohne Arzt. Ich war von September 1961 – Mai 1962 bettlägerig.61
Auch in den darauffolgenden Jahren lebte W. von Krankenlager zu Krankenlager und befand sich in der Zwischenzeit unter regelmäßiger Betreuung durch seinen behandelnden Revierarzt Dr. B. sowie das Bergmannsheil Bochum, in dem er auf den Status seiner Tuberkulose untersucht wurde. Der Bericht eines Kontrollbeamten aus dem Frühling 1969 zeichnete das Bild eines mitgenommenen Mannes: [Ich traf] den Erkrankten im Wohnzimmer sitzend an. Seine auffällig blaßgelbe Gesichtsfarbe und zittrigen Bewegungen bestätigten das zurückliegende Krankenlager. Während unserer Unterhaltung benutzte er wegen des ständigen Hustenreizes den griffbereit auf dem Tisch stehenden Inhalierapparat. Glaubhaft schilderte Frau W., daß ihr Mann infolge erhöhter Luftnotbeschwerden ab 12. Januar 1969 bettlägerig war. Erst nach intensiver Injektionsbehandlung mit Supracillin […] bestehe eine langsam fortschreitende Besserungstendenz.62
Im Laufe des Jahres 1969 verschlimmerte sich der körperliche Zustand von W. immer weiter, sodass ihm ab August ein fortlaufendes Pflegegeld gewährt wurde. Als der Beamte ein Jahr später wieder zu einem Hausbesuch bei W. vorbeikam, sprach er wegen der „schon in Ruhelage bestehenden Atemnoterscheinungen“ bei W. nur mit dessen Ehefrau und deren anwesender Mutter. Beide bestätigten, dass W. „ihre ständige Krankenpflege und Hilfeleistungen zu allen Verrichtungen des täglichen Lebens“ brauche.63 Neujahr 1972 wurde W. ins Bergmannsheil Bochum eingeliefert, wo er noch am Folgetag an Herz-Kreislaufversagen starb. Die Berufskrankheit sei dabei nach Ein-
60 61 62 63
Ebd., fol. 114 (09.04.1962). Ebd., fol. 137 (11.12.1962). Ebd., fol. 184 (24.04.1969). Ebd., fol. 205 (29.06.1970).
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schätzung der Ärzte „als wesentliche Teilursache der stationären Behandlung“ anzusehen,64 sodass der Witwe eine berufsgenossenschaftliche Witwenrente zustand. Die exemplarisch nacherzählte Fallgeschichte des Bergmanns W. ist wie jede andere einmalig, nicht nur weil sie von einem individuellen Arbeiter und seinen familiären und sozialen Verbindungen, seiner Persönlichkeit und seinem Krankheitserleben handelt, sondern auch, weil an jeder ihrer Etappen und Episoden im Rentenverfahren ein kontingenter Horizont verschiedener Ausgänge lag, der von verschiedenen Akteuren auch unterschiedlich entschieden, ausgeschöpft und gestaltet wurde. Das unsichere Ergebnis der medizinischen Objektivierung in der Gutachterpraxis, bei der Ärzte stets Einzelfallentscheidungen zu treffen hatten, gehört ebenso dazu, wie die Reaktionen der Versicherten: Sollten sie Widerspruch einlegen? Auf eigene Kosten ein Privatgutachten einholen? Abwarten? Aufgeben? So zeigt diese individuellen Erzählung entlang der formalen Etappen zugleich einen idealtypischen Verlauf, der unverkennbar durch die gesetzlichen Bestimmungen der berufsgenossenschaftlichen Rentenverfahren gerahmt und strukturiert war, die als institutionelle Filter in einer spezifischen Grundspannung zu den subjektiv-körperlichen Leidens- und Verfallserfahrungen standen. Eine derartige Fallgeschichte begann deshalb meist mit der ärztlichen Anzeige über den Verdacht auf eine Staublunge, der entweder eine Routineuntersuchung im Betrieb, oft aber auch bereits eintretende gesundheitliche Beschwerden der Betroffenen vorausgegangen waren. Es war ein wiederkehrendes Muster, dass die ersten Symptome einer beginnenden Silikose zwar als solche wahrgenommen wurden, diese aber noch nicht zu einer Rente berechtigten. War die Hürde zu einer Rente durch die Unfallversicherung einmal genommen, verlagerte sich der Konflikt zwischen Versicherung und Versichertem auf die Höhe der Erwerbsminderung, von der auch die Rentenhöhe abhing, und schließlich auf das Pflegegeld. Sich dabei durchzusetzen konnte im Einzelnen hartnäckige Schritte verlangen, wie die Beschwerden und Berufungen und beharrlichen Neuanträge auf ein Pflegegeld im Fall von W. illustrieren. Leistungen aus der Unfallversicherung zu erhalten, erforderte dabei entsprechendes Wissen über die rechtlichen Mittel, die sich einsetzen und ausschöpfen ließen. Das Wissen über die formale Möglichkeit, gegen die Bescheide der Berufsgenossenschaft Berufung einzulegen, gingen den Versicherten mit diesen Bescheiden zu. Im Gegensatz zu den meisten Versicherten und seinen anderen Eingaben reichte W. seine Berufungen maschinenschriftlich ein, möglicherweise erhielt er hierfür weitere Unterstützung. Die Kenntnis von Milchgeldzulagen und dem Anspruch auf Pflegegeld kamen jedoch nicht frei Haus. Auf welchem Wege solches Wissen unter den Bergleuten zirkulierte, lässt sich nicht genau ermitteln, sofern sich Bergarbeiter in ihren Briefen nicht explizit auf bestimmte Aussagen oder Zeitungsartikel bezogen. Aus der soziologischen Stu-
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Ebd., fol. 225 (11.01.1972).
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die Jantkes aus dem Jahr 1950 lässt sich aber schließen, dass die Beschäftigung mit der Sozialversicherung – auch wenn nur geringe Kenntnisse über das genaue Prozedere bestanden – ein wichtiges Thema innerhalb der Bergarbeiterschaft und ihrer sozialen Netzwerke war. Dominierend war in dieser Beziehung zu den Versicherungsträgern ein grundlegendes Misstrauen, weil sich die Urteile der begutachtenden Ärzte und der Versicherung nur selten mit der intensiven körperlichen Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der erkrankten Bergleute deckten. Besonders deutlich wurde dies bei der Prüfung des Anspruchs auf Pflegegeld, die im weiteren Verlauf dieses Kapitels immer wieder eine Rolle spielen wird. Die Rolle der Ärzte lässt sich dabei aber nicht pauschalisieren, sondern muss differenziert betrachtet werden: Sie traten in der Rentenfrage in zwei unterschiedlichen, meist gegensätzlichen Rollen auf. Auf der einen Seite traten sie als unparteiische Sachverständige der Unfallversicherung in Erscheinung, die mit ihren diagnostischen Objektivierungstechniken im prekären Interessengegensatz zwischen den Bedingungen der Versicherung und den Ansprüchen der Versicherten vermittelten. Dabei ergaben sich gewiss immer Auslegungsspielräume, die Kompromissfindung vollzog sich dennoch im Modus einer wissenschaftlichen Wahrheitssuche und -produktion ab. Auf der anderen Seite waren niedergelassene Ärzte persönliche Bezugspersonen, die die Versicherten über viele Jahre, im Fall von W. und zahlreichen anderen Bergleuten bis zum Lebensende, begleiteten. Über den behandelnden Hausarzt, erfolgte nicht nur die unmittelbare und manchmal fast tägliche medizinische Betreuung, sondern auch ein Gutteil der formalisierten Kommunikationsakte gegenüber der Berufsgenossenschaft, indem sie die Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands bescheinigten, um so eine höhere Erwerbsminderung oder ein Pflegegeld zu ermöglichen. In den verschiedenen Verfahren, die W. gegen die Bergbau-Berufsgenossenschaft vor dem Versicherungsamt anstrengte, vertrat er sich selbst. Andere Versicherte, das zeigen andere Fallakten, ließen sich dabei aber auch per Vollmacht von Sekretären der Industriegewerkschaft Bergbau vertreten oder nahmen für rechtliche Auseinandersetzung die Hilfe spezialisierter privater Vereine in Anspruch, die von anderen Betroffenen gegründet worden waren. Spätestens mit den nachlassenden Kräften der Silikose-Kranken wurden jedoch die – meist weiblichen – Familienangehörigen, in der Regel die Ehefrauen, sichtbar. Auch auf ihre besondere Rolle wird noch näher einzugehen sein. 5.4
Häusliche Erfahrungs- und Leidensräume
Wie wir in der mutmaßlich aus den sechziger Jahren stammenden anonymen Kurzgeschichte über die (fiktiven) Charaktere Holler und Kwasny sowie beim Blick auf den öffentlichen Diskurs über die Staublungenkrankheit in Kapitel 2 dieser Arbeit gesehen haben, steckte in den (Selbst-)Zuschreibungen der Bergarbeiterschaft ein widerspruchsvolles Spannungsverhältnis im Hinblick auf die gesundheitlichen Gefahren ih-
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rer Arbeit: Sie erschienen nämlich zugleich Quelle und Bezugspunkt des beschriebenen spezifischen Berufsethos, dessen Narrativ von Männlichkeitsbildern und ostentativem Stolz geprägt wurde, aber auch von offener Wut und Enttäuschung über Ausbeutung, Verletzung, Tod sowie versagter gesellschaftlicher Anerkennung, Fürsorge und Hilfe. Für die Bergleute war die Silikose außerdem ein drohender biografischer Bruch, das hat der erste tiefere Blick in die persönliche Geschichte des Bergmanns W. verdeutlicht. Bei den „Männern von Luise“ schwang zusätzlich empfundenes Unrecht mit. Außerdem klagten die Bergbauunternehmen – das haben sowohl die Presseberichterstattung als auch die internen unternehmensinternen Äußerungen gezeigt – über die ständig bestehenden Nachwuchssorgen ihrer Branche. Andere Berufe schienen für junge Schulabgänger deutlicher attraktiver zu sein und den gesundheitlichen Gefahren wurde eine wesentliche Mitschuld am schlechten Image des Bergbaus gegeben. All jene, die sich den Unkenrufen zum Trotz auf die schwere Arbeit auf der Zeche einließen, so schien es, konnten von einer unheilbaren Krankheit aus der Lebensbahn gerissen und an den Rand der Gesellschaft und aus dem eigenverantwortlichen Erwerbsleben heraus gedrängt werden. Dadurch betrogen und vergessen worden zu sein, empfanden insbesondere jene als Verlust und Deklassierung, die wegen einer Silikose nicht nur den Bergmannsberuf aufgegeben hatten, sondern die bereits so stark darunter litten, dass sie nur noch einfachste Arbeiten verrichten konnten. Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung blieben viele an die eigenen vier Wände oder das Bett gefesselt, da ihnen das Gehen eine unüberwindliche Anstrengung wurde. Es ist der Verzweiflung dieser Männer oder ihrer Ehefrauen über dieses Los zu verdanken, dass eindrückliche Spuren dieser biografischen Selbstverortung überhaupt in den Akten überliefert blieben. Häufig brachen sie sich im Streit mit der Berufsgenossenschaft um eine höhere Rente oder ein Pflegegeld Bahn, in deren Verlauf die medizinischen Untersuchungen und Kontrollbesuche der Versicherungsermittler als demütigende Gängelung empfunden wurden. Von Seiten der Sozialversicherungsangestellten schwang dagegen stets der Verdacht mit, Versicherte würden ihre Lage dramatischer darstellen, als sie eigentlich sei. Das aus diesem Konfliktfeld entstehende komplementäre Mosaik aus gegenseitiger Beobachtung und Erfahrung bleibt entsprechend stets widersprüchlich und soll hier an Hand weiterer Fallbeispiele eingehender beleuchtet und analysiert werden. Blicken wir zur Verdeutlichung auf ein erstes Beispiel. In seltener Offenheit und Drastik schilderte der Invalide J. aus Unna im Jahr 1947 ein persönliches Bild seines Schicksals. Als seine Silikose 1933 anerkannt worden war, war er gerade 44 Jahre alt gewesen. Seither kümmerte sich seine Ehefrau um ihn. Als Vollrentner gab es für J. keinen Spielraum mehr für eine weitere Rentenerhöhung. Allerdings stand Versicherten wie ihm, wie wir bereits erfahren haben, ein Pflegegeld zu, wenn sie auf pflegerische Unterstützung angewiesen waren. Im Frühjahr 1947 meldete J., dass er seit einem Jahr bettlägerig sei. Bislang hatte die Berufsgenossenschaft seinen Antrag auf Pflegegeld abgewiesen, obwohl sein behandelnder Arzt Dr. W. bestätigen könne, dass er „ohne
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Hilfe nicht fertig“ werde und eine Hilfskraft engagieren müsse.65 Anfang März machte sich ein Ermittler auf dem Weg zu seiner Wohnung, um den Anspruch auf Pflegegeld erneut zu überprüfen. Wie in solchen Verfahren üblich hielt er seine Beobachtungen minutiös in einem umfassenden Vermerk fest und bezog das gesamte soziale Umfeld des Versicherten akribisch mit ein: Bei meinem Besuch morgens zwischen 9 und 10 Uhr traf ich J. auf dem in der Küche befindlichen Liegesofa an. […] Die allgemeine Schwäche sei so weit, daß er nicht mehr gehen könne. […] Angeblich liegt er ständig und zwar auf dem in der Küche stehenden Liegesofa, weil er die zum Schlafzimmer führende Treppe nicht passieren könne. Beim Anziehen werde er durch seinen Nachbarn M. geholfen, das Waschen geschehe durch seine Ehefrau. Das direkt neben der Küche im Flur liegende Closett suche er zur Verrichtung seiner Notdurft noch auf, wobei er durch seinen Nachbarn M. geholfen werde. […] Von 2 Frauen hörte ich, daß J. sich noch täglich draußen aufhält und herumgeht. Nachdem mir dieses gesagt worden ist, bin ich gegen 11 Uhr nochmals zu J. gegangen und habe ihm diese Angaben vorgehalten. J. bestritt die Richtigkeit dieser Angaben und verwies mich an einen gegenüber wohnenden Nachbarn E., der über seine Pflegebedürftigkeit Auskunft geben könne. E. gab an, daß J. wohl in schlechten Heften sei und er in der Regel in Begleitung herausgehe. So seien sie gemeinsam schon mehrfach zur Sprechstunde des Dr. W. gegangen, wobei J. habe besser haben gehen können als er, der an Asthma leide. Die Ehefrau E. gab an, daß J. am Vortag aus der Stadt gekommen sei, worüber sie sich noch gewundert habe, da das Wetter eher ungünstig gewesen sei. Auf Vorhalt habe J. ihr dann gesagt, er sei zum Arzt gewesen.66
Wegen der verdächtigen Aussagen der Nachbarn und weil J. „allgemein als Schwätzer bezeichnet“ werde, erschien es dem berufsgenossenschaftlichen Ermittler zweifelhaft, ob J. tatsächlich so pflegebedürftig sei, wie er angab, wenn er doch noch das Haus verlassen könne. Dennoch erhielt J. ab März ein Pflegegeld von der Berufsgenossenschaft. Im Mai des Folgejahres machte sich erneut ein Ermittler auf den Weg, um den Fortbestand des Anspruchs zu überprüfen. Der behandelnde Arzt Dr. W. hatte J. brieflich große Atemnot und einen dürftigen Allgemeinzustand bescheinigt. Der Ermittler fand J. jedoch sitzend und „in voller Straßenkleidung in der Küche“ vor, wo dieser ihm in einer längeren lebhaften Unterhaltung „versuchte seine komischen politischen und religiösen Ideen zu entwickeln“ und auch insgesamt einen guten Allgemeinzustand vermittelte. Von großer Atemnot sei keine Spur gewesen, am Morgen sei er eigenen Angaben zu Folge sogar im Park spazieren gegangen. Man wolle ihm zumindest bis Juni noch das Pflegegeld weitergewähren, damit er sich finanziell wieder umstellen könne,
65 66
sv:dok 15/8217, fol. 183 (08.02.1947). Ebd., fol. 184 (04.03.1947).
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allerdings sei danach mit einem baldigen Neuantrag zu rechnen.67 Das Hin und Her setzte sich in den darauffolgenden Jahren weiter fort. Nachdem die Ehefrau J. 1950 selbst krank geworden und 1954 verstorben war, war J. auf die tägliche Hilfe von Haushälterinnen angewiesen, bis er im Oktober 1954 erneut heiratete, „weil er mit verschiedenen Haushälterinnen nicht hätte auskommen können“ und diese „nur für ihre eigene Tasche gesorgt“ hätten.68 Nach der vollzogenen Hochzeit 1954 zogen die Eheleute wegen der besseren Luft, wie J. angab, aus dem Ruhrgebiet ins Sauerland. Als ihn ein Ermittler der Bergbau-Berufsgenossenschaft dort nach einem neuerlichen Antrag aufsuchte, zeichnete er ein erbarmungswürdiges Bild des mittlerweile Mitte Sechzigjährigen: Mitbewohner des Hauses, die vor dem Hause standen, bezeichneten die Wohnung und gaben an, daß J. zu Hause sei. J. könne nicht mehr. Er käme die Treppen nicht herunter und herauf. J. lag auf dem Sofa in der Küche, zugedeckt mit einer Wolldecke. Der E.-Z. [Ernährungszustand, D. T.] ist gut. Auffällig war die dauernde Atemanstrengung. Während der Unterredung mußte J. mit dem Sprechen mehrfach aussetzen.69
Da J. nicht nur an Silikose, sondern auch einer mit ihr verschränkten Tuberkulose litt, stand er unter intensiver medizinischer Aufsicht, wurde wöchentlich von einem Arzt aufgesucht und bekam kreislaufstützende Medikamente injiziert. Für aufwendigere Behandlungen musste er jedoch ins Bergmannsheil Bochum gebracht werden. Als man ihn 1956 zur weiteren Beobachtung dortbehalten wollte, nachdem er geglaubt hatte, sich wegen seiner eigentlichen Bauchbeschwerden dort in Behandlung begeben zu haben, revoltierte J. und ließ sich entlassen. In einem späteren Brief rechtfertigte seine neue Ehefrau gegenüber der Versicherung dieses Verhalten: Ich sah die erschreckten Augen von meinem Mann denn seinen Bauch wollte man gar nicht röntgen. Er sagte er könnte nicht hier bleiben in paar Tagen wäre er tot, hier bekäme er keine Luft. Ich muß ihm da beipflichten. In Unna wohnten wir 1 Jahr, ich litt unter fürchterlichen Kopfschmerzen, die ich sonst nie kannte und die ich hier überhaupt nicht kenne mehr. So ergeht es meinem Mann. Wie wir nach Arnsberg heute zufuhren dachten wir, wir würden erdrückt. Mein Mann hat sein Leben im Ruhrbecken immer verbracht und seit seiner Silikose sehr unter der qualmigen Luft leiden [müssen, D. T.] und [er, D. T.] möchte jedem Silikosemann raten ins Hochgebirge zu gehen, um sein Lebensende erträglicher zu machen. Es ist ja auch völlig klar, dass ein Aufenthalt in der stickigen Stadt Bochum nie günstig sein kann.70
67 68 69 70
Ebd., B. 191 (05.1948). Ebd., fol. 257 (21.04.1955). Ebd., B. 257 (21.04.1955). Ebd., fol. 267 (14.09.1956).
Häusliche Erfahrungs- und Leidensräume
Ihn dortzubehalten sei deshalb Mord. Die Krankheit empfinde er auch so schon als ein langsames „Erwürgen“ und so brauche er jedes bisschen Sauerstoff. Die gesamte Industrie- und Bergbauregion Ruhrgebiet erschien in diesem Brief als Sinnbild für den an J. begangenen körperlichen Raubbau, und nicht nur das, sondern im Grunde sogar für eine generationenübergreifende Ungerechtigkeit gegenüber seiner gesamten Familie. Denn seine Ehefrau zitierte ihn weiter mit den Worten: Mein Vater war 44 Jahre im Kohlenbergbau, ich bald 30, mein Sohn 20 Jahre, wir haben uns alle geschindet [sic!] und hohe Lohnabzüge für Sozialrentenabgaben [gehabt, D. T.] und nun wo wir nicht mehr können tut man ohne Überlegung uns in den Tod treiben und uns in schlechte Luft treiben. Das Leben ist so kurz für uns Bergleute und man braucht sich nicht zu wundern, wenn wir an jedem Fünkchen Leben hängen trotz der schweren Leiden. Er sagt, man müsste es in die Zeitung setzen, wie man es mit mir macht, dann [werden, D. T.] manchem Kumpel die Augen aufgehen und [er, D. T.] lieber nicht in den Kohlenpott gehen.71
In dieser tragischen familiären Selbstverortung innerhalb der Leidens- und Opfergeschichten der Bergarbeiterschaft und des Ruhrgebiets wird die persönliche Entrüstung über den aus seiner Sicht ehrenrührigen, geizigen Umgang der Bergbau-Berufsgenossenschaft mit ihm als invalidem Bergmann deutlich, als der er seine Ansprüche gegenüber der Gesellschaft erworben zu haben glaubte, die ihn nun im Stich ließ, und für die nicht nur er, sondern mehrere Generationen seiner Familie sich geschunden hätten. Die gesetzlichen Regeln für das Pflegegeld, an dem sich die Konflikte zwischen silikosekranken Vollrentnern und der Bergbau-Berufsgenossenschaft häufig entzündeten, waren und blieben jedoch streng. Maßgeblich war nicht, dass die Kranken grundsätzlich auf Hilfe bei ihren täglichen Verrichtungen angewiesen waren. Denn hier wurde die Gemeinschaft, vor allem die familiäre Gemeinschaft, in die Pflicht genommen. Gelegentlich wies die Berufsgenossenschaft die Versicherten explizit auf diese ihrer Familie zugedachte Aufgabe hin, weil die Angehörigen „sittlich verpflichtet sind, dem Versicherten die notwendige Pflege ohne Entgelt angedeihen zu lassen“ und dass ihnen „ein bestimmtes Maß von Fürsorge zugemutet werden“ könne, sofern keine darüber hinausgehenden Kosten entstünden.72 In den meisten Fällen fiel diese Rolle den Frauen, zumeist den Ehefrauen, zu. So verwundert es nicht, dass gerade bei den am schwersten erkrankten Versicherten in ihren schwierigsten Phasen nicht die Männer selbst, sondern vor allem ihre Gattinnen in intensiven schriftlichen Austausch mit der Berufsgenossenschaft traten. Blicken wir auf einen weiteren Fall, der diesen Punkt noch näher beleuchtet. Der Bochumer M. litt schon seit 1936 an einer entschädigungspflichtigen Silikose und be-
71 72
Ebd., fol. 268 (14.09.1956). sv:dok 15/8220, fol. 127 (09.11.1964).
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fand sich seither immer wieder in stationärer Behandlung. Ab 1950 beantragte er jedes Jahr mit wechselndem Erfolg Pflegegeld. 1951 war er „gelegentlich bettlägerig“; seine Frau reichte ihm Speisen und Medikamente an, wodurch folglich keine Kosten entstünden.73 Im April 1953 klagte M. über periodische Atemnot, wegen der er die Nähe des Hauses überhaupt nicht mehr verlasse und seit vier Monaten sogar das Haus selbst nicht habe verlassen können.74 Daheim werde ihm, so der Ergebnis der anschließenden Untersuchung durch die Berufsgenossenschaft, durch die Frau lediglich mit „kleinen Handreichungen“ geholfen. Danach bezog M. immer wieder für einige Monate das Pflegegeld. 1956 kam er in den Genuss eines von der Berufsgenossenschaft gewährten Kuraufenthaltes im Sauerland. Nach seiner Rückkehr sah er sich dazu bemüßigt, seiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen und sich brieflich an die Berufsgenossenschaft zu wenden: Für die mir in Kloster-Grafschaft gewährte Kur spreche ich der Berufsgenossenschaft meinen ausdrücklichen Dank aus. Daß man uns Hundert-Prozentigen [Vollinvaliden, D. T.] noch so was bietet, hätte ich nie erwartet. Allein schon das Wissen, daß für uns auch noch was getan wird, stärkt den Lebenswillen und stößt unsere allgemeine Denkweise um […], daß man unser Ableben lieber heute als morgen begrüßt. Jedenfalls hat mich die Tatsache so beglückt, daß ich nicht umhin kann, so ohne Danksagung für die Kur die Sachen auf sich beruhen zu lassen.75
Das Erleben des Daseins als Silikose-Kranker konnte somit ganz unterschiedlich erzählt werden. Die aus den Zeilen sprechende Überraschung über die gewährte Kur verhält sich dabei aber komplementär zum Fatalismus von J. weiter oben, der dem Ruhrgebiet auf eigenes Betreiben den Rücken gekehrt hatte und den ärztlichen Umgang als demütigende Gängelung empfand, denn sie schien derselben Erwartung zu entspringen, dass die berufsunfähig gewordenen Rentner vergessen und ihrem Schicksal überlassen worden waren. Die langfristige Wirkung des Hoffnungsschimmers bleibt allerdings fraglich. Mochte er auch dem Lebenswillen von M. unerwarteten Auftrieb geleistet haben, dürfte für ihn und nicht zuletzt seine Ehefrau schnell wieder der bedrückende Alltag ständiger Abhängigkeit und Pflege eingekehrt sein. Was seine Versicherungsunterlagen als „kleine Handreichungen“ beschrieben, türmte sich über die Jahre für seine Ehefrau zur lebensbestimmenden schweren Belastung. Die Pflege war ihr Lebensinhalt geworden. Als das Pflegegeld im April 1960 wieder einmal entzogen wurde, wandte sie sich enttäuscht an die Versicherung und schrieb:
73 74 75
sv:dok 15/8227, fol. 170. Ebd., fol. 178 (08.04.1953). Ebd., fol. 203 (22.06.1956).
Häusliche Erfahrungs- und Leidensräume
Auf mir als Frau liegt seit langen Jahren die Pflege meines Mannes, welche sowohl in körperlicher, wie in seelischer Hinsicht mich stark belastet. Welche Überwindung es kostet, […] das Siechen auf die Dauer zu ertragen, sei hier mit ausgesprochen. […] Die vielen Krankheiten haben seinen Körper geschwächt. Ohne ständige Hilfe geht es seit langem nicht mehr. Die Hinfälligkeit macht sich so recht beim Aufstehen bemerkbar. […] Ein Kleinkind zu betreuen ist eine Erholung, um einen Vergleich zu geben. Die Verdrießlichkeit des Mannes über den eigenen Zustand muß ebenfalls hingenommen werden. Seit zehn Jahren kenne ich nichts mehr als Mühe und Leid und dafür bedenkt man mich mit dem Entzug [des Geldes, D. T.].76
Bis zu seinem Tod im Jahr 1965 blieb M. vollkommen auf die intensive Hilfe seiner Ehefrau angewiesen. Nicht alle Bergmannsfrauen sahen sich aber zu dieser Belastung dauerhaft imstande. Der Essener Bergmann B. erhielt 1942 die Diagnose Staublunge und wurde auf ärztliche Veranlassung an einen staubärmeren Arbeitsplatz verlegt. Ab 1944 bezog er eine Rente, erst 50 Prozent, ab 1950 aber bereits 100 Prozent. Als seine herzkranke Ehefrau im Herbst 1963 selbst für sechs Wochen in einem Krankenhaus lag, pflegte ihn seine in der Nachbarschaft wohnende Tochter. Danach verzichtete seine Frau auf die ihr verordnete Kur, da „sie ihren Mann nicht allein lassen könne.“77 Da M. nicht „überwiegend bettlägerig“ war, konnte ihm entgegen seiner persönlichen Auffassung und der seiner Ehefrau aber kein laufendes Pflegegeld gewährt werden. 1966 schaltete das Paar deshalb den Silikose-Bund ein, der sich – wenn auch ohne Erfolg – per Vollmacht für ihre Sache einsetzte.78 Nach einem neuerlichen Kontrollbesuch im darauffolgenden Frühjahr wurde M. bescheinigt, dass es „mit ihm in letzter Zeit rapide bergab gehe“ und er das Bett nicht mehr verlassen könne. Nach seinem Tod im Januar 1972 vertrat der Silikose-Bund die Interessen der Witwe.79 Die Wände der eigenen Wohnung als äußere Begrenzung des verbliebenen und zumeist beständig schrumpfenden Bewegungsradius’ der Kranken war ein immer wiederkehrendes Muster der Selbstverortung der schreibenden Silikotiker in ihren Eingaben die Berufsgenossenschaft. Bezugsperson nach außen war für sie und ihre pflegenden Angehörigen vor allem der behandelnde Arzt. Im Falle des 1959 im Alter von 55 Jahren vollverrenteten F. füllte der Bezirksarzt N. diese Rolle aus. Ab Herbst 1964 ging es ohne Hilfe der Ehefrau beim An- und Auskleiden überhaupt nicht mehr. Dr. N. kam bis zu dreimal wöchentlich in die Wohnung, um kreislaufstützende Medikamente zu injizieren. F. selbst sei zwar noch „guten Mutes“, dass sich sein Zustand noch einmal
76 77 78 79
Ebd., fol. 267 (27.04.1960). sv:dok, 15/8308, fol. 141 (29.06.1964). Ebd., fol. 152 (26.09.1966). Ebd., fol. 197 (24.01.1972).
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bessern würde.80 Tatsächlich erholte er sich im darauffolgenden Sommer wieder und das Pflegegeld wurde ihm daraufhin entzogen.81 Eine Episode schwerer Bettlägerigkeit wiederholte sich jedoch im Frühjahr 1967 wieder. Beim Kontrollbesuch in der Wohnung im Mai 1967 ging es F. schließlich wieder besser und er führte den Ermittler in „sein separat eingerichtetes Krankenzimmer“, dessen Bett „säuberlich gemacht“ war. Dr. N. kam wöchentlich zum Hausbesuch, um Spritzen zu verabreichen.82 Wenige Monate später starb F. Das Muster der Beantragung und Gewährung des Pflegegeldes änderte sich über den gesamten Untersuchungszeitraum zwischen den vierziger und den siebziger Jahren nicht. Das alltägliche Leben der Erkrankten, die es beantragten, spielte sich in der Regel nur noch innerhalb der eigenen Wohnung oder in der unmittelbaren Nachbarschaft ab, während ihre Ehefrauen den Haushalt und Medikamente besorgten. Die behandelnden Ärzte kamen im Abstand von einigen Wochen zu Hausbesuchen, um Spritzen zu verabreichen. So unterscheiden sich auch die Berichte der Kontrolleure der Berufsgenossenschaft aus den siebziger Jahren allein durch neuere technische Hilfsmittel, wie beim Essener Rentner W., Jahrgang 1908, von ihren Schicksalsgenossen aus den vierziger Jahren, z. B. indem für den Notfall ein Telefon bereitstand: Die Wohnung des Versicherten befindet sich in der 3. Etage eines Hochhauses. Beim Kontrollbesuch am 20.6.1975 gegen 11.30 Uhr öffnete nach dem Schellen Frau W.; sie führte mich ins Wohnzimmer. W. saß dort angezogen in einem Lehnsessel; er trug Hauspantoffeln. Der Versicherte schilderte seinen schlechten Gesundheitszustand. Seit Januar des Jahres gehe es mit ihm bergab. Er sei zur Untersuchung in der Praxis seines Hausarztes Dr. M. gewesen. Er habe mit dem Taxi nach Hause gebracht werden müssen. Dr. M. habe ihn in der vergangenen Woche in der Wohnung besucht. Er messe seinen Blutdruck und höre ihn ab. Dr. M. komme sonst auf Bestellung. Er (W.) habe sich ein Telefon […] zugelegt, um den Arzt im Notfall bestellen zu können. Seine Frau lasse sich die Medikamente in der Praxis verordnen. W. gab auf die gestellte Frage, ob er in den vergangenen Monaten mal streng zu Bett gelegen habe, an, in der vergangenen Woche 3 Tage das Bett nicht verlassen zu haben. Er habe mal gute und schlechte Tage.83
Erleichterte Kommunikationsbedingungen wie diese dürften vor allem den pflegenden Ehefrauen zu Gute gekommen sein, während die erkrankten Bergleute selbst nicht mehr im Stande waren, ohne deren Hilfe überhaupt das Haus zu verlassen.
80 81 82 83
sv:dok 15/8220, fol. 93 (12.11.1964). Ebd., fol. 114 (04.08.1965). Ebd., fol. 126 (05.05.1967). sv:dok 15/8311, fol. 134 (20.06.1975).
Die soziale Rolle der Begutachtungspraxis
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Die soziale Rolle der Begutachtungspraxis
Mit der Berufsgenossenschaft kamen die versicherten Bergleute zumeist nur in brieflichen Kontakt oder über die in regelmäßigen Abständen auf verschiedenen Zechen abgehaltenen Sprechstunden, bei denen sie sich mit ihren Anliegen an entsandte Versicherungsangestellte wenden konnten. Da die Rentenverfahren allerdings nahezu vollständig vom Ausgang der ärztlichen Untersuchungen abhingen und eine einmal diagnostizierte Staublungenerkrankung in der Regel häufigere Arztbesuche nach sich zog, fanden die meisten unmittelbaren Begegnungen, die die Silikose und mit ihr verbundene Ansprüche auf Entschädigung zum Gegenstand hatten, zwischen Bergleuten und Medizinern statt. Das konnte – gerade im Fall derer, die noch in einem Bergbaubetrieb arbeiteten – der Werksarzt sein, bei Gutachten zur Feststellung der Erwerbsminderung ein von der Berufsgenossenschaft bestimmter Spezialist, aber auch ein Hausarzt oder anderer behandelnder Arzt, zu dem der Versicherte oft ein langjähriges Verhältnis besaß. Über ihren Hausarzt bezogen Erkrankte ihre Medikamente, bekamen in schweren Fällen Hausbesuche oder stellten über den ihn Anträge auf ein neues Gutachten durch einen Silikose-Spezialisten, um höhere Leistungen aus der Unfallversicherung einzufordern. Die individuellen Kontexte, in denen sich Bergmann und Arzt begegneten, waren also vielfältig, sodass sie eine genauere Betrachtung verdienen. Allen gemein war eine grundlegende Asymmetrie, die im unbestreitbaren Macht- und Wissensgefälle zwischen ihnen lag. Vom Urteil des Arztes hing für den Bergmann alles ab, denn der Arzt besaß in der Regel einen deutlichen Wissensvorsprung sowohl hinsichtlich der anerkannten wissenschaftsförmigen Diagnostik und Leistungsbeurteilung, als auch durch die ihm verliehene Autorität, auf dieser Grundlage ein fachliches Urteil zu fällen. Aus Sicht der betroffenen Bergarbeiter war die Lage aus zwei Gründen besonders prekär: Erstens stießen die ärztlich angeordneten Arbeitsplatzwechsel auf vielfache Kritik, die eigentlich der Vorbeugung einer (entschädigungspflichtigen) Silikose dienen sollten. Der Arbeitsplatzwechsel war für Bergleute häufig mit empfindlichen Lohneinbußen verbunden, da die als weniger staubgefährlich geltenden Arbeitsplätze meist deutlich schlechter vergütet wurden. Um diese Härten aufzufangen, stand den Betroffenen nach § 5 Vierten Berufskrankheiten-Verordnung eine befristete Ausgleichsrente zu, die bis zur Hälfte einer Vollrente betragen konnte. Die entstandenen wirtschaftlichen Nachteile sollten auf diese Weise für einige Zeit aufgefangen werden, um den Wechsel zu erleichtern und eine Schonfrist zu gewähren, bis das Einkommen endgültig geringer ausfallen würde.84 Denn eine Besserung der Silikose war in der Regel nicht zu erwarten.
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Wirtschaft und Sozialversicherung, in: Die Bergbauindustrie, 15. Oktober 1948.
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Entschädigungspraxis und Krankheitserfahrung
Zweitens hatten die mit einer Silikose diagnostizierten Versicherten die hohen Hürden zur Rentenerlangung zu nehmen, falls sie über die Übergangsrente hinaus eine Entschädigung beziehen wollten. Zwischen der Erstdiagnose einer „beginnenden“ oder „leichten“ Silikose, die bereits zu erheblichen Nachteilen für die Betroffenen führen konnte, und einer dauerhaften Berufskrankheiten-Rente fand sich bereits Ende der vierziger Jahre ein rasch wachsendes Heer von Bergleuten, das vor den hohen Mauern einer Rentengewährung harrte. Das Verhältnis zwischen Ärzten, die eine Schlüsselrolle in der betrieblichen Prävention sowie im Rentenverfahren spielten, und den Bergleuten war nicht zuletzt wegen der umstrittenen medizinischen Beurteilung der Silikose politisch aufgeladen. Die differentialdiagnostischen Kriterien der begutachtenden Ärzte stießen häufig auf das Unverständnis der Untersuchten, die – wenn sie einen Rentenantrag gestellt hatten – fest davon ausgingen, körperlich krank zu sein. Hierunter fielen auch die Anträge auf eine Erhöhung der Rente, wenn der SilikoseRentner eine Verschlimmerung seiner Erkrankung glaubhaft machen musste. Gutachten dienten also dazu, den wissenschaftlichen Kanon des medizinischen Wissens und ärztliche Erfahrung zu mobilisieren, um gesellschaftliches Handeln – in diesem Fall die genossenschaftliche Entscheidung über die individuelle Zuerkennung einer Rente – zu ermöglichen.85 Sie erfüllten damit eine soziale Funktion. Die alltäglichen Ambivalenzen und Unwägbarkeiten der Begutachtung offenbaren aber auch eine politische Dimension, in der Ärzte eine Rolle als „Gatekeeper“86 zu einer Rente einnahmen. Diese Wissens-Mobilisierung konnte allerdings von verschiedenen Akteuren ausgehen: In der betrieblichen Präventionspraxis der Arbeitseinsatzlenkung und in der berufsgenossenschaftlichen Versicherungspraxis war sie Teil formalisierter Abläufe. Aber Bergleute wurden auch selbst tätig. Die bergmännische Praxis, sich am System der durch die Knappschaft oder Berufsgenossenschaft anerkannten Ärzte vorbei selbstständig um medizinische Gutachten zu bemühen, lässt sich mindestens bis in die frühen vierziger Jahre zurückverfolgen. In der Sozialversicherung sah man den Grund dafür darin, dass man die Versicherten durch die routinemäßigen Reihenuntersuchungen im Bergbau überhaupt erst auf die Idee gebracht habe, Rentenanträge zu stellen und auf eigene Faust entsprechende ärztliche Bescheinigungen über ihren Gesundheitszustand einzuholen.87 Sowohl die Bergbauunternehmen als auch die Deutsche Arbeitsfront setzten deshalb noch im letzten Kriegsjahr auf ein entschiedenes Vorgehen gegen Privatärzte, die entsprechende Gutachten oder Atteste ausstellten. Diese müssten „auf Vordermann gebracht“ werden,88 zumal es auf der Hand liege, dass die meisten Privatärzte die Materie gar nicht fachlich beurteilen könnten und folglich nur 85 86 87 88
Vgl. dazu Geisthövel/Hess 2017, S. 9–39. Vgl. zum Begriff „Gatekeeper“ Milles 1998, S. 369–397. sv:dok 4/2969, Inanspruchnahme von Privatärzten durch knappschaftliche Versicherte, 13.07.1944. sv:dok 4/2969, Deutsche Arbeitsfront, Gauverwaltung Westfalen-Süd/Ruhr-Knappschaft, 03.08.1944.
Die soziale Rolle der Begutachtungspraxis
„erhebliche Beunruhigung in die Reihen der Gefolgschaftsmitglieder“ tragen und das „Vertrauen zu den Sozialeinrichtungen“ erschüttern würden.89 Die betreffenden Ärzte sollten deshalb kontaktiert und mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, in Zukunft keine privaten Untersuchungen von Bergarbeitern mehr vorzunehmen. Während von Seiten der Unternehmen und der Versicherung befürchtet wurde, dass Ärzte außerhalb des engeren Kreises ausgewiesener Fachleute für Lungenerkrankungen aus der gutachterlichen Praxis ausscheren und durch eine besonders großzügige Auslegung ihrer Befunde Hoffnungen auf eine künftige Rente nähren könnten, war innerhalb der Bergarbeiterschaft und der Gewerkschaft der Verdacht verbreitet, dass gerade diese an die Betriebe oder die Berufsgenossenschaft gebundenen Fachärzte nach den wirtschaftlichen Interessen von Unternehmen und Versicherung und gegen die Interessen der Versicherten urteilten, mithin also in einem Abhängigkeitsverhältnis zu diesen stünden.90 Die Praxis und der formale Aufbau der ärztlichen Untersuchungen an den Bergleuten, um eine Staublunge festzustellen, änderte sich trotzdem im Laufe der Jahrzehnte kaum. Die Untersuchung bestand aus einer Anamnese der Vorgeschichte des Bergmanns, zu der neben der obligatorischen Frage nach persönlichen und individuellen Vorerkrankungen die Erwerbsbiografie im Vordergrund stand. Nur eine mehrjährige Beschäftigung unter Staubeinwirkung machte eine Silikose plausibel. Im klinischen Befund wurden die Männer nach ihren Beschwerden befragt. Die meisten SilikoseKranken klagten über Atemnot oder Kurzatmigkeit nach körperlicher Anstrengung, in schwereren Fällen auch in völliger Ruhe, über Hustenanfälle, Nachtschweiß und Schmerzen in der Brust. Im Rahmen der Begutachtung für die Unfallversicherung war für die Akten vor allem die körperliche Leistungsminderung von Interesse – war der Betroffene in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkt, und wenn ja, zu wieviel Prozent? Hierzu wurden Puls, Blutdruck und Atemfrequenz vor und nach einigen Kniebeugen bestimmt. Deutliche, anhaltende Erhöhung des Pulses und „Cyanose“, die Blaufärbung der Lippen, galten als sicheres Zeichen für Ausfallerscheinungen des Kreislaufes und der Atemfunktion. Der radiologische Lungenbefund mittels Röntgenbild nahm in der abschließenden Beurteilung eine besonders vordringliche Stellung ein, um die beobachteten klinischen Erscheinungen mit Staubeinlagerungen in den Lungen in Verbindung zu bringen. Neben dem Grundkonflikt um die Höhe der Entschädigung, der über die Praxis der ärztlichen Begutachtung im Modus wissenschaftlicher Wahrheitsfindung ausgehandelt wurde, richtete sich die Kritik an den Untersuchungen aber auch explizit gegen die geringschätzige oder misstrauische Behandlung der Erkrankten im Rahmen sv:dok 4/2969, Bezirksgruppe Steinkohlenbergbau Ruhr der Wirtschaftsgruppe Bergbau, Essen/ Ruhr-Knappschaft, 30.06.1944. 90 Vgl. dazu die sozialwissenschaftlichen Befragungen weiter oben und der gewerkschaftliche Diskurs in Kapitel 2. 89
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Entschädigungspraxis und Krankheitserfahrung
dieser medizinischen Verfahren. In einer Eingabe an das Bundesarbeitsministerium erhob der Silikose-Bund im Oktober 1958 scharfe Kritik an den Methoden, mit denen die Leistungsminderung bestimmt wurde. Diese richtete sich gegen ein bestimmtes, neu eingeführtes Verfahren der medizinischen Objektivierung, die „Blutgasanalyse“, bei der den Untersuchten Blut abgenommen und auf den Gehalt von Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid untersucht wurde. Der Silikose-Bund brachte bei der Gelegenheit aber auch eine Generalkritik an der „Massenabfertigung bei der Untersuchung durch die Vertragsärzte der Versicherungsträger“ vor und verlangte eine „sorgfältige und objektive Untersuchung und hinreichende Würdigung des Krankheitszustandes“, im selben Atemzug aber auch bessere Wohnverhältnisse. Außerdem sei der „Mißbrauch der Leichenöffnung“ pietätlos, bei der die Leichen der an schweren Silikosen Verstorbenen zerschnitten würden. Die Industriegewerkschaft Bergbau pflichtete dem SilikoseBund bei und verabschiedete eine entsprechende Resolution. Die Blutgasanalyse und ihre „gesundheitsschädlich[e] Auswirkung“ verstoße gegen die Menschenwürde, weil die Arme der Untersuchten zerstochen und sie darüber hinaus durch ständige Belastungsproben strapaziert würden.91 Die Stellungnahme zu den Vorwürfen erfolgte über das Bundesversicherungsamt, das die beschuldigte Bergbau-Berufsgenossenschaft dazu angehört hatte. Demnach seien bislang keine „nennenswerten Beschwerden“ durch die Blutgasanalyse bekannt geworden. Des Weiteren könne eine „diagnostische Methode niemals gegen die ‚menschliche Würde‘ verstoßen, weil sie ja nur angewendet wird, um einem kranken Menschen sinnvoll zu helfen“.92 Trotzdem wurde die Kritik vom Bundesversicherungsamt und der Bergbau-Berufsgenossenschaft geprüft. Nachdem der Silikose-Bund die konkreten Fälle, auf die er Bezug nahm, genannt hatte, konsultierte die Bergbau-Berufsgenossenschaft die entsprechenden Akten und holte ärztliche Gutachten über die Begutachtungspraxis ein, die wiederum zu dem Schluss gelangten, dass das Verfahren der Blutgasanalyse „bei sachgemäßer Durchführung keine schädigende Bedeutung oder nachteilige[n] Folgen“ habe. Nach der Auffassung eines angerufenen medizinischen Sachverständigen müsse eine Untersuchung, die auf diese Methode verzichte, sogar als unvollständig gelten, solange die besondere Schwere des Silikose-Falls nicht schon vorher alle Zweifel ausräume. Gerade bei Streitfällen sei die Blutgasanalyse, für die eine Arterie punktiert wurde, der Regelfall, und die „anfängliche[n] Weigerungen der Patienten würden in derartigen Fällen auch meist nach gründlicher Erklärung des Sachverhaltes durch den Arzt aufgegeben.“93 In manchen Fällen wurde das Verfahren auch von den Versicherten selbst eingefordert.
sv:dok 15/521, Hauptverwaltung der IG Bergbau/Bund silikoseerkrankter, -gefährdeter Sozialrentner und deren Hinterbliebenen, 24.03.1959. 92 sv:dok 15/521, Bundesversicherungsamt/Bund Silikoseerkrankter, -gefährdeter, Sozialrentner und deren Hinterbliebenen e. V., 10.01.1959. 93 sv:dok 15/521, Bergbau-Berufsgenossenschaft, Hauptverwaltung/Bundesversicherungsamt, 09.07.1959. 91
Die soziale Rolle der Begutachtungspraxis
Das grundsätzliche Problem der ärztlichen Untersuchung und Begutachtung, die zwischen Unfallversicherung und Bergleuten ausgleichende Objektivität herstellen sollte, bestand letztlich in der unterschiedlichen Beurteilung des Krankseins bzw. der Schwere der Silikose oder der Ursachen für etwaige Beeinträchtigungen zwischen dem betroffenen Versicherten und den untersuchenden Ärzten sowie zwischen den Medizinern untereinander. Das wird deutlich, wenn man einen näheren Blick auf einzelne Versicherungsfälle wirft, in denen es zum Konflikt zwischen den Parteien kam. Der frühere Gesteinshauer und spätere Schießmeister L. stand mit seiner Biografie beispielhaft für dieses Problem. Geboren 1904 und ab 1918 im Bergbau beschäftigt, kehrte er diesem im Jahr 1939 als Mittdreißiger wieder den Rücken. Bis 1935 hatte er vor Gestein gearbeitet, wurde aber auf Veranlassung der Berufsgenossenschaft aus dieser Arbeit herausgenommen, um einer Staublunge vorzubeugen. Danach habe L. nach Auskunft seines Betriebs in seiner neuen Funktion als Schießmeister „gelegentlich mal ein Bohrloch oder Knäpper ins Nebengestein gebohrt. Von einer gesteinstaubgefährdenden Arbeit kann jedoch keineswegs die Rede sein.“94 Im Juni 1943 wurde er im Augusta-Klinikum Bochum beim Lungenfacharzt Arthur Böhme untersucht, der „das Gefühl der Atmungserschwerung […] wenigstens teilweise auf die Störung der Nasenatmung“, nicht aber eine etwaige Staublunge zurückführte.95 Erst 1947 bescheinigte ihm ein anderer Arzt in einer „wohlwollenden Beurteilung“ beginnende Insuffizienzerscheinungen bei einer dem Röntgenbefund nach drittgradigen, also schweren Silikose.96 Bis dahin war L. von mindestens sechs unterschiedlichen Ärzten untersucht worden und hatte Ende 1942 beim Oberversicherungsamt Berufung gegen die Ablehnung seiner Rente eingelegt, die jedoch 1943 abgewiesen worden war.97 Erst ein entsprechendes medizinisches Gutachten, das seinen Anspruch auf Rente untermauerte, konnte den Erfolg bringen. Der Kohlenhauer S. aus Bochum, Jahrgang 1903, hatte 31 Jahre als Bergmann hinter sich, als er Ende Februar 1949 bei der von der Knappschaft unterhaltenen oberärztlichen Beobachtungsstation am Elisabeth-Hospital in Bochum untersucht wurde. Da das Röntgenbild eine „mittelgradige“ Staublunge nahelegte, sollte er nun auf ärztliches Anraten hin in staubfreie Arbeit verlegt werden und für den geringeren Lohn eine Ausgleichsrente erhalten.98 Im Januar des darauffolgenden Jahres verschlimmerten sich jedoch seine Beschwerden; er schlafe schlecht, leide unter Nachtschweiß, Husten und Atemnot. Für eine Unfallrente reichte dies nach gutachtlicher Meinung allerdings noch nicht aus. Erst als sich die Beschwerden im folgenden Herbst weiter verschlech-
94 95 96 97 98
sv:dok 15/8309. Ebd., fol. 38 (10.06.1943). Ebd., fol. 47 (13.05.1947). Ebd., fol. 40 f. (04.08.1943). sv:dok 15/8301, fol. 1–11.
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Entschädigungspraxis und Krankheitserfahrung
terten, fanden sich bei der Untersuchung durch den vierten Arzt, der ihn inzwischen begutachtete, „nach Belastung beginnende Funktionsstörungen der Lunge.“99 Es war also eher die Regel als die Ausnahme, dass bis zur Anerkennung einer Krankheit, von der sich die Bergmänner von Anfang an überzeugt waren, Jahre vergehen konnten. Urteilten Ärzte aber gegen die subjektive Krankheitswahrnehmung, schien dies in den Augen der Patienten oft ein eindeutiger Beleg für die Parteilichkeit der Gutachter zu Gunsten der Versicherung zu sein. Dieses Ressentiment gegen den Prozess der Rentengewährung lässt sich anschaulich am jahrelangen Bemühen des Gelsenkirchener Bergmanns R. illustrieren, der fast zwanzig Jahre um die materielle wie symbolische Anerkennung seiner Leiden kämpfte. Im April 1939 – R. war Mitte dreißig – wandte er sich in Sachen Staublunge erstmals an die Bochumer Bezirksverwaltung der Bergbau-Berufsgenossenschaft. Aus gesundheitlichen Gründen könne er seiner Arbeit unter Tage nicht mehr nachgehen. Er habe sich deshalb bereits zur Beobachtung in Behandlung befunden und dabei sei ihm eine Silikose bescheinigt worden, für die er sich nun Kompensation seitens der Unfallversicherung erhoffte. Tatsächlich handelte es sich aber nach ärztlicher Auffassung um eine „mittelgradige“ Silikose, für die R. aber nach bestehender Gesetzeslage keine Rente zustand. Da er auf Grund des Befunds von seinem Betrieb in „staubfreie“ Arbeit versetzt wurde, bezog er zunächst einen Lohnausgleich für den entstandenen Verdienstausfall, der für eine begrenzte Zeit ausgezahlt wurde. Damit gab sich R. allerdings nicht zufrieden. Nach nochmaligem Krankenhausaufenthalt gab R. an, dass er nun berufsunfähig sei und an einer „Berufskrankheit (Luftbeschwerden)“ leide. Nach allen bereits vorliegenden ärztlichen Gutachten sei aber „kein krankhafter Befund feststellbar.“100 Im Juli 1940 beantragte er eine Verlängerung seiner Übergangsrente, weil „mein Gesundheitszustand mir nicht erlaubt schwere Arbeit zu verrichten“ und „eine Verschlimmerung bei mir eingetreten ist“.101 Nach Auffassung der Ärzte war R. jedoch „noch in der Lage […], bergmännische Arbeit zu verrichten.“102 Nachdem er ab November 1940 ganz aus dem Untertagebetrieb herausgenommen und mit Arbeiten über Tage betraut worden war, spitzte sich R.s wirtschaftliche Situation weiter zu. Er beantragte erneut einen Rentenausgleich. Alle paar Monate forderte er danach bei der Berufsgenossenschaft eine ärztliche Untersuchung, weil er mit seiner „fünfköpfigen Familie von dem geringen Lohn […] unmöglich leben“ könne,103 scheiterte aber jedes Mal. Die „Staubveränderungen der Lungen“ seien nach Auffassung der untersuchenden Ärzte nur „ganz geringfügig und bedingen als solche keine Berufsunfähigkeit“.104
99 100 101 102 103 104
Ebd., fol. 22. sv:dok, 15/8270, fol. 11 (11.09.1939). Ebd, fol. 22 (09.07.1940). Ebd, fol. 30 (02.01.1941). Ebd., fol. 35 (27.04.1941). Ebd., fol. 52 (10.04.1942).
Die soziale Rolle der Begutachtungspraxis
Diese Reihe von Rückschlägen war für R. nicht nachvollziehbar. Seiner Auffassung nach hatte man das für ihn maßgebliche Urteil aus dem Jahr 1939 einfach verworfen und seither würden alle seine Anträge abgewiesen. Damit konnte oder wollte er sich aber nicht abfinden. Während R. über andauernde Beschwerden beim Atmen und „in der Brust, als ob etwas aufplatzen wollte“105 klagte, attestierten die Gutachter ihm stets, dass es sich nach dem Röntgenbild um sehr geringfügige Veränderungen in der Lunge handle. Hier bestand ein offensichtliches Missverhältnis zwischen der gesundheitlichen Selbstwahrnehmung und der ärztlichen Objektivierung der verbliebenen körperlichen Leistungsfähigkeit, die sich stark auf das Röntgenbild stützte. Am 13. Juni 1942 schrieb R.: Bei meiner Untersuchung am 8.7.1939 […] hat es sich um eine Silikose gehandelt […]. Bei der Nachuntersuchung [wurde das, D. T.] Gutachten vom 8.7.1939 verworfen. Seit dieser Zeit werden meine Anträge abgewiesen […]. [E]ine Steinstaublungenerkrankung bessert sich nie! Da ich die Ungerechtigkeit nicht länger ertragen kann und mein schlechter Gesundheitszustand mich zu anderen Maßnahmen zwingt hoffe ich, dass die Sektion Verständnis dafür hat und eine friedliche Lösung herbeigeschafft wird.106
Die Berufsgenossenschaft, die unter Berufung auf die ärztlichen Gutachten weiterhin die Anerkennung einer Rente ablehnte, sollte endlich „vorschriftsgemäß“ handeln, denn spätestens 1941 habe man auch im Bergmannsheil II in Gelsenkirchen-Buer eine mittelschwere Staublunge diagnostiziert.107 Im Frühjahr 1944 beantragte R. erneut eine oberärztliche Untersuchung, bat nun aber darum, dass diese im Knappschaftskrankenhaus in Gelsenkirchen durchgeführt werde, da er den dortigen Arzt Dr. R. bereits kenne, doch auch dies brachte keinen Erfolg, sondern nur weitere Ernüchterung. 1946 kam er resignierend auf seinen vormaligen Arzt des Vertrauens zu sprechen und bemerkte sarkastisch, „der Wunderdoktor“ habe aus einer schweren eine leichte Silikose gemacht. Seit sieben Jahren würde mit seinem Gesundheitszustand eine „lachhafte Geschichte“ getrieben.108 Noch im selben Jahr brachte R. seine Angelegenheit vor das Schiedsgericht des Versicherungsamts, scheiterte aber auch dort, da „keine entschädigungspflichtige Berufskrankheit“ im Sinne des Gesetzes vorliege.109 Weder an der gesetzlichen Grundlage, noch an der Entschädigungspraxis hatte sich in den ersten Nachkriegsjahren etwas geändert. Erst im März 1958, also neunzehn Jahre, nachdem R. sich selbst erstmals als staublungenkrank ansah, sollte er auch die versicherungsrechtliche Anerkennung erlangen. Die Beziehung zwischen Versicherten und Berufsgenossenschaft war – einmal aufgenommen – ausgesprochen langfristig, in
105 106 107 108 109
Ebd, fol. 32 (28.02.1941). Ebd., fol. 55 (13.06.1942). Ebd., fol. 63 (27.12.1943). Ebd., fol. 76 (27.07.1946). Ebd., fol. 79 (29.10.1946).
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Entschädigungspraxis und Krankheitserfahrung
Folge regelmäßiger Folgeuntersuchungen und Verschlimmerungsanträge in der Regel lebenslang. In der NS-Zeit ließ sich neben der Anrufung der Schiedsstellen des Reichsversichersamts noch eine andere Strategie beobachten, mit der Versicherte versuchten, die bürokratischen Mauern zur Berufskrankheiten-Rente zu umgehen: Die Hoffnung ruhte dann zumeist auf führenden NS-Größen, dass diese an den bürokratischen Sozialversicherungsinstitutionen vorbei Gerechtigkeit herstellen würden. K., Jahrgang 1907, war einer jener Versicherten, die sich unmittelbar an den „Herrn Reichsarbeitsminister“, den früheren Stahlhelm-Politiker Franz Seldte, wandten. Zunächst lag sein Fall ähnlich wie der von R. Anfang 1939 beantragte er bei der Berufsgenossenschaft eine Unfallrente, nachdem er in einem Knappschaftskrankenhaus zur Beobachtung gelegen hatte – für ihn Beleg genug, dass er krank sein musste. Es folgten die Herausnahme aus der als staubbelastet geltenden Arbeit und die Gewährung einer Übergangsrente als Lohnausgleich, deren Verlängerung K. mehrmals beantragte, da das Geld für seine junge Familie kaum reiche. Zwar klagte er in dieser Zeit gegenüber den untersuchenden Ärzten über Schmerzen in der Brust, Atemnot, Schwindelanfälle und Nachtschweiße, seine Lungenbefunde stützten aber nach gutachterlicher Auffassung keine Rentenberechtigung. Im April 1941 sah er sich gezwungen, sich brieflich an das Reichsministerium für Arbeit zu richten, weil die Berufsgenossenschaft Volksgenossen sozial missachte: Ich hänge mit Leib und Seele an meinem Berufe, erwarte aber auch, dass mir soziale Gerechtigkeit nicht vorenthalten wird. […] Ich habe Ihnen, Herr Reichsminister, wie auch unserem Führer und Volkskanzler das unumstößliche Vertrauen, dass Sie mir zu meinem sozialen Rechte verhelfen werden. Ständig wurden meine Anträge betr. Erhöhung und Nachzahlung meiner Rente abgelehnt […].110
Ob K. je eine Erwiderung auf seine Bittschrift an das Ministerium erhielt, ist nicht überliefert. Zu einer ministeriellen Intervention kam es jedenfalls nicht. Der konkrete Fall dokumentiert aber die zahlreichen Versuche, mit fremder institutioneller Hilfe gegen die Berufsgenossenschaft, als ungerecht empfundene ärztliche Gutachten oder die gesetzlichen Bestimmungen zur Unfallversicherung anzukämpfen, um das persönliche Rentenanliegen durchzusetzen. So ließ K. sich ab Ende 1941 von der Deutschen Arbeitsfront vertreten, die in seinem Namen die Bescheide der Berufsgenossenschaft beim Reichsversicherungsamt anfocht, obschon erfolglos.111 Weil K. sich auch nach 1945 noch nicht als ausreichend entschädigt ansah, nahm er 1950 auch die Hilfe des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Anspruch, dem er für die Vertretung seiner Rechte eine Vollmacht erteilte.112 Der DGB argumentierte, dass bei K. noch 1945 eine mittelgradige 110 111 112
sv:dok, 15/8267, fol. 42 (01.04.1941). Ebd., fol. 58 (03.12.1941). Ebd., fol. 84 (05.01.1950).
Die soziale Rolle der Begutachtungspraxis
Silikose angenommen wurde, sodass diese nach inzwischen über vier Jahren „einen entschädigungspflichtigen Charakter erreicht haben dürfte.“113 Zwei Jahre später beauftragte K. das „Rechtsschutzbüro für Rentenempfänger“, das beim Versicherungsamt Berufung gegen die Ablehnung seitens der Berufsgenossenschaft einlegte.114 Das darauffolgende Obergutachten gestand K. schließlich eine vierzigprozentige Rente zu, die seit Inkrafttreten der 5. Berufskrankheiten-Verordnung im Jahr 1952 möglich geworden war.115 Eine andere Strategie lag in der Anrufung der wissenschaftlichen Autorität einzelner Koryphäen der Silikose-Forschung. Der Essener Bergmann Sch., Jahrgang 1897, bezog ab 1947 eine Silikose-Rente in Höhe von 50 Prozent, ab 1958 80 Prozent.116 Als ihm 1966 eine weitere Erhöhung der Rente verwehrt wurde, verlangte er eine neue Untersuchung. In einem langen Brief legte er seine Krankheitsgeschichte dar. Die genannten Ärzte, die ihn dabei bislang untersucht hatten, gleichen dem Who-is-who der westdeutschen Silikose-Forschung: Im Jahre 1947 wurde bei mir eine Staublunge von 50 Prozent durch Dr. Zorn, Chefarzt der Bergbau-Berufsgenossenschaft Bochum, festgestellt. Im Jahre 1951 wurde durch Professor Dr. Parrisius, Oberarzt des Knappschaftskrankenhauses Essen-Steele, eine Staublunge von 60 Prozent festgestellt. 1957 und 1958 wurde durch Dr. Schlanstein, Essen, Spezialist für Staublungen, eine Staublunge von 70 und 80 Prozent festgestellt. Daraus ist zu ersehen, daß von 1947 bis 1958 eine Verschlimmerung von drei Prozent im Jahr festgestellt wurde. Auf Grund der These von Professor Dr Reichmann, damals Chefarzt der Bergbau-Berufsgenossenschaft Bochum, daß eine Staublunge sich im Jahr im günstigsten Fall um 2,5 Prozent verschlimmert, müßte meine Staublunge von 1958 bis 1966 in acht Jahren, um 8 × 2,5 Prozent gleich 20 Prozent verschlimmert haben. Ich möchte betonen: Professor Dr. Reichmann, Chefarzt der Bergbau-Berufsgenossenschaft Bochum, war damals der größte Spezialist für Staublungen. Ich bitte um Anerkennung der These von Professor Dr. Reichmann.117
Doch sein Ersuchen um eine hundertprozentige Rente blieb erfolglos. Wie in zahlreichen anderen Fällen war die vom subjektiv-gesundheitlichen Empfinden abweichende ärztliche Beurteilung im massenbürokratischen Prüf- und Entscheidungsverfahren für Sch. unverständlich. Im Herbst 1968 legte er seinen Zustand abermals mit der dringenden Bitte um eine Nachuntersuchung dar, die jedoch ebenfalls nicht zum Erfolg führte: Ich verweise auf die Begründung der Nachuntersuchung am 10.5.66. Dieselben Beschwerden haben sich bis heute verschlimmert. Zuzüglich ist ein Lungenbluten von drei Tagen
Ebd., fol. 85 (05.01.1950). Ebd., fol. 106 (16.02.1952). Ebd., fol. 115 ff. (21.11.1952). sv:dok, 15/8230, fol. 11 ff. Ebd., fol. 113 (24.03.1966). Zorn, Parrisius und Reichmann gehörten zu den bekanntesten Medizinern auf dem Gebiet der Silikose. 113 114 115 116 117
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Entschädigungspraxis und Krankheitserfahrung
eingetreten, mit erheblich starken Brustschmerzen von einer Woche. Untersuchungsbefund: Keine Tuberkulose. Da bei mir seit 1958 eine 80prozentige Silikose III. Grades mit erheblich funktioneller Einbuße und [Nebenerscheinungen] vorliegt. Bronchitis – Kreislaufschaden – Herzschaden – Atmungsschaden – Blutsenkungsschaden – Entzündungsherde – [verursacht] durch Unfallschaden – sind die Voraussetzungen einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit gegeben. Eine vollständige Arbeitsunfähigkeit ist nach meiner Auffassung nur mit Hundertprozent zu bewerten.118
Diese besonderen Fallbeispiele helfen dabei, noch einmal zwei markante Aspekte bergmännischer Agency zu verdeutlichen: Der Versuch R.s, mit seinem Brief an den Reichsminister eine Entscheidung zu seinen Gunsten zu erwirken, zeigt zunächst einen initiativen Ausbruchsversuch aus dem diskursiven Korsett der wissenschaftsförmigen medizinischen Beweisführung im bürokratischen Feststellungsprozess einer Erkrankung. Es ging um das moralische Recht des Bergmanns auf unbedingten materiellen Ausgleich für sein körperliches Opfer im Dienst der, in diesem konkreten politischen Kontext, Volks-Gemeinschaft. Das Narrativ war mit seiner argumentativen Grundstruktur leicht auf die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft umzudeuten, wie der Fall von J. weiter oben gezeigt hat, der ebenfalls das persönliche gesundheitliche Opfer in den Diensten des „Wiederaufbaus“ beschwor. Des Weiteren boten sich Interessenvertretungen aller Couleur als handlungsermöglichende Vehikel an, um das Ringen um Leistungen aus der Unfallversicherung doch nach den gesetzlichen Regeln zu gewinnen. In der Rechtspraxis fanden etwaige moralische Ansprüche der Bergleute jedoch keinen Widerhall. Die Rechtsbeihilfen der Industriegewerkschaft Bergbau, des DGB und privater Vereine dienten deshalb mit ihrer angebotenen juristischen Expertise dazu, das empfundene Anrecht in eine Sprache zu überführen, die den bürokratischen Spielregeln der Gesetzgebung entsprach. Das letzte Beispiel hat darüber hinaus gezeigt, dass Bergleute die eigene Krankheitserfahrung auch mit wissenschaftlicher Autorität und wissenschaftsförmigen Argumenten in Beziehung zu setzen versuchten – und sich dabei in bemerkenswerter Weise neues Wissen aneignen konnten, um auf diese Weise auch besser die Sprache der Bürokratie sprechen zu können. Im Hinblick auf die maßgebliche Unfallversicherungsgesetzgebung war der einzelne Bergmann zweifellos machtlos. Allein ein Blick in die Berufskrankheiten-Fallakten oder die Entscheidungen der Sozialgerichte genügt, um zu sehen, wie oft moralische Gerechtigkeits- und bürokratische Rechtsauffassung nicht zueinander fanden und wie oft ausführliche Eingaben mit verschiedensten Strategien fruchtlos blieben. Auch das konsequente Scheitern jedes Ausbruchsversuchs aus den Regeln der seriellen Einzelfallentscheidungen machen nur umso deutlicher, wie klar die institutionellen Versicherungspraxis längst formalisiert und eingehegt war. Und doch ist Vorbehalt
118
Ebd.
Die soziale Rolle der Begutachtungspraxis
angebracht. Denn so sehr insbesondere die Sprache berufsgenossenschaftlicher oder sozialgerichtlicher Bescheide auch unbedingte Klarheit verlangte, so unklar konnten diese zu Stande kommen. Das belegen die Gutachterschlachten, wenn sich Bergleute dazu entschieden, gutachterliche Bescheide anzufechten, wie etwa im nachfolgenden Beispiel. Wie bereits erwähnt fungierten bis zum Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes 1954 die örtlichen Versicherungsämter als Schiedsstellen. B. ging diesen Weg über das Versicherungsamt, als die Bergbau-Berufsgenossenschaft seinen Antrag auf eine Rente im Mai 1949 ablehnte.119 Die Ruhr-Knappschaft unterstützte ihn als Nebenklägerin – invalidisierte Bergleute, die keine Rente aus der Unfallversicherung bezogen, fielen schließlich finanziell der Rentenversicherung und damit der Knappschaft zu Last, wodurch Unfallversicherung und Rentenversicherung im Dauerstreit über die Kosten invalider Bergleute lagen. Im Januar 1951 trafen die Parteien beim Knappschafts-Oberversicherungsamt Dortmund aufeinander. Der Fall B. liest sich archetypisch für viele ähnliche Verfahren, auch solche vor den Sozialgerichten. Zu klären war, ob die Voraussetzungen für die Rente, sprich eine „schwere“ Staublunge im radiologischen und klinischen Befund, vorlagen. Die Ärzte, die den Fall bislang begutachtet hatten, waren sich einig, dass es sich dem Röntgenbild nach um eine Silikose zweiten Grades handelte. Doch B. litt unter „nachgewiesenen leistungsmindernden Funktionsstörungen“. Waren diese der Silikose zuzuschreiben, oder der Bronchitis, dem starken Emphysem und der Aortensklerose, die ihm ärztlicherseits bescheinigt wurden? Nach Ansicht des Prof. Dr. P. jedoch, den die Kläger ins Feld führten, waren all diese Erkrankungen untrennbar miteinander verflochten. Ohne Zweifel müssten Atmung und Kreislauf auch durch die Silikose geschädigt sein und damit ein entsprechender Rentenanspruch bestehen. Dr. A. aus einem anderen Knappschaftskrankenhaus stützte dieses Urteil. Dem widersprachen allerdings die drei Doktoren des Krankenhauses B., die die Beeinträchtigungen der Atmungs- und Kreislauforgane „auf die Altersveränderungen am Herzkreislaufapparat und an den Lungen“ zurückführten. Aufgrund der allgemeinen Erfahrung müsse daran festgehalten werden, daß die Staubeinlagerungen immer erst dann zu einer leistungsmindernden Beeinträchtigung von Atmung und Kreislauf führen, wenn dichtstehende, gröbere Körnelungen oder bemerkenswerte Ballungs- und Schrumpfungserscheinungen nachzuweisen sind.120
Dieser Auffassung schloss sich auch Chefarzt Dr. M. an. Das Konvolut aller Gutachten wurde dennoch noch einmal dem auf dem Gebiet der Silikose renommierten Fachkollegen Arthur Böhme zur endgültigen Beurteilung vorgelegt. Böhme wies darauf hin, dass wahrscheinlich eher übliche Alterserscheinungen vorlägen, und dass die 119 sv:dok 15/3261, Abschrift: In Sachen Hermann B. gegen die Berufsgenossenschaft wegen Zuerkennung einer Rente, 18.01.1951. 120 Ebd.
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Entschädigungspraxis und Krankheitserfahrung
Ausfallerscheinungen den anderen Erkrankungen zuzuschreiben wären. Seiner Erfahrung nach würden die im Röntgenbild zu sehenden silikotischen Veränderungen nicht zu messbaren Leistungseinschränkungen führen. Die Spruchkammer bezeichnete die Darlegungen des Obergutachtens als überzeugend, aus dem hervorgehe, dass „bei dem augenblicklichen Stande der ärztlichen Wissenschaft wohl schon silikotische Einlagerungen, die sich im Übergang vom 2. zum 3. Stadium befinden, Ausfallerscheinungen hervorzurufen geeignet sind“, dass sich der vorliegende Fall aber nicht mit Sicherheit in einem solchen Stadium befinde. Die Klage von B. blieb damit erfolglos. Die bei den juristischen Auseinandersetzungen über die Zuerkennung von Berufskrankheiten-Renten gegeneinander ins Feld geführten, einander widersprechenden ärztlichen Gutachten unterminierten aus Sicht der Versicherten die vermeintliche Objektivität wissenschaftlicher bzw. medizinischer Expertise. Expertenkonflikte konnten auf diese Weise dem Legitimitätsverlust ihrer Autorität Vorschub leisten.121 Inwieweit ausgerechnet hierin der Motor für eine „Entzauberung der Wissenschaften“ lag,122 ist jedoch fraglich: Die Gespräche der Münsteraner Soziologen um Carl Jantke sowie die unmittelbaren Auseinandersetzungen zwischen Versicherten und der BergbauBerufsgenossenschaft zeigen, dass bereits die Kluft zwischen ärztlicher Objektivierung und subjektivem Körper- und Krankheitsempfinden das Misstrauen gegenüber dem „Wahrheitsgehalt“ der Gutachten förderte. Die nachfolgenden Gutachterschlachten zeigen dagegen vielmehr, dass Bergleute die Spielregeln der auf die Expertise der Fachleute angewiesenen bürokratischen Verfahren zunehmend annahmen, auch wenn sie nie Anteil daran gehabt hatten, diese Regeln zu gestalten. Der inhärente und prekäre Interessengegensatz zwischen Versicherten und Versicherung im Streit um die Anerkennung und Bezifferung des Schadens wurde auf die wissenschaftsförmige Objektivierungs- und Plausibilisierungsleistung des Expertenurteils ausgelagert. Die öffentliche Verbreitung einstmals arkaner Expertise, die entweder durch Versicherte selbst oder durch gewerkschaftliche und private Interessenvertretungen ins Feld geführt wurde, besaß dabei durchaus erhebliches Demokratisierungspotential. Offener Zweifel an der Kompetenz oder der Unabhängigkeit der Gutachter gehörten als Korrektiv zu dieser sozialen Praxis. Dies kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Berufsgenossenschaft und die Bergbauunternehmen mit ihren Forschungsinstituten und ihrer Gestaltungsmacht das deutlich größere Mobilisierungs- und Durchsetzungspotential besaßen. In letzter Instanz entschieden jedoch die Silikose-Gutachter nach den Spielregeln wissenschaftsförmiger Objektivierung.
121 Zu diesem Befund kommt Martin Lengwiler auch am Beispiel der Schweizerischen Unfallversicherung beim Umgang mit der Silikose, vgl. Lengwiler 2006, S. 292. 122 Ebd., S. 295 ff.
6.
Schluss
6.1
Empirische Ergebnisse
Betrachten wir den Verlauf der hier beschriebenen Entwicklungen und die versicherheitlichende Einhegung der zuvor gefürchteten Staublungen-Krankheit, so ließe sich die Regulierung der Silikose als eine Erfolgs- und Heldengeschichte beschreiben. Ist es dem westdeutschen Wohlfahrtsstaat und seinen Protagonisten – allen voran den auf ihre Bekämpfung spezialisierten medizinischen, naturwissenschaftlichen und technischen Experten – nicht letztlich auf lange Sicht gelungen, die „Geißel des Bergmanns“ immer weiter zurückzudrängen und schließlich zum Verschwinden zu bringen? Auf der anderen Seite steht demgegenüber eine ausgesprochene Leidens- und Opfergeschichte, denn: Stehen die Zehntausenden Opfer, die die Staublunge der westdeutschen Bergarbeiterschaft abverlangt hat, nicht letztlich Pate für die dramatischen Versäumnisse eines ganzen Industriezweigs, der diesen Preis menschlicher Leben allzu billigend in Kauf genommen hat? Beide Lesarten entspringen den dichotomen Deutungsweisen des damaligen öffentlichen Diskurses seiner Zeitgenossen. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit lag jedoch in einer weitgehenden wie differenzierenden Historisierung des Wechsel- und Spannungsverhältnisses zwischen dem wohlfahrtsstaatlichen Ausgleich zwischen erlittenen gesundheitlichen Schäden und ihrer monetären Entschädigung und der Rolle wissenschaftsförmigen Wissens im vielstimmig bearbeiteten Wissensfeld von Silikose und Staublunge. Auf die grundsätzliche Frage, worin womöglich Erfolg oder Misserfolg gelegen haben, ist dennoch aus dieser Perspektive noch einmal zurückzukommen. Zunächst sollen jedoch die Ergebnisse der sehr unterschiedlichen empirischen Erkundungsfahrten noch einmal zusammengetragen und knapp bilanziert werden. Die im ersten Teil (Kapitel 2) behandelte öffentliche Debatte über das Silikose-Problem war von zwei entscheidenden Faktoren geprägt: Der erste war der der politischen Repräsentation der Stakeholder. Über die meiste Zeit führten die Industriegewerkschaft Bergbau, die für die Interessen der Bergarbeiterschaft eintrat, und die über ihre Verbandsstrukturen mit einer Stimme sprechenden Bergbauunternehmen das Wort. Der Graben verlief so zwischen der organisierten Bergarbeiterschaft auf der einen und
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Schluss
den privatwirtschaftlichen Betrieben und der Unfallversicherung auf der anderen Seite. Das erscheint kein verwunderlicher Befund zu sein und erwartbare Klassengegensätze zwischen privatem Kapital und organisierter Arbeiterschaft zu spiegeln. Der Blick auf die unmittelbare Nachkriegszeit, in der die beiden Akteursgruppen um die Kontrolle über die gesetzliche Unfallversicherung sowie auch die gesamte Bergbauindustrie rangen, zeigt jedoch auch, dass diese Konfliktstellung nicht selbstverständlich, sondern an konkrete Macht- und Herrschaftsverhältnisse gekoppelt war: Die Frage der Silikose, die sich im Bergbau gerade akut zuzuspitzen begann, war bei dieser Auseinandersetzung ein wichtiges Politikum: materiell als handfestes sozialpolitisches Versicherungs- und Versorgungs-Problem, aber insbesondere auch symbolisch als kulturelles Kampffeld um die Anerkennung der Leiden, die die Bergarbeiter mit ihren Körpern für die Zechen, aber auch für die Gesellschaft im Nachkrieg erbrachten. Aus Sicht der Gewerkschaft waren die „falschen“ herrschenden Machtverhältnisse in den Betrieben letztlich verantwortlich für die gesundheitlichen Probleme der Arbeiterschaft. Die betriebliche Mitbestimmung in der Montanindustrie, die Wiederherstellung der Selbstverwaltung in der Unfallversicherung, die der Bergarbeiterschaft mehr Mitsprache in Gremien der Berufsgenossenschaft einräumte, sowie das Inkrafttreten der 5. Berufskrankheiten-Verordnung befriedeten den Antagonismus zwischen den Parteien bis 1952 weitgehend. Die Debatte über die Staublunge ging indessen weiter. Hierin lag der zweite wichtige Faktor, der in den fünfziger Jahren zunehmend an Bedeutung gewann, nämlich die Formierung wissenschaftsförmigen Wissens, das aus der mythenumrankten Staublunge die wissenschaftlich beschreibbare Silikose werden ließ. Die Gewerkschaftsvertreter beteiligten sich von Anfang an und nach 1952 in steigendem Maße an der öffentlich-wissenschaftlichen Debatte und positionierten sich neben der Bergbau-Berufsgenossenschaft und den Bergbauunternehmen als Akteure, die mit eigener Kompetenz mitzureden beabsichtigten. Allerdings geriet die Gewerkschaft selbst unter Druck durch Interessenvereine wie dem Silikose-Bund, die sich vor allem für eine bessere Entschädigung ihrer Mitglieder einsetzten. Mitte der fünfziger Jahre differenzierte sich der Diskurs aus in zwei Repräsentationen der Krankheit. Auf der einen Seite war sie als statistisch mess- und lesbare Silikose ein medizinisches und Versicherungs-Problem. Statistiken wurden Gegenstand der politischen Debatte darüber, ob dieses Problem bereits gelöst sei oder nicht. Während Unternehmen und Berufsgenossenschaft sich durch schrumpfende Diagnose- und Erkrankungszahlen sowie die steigende Lebenserwartung der Bergleute in ihrem Kurs bestätigt sahen, versuchte die Gewerkschaft gegen diese Deutung anzukämpfen und aus den außerordentlichen Gefahren und Opfern der Staublunge bei der Bergarbeiterschaft besondere wohlfahrtsstaatliche Versorgungsansprüche abzuleiten. Auf der anderen Seite rückten die individuellen Schicksale der Betroffenen und die Rolle herausragender Einzelpersonen stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit. In einem sich verselbstständigenden Pressediskurs wurde das soziale Problem der Staublunge als Geschichte mit zwei Rollen erzählt: Während die Bergleute gegenüber der
Empirische Ergebnisse
unsichtbaren Gefahr als leidende Opfer regelrecht machtlos wirkten, erschienen Ärzte und Wissenschaftler als selbstlose Hoffnungsbringer und heldische Retter; das finstere Lungenleiden und die weißbekittelten Erlöser rangen dabei um die bedrohten Körper der Bergarbeiterschaft. Einen letzten Politisierungsschub aus dem gewerkschaftlichen Lager erfuhr die bergmännische Gesundheit schließlich 1964 bei der Debatte über die Emphysem-Bronchitis, bei der auch die Silikose mitthematisiert wurde. Dabei war bereits eine einsetzende Historisierung der Krankheit zu verzeichnen, in deren Zuge die Staublunge als erinnerungskulturelles Sinnbild einer ganzen Region im Problem- und Umwelt-Diskurs über das Ruhrgebiet, seine gerade verblühende Industrialisierung sowie die hiermit verschränkten historisch-strukturellen Lasten und ökologischen Folgen aufging. Der zweite Teil (Kapitel 3 und 4) verschob die Perspektive nun auf eine enger umrissene Experten-Ebene. Auch die Genese des wissenschaftsförmigen Silikose-Wissens, das in der öffentlichen Debatte alsbald aufgegriffen und verbreitet wurde, hatte organisationale Vorbedingungen. Nach 1945 nutzte die Bergbau-Berufsgenossenschaft ihre bereits bestehenden Strukturen und die ihr zur Verfügung stehende Expertise in Form der Hauptstelle für Staubbekämpfung und des Bergmannsheil Bochum, um die Hauptstelle zum Silikose-Forschungsinstitut auszubauen. Gegenüber den Betrieben hatte die Berufsgenossenschaft zwar kaum konkrete Weisungsbefugnisse im Hinblick auf die betrieblichen Maßnahmen gegen Berufskrankheiten, da dies Aufgabe der staatlichen Bergämter war. Sie und das Silikose-Forschungsinstitut machten den Betrieben jedoch erfolgreich Handlungsangebote aus der angewandten Silikose-Forschung. Es existierten auch andere Forschungsinstitute, die sich mit der Silikose befassten. Insgesamt war der Expertenkreis aber klein und es gab enge Kooperationen und Verflechtungen zwischen den Stellen, die sich zunehmend zu einem eigenen Wissensnetzwerk im Wissensfeld um die Krankheit verdichteten, das die unberechenbare Staublunge mithilfe entsprechender Verfahren in eine kalkulierbare Silikose transformierte. Ab 1953, als der neu gegründete Steinkohlenbergbauverein die Forschungsarbeit der aufgelösten Deutschen Kohlenbergbau-Leitung (DKBL) übernahm, verlagerte sich das Gewicht von der allgemeinen Grundlagenforschung hin zur anwendungsbezogenen Forschung in den Betrieben und für die Betriebe. Die DKBL hatte bereits 1951 eine eigene Hauptstelle für Staub- und Silikosebekämpfung gegründet. Ein ihr zur Seite gestellter Ausschuss sorgte für fachlichen Austausch zwischen Medizinern, Ingenieuren und Bergbaupraktikern und ließ dieses Gebilde mehr und mehr zu einem wichtigen Knotenpunkt im Wissensfeld werden. Obwohl die Betriebe ursprünglich nur ergänzend zum Silikose-Forschungsinstitut eigene Forschung betreiben wollten, ergab sich rasch eine Konkurrenzsituation zwischen den beiden Einrichtungen. Schließlich sollte sich das Silikose-Forschungsinstitut vor allem mit der Grundlagenforschung befassen und die Hauptstelle praktische Fragen der Staubbekämpfung behandeln. Das über die Silikose und ihre Verhütung produzierte Wissen sollte vor allem an Aufsichtspersonen in den Betrieben weitergegeben werden.
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Schluss
Der Wissensfluss wurde dabei doppelt hierarchisiert: Zum einen, indem Wissen über die Krankheit und ihre Verhütung „von oben nach unten“ vermittelt werden sollte; zum anderen, indem wissenschaftsförmiges Wissen für die betriebliche Prävention maßgeblich war. Das Wissensfeld hat sich in der empirischen Analyse jedoch als deutlich weiter gezeigt und dabei reziproke Austauschprozesse entgegen dieser scheinbar klaren Wissenshierarchie offenbart: Experten, die erfolglos nach den genauen Ursachen der Krankheit und daraus abzuleitenden medizinischen Prophylaxen und technischen Präventionsmitteln suchten, zeigten sich in den vierziger und fünfziger Jahren erstaunlich offen für vermeintlich unwissenschaftliche Beobachtungen und subjektive Erfahrungen von Bergleuten. Doch da die genauen physiologischen Ursachen der Silikose lange ungeklärt blieben und zunächst im Verhalten oder der individuellen körperlichen Disposition gesucht, aber nie abschließend nachgewiesen werden konnten, und auch die technischen Maßnahmen zur Staubbekämpfung zunächst nur begrenzte Wirkung zeigten, sank die Bedeutung der medizinischen Ursachenforschung. Stattdessen machte ab Ende der fünfziger Jahre das Risikofaktoren-Modell Schule. Voraussetzung dafür waren statistische Daten, die durch neue Messgeräte, technologische Infrastrukturen sowie die flächendeckende ärztliche Überwachung der Bergarbeiterschaft gesammelt werden konnten und einem neuen Paradigma Vorschub leisteten: Während bis Mitte der fünfziger Jahre fieberhaft nach physiologischen Einzellösungen gesucht wurde, z. B. durch Inhalations-Prophylaxe und das Ausmachen „Ungeeigneter“, stand ab 1957 ein probabilistischer Ansatz im Mittelpunkt, der das Silikose-Problem über Datenmengen greifbar machte: In der Praxis sollte das Erkrankungsrisiko durch eine zentrale Lenkung des Arbeitseinsatzes an verschiedenen Orten gleichmäßig auf alle Bergarbeiter verteilt werden. Die Idee war dabei auch direkt mit zukünftigen Entschädigungserwägungen verknüpft, indem das Risiko einer entschädigungspflichtigen Berufskrankheit maßgeblich war. Jedoch ergab sich stets eine Diskrepanz zwischen dem betrieblichen Modell der Arbeitseinsatzlenkung sowie dem arbeitsweltlichen Erleben seiner Praxis durch die Bergarbeiter. Im dritten Teil (Kapitel 5) wurden schließlich die individuellen Perspektiven auf Körper und Krankheit in der Entschädigungspraxis beschrieben. Die Gefahrenwahrnehmung der Staublunge sowie die individuellen Körper- und Krankheitserfahrungen der Bergleute unterschieden sich bisweilen fundamental von den formalisierten Ergebnissen der ärztlichen Begutachtungspraxis zur Silikose. Das haben insbesondere die Einblicke in die Fallakten der Betroffenen eindrücklich gezeigt. Die soziologische Studie Carl Jantkes aus dem Jahr 1950 dokumentierte ein tiefes Misstrauen der Bergleute gegenüber der Sozialversicherung, das den „bürgerlichen“ Ärzten aus den Reihen der „proletarischen“ Bergarbeitern entgegenschlug. Die Vorstellung, dass lange Bergarbeit notwendigerweise zu einer Staublungenerkrankung führe, war bei diesen weit verbreitet. Die vermeintliche Schicksalhaftigkeit der Krankheit begründete in dieser Deutung einen Anspruch auf Entschädigungsleistungen, der aber oftmals nicht oder
Empirische Ergebnisse
nicht vollumfänglich erfüllt wurde. Die Gefahren der Bergarbeit waren mithin einerseits Quelle eines ausgeprägten Berufsstolzes und einer starken Männlichkeitskultur; andererseits stifteten sie auch – gerade unter Jüngeren – eine wachsende Abneigung gegenüber dem Bergbau und seinen Gesundheitsgefahren. Doch gerade für altgediente Bergleute kam ein Berufswechsel oft nicht mehr in Frage. Für die Bergbauunternehmen ergab sich hieraus neben der gefürchteten personellen Fluktuation das Problem eines hartnäckigen Nachwuchsmangels. Die Aussagen von Bergmanns-Ehefrauen, bei denen die Sorge um die körperliche Gesundheit der Männer Gegenstand beständiger Auseinandersetzungen war, ihre Söhne sollten später auf keinen Fall in den Bergbau gehen, sondern es einmal besser haben, deuten dabei außerdem auf ein generationelles Auseinanderfallen alter Bergarbeiterfamilien hin, wenn in der bald im „Wirtschafswunder“ boomenden Nachkriegszeit andere, attraktivere und weniger gefährliche Ausbildungs- und Verdienstmöglichkeiten zur Verfügung standen. Perspektivisch öffnet dieser Trend den Raum für die Frage nach der politisch forcierten Migration ausländischer Arbeitskräfte in die Bundesrepublik ab den sechziger Jahren, die gerade – und oft übersehen – die Ränge in den unattraktiven Branchen wie der Montanindustrie füllen sollten. Die untersuchten Rentenverfahren der Unfallversicherung wurden von den meisten Bergleuten, die mit ihnen in Berührung kamen, als quälend und ungerecht empfunden. Kern der Auseinandersetzungen war oft die Diskrepanz zwischen dem persönlichen gesundheitlichen Körper-Empfinden und dem medizinisch-objektivierten Ergebnis der ärztlichen Begutachtung in bürokratischen Entscheidungsprozessen. Um zu dem Recht zu gelangen, von dem die betroffenen Bergleute überzeugt waren, dass es ihnen zustand, eigneten sich die Versicherten das Spiel und die Semantiken der wissenschaftsförmigen Objektivierung auf unterschiedliche Weise an: Entweder durch eigene Argumente, zum Beispiel über den progressiven Charakter der Erkrankung, durch die Anrufung wissenschaftlicher Autoritäten, oder aber auf indirektem Wege, indem sie die Hilfe von Vereinen oder der Gewerkschaft in Anspruch nahmen, die sich ihrerseits entsprechende Expertise über die Silikose sowie über den Ablauf der Rentenverfahren angeeignet hatten. Während die Machtverhältnisse bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Regeln, nach denen die Unfallversicherungs-Verfahren funktionierten, fraglos zu Ungunsten der versicherten Bergarbeiter ausfielen, ergaben sich jedoch spezifische Gestaltungsspielräume innerhalb des Systems der Rentengewährung. Dabei kam der öffentlichen Verbreitung des Wissens, auf dessen Grundlage vor allem die Gutachten entstanden, die wiederum die fundamentale Entscheidungsgrundlage der Berufsgenossenschaft oder der Schiedsstellen waren, eine zentrale Bedeutung zu. Dies führt uns letztlich wieder zurück zum Verhältnis zwischen dem wohlfahrtsstaatlichen Ausgleich zwischen erlittenen gesundheitlichen Schäden und ihrer monetären Entschädigung sowie der überwölbenden Rolle wissenschaftsförmigen Wissens: Die Verwissenschaftlichung der betrieblichen und gesellschaftlichen Regulierung der
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Schluss
Silikose besaß ein grundsätzlich demokratisierendes Potential in dem Sinne, dass der inhärente Interessengegensatz zwischen geschädigten Versicherten, die eine Entschädigung forderten, und der kostenminimierend arbeitenden sowie unternehmensfinanzierten Unfallversicherung auf die wissenschaftliche Wahrheitsfindung ausgelagert wurde. Medizinische Experten nahmen eine prekäre vermittelnde Rolle zwischen den streitenden Parteien ein und waren – zumindest dem Ideal nach – allein einer wissenschaftlichen Objektivierung und einem kalten Blick auf die betroffenen Körper verpflichtet. In den paritätischen Gremien der Bergbau-Berufsgenossenschaft und in den Bergbaubetrieben und im Ausschuss es Steinkohlenbergbauvereins wurden derweil Fragen der Staub- und Silikosebekämpfung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern diskutiert. Unter dem Gesichtspunkt eines sozialpartnerschaftlichen Interessenausgleichs zwischen Unternehmern sowie Versicherten und Versicherungsvermögen, wie ihn sich die Bundesrepublik auf die sozialstaatlichen Fahnen geschrieben hatte, kann die Verbreitung und Anwendung wissenschaftsförmigen Wissens für soziale und politische Entscheidungsprozesse als Erfolg gesehen werden, der sich nahtlos in eine Geschichte des Wiederaufbaus und der hiermit verschränkten Genese eines modernen Sozialstaats einfügt. Und doch – ganz am Anfang ist es aufgeworfen worden – hat diese leuchtende Erfolgsgeschichte eine dunkle Kehrseite, die beim Blick auf die betriebliche Regulierungspraxis und insbesondere bei der bergmännischen Erkrankten-Perspektive zur Geltung kam. Das Wissen, diese nur scheinbar jedem zugängliche Ressource moderner Entscheidungsfindung, existierte nicht ohne ihre Träger und Medien. In der sozialen Praxis waren sowohl die Ressource selbst als auch die Entscheidungsmacht über die zu ergreifenden Maßnahmen auf ihrer Grundlage hochgradig ungleich verteilt. Es herrschte nicht nur eine klare Hierarchisierung zwischen wissenschaftlicher Expertise und ihren ausgebildeten Trägern einerseits sowie betroffenen Bergmännern und ihrem alltäglich-eigensinnigen Erfahrungswissen über die Staublunge andererseits. Auch die Genese des als wissenschaftlicher Kanon anerkannten Silikose-Wissens im formierten Wissensfeld war institutionell angebunden. Mit der probabilistischen Arbeitseinsatzlenkung, die sich bis Mitte der sechziger Jahre vollends in der Praxis etabliert hatte, setzten sich letztlich die Bergbauunternehmen mit ihrer in der Hauptstelle für Staubund Silikosebekämpfung betriebenen Gemeinschaftsforschung durch, markierten die semantischen und diskursiven Akzente im Wissensfeld und diktierten damit die praktische, wissenschaftsbasierte Ausgestaltung der wohlfahrtsstaatlichen Versprechungen sozialer Sicherheit. In der kritischen historischen Betrachtung offenbart sich die „Verwissenschaftlichung“ damit als ein inhärent politischer Prozess, der im Übrigen lange vor dem meist in den siebziger Jahren verorteten Schub begann. Wissenschaft und Politik, so ließe sich zuspitzten, waren nicht einfach aneinander „gekoppelt“. Sie waren von Anfang an sehr eng ineinander verwoben, weil Wissenschaft selbst zwar als ein institutionalisiertes gesellschaftliches Feld begriffen werden kann, aber wissenschaftsförmiges Wissen
Historiografsche Einordnung und Ausblick
als solches hingegen prinzipiell allen gesellschaftlichen Akteuren zugänglich war – abhängig von den zur Verfügung stehenden Macht, sich dieses Wissen anzueignen, zu gestalten und in die Praxis zu übersetzen. Als erklärte Interessenvertretung der Bergarbeiterschaft machte die Industriegewerkschaft Bergbau ebenfalls davon Gebrauch, beteiligte sich früh am wissenschaftlichen Diskurs über die Silikose und stellte ihren Mitgliedern ihre Wissens-Ressourcen in Rentenverfahren auch zur Verfügung. Ihr Erfolg im Vergleich mit den Bergbauunternehmen ist dabei nicht zu quantifizieren, allein weil die begrenzt überlieferten Fallakten nur ein mosaikhaftes Bild der massenseriellen Versicherungspraxis vermitteln. Dafür ließen sich daraus wertvolle Eindrücke von der bergmännischen Selbstverortung in dieser Geschichte gewinnen. Sie sahen sich als vergessene Helden und tragische Opfer eines historischen Unrechts. Ihre im bergmännischen Arbeitsund Männlichkeitsethos verankerte Gefahrenverachtung und Leidensfähigkeit wurde nicht honoriert. Die schweren körperlichen Symptome der Staublunge verhöhnten das maskulin-proletarische Selbstbild des „ranhauenden“ Bergmanns sogar. Ganz auf den häuslichen Raum zurückgezogen und oft gänzlich auf Pflege und Fürsorge ihrer Frauen angewiesen, waren die Fenster der Wohnung das letzte buchstäbliche Fenster zur Welt, an dem auch die Staublungen-Kranken noch für andere sichtbar wurden – bis sie dort nicht mehr zu sehen, ja „weg vom Fenster“ waren. Eine tiefere Ironie dieser Geschichte könnte pointiert darin liegen, dass der Anspruch an die bergmännische Leidensfähigkeit im Angesicht der bergbaulichen Gefahren schließlich sogar auf die Frauen der Invaliden überging: Bar des gemeinschaftlichen Malocher- und Machismo-Mythos des gestählten, gefahrentrotzenden Kumpels unter Tage, der ihren Ehemännern zuteilgeworden war und der noch immer das populäre Erinnern an den Bergbau prägt, war die Geschichte der Bergmannsfrauen aber von Anfang an dem Vergessen anheimgefallen – das heißt, hätten vor einem halben Jahrhundert nicht einige von ihnen oft bewegende Briefe an die Bergbau-Berufsgenossenschaft verfasst. 6.2
Historiografische Einordnung und Ausblick
Was bedeuten vor diesem Hintergrund die markanten zeithistoriografischen Zäsuren, auf die eingangs rekurriert worden ist? Die Wiederentstehung gewerkschaftlicher Strukturen im Bergbau direkt nach Ende des Krieges, das Betriebsrätegesetz von 1946, der Erhalt der grundlegenden Strukturen des Sozialversicherungssystems in der Bundesrepublik, die paritätische Mitbestimmung in den Betrieben und in der Unfallversicherung 1951 und eine freie Öffentlichkeit waren wichtige Weichenstellungen, die die Bedingungen geprägt haben, unter denen die Staublunge nach 1945 als Problem (wieder-)entdeckt und unter denen die Deutungskämpfe der fünfziger und sechziger Jahre ausgetragen wurde. Die darauffolgenden zwei Jahrzehnte – vor allem die Jahre
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ab Mitte der fünfziger Jahre – stehen sozialgeschichtlich im Zeichen einer ungekannten Wohlstandsvermehrung, die zu den einschneidenden kollektiven Erfahrungen der westdeutschen Gesellschaft gehörte und der in Verbindung mit der fortwährenden Expansion des Wohlfahrtsstaates bis Anfang der siebziger Jahre auch jenen Teilhabe an neuen Konsummöglichkeiten erlaubte, die bislang nicht oder wenig vom „Wirtschaftswunder“ profitiert hatten.1 Zugleich setzte ein tiefgreifender struktureller Wandel ein. Die Schrumpfung der klassischen Industrie-Arbeiterschaft und des primären Sektors seit den sechziger Jahren gehört zu ihren wichtigsten Merkmalen.2 Den Steinkohlenbergbau erfasste dieser Wandel bereits Ende der fünfziger Jahre und bald darauf die gesamte Montanindustrie: Die „Malocher“ schienen zu verschwinden.3 Dreißig Jahre trat auch die Arbeitergeschichte in den Schatten neuer Themen, Trends und Turns. In jüngster Zeit ist ihr jedoch wieder ein wachsendes Interesse zu Teil geworden, das sie lange verloren hatte. Tatsächlich ist insbesondere die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein arbeiter- wie arbeitshistorisch noch kaum bestelltes Feld. Zu verdanken ist das neue Interesse sicherlich auch dem symbolischen Ende des deutschen Steinkohlenbergbaus im Jahr 2018, der das historische und erinnerungspolitische Erbe der Montanindustrie wieder ins öffentliche Bewusstsein gebracht hat. Für die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Arbeiterschaft ist dieser Wandel vielleicht sogar ein nachhaltiger. So ist das Jubiläum von einigen fachlichen Neupublikationen flankiert worden. Zwei davon verhalten sich aus jeweils sehr unterschiedlichen Blickwinkeln komplementär zu dieser Arbeit. Erstens ist Franz-Josef Brüggemeier noch einmal zu den Ursprüngen seiner wissenschaftlichen Karriere zurückgekehrt,4 um dem augenscheinlich geringen Interesse an „der Kohle“ eine breite Stoff-Geschichte derselben entgegenzuhalten, die von der ungeheuren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Macht dieses Rohstoffs zu erzählen, die Kriege, Expansion, Arbeitskämpfe, aber auch den „Nachkriegsboom“ buchstäblich befeuerte.5 Die Welt, in der wir leben, so die Botschaft, wäre eine fundamental andere ohne die Steinkohle. Und auch mit ihrer nachlassenden Bedeutung, oder zumindest ihrer nachlassenden Förderung in den alten bedeutenden Bergbaurevieren Europas, zu denen das Ruhrgebiet zählt, veränderte sich die Welt und die Bergarbeiter und ihre Lebenswelt, die ihre Regionen so stark geprägt hatten, wurden immer weniger. Zweitens knüpft Lutz Raphael prominent an das vermeintliche „Verschwinden“ der Arbeiterschaft an.6 Diese Geschichte beginnt folglich in den siebziger Jahren. Doch
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Schildt 2007, S. 23. Ebd., S. 30. Vgl. Hindrichs/Jürgenhake/Kleinschmidt 2000. Seine in dieser Arbeit bereits zitierte Dissertation, Brüggemeier 1983. Brüggemeier 2018. Raphael 2019.
Historiografsche Einordnung und Ausblick
liegt der eigentliche Ausgangspunkt in eben jenen „fetten Jahren des Booms“, in denen die Arbeiter schon zu ihren Lebzeiten „Bestandteil einer zukünftigen Vergangenheit“ zu werden schienen; ein Umstand, den gerade die Sozialgeschichte in ihrer Hingabe an den zeitgenössischen soziologischen Blick bislang nicht genug gewürdigt habe.7 Raphael stellt durch diese Perspektive „von unten“ und „von gestern“ die Erfahrungs- und Erwartungsräume der Arbeiterschaft ins Zentrum seiner Betrachtung. Eine entsprechend zentrale Rolle nehmen auch kulturelle und politische Repräsentationen ein. Ungeachtet der Frage, ob damit bereits eine Renaissance der Arbeitergeschichte eingeläutet ist, fällt diese Geschichte der Staublunge/Silikose damit in eine aktuelle Veröffentlichungskonjunktur, in der sich eine neue historiografische Hinwendung zur Lebenswelt der (Industrie-)Arbeiterschaft im Allgemeinen, aber auch der für das 20. Jahrhundert so grundlegenden Montanindustrie im Besonderen beobachten lässt. Hinzu kommen kritische Stimmen gegen die zuweilen geradezu verkitschte Musealisierung des montanindustriellen Erbes, das sie hinterlassen hat.8 Aktuelle Bezüge auf die Geschichte, allzumal die Zeitgeschichte, sind immer auch ein Spiegel der Gegenwartsprobleme einer Gesellschaft, und es die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, differenzierte Deutungsangebote für den Blick in die Vergangenheit zu produzieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich diese Arbeit – obschon ihr fachlicher Kern eine Wissensgeschichte der Staublunge bleibt – auch lesen als ein etwas anderes Portrait der für das Selbstverständnis der Bundesrepublik so wichtigen Ausnahmeepoche zwischen dem vom Nachkriegsboom getragenen Aufbruch in einen demokratischen Sozialstaat und den Krisenjahrzehnten der siebziger und achtziger Jahre. Sie eröffnet einen Blick von unten und gestern, aus dessen Sicht das Leben hart und gefährlich und die Zukunft fern und ungewiss war – und für viele der Betroffene der Staublunge leidvoll und hoffnungslos. In einer Zeit also, die im Lichte der bundesrepublikanischen Erinnerung der unbeschwerte Aufschwung und Wiederaufbau vor wirtschaftlichen, ökologischen und politischen Krisen der darauffolgenden Jahrzehnte wurde, durchlebte die Bergarbeiterschaft im Dunkel der Bergwerke schon eine kollektive Körper- und Gesundheitskrise, die weder 1945 begonnen hatte noch 1970 endete, und die die Grundfesten bergmännischer Arbeits- und Männlichkeitskultur dramatisch erschütterte. Auch für die Silikose- und Staub-Experten endete die Geschichte nicht 1970. Im Gegenteil. Sie fanden neue Aufgaben und das um die Silikose formierte Wissensfeld neue Praxisfelder. Nachdem Hans-Werner Schlipköter 1964 sein mutmaßliches Therapie- und Prophylaktikum „PVNO“ erstmals vorgestellt hatte, wurde ihm und seinem naturwissenschaftlichen Kollegen 1968 dafür der Robert-Koch-Preis verliehen. Später folgten weitere Auszeichnungen. In den siebziger Jahren avancierte er zu den einflussreichsten Umweltmedizinern in der Bundesrepublik. Als Leitender Direktor Ebd., S. 13; Raphael spricht in diesem Zusammenhang gar von einer „Berufskrankheit“ der Historiker. Vgl. Eiringhaus, Pia/Kellershohn, Jan, Und wer zahlt die Zeche?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. August 2018.
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des Medizinischen Instituts für Lufthygiene und Silikoseforschung, Vorsitzender des Hauptausschusses für Wirkungsfragen in der VDI-Kommission „Reinhaltung der Luft“, Mitglied der entsprechenden DFG-Kommission und Teilnehmer von Bundestags-Hearings galt der als Schlüsselfigur für die expertengestützte Umweltpolitik der Bundesrepublik. Die jahrzehntelange Staub- und Silikose-Forschung floss schließlich in die in den sechziger Jahren beginnende, noch viel größer angelegte Vermessung und Objektivierung der industriebedingten Umwelt- und Luftverschmutzung ein, und ist bis heute an Hand der im ganzen Land verteilten Messtationen sichtbar. In den Augen der Wissenschaft hatten sich damit nicht allein die Bergarbeiter der Mehrheit der Gesellschaft angenähert. Auch die gesundheitlichen Gefahren durch schädliche Feinstäube waren der Enge der Bergwerke entwichen und im gesellschaftlichen Mainstream angekommen.
7.
Abbbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Zeitgenössische Darstellung der Entwicklung der Silikosefälle 1948 bis 1954 Abbildung 2: Szene aus dem Film „Silikose“; der Arzt zeigt dem Bergmann Röntgenbilder Abbildung 3: Werbung für die Schutzmaske „Molch“ aus dem Jahr 1954 Abbildung 4: Aerosol-Inhalationsraum mit Ionisierer 1955 in Dortmund und Aerosolgang auf der Zeche Osterfeld in Oberhausen 1957 Abbildung 5: Zeitgenössische Darstellung der „Staubbelastungsstufen“, auf deren Grundlage die Staubbekämpfung und der Arbeitseinsatz der gefährdeten Bergleute gesteuert werden sollte Abbildung 6: Der Kopf des „Tätignachweises für Staubbelastung“, der dokumentieren sollte, welchen Risiken der betreffende Bergmann am Arbeitsplatz ausgesetzt war Abbildung 7: Zeitgenössische schematische Darstellung der betrieblichen Regulierung (1961)
8.
Quellen- und Literaturverzeichnis
8.1
Ungedruckte Quellen
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8.2
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Der Steinkohlenbergbau des Ruhrgebiets versorgte den wirtschaftlichen Boom der frühen Bundesrepublik mit dringend benötigter Energie. Als Kehrseite des wachsenden Wohlstands spielte sich in den Zechen und Bergarbeitersiedlungen Westdeutschlands eine gesundheitliche Katastrophe ab, die außerhalb des Reviers weitgehend in Vergessenheit geraten ist: Die Staublunge machte aus stolzen Bergleuten ans Bett gefesselte Frührentner und forderte jährlich weit mehr Leben als die spektakulären Grubenunglücke und täglichen Arbeitsunfälle.
In seiner Studie zeichnet Daniel Trabalski nach, wie die bundesrepublikanische Öffentlichkeit dieser Bewährungsprobe für den jungen Sozialstaat begegnete, wie der Wissenschaft die Rolle zufiel, das Problem zu lösen, und wie Mediziner, Naturwissenschaftler und Bergbauexperten zwischen Forscherehrgeiz, politischen und moralischen Ansprüchen und der widerspenstigen Realität der untertägigen Arbeitswelt den unheimlichen Bergmannsfluch zu bannen und in ein kalkulierbares und steuerbares Risiko zu verwandeln suchten.
ISBN 978-3-515-13355-5
www.steiner-verlag.de
9 783515 133555
Franz Steiner Verlag