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German Pages [560] Year 1935
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Polly Maria Höfler : Der Weg in die Heimat
Der Weg in die Heimat
Grenzlandroman aus Lothringen
Von
Polly Maria Höfler
1. Auflage 1.-10. Taufend
19
35
Zentralverlag der NSDAP. , Franz Eher Nachf., München
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LIBRA
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Alle Rechte, insbesondere die der Überseßung, Dramatiſierung Verfilmung und Radioübertragung , vorbehalten
Copyright 1935 by Franz Eher Nachf. G. m. b. H. in München
Printed in Germany
Druck : Münchner Buchgewerbehans M. Müller & Sohn G. m. b. H., München
Meiner lieben Mutter
Inhaltsverzeichnis
I. Teil: Die Heimat 1. Kapitel : Mek, Sommer 1918
11
2. Kapitel: Die Franzosen kommen
76
3. Kapitel: Flüchtlinge . ·
139
II. Teil : Die Fremde 1. Kapitel: Ich bin ein unzeitgemäßer Mensch
255
2. Kapitel : Arbeitslos
320
·
3. Kapitel : Verdammte dieser Erde
350
4. Kapitel: Heimatsucher .·
444
III. Teil : Heimkehr 1. Kapitel: Gast in der Heimat .
2. Kapitel : Frühling
·
469 • 505
•
I. Teil
Die Heimat
Ich besaß es doch einmal, was so köstlich ist . . . (Goethe)
1. Kapitel
Met, Sommer 1918
Mek, Sommer 1918. Wir ſizen auf einer Bank in den Moſelanlagen, mein Freund Marcel und ich. In der Stadt ist es heute unerträglich heiß, aber hier, am Fluß, unter den hohen Bäumen, ist man einigermaßen gegen die Sonne geschützt. Faul, etwas ſchläfrig, ſizen
wir
nebeneinander,
der
Junge und ich. Zahllose winzige Insekten ſummen um unſere Köpfe, aus dem Waſſer steigt süßer, leicht fauliger Geruch empor. „Wir werden ein Gewitter bekommen“, meint Marcel einmal. „ Ich glaub' eher, daß die Flieger bald da ſein werden“, ſage ich mit einem Blick auf den durchsichtig klaren, wolkenloſen Himmel. „ Mama wollte mich durchaus nicht aus dem Haus laſſen. Sie ist immer unruhig, wenn eines von uns bei dem schönen Wetter draußen ist.“ „ Alle Mütter find so “, knurrt Marcel . „ Meine ist womöglich noch schlimmer. Die würde am liebsten Tag und Nacht im Keller zubringen ...“ Ich unterdrücke eine ſpöttiſche Bemerkung, daß Madame > Bertrand, die Französin, also ihre eigenen Landsleute so sehr fürchte. Aber ich mag mit Marcel keinen politischen Streit anfangen. Dazu ist man vor allem heute zu faul. Es gibt ja auch so viel Angenehmeres zu denken. Es ist Sonntag, man trägt ſein neues weißes Spikenkleid, ſigt neben dem hübschen Marcel Bertrand, um deſſen Freund-
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schaft man von vielen Mädels beneidet wird , und wünſcht brennend, daß jezt eine der Klaſſenkameradinnen hier vorüberkäme, möglichst eine Offizierstochter aus Preußen. Natürlich gäbe es am nächsten Tag wieder dumme Bemerkungen in der Klasse. Daß ich, Jeanne Martin, als deutsches Mädel mit einem Franzosen Freundschaft halte; ja, Inge von Bonin warf mir kürzlich ſogar an den Kopf, ich sei eine Vaterlandsverräterin ! Das alles kümmert mich aber wenig. Es ist doch nur Neid von den Mädels, besonders von Inge, weil ihr eigener Freund sehr unscheinbar ist, einen brandroten Schopf hat und Joseph Steiffmehl heißt. Nein, ich bin bestimmt keine schlechtere Deutsche als die anderen alle, weil Marcel Bertrand nun zufälligerweise französische Eltern hat. Das hat mit Politik nichts zu tun. Und wenn der Junge in meiner Gegenwart gehässig von den Deutschen redet (was hin und wieder allerdings vorkommt), so halte ich mit meiner Meinung durchaus nicht zurück und sehe ihn tagelang nicht an. Komisch, daß dieser hellblonde, germaniſch aussehende Junge Franzose iſt. Sogar Südfranzoſe, ſeine Eltern ſtammen aus der Gegend von Marſeille. Sein Vater ist gleich zu Anfang des Krieges aus Mez verschwunden, weil er nicht auf deutscher Seite kämpfen wollte, heißt es. Die Familie soll seit vier Jahren ohne jede Nachricht von ihm sein. In der Stadt aber gehen neuerdings seltsame Gerüchte über Marcels Vater um― doch ich mag daran nicht denken. Es ist zu häßlich. Jezt ſizen wir also beide hier, hängen unſeren Gedanken nach, fühlen eine angenehme schläfrige Schwere in den Gliedern. Vor uns liegt das weite grüne Moſeltal, der sonnenglikernde Fluß mit ſeinen ſanften Windungen. Das Maſſiv des St. Quentins jenseits der Mosel wirkt fast schwarz gegen die in Licht gebadete Landschaft zu ſeinen Füßen. Dort im Westen - - liegt Frankreich. Schwaches, lang= anhaltendes Dröhnen zeigt die Richtung der Front an.
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Vier Jahre geht das nun schon so - seit vier Jahren > steht dort nachts ein blutroter Feuerschein am Himmel. An manchen Tagen ist das Dröhnen der Geschüße so nah, daß unsere Fensterscheiben klirren. Dann wieder, so auch heute, flingt es wie fern verhallender Donner. Marcel sagt, das hinge mit der jeweiligen Luftſtrömung zuſammen. Der Himmel ist heute beängstigend klar, wie ein riesiger blauer Stein wölbt er sich über der Erde. Ich male mir aus, wie ſchön es wäre, Flügel zu haben. Hoch über allen Menschen zu schweben, geradewegs in den blauen Himmel . . . „ Wollen wir wetten, Jeanne, daß Mez im nächsten > Sommer französisch ist ?" sagt Marcel plöglich. Diese Worte fallen ſo unvermittelt in das Schweigen, daß ich ihren Sinn zunächst nicht erfaſſe. ,,Was meinst du ?" frage ich geistesabwesend. Marcel fikt vornübergebeugt, hat den Kopf in die Hände geſtützt und sieht unverwandt hinüber nach dem St. Quentin. „ Weißt du, Jeanne, wenn ihr Deutſchen vernünftig wärt, würdet ihr einfach sagen : da habt ihr Elsaß-Lothringen, wir geben es freiwillig an Frankreich zurück, weil es ja doch zu diesem Lande gehört und nur von uns geraubt ) worden ist." Ich starre ihn groß an und rücke unwillkürlich ein wenig von ihm ab. Hat er den Verſtand verloren, weiß er nicht mehr, was er redet? „ Mein Vater hat gesagt, Elsaß-Lothringen ſei von jeher französisches Land gewesen und solle es auch wieder werden“, sagt der Junge mit leuchtenden Augen. Er ist aufgesprungen und stellt sich gerade vor mich hin. „Hörſt du , Jeanne: wenn dieser Krieg erst siegreich zu Ende geführt ist, wird Frankreich ſich ſein rechtmäßiges Eigentum wieder holen, dann werden sie hier ihren Einzug halten, oh, dann ..." •
,,Bist du verrückt geworden?" fahre ich auf. Ich fühle, wie 13
mir alles Blut in den Kopf steigt. Mit so einem hab' ich Freundschaft gehalten! „Jeanne ..." Er will meine Hand faſſen. Ich reiße mich los. Laufe blindlings davon. Da ist er schon wieder an meiner Seite. 66 „Jeanne, bleib doch, hör mich doch wenigstens an ... Er packt mich am Arm und zwingt mich ſo, mit ihm Schritt zu halten. „Einmal muß man doch seinem Herzen Luft machen können, und ich glaubte, wenigstens dir gegenüber — Jeanne, so bleib doch stehen!" ,,Weißt du auch, daß es dir sehr schlecht ginge, wenn ich deine Äußerungen jetzt den deutschen Räubern ' erzählen wollte?" frage ich, möglichst ruhig. „ Ach so, jezt kenne ich dich, Jeanne Martin ! " Auch Marcel ist dunkelrot geworden, seine hellen Augen funkeln vor Zorn. „ So biſt du , Jeanne Martin. Aber bitte, verklatsche mich doch! Ein Franzose ist niemals feig, ein Franzose fürchtet sich nicht vor deinen Pruſſiens !" Er wirft den Kopf ſtolz zurück. „ Darum ist dein Vater auch gleich zu Kriegsbeginn über die Grenze getürmt, gelt ?" gebe ich höhnisch zurück. Da pact er mich bei den Schultern, daß ich aufschreie. ,,Willst du damit sagen, daß mein Vater ein Feigling ist?" fragt er, dicht vor meinem Gesicht. Ich habe Angst vor seinen bösen Augen . Ich versuche, mich loszumachen. Vergeblich. Seine Jungenfäuſte umflammern mich wie Eisen. „ Laß mich doch — Marcel — pfui, wie kann man sich an einem Mädel vergreifen“ — ( wenn jezt jemand hier vorbeikäme und uns sähe! ) ,,Marcel, bist du denn ganz und gar loslassen ..." Der Schmerz treibt mir Tränen in die Augen — da schreie ich, außer mir vor Wut : „ Loslaſſen, du Feigling - du du - Spionenkind !"
Er läßt die Arme sinken. Ich traue mich nicht vom Plaz zu rühren. Ich habe das 14
Gefühl, daß die geringste Bewegung meinerseits ihn veranlaſſen könnte, mich zu ſchlagen. Statt dessen fragt er, sehr ruhig : ,,Woher willst du wiſſen, daß mein Vater ein Spion iſt?" Ich bin schrecklich verlegen und ſtarre in die Luft, um ſeinem groß auf mich gerichteten Blick zu entgehen. Das hätte ich nicht ſagen dürfen, das nicht . .. Ich krampfe die Hände zuſammen und zerbreche mir den Kopf nach einer Ausrede. Der blaue Himmel da oben tut den Augen förmlich weh. Was soll ich ihm nur sagen, was? Ob er mir jemals wieder gut - waren die vielen filberweißen Pünktchen eigentlich vorhin ſchon am Himmel ? Wie ein Mückenschwarm zieht es über den St. Quentin, ſegelt eilfertig auf uns zu . „Flieger !" brüllt da irgendwer unten auf der Wachtstraße. Fast gleichzeitig setzt das wohlbekannte, wimmernde Heulen der Sturmſirenen ein. Da kracht es schon - vielleicht ein paar hundert Meter entfernt von hier. Der erste Bombeneinschlag macht die Luft erzittern. Marcel ist verschwunden. Ich renne mit vielen anderen Leuten zusammen auf die Eſplanade zu, nach dem Fliegerunterſtand am Juſtizpalaſt. In dem finſteren, kellerähnlichen Gelaß ſtehen die SonntagsSpaziergänger eng zuſammengedrückt, ſchimpfend, räſonierend, und wollen den immer neu Hinzukommenden den Eintritt verwehren. „Nichts mehr zu wollen, wegen Überfüllung geſchloſſen“, sagt ein dider Mann und schlägt die schwere Tür des Unterſtandes zu, gerade, als ich hereingeſchlüpft bin. „ Vielleicht kommen die Herrschaften ein anderes Mal wieder.“ Im Unterſtand ist es ſo dunkel, daß keiner den anderen erkennen kann. Nach dem überhellen Licht des Sommernachmittags, nach der glühenden Wärme draußen glaubt man sich hier aus dem Leben in ein Grab verſeßt, in ein nachtfinsteres, Sommererde.
kaltes
Grab
tief unter
der
prangenden
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Draußen dröhnt und tracht es, als ginge die Welt aus den Fugen. Sie müssen dicht über uns sein Maschinengewehre rattern in nächſter Nähe. „Da draußen ist wieder die Hölle los“, sagt eine Frauenſtimme neben mir. „ Und meine Kinder ſind unterwegs nach Moulins . . ."
Ob Marcel wohl hier ist? Dann denke ich an Mutter, die kleinen Geschwister. Sicher vergeht Mama jezt wieder in Angst und Sorge um mich. Hoffentlich haben sie den ſchüßenden Keller gut erreicht. Mutter ist immer so verwirrt, so kopflos, wenn ein Fliegerangriff kommt. Sie müßte sich doch nachgerade daran gewöhnt haben. Tante Marie ist viel tapferer. Die wohnt mit ihren Kindern draußen vor der Stadt, in dem gefährdeten Vorort Montigny. Da sie keinen bombensicheren Keller bes ſizen, bleiben sie während der Angriffe alle in der Stube, um den Tisch versammelt. So sterben sie wenigstens alle miteinander, wenn eine Bombe einschlägt. Wir Meher haben im allgemeinen keine große Angst mehr vor den Fliegern. Längst haben wir es uns abgewöhnt, nachts in den Keller zu flüchten ; wir bleiben ruhig in den Betten liegen und verstopfen uns höchſtens die Ohren, um den infernalischen Lärm draußen nicht zu hören. Mutter nimmt uns Kinder zu sich ins Bett, und ſogar für den Hund bleibt noch ein Pläßchen übrig . Wenn dann eine Bombe einschlagen sollte, zerreißt sie uns wenigstens alle miteinander. Keines braucht übrigzubleiben, nicht einmal der Dackel.
Im Unterstand einen Fliegerangriff zu
erleben, ist weit unangenehmer . Brauchen nur zwei, drei Angsthafen unter den Leuten zu ſein, es wirkt doch meiſt ansteckend auf alle übrigen. Dazu kommt die Sorge um die Angehörigen zu Hause. Wenn jegt bei uns daheim ein Unglück geschähe und ich allein müßte weiterleben! Ich bete mechanisch ein Vaterunser nach dem anderen und erwäge, 16
ob ich mich in dieſem Fall lieber aus dem Fenster stürzen oder mit Gas vergiften soll. Ob es Marcel ſehr leid täte, wenn es hieße : die kleine Jeanne Martin lebt nicht mehr, sie hat den Verlust ihrer Angehörigen nicht überwinden können und ist ihnen freiwillig in den Tod gefolgt! Marcel. Ich hätte das nicht ſagen dürfen. Spionenkind ! Das war ſehr häßlich von mir. Aber er hat sich auch nicht gerade schön benommen. Die Deutschen seien Räuber ! ElsaßLothringen würde wieder franzöſiſch! Lächerlich. ― Jezt scheinen die Flieger gerade über uns zu ſein. Die Abwehrgeschütze feuern unten in der Wachtstraße, wenige Schritte von hier. Bei jedem Einschlag kreiſcht eine alte Frau laut auf. „ Na, beruhigen Sie sich, Madame“, tröstet der dicke Mann an der Tür. „Hier sind Sie ja gut aufgehoben ." „Hu—u—uh !“
kreiſcht die Frau
aufs
neue.
Diesmal
haben aber noch ein paar andere mitgeſchrien. Es muß unmittelbar in der Nähe eingeschlagen haben. „Wenn man das bloß nicht mehr hören müßte", jammert die alte Großmutter. Sie steht dicht neben mir, ich fühle, wie sie zittert. Es ist doch manchmal nicht gut, wenn alte Leute noch so scharfe Ohren haben. Müllers Großmutter hat es beſſer, die kann kaum das Geräuſch einer einſchlagenden Bombe von dem eines Maschinengewehres unterscheiden. „In der Schule fingen wir, wenn die Flieger da find“, sage ich schüchtern. Der didke Mann meint, das ſei eine gute Idee. Er räuspert sich ein paarmal und beginnt dann mit furchtbar falscher Stimme:
,,Die Vöglein im Walde,
die sangen, sangen, fangen, so wunder-wunderschön . . .“ 17
Eine Frau schluchzt plötzlich laut auf und sagt, sie könne das nicht gut hören. Das erinnere sie an ihren Sohn, der vor Verdun gefallen ſei. Der dicke Mann hat dafür Verständnis . Es gäbe ja auch lustige Lieder, meint er. Und fängt an :
„Ein freies Leben führen wir, ein Leben voller Wo-onne . . .“
Lautes Gelächter. Metz, Sommer 1918, in einem Fliegerunterstand, der uns vielleicht in der nächsten Minute alle unter sich begraben kann ... Immerhin hat der brave Sänger die Leute in etwas bessere Stimmung verſeßt.
,,So, das wäre überstanden", sagt er ein paar Minuten ſpäter und verläßt als erſter unseren Kerker. „ Iezt wird die Luft ja wohl rein ſein.“ Ungefähr zehn Meter von hier entfernt stand ein schöner, großer Kastanienbaum. Jezt ist dort ein tief aufgerissenes Loch im Erdboden, der getroffene Baum mit ſeinen grünen Ästen liegt quer über dem Weg, weit im Umkreis liegen abgerissene üste und Erdschollen. Das sieht sehr traurig aus. Schöner Baum ! Du hast doch zur Freude der Menschen gedient, hast dich um Krieg oder Frieden nicht gekümmert und bist nun doch dem Krieg zum Opfer gefallen. Mir kommen Tränen in die Augen beim Anblick dieſer zerstörten Herrlichkeit. Ich hebe ein paar Blätter vom Boden auf, die will ich zu Hauſe in meinem Poeſiealbum preſſen. Die Leute können sich noch nicht so rasch zerstreuen. Sie ſtehen gruppenweiſe herum und besprechen das Vorgefallene. „Da haben die braven Franzosen mal wieder ihre Pflicht erfüllt", sagt der dice Mann. ,,Immerhin beſſer, daß der Baum daran glauben mußte, als wenn es einer von uns gewesen wäre."
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„ Ich möchte wetten, daß heute der Kaiser oder irgendeine andre Fürstlichkeit hier ist“, sagt ein anderer. Und er meint, daß einem die prompte und pünktliche Anwesenheit der feindlichen Flieger bei jedem Besuch des Kaiſers oder irgendeines bedeutenden Militärs in Metz doch zu denken geben könne. Meistens würden diese Persönlichkeiten schon beim Eintreffen im Bahnhof entsprechend „ begrüßt“, ja, den Kaiser habe man bei seiner legten Anwesenheit hier buchstäblich auf seinem Weg vom Bahnhof bis zum Grand Hotel verfolgt. „Ja, woher sollen die Franzosen das aber wiſſen ?“ verwundert sich eine Frau. ,,Madame!" sagt der dicke Mann mit fast feierlichem Nachdruck. „ Madame, Sie haben ja keine Ahnung, wie es hier in diesem Neſt von französischen Spionen wimmelt. Na, wenn ich hier etwas zu sagen hätte ...“ Er fuchtelt mit seinem Spazierſtock, daß es geradezu beängstigend ausIch wäre nicht so geduldig und langmütig wie fieht. gewiſſe Herren hier vom Generalkommando ! Ich wüßte ſehr genau, wie und wo ich die Spikel zu suchen hätte.“ Die Leute hören ehrfürchtig zu und wollen Näheres wiſſen. Aber er beschränkt sich auf geheimnisvolle Andeutungen. Als nun einige andere der Umstehenden Fälle aus ihrer persönlichen Bekanntschaft zu erzählen beginnen, von ganz beſtimmtem Verdacht auf dieſe und jene Perſon, wird es mir zu langweilig. Es ist auch höchste Zeit, daß ich nach Hauſe komme. Mama wird in schöner Angst um mich gewesen sein. Sie winkt mir schon von weitem aus dem Fenster. „Gott sei Dank, Kind, daß du endlich da bist ! " Sie zieht mich in die Arme, als ſei ich von einer weiten Reiſe zurückgekehrt und nicht von einem Spaziergang auf die Eſplanade. „Komm, ich hab' dir den Kaffee warmgehalten.“ Dann ſizen wir zuſammen im Wohnzimmer und erzählen unsere Erlebniſſe.
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,,Marcel hat mir schon gesagt, daß du im Unterſtand warst", sagt Mama. ,,Marcel -war er denn bei dir?“ „Nein, ich ſtand doch unten an der Haustür, gerade als die Flieger kamen. Da rannte Marcel hier vorbei und rief mir zu, ich solle teine Angst um dich haben, du seist in den Unterstand gelaufen.“ Also scheint er doch nicht so böse auf mich zu ſein. Sonst würde er doch nicht mit Mama gesprochen haben. Ob er ihr vielleicht etwas gesagt hat? Aber Mutter ist ganz unbefangen. Sie erzählt mir, während ich Kaffee trinke, wo es überall eingeſchlagen hat. In unſerer nächſten Nachbarschaft sind zwei Bomben abgeworfen worden, eine in der Kapellenstraße, die andere in das Gebäude einer Druckerei in der Priesterstraße. Menschenleben seien glücklicherweise diesmal nicht zu beklagen, berichtet Mutter. Ich erzähle meinerſeits von dem zerstörten Baum auf der Esplanade. Mama macht schon wieder beſorgte Augen, obwohl ich doch zur Zeit des Bombeneinschlags ſchön ſicher im Unterstand saß. Von dem Streit mit Marcel erwähne ich nichts. Mama wäre beſtimmt nicht zufrieden mit meinem Verhalten. Ich selbst tönnte mich ja ohrfeigen, wenn ich an die Szene zurückdenke. Ich hätte eben die Vornehmere sein müſſen, den . Jungen wegen seiner gehäſſigen Äußerungen kurz verweiſen und dann meiner Wege gehen sollen. Ja, jezt sage ich mir das alles, wo es zu spät ist. Ich muß mit Berthe Olry reden. Sie ist meine liebste Freundin und wird mir ſchon zu helfen wiſſen. Auch sie hat sich über Marcels hochtrabende Art schon oft geärgert. Die beiden haben häufig Streit miteinander --- wenn es auch
*
bei ihnen nicht um Politik geht.
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„Wo willst du denn ſchon wieder hin ? “ fragt Mutter, als ich etwas später nach meinem Hut greife. „ Zu Berthe“, sage ich hastig. „ Wir wollen noch etwas besprechen wegen des franzöſiſchen Aufſakes.“ „ Komm aber zeitig nach Hause. Tante Marie will mit den Mädels zum Abendbrot hier ſein“, ruft sie mir nach, als ich schon auf der Treppe bin. Mir ist es sehr eilig, zu der Freundin zu kommen. Sie wohnt nur wenige Häuſer entfernt von uns, gleich neben Marcel Bertrand. Natürlich ist bei Olrys niemand zu Hauſe, als ich klingle. Sie werden bei dem schönen Wetter einen Spaziergang unternommen haben.
Unschlüssig
stehe
ich eine Weile.
Wohin jezt? Nach Hause gehen mag ich noch nicht. So mache ich noch einen kleinen Bummel durch die Stadt. Ich bin sehr mißgestimmt und gar nicht erbaut über die Ausſicht, bei meiner Heimkehr die geräuschvolle Verwandtschaft aus Montigny vorzufinden. Die Kuſinen sind so schrecklich eingebildet und tun ſo, als hätten sie allein unter dem Krieg zu leiden. Weil die Flieger in Montigny ſchlimmer hauſen als hier in der Innenſtadt. Sollen ſie doch nach Metz ziehen, wenn es ihnen nicht paßt ... Da bleibe ich mitten auf dem Fußsteig stehen und muß lachen. Was ist denn heute mit mir los ? Jegt neide ich gar ſchon den Kufinen aus Montigny ihr Kriegserlebnis ! Weil ich selbst nicht so bedroht bin wie die armen Mädels, weil ich mit den Schrecken und Leiden nicht so prahlen kann wie fie - darum bin ich wütend ! Schämen sollte ich mich. Und jezt werde ich nach Hause gehen und recht nett und freundlich zu ihnen ſein, ſelbſt zu Heidi, die ich nicht ausstehen kann.
* Zu Hauſe ſizen ſie ſchon um den runden Wohnzimmertisch, Tante Marie und ihre drei jüngsten Töchter. Heidi flimpert auf dem Klavier. 21
Die Tante begrüßt mich sehr herzlich, sagt, sie habe schon von Mama gehört, was ich heute nachmittag erlebt habe. „ Armes Ding, du mußt einen schönen Schrecken ausgestanden haben, als die Bombe dicht neben dem Unterſtand einschlug", sagt sie. Prompt fällt Heidi ein : ,,Gott, was ist das schon, Mutti ? Da erleben wir in Montigny doch ganz andere Dinge. Jeanne hätte ich sehen mögen, wenn sie Mittwoch draußen gewesen wäre. Ich zittere jetzt noch am ganzen Körper, wenn ich daran zurückdenke. Wenige Meter von unserem Haus entfernt, es iſt ein Wunder, daß wir nicht alle zerriſſen worden sind.“ Ich halte mit einer ungezogenen Antwort zurüð. Mutter kommt mit der Abendſuppe. Die Tornows packen ihre mitgebrachten Brotrationen aus. Stumm löffle ich meine Suppe und faſſe zum ſoundſovielten Male den Vorsak, mich nicht mehr über Heidi zu ärgern. Nach dem Essen gehen wir Kinder noch ein wenig ins Freie. Auf der Straße ist es immer intereſſant. Besonders nach einem Fliegerangriff. Die Leute stehen in Gruppen zusammen, besprechen die aufregenden Geschehnisse des Tages, politisieren, tauschen ihre Ansichten über die Berichte von der Front aus. In der Prieſterſtraße drängen sich die Menschen vor dem Gebäude der Druckerei. Die Bombe, die nachmittags dort eingeschlagen hat, war glücklicherweise nur ein Blindgänger. Blanche und ich drängen uns vor, können aber zu unſerer Enttäuschung außer einigen zerbrochenen Fensterscheiben nichts Interessantes" entdecken. So bleiben wir denn in der Nähe einiger heftig debattierender Leute stehen, um von ihrem Gespräch etwas aufschnappen zu können. Es handelt sich natürlich wieder um Spionage . Ein älterer Mann meint, man werde die Spizbuben schon herauszufinden wiſſen, die uns immer die Flieger auf den
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Hals schickten, wenn irgendeine hohe politische Persönlichteit in Metz sei. Gewiß, die Flieger seien täglich über Mez. Aber man solle doch einmal überlegen, warum sie gerade an einem Tag wie dem heutigen, da einige Herren vom Generalstab drüben im Grand Hotel abgestiegen seien, pünktlich zur Ankunftsstunde der Generale über der Stadt erſchienen seien und ausgerechnet die Innenstadt, in der das Grand Hotel liege, ſo reichlich mit Bombenabwürfen bedacht hätten?
,,Man braucht wahrscheinlich nicht weit von hier weg zu gehen, wenn man die Spione suchen will", sagt ein anderer, mit einer Kopfwendung nach dem Bau des Grand Hotel. Wir sind alle ſehr aufgeregt. Sollte sich wirklich ein franzöſiſcher Spion dort befinden? „ Vielleicht hat er sich als Kellner oder Liftboy dort eingeschmuggelt“, meint meine Kusine Heidi.
Sie hat schon
furchtbar viele Kriminalromane gelesen und kennt sich in dieſen Dingen genau aus. „Was geſchieht denn mit ſo einem Spion, wenn man ihn erwiſcht?“ erkundigt sich Blanche. Ich verstehe nicht, wie ein Mädchen von vierzehn Jahren noch so naiv sein kann. „Natürlich wird er erschossen“, sage ich. Blanche meint, das ſei doch eine sehr harte Strafe. Man könne die Spione einſperren oder auch verprügeln . Aber gleich totmachen ! ,,Ja, überlegst du denn nicht, daß jeder dieser Spione hunderte, ja tausende Menschenleben auf dem Gewissen haben kann ?“ frage ich erregt zurück. Wir gehen jezt durch die Römerstraße, Blanche und ich den älteren Mädels voran. Um dieſe Stunde scheint ganz Mez sich hier aufzuhalten. Frauen in hellen Sommerkleidern, Feldgraue, verstaubte, müde Soldaten, die sich auf Stunden hier aufhalten, bevor sie an die Front zurückkehren, elegante Offiziere kommen an uns vorüber. Ein buntes, feſſelndes Bild. Aber unsere Gedanken bewegen sich immer noch um Spione.
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„ Jezt macht doch, daß ihr vorwärts kommt, Kinder", kommandiert Heidis ſcharfe Stimme hinter uns. „ Ihr haltet ja den ganzen Straßenverkehr auf, wenn ihr so langſam trödelt." „ Ich möchte gern einmal einen richtigen Spion ſehen“, gesteht Blanche, mich vorwärtsziehend. „ Das muß doch riesig intereſſant sein. Möchtest du nicht auch?" „Ich habe schon welche gesehen, Blanche. Gleich nach Kriegsbeginn war es. Sie fuhren an unſerem Haus vorbei, bevor sie erschossen wurden. Es war furchtbar.“ „ Erzähl doch“, drängt Blanche aufgeregt. „ Wie ſahen ſie aus? Haben sie geweint?" „Ich -— ich kann es jezt nicht erzählen“, wehre ich ab. „Es macht mich zu traurig. Komm, wir wollen wieder zu den anderen.“ Blanche ist sichtlich enttäuscht und redet noch eine Weile auf mich ein, ehe ein neuer Gesprächsſtoff fie fesselt. Ein paar Gymnaſiaſten kommen vorüber, die die Mühen tief vor den älteren Tornowmädels ziehen. Hilde und Friedel kichern aufgeregt, Heidi ſieht hoheitsvoller denn je aus. ,,Duda war Friedel ihrer dabei “, tuschelt Blanche mir zu. „ Sie kennen sich aus der Konfirmandenſtunde. Der große schwarze war es. Sieht fein aus, gelt ?“ Ich nicke nur. Das Herz ist mir mit einemmal so schwer. Da reden wir die ganze Zeit über von Spionen und dem schrecklichen Ende, das ihnen gewiß ist. Hatte ich denn ganz vergessen, was heute nachmittag zwischen Marcel und mir war? War ich mir denn nicht bewußt, wie schwerwiegend die Beleidigung war, die ich ihm an den Kopf warf? Und wenn auch nur ein Körnchen Wahrheit hinter dem Gerede um Marcels Vater stedte - wie namenlos mußten sich die Frau und der Junge um ihn bangen ! — Nun nimmt Marcel vielleicht noch an, ich sei wirklich so gemein und würde seine Äußerungen irgendeiner Behörde hinter24
bringen. Immer schwerer fühle ich mein Gewiſſen belastet. Ich muß zu Berthe Olry, unbedingt. Sie ist die einzige, die die Sache wieder ins reine bringen kann, wenn es wenn es überhaupt noch möglich ist. Vom Paradeplak aus gehen wir gleich nach Hauſe. Bald brechen die Verwandten auf. „ Und du mußt mir doch noch von den Spionen erzählen, die du gesehen haft“, flüstert Blanche mir beim Abschied zu . Im Bett liege ich noch lange wach. Meine Gedanken gehen rückwärts, ich erlebe nochmals die Tage des Kriegsausbruches in Mek. In den ersten Augusttagen des Jahres 1914 ſaßen wir am Fenster, Mutter und ich. Wir ſahen den ins Feld ziehenden Truppen nach. Blumengeſchmückt, ſingend zogen fie täglich an unserem Hause vorbei, dem Bahnhof zu . Oft gaben wir Kinder ihnen ein Stück das Geleit, marschierten stolz, mit hellen Stimmen ſingend, neben ihnen her. Auch am Morgen dieſes Tages hatte ich einen Trupp Soldaten begleitet und Zigarren und Schokolade verteilt, die ich bei der Nachbarschaft zuſammengebettelt hatte. Jett saß ich neben Mutter auf dem Fenstersiz. Wir sprachen vom Krieg, vom Vater, der vor zwei Tagen nach Saarlouis zur militärischen Ausbildung eingezogen worden war. Mutter hielt mein kleines Brüderchen auf dem Schoß. Plöglich erregte ein Bild unten auf der Straße unsere Aufmerksamkeit : zwei große Leiterwagen zogen langſam vorüber, von Soldaten mit aufgepflanzten Gewehren begleitet. Auf den Wagen saßen, mit gefeſſelten Händen, etwa zwanzig Männer und Frauen. Auch eine weißhaarige Alte war unter ihnen und eine junge Mutter mit einem Säugling auf dem Schoß. Es ſchienen Bauern zu ſein, der Kleidung nach zu ſchließen. Was war mit diesen Leuten, was hatten sie verbrochen, daß man sie gefesselt durch die Straßen fuhr ? Mutter war aufgesprungen, hatte mir das Brüderchen auf den Schoß gesezt, rannte, wie sie war, auf die Straße herunter. Drun25
ten sah ich sie neben dem ersten Wagen herlaufen und mit einem der Soldaten sprechen. Ich saß wie gelähmt, vermochte mich kaum zu rühren. Die beiden Wagen waren meinem Blick längst entſchwun- ` den, als ich immer noch wie gebannt hinunter auf die Straße starrte. Endlich kam Mutter zurück. Schweigend nahm ſie mir das Kind ab, setzte sich wieder an ihren Plak. Sie war sehr blaß geworden, große Tränen rollten über ihre Wangen. Ich traute erst keine Frage zu äußern. Da sprach Mutter schon, mehr zu sich selbst als zu mir : „ Sie werden zum Gouvernement gebracht und dann abgeurteilt. Landleute aus der Umgebung, Franzosen. Sie schossen auf unsere vorbeiziehenden Truppen. Mehrere Soldaten wurden tödlich getroffen." „ Aber die alte Frau ... und die Kinder ...“ bringe ich mühsam heraus. „Die Soldaten find natürlich ſofort in das Haus geſtürmt und erwiſchten sämtliche Bewohner, auch die Knechte und Mägde, mit Revolvern in der Hand. Da machten sie alle zu ihren Gefangenen, trieben das Vieh aus den Ställen und zündeten den Bauernhof an allen vier Eden an ... Jetzt haben die Leute natürlich ihr Leben verwirkt. Sie sollen heute noch erschossen werden, draußen auf einem Fort, erzählte mir der Soldat." Die Worte meiner Mutter trafen mich wie Keulenschläge. Neun Jahre war ich alt, als mir zum erſtenmal die Wucht des Kriegserlebniſſes in ihrer ganzen Schrednis vor Augen trat und mich jäh aus der Sorglosigkeit meines Kinderdaſeins riß . Bisher war mir der Krieg nur als span= nendes, großartiges Abenteuer erschienen. Nun hatte das Wort „Krieg" irgendeinen graußigen, blutigen Klang erhalten. Das Erlebnis erschütterte mich so tief, daß ich tagelang wie in einem Bann befangen herumlief. Nachts fand ich
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teinen Schlaf, immer wieder sah ich jene zwei Wagen durch unsere Straße rollen, sah die verzerrten Gesichter der Menschen, die noch lebten und atmeten und in wenigen Stunden schon erschossen sein würden. Es bedurfte des ganzen eindringlichen Zuredens meiner Mutter, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Sie sezte mir auseinander, daß diesen Menschen doch nur recht geschähe ; sie hätten ja auch kein Mitleid mit den ahnungslosen Soldaten gehabt, die ſie hinterrücks mit ihren Revolverschüſſen überfielen. Es war besonders das Schicksal des Säuglings und der beiden anderen kleinen Kinder auf dem Wagen, das mich quälte: „Was geschieht mit den armen Kindern, Mutter, werden die auch erschossen ?" fragte ich angstvoll. Mutter tröstete mich. Die Kinder kämen sicher in ein Waisenhaus. Ja, und vielleicht geschähe der alten Großmutter auch nichts, falls sie nicht geschossen habe, natürlich. ,,Aber warum hat man das Gut in Brand gesteckt?" „ Als Warnung für die anderen Deutschenhaſſer, die noch zahlreich hier im Lande leben." „ Ist denn auch bestimmt den armen Tieren kein Leid geſchehen, den Kühen, Pferden und Schweinchen ?“ Da wurde Mutter aber ungeduldig. Sie sagte, ich solle mich nicht dauernd um Dinge bekümmern, die mich nichts angingen. Da ſeien meine Puppen, meine Märchenbücher • mit denen solle ich mich lieber beschäftigen, statt an den Krieg zu denken ...
Es war schwer, den Krieg vergeſſen zu ſollen. Als neunjähriges Kind stand ich auf der Straße, sah die erſten Verwundetentransporte vorbeiziehen. Vorsichtig, im Schritt, gingen die Pferde den strohbedeckten Leiterwagen poran. Jammern und Stöhnen erfüllte die Luft, aus den Stroh-
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säcken stcerte unaufhaltsam das Blut. Eine grauenvolle Spur hinterließen diese Fahrzeuge auf den Straßen • Dann kamen die Flieger. Erst bei schönem Wetter, nur
am Tage. Bald aber waren sie fest in unser Tagespro= gramm aufgenommen. Ob es regnete oder schneite, bei Sturm und Nebel, bei Tag und Nacht erschienen die feindlichen Geschwader über der Stadt, von gellendem Sirenengeheul begrüßt. Abwehrgeschütze knatterten, der Luftkampf tobte über unſeren Häuptern. Wenige Meilen entfernt aber donnerten die Geschütze der Westfront. An Tagen vor und nach den großen Offensiven war die Stadt von Soldaten überschwemmt. Zu einer kurzen Ruhepauſe hielten sie sich in Meß auf, ehe sie wieder an die Front zogen. Wir hatten in den ersten Kriegsjahren ständig Einquartierung im Hauſe. Unſerc besten Räume traten wir den Feldgrauen ab, in unseren weichen Betten ruhten ſie des Nachts, während wir auf dem Boden kampierten. Es war ja so wenig, was man den tapferen Soldaten zuliebe tun konnte. Wir machten es ihnen so behaglich, so schön wie nur möglich. Und nahmen dann schweren Herzens wieder Abschied von ihnen, meist für immer. Nein, der Krieg war nicht mehr aus unserem Daſein zu streichen. Seit vier Jahren steht er nun als vertrauteſter Begriff über unserem Leben. Während die Leute aus dem inneren Deutſchland auf Zeitungsberichte und Erzählungen der Frontſoldaten angewiesen waren, erlebten wir den Krieg aus unmittelbarſter Nähe. Er streďte seine Fühler bis in unsere Stadt. Das Brüllen der Geſchüße von der Westfront lag Tag und Nacht in unseren Ohren. . . Angst um die im Felde stehenden Angehörigen, Hunger und Entbehrungen aller Art erlitten wir überdies, gemeinſam mit den Volksgenoſſen in Deutſchland . 28
Wir Kinder konnten uns bald ein Dasein außerhalb des Krieges nicht mehr vorstellen. Wir durchlebten seine Schrekten, seine Leiden, aber auch seine Erhebungen, seine großen und heroischen Momente und reiften in dieſen Jahren viel ſchneller als die Jugend früherer Generationen, deren Kindertage sich friedlich und freundlich abgespielt haben mögen. Unsere Vaterlandsliebe wurde durch die gehäſſigen An- > griffe der franzöſiſch gesinnten Bevölkerung geradezu herausgefordert. In flammenden, begeisterten Worten nahmen wir immer wieder Partei für Deutſchland ... Andere Kinder mögen sich um Spielereien gezankt haben, bei uns ging es um größere Dinge : Unser kleiner, erbitterter Krieg, den wir in der Schule, auf der Straße, in den Wohnungen der Nachbarn führten, war der getreue Abglanz des Völkerringens an der Front. Der Krieg wurde in alle unſere Spiele einbezogen ; in der Schule dominierte er in Aufsatzthemen, politischen Debatten zwischen Lehrern und Schülern; zu Hause schmälerte er unsere Kost, jagte uns oft mehrmals am Tag in den Keller, raubte uns unsere Väter > und Brüder, oft für immer ... Und trotz allem : Dieser Krieg formte Menschen aus uns. Unter Granatendonner wuchs eine junge Generation heran. Wir wurden zu Deutſchen.
* Montags in der Schule erst gelang es mir, Berthe Olry meine Sorgen anzuvertrauen . In der großen Pause, während wir im Hof auf und ab ſpazierten, berichtete ich ihr ausführlich von dem Streit zwischen mir und Marcel. „ Das ist sehr dumm", meinte sie nachdenklich. „ Wegen
Politik streiten ist überhaupt immer dumm. Ich bin doch auch ein Franzos und wir ſtreiten uns nie, gelt, Jeannie? Aber ich kann mir ſchon vorstellen, daß Marcel dir ſehr gereizt hat."
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Es ist schauderhaft, wie Berthe die deutsche Sprache mißhandelt. Nun besucht sie schon seit Jahren das Lyzeum, vertehrt fast ausschließlich mit deutschen Mädels und steht nach wie vor immer noch auf Kriegsfuß mit unserer Sprache. In ihrem Elternhaus wird ausschließlich französisch ge= sprochen. Ja, Madame Olry spricht kaum einige Brocken Deutſch, obwohl die Familie ſchon ſeit Jahren hier anſäſſig ist. Schon von klein auf find wir miteinander befreun= det, Berthe Olry und ich. Auf der Straße lernten wir uns kennen, kamen zuſammen in die Schule, sind seither faſt unzertrennlich geworden. Meine anderen Mitschülerinnen wundern sich oft über dieſe innige Freundschaft zwischen der Französin und mir. Man versucht nicht selten, mich als schlechte Deutsche hinzustellen, weil meine vertrautesten Freunde - der Junge und das Mädel - Franzosen sind. Mich kümmert das Gerede sehr wenig. Mit Berthe könnte selbst der patriotischste Deutsche in keinen politischen Konflikt geraten. Die Ereignisse des Krieges interessieren sie nur insoweit, als sie ihr eigenes kleines Leben berühren. Sie freut sich über unsere Siegesfeiern, weil es dann einen schulfreien Tag gibt. Sie läuft jedesmal auf den Paradeplay, wenn die Mutte läutet. Weil sie so schrecklich gern Militärmusik hört. Bei jedem militärischen Aufmarsch ist sie dabei, wegen der schneidigen Soldaten, die es zu sehen gibt. Berthe schimpft auf den Krieg, weil sie die Flieger über alles fürchtet. Sonst ist ihr alles grenzenlos gleichgültig. Ihr eigenes fleines Leben beschäftigt sie vollauf. Sie iſt ſehr hübsch, ja, geradezu auffallend hübsch zu nennen mit ihren langen, dunkelblonden Locken, dem feinen, blaſſen Gesicht, den übergroßen grauen Augen. Natürlich ist sie sich dessen sehr wohl bewußt und tokettiert wie eine richtige große Dame, obwohl sie erst dreizehn Jahre alt ist. Und ich mag sie wohl gerade deshalb so gern, weil sie so ganz verschieden von mir ist. Ich ſelbſt bin gar nicht hübſch, viel zu klein und mager für mein Alter. Und Mama er30
laubt mir nicht, eine Schillerlodenfrisur zu tragen wie Berthe. Ich habe das Haar zu zwei braven, glatten Zöpfen geflochten. Oft begreife ich nicht, was Marcel an mir ſchön findet. Er ist doch schon fünfzehn und könnte ganz andere Freundinnen haben als mich. Ach, Marcel . . . wenn doch nur alles wieder beigelegt wäre zwischen uns ! ,,Ihr müßt euch wieder vertragen", redet Berthe auf mich ein. „ Ich arrangier' das ſchon, Jeannie. Marcel hat manchmal ein frecher Mund, das mußt du nicht so übelnehmen. Du sagst einfach: es tut mir leid, Marcel, aber ich hab ' mir geirrt, dein Papa ist kein Spion. Und er wird sich dann schon schämen vor dir, weil du edel biſt." „ Ich bin aber gar nicht edel", gebe ich trokig zurück. „Er soll zu mir kommen, er hat mich furchtbar beleidigt.“ Berthe schüttelt seufzend den Kopf. Dann meint sie: „Es ist doch wahr, daß ihr Pruſſiens alle têtes carrées (Didköpfe) ſeid . Du mußt der Krieg und überhaupt Politik nicht so ernſt nehmen, Jeannie. Wir sind doch noch Kinder, und Marcel und du habt euch immer so gut verstanden, wollt ihr euch wegen solche Dummheite bös bleiben für immer?" Dummheiten nennt sie das. Marcel hat mein Vaterland beleidigt und ich ... …… . na ja, ich hab' mich auch nicht gerade vornehm benommen. Aber er muß den ersten Schritt zur Versöhnung tun, darauf bestehe ich. Abends ruft Berthe zu uns herauf, ich solle doch ein bißchen auf die Straße kommen, wir wollten Verstecken ſpielen. „ Aber nur für eine halbe Stunde“, sagt Mutter. „ Und bleib hier in der Nähe. Heute waren die Flieger noch nicht da ... Daß ihr großen Mädel immer noch auf der Straße herumrennen müßt!“ Ich laufe eilig die Treppen hinab. An unserer Haustür erwartet mich die Freundin. „Fein, daß du tommst, Jeannie. Ich hab' nämlich Marcel auch gesagt, daß er noch ein bißchen hierher kommen soll. Er ahnt gar nix, daß du bei mir biſt.“ 31
Mir ist sehr unbehaglich zumute. Wie, wenn Marcel fich nun nicht versöhnen will ? Wenn er mich einfach auf der Straße stehen läßt? Berthe hat mich untergeärmelt, langſam ſpazieren wir die Straße auf und ab. ,,Jezt muß er doch bald kommen", meint sie ungeduldig. „Ist es nicht besser, ich verstecke mich irgendwo in einem Hausgang und du bereitest ihn erst vor?" meine ich. „ Nein, du darfst jezt nicht fortlaufen", fie preßt meinen Arm fest wider den ihren . „ Du . . . ſchau , da kommt er ſchon, er hat uns noch nicht geſehen . . . wir tun mal ganz fremd." Marcel ſchlendert die Straße herunter, Hände in den Hosentaschen, den Blick gesenkt. Er pfeift. „Hallo, Marcel !" ruft Berthe ihn an. Sie scheint ganz vergessen zu haben, daß sie „ fremd tun“ wollte. ,,Ah, Berthe, ich hab' dich gar nicht erkannt in der Dunkelheit", begrüßt er sie. „ Noch spazieren . . .“ Er hat mich entdeckt. Jäh verſtummt er. „Ja, du kannſt mit uns gehn. Wir wollen noch auf die Esplanade“, sagt Berthe haſtig, mich immer festhaltend. „Komm doch, Marcel !" Sie greift nach ſeiner Hand. Schroff macht er sich los. „ Nein, ich will doch lieber nach Hause. Ich will nicht ſtören.“ (Dies mit einem Seitenblick auf mich.) „Ich möchte auch nicht mehr auf die Esplanade, Berthe, wirklich, ich hab' meiner Mutter versprochen . . .“ Ich versuche vergebens, mich von ihrem Arm freizumachen. „ Ach, ihr seid dumm, alle beide ! " bricht das Mädel empört los . „ Und große Dickköpfe dazu . Ich gebe mir alle Mühe, daß ihr wieder einig werdet, und ihr ſchaut euch an, als wolltet ihr euch freſſen. Incroyable! Vous êtes bêtes, tous les deux!" Wenn Berthe wütend wird, ſpricht ſie franzöſiſch. Marcel lächelt sein unverschämtestes Lächeln. ,,Reg dich nicht so auf, Berthe ", meint er spöttisch. „ Du 32
hast es wirklich gut gemeint. Aber du hast nicht bedacht, daß ein gutes deutsches Mädchen wie Jeanne Martin keine " Freundschaft mehr mit einem ... einem ... ' Er verstummt unter meinem Blick. Mir ist sehr jämmerlich zumute, ein Tränenkloß ſigt in meinem Hals. Und ich weiß nicht, wie ich dazu komme, ihm jezt die Hand entgegenzuſtrecken. „ Ich hab' es nicht so gemeint, Marcel“, sage ich leise. „Du mußt das vergeſſen. Aber du hast mich sehr gereizt 66 geſtern. Ich bin doch schließlich ein deutſches Mädchen . . . „ Und ich ein französischer Junge", fällt er mir erregt ins Wort. „ Kannst du mir nicht nachfühlen, Jeanne, daß ich ganz anders fühle und denke als du? Jeder von uns liebt doch sein Vaterland, Jeanne Martin . . ." Berthe hat sich lautlos aus dem Staube gemacht. Der Junge und ich stehen uns gegenüber. Noch immer hat er meine Hand nicht ergriffen ,,Würdest du dir nachsagen laſſen, daß dein Vater ein Spion ist, Jeanne ?“ beginnt der Junge wieder. „ Nein ... den wollte ich hören, der meinem Papa so etwas nachſagte ! Mein Vater ist Soldat und tut draußen ſeine Pflicht wie jeder anständige Deutſche, Marcel ! Ich bin stolz auf ihn.“ „Also du scheinst doch immer noch an das dumme Geſchwät zu glauben, das hier verbreitet wird ?“ Ich zucke die Achſeln. „ Ich weiß gar nichts und glaube gar nichts, Marcel. Fest steht nur, daß die Leute viel über deinen Vater reden, und daß man euch, dir und deiner Mutter, eben nicht glaubt, wenn ihr behauptet, seit vier Jahren ohne ein Lebenszeichen von ihm zu ſein“, gebe ich zurück. „ Und wenn ich dir nun sagte, mein Vater ist franzöſiſcher Soldat geworden, er tut ſeine Pflicht, genau wie der deine, Jeanne ? Nur daß er auf der anderen Seite kämpft . . .“ „Ist das wahr, Marcel?“
Der Weg in die Heimat
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„ Ich habe gar nichts geſagt. Du sollst nur nicht mehr behaupten, mein Vater sei ein Spion. Das tut mir furchtbar weh, Jeanne. Denn es ist nicht wahr. Bestimmt nicht.“ Jetzt fasse ich nach seiner Hand, die er mir willig überläßt. „ Dann ist ja alles wieder gut, Marcel, ja ? Ich bin ja ſo froh, daß ich nichts Häßliches von euch denken muß. Und wir wollen nie mehr über Politik streiten, gelt ?" „ Nie mehr !“ Man sieht es dem Jungen ordentlich an, wie glücklich er ist. Er drückt meine Hand ſo fest, daß ich faſt aufschreien muß. „ Und nun hab' ich noch eine Bitte an dich, Jeanne: vergiß, was ich dir eben gesagt hab', ja ? Sag feinem Menschen etwas davon, auch deiner Mutter nicht. Kannst du mir das verſprechen ?“ ,,Aber gern. Was ist denn auch dabei ?“ ,,Es könnte Mutter und mir Schaden bringen. Du darfst nicht vergessen, daß wir naturaliſiert worden sind, vor dem Krieg. Offiziell haben wir die deutsche Staatsangehörigfeit. Und mein Vater hätte demnach auf eurer Seite fämpfen müſſen. Meine Mutter hat schon sehr viel Unannehmlichkeiten gehabt, seit Vater verschwunden ist. Nur kann man uns nichts antun, weil wir ja nicht wiſſen, was aus ihm geworden ist.“ Ich möchte dem Jungen gern ſagen, daß er jekt gelogen hat. Aber ich bin des ewigen Streitens müde. Und jetzt geſellt sich auch Berthe wieder zu uns. „ Na, alles in Ordnung?“ fragt sie vergnügt. „ Wie hab' ich das arrangiert ? Aber jekt gehen wir noch ein bißchen Spazieren." Trok Mamas Verbot gehe ich mit den beiden. Wunderschön ist es des Abends auf der Esplanade. In der undurchdringlichen, geheimnisvollen Dunkelheit haben die weiten
Alleen wirklich etwas Märchenhaftes. Wir steigen die Treppen der Terraſſe herunter, ſpazieren die Wachtstraße entlang, nach dem Feldgrauendenkmal . Dort sehen wir uns auf eine Bank. 34
Riesig groß steht der eiserne Soldat über uns. Sein Gesicht sieht unbeweglich nach Weſten, nach Frankreich. UNSERE HERZEN ZU GOTT UND UNSERE FÄUSTE AUF DEN FEIND EISERN SEI DER WILLE ZUM SIEG. Matt leuchtet die goldene Inschrift zu seinen Füßen durch die Dunkelheit. Marcel und Berthe plaudern und lachen, sie scheinen es nicht zu merken, daß ich immer ruhiger und einſilbiger werde. Und das ist gut so. Die beiden Franzosenkinder ſollen nicht wiſſen, was mir jezt im Herzen vorgeht. über allem kleinlichen Streit, über allen alltäglichen Erlebniſſen und Nöten steht doch fest und unerschütterlich das eine : der Glaube an unser liebes deutsches Vaterland. Und der eiserne Wille zum Sieg unserer deutschen Sache. So stolz macht das, so frei und glücklich. Ich möchte um alles in der Welt nicht mit Marcel oder Berthe tauschen. Wie reich bin ich im Vergleich zu ihnen ! Wie reich jeder Mensch, der Deutſchland ſein Vaterland nennen darf! Der Mond ist hinter dem St. Quentin aufgegangen. Seine bleichen Strahlen fallen durch das Laubgewirr der Bäume gerade auf das Antlik des Eisernen Feldgrauen. „ Unheimlich“, flüstert Berthe neben mir. „ Man meint, er wär' lebendig.“ Unheimlich. Für euch. Sehen die beiden Franzosenkinder denn nicht, daß der eiserne Soldat zu mir herablächelt ? Daß seine riesige Fauſt ſich immer enger um das Gewehr zu schließen scheint ? * Fräulein Winter hatte uns schon im Frühjahr verſprochen, einen Klaſſenausflug ins Montveau-Tal zu veranstalten. Immer wieder war das Unternehmen gescheitert, wegen der Flieger.
2*
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Bei Regenwetter konnten wir doch nicht wandern, und an jedem nur einigermaßen ſchönen Tag vereitelten die Flieger den Ausflug. Endlich gab die Lehrerin. unſerem Drängen nach. In Met war man ſchließlich genau so gefährdet wie draußen, in den Wäldern. Ja, in der Stadt war man den Bomben noch viel eher ausgeſeßt. Trogdem beſtand die Lehrerin auf der ausdrücklichen ſchriftlichen Genehmigung unſerer Eltern. Es war ein ganz kleiner Trupp, der sich an jenem ſonnigen Augustmorgen vor dem Schulgebäude einfand. Die Mehrzahl der Schülerinnen hatten es zu Hauſe rundweg untersagt bekommen, an dem Ausflug teilzunehmen. Auch Berthe hatte es nur mit reichlich fließenden Tränen und wortreichem Bitten durchgesezt, sich uns anzuschließen. Mit verheulten Augen, aber schon wieder ſtrahlend vor Freude, langte sie mit faſt halbstündiger Verspätung vor der Schule an. „ Oh, meiner Mutter ist ganz verrückt, Fräulein Winter“, berichtete sie aufgeregt. „ Als wenn die Bombe ausgerechnet auf mir treffen würde ! Ich glaub', sie fizt der ganze Tag in die Kathedrale und betet für mir." „ Du sollst nicht so von deiner Mutter sprechen, Berthe", wird sie von der Lehrerin verwiesen. „ Und wie du dich wieder ausdrückst ! Lernst du denn nie im Leben Deutsch reden, Mädchen ! -Auf jezt, Kinder ! Wir marschieren in Zweierreihen. Hast du deine Mundharmonika mitgebracht, Liſelotte? Wir wollen singen : Wem Gott will rechte Gunſt erweisen ..." Fräulein Winter übernimmt die Führung, an ihrer Seite marschiert Liselotte, unſer muſikaliſches Klaſſengenie. Berthe und ich gehen natürlich nebeneinander. „Wir sind doch heut nicht in die Schule, Jeannie", beschwert sie sich. „ Warum ist die Winter bös auf mir?“ ,,Mich, mich", verbessere ich, mühsam das Lachen zurückhaltend. 36
Dann marschieren wir an der Mosel entlang, unter den hohen, grünen Lindenbäumen. Ein fröhliches Lied nach dem anderen erklingt, die Leute stehen an der Straße und winken uns nach. Herrlich ist es, so in den blauen Sommermorgen zu wandern. Unser Weg führt am Moſelufer entlang, durch grüne, grüne Wieſen, freundliche Dörfer, zulegt nimmt uns der Wald auf. „ Wenn nur kein Fliegerangriff kommt, jezt, wo wir keinen Unterſtand erreichen können“, meint die Lehrerin besorgt. Wir lachen darüber. Wir haben Krieg und Fliegerbomben längst vergessen, hier draußen, wo es so unsag= bar schön und friedlich ist. Wir haben ja so lange Zeit keinen Wald mehr erlebt. Immer ängstlich im Bereich der Stadt, der schüßenden Unterstände bleiben müssen, immer und ewig nur von Krieg und Not reden zu hören - wenn man zwölf, dreizehn Jahre alt ist, vergißt man das alles nur zu gern. Die Heimat ist uns Kriegskindern fast allen noch unbekannt; ſo empfinden wir heute die düstere Schönheit des Lothringer Landes wie eine Offenbarung. Die Wälder der Heimat reden eine eindringliche, bewegte Sprache zu uns. Von Fräulein Winter fällt das legte lehrerinnenhafte Gebaren ab. Sie wird Kind unter Kindern, sie wird verſtehende, gütige, ältere Freundin uns kleinen Mädels. Auf einer sonnenbeschienenen Waldwiese, umgeben von hohen, dunklen Tannen, machen wir Rast. Das frugale Frühſtück wird ausgepackt Mutters berühmter Haferflockenkuchen, von dem ſie mir ein reichliches Paket in den Rucksack gepackt hat, trägt mir lebhafte Anerkennungsäußerungen der Kameradinnen ein. Wie die hungrigen Wölfe fallen wir über den Kuchen her. Aber auch Fräulein Winter wartet mit einer Überraschung auf: Sie verteilt zwei Tafeln Schokolade, richtiggehende Milchſchokolade, die ihr ein Bekannter aus der Schweiz nach Meg geschmuggelt hat. Nach beendeter Mahlzeit ruhen wir noch eine Weile.
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Herrlich ist es, mit geschlossenen Augen im hohen Gras zu liegen, dem feinen Summen der Insekten zu lauſchen ... Berthe Olry, die neben mir liegt, vergnügt sich zuerst eine Weile damit, mich mit einem langen Grashalm zu figeln. Endlich gibt auch sie Ruhe, läßt den Kopf ſinken; ihre tiefen Atemzüge zeigen an, daß sie eingeschlafen ist . Die Sonne brennt rot durch meine geſchloſſenen Lider. Wenn man die Augen blinzelnd öffnet, sieht man geradewegs in den unendlich hohen, klaren Sommerhimmel. Die Tannen am Waldrand wiegen sich leise hin und her, wie ein dunkles Riesenvolk ſehen sie aus ; ſie ſind in einer flüsternden Unterhaltung begriffen, ſenken und heben ihre grünen Arme, verbreiten schweren, harzigen Duft ... „ Geh aus, mein Herz, und suche Freud' in dieser lieben Sommerzeit "" an deines Gottes Gaben ...' fingt Liselotte. Sie sammelt Blumen drüben am Waldrand, ihre helle, schöne Stimme dringt zu uns herüber ... „ Die Lerche schwingt sich in die Luft, das Täublein fleugt aus seiner Kluft und macht sich in die Wälder ..." „Hör mal, Jeanne ! " Berthe hat sich aufgesetzt, lauscht mit gespanntem Gesichtsausdruck irgendwo in die Weite. „ Ja, was denn ? Liselotte ſingt wunderschön, gelt?“ ,,Ach nein, nicht Liselotte. Hör doch nur!“ Dumpfes Grollen in der Ferne. Ein furchtbarer Knall antwortet, von dem Echo der Wälder vielfach zurückgegeben. Eine Exploſion …… .. Vorbei unsere beschauliche Ruhe. Aufgeregt umringen wir die Lehrerin, die aufgeſprungen ist. Sie ist sehr blaß geworden. „ Kam das von der Front, Fräulein ein Gewitter - nein, Flieger ..."
ich glaube, es ist
„ Das kam aus Mez", sagt die Lehrerin gepreßt. 38
„Der Richtung nach könnte es auch Montigny geweſen sein“, vermutet Ellen Renaud. Lucie, die in Montigny wohnt, beginnt zu weinen. ,,Meine Mutter, Fräulein - wollen wir nicht gleich zurückgehen?" bettelt fte. Ein paar andere schließen sich an, beſtürmen die Lehrerin, uns doch gleich nach Mez zurückzuführen. ,,Jetzt - nach Met ? Ausgeſchloſſen . Hier find wir auf jeden Fall — vorläufig noch — ſicherer“, entscheidet Fräulein Winter nach kurzem Besinnen . „ Ihr müßt nun nicht gleich aus dem Häuschen geraten , Kinder. Vielleicht sind
fie ..." Sie verstummt. Ein zweiter, donnerähnlicher Lärm erreicht unser Ohr, weit stärker noch als der vorangegangene. „ Auf jekt, wir gehen weiter, nach Châtel St. Germain. Dort können wir uns gegebenenfalls unterstellen. Seid nicht so aufgeregt, Kinder. Das hilft euch jezt nichts, und euren Angehörigen, die in Met sind , erst recht nichts. Wir wollen hoffen, daß es nur eine Bombe war, die irgendwo in der Umgegend eingeschlagen hat." Wir stellen uns auf, in Zweierreihen. Die Ängstlichsten weichen nicht von der Seite der Lehrerin. Stumm nehmen wir unſeren Weg wieder auf. Durch den grünen Wald wandern wir, deſſen Schönheit jezt jeden Reiz für uns verloren hat. Liselotte versucht zu singen. Zwei, drei Stimmen fallen ein, unsicher, schwankend, verstummen dann wieder. Lucie geht an meiner Seite, fie hat sich schwer in meinen Arm gehängt. Ihre Lippen stammeln ein Gebet. Beruhige dich doch, Lucie. Es braucht doch nicht gerade in euer Haus eingeschlagen zu haben", rede ich auf sie ein. „ Marthe und Claire wohnen doch auch in Montigny." „ Unser Haus steht neben dem Pulvermagazin“, bringt das kleine Mädel unter Schluchzen hervor. „ Mama sagte schon immer, wenn mal eine Bombe dort einschlägt, find wir verloren."
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Eiſeskälte läuft mir über den Rücken . War das eben nicht - wie eine Explosion ? Lieber Gott, beſchüße Lucies Mutter, ihre kleinen Schwestern ! Laß das nicht zu, großer Gott im Himmel! Die Tornows fallen mir ein. Auch ihr Landhäuschen ſteht im Bereich des Pulvermagazins. Schreckensbilder find in mir ich sehe brennende Straßen, Feuergarben, terzen= gerade zum Himmel aufsteigend ... „ Ich möchte in Châtel St. Germain in die Kirche gehen“, weint die kleine Lucie. Sie entstammt einer ſehr frommen lothringischen Familie. „ Ich möchte beten, Jeannie. Kommſt du mit mir, ja?" „ Aber natürlich, Lucie, ſehr gern. Wir gehen alle zuſammen in die Kirche. Du wirſt ſehen, der liebe Gott erhört uns. Er wird es nicht zulassen, daß einem unserer Angehörigen etwas geſchieht.“ Fräulein Winter, der wir unſeren Plan mitteilen, iſt gern einverstanden. Eine halbe Stunde später ist das Dorf erreicht. Wir betreten das kleine, dämmerdunkle Gotteshaus. Fräulein Winter, die Protestantin, verharrt in der Nähe des Eingangs. Wir Kinder, in der Mehrzahl Katholikinnen, knien in den Bänken. Unsere aufgescheuchten, verwirrten kein Gebet zustande. Kein einziges.
Gedanken
bringen
Da dringt Fräulein Winters flare, dunkle Stimme durch den Kirchenraum : ,,Vater unser, der du bist im Himmel . . ." Sie führt das Gebet weiter, innig und fest, laut und hoffnungsfreudig. Dann stimmt sie das Lied an, das wir in der gestrigen Gesangsstunde lernten:
,,Wir treten zum Beten vor Gott, den Gerechten." Jedes dieser Worte, die wir gestern noch gedankenlos fangen, gewinnt tiefe, ernste Bedeutung in dieser Stunde
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der Not. Wir klammern uns an ihren Sinn, in unseren verängstigten Seelen steht neue Hoffnung auf; hell klingt der Kinderchor durch die kleine Kirche : „Wir loben dich droben, du Lenker der Schlachten, > und flehen, mögst stehen uns fernerhin bei. Daß deine Gemeinde nicht Opfer der Feinde! Dein Name ſei gelobt, o Herr, mach uns frei !" Kinder sind wir. Kinder des Grenzlandes, Kinder verschiedener Sprachen, verschiedenen Blutes, verschiedener Konfessionen. Nie aber sang eine Gemeinde inbrünstiger, geſchloſſener, im tiefſten Sinne verbundener durch gemeinſame Not, gemeinsame Herzensangst als wir, an jenem Sommertag des Jahres 1918. Getröstet und aufgerichtet verließen wir das kleine Gotteshaus. Unſere tiefe Not hatten wir in die Hände eines Höheren gelegt. Der Lenker der Schlachten, der Herr über Leben und Tod, würde sich auch unserer Sache erbarmend annehmen.
* Auf der Ruine Châtel St. Germain halten wir die zweite Rast. Unsere Stimmung ist nicht mehr die lärmende, fröhliche des Vormittags. In unseren Herzen hallt noch die feierliche Stunde in der Dorfkirche nach. Aber das lähmende Entsetzen, das uns beim Anhören der Bombeneinschläge vorhin befiel, ist von uns gewichen. Wir sind zu jung, um uns lange mit trüben Gedanken zu tragen. Am Abend werden wir noch früh genug erfahren, was sich in Metz zugetragen hat. Vorläufig ſind wir hier draußen — an diesem gesegneten, ſagenumsponnenen Fleckchen Heimaterde, das die meiſten von uns heute zum erſtenmal sehen. Ich war als kleines Kind, vor dem Kriege, einmal mit den Eltern hier. In meiner Erinnerung iſt einzig
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noch die Angst vor den Kreuzottern lebendig, die mich damals erfüllte. Tatsächlich sollen dieſe Wälder unzählige der gefährlichen Schlangen enthalten. Fräulein Winter erzählt uns die Sage von dem heiligen Mann, der die Schlangen die zu früheren Zeiten als furchtbare Plage in der Stadt Mez herrschten - mit Ge: beten hierher, in das Montveau-Tal, trieb. Zu Millionen hielten sie an jenem Tage hier ihren Einzug, es war ein schauriges Heer, das sich über die dunklen Wälder um Meg ergoß. ,,Wie war doch die Sage von dem Ungetüm, das früher das Meter Land in Angst und Schrecken versezte ?" fragt die Lehrerin, als sie ihre Geſchichte beendet hat. „ Kann uns vielleicht eines von euch die Geschichte des Graully erzählen?“ Ich melde mich. Die alten Sagen unseres Landes haben mich von klein auf brennend beschäftigt. Als ich noch ganz klein war, erzählte mir Großmutter die Sage vom Graully . So beginne ich : „ In der Krypta der Meßer Kathedrale iſt das Bild eines geflügelten Drachen aufbewahrt, das Bild des Graully . Vor grauen Zeiten verſeßte ein riesiges Ungeheuer die Einwohner unserer Stadt in Angst und Schrecken. Die tapfersten Ritter zogen gegen es zu Felde, Bittgottesdienste, Prozessionen wurden veranstaltet vergebens. Der geflügelte Drache trieb nach wie vor sein schauerliches Spiel in Met. Täglich fraß er mehrere Menschen, beſonders kleine, zarte Kinder fielen ihm zu Hunderten zum Opfer. Da wandte sich die Bevölkerung in ihrer bitteren Not an einen großen, heiligen Mann : unweit von Mez lebte der heilige Klemens in einer Klauſe. Der machte sich eines Tages auf, trug ſein geweihtes Kreuz vor sich her. Furchtlos trat er vor den Drachen, der unweit der Kathedrale in einer Höhle hauſte. Der Graully spie Feuer, als er den heiligen Mann mit dem Kreuz erblickte. Er breitete seine riesigen Schwingen aus, troch langsam näher und näher an den Mönch heran, aus seinem Maul tropfte giftiger Schaum. Da begann der
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heilige Klemens zu beten. Immer lauter, immer beschwörender wurde seine Stimme. Er hielt dem Graully das Kreuz entgegen, gebot den Knaben, die ihn begleitet hatten, den Drachen mit Weihwaſſer zu besprengen. Da heulte der Graully gellend auf. Der Mönch ließ keinen Blick von ihm, langsam troch der Drache aus seiner Höhle, folgte wider strebend, fauchend, feuerspeiend dem Heiligen auf dem Fuß, wie ein Hund seinem Herrn folgt. Der heilige Klemens aber ließ mit Gebeten und Beschwörungen nicht nach, bis er den Graully in die Kathedrale geführt hatte. Dort zwang er ihn, mit ihm in die Kellergewölbe unter dem Dom hinabzusteigen. In eine tiefe Gruft bannte er ihn, ihn mit hochgehobenem Kreuz so lange festhaltend, bis man einen schweren Felsblock vor den Eingang der Gruft gewälzt hatte. Dort iſt nun der Graully für alle Zeiten eingeschlossen. Die Meyer Bes völkerung aber veranstaltete jubelnde Dankesfeste zu Ehren des heiligen Klemens, der sie von dem furchtbaren Drachen 66 befreit hatte. „ Das hast du ſehr hübsch erzählt, Jeanne", lobt das Fräulein, als ich meine Geschichte beendet habe. Die Kinder
haben sich eng um die Lehrerin geſchart. Einige behaupten, fie hätten während meiner Erzählung den geflügelten Drachen leibhaftig durch die Mauern der Ruine glozen sehen. „ Unsere Heimat ist so reich an alten Sagen und Märchen“, sagt die Lehrerin nach einer Weile. ,,Sie sind nur den wenigsten von uns bekannt. Wenn ihr größer seid, müßt ihr die Geschichte des Chan Heurlin lesen, die uns Emil Erbrich ſo ſchön und gemütvoll aufgeſchrieben hat. 1 Wißt ihr, wie der Wahlspruch dieſes wackeren Lothringers hieß: Im Leben und im Liede gleich frei von Vorurteilen, wirst du an jedem Tische als Gast willkommen weilen.'
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Es steckt wirklich viel Weisheit in dieſen einfachen Worten. Chan Heurlin wollte gegen den Standesdünkel, gegen die Überheblichkeit gewiſſer Kreise zu Felde ziehen. Ein rechter Mensch iſt frei von Dünkel und falſchem Stolz auf irgendeine bevorzugte Stellung, die er anderen gegenüber einnimmt. Nur wer sich einfach und herzlich gibt, wird wirklich von allen Menschen geliebt und geachtet werden, wird, wie Chan Heurlin sagt,, an jedem Tische als Gast willkommen sein"." „ Merkst du was, Jeanne“, flüstert Berthe mir zu. „ Das geht auf die Offiziersmädels. Fein, daß Fräulein Winter es ihnen mal ſagt. Guð nur, wie sie sich ärgern !“ Auch mich freut es, daß die Lehrerin den „ oberen Zehntauſend“ der Klaſſe, die eine fest in sich abgeſchloſſene Clique bilden, in ſo netter und allgemeiner Form einmal den Standpunkt klargemacht hat. Diese Offizierstöchter aus Deutschland behandeln uns Lothringer Bürgerstöchter nur zu gern als Menschen minderen Ranges, mit denen man nun einmal leider gezwungen ist, Gemeinschaft zu halten. Nicht alle sind so zum Beispiel Inge, die Hauptmannstochter, und Liselotte, deren Vater sogar General ist, find nette, lustige Dinger. Aber Jutta von Hagen und Elise Wörner würdigen das kleine Mariechen Brandt keines Grußes, wenn sie ihm auf der Straße begegnen. Man denke eine Mezgerstochter ! Wir andern alle schätzen das kleine Mariechen sehr hoch, tun ihm alles zuliebe. Denn das arme Ding hat im vorigen Jahr den Vater in Rußland verloren. * Gegen Abend ziehen Wolken am Himmel auf. Fräulein Winter drängt zum Nachhauſegehen, sie prophezeit ein Gewitter, noch bevor wir die Stadt erreicht haben. * Je näher wir Metz kommen, um so größer wird die ſeltsame Angst, die plöglich wieder von uns Besit ergriffen hat. Stumm, irgendwie von diesem unbestimmten Gefühl
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der Furcht vorwärtsgetrieben, legen wir den Heimweg zurück. Selbst die lustigsten und unbefangenſten unter uns — so auch Berthe- werden von der bleiernen Angst, die uns alle befiel, ergriffen. Auf der Landstraße nach Montigny begegnen wir einem Trupp Armierungsſoldaten. Fräulein Winter hält sie an, befragt sie nach den Vorgängen des Tages. „ Gehen Sie nur nach Montigny, meine Dame, da werden Sie die Bescherung mit eigenen Augen erleben“, sagt der Feldwebel, mit dem Finger rüdwärts deutend. „Heute mittag iſt ein Munitionszug in die Luft geflogen, der in Montigny ſtand. Die Häuſer an der Bahnrampe ſind vollſtändig zerstört." ,,Und - find Menschen dabei ums Leben gekommen ?" Der Soldat zuckt die Achseln. ,,Das erfährt man nie so richtig. Mehrere Verlegte soll es gegeben haben.“ „Und auch Tote“, fällt ein anderer ein. „ Ich hörte von drei Soldaten, die buchstäblich in Stücke geriſſen worden find." Damit ziehen die Soldaten weiter. Unter den Schülerinnen ist ein Tumult entstanden. Lucie ist ohnmächtig geworden. Sie liegt auf der Straße, mit geſchloſſenen Augen, totenblaß. Fräulein Winter reibt ihre Schläfen mit Kölnischem Waſſer, während ein paar Mädels auf ihr Geheiß mit Taschentüchern nach dem Fluß laufen. „Wie kam denn das, hat Lucie meine Unterredung mit den Soldaten mit angehört ?" erkundigt sich die Lehrerin. „ Ia. Sie wohnen doch direkt an der Bahnrampe“, antwortet Inge leiſe.
Ein Lastauto brachte uns nach der Stadt zurüð. Lucie hatte das Bewußtsein wiedererlangt, blaß, lautlos weinend, ſaß fie auf Fräulein Winters Schoß. 45
Als wir das Dorf Montigny erreicht hatten, gebot die Lehrerin uns auszuſteigen und die Elektriſche für den Reſt des Weges zu benußen. Sie selbst blieb mit Lucie und den drei anderen in Montigny wohnenden Schülerinnen auf dem Wagen zurück. ,,Geht jetzt, Kinder, hoffentlich kann ich euch morgen in der Schule gute Nachrichten bringen", ruft sie uns nach. „ Ich bin überzeugt, daß Lucie sich unnötige Sorgen macht. Geht jetzt ruhig nach Hause und wartet ab, was euch der morgige Tag bringen wird.“ * Unmöglich, in dieser Nacht Schlaf zu finden. Mutter berichtete mir von dem fürchterlichen Knall, mit dem der Munitionszug explodiert sei. Eine haushohe Flamme sei in Richtung Montigny am Himmel zu sehen gewesen. Nein, den Tornows sei nichts zugestoßen. Hilde war abends noch in Metz und berichtete, fie seien zur Zeit der Explosion alle im Keller gewesen. Nur die Fensterſcheiben im ersten Stock seien zertrümmert . . .
く
Ich lausche auf die ruhigen Atemzüge meiner drei kleinen Geschwister. Ob Lucies Schwesterchen noch am Leben ist und ihre liebe Mutter ? Langsam fällt der Schlaf über mich. Wie herrlich wäre dieser Tag gewesen, dieser lange Tag in den grünen Wäldern des Montveau-Tals ... der Krieg läßt uns eben nicht zur Ruhe kommen. Seine eisernen Klauen halten uns umflammert ... ein feuerſpeiender, geflügelter Drache herrschi über unserem Leben. Kein heiliger Mann kommt zu uns, um uns von dem Graully zu befreien. Niemand, der den sengenden, mordenden Graully aus unserem Leben bannte. Aus unruhigem Schlaf erwache ich spätnachts . War das nicht ein Maſchinengewehr ? Irgendwo in der Ferne fällt ein Schuß. Unten auf der Straße schreit jemand :
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„F— I— i—e—g—e—r!“ Unwillig drehe ich mich um, stecke den Kopf unter die Decke. Auf die Dauer ist das nicht mehr zu ertragen. Sollen ſie doch ganz Mez zuſammenſchießen ! Ich gehe nicht mehr in den Keller. Nachts wenigstens will ich meine Ruhe haben. Mutter ist nicht erwacht. Ihre ruhigen Atemzüge kommen aus dem Nebenzimmer. Nur Kurt scheint die Gefahr irgendwie zu spüren. Er wälzt sich in seinem Bettchen, greift mit den Armen in die Luft, ſtöhnt einmal leiſe auf. ,,Mama - Flieger", wimmert er, kaum hörbar. Dann wird es wieder ſtill ...
· Die Klaſſe iſt vollzählig verſammelt, als Fräulein Winter am nächsten Morgen den Raum betritt. Nur Lucies Play ist leer ... „ Ich kann euch gottlob eine gute Nachricht bringen, Kinder", sagt die Lehrerin. „ Lucies Angehörige leben. Sie waren in den Keller geflüchtet, bevor die Explosion erfolgte. Minuten später stürzte das Haus über ihnen zuſammen ... Es dauerte mehrere Stunden, bis die Rettungsmannschaften den Keller freigelegt hatten. Wie durch ein Wunder waren die Hausbewohner unversehrt geblieben. Nur hatten fie qualvolle Stunden der Angst durchlebt, fie glaubten sich lebendig begraben ... Nun ſind ſie alle in Nachbarhäusern untergebracht worden. —— Ich habe eine Bitte an euch zu richten, liebe Mädels : Das zusammengestürzte Haus hat natürlich die ganze Habe der Familie Werner unter sich begraben. Lucie und ihr Schwesterchen besigen buchstäblich nichts mehr außer den Kleidern, die sie am Leibe tragen. So rasch läßt sich das alles nicht wieder beschaffen. Wollt ihr eure Mütter bitten, Lucie und der Kleinen für die erste Zeit mit ein paar Kleidungsstücken auszuhelfen ? Manche von euch hat doch 47
sicher kleine Schwestern, die in dem Alter der kleinen Werner stehen. Frau Werner wäre euch herzlich dankbar, wenn ihr ihren Kindern dieſen Freundſchaftsdienſt erweiſen wolltet. - Lucie kommt morgen wieder in die Schule. Es wäre wunderſchön, wenn wir ihr einen kleinen Gabentiſch aufbauen könnten." Natürlich sind wir alle mit Freuden bereit, der Klaſſenkameradin zu helfen. Wir wetteifern in dem Bestreben, den armen Kindern etwas Liebes zu tun. Und so konnte denn Lucie am nächsten Tag einen ganzen
Berg Kleider, Schuhe, Wäsche, ja, ſogar Spielzeug für ſich und ihr Schwesterchen in Empfang nehmen. *
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Schulaufsah: Was uns der Vater aus dem Felde berichtet. In der Pauſe debattieren wir eifrig über das Thema. Jetzt sind Jutta, Eliſe und Inge obenauf. Sie sind sehr ſtolz auf ihre Offizierväter, die im Kriege Großes und Bedeutendes geleistet haben und sich viele rühmliche Auszeichnungen erwarben. Mit leiſem Neid höre ich ihnen zu. Wenn mein eigener Vater wenigstens als einfacher Front-
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soldat im Felde stünde, wie ſtolz wollte ich sein ! So aber bin ich in den Augen der Mädels nicht mehr wert als Berthe und die anderen Franzöſiſch-Lothringerinnen, deren Väter es meist irgendwie fertigbrachten, um den Militärdienst herumzukommen. Mein Vater wurde wegen seines schweren Magenleidens immer wieder zurückgestellt. Seit 1915 ist er Bankkommiſſar beim deutschen Generalgouvernement in Brüſſel. Aber habe ich nicht genug Angehörige im Felde stehen? Onkel Theo, Mutters jüngster Bruder, kämpft in Rußland. Die Tornows haben zwei im Felde, den Vater und den Bruder. Onkel Tornow kämpft an der Westfront, Frig ist Flieger. Siebzehnjährig zog er freiwillig hinaus, war ſchon zweimal verwundet. Ich beneide die Tornowmädels oft glühend um diesen tapferen, herrlichen Bruder. Wenn er auf Urlaub kommt, verbringe ich jede freie Stunde in
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Montigny. Frit weiß so wundervoll vom Krieg zu erzählen. Seine flammende Vaterlandsliebe reißt uns alle mit, er versteht es, uns immer wieder neuen Mut, immer neues Vertrauen zum Vaterland einzuflößen, wenn wir verzagt werden wollen ... Seine Feldpostkarten hebe ich ſorgſam auf, ihren Inhalt kenne ich fast auswendig, ſo oft hab' ich sie schon gelesen. — Nein, ich habe keinen Grund, auf die anderen Mädels neidig zu ſein. Mein Vater tut eben seine Pflicht auf dem Plaz, auf den man ihn gestellt hat. Wer aber hat einen Vetter aufzuweiſen wie Friz? Er soll jezt bald wieder auf Urlaub hierher kommen, wegen einer neuerlichen, leichten Verwundung. Ich kann ſchon jezt die Tage kaum erwarten, die ich mit ihm verbringen darf. Heidi hat neuerdings einen feſten Verehrer, einen Sani- > täter. Sie wollen sich zu Weihnachten verloben. Natürlich ist sie jezt noch stolzer und anmaßender als früher. Sie scheint den Beierlein für einen Halbgott anzusehen. Blanche und ich finden ihn recht unscheinbar und midrig, außerdem schielt er etwas. Wenn er sich bei den Tornows zum Kaffee anſagt, müſſen wir alle draußen in der Küche bleiben, nur Tante Marie darf sich im Salon, bei dem jungen Paar, aufhalten. Das gibt dann ein Getue, daß einem übel werden könnte. Blanche und ich beobachteten die beiden einmal durch den Türspalt und sahen Heidi und den Beierlein nebeneinander auf dem Sofa fizen. Sie ließ sich von ihm die Hand küſſen, rauchte Zigaretten und benahm sich über- >/ haupt so affig und geziert, daß wir kaum das Lachen zurüdhalten konnten. — Wie grundverschieden doch Geſchwister sein können. Wenn ich an Friz denke, den aufrechten, tapferen Frig, und dann Heidi sehe, mit der hochaufgetürmten Lockenfrisur, dem gezierten Lachen, kann ich es kaum verstehen, daß diese beiden Menschen Geschwister find. Blanche ist noch die netteste unter ihnen, aber auch sie
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fängt neuerdings an, den Gymnaſiaſten ſchöne Augen zu machen. Hilde und Friedel haben beide Gymnaſiaſtenfreunde, natürlich sind sie sehr stolz darauf. Viel gemütlicher als bei den Tornows finde ich es in St. Julien, bei Tante Anna, Onkel Theos Frau. Seit Onkel im Krieg iſt, lebt Tante Anna allein in dem hübschen Landhäuschen, mit ihren drei tleinen Buben. Sie näht Soldatenhemden für das Militärbekleidungsamt. Eine schlecht bezahlte, mühselige Arbeit. Ich bewundere die Tante oft, die auch in den schwersten Tagen ihren guten Mut behält. Leicht hat sie es wirklich nicht, mit ihren drei kleinen Buben durchzukommen. Mit ihrer Näharbeit und den Erträgniſſen der kleinen Landwirtschaft muß sie ihren Lebensunterhalt friſten, ſeit Onkel im Kriege ist. Onkel Theo war bei Kriegsausbruch ohne feste Anstellung. So muß Tante Anna jezt von ihrer Hände Arbeit ihre kleinen Söhne ernähren ... Nein, ich stehe hinter keinem Kinde zurück, deſſen Vater im Felde ist. Wir alle tragen unſeren Anteil an der Kriegsbürde. Auch die Frauen unserer Familie sind Soldaten; treu und unverdroſſen tun sie ihre Pflicht für das Vaterland, ob es nun meine eigene Mutter ist oder Tante Tornow, die Mann und Sohn im Felde hat, oder Tante Anna, die das Leben ihrer jungen Kinder tapfer in die Hände und dann Suzanne ... nahm ― Nach Fritz habe ich Tante Suzanne am liebsten. Sie ist Mutters jüngste Schwester, kaum zehn Jahre älter als ich. Es fällt mir ordentlich schwer, Tante zu ihr zu sagen. Suzanne ist noch unverheiratet, sie ist Verkäuferin in L einem Tabakgeschäft. Eigentlich ist sie gelernte Buchhalterin. Aber sie fand ihren Beruf zu langweilig und mag die Tätigkeit in einem Ladengeschäft viel lieber. Sie hat sich dadurch mit ihren Geschwistern etwas verfeindet. Meine Tanten und Onkels halten viel darauf, daß wir eine gutbürgerliche Meter Familie und überall geachtet find. Ich finde das etwas kleinlich. Suzanne arbeitet doch 50
ehrlich und tapfer um ihr Auskommen. Wenn die Großeltern nicht ſo früh gestorben wären, könnte sie jezt wohl als gute Bürgerstochter zu Hauſe ſizen und Handarbeiten machen oder Klavier spielen wie die Tornowmädels. Muß man nicht Respekt vor meiner jungen Tante haben, die ihr Leben so energiſch in die Hände nahm und lieber den Soldaten Tabak und Zigarren verkauft, als auf die Gnade ihrer älteren Geschwister angewieſen zu ſein? · Suzanne könnte übrigens längst verheiratet sein, wenn sie ihre Ansprüche nicht gar so hoch schraubte. So sagt wenigstens Mama, und dieſer Ansicht schließen ſich ſämtliche Mitglieder unserer Familie einmütig an. Ja, Onkel Theo behauptet, ſeine jüngste Schwester habe sich in den Kopf gesetzt, bescheidenstenfalls die Frau eines Kommandierenden Generals zu werden. Diesen Spleen teile sie mit so vielen Mezer Bürgerstöchtern, für die der Mensch erst mit dem Offizier beginne, für die ein Mann in gesicherter Poſition, ein braver Zivilist mit ehrlichen und reellen Heiratsabsichten also, einfach nicht existiere ; der Anblic jedes bunten Rodes aber ließe ihr Herz höher schlagen. Willig ließen diese jungen Gänse sich von den Herren Offizieren zum Narren halten, jawohl. In diesem Zusammenhang wäre über Onkel Theos Ab neigung gegen das Militär noch manches zu sagen. Sie iſt jedenfalls tiefer begründet. www.g Ich halte in dieſem beſonderen Fall durchaus zu Suzanne. Auch ich würde an ihrer Stelle viel lieber einen feschen Offizier heiraten als den dicken, ekligen Herrn Weber zum Beiſpiel, der meiner hübschen Tante schon seit Jahren den Hof macht, ohne bis jezt auch nur den geringsten Erfolg erzielt zu haben. Suzanne sagte mir, daß sie Herrn Weber nie heiraten würde, und wenn sich die ganze Familie auf den Kopf stelle. Ich muß ihr unbedingt beipflichten. Herr Raymond Weber ist ein Freund von Papa, Kasfierer auf einer Bank. Wenn er zu uns auf Besuch kommt, nehme ich meist schleunigst Reißaus. Er hat so eine unan51
genehme Manier, einem mit den dicken Wurstfingern über die Haare zu streichen. Und ſein ſchwarzer Schnurrbart duftet stets nach Veilchenbrillantine, ein Geruch, den ich nun einmal nicht ausstehen kann. Am unangenehmsten ist doch seine fette, von Wohlwollen förmlich triefende Stimme. „ Nun, Johanna, bist du auch fleißig in der Schule ? " fragt er salbungsvoll. „ Machst du deinen lieben Eltern immer Freude, indem du brav und fromm bist, Johanna ?“ „ Ich heiße Jeanne“, gebe ich aufgebracht zurück. „ Und von Ostern ab werden wir in der Schule per , Sie' angeredet." „ So, so“, lacht er, ohne meine Absicht zu verstehen. „ Das finde ich aber unangebracht. Zu meiner Zeit ſezte man den Kindern keine solchen Grillen in den Kopf. Du bist aber noch sehr klein für dein Alter, Johanna !“ In dieser Tonart geht es weiter. Und nur Mutters strenger Blick hält mich davon ab, richtig ungezogen gegen Herrn Weber zu werden. Und der soll mein Onkel werden ? Von Zeit zu Zeit hole ich Tante Suzanne abends nach Geschäftsschluß an ihrem Tabakladen ab. Richtig stolz bin ich, wenn ich mit ihr, die so schön und elegant ist, durch die Hauptstraßen von Mez ſchlendern darf. In ihrer gemütlichen kleinen Wohnung die sie mit einer Freundin teilt - braut fie uns einen Gerstentaffee oder auch Tee. ,,Gar nichts zum Naschen hab' ich da, arme kleine Jeannette", sagt sie seufzend. „ Willst du mal eine Zigarette rauchen? " Das Angebot ist zu verlockend, um es auszu-
schlagen. „ Sag aber um Gottes willen deiner Mutter nichts davon“, bittet Suzanne, als sie mir ihr Etui reicht. Ich bemühe mich, die Zigarette genau so zierlich und damenhaft wie sie zwischen den Fingern zu halten. Und den Rauch in kleinen, kunstgerechten Ringeln in die Luft zu blasen, wie sie es tut. 52
Aber schon nach den ersten Zügen habe ich ein füßliches, jämmerliches Gefühl um die Magengegend. Beißender Rauch dringt mir in die Augen, zugleich quält mich ein böser Hustenreiz und das nennen die großen Leute einen Genuß! Ich laufe hinaus und erbreche. Suzanne sieht wie das leibhaftige schlechte Gewiſſen aus, als ich zu ihr ins Zimmer zurückkehre. ,,Arme kleine Jeannette, du wirst nun eine ſchöne Wut auf mich haben !“ Sie zieht mich aufs Sofa, bettet mich in ihren Arm. „ Ich hab' es doch nur gut gemeint. Ihr armen Würmer habt aber auch nicht das geringste von eurer Jugend. Wenn ich euch nur helfen könnte!" „ Laß nur, Suzanne, mir ist ja schon wieder beſſer", tröste ich. „ Aber ich rühre im Leben bestimmt keine Zigarette mehr an. Höchstens solche aus Schokolade ..." „Ja, wie gern würde ich dir und deinen kleinen Geschwiſtern manchmal ein paar Leđereien zuſtecken“, ſeufzt fie. „ Dieser verwünschte Krieg. Aber ich habe ein paar Beziehungen, Jeanne, laß mich nur machen. Was die anderen können, kann ich auch. Meine Freundin kennt einen vom Proviantamt, der stedt ihr manches Mal etwas zu. Es iſt nur sehr schwer, an die Leute heranzukommen, weißt du.“ „ Aber Suzanne, andere entbehren doch auch", rede ich auf sie ein. „ Nur die wenigsten Leute haben Beziehungen ..." Sie starrt nachdenklich vor sich hin, scheint auf meine Worte kaum zu achten. Bezaubernd sieht sie aus in dem japaniſchen Kimono, dessen leuchtende Farben einen wunderhübschen Kontrast zu ihrem rotblonden Haar ergeben. Auch Tante Suzanne riecht nach Parfüm, aber nicht widerlich wie Herr Raymond Weber. Sie verwendet Peau d'Espagne, das ihr auf irgendwelchen Schmuggelwegen aus Frankreich hierher gebracht worden ist. 53
Blütenweiß sind Suzannes Hände, ihre Fingernägel glänzen zartrosa. Es sind die schönsten Hände, die ich je sah. Leise streichle ich mit meiner kleinen, rauhen Kinderhand über die samtweichen Flächen der ihren. Wenn ich nur wüßte, was sie jest so angestrengt nachdenken läßt ! Eine scharfe Falte ist in ihre Stirn gegraben, ihre Augen haben einen fremden, harten Ausdruck befommen. ,,Du mußt jezt gehen, kleine Jeanne", sagt sie zu mir. „Ich bekomme noch Besuch. Und nichts zu Hauſe verraten von der Zigarette, gelt ? Wenn ich wieder zu euch komme, bring' ich etwas Schönes für euch Kinder mit.“ * Nachts habe ich einen ſehr ſchönen Traum. Ich fliege mit meinem Vetter Friß weit über den Wolken, mitten in die Sonne. Um uns ein Brausen und Singen, unsichtbare Engel schweben über uns und begleiten unseren Flug mit ihren Gesängen. Ganz deutlich höre ich den schönen Psalm, den wir gestern in der Schule gelernt haben: „Der Herr ist unsre Zuversicht und Stärke, unsre Hilf' in großer Not, die uns betroffen hat." Friz sizt am Steuer und ſieht aus wie der Flieger Richthofen. Ich muß ihn immerzu ansehen und bin riesig stolz auf ihn ... Wenn uns nur die Franzosen nicht sehen ! Friz scheint gar keine Angst zu haben. Jetzt singt auch er, mit den Engeln zusammen : ,,Drum fürchten wir uns nicht. Wenn auch der Sturm brauſet und tobt, wenn die Berge versinken ins Meer
wenn die Berge ..." 54
Da kracht ein Schuß . Der Propeller fängt Feuer, die Flügel brennen, das Flugzeug schwankt auf und nieder . . . und Frit singt noch immer, mit verklärtem Gesicht sitt er neben mir, ſcheint es gar nicht zu merken, daß die Flammen schon nach uns greifen ... . . • Ich schreie laut auf und packe ihn am Arm Da erwache ich. Ich ſize aufgerichtet im Bett. Es ist Nacht und doch ganz hell vor den Fenstern. Und noch immer das Singen und Brauſen in der Luft. Ich reibe mir die Augen, dann springe ich aus dem Bett und gehe ans Fenster. Der Anblick da draußen iſt ſo ſchön, daß ich faſt glaube, immer noch zu träumen. Der Himmel ist taghell erleuchtet, breite Lichtſtraßen laufen kreuz und quer über ihn hin, einzelne kleinere Lichter kreiſen zitternd dazwischen, steigen auf, zerplagen in der Luft, verschwinden wieder. Und ganz weit drüben, über dem dunklen St. Quentin, ist ein großer tiefroter Schein. In der Stadt ist es totenstill . Ich muß Mama wecken, dieſen Anblick darf sie sich nicht entgehen laſſen. Da läßt mich ein schauriges, wohlbekanntes Geräuſch zuſammenfahren. Die Sturmſirene ! Eine Minute später beginnt es von allen Seiten zu krachen, vom Himmel, von der Erde, als solle die Welt untergehen. Im Nu ist alles auf den Beinen. Mama widelt die Kleinen in wollene Decken, wirft sich ſelbſt einen Schlafrock über und ſchreit mir zu : „ Geh doch vom Fenster weg ! Schnell, heute gehen wir doch besser in den Keller!" Auf dem Treppenhaus treffen wir die Nachbarsleute, fie rennen wie beſeſſen treppab, ein paar Kinder weinen, eine Frau stolpert über ihren Schlafroc und fällt ein paar Stufen hinunter. Mir fällt ein, daß wir den Hund vergeſſen haben. Unſer armer kleiner Lille in Todesgefahr!
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Ich laufe, ehe Mama mich zurückhalten kann, wieder hinauf und suche Lille. Der hat sich unter dem Küchentisch verkrochen, er zittert und heult vor Angst. "6 „Armer Lille, armes kleines Tierchen, komm doch . . . Da habe ich ihn auf dem Arm und tappe mit ihm durch die dunkle Wohnung (Licht anzünden iſt ſtreng verboten bei unverhängten Fenstern) , stoße jeden Augenblick an ein Möbelstück und erreiche endlich die Entreetür. Da ſauſt ein unſichtbares Etwas draußen vor dem Fenſter vorbei . . . ÑíííííÏÏÏ . . . Lille heult laut auf, ein Krach, als ginge das ganze Haus in Trümmer, ich werde gegen die Tür geschleudert und falle in die Knie ... Das alles geht so blizſchnell vor sich, daß ich es kaum richtig beschreiben kann. Ich entſinne mich nur, mit wahnsinnig ſchmerzendem Kopf dagelegen zu haben, Lilles Zunge leckt mein Gesicht . . da höre ich ſchon viele Stimmen unten im Hof und auf der Treppe, und unter ihnen Mama, die laut nach mir ruft ... Mama und Frau Dr. Stigler und der Bäckerburſche Lucien ſtehen in der Tür, heben mich auf, fragen und reden alle durcheinander ... Mamas Hand, die mich gestreichelt hat, ist klebrig und naß. „Mein armes Kind", jammert sie und trägt mich ins Schlafzimmer, auf ihr Bett. „ Haſt du dir ſehr weh getan?“ Ich fühle mich natürlich etwas und mache ein ſchmerzliches Gesicht, obwohl mir gar nichts mehr weh tut, und ich habe mir höchstens den Kopf ein bißchen aufgeschlagen bei dem unsanften Fall. Mittlerweile erfahre ich, was sich eigentlich zugetragen hat. Ein Blindgänger iſt in unſeren Hof eingeſchlagen, nicht weit von der Kellertür entfernt. Wenn ich wenige Minuten früher den Hof überquert hätte, um in den Keller zu gelangen, wäre ich jetzt tot ...
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Übrigens haben wir nicht lange Zeit, uns über den gehabten Schrecken zu unterhalten. Die Flieger, die sich auf einige Minuten verzogen hatten, kommen jekt zurüð. Wieder geht es in den Keller, diesmal nehme ich Lille, der beinahe mein Leben auf dem Gewissen gehabt hätte, gleich mit. Im Hof sehen wir die Bescherung. Da gähnt ein großes ſchwarzes Loch mitten im Pflaster, ringsum liegen Steine und Glassplitter von den zertrümmerten Parterrefenſtern . Wir machen einen großen Bogen um die Einschlagstelle. Im Keller werde ich wie eine Heldin gefeiert. Immer wieder muß ich erzählen, wie es war, als die Bombe an mir vorbeiflog. Frau Dr. Stigler ſchenkt mir ein Stück Schokolade, furchtbar alt und grau, aber sie hat sie von ihrem Mann aus dem Feld geschickt bekommen, und ich finde es ſehr rührend, daß fie fich davon trennt. Müllers alte Großmutter aber hat ihren Rosenkranz in den Händen und betet laut vor sich hin. Keiner kann sich eines Fliegerangriffs entſinnen, der ſo war wie dieser. Bei jedem Einschlag fahren wir zuſammen und überlegen nachher, in welcher Straße das jezt geweſen ſein fann. Frau Dr. Stigler sagt, ihr Mann habe kürzlich geschrieben, er ſei in großer Sorge um sie und die Kinder. Er wünschte, sie seien erst alle aus diesem Herenkeſſel Mez heraus. Und Lucien will gehört haben, daß man die Stadt nächstens mit Kanonen beschießen wolle ; die Franzoſen ſtünden unmittelbar vor Mek, und es läge nur an ihnen, uns alle über Nacht umzubringen.
Eine Woche später. Das Gerücht ist Wahrheit geworden : seit drei Tagen be57
schießen die Franzosen die Stadt mit Ferngeſchüßen, von Pont-à-Mousson aus. Wir merkten sofort, daß das keine Fliegerbomben waren. Die Einschläge kommen viel seltener, viel wuchtiger und sind in ihren Auswirkungen weit schredlicher als ein Fliegerangriff. Bisher hat noch keine Granate die innere Stadt erreicht. Aber in den Vororten sieht es wüst aus. Abends gehen wir Kinder jezt immer an die Mosel und betrachten das große rote Feuer im Weſten. Dort drüben dröhnt und tracht es wieder ununterbrochen
- es heißt, daß der Feind unsere Truppen immer weiter zurückdränge. Nur in den Zeitungen steht kein Wort davon. Mama meint, das ſei ganz recht so. Warum solle man die Bevölkerung unnötig ängstigen? Im übrigen werden unsere Feldgrauen schon ihre Pflicht tun und uns den Feind fernhalten. Es sind auch eigentlich immer nur die Französisch-Lothringer, die alles so schlimm hinſtellen. Ja, Herr Olry ſagte geſtern, ſpäteſtens zum Herbſt ſeien die Franzosen in Mek. So dumm zu reden, so einfältig . . . Na ja. Herr Olry wird ſchon ſelbſt einsehen, daß er sich getäuscht hat. * Ich habe mich eigentlich geärgert, daß nichts von dem Einschlag in unseren Hof in der Zeitung gestanden hat. Am nächsten Morgen kam Militär und beseitigte den Blindgänger, jetzt ist das Loch bereits wieder zugemauert, und kein Mensch spricht mehr von der Gefahr, in der wir alle geschwebt haben. Und meine überheblichen Kusinen aus Montigny taten ganz wegwerfend, als ich ihnen die Geſchichte erzählte. Da erlebten sie in Montigny aber ganz andere Dinge! Nur ein Blindgänger, lächerlich! 58
Ich wünsche faſt, die Bombe wäre explodiert. Weil die aus Montigny immer so tun, als erlebten wir in Mek gar nichts.
*
Natürlich gab es außer den großen, erregenden Geschehniſſen jenes leßten Kriegsjahres auch noch andere Dinge, die mich beschäftigten. Dinge, die abſeits des Krieges ſtanden. Dieſe meine kleine Welt (so nannte ich sie im Gegenſaz zu der großen, über der mit blutigen Lettern das Wort „Krieg“ geschrieben stand) gehörte mir allein. Ängstlich verwehrte ich jedem, auch dem vertrauteſten Menschen, einen Einblick in das kleine Himmelreich, das ich auch durch die schreckenerfülltesten Tage in mir trug. Zu dieser kleinen Welt gehörten meine Bücher, gehörten die Märchen und Sagen der Vorzeit, gehörte vor allem mein Puppentheater, auf deſſen winziger Bühne ich alles Gehörte, Gelesene, Erdachte wiedergab. Meine Schauspieler waren ein halbes Duzend kleiner Püppchen, die Kuliſſen selbstgezeichnete, farbenfrohe Landschaften, Ritterburgen, Feenschlösser. --- Stundenlang konnte ich mich des Abends mit diesem kleinen Theater beschäftigen. Zuschauer duldete ich nicht, nachdem ich einige Male von den Nachbarskindern, die ich gnädig zu einer Vorſtellung eingeladen hatte, ausgelacht worden war. Selbst Berthe und Marcel brachten kein Intereſſe für meine Ritter- und Feendramen auf. Ja, Berthe lachte mich einfach aus, sagte, ich solle mich schämen, als dreizehnjäh- ) riges Mädel noch mit Puppen zu ſpielen. Derselben Meinung war auch Mama. „ Du bist doch ſonſt ſo vernünftig, faſt wie ein erwachſe ner Mensch“, pflegte sie zu sagen. „ Ich verstehe nicht, wie du an solchem albernen Spielkram Gefallen finden kannſt. Für wen spielst du eigentlich? Kein Mensch hört dir zu. Dann lauf doch lieber auf die Straße und tobe mit den anderen Kindern herum, wenn du durchaus ſpielen willst. “
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Kein Mensch verstand mich und meine kleine Welt. Keiner ahnte, welches Glück das Beſchäftigen mit diesen Dingen für mich bedeutete. Diese armselige Puppenbühne war in meinen Augen eine herrliche, dem Irdischen unerreichbare Welt. Meine Püppchen aber nahmen abwechselnd die Gestalt Siegfrieds, Lohengrins, Barbaroſſas oder auch irgendeines verwunschenen Märchenprinzen an. Aber wenn Mama schalt, wenn die Kinder mich auslachten . . . gut, sie sollten ihren Willen haben. Es ging auch ohne Puppenspiel. Ich begann alles niederzuſchreiben, was mich erfüllte. Wenn ich die Augen schloß und ganz ruhig war, wurde sofort die kleine, schimmernde Welt in mir lebendig. Neue Märchen, neue Fabeln entstanden in mir, die gehörten und geleſenen aber verdichteten sich, wurden ergänzt, ausgeschmückt: ich fand nicht eher Ruhe, bis ich alles niedergeschrieben hatte, sei es auch nur, um es am nächsten Tage wieder zu verbrennen. Mit der Zeit begann ich unter diesen Dingen zu leiden. Ich fand immer weniger Beziehung zwischen der Welt, die ich in mir trug, zu der anderen, großen, harten und unerbittlichen, in der ich lebte. Ja, der Abstand zwiſchen meinen Träumen und Phantasien und dem realen Leben wurde immer klaffender. Je härter, je gefahrvoller unsere Tage wurden, desto schöner, friedlicher, stiller wurde die Welt meiner Gedanken. Ich hungerte, stand stundenlang vor der Lebensmittelausgabeſtelle. Und träumte von goldenen Schlössern, von reichbesetzten Tafeln, von weißem Brot und süßem Wein ... Mehrmals am Tag jagten uns die Flieger in den Keller, mehrmals am Tag erfüllte uns für Minuten bleierne Todes= angst. Verwundetentransporte zogen durch die Straßen, in den Lazaretten wurden sie eingeliefert, die Opfer des Krieges, verſtümmelt, blutend, grausam entſtellt. Ich sah ihre verzerrten Gesichter, bis in meine Träume verfolgte mich das schmerzliche Wimmern, das ich bei einem Lazarettbesuch 60
vernommen hatte . . . und dann umgaben mich friedengesegnete, weite grüne Fluren, ich ruhte an einem Bach, umgeben von Blumen und Gräsern, Elfen tanzten leichtfüßig über dem ſilbernen Waſſer, aus Mondschein gewebte Schleier schwingend . . . Warum gibt es Schönes und Süßes nur in den Träumen? Warum ist das wahre Leben so stählern hart, so erfüllt von Leid und Tränen, von Haß und bitterer Not? Ich ahnte, daß es irgendwo eine Löſung aus dieſen Zwieſpältigkeiten geben müſſe. Daß da irgendwo ein großer Irrtum lag. Aber wo war der Mensch, der mir Hilfe bringen könnte, wo ? „Du gefällst mir gar nicht mehr, Jeanne“, sagte Mutter eines Tages mißbilligend zu mir. „ Warum ſchlieBest du dich immer mehr von deinen Kameraden ab ? Immer und immer mußt du über den Büchern ſizen oder irgendwelches dummes Zeug in dein Notizbuch schreiben! Siehst du denn nicht ein, daß du deine Zeit nuklos vertrödelſt ? Wann machſt du eigentlich Schulaufgaben, Jeanne? Nie sehe ich dich mit einem Schulbuch -— wie steht es eigentlich mit dir in der Klaſſe ?" „Ganz gut“, antworte ich mürriſch. „ Nur im Rechnen habe ich schlechte Noten. Das ist mir auch zu langweilig. Aber im deutschen Aufsatz hab' ich gestern wieder eine Eins bekommen. Und mein Auffagheft kommt ins Klaſſenarchiv, wenn ich es vollgeschrieben habe, hat Fräulein Winter gejagt. " „ Na ja, das ist ja ſehr ſchön“, meint Mutter. „ Nur habe ich das Gefühl, daß du noch mehr leisten könnteſt. Die Auffäße tun es ja nicht allein. Was habt ihr übrigens geſchrieben?" „Ach, vom Krieg. Über die Kriegsanleihe und so weiter. Es war ganz leicht." Damit wende ich mich wieder meinem Märchenbuch zu.
Lucie hat es mir geliehen. Eines der reizendſten Bücher, das ich je gelesen habe. Märchen von Klemens Brentano. 61
„Mutter, soll ich dir das vorlesen, ja? Hör nur, wie entzückend : Godel, Hinkel und Gaceleia, heißt das Märchen. Paß mal auf . . .“ „Du sollst jetzt nicht lesen, Jeanne. Hier sind die Lebensmittelkarten. Du mußt jezt gleich nach der Kaſerne, Kartoffeln holen. Madame André leiht dir ihren Leiterwagen. Vielleicht geht Berthe mit dir. Aber schnell jezt, ſonſt mußt du endlos lange warten.“ Sehr mißvergnügt laſſe ich mir Lebensmittelkarten und Geld aushändigen. So ist es immer: aus den schönsten, liebsten Gedanken wird man geriſſen, aus Brentanos grünem Märchenwald auf die Straße gejagt, wegen ein paar dummer Kartoffeln !
Und immer eine Stimme in mir, die mir ſagt : du biſt auf dem falschen Weg, Jeanne Martin. Irgendwo liegt da ein Fehler. Warum kehrſt du immer trauriger, immer angeekelter aus deiner kleinen in die große Welt zurück? ... Dann aber kam ein Ereignis, das meine Gedanken für die nächste Zeit völlig in Anspruch nahm. Fräulein Winter hatte einen Wettbewerb in der Klaſſe veranstaltet : Die Schülerin, die ihre Kindheitsgeschichte am besten und lebendigsten niederschrieb, sollte einen Preis erhalten, in Gestalt eines schönen Buches. Mit großem Eifer machte ich mich an die Arbeit. Das war einmal eine Aufgabe nach meinem Sinn. Während ich die Geschichte meiner Kindheit niederſchrieb, kamen mir mehr und mehr die gesegneten, friedlichen Tage vor dem Kriegsausbruch in den Sinn. Halbvergeſſene, liebvertraute Geſtalten drängten sich mir wieder ins Gedächtnis beschäftigten mich Tag und Nacht, ließen mich nicht eher zur Ruhe kommen, bis ich ſie aufs Papier gebannt hatte. Schon nach einer Woche hatte ich die Geschichte beendet. Nun wurde sie sauber auf große, weiße Bogen abgeschrieben,
Wollt ihr sie einmal hören? 62
Jeanne. Die Geschichte einer Kindheit. Erzählt von der Schülerin Jeanne Martin aus Met. „Es war einmal ein kleines Mädchen. Jeanne hieß es. Sein Geburtshaus war grau und alt, es stand in Metz in der Friedhofstraße, Hausnummer 13. Die Rückseite des alten Hauſes ging auf die Moſel. Der Fluß ist in jenem Stadtteil sehr schmußig durch die Abwäſſer der Hoſpitäler und des Schlachthauses. Ganz in der Nähe ist die Morgue, ein kleines Haus, in dem die Leichen der armen ertrunkenen Menschen seziert werden. Von frühester Kindheit an hatte Jeanne Angst, allein in dem Schlafzimmer zu ſein. Dieſer große finstere Raum hatte zwei Fenster, die nach der Mosel hinausſahen. Nachts, ehe die Eltern zu ihr ins Zimmer kamen, verkroch Jeanne fich tief unter die Bettdecke, um das Rauſchen des Waſſers vor den Fenstern nicht zu hören. Wenn man gut aufpaßte, konnte man das Klagen der Geiſter im Fluß vernehmen. Das waren die Seelen der armen ertrunkenen Menschen, hatte Großvater erzählt. Einmal schlich die kleine Jeanne gegen Abend in das Schlafzimmer, das sie sonst nie allein zu betreten wagte. Auf dem Kaminſims ſtand eine Flasche mit dickem, süßem Wein, den trank Jeannes Tante, weil sie so bleichsüchtig war. Sie gab der Kleinen manchmal einen Löffel voll davon zu koſten ; nichts schmeckte so gut wie dieſer braune Gaft. - Heute war Tante nicht zu Hause, also überwand Jeanne ihre Furcht, stieg auf einen Stuhl und griff nach der Flasche. Da packte sie plötzlich ein unerklärliches Grauen. Aus irgendeiner Zimmerede starrte es sie aus großen Augen an - Jeanne stieß einen gellenden Schrei aus, sprang vom Stuhl, rannte davon, verkroch sich draußen in der Küche in den Rockfalten der guten Großmutter ... Viele erwachsene Menschen waren immer um Jeanne. 63
Außer den Eltern und Großeltern noch einige Onkels und Tanten. Da war die ſchöne junge Tante Suzanne mit den weißen Händen, Mutters jüngste Schwester. Da war Onkel Theo, der das kleine Mädchen oft ärgerte und ihm häufig ſeinen ekligen Tabakſaft auf die Füße ſpie. Viel netter war ſeine Frau, die rothaarige Tante Anna. Sie ließ des Abends das kleine Mädchen in ihr Schlafzimmer kommen, wenn sie die schweren, roten Zöpfe für die Nacht flocht. Andächtig stand Jeanne und sah die Flut des aufgelöſten, goldſchimmernden Haares wie einen Mantel um Tante Annas Schultern gebreitet. Das kleine Mädchen wünschte ſich glühend, auch ſolche herrliche Haare zu beſigen. Jeannes fleine, steif abstehende Zöpfchen waren aber von dunkler, unansehnlicher Farbe. In unserer Familie kommt die Schönheit erst, wenn man achtzehn, zwanzig Jahre iſt', tröſtete die gute Großmutter, wenn Jeannes Mama darüber klagte, daß ihr kleines Mädchen so unanſehnlich und gar nicht hübſch war. Jeanne aber liebte schöne Menschen über alles. Mit faſt abgöttiſcher Liebe hing sie an dem Großvater, der wegen seiner stattlichen Erscheinung in der ganzen Stadt der alte Graf' genannt wurde. Großvater hatte einen silberweißen, langen Bart und die schönsten Blauaugen der Welt. Für den lieben alten Herrn wäre Jeanne durchs Feuer gegangen. Nicht nur, weil er sie sehr verwöhnte, ihr von ſeinen Spaziergängen die besten Leckerbiſſen mitbrachte. Nein, Großvater war der einzige Mensch, der das kleine Mädchen immer und in allen Dingen verſtand. Er hörte dem Enkelchen freundlich und geduldig zu, wenn es endlose, selbsterdachte Geschichten von Engeln und Prinzeſſinnen und Gespenstern erzählte. Er wiederum wußte auch eine Unzahl schöner Geschichten, aus der Zeit, da er noch ein kleiner Junge war und weit, weit entfernt von hier, am Meer, auf der Insel Rügen, wohnte. Da sammelte er Muscheln und Seesterne und Quallen und lief oft unvorsichtig weit hinaus in die Watten, wo ihn einmal die Flut überraschte. 64
Jeanne konnte sich gar nicht vorſtellen, daß es noch ein größeres Wasser als die Moſel geben sollte. Ob es da Meerjungfrauen gab ? O ja, der Großvater hatte selbst eine gekannt, Undine hieß sie, die war schön! Die Großmutter schalt ihn oft, wenn er dem Kind erzählte, und sagte : Alter Narr, lüg dem kleinen Ding doch nichts vor! In solchen Momenten hatte Jeanne eine förmliche Wut auf die gute Großmutter. Der Großvater log doch nicht! Warum sollte er auch keine Meerjungfrau gekannt haben? Wie schön, wenn er sie geheiratet hätte und mit ihr in ein Korallenschloß gezogen wäre ! Meerkönig hätte der schöne Großvater werden sollen, ſtatt hier in dem häßlichen alten Haus in der Friedhofstraße zu wohnen. Aber der Großvater wußte noch andere Geſchichten. ,Wenn wir einmal reich ſind ', hieß die ſchönſte. Diese Geschichte war so ganz nach Jeannes Geschmack. Wenn er einmal reich ist, kauft der Großvater eine Kutſche mit ſechs schneeweißen Pferdchen bespannt, mit goldenem Zaumzeug und einer silbernen Peitsche. Dann wird er mit der kleinen Jeanne ausfahren, sie soll ein seidenes Kleid tragen und ein kleines Krönchen auf dem Kopf, und alle Leute aus Met werden sie anstaunen und bewundern. Vielleicht kauft der Großvater auch eine ganz kleine Kutsche, nur für Jeanne und ihre Puppen, mit zwei Bernhardiner Hunden bespannt. Da werden die frechen Gaſſenkinder auf der Friedhofstraße aber Mund und Naſe aufsperren, wenn die Prinzeſſin Jeanne ausfährt ! Zwischendurch muß Jeanne mal raſch zum Wirt an der Ecke laufen und für zwanzig Pfennig Schnaps kaufen . Großvater läßt sie nippen, aber es schmeckt so greulich, daß Jeanne ausspucken muß. Dann sieht sie voll Staunen zu, wie der Großvater die kleine Flasche in einem Zuge leert. Alter Lump !' schimpft die Großmutter. — Aber sie meint es sicher nicht so böse, denn sie lacht dabei, nur mit den Augen, aber Jeanne hat es doch ganz deutlich gesehen. 3 Der Weg in die Heimat
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Mit fünf Jahren kommt die kleine Jeanne in den Kindergarten. Sie lernt Tierchen und Figuren kneten, malt ſchöne Bilder mit Farbstiften, strict ihren ersten Waschlappen.
Und eines schönen Sommerabends unternimmt das kleine Mädchen seinen erſten ſelbſtändigen Ausflug in die Welt. Mit der Zeit wurde der Kindergarten, in dem man immer ſo brav und ruhig ſein mußte, langweilig. Zu Hauſe mußte man auch mäuschenſtill ſein, weil der gute Großvater in den letzten Tagen krank war. Es zieht Jeanne in die Ferne, sie will das Meer suchen, von dem Großvater so viel Wunderbares zu berichten wußte. Jeanne hat sich zu diesem Unternehmen ordentlich ausgestattet. Sie hat ihr Frühstücksförbchen umgehängt, zwei Birnen und eine Zuckerbrezel sind darin. Vorsorglicherweise hat man mit vieler Mühe aus dem Geldschweinchen einen Groschen entwendet . . Zu Hause ahnen sie nichts, sie glauben Jeanne im Kindergarten. Vor halb fünf nachmittags ist das kleine Mädchen nie zurück. Heute wird es halt ein paar Stunden länger dauern. Man kann ja der Mutter ein paar Muscheln mitbringen, damit sie nicht böse wird . Vor allem reizt es Jeanne, die Bekanntschaft der Meerjungfrau Undine zu machen. Sie wird Grüße von dem Großvater überbringen — wer weiß, vielleicht lädt die Meerprinzessin Jeanne und den Großvater ein, die Sommerferien in dem Korallenschloß zu verbringen. So zieht das kleine Mädchen frohgemut davon, immer der Mosel entlang. So wird es bestimmt den Weg finden. Alle Flüsse münden im Meer, sagte der Großvater. Wunderschön ist es, in den hellen Sonnentag zu laufen. Erst hat Jeanne noch etwas Gewissensbiſſe, wenn sie an den Kindergarten denkt. Dann aber vergißt sie das alles. Es gibt ja so viel Wichtiges und Neues auf dem Weg zu bewundern. Längst hat Jeanne die Stadt hinter sich, auf
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der Meter Wieſe pflückt sie einen großen Strauß Blumen. Die Meerjungfrau wird sich freuen ... Der Weg scheint aber doch weiter zu ſein, als das kleine Mädchen es sich vorstellte. Jeannes Füße beginnen schon zu brennen, und noch immer sieht sie in der Ferne die Türme von Mez, noch immer taucht das Meer nicht auf. Endlich kann Jeanne nicht mehr voran. Sie läßt sich am Flußufer nieder, verzehrt ihre Birnen. Es muß schon über vier Uhr sein. Die Sonne schickt sich an, über dem St. Quentin zu verſinken. Es hilft nichts, Jeanne muß weiter, wenn sie noch vor der Dunkelheit das Meer erreichen will. Einmal bleibt sie erschreckt stehen - wie, wenn dieser Weg nicht der rechte war? Wenn sie vielleicht nach Sibirien ging ? Dort, wo es die vielen Wölfe gab und es selbst im Sommer so bitter kalt war? Besorgt musterte Jeanne ihre leichte Kleidung, die Söckchen, die Sandalen an ihren Füßen. Vielleicht war es doch ein Wagnis, ſo allein fortzulaufen? Vielleicht frug man doch besser einen der Vorübergehenden nach dem Weg ? Nach Mez zurück konnte man jezt nicht mehr, die Türme der Kathedrale waren längst nicht mehr zu sehen ... Der Abend dämmerte, als Jeanne in ein fremdes Dorf kam. Sie taumelte vor Müdigkeit. Und brachte den Mut nicht auf, irgendeinen fremden Menschen zu fragen : entschuldigen Sie, wie komme ich ans Meer ? — Jeanne fürchtete sich vor den fremden Leuten. Sie hatte plöglich Heimweh nach ihren Eltern, nach Großvater und Großmutter Es wurde jegt völlig dunkel. Jeanne lief aus dem Dorf, über eine Wiese, stand dann wieder auf der Landstraße aber wo war die Mosel ? Jeanne hatte ganz vergessen, daß ſie doch immer der Mosel entlang wandern mußte, wenn fie ans Ziel kommen wollte. Unſchlüſſig ſtand ſie eine Weile. Dann glaubte sie in der Ferne Wasser rauschen zu hören, fie lief in der Richtung davon.
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Dann stand sie am Ufer der Mosel, unter hohen Bäumen und wußte nicht weiter. Irgendeine Stimme sagte ihr, daß ſie jezt über das Wasser hinüber müſſe, wenn sie den Weg nicht verfehlen wolle. Tiefschwarz, unbeweglich war der Waſſerſpiegel. Unzählige Sterne ſpiegelten sich in der ruhigen Fläche. Es lockte geradezu, den Fuß auf das glatte Waſſer zu ſeken. In ihren Träumen war Jeanne doch so oft über den feſten Wasserspiegel gegangen . Zögernd ging fie auf das Ufer zu. Es war so unheimlich ſtill ringsumher. Nur in den Bäumen rauschte es leiſe. Jeanne setzte sich ans Ufer, ließ die Beine herunterhängen. Wenn man noch etwas rutschte dann stand man auf der goldenen Brücke, die das Licht einer Laterne am jenseitigen Ufer über den Fluß warf. Vielleicht war dies gar nicht mehr die Moſel, bestimmt, das war schon das Meer. Da drüben glänzten unzählige kleine Lichter durch das Laub das Schloß der Meerjungfrau ! Wenn man nur ganz sicher wüßte, daß man hinüberkam ! Jeanne schließt die Augen. Sie ist ja so grenzenlos müde , eigentlich liegt ihr gar nichts mehr an dem Abenteuer, nur schlafen möchte sie, in ihrem kleinen Bett in der Friedhofstraße liegen .. Da schreit ein Vogel, ganz in der Nähe. Jeanne fährt entsegt in die Höhe. Das war bestimmt die Nachteule, von der Großvater erzählt hat. Die fängt die kleinen Kinder, wenn sie nicht schlafen gehen wollen ! Da ... jezt schreit es schon wieder, dicht über Jeannes Kopf. Schauerlich hört es sich an. Jeanne zittert am ganzen Körper vor Angst. Dann rennt sie, so schnell sie die Füße tragen, davon.
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Nachts fand man sie an der Landstraße, die nach Moulins führt. Sie lag an der Straßenböschung und schlief ganz fest. Mittlerweile hatten Jeannes Eltern die Polizei alarmiert, die Kunde von ihrem Verschwinden war schon in ganz Met verbreitet. Und noch eine andere, ganz andere Nachricht erfuhren die Leute ... Jeannes Großvater, der alte Graf', war , während das kleine Mädchen der Meerjungfrau Grüße von ihm überbringen wollte, gestorben. Ein Herzschlag hatte seinem Leben ein Ende gemacht. Noch in der Nacht brachten die Leute, die Jeanne gefunden hatten, das kleine Mädchen nach Mez zurück. In dieser Nacht erfuhr Jeanne die Kunde von dem Tod des Großvaters, des Menschen, den sie auf der Welt am meisten liebte."
Hier endet die Kindheitsgeschichte der kleinen Jeanne Martin. *
Ich bekam den ersten Preis! Die Klaſſenkameradinnen ſagten, sie hätten Grunde nicht anders erwartet.
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„Natürlich, wenn sie bei jedem Auffah eine Eins bekommt", meinte Liselotte Hagen. „ Meine Mutter sagt übrigens, eine gute Rechennote sei viel wichtiger. Mit ſchönen Aufsätzen kann man ſpäter einmal wenig anfangen.“ ,,Ich hab' mir gar keine Mühe gegeben mit der Kindheitsgeschichte", fällt eine andere hoheitsvoll ein. „ Gott, wegen einem Buch! Meine Eltern kaufen mir Bücher, so viel ich will." „ Außerdem stand es ja von vornherein feſt, daß Jeanne den Preis bekommt“, sagt Jutta Schneider. „ Sie ist nun mal der erklärte Liebling von Fräulein Winter. Es werden halt immer und überall Ausnahmen gemacht, mag man reden, was man will ! “ 69
Ich ärgere mich ein bißchen. Aber Berthe Olry hält wieder treu zu mir, wie immer. „ Die haben doch alle nur Neid auf dir, Jeanne“, ſagt sie recht laut, daß die halbe Klaſſe es hören kann. „Keine hätte so ein schöner Geſchichte fertiggebracht wie du . Kümmer dich nig um die andere und freu dich über dein Preis.“ Das ſigt. Keine redet mehr ein Wort über die Angelegenheit. Nur Jutta läßt in der nächsten Pause eine Anzüglichkeit fallen, die sich diesmal gegen Berthe richtet. Die arme Berthe ! Ihre Kindheitsgeschichte" wurde, wie die meine, vor versammelter Klaſſe vorgeleſen. Sie erntete einen stürmischen Heiterkeitserfolg. Berthes literarisches Erstlingswerk lautete ungefähr ſo : ,,Ich bin geboren als Tochter von Henri und Madame Henri Olry in Mek, am 6. Mai 1905. Ich hab' keiner richtige Kindheitsgeschichte, weil ich mir nicht mehr erinnern kann. Nur einmal hab' ich der Gashahn aufgedreht, weil ich nicht wußte, und wär' beinah gestorben. Papa war sehr wütend auf mir. Und ich kam in ein Kindergarten, zum Stridenlernen. Marthe Benoit und Rose Werner auch. Dann kam ich in die große Schule, wo ich heute noch bin. Und nach dem Frieden ziehen wir nach Nice, bei meine Tante. Wir hoffen alle, daß bald Frieden ist, wegen Flieger. Wie wir noch klein waren, haben wir nichts von Krieg gewußt. Es war sehr schön. Berthe Olry." „ Das gehörte als Humoreske veröffentlicht“, sagte Fräulein Winter, als sie die Geschichte vorgelesen hatte. Sie sah sehr ärgerlich aus . „ Wirklich, Berthe, du hast keinen Grund zu lachen. Schämen solltest du dich, einen solchen Auffaz abzuliefern. Wenn du auch die deutsche Sprache nicht völlig beherrschst, so entschuldigt das noch lange nicht den blühenden Unsinn, den du da zuſammengeschrieben hast!" 70
Berthe ist durchaus nicht gekränkt. Achselzuckend nimmt fie das Aufsakheft in Empfang, murmelt mir, als sie wieder neben mir Plaz nimmt, zu: ,,Ich bin eben tein Dichterin. Macht aber nix." Und sie malt mit großem Eifer eine Karikatur der erzürnten Lehrerin auf ein Stück Papier. Ich kann nur mit großer Mühe ernst bleiben, als Fräulein Winter mich jezt aufruft und ein paar anerkennende Worte an mich richtet. Dankend nehme ich das Buch in Empfang. Gedichte von Theodor Körner. ,,Bewahre die Worte, die ich dir als Widmung auf das Titelblatt schrieb, fest in deinem Herzen, kleine Jeanne", sagt das Fräulein, mir die Hand drückend . „ Es ist das Beste, was ich dir ins Leben mitgeben kann. Lies diese schönen, begeisterten Verse immer wieder, wenn einmal trübe und schwere Tage für dich kommen sollten.“ Ich bin sehr verlegen, weil die Blicke aller Mädels auf mich gerichtet sind. An meinen Plak zurückgekehrt, öffne ich das Buch. Da ſteht auf der ersten Seite, in den klaren und schönen Schriftzügen meiner Lehrerin: ,,Ans Vaterland, ans teure, ſchließ dich an. Das halte fest mit deinem ganzen Herzen, Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft! Meiner lieben Jeanne
ihre Lehrerin Eva Winter. Met, Sommer 1918." Mir ist sehr feierlich zumute. Wenn ich auch den Sinn der Schillerschen Verse noch nicht ganz zu erfassen vermag, so will ich sie doch, den Worten meiner lieben Lehrerin folgend, mein ganzes ferneres Leben hindurch im Herzen bewahren. Nach der Stunde habe ich noch eine Unterredung mit Fräulein Winter. Wir sind jezt ganz allein in der Klaſſe. 71
,,Du hast mir durch diese Arbeit wieder einmal bewiesen, daß du weit besser schreiben kannst, als man es von einem Kind deines Alters erwarten dürfte", sagt das Fräulein. „Hast du noch nie daran gedacht, Tagebuch zu führen, Jeanne ?" „ Nein“, antworte ich. „ Der Gedanke ist mir noch nie gekommen." „ Du solltest es aber tun, Kind . Denk nur, wie schön es wäre, wenn du später einmal, wenn dieser Krieg längst zu Ende ist, deinen Kindern diese Erlebnisse und Eindrücke aus der großen Zeit vorlesen könntest ! Gerade wir Grenzlandbewohner, die wir den Krieg doch aus unmittelbarſter Nähe erleben, könnten späteren Generationen ein getreues Bild dieser Jahre vermitteln. - Wer ein Talent besitzt wie du, kleine Jeanne, dem erwachſen auch Pflichten. Haſt du denn nie den Drang in dir, zu ſchreiben, Kind ? Ich meine jezt, außerhalb der Schule ?“ Ich fühle, wie mir alles Blut in den Kopf ſteigt. Soll ich ihr jetzt sagen, was noch kein Mensch wissen durfte? Kann ich es wagen, ihr einen Einblick in meine kleine Welt zu gestatten? Scheu mustere ich die Frau neben mir, unter gesenkten Lidern. Es geht etwas Vertrauenerweckendes von ihr aus. Sie ist mir gegenüber nie nur Lehrerin, ſondern ſo oft gütige, mütterliche Freundin gewesen. Nein , mütterlich ist nicht der rechte Ausdruck. Mütter ſind gut, beſorgt, denken praktisch, ihr Augenmerk richtet sich zuerst und fast ausschließlich auf das törperliche Wohlergehen des Kindes. Fräulein Winters Güte ist anderer Art. Kühl, sachlich, vornehm bleibt sie in den vertrautesten Momenten. Es müßte gut sein, sich ihr mitteilen zu können, ihr, der reifen, verſtändigen Frau, alles ans Herz legen zu dürfen, was mich selbst so verwirrt und oft unglücklich macht. „ Nun, Jeanne, wolltest du mir etwas sagen?“ Ich gebe mir einen Ruck. Schlimmstenfalls lacht sie mich jezt aus. 72
So gestehe ich ihr, ſtockend zuerst, dann immer freier und freier werdend, alle meine kleinen und doch so wichtigen Sorgen und Nöte. Von dem tiefen Abstand zwiſchen meiner und der anderen, großen Welt spreche ich. Von den tausend Gedanken, die in mir sind und nach Ausdruck drängen, ſei es durch Spiel oder Schreiben. Sie erfährt, wie mich die Schönheit und Süße dieſer ſelbſterdachten Welt immer weiter von der anderen entfernt, in der ich zu leben gezwungen bin. ,,Sehen Sie, Fräulein Winter “, schließe ich meine Beichte, und das schlimmste an allem ist, daß ich immer
das
dumme
Gefühl
habe,
irgendwie
ein
Un-
recht zu begehen. Als seien alle diese Dinge, mit denen ich mich beschäftige, etwas Sündhaftes. Aber ich finde doch keine Ruhe, wenn ich nicht schreiben darf. Kaum ist die eine Geschichte zu Ende, entsteht schon die neue in mir. Ich kann des Nachts bald nicht mehr schlafen und weine oft, weil mir dann plöglich unsere armen Verwundeten in den Lazaretten einfallen oder die Soldaten an der Front - und ich beschäftige mich mit Feen und Zauberern und ſolchem Kram ! Ich verbrenne das dumme Zeug ja auch gleich, wenn ich es aufgeschrieben habe." Fräulein Winter entgegnet zunächſt nichts. Ängstlich sehe ich zu ihr auf. Habe ich nicht grenzenloſen Unsinn geredet ? Sie hat den Kopf in die Hand geſtüßt und ſieht geradeaus, an mir vorbei. Ob ich jezt gehen soll oder ... „ Ja, siehst du, kleine Jeanne, so etwas ähnliches dachte ich mir auch schon, als ich deine Kindheitsgeschichte las“, ſagt die Lehrerin nach einer Weile. „ Deine Phantasie geht oft mit dir durch, das ſpürt man in allen deinen Auffäßen. Du träumſt zuviel und siehst zuwenig. Dein Gefühl, mit deinen Träumereien irgendein Unrecht zu begehen, ist schon begründet. Du mußt eben sehen lernen, Jeanne. Verstehst du mich?“ „Nicht ganz, Fräulein Winter “, sage ich leiſe.
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„Dann will ich es dir einmal ausführlich erklären : Sieh mal, Kind, wir leben in einer so großen, bewegten Zeit. Du hörst die Frontberichte, du hast Angehörige im Feld, du erlebst die Fliegerangriffe, die Siegesfeiern, siehst unsere Soldaten ins Feld ziehen . . . der Krieg tritt dir wie uns allen in immer veränderter Gestalt entgegen. Glaubst du nicht, daß dies alles viel größer und wichtiger ist als deine sogenannte ,kleine Welt' ? Wäre es nicht eine lockende Aufgabe, alles das niederzuſchreiben ? Mußt du erſt Fabeln und Märchen dichten, jezt, wo die Weltgeschichte ſelbſt eine Fülle großer, nie wiederkehrender Eindrücke bringt ? Ich beneide die Dichter, die in unseren Tagen leben dürfen, Jeanne. Denke an Theodor Körner. Das heldische Erlebnis der Freiheitskriege drängte ihn zum Schreiben, und die Nachwelt dankt es ihm, daß er uns mit ſeinen herrlichen Gedichten - die auch für die heutige Zeit geschrieben zu sein scheinen - ein getreues Bild seiner Epoche vermittelt hat. Du bist ja noch ein Kind, kleine Jeanne. Du bist noch zu jung, um hinter den Geſchehniſſen einen Sinn zu ſpüren. Ja, ich glaube kaum, daß du heute schon alles Erlebte naturgetreu niederschreiben wirſt können. Aber eines kannſt du, können wir alle: mit offenen Augen durch die Welt gehen, mit offenen Herzen uns den Erlebniſſen dieser Zeit hingeben. Da bleibt keine Zeit mehr zu Träumen und Phantastereien ! Ich will nicht sagen, daß du keine Märchen ersinnen sollst, Jeanne. Aber jetzt ist nicht die Zeit dazu, jezt gilt es, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Wenn du durchaus Schönheit und Anmut suchst, so betrachte doch unsere Heimat ! Ist unser liebes Mez nicht wunderschön ? Bist du einmal des Abends an der Mosel gestanden, haſt du das Bild des St. Quentin über der grünen Mezer Wieje gesehen? Oder geh ſtadteinwärts, verweile unter den Brücken, betrachte die alten Häuſer an der Mosel, unſere wundervollen gotischen Kirchen . . . sag, Jeanne, mußt du da erſt träumen, um Schönheit zu suchen ? Wer gute Augen hat, sieht sie überall. Und wer ein empfängliches Herz hat,
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den macht sie froh und reich, kleine Jeanne . . . Aber jetzt habe ich die ganze Zeit mit dir verplaudert, ſtatt dich in den Hof zu den anderen Kindern zu schicken. Geh jezt hinunter und denke über alles nach, was ich dir gesagt habe, ja? Wenn du wieder einmal etwas auf dem Herzen haben solltest, kannst du gern zu mir kommen. Ich habe dich sehr lieb, kleine Jeanne Martin!" Da pact sie meinen Kopf zwischen ihre Hände und füßt mich, mitten auf den Mund. So peinlich ist das wenn es mich auch andererseits wieder glücklich macht. Und ich bin ſehr verwirrt durch ihre Worte. Ich will abwarten, bis ich ruhiger geworden bin, und dann alles überdenten. | ཉཏ
Ja, Fräulein Winter hat recht, tausendmal recht : Und wenn ich auch zu klein und dumm bin, um alles, was wir in diesen großen Tagen erleben, niederschreiben zu können, ſo bleibt mir doch eines : ich will offenen Herzens und offenen Sinnes durch die Welt gehen. Erleben will ich diese Tage. Nicht mehr gedankenlos, als etwas Selbstverständliches, alles hinnehmen. Einen Sinn in den Dingen suchen, eine Idee hinter jedem Geschehnis— ſo wird dieser große Krieg zu einem Erlebnis, wie es herrlicher und heldischer noch keiner Jugend zuteil wurde. ... Die Tage kommen und gehen. Längst ist der Herbst ins Land gezogen, ein früher, stürmischer Herbst. Schon spricht man von Weihnachten. Schon rüftet die Metzer Bevölkerung zum fünften Weihnachtsfest während des Krieges. In der Handarbeitsstunde stricken wir Socken und Pulswärmer für unsere Feldgrauen. Die neunte Kriegsanleihe wird in dieſen Tagen gezeichnet. Wir Schülerinnen beteiligen uns wieder geschlossen, gehen mit Sammelliſten von Haus zu Haus .
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Wir ziehen in den fünften Kriegswinter. An das baldige Ende dieses Krieges glaubt keiner so recht. Wenn auch in den Zeitungen hin und wieder von Friedensbesprechungen zu lesen ist. Es ist Oktober geworden. Der Herbst bringt uns noch ein paar gute, warme Tage, ehe er dem Winter die Herrschaft über das Land abtritt. Fast sommerlich warm ist es wieder geworden, und dazu flammt die Erde in tausend goldenen Farbtönungen. Marienfäden ziehen durch die Luft ... Mit dem schönen Wetter hat ſich auch die Anzahl der täglichen Fliegerangriffe verdoppelt. Neuerdings werfen ſie häufig kleine Brandkörper ab, die aber keinen allzu erheblichen Schaden anrichten. Unsere Abwehrgeschütze leisten geradezu Großartiges. Vierzig feindliche Flugzeuge wurden in den letzten Tagen abgeschossen. Ob der Feind nicht bald ein Einsehen hat, ob er nicht endlich zu der Einsicht gelangen wird, daß wir einfach nicht zu bezwingen sind? Der November des Jahres 1918 zieht ins Land. Wird er uns den Frieden bringen oder die völlige Vernichtung?
2. Kapitel
Die Franzosen kommen Wenn wir in diesen lezten Kriegswochen keine Tante Suzanne gehabt hätten, wäre es uns schlimm ergangen. Die Lebensmittelknappheit hatte in Mez geradezu beängstigende Formen angenommen. Wir Kinder umſtanden nicht selten die Feldküchen, um uns dort mit Suppen oder Dörrgemüse, genannt Stacheldraht, füttern zu laſſen.
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Dieselbe Nahrung gab es zwar auch zu Hause -
aber
wir bildeten uns ein, daß in den Gulaschkanonen gekochtes Essen doch ganz anders ſchmecke als solches aus dem Kochtopf der Mutter. Ja, wir Lyzeumsſchülerinnen ſchämten uns nicht, den Feldgrauen ein Stück Kommißbrot abzubetteln. Die Standesunterschiede verwiſchten sich merklich in jenen Zeiten der Not. Wir trugen Holzsandalen wie die Volksschüler, wir standen ſtundenlang vor den Lebensmittelausgabestellen um ein paar Kartoffeln oder etwas Brennmaterial, und zogen ungeniert mit dem beladenen Leiterwagen durch die Hauptstraßen von Mez. Die Straße war unser Revier. Auf der Straße gab es immer Interessantes und Abenteuerliches zu erleben. Zu Hause aber herrschte der Hunger. Der Anblick meiner kleinen Geschwister trieb mir oft Tränen in die Augen. Zwei-, dreijährig, waren ſie auf denselben kärglichen Fraß wie wir Erwachsenen angewiesen. Einen halben Liter Magermilch täglich, von Zeit zu Zeit etwas ranzige Butter gestand man ihnen zu. Sie waren erschreckend mager, alle drei , ihre kleinen Körper mit Pickeln und Geſchwüren übersät. Der vierjährige Kurt wird neuerdings bei jedem Fliegerangriff von Nervenkrämpfen überfallen. Er zittert wie Espenlaub, wenn die Sturmfirenen einen Angriff melden. Nicht selten liegt er wie leblos in Mutters Armen, um dann plöglich wieder laut schreiend aufzufahren und bei jedem Einschlag : Mama, Flieger ! zu wimmern. --Das war das zweite, das grauenvolle Gesicht des Krieges. Aber wir hatten Tante Suzanne. Wenn sie auftauchte, hob sich unsere Stimmung. Nicht nur, weil sie in der lekten Zeit ihrem kleinen gelben Lederkoffer häufig allerlei gute, längstentwöhnte Leckerbiſſen für uns Kinder entnahm. Nein, Suzannes frisches, munteres Wesen wirkte geradezu belebend auf unsere Stimmung. Jung, elegant, bildschön trat sie wie der leibhaftige Sonnenschein in unsere Stube, verbreitete einen herrlichen Duft von Parfüm und Zigaretten,
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lachte und scherzte mit den Kindern, wußte Mutter und mir zahllose Neuigkeiten zu berichten, die ihre Freunde Militärs vom Feldwebel aufwärts — ihr zutrugen. Für Suzanne stand es fest, daß der Krieg nun bald zu Ende sei. Der Sieg der Deutschen war unumstößliche Tatſache. Dann aber würde ein Leben für uns beginnen ! Suzanne raucht parfümierte Zigaretten, die sie Gott weiß wo aufgetrieben hat. Die beiden Kleinen weichen nicht von ihrer Seite. Sie hat neuerdings eine Menge guter Beziehungen. Irgendein glücklicher Zufall ( und die gibt es immer in Suzannes Leben) verschaffte ihr die Bekanntschaft eines Verwalters vom Proviantamt. Diesem Manne verdankten wir es, daß wir fortan nicht mehr zu darben brauchten. Suzanne brachte uns Spec (etwas ranzig zwar, aber immerhin genießbar) , Malzkaffee, Mehl , ja - eines Sonntags erschien sie mit einer Tafel Schokolade ! Mama wollte sie durchaus nicht annehmen, weil sie der Aufmachung nach - als ganz persönliches Geschenk für Suzanne gedacht war. Das Päckchen war zierlich mit einem roten Seidenband umwunden, auf der Umhüllung stand in großen verschnörkelten Buchstaben : ,,Dem reizenden Fräulein Suzanne aus Liebe gewidmet von Martin Huber, Feldwebel." Aber Suzanne sagte, sie möge den dicken Kerl eigentlich gar nicht leiden und halte es nur mit ihm, damit wir Kinder endlich wieder etwas Richtiges zu futtern bekämen. Ja, Suzanne wußte, wie man es anstellt ! Ich hing mit schwärmeriſcher Liebe an ihr. Nahm mir vor, sie in allem getreu zu kopieren,, wenn ich erst einmal erwachsen sein würde. Genau wie sie wollte ich mir das Haar später färben laſſen, tizianrot. (Mama fand es natürlich unfein, weil zu auffallend.) Genau wie Suzanne wollte ich auch zwei Goldzähne haben, die dem Mund einen ganz besonderen Glanz verleihen. 78
Berthe Olry ging noch weiter. Auch sie war eine begeiſterte Verehrerin meiner jungen Tante und nahm sich vor, sich später einmal alle Zähne ziehen und sie durch solche aus echtem Gold ersetzen zu laſſen. Ich ärgerte mich ein bißchen, weil Berthe mir die Idee vorwegnahm. Aber sie mußte immer übertreiben, in jeder Beziehung. Um aber wieder auf Herrn Huber vom Proviantamt zu kommen: Eines Tages verehrte er Suzanne zwei kleine Spanferkel. Sie erschien des Abends strahlend , mit verheißungsvollem Gesicht: „ Ratet mal, was ich in dem Koffer habe?“ Ich muß offen gestehen, mir war etwas wunderlich zumute, als ich die beiden nackten, rosigen Geschöpfe nebeneinander auf dem Boden des Koffers liegen sah. ,,Wie Kinderleichen“, meinte Onkel Theo, der auf Urlaub in Meg war und uns einen Besuch gemacht hatte. Kinderleichen! Diese Bemerkung ging mir nicht aus dem Kopf. Die Ferkel lagen schön knusprig gebraten auf der Platte, Mama hatte Tornows Kinder zum Eſſen eingeladen. Mit mächtigem Appetit hieben alle ein, nur ich würgte und würgte und brachte mit vieler Mühe schließ= lich einige Biſſen hinunter, nur, um Suzanne nicht zu tränken. Die saß mit strahlendem Gesicht da und sagte immer wieder: „ Eßt nur, Kinder, bis ihr nicht mehr könnt. Ja, der Huber ist ein netter Kerl. Wenn er nur nicht so dic wär'!" *
Zwei grundverschiedenere Geschwister als Onkel Theo und Tante Suzanne kann ich mir nicht vorstellen. Während Suzanne sich durch diese ganze schreckensvolle Kriegszeit hindurch ihr frohes Herz, ihren unerschütterlichen Glauben an den guten Ausgang unserer deutschen Sache bewahrt hat, während sie uns mit ihrer nie verſiegenden guten Laune immer wieder aufrichtet und tröstet, kehrt
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Onkel Theo immer mißgestimmter, immer brummiger von der Front nach Metz zurück. — Er schimpft auf Gott und die Welt, verflucht vor allem den Krieg, den er als finnlose Menschenschlächterei bezeichnet, und der ihn nun wieder in den Schüßengraben hinausjagt, wenn ſein Urlaub abgelaufen ist. Aber vielleicht müsse er auch gar nicht mehr hinaus, meint er, plöglich schmunzelnd . Er könne uns mit ziemlicher Bestimmtheit sagen, daß der Krieg jezt bald zu Ende ſei. Die Frontsoldaten hätten die ganze Schweinerei endgültig ſatt und wollten nicht mehr weiterkämpfen, baſta. Ob wir schon einmal etwas von Karl Liebknecht gehört hätten? Nein, der Name ist uns fremd. „Kein Wunder, ihr ſizt hier ja auch hinter dem Mond und schreit immer noch hurra, während sie drüben in Deutschland den ganzen Kram ſchon durchſchaut haben. Der Liebknecht is ' n Mann, ſag' ich euch. Bei uns hat mal einer ein Flugblatt mitgebracht, da ſteht es klipp und klar, um was der Krieg eigentlich geht. Wir machen die ganze Sch - e bald nicht mehr mit, sag' ich euch!" Er spuckt verächtlich gegen die Wand. „ Theo “, Mutter ist ganz aufgebracht. „ Unterlaß doch die Ausdrücke. Nimm doch wenigstens Rücksicht auf die Kinder!“ „ Ach was, Kinder", brummt er. „ Ihr singt wohl immer noch „Heil dir im Siegerkranz' in der Schule, was ? “ fährt er mich an. „ Jawohl“, sage ich. „ Warum sollten wir das auch nicht tun?" ,,Halt den Mund, dumme Gans", schnauzt er. „ Dir fehlt auch der Vater, der dir ein bißchen Erziehung beibringt . Höchste Zeit, daß es Friede wird. Meine Bengels verdresche ich jeden Tag, ſo frech sind die geworden, während ich in Rußland war.“ Draußen geht die Klingel. Ich laufe hinaus, froh, aus Onkel Theos Nähe wegzukommen.
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„ Suzanne, du ?“ Sie füßt mich, drückt mir ein Stück Haferflockenkuchen in die Hand. „Da, von meiner Chefin. Iß es hier draußen, Jeanne, ich hab' nämlich nur ein Stück. Das nächſte Mal kommen die Kleinen wieder an die Reihe.“ Ich bleibe im Gang stehen, verzehre meinen Kuchen, während Suzanne an mir vorbei ins Wohnzimmer geht. Ich höre, wie sie Mutter und den Onkel begrüßt. „Na, Theo, alter Brummbär, jezt heißt es bald wieder : Hinaus in den Schüßengraben ! Hast wohl schon große Sehnsucht danach?“ scherzt sie. Er knurrt etwas Unverständliches. ( Ich sehe jezt förmlich ſein wütendes Gesicht, den gesträubten Schnurrbart.) „ Da, ich hab' dir ein Päckchen Tabak mitgebracht“ , fährt Suzanne fort. „ Und dann möchte ich dir noch herzlich gratulieren, Theo. Eigentlich bin ich dir böse, weil ich erst von Madelaine erfahren mußte, daß du dir das Eiserne Kreuz erworben hast ! Du hättest dir doch denken können, daß ich mich riesig mit dir freue ! Komm, laß dir einen Kuß geben, alter Graully ! Ich bin ja so stolz auf meinen Bruder!"
Brummen. Pauſe. „ Ihr Weiber habt gut reden“, fährt er plöglich los, ſo laut, daß ich erschreckt zuſammenfahre. „ Was wißt ihr denn vom Krieg? Weitab vom Schußfeld sieht sich die Sache ganz anders an als draußen, das kann ich euch sagen! Laßt doch endlich mal euren patriotiſchen Schmus beiseite ! Ich pfeife auf das sogenannte Vaterland, damit ihr's nur wißt ! Jedem nur einigermaßen vernünftigen Frontſoldaten geht es genau wie mir ! Brüllt ihr nur weiter hurra ! Wenn ihr den Krieg kenntet wie ich, würde euch der Patriotismus ſchon vergehen! Ihr ſigt hier ſchön sicher . . .“ „Ia, ſchön ſicher ! " fällt Suzanne höhniſch ein. „ Leben 1 wir hier nicht in ständiger Todesgefahr, genau wie ihr Frontsoldaten? Sind wir nicht völlig hilflos den Flieger-
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bomben preisgegeben, wir Frauen und Kinder ? Aber wir betrachten das alles eben von einem anderen Standpunkt, Theo! Wir leiden für Deutschland, für die Heimat. Denke doch einmal daran, dann wird es dir auch leichter, Theo, glaub es mir. Du mußt endlich lernen, deine eigene Perſon einmal zurückzustellen und nur an Deutſchland zu denken. Dann wirst du einsehen, daß ... „ Iezt hab' ich aber genug ! " Onkel Theos Fauſt fällt krachend auf die Tischplatte. Seine Stimme bebt vor Wut. „Soll ich alter Mann mir am Ende von dir Vorschriften machen lassen ? Was weißt du denn pon der Welt, du Roznase, hein? Deinen hochtrabenden Schmus kannst du an anderer Stelle anbringen, aber nicht bei mir, hast du verstanden? Meinst du, ich wüßte nicht, woher du deine ganze Weisheit beziehſt ? Wer dir dieſen vaterländischen Fimmel aufgeschwagt hat ? Für die hohen Herren Offiziere ſieht der Krieg natürlich wesentlich anders aus als für uns arme Frontschweine, mein Fräulein ! Und uns hegt man von einem Gefecht ins andere, wir dürfen verbluten, während die anderen ...“ „ Ich gehe jezt, Madelaine.“ Suzannes Stimme klingt sehr ruhig. „ Ich komme ein andermal wieder. Das kann ich nicht länger mitanhören. Adieu ! " Da ist sie schon zur Tür hinaus, greift nach Hut und Mantel und läuft an mir vorbei. Ihre hohen Absätze klap= pern auf der Treppe. Unten schlägt das Haustor ins Schloß. Nicht mal den Hut hat ſie ſich aufgesezt. Schon bin ich hinter ihr her. Unten auf der Straße hole ich sie ein. Sie läuft ſchnell, als würde sie verfolgt. „ Suzanne, Tante Suzanne, Liebe ..." Ich packe sie beim Arm. „ Ach, du bist es, Jeannie ! “ Sie wendet mir das Geſicht zu. Die Tränen laufen ihr unaufhaltſam über die Wangen. „ Suzanne, rege dich doch nicht so auf“, rede ich auf sie ein. „Weine doch nicht mehr. Onkel Theo hat es sicher gar nicht so böse gemeint ...“ 82
„Laß nur, Kind, es ist schon gut“, sagt sie schluchzend. ,,Du bist ja noch viel zu jung, um das verstehen zu können, Jeannie. Versprich mir, zu vergeſſen, was du eben gehört hast, ja?" „ Aber Suzanne, Onkel Theo ist doch immer so ..." „ Ich bin ihm ja auch nicht böse, Kind . Es macht mich nur furchtbar traurig, daß mein eigener Bruder so gar keinen Funken Vaterlandsliebe besigt. Er sollte sich schämen, als deutscher Soldat solche Reden zu führen!" Was soll ich ihr darauf zum Trost sagen ? Mir fällt nichts ein. So streichele ich nur ihre Hand, die ſie mir jezt entzieht. „ So, Kind, nun geh wieder nach Hauſe“, sagt ſie, mir über das Haar streichend. „ Nein, du brauchst dir keine Sorge um mich zu machen. Ich werde morgen noch einmal zu Theo hinausfahren und ihm Adieu sagen, ehe er wieder an die Front geht. Ich möchte nicht im Bösen mit ihm auseinandergehen, um nichts in der Welt." Sie füßt mich flüchtig und geht schnell davon.
Als ich etwas später in unsere Wohnung zurückkomme, ist Onkel Theo nicht mehr da. Auch Mama hat geweint, ich sehe es ihr an. Ich möchte gern mit ihr über den Vorfall ſprechen, sie um ihre Meinung fragen. Aber sie macht nur eine müde Handbewegung. ,,Laß gut sein, Jeannie ; Theo sah nachher selbst ein, daß er etwas zu weit gegangen ist. Er kann einem leid tun, der arme Kerl. Vier Jahre Westfront, zweimal verwundet, und zu Hause die Frau und die kleinen Kinder — es ist eben zuviel für ihn. Aber tu mir den Gefallen und kümmere dich nicht weiter um diese Dinge, ja ? Du verstehst ja doch nichts davon. Geh zu deiner Freundin oder mach Schularbeiten." Berthe quält sich mit ihren deutschen Aufgaben herum, als ich zu ihr komme.
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Ich helfe ihr, bringe ein paar ungeſchickte Ausdrücke in den Aufsatz, damit die Lehrerin nichts merkt. Dann gehen wir zuſammen auf die Eſplanade. ,,Fehlt dir etwas, du bist ſo ſtill ?“ erkundigt sich meine Freundin. Ich schüttle den Kopf. Berthe wird das alles noch viel weniger verstehen als ich. ,,Mein Onkel war bei uns und meinte, daß der Krieg jezt bald zu Ende sei", sage ich, nur um ein anderes Geſpräch zu beginnen. „ Das sagt mein Vater auch“, entgegnet Berthe. „ Und der weiß es aus ganz bestimmte Quelle." Ich kann meine Gedanken von dem vorher Erlebten noch nicht losreißen. Warum ſind die großen Menschen nur so häßlich zueinander ? Wie schön und friedlich könnte es auf der Welt sein, wenn die Menschen nicht immer wieder Haß und Streit erzeugten. Können sie denn nicht Frieden halten untereinander ? „Frieden", sagt Berthe unvermittelt. ,,Kannst du dir darunter überhaupt etwas vorstellen, Jeanne ?“ Hat sie meine Gedanken erraten ? „Wie kommst du darauf, Berthe ? “ frage ich, etwas verwirrt. ,,Eh bien, wir sprachen doch eben davon, daß der Krieg vielleicht bald vorüber ist“, meint sie. „ Und ich denke eben so darüber nach, wie das alles sein wird, wenn erst wieder Friede ist." „Aber das ist doch einfach, Berthe. Vor allem kommen keine Flieger mehr. Das ist doch wundervoll, nicht ? Und -die Geschütze hören wir auch nicht mehr, weil — weil eben das alles zu Ende ist ! Die Soldaten kehren in ihre Heimat zurück, da, wo jezt Schüßengräben sind, wird wieder Geund ein großes, treide gepflanzt oder auch Kartoffeln großes Fest wird gefeiert, Berthe ! Die Soldaten ziehen blumengeschmückt hier ein, die Mutte wird läuten, wir singen, (6 abends gibt es einen großartigen Fadelzug ..."
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„ Und natürlich haben wir ſchulfrei “, fällt Berthe begei = ſtert ein. „ Und tragen alle weiße Kleider, und Maman muß mir die Haare brennen . . ." Sie schweigt, überwältigt von solchen Zukunftsaussichten. Ich lehne mich weit zurück, ſehe den hohen, blauen Himmel über mir, verfolge den Flug der kleinen weißen Wolken. Sie ſegeln eilfertig, einander jagend und überholend, in westlicher Richtung über den St. Quentin. „ Du, dann hat das auch ein Ende mit die Lebensmittelkarten !“ Berthe ſchnalzt vergnügt mit der Zunge. „ Ma fille, dann gibt es wieder Butter und Weißbrot und Wein ... Sie versinkt aufs neue in einen Zustand genießeriſchen Behagens. „Mein Vater sagt, er trinkt sich ein richtiger Rauſch an, wenn es mal ſoweit ist“, fährt sie fort. „ Drei Tage lang nur Rotwein. Und zwischendurch wird wieder gegeſſen, gebratene Hähnchen und Pommes frites und hinterher Schlagsahne ..." „Hör auf, du !“ Mir wird es bald zu viel. „ Ich bekomme ja Magenkrämpfe, wenn du ſo redeſt. Ach, Berthe, und wer weiß, ob das alles einmal wahr wird. Ich kann es gar nicht glauben. Vorläufig haben wir immer noch den Krieg und 66 die Flieger und das alles. Hör nur ... Wie ein fernes Gewitter dröhnt es dort drüben an der Front, jenseits des Moseltals. Wir lauſchen einen Augenblick, ergehen uns dann in Vermutungen, ob die Flieger wohl heute noch vor Nacht kämen, oder ob sie am Ende gar ausblieben ? „ Vielleicht ist doch schon Friede, du ! " Berthe kneift mich übermütig in den Arm. „ Paß auf, gleich wird die Mutte läuten ..."
,,Da kommt Marcel ! " Ich winke dem Jungen entgegen, der quer über die Terraſſe auf uns zukommt. ,,Da steckt ihr, ich war schon bei deiner Mutter, Berthe, um euch zu suchen.“ Er begrüßt uns und nimmt neben mir Play. 85
„Herrlicher Tag, was ? " Er deutet nach dem St. Quentin. ,,Und noch keine Flieger heute." „ Schrei nur nicht zu laut, sonst überraſchen ſie uns noch hier in den Anlagen." ,,Wovon habt ihr denn eben gesprochen, als ich kam ?" erkundigt sich Marcel. „ Ihr wart ja beide ganz aufgeregt.“ „ Vom Frieden“, sagt Berthe. „ Wir haben uns ausgemalt, wie der Friede aussieht.“ ,,Na und, wie stellt ihr euch das vor?“ Marcel kann so überheblich sein. Er richtet seine Fragen an uns wie ein Lehrer an die Klasse. Ich denke nicht daran, zu antworten. Berthe ist nicht so empfindlich. „ Och, wunderschön natürlich“, sagt sie vergnügt. „ Denk mal, Marcel, keine Flieger mehr, und Schokolade, Bonbons, Schlagsahne, Wein und Braten, soviel du willſt!“ „ Verfressenes Geschöpf“, lacht er. „ Andere Ideale als gut eſſen und trinken kennst du wohl nicht?“ ,,Doch, fein angezogen sein, spazierengehen oder besser noch -fahren, und einen netten Freund haben." ,,So einen wie mich, hein?" „ Nee, ich bedank' mir für solchen Mezer Wackes !“ ,,Bist ja selbst einer!" Sie balgen sich hin und her. Ich ärgere mich ein bißchen. Aber wenn Marcel glaubt, er könne mich eifersüchtig machen, irrt er sich. „ Na, und du Jeanne ? “ (Aha, endlich scheint er sich zu besinnen, daß ich auch noch auf der Welt bin!) „ Du redeſt ja gar nichts heute? Willst du mir nicht auch sagen, wie du dir den Frieden vorstellst ?"
,,Nein." ,,Och, Jeanne, sag's ihm doch. Du hast das doch eben alles so schön ausgemalt, mit blumengeschmückte Soldaten und Muſik und Glockenklang. Sag's doch dem Marcel auch, ja ?“ „ Laß sie nur, Berthe, ich weiß es schon." Marcel ist sehr ernst geworden. Er hat den Kopf in die Hand geſtüßt und sieht vor sich hin. 86
„Also du stellst dir einen triumphierenden Einzug des siegreichen Heeres hier in Meg vor, Jeanne. Durch das Römertor werden sie einziehen, begrüßt von dem Jubelgeschrei der Bevölkerung. Alle Glocken läuten, jedes Haus trägt Fahnenschmuck. Es iſt ein ganz großes, ganz überwältigendes Freudenfest. So denkſt du es dir doch, Jeanne?“ Ich nice nur. Er hat genau das ausgesprochen, was ich mir vorhin dachte. Es liegt eine mitreißende Begeisterung in dem Klang ſeiner Stimme. Seine Augen leuchten, als sähe er den Triumphzug des ſiegreichen Heeres ſchon vor sich. So begeistert hab' ich den Jungen ſchon einmal geſehen. Damals, im Sommer, als wir uns ſo furchtbar zankten. „Sag mal, Jeanne“, beginnt er nach einer Weile. „ Haſt du denn auch schon darüber nachgedacht, wer die Sieger ſein mögen, die nach diesem Kriege hier ihren Einzug halten ?“ „ Da gibt es doch nichts zu denken“, sage ich verblüfft. „Natürlich unsere Soldaten.“ Marcel zeichnet mit einem Stock rätselhafte Figuren in den Sand. „ Und du, Berthe ?“ „Das ist mich ziemlich gleichgültig“, entgegnet die unbefangen. „ Die Hauptsache ist doch, daß der Krieg dann zu Ende ist. Von mich aus sollen Deutsche und Franzosen nebeneinander hier einziehen, ja, das wäre das allerbeste." „ Gott sei Dank denken nicht alle Menschen so wie du“, lacht der Junge. Aber es ist kein gutes Lachen. Etwas Verächtliches liegt darin. Langsam wird mir der Sinn seiner Frage klar. Also immer noch trägt er sich mit dieſem törichten Gedanken: daß Mez und somit Elsaß-Lothringen wieder französisch werden soll!
Ich mag nicht mehr mit ihm darüber streiten. Der Ausgang dieses Krieges wird ihm schon beweisen, wie sehr er fich geirrt hat. 87
Trogdem ist es meine Pflicht, ihm zu sagen, wie ich als deutsches Mädchen denke. „Wenn ich mir den Frieden ausmale, ſehe ich natürlich nur einen ſiegreichen Frieden für uns Deutſche“, ſage ich ruhig. „ Eine andere Möglichkeit gibt es einfach nicht. Es ist unseren Feinden in diesen vier Jahren nicht gelungen, uns unterzukriegen. Unsere Feldgrauen werden auch weiterhin ſiegen und immer wieder ſiegen und keinen Fußbreit deutſcher Erde in die Hände unſerer Feinde fallen laſſen. Einmal werden sie doch einsehen, daß wir Deutſchen einfach 66 nicht zu bezwingen ſind. Und dann . . . Ich kann nicht mehr weiterreden. Berthe unterbricht mich : „Hör doch mal : ist das nicht die Mutte?" Dröhnende Glockenſchläge aus der Stadt. Weithin hallt das Geläute der Rieſenglocke aus dem Mezer Dom. Schon hasten die Menſchen nach der Stadt, dem Paradeplatz zu. „ Ein Sieg!" ,,Kommt ihr mit in die Stadt?" ,,Natürlich, Jeanne !" „Ja doch! “ Das ist Marcel. Während wir im Laufſchritt über die Esplanade eilen, ich immer um ein paar Meter den beiden anderen voraus, kann ich nur eines denken :
く
O Deutschland ! O zeig es ihnen doch, denen, die immer noch nicht an deine Größe, deine Macht und Herrlichkeit glauben wollen ! Führe dieſen Krieg ſiegreich zu Ende, mein stolzes deutſches Vaterland ! Auf dem Paradeplak ſtehen ſie Schulter an Schulter. Der Bürgermeister hält vom Balkon des Stadthauses eine Ansprache, von der man leider kaum etwas versteht. Zu mächtig ist der Glockenklang aus der Kathedrale. ,,Sechzehnhundert Gefangene, achtundvierzig Maschinengewehre!" Ein neuer Sieg. Mit einem Hoch auf den Kaiſer, auf Deutschland schließt der Bürgermeister ſeine Rede. Fast gleichzeitig beginnt die Menge das Deutſchlandlied zu singen.
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Mir ist die Kehle wie zugeschnürt, keinen Ton bringe ich heraus. So viele Siegesfeiern hab' ich schon miterlebt. Es ist ja immer das gleiche : die Mutte läutet, Rede des Bürgermeiſters, Hoch auf den Kaiſer, Deutſchlandlied. Heute aber hat das alles einen ganz neuen, tiefen Sinn bekommen : Wir fühlen alle, daß es nicht mehr sehr lange dauern wird. Daß vielleicht nur noch wenige dieser Siege fehlen, um diesen Krieg zu einem endgültigen, ruhmreichen Ende für uns zu führen. Daß es jetzt mehr denn je heißt : alle Kräfte anspannen. Es geht um Deutschland. Es geht um die Heimat. Die Worte auf dem Sockel des Feldgrauendenkmals haben jezt mehr denn je Bedeutung: UNSERE HERZEN ZU GOTT UND UNSERE FÄUSTE AUF DEN FEIND EISERN SEI DER WILLE ZUM SIEG. ,,Mutter, wieder ein Sieg!" Mutter sigt mit einer Näharbeit am Fenster, als ich - atemlos noch vom schnellen Laufen - in das Zimmer ſtürme. - ach, ich weiß nicht „ Sechzehnhundert Gefangene und - ach, Mutter, ich mehr, wieviel Maschinengewehre freu' mich ja so!“ „ Ia doch, Jeanne, ich hab' die Mutte ja auch gehört. Aber wo warst du denn so lange? Du mußt jezt gleich zum Bäcker, die Brotkarten verfallen ſonſt!“ Ziemlich ernüchtert nehme ich Geld und Brotkarten in
Empfang und mache mich wieder auf den Weg. Daß eine große Freude immer nur so kurz anhält. Daß ihr die Ernüchterung immer gleich auf dem Fuß folgen muß. Traurig ist das. In der Bäckerei besprechen die Frauen das Ereignis. „Ist ja sehr schön, daß wir wieder mal gesiegt haben", sagt die dicke Frau Schneider zu der Bäckerin. „ Aber mehr zu essen haben wir troßdem nicht.“ 89
„ Wenn man die Frontsoldaten hört, ſieht es da draußen gar nicht so rosig aus, wie man annimmt“, meint die Bädersfrau . „ Aber ich will nichts gesagt haben. Bertrand, zweieinhalb Pfund.“
Frau
Ich beeile mich, aus dem Laden zu kommen. „Wenn nur alles mal vorüber wäre, ſo oder so“, höre ich noch im Fortgehen. Dumme Weiber ! Die reden ja alle wie Onkel Theo. Onkel Theo! Auch ein Frontsoldat. Wie nun, wenn alle so denken? Wenn unsere Soldaten nicht mehr wollen, was dann ? Wird Marcel dann nicht
recht behalten? Wenn der deutsche Soldat kämpft, sind wir verloren.
nicht mehr
Ich muß morgen Fräulein Winter fragen. Unbedingt. Wenn der Krieg - wenn wir Deutschen den Krieg ver-
was dann ? Wenn die Franzosen Met erobern, lieren uns alle zu Gefangenen machen, uns vielleicht sogar töten? Oh, ich will gern sterben, lieber sterben, als diese Schmach erleben. Eine Woche später mußte Onkel Theo wieder an die Front. Seine Hoffnung, daß der Krieg vielleicht noch vor Ablauf seiner Urlaubszeit zu Ende sei, hatte sich nicht erfüllt. Er kam am Tag vor der Abreise noch einmal zu uns, um sich zu verabschieden. Mutter weinte ein wenig, schenkte ihm zwei Paar Socken und ein Päckchen Tabak.
,,Na, hoffentlich kommst du bald wieder, und dann für immer", sagte fte. Theo brummte etwas Unverständliches. Bat uns zum Schluß, seine Frau hin und wieder zu besuchen. Sie ſize ja so gottverlassen in St. Julien, wenn er fort ſei. Von Suzanne wurde kein Wort geredet. Mir schenkte er einen Groschen. „ Also , denn rin ins Vergnügen“, sagte er zum Abſchied. ,,Vielleicht hat das teure Vaterland doch noch zum Schluß
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eine Kugel für mich reſerviert. Anna gäb' ’ ne ſchöne Kriegerswitwe. Na, um mich heult keiner, wenn ich falle." * " Armer Kerl“, sagt Mutter, als er gegangen iſt. Wir stehen am Fenster und ſehen ihm nach, bis ſeine hagere, gebeugte ſchwunden ist.
Gestalt
an
der
Straßenbiegung
ver-
Nein, es sieht noch nicht nach Frieden aus in Met. Nach wie vor besuchen uns die Flieger. Tag und Nacht rasen ) die Abwehrgeschosse gen Himmel. Das Dröhnen der Geſchüße von der Westfront scheint immer näher zu rücken. Hin und wieder tauchen Gerüchte auf, daß der Feind unſere Truppen mehr und mehr zurückdränge. Ja, die franzöſiſch gesinnte Bevölkerung iſt der Meinung, daß die Franzosen jezt schon unmittelbar vor der Stadt lägen. Dem widersprechen die Zeitungsmeldungen, die nach wie vor von deutschen Siegen sprechen. Wem soll man noch Glauben schenken, wem? * Neuerdings machen sich sogar die amerikaniſchen Damen ein Vergnügen daraus, die Stadt Mez zu bombardieren. Berthe kommt eines Tages aufgeregt zu uns gelaufen und berichtet, auf dem Paradeplay ſei ein abgeschossenes amerikanisches Bombenflugzeug zu sehen ; dabei stünde eine Frau in Uniform. Wie durch ein Wunder sei sie unverlegt geblieben. ― Ich lief mit Berthe nach dem Paradeplay und sah sie mit eigenen Augen : eine Frau, die es vermochte, auf wehrlose Frauen und Kinder Bomben abzuwerfen . Ganz ruhig und gleichmütig ſtand ſie in einem gelben Soldatenmantel neben dem zertrümmerten Flugzeug, ließ sich von den Leuten anſtarren und photographieren. Daß die sich auch gar nicht ein bißchen schämte, daß sie feine Angst hatte, von den Mezern in Stücke geriſſen zu werden !
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Wenn ſie Deutſch verſtanden hätte, wäre ihr doch vielleicht unbehaglich geworden unter den Bemerkungen, die um fie fielen. Die Leute waren schrecklich aufgeregt und ſagten, ſo eine ſei das Erſchießen nicht mal wert. Aus der gehöre Hackfleisch gemacht. ,,Nicht genug, daß eine Welt von Männern gegen uns kämpft“, sagt ein alter Herr. „ Nun müſſen ſie auch noch ihre Weiber auf uns hetzen !" „ Zu denken, daß so eine vielleicht selbst Mutter ist und nicht davor zurückschreckt, Frauen und Kinder umbringen zu wollen!" Das sagt eine Frau. „Alles nur Rekordsucht, nur Wichtigtuerei von den hysterischen Frauenzimmern !“ „ Eine Deutsche wäre solcher Gemeinheit nicht fähig !“
* Berthe und ich waren sehr bedrückt, als wir ſpäter nach Hause gingen. Sie meinte zwar, es ſei man könne sagen, was man wolle - doch tapfer von einer Frau, wenn sie aus lauter
Patriotismus wie ein Mann in den Krieg zöge. „ Ich glaube, du biſt verrückt“, ſchrie ich sie an. „ Nennſt du das in den Krieg ziehen, wenn das Weib da heimtückisch Bomben auf eine wehrlose Zivilbevölkerung wirft ? Hätte fie nicht Mitleid mit den Mezer Kindern wenigstens haben müſſen ?" Berthe entgegnet, sie verstünde zwar nichts davon ; aber ihr Papa habe gesagt, Mitleid habe im Krieg nichts zu suchen. „ Man wird doch auch nicht mitleidig gegen ihr sein, Jeannie. Glaubſt du nicht, daß die Deutſche sie erschießen ?“ „Hoffentlich tun sie das", gebe ich inbrünstig zurück.
* Aber sie ist doch nicht erschossen worden, nur gefangengenommen. So hört man wenigstens. Und da behauptet man, die Deutschen seien Barbaren!
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Sie find eher dumm, denn solche Weichherzigkeit kann man wirklich nicht mehr anders bezeichnen . Aber das sind meine eigenen Gedanken und gehen keinen Menschen etwas an. Ich möchte Gouverneur von Met sein!!
9. November 1918. Mittags, als wir aus der Schule kamen, ſahen wir ein seltsames Schauspiel in der Stadt. Ein Trupp Soldaten zog uns entgegen, rote Blumen am Waffenrock tragend, die Epauletten abgeriſſen. Sie ſangen und johlten. Das Lied hatten wir vorher nie gehört : „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht !" flang der Refrain aus. „ Nieder mit dem Krieg !" brüllte irgendeiner. Soll das heißen, daß jezt Friede ist? Friede? Vor der Bayernkaserne ein Menschenauflauf. Wir drängen uns vor, versuchen, aus den Gesprächen der Erwachsenen etwas aufzuschnappen. Alle schreien und johlen durcheinander. Und immer wieder hört man : „Nieder mit dem Krieg ! -- Es lebe die Internationale !“ „ Du, schau mal, die Soldaten da oben ! “ Berthe zeigt nach den Fenstern der Kaserne. Jedes Fenster ist mit Soldaten besetzt. Die winken und rufen den Untenstehenden aufgeregt zu. Jetzt schleppen sie Gewehre, Seitengewehre, Koppeln und anderes Rüstzeug herbei und werfen es in den Hof. ,,Weg mit dem Mist, die Menschenschlachterei ist zu Ende!" ruft ein Soldat. Die Leute lachen und klatschen Beifall. Einige beginnen wieder das Lied von der Internationale anzuſtimmen. Immer neue Wurfgeschosse bringen die Soldaten an. Jett fliegen Konſervenbüchsen, Kommißbrote, Feldflaschen in den Hof. 93
„Da sieht man, was da drinnen alles aufgestapelt war, und wir hatten nichts zu freſſen !“
„Her mit dem Zeug !" „Holt es euch doch! “ Im Nu stürmt die Menge in den Kasernenhof. Schreiend balgen sie sich um die Konserven. „Wollen wir auch hinein ? “ fragt Berthe, die ewig Hungrige. „ Um Gottes willen ! " Wir halten sie zurück. „ Komm, Berthe, wir gehen lieber nach Hause.“ Die ganze Stadt ist in Aufruhr. Vor den Häusern stehen die Leute aufgeregt zusammen, sehen die Feldgrauen truppweise durch die Straßen ziehen, singend, lärmend, als seien sie alle betrunken. Fast alle tragen rote Schleifen oder Blumen. Ist das Frieden ? Wo bleibt das Geläut der Glocken, wo bleibt die feierliche Festesfreude der Menschen ? Sieht es nicht viel eher aus, als ſei hier ein neuer Krieg ausgebrochen ? Ist der Krieg denn wirklich, wirklich zu Ende? „Revolution!" Mit einemmal ist das Wort da. Wer es ausgesprochen hat, weiß niemand. Gegen wen richtet sich wohl so eine Revolution ?
Gegen die Franzosen? „ Mutter, wir haben jezt keinen Krieg mehr, wir haben Revolution!" rufe ich noch auf der Treppe. Mutter empfängt mich mit verweinten Augen. „Ja, Jeanne, jezt haben wir den Krieg verloren“, sagt sie. ,,Verloren ? Ach wo, Mutter. Das ... das gibt es ja gar nicht. Willst du mir nicht mal sagen, was das alles bedeutet?" Ich bin auf einen Stuhl gesunken, lauſche angſtvoll auf den Lärm der Straße, der nur gedämpft in unsere Wohnung dringt. „ Ia, was soll ich dir erklären, Kind ? Unſere Soldaten wollen einfach nicht mehr kämpfen, siehst du . Ich hörte 94
vorhin, daß ſchon ſeit längerer Zeit Waffenstilstandsverhandlungen im Gange waren. Aus den Zeitungen erfuhr man ja nie die Wahrheit. Und nun scheinen die Soldaten einfach die Waffen niedergelegt zu haben. Was nun kommen wird, weiß keiner. Nur, daß Deutschland den Krieg verloren hat, ist gewiß." „Und was wird aus uns, aus Met, Mutter ?"
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„Das weiß niemand, darüber wird wahrscheinlich noch verhandelt. Vielleicht erfahren wir heute noch Näheres darüber. ― Jetzt komm aber und iß, Kind. Und lauf mir nicht ſo viel auf den Straßen herum heute, hörst du ?“ Während ich eſſe, kann ich es nicht hindern, daß mir die Tränen unaufhaltsam in die Suppe tropfen. Also haben Marcel und die übrigen Franzosen doch recht behalten! „Herr Bardinet hat gesagt, jezt kommen die Franzosen nach Mez", sagt Kurt. ,,Machen die uns alle tot, Mama?“ Mutter und ich wechseln einen Blick. „Ich glaube nicht, daß die Franzosen kommen “, meint Mutter. „ Das ist sicher nur leeres Geschwät. Wenigstens haben wir jetzt vor den Fliegern Ruhe." Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Ach, von mir aus könnten die Flieger wieder kommen und die ganze Stadt dem Erdboden gleichmachen. Besser noch das, Schmach zu erleben, Deutschland besiegt zu sehen.
als
die
„Aber wir sind ja gar nicht bestegt worden, Mutter ! " rufe ich plöglich so laut, daß ich vor dem Klang meiner eigenen Stimme erschrecke. „ Nicht besiegt, nur ausgehungert, kriegsmüde find wir“, entgegnet fte. * Gleich nach Tiſch laufe ich zu den Olrys. Ich muß doch sehen, wie die Franzöſiſch-Lothringer über das alles denken. Bei Olrys herrscht gehobene Stimmung. Sie ſizen um den runden Tisch im Wohnzimmer, eine Flasche Mirabel 95
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kreist von einem zum anderen. Vater Olry ſcheint leicht betrunken zu sein. „ Ah, die kleine Martin!" ruft er mir entgegen. „ Komm, Kind, gib dem Onkel einen Kuß. Yvonne, ein Glas für das Mädchen." Es sind noch einige Nachbarn im Zimmer. Die Unterhaltung wird in franzöſiſcher Sprache geführt. Berthe scheint sich zu langweilen. „Wollen wir ein bißchen auf die Straße ? “ schlägt sie vor. „ Ja, geht nur, mes enfants, heute gibt es allerhand zu ſehen und zu hören“, lacht Herr Olry. „ Ießt ſind die Zeiten von Monsieur Guillaume und Genoſſen endgültig vorbei. Vive la révolution allemande!" Berthe und ich schieben uns durch das Menschengewühl in der Stadt. Auf dem Stadthaus sei eine rote Fahne angebracht, heißt es. Das müſſen wir sehen. Aber schon in der Römerstraße vergessen wir unser Vorhaben. Dort hören wir uns die Rede eines Matrosen an, die uns im Moment weit intereſſanter erscheint als der Anblic einer roten Fahne. Der Matrose siht auf den Schultern zweier Kameraden. Er hat sich schon heiser geſchrien, als wir hinzutreten. Immerhin macht seine Rede einen großen Eindruck auf die Zuhörer. Sie applaudieren nach jedem Saz, schreien „ hoch“ und „ nieder“ oder auch „ pfui “, je nach dem Sinn seiner Worte. ""„Genossen !“ schreit der Matrose, hochrot im Gesicht. „ Kein ehrlicher Mensch gibt sich heute noch dazu her, im Namen des Vaterlandes andere Menschen hinzumorden ! Unser Kampf geht von jezt an nicht mehr gegen Franzosen oder Engländer oder Amerikaner — nein, wir müſſen den Feind im eigenen Land bekämpfen. Jawohl, das müſſen wir ! Reiht euch ein in die rote Armee, in die Armee der Unterdrückten und Ausgebeuteten ! Jagt die Schweine zum Teufel, die euch in diesen Krieg gehezt haben ! Reißt ihnen die 96
Achselklappen herunter, haut ihnen eins in die Freſſe, wenn fie euch frech tommen!" ,,Nieder, nieder!" brüllen die Zuhörer. „Brauchen wir noch einen Kaiser, brauchen wir noch Generale, die sich auf unsere Kosten sattfressen und sich die Wänſte mit Ordenszeichen behängen ?“ „Nieder, nieder !" brüllt der Chor. „ Nieder!“ höre ich Berthes dünne Stimme neben mir. „ Bist du verrückt ? " fahre ich sie an. „ Warum ſchreiſt du denn so?" „Die andere schreien doch auch", gibt sie zur Antwort. „ Ich hab' früher auch hurra geruft mit euch. Laß mich doch in Ruh!" Und da jetzt wieder ein Hoch auf die Internationale angestimmt wird, bricht auch Berthe in begeisterte Hochrufe aus. Ich verstehe so etwas nicht. Denkt dieses Mädchen denn nicht ein bißchen ? Der Matrose hat seine Rede - die uns zum Schluß lang= - zu weilte, weil sie immer die gleichen Pointen brachte Ende geführt. Die Leute tragen ihn auf den Schultern durch die Straße. Wir stehen und ſehen ihnen nach, bis sie verschwunden sind. „Weißt du was, wir gehen jezt heim, Kaffee trinken“, schlägt Berthe vor. „ Mein Papa ist heut gut gelaunt, vielleicht schenkt er uns Geld für Lakrizenstangen.“ ,,Sag mal, Berthe, wie alt bist du eigentlich ?“ frage ich bekümmert. „ Dreizehneinhalb, das weißt du doch!“ ,,Du benimmst dich aber wie ein dreijähriges Kind. Hast du an einem solchen Tag wirklich keine anderen Gedanken im Kopf als Lakrizenſtangen und ſolchen Kram ?“ „Was ist denn schon los ? Weil die ein bißchen Spektakel machen in die Stadt ? Ach, Jeanne, das ist doch immer noch besser als Fliegerbomben. Jezt kann uns wenigstens nig 4 Der Weg in die Heimat
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mehr paſſieren. Und sicher gibt es auch bald wieder anständiges Eſſen.“ Ich gebe den Verſuch auf, dieſes Mädchen in eine ernſte Unterhaltung zu ziehen. Wie mag es wohl Marcel heute zumute sein? Ich bin froh, daß ich ihn noch nicht geſehen habe. Er triumphiert sicher über unsere Niederlage und wird sich wahrscheinlich ſehr anmaßend benehmen, wenn er mich trifft. Bei Olrys ſcheint die gemütliche Stimmung ihren Höhepunkt erreicht zu haben, als wir zur Kaffeeſtunde dort eintreten. Ein halbes Dugend Menschen sigt im Zimmer, ebenso viele leere Wein- und Schnapsflaschen stehen auf dem Tisch. „ Ah, da ſeid ihr, Kinder !" empfängt uns Berthes Vater mit etwas unsicherer Stimme. „ Komm an mein Herz, Berthe. Ich danke Gott, der mich diesen Tag erleben ließ. Vergiß nicht, einige Meſſen leſen zu laſſen, Yvonne. Küß mich, mein Kind. — Ah, wen haſt du denn da mitgebracht? Sieh da, die kleine Martin. Der kleine Pruſſien. Na, Vater Olry tut dir nichts, wenn mich auch deine braven Landsleute in den letzten Jahren reichlich schikaniert haben. Père Olry iſt nicht nachtragend, am wenigſten ſo einem hübſchen kleinen Mädchen gegenüber. Aber es gibt so gewiſſe Herrschaften hier in Mek, mit denen rechnet Père Olry noch ab! Brauchst nicht von mir abzurücken, mein Kind, du biſt nicht gemeint und dein Herr Papa auch nicht. Wenn ihr euch anständig benehmt, könnt ihr von mir aus auch in Mek bleiben, obwohl ihr von Rechts wegen nichts mehr hier zu suchen habt. Wir wollen euch dulden in Frankreich, wenn ihr hübsch brav ſeid und das Maul nicht mehr so weit aufreißt wie früher ! Oh, Père Olry iſt ..." Was er ist, erfahren wir nicht mehr. Er ist mir während ſeiner Rede bedrohlich nähergerückt, ſein heißer, weinduftender Atem streifte mein Gesicht. Ich war bis an die Wand zurückgewichen, hatte hilfeſuchend um mich geblickt. Die Leute im Zimmer aber lachten vergnügt, blieben ruhig
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auf ihren Plägen und ſchienen das Ganze für einen gelungenen Scherz zu halten. Ich hatte den Betrunkenen ſchließlich mit beiden Händen von mir gestoßen. Er mußte schon sehr unsicher auf den Füßen ſein, daß er durch meinen leichten Stoß zurücktaumelte und in einen Seſſel fiel. Da lag er mit schlaff herunterhängenden Armen und lallte : „Prussiens - sales Prussiens -- Großmäuler ...“ Und plöglich, wieder auffahrend : „Yvonne, gib mir zu trinken ! Vive la France ! Vive Poinvive ..." caré ! Vive Wieder plumpſt er ſchwer zurück. Er murmelt noch etwas von sales Prussiens und einem Polizeiwachtmeiſter, mit dem er abrechnen wolle. Dann sinkt sein Kopf vornüber. Er ist eingeschlafen. Berthe die ihren Vater in betrunkenem Zuſtand über alles fürchtet hat die ganze Zeit reglos in der Nähe der Tür gestanden. Jezt atmet sie tief auf, tritt auf mich zu, nimmt mich bei der Hand. ,,Jetzt schläft das alte Schwein. Jezt brauchst du nichts mehr zu fürchten, Jeannie. Wenn er dir angerührt hätte, wär' ich ihm an der Kehle gesprungen!" Berthes große Augen sind verdunkelt von Haß. Madame Olry hat stillschweigend das Zimmer verlaſſen. „Komm, Jeannie, wir gehen in der Küche, hier stinkt es zu sehr", sagt Berthe. „Einen Moment mal ! " Der junge André, ein rothaariger, langaufgeschossener Bursche, stellt sich uns in den Weg. ,,Du bist doch die Kleine, die meinen Vater mal ‚Franzoſenkopp' genannt hat, hein? Stell dich nur nicht dumm, ich kenne dich genau !“ Er packt mich an den Schultern und zieht mich dicht zu sich heran. „Laß sie in Ruh, du Schwein !" Berthe bearbeitet ihn verzweifelt mit den Fäusten. Ich fürchte mich nicht sonderlich. Der Bengel iſt ja ſchwer betrunken und weiß nicht mehr, was er redet.
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„Warum hast du meinen Vater beleidigt, sale Prussien?" ,,Weil Ihr Vater freche Bemerkungen über unsere deutschen Soldaten gemacht hat, wenn Sie es wiſſen wollen“, gebe ich empört zurück. „ Weil er unsere Feldgrauen Feiglinge genannt hat und behauptete, alle Siegesmeldungen ſeien erlogen. Das konnte ich mir als deutsches Mädchen nicht gefallen laſſen ! Und jezt laſſen Sie mich los, ſonſt schrei ich!" Hilfesuchend blicke ich um mich. Kommt mir denn niemand zu Hilfe ? Wie vorhin, als der alte Olry sich mir näherte, ſizen sie auch jetzt völlig unbeteiligt, ja, ich glaube aus ihren Mienen schadenfrohes Lächeln herauszulesen. ,,Ja, schrei nur, wenn du willst", höhnt Maurice André.
„Das nüßt dir jezt nichts mehr. Du mußt dich daran gewöhnen, daß du hier in Frankreich bist. Ihr habt jetzt das Maul zu halten, ihr ..." Maurice schreit auf und faßt sich an die Schulter. Berthe hat ihn von rückwärts angefallen und gebiſſen. Ich benüße die Gelegenheit, um rasch aus dem Zimmer zu verschwinden. Im Hausgang höre ich Maurice noch ſchreien und zetern. Jezt geht es über Berthe her . . . „Madame Olry !“ Ich stürze in die Küche. „ Der verhaut Ihre Berthe ! Gehen Sie rasch hinein !“ Da poltert schon ein Stuhl nebenan, die Tür wird aufgerissen, Berthe stürzt heraus, hinter ihr mit erhobener Faust Maurice André. „Kanaille du , ich werde dir helfen, mich zu beißen!" feucht er. „ Du hast es nötig, die Boches in Schuß zu nehmen !“ Frau Olry wirft sich zwischen den Rasenden und das Mädchen. Eine Flut französischer Schimpfworte ergießt sich auf beiden Seiten. In der geöffneten Wohnzimmertür stehen Olrys Gäſte und sehen intereſſiert dem Ausgang des Kampfes zu .
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Noch auf der Straße höre ich Madame Olrys keifende Stimme. Wie betäubt bleibe ich einen Augenblick stehen. Ist denn die ganze Welt verrückt heute? Deutsche, Franzosen, Revolutionäre — einer scheint heute den anderen zu haſſen. „Völker, hört die Signale, auf zum letzten Gefecht, die Internationale erkämpft das Menschenrecht!" ſingen rauhe Männerſtimmen irgendwo in der Nachbarschaft. Noch ist Mez deutsch. Noch fingen sie deutsche Lieder. Wenn auch der Sinn dieser Lieder himmelweit verschieden ist von denen, die wir noch vor wenigen Tagen sangen. ** „Noch ist Met deutsch“, meint auch Mutter, als ich ihr berichtet habe, was sich bei Olrys zugetragen hat. „Aber trotzdem müſſen wir von jezt an etwas vorsichtiger ſein, wenn wir mit Franzosen reden. Man kann nie wiſſen, was uns die nächsten Tage für Überraschungen bringen.“ Spätnachmittags bin ich Augenzeugin eines Vorgangs, der in seiner Gemeinheit und Roheit die Szene bei den Olrys durchaus in den Schatten ſtellt. In der Bankstraße begegnet mir ein General. Ein alter, weißhaariger Herr. Er geht langsam, scheinbar in Gedanken versunken, die Straße hinunter. Ich habe eine Besorgung in der Stadt zu machen und gehe in gleicher Richtung, ein paar Schritte hinter ihm her. Ein Trupp Soldaten kommt uns entgegen. Es ſind auch mehrere Zivilisten unter ihnen, die rote Blumen im Knopfloch tragen. Der General ist stehengeblieben, sieht sie — wie es scheint - etwas verwundert an. Auch ich verlangsame meine Schritte. Ich bin neugierig, ob die Soldaten ihn wohl grüßen. Jezt sind sie ganz nahe herangekommen. Plöglich löſt ſich 101
einer aus der ersten Reihe, weist mit dem Finger auf den alten Herrn und ruft: „ Seht mal, das Schwein hat seinen Degen noch!“ Sofort haben sie den General umzingelt. Ich stehe dicht neben ihm, an die Häuſerwand gedrückt. „ Gib den Degen her, ſofort! “ fordert der Anführer der Bande. Es ist ein großer, stämmiger Mann mit schwarzem Schnauzbart. Der General hat sich verfärbt. Er steht, ohne sich zu
rühren, ſieht den Männern ſtarr ins Gesicht. „ Die Achselklappen herunter!" „Reißt ihm die Fezen vom Leib ! “ „Haut dem Affen doch eins in die Freſſe!“ Was jest folgte, vollzog sich so blizschnell, daß ich, unfähig mich zu rühren, den Mund erst zum Schreien öffnen konnte, als die Horde sich verzogen hatte. Der Schwarzbärtige schlug den General mit der Faust ins Gesicht. Gleichzeitig riſſen vier, sechs Hände ihm die Orden, die Achselklappen vom Waffenrock. Ein anderer griff nach dem Degen, riß ihn aus der Scheide, hieb ihn dem alten Herrn zwei-, dreimal über den Kopf. Der ſank lautlos, mit blutüberströmtem Gesicht, zu Boden. Johlend zogen die Männer weiter, die erbeuteten Stücke triumphierend in den Händen ſchwingend . Mit den Orden hatten sie ganze Stoffeßen aus der Uniform des Generals geriſſen .... .
,,In der Wachtstraße haben sie einen Offizier mit der Reitpeitsche ins Gesicht geschlagen, weil er sich weigerte, ſeinen Degen abzuliefern“, erzählte Suzanne am Abend desselben Tages. „ Der Soldatenrat hat alle öffentlichen Gebäude besetzt. - Auf den Plägen vor den Kasernen liegen die Waffen, die sie aus den Fenstern geworfen haben." „Ich erfuhr eben, daß sie die Proviantmagazine geſtürmt haben", sagt Mutter. „ Die Leute schlagen sich um die
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Lebensmittel. Es geht wahrhaftig schlimmer zu als während des Krieges." Ich liege in dieser Nacht noch lange wach, ohne Schlaf zu finden. Das Bild des alten Generals, sein blutiges, entstelltes Gesicht stehen mir überdeutlich vor Augen. Aus jeder Zimmerede grinſt es mich an, langſam ſickert das Blut ihm über die Wangen, verfängt sich in dem weißen Bart. Zitternd fauere ich mich tiefer unter die Dede. Der Angstschweiß steht mir auf der Stirn. Dann noch lieber Krieg. Dann noch lieber einen Kampf, der sich gegen andere Völker richtet. Natürlich ist es den Franzosen nur recht, wenn jezt ein Deutscher den anderen haßt. Mir graut vor morgen, vor der Schule, vor der Straße. Ich sehe die ſtillvergnügten, triumphierenden Mienen der Franzosen deutlich vor mir. So stolz war ich immer, ein deutsches Mädchen zu sein. Jezt schäme ich mich fast, zu einem Volk zu gehören, deſſen Soldaten einen alten Mann blutig schlagen, weil er die Generalsuniform trägt.
Wenige Tage nur herrschten die Roten in Met. Die unsinnigsten Gerüchte kursierten in der Stadt. Es hieß, die Franzosen hätten ein Ultimatum gestellt, daß sie Met dem Erdboden gleichmachen wollten, wenn die Deutſchen nicht innerhalb weniger Stunden die Stadt geräumt hätten. Rings im Umkreis seien die Geschütze auf Met gerichtet. Dann, am 11. November, erfahren wir es endgültig : Der Krieg ist zu Ende. Der Waffenstillstand ist im Wald von Compiègne unterzeichnet worden. Die Franzosen aber werden in den nächsten Tagen in Elsaß-Lothringen ihren Einzug halten.
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Am 11. November ist an der Westfront der letzte Schuß gefallen. Die Stadt ist überschwemmt von feldgrauen Soldaten, die jetzt scharenweise von der Front zurückkommen. Stündlich laufen Züge aus dem Westen ein, Tag und Nacht marschieren Truppen aller Waffengattungen durch die Straßen. Viele tragen rote Blumen und sagen, jetzt beginne ein neues Leben in Deutſchland. Andere - und das ist die Mehrzahl - find still und
gedrückt und meinen, was jezt käme, ſei nicht viel beſſer als der Schüßengraben. Es ist ein müdes, enttäuschtes Heer, das geschlagen und ausgehungert seinen Einzug in der Heimat hält. Kein froher Empfang wartet auf sie, keine Blumen, kein Glockenläuten. Wir haben ein paar Mann in unserer Wohnung aufgenommen, ihnen ein Nachtquartier bereitet. Morgen fahren sie weiter, nach Deutschland . Mit Erstaunen hören wir von ihnen, daß der Waffenstillstand sie förmlich überrascht habe. Sie dachten nicht daran, die Waffen niederzulegen. ,,Wir hätten gern weitergemacht“, berichtet einer. „Plöklich kam die Nachricht, der Kaiser sei nach Holland geflohen. In Deutschland sei die Revolution ausgebrochen, das Volk wolle keinen Krieg mehr. Da erst stellten wir das Schießen ein. Ich kann es jetzt noch nicht recht glauben." „ Und ihr Elsaß-Lothringer kommt jezt unter Franzosenherrschaft“, sagt ein anderer. „ Ob ihr Deutschen dann wohl noch hier bleiben könnt ? Vielleicht müßt ihr alle Franzosen werden?" ,,Niemals !" entgegnet Mutter. Ich warte vorerst mal ab, bis mein Mann aus Belgien zurückkommt. Inzwischen werden wir schon erfahren haben, was aus uns wird.“
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Unser Kaiser ist also nach Holland geflohen. Wir bekommen es täglich von den Franzosen zu hören, daß „ Guigui“ ein Feigling ſei. Ich machte mir meine eigenen Gedanken über den Fall. Gewiß hätte auch ich es großartiger und edler gefunden, wenn der Kaiſer den Roten das Feld nicht so leicht geräumt hätte und als Held für sein Vaterland gefallen wäre. Andererseits vergegenwärtigte ich mir immer wieder die blutige Szene in der Bankſtraße. Vielleicht wären die Roten mit dem Kaiſer ähnlich oder vielleicht noch viel schlimmer verfahren. „Kein Mensch läßt sich gern umbringen“, äußerte Berthe, mit der ich über des Kaisers Flucht sprach. „Ich hätte genau so gehandelt. Du vielleicht nicht, Jeannie?" Ich sah stumm zu Boden und entgegnete nichts.
Berthe Olry ist die einzige, die ihr Benehmen mir gegenüber seit dem Kriegsende nicht geändert hat. Die Französisch-Lothringerinnen in der Schule begegnen uns deutschen Mädels in den letzten Tagen mit offenem Hohn. Andere wieder übersehen uns einfach. * Oft kommt mir dies alles wie ein böser Traum vor. Der graue, regenverhangene Novemberhimmel. Das monotone, endlose Geräusch der Marschtritte auf den Straßen. Tag und Nacht bewegen sich endlose, graue Schlangen auf den Landstraßen nach Deutſchland. Solche Unmaſſen Feldgrauer hat Mek noch nie gesehen. Immer neue Truppenzüge laufen auf dem Bahnhof ein. Am 14. November muß der letzte deutsche Soldat die Stadt verlassen haben. Keine Lieder beim Marschieren. Die Französisch-Lothringer aber sehen mit höhnischen Mienen den Rückzug des geſchlagenen Feindes mit an.
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Wenn man nicht wüßte, daß es noch ein Deutſchland gibt, ein Land, in dem man denkt und fühlt wie wir, man könnte verzweifeln. Manchmal vermiſſen wir förmlich das Donnern der Geschütze aus dem Westen, die Fliegerangriffe, das Geheul der Sirenen. Wir ertrugen das alles freudig, weil wir hofften. Immer und immer wieder sagten wir uns, noch in den lezten Kriegswochen : und wir schaffen es doch! Wie siegesgewiß waren wir doch, wie wurde dieser feste Glauben immer wieder aufgerichtet und gestärkt durch Zeitungsmeldungen, durch Berichte unserer Frontsoldaten : Deutschland hält den Kampf gegen eine Welt durch. Deutschland wird diese Welt bezwingen ! Dann aber kamen ein paar graue Novembertage, brachten uns die Internationale und mit ihr die Gewißheit, daß Deutschland diesen Krieg verloren hat.
Onkel Theo kam am 13. November zurück. Er suchte uns noch abends auf, war rosigſter Laune, neckte sich mit uns Kindern, verließ uns schließlich, nachdem er sich von Mutter etwas Geld geliehen hatte. „ Das freudige Ereignis muß doch begossen werden“, schmunzelte er. „ Na, und ihr macht alle Gesichter, als trauertet ihr noch immer dem Krieg nach. Hat lange genug gedauert, die Schweinerei, meine ich." „Es gibt eben auch Menschen, die sich über dieſen Kriegsausgang nicht freuen können, Theo ! " sagt Mutter ruhig. Ach, weil wir verloren haben, meinst du ? Das kann uns doch gleichgültig sein. Der einfache Soldat war doch nur Kanonenfutter. Wir haben den Krieg doch nicht verloren, höchstens der Kaiſer und die Herrschaften. Und denen gönn' ich es." „ Und was aus uns wird hier in Lothringen, darüber denkst du wohl nicht nach?“ 106
„ Ja ..." Er frakt sich hinter dem Ohr. „ Wenn die Franzosen kommen, werden wir wohl wegmüſſen. Oder aber man muß sich naturaliſieren laſſen, wenn man bleiben will. Na, mir iſt's gleich, bei wem ich mein Brot verdiene. Bon soir, Madame ! Jezt muß man auf seine alten Tage noch eine fremde Sprache lernen, verflucht nochmal!“ Die Tür fällt hinter ihm ins Schloß. „Ist Onkel Theo auch ein Roter, Mama ? " frage ich. ,,Das glaube ich nicht, wie kommst du darauf?" „ Er würde ganz gut zu ihnen paſſen“, entgegne ich. * Am 14. November sizen Mutter und ich nachmittags am Fenster. Sie hört meine unregelmäßigen Verben ab. «Je vaincs, tu vaincs, il vainc, nous vainquons, vous vainquez ...>> leiere ich. Auf der Straße tönt Geſang. „ Sicher wieder die Roten“, meine ich und reiße das Fenster auf. Nein, es find ganz, ganz andere Menschen, die da fingend die Straße hinaufziehen. Schäbige, zerfekte blaue Uniformen. Französische Kriegsgefangene ! Die Fenster der Nachbarhäuser beleben sich im Nu. Gegenüber fällt Madame Maſſun ihrem Mann um den Hals, lacht und weint und gebärdet sich wie eine Verrückte. Als der Trupp unter unseren Fenstern vorbeizieht, reißt sie ein paar Aſtern aus einer Vaſe und wirft ſie auf die Straße. „ Sie haben die franzöſiſchen Kriegsgefangenen befreit“, ruft eine Nachbarin uns zu . Nachdenklich, bewegt sehen wir den Männern nach. ,,Was fingen sie denn, Mutter ?“ frage ich. „ Die Marseillaise. Ich habe das Lied vor dem Krieg ſchon einmal fingen hören.“
Eine tolle Freude hat sich der Leute in der Nachbarschaft bemächtigt.
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Monsieur Maſſun verſchwindet auf eine Zeit vom Fenster und kehrt mit einer großen blauweißroten Fahne zurüð. Die Tränen laufen ihm übers Gesicht, als er sie am Fenster befestigt. „ Jegt ist uns die Heimat endgültig verloren“, sagt Mutter. Nach der Internationale die Marseillaise, nach den roten Fahnen die Trikoloren ... diesen Tag werden wir beide wohl nie im Leben vergeſſen, was, Jeanne?“ * Am Abend dieses Tages flattern bereits zehn, zwölf Trikoloren in unserer Straße. Ich komme aus dem Erstaunen nicht mehr heraus, als ich sehe, daß aus vielen Fenstern, die vor kurzem noch bei jedem deutschen Sieg schwarzweißrot beflaggt waren, ſchon am Abend des 14. November die französische Trikolore flattert. Wo bekamen die Leute nur so schnell die Trikoloren her, da der Waffenstillstand erst vor drei Tagen abgeſchloſſen wurde? Später erfuhr ich, daß viele Einwohner unserer Stadt einfach von den deutschen Flaggen die schwarze Bahn abgetrennt und sie durch eine blaue ersetzt hatten. Dann wurde das Ganze mit der Fahnenstange parallel laufend angenäht und - fertig war die stolze Trikolore, bereit, zum baldigen Einzug der Franzosen gehißt zu werden. Daß dieselbe Flagge in etwas veränderter Form früher jeden Sieg der Deutschen mitfeiern half, störte das große Gemüt des jeweiligen Besizers nicht weiter. In unserer nächſten Nachbarschaft wohnte eine Familie Salli Stern, Öle und Fette en gros. Sie waren Badenſer, erst kurz vor dem Kriege in Metz eingewandert. Diese Familie hatte während des Krieges bei jeder nur möglichen Gelegenheit eine geradezu auffallend große schwarzweißrote Flagge gehißt. (Wenn man von ihrer Größe auf das Maß des Salli Sternschen Patriotismus Schlüsse hätte ziehen wollen 108
die Familie wäre ein leuchtendes Vorbild der Vaterlandsliebe gewesen ! ) Und siehe da ! Am Abend des 14, November flatterte eine Trikolore von so beträchtlichen Ausmaßen von Sterns Balkon, daß ich mich eines leisen Mißtrauens nicht erwehren konnte.
Und Mama erkannte denn die ehemalige deutsche Flagge auch endgültig an einem großen eingesezten Viereck in der weißen Bahn. Wohl den Menschen, die ihre Gesinnung mit solcher Elastizität wechseln können ! Sie sind zum mindesten die besseren Rechner gewesen.
Mutter machte mich in diesen Tagen ganz nervös mit ihren ewigen Ermahnungen zum Vorsichtigſein und den Mund halten. Sie hatte es gut, weil sie aus ihren vier Wänden kaum herauskam . Sie brauchte nicht täglich Beleidigungen und Spottreden über Deutschland mitanzuhören. In der Schule war es fast unerträglich. Früher hatten wir uns doch immer ganz leidlich vertragen. Es gab kaum einen Unterschied zwischen uns deutschen Mädels und den Französisch-Lothringerinnen. Kleine, harmlose Reibereien waren wohl an der Tagesordnung ... im allgemeinen aber herrschte freundliches Einverständnis zwischen uns Schülerinnen. Wir halfen den Französinnen bei den deutschen Aufsätzen, fie torrigierten unsere französische Aussprache. Mit einemmal änderte sich die Situation. Die Franzöſinnen sonderten sich merklich von uns ab, ließen deutlich durchblicken, daß wir fortan nur geduldet waren. Brachen in schwärmerische Lobreden auf das siegreiche Frankreich aus, sobald ein deutsches Mädel in Hörweite war, verliehen ihrer Gehäſſigkeit gegen die deutschen Barbaren überdeutlich Ausdruck. 109
Wir deutschen Mädels wiederum waren auch keine Engel. Wir verteidigten unser Vaterland, nannten die Franzosen Feiglinge, die uns nur mit Hilfe der Amerikaner besiegen konnten. ,,Besiegen, hach, besiegen !" schrie Liselotte Hagen. „ Wir ſind überhaupt nicht besiegt worden . Wenn dieſe dämlichen Revolutionäre nicht die Soldaten verhett hätten, wären unſere Truppen jezt längst in Paris !“ Entrüstungsgeschrei von ſeiten der Franzöſinnen. ,,Jawohl, Lilo hat recht“, fällt Hilde Engelhard ein. „ Das Volk möchte ich sehen, das sich rühmen könnte, Deutschland besiegt zu haben." Schallendes Hohngelächter antwortet ihr. „ Ihr werdet sie ja bald ſehen, die Sieger . . . dann vergeht euch das Prahlen . . . überhaupt gehört so eine ins 66 Gefängnis, die Frankreich beleidigt ... Der Eintritt des Lehrers erst unterbricht meist die Streitigfeiten. Nach beendeter Unterrichtsstunde wird der Kampf sofort wieder aufgenommen. Nicht selten enden diese Auftritte mit Schlägereien. Am 15. November betrete ich morgens die Klasse und sehe, daß die Französinnen sich nun auch räumlich von uns abgesondert haben. Sie haben sich alle zusammen in die ersten Bankreihen gesezt, sehen uns triumphierend und herausfordernd entgegen. Auf meinem Plaß in der ersten Bank ſißt die dicke Yvonne Bardinet. Mach mal Plak da", sage ich. Ich denke nicht daran, mich ohne weiteres vertreiben zu lassen . Yvonne stellt sich taub. Sie ſieht geflissentlich an mir vorüber, zum Fenster hinaus.
Ich bin den Eltern längst davongelaufen, habe einen günſtigen Standplay in der Nähe des Marschall-Ney-Denkmals eingenommen. Verwirrt, halb betäubt, wie einen sehr plaſtiſchen, klingenden Traum nehme ich dies alles in mir auf: Aus dem markerschütternden Schmettern der Clairons löst sich die Weise der Marseillaise. Begeistert fällt die Menge in das Lied ein. Jezt hat uns die Spize des Zuges erreicht. Der Marschall Pétain (der in lezter Minute für den verunglückten Mangin einſprang) reitet allen voran, auf einem schneeweißen Pferd. Ihm folgt ein glänzender, ordengeschmückter Generalstab. Dann Bannerträger mit den zerfekten Kriegsfahnen der Anblid löst wieder neues Jubelgeschrei aus. Vor dem Denkmal des Marschalls Ney macht der Zug > halt, die Offiziere verharren einen Augenblick mit gezoge. nem Degen, die Trikoloren neigen sich …… So grüßen sie den großen Landsmann, deſſen Standbild die Herrschaft der Deutſchen in diesem Lande überdauert hat. Eingeteilt zwischen den Zuschauern stehe ich, immer noch irgendwie traumbefangen. Flüchtig ist einmal der Gedanke in mir, daß dieser bronzene Marschall es legten Endes den deutschen Barbaren zu verdanken hat, wenn ihm
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heute von seinen Landsleuten diese jubelnden Ovationen dargebracht werden können. Keinem der Sieger, die 1871 hier ihren Einzug hielten, wäre es in den Sinn gekommen, ein französisches Denkmal zu stürzen. Man achtete und ehrte die Standbilder Neys und Faberts vielmehr als Kulturdokumente des geschlagenen Feindes. Wie die kulturbefliſſenen Franzosen an unſeren Denkmälern handelten, ist in diesem Buche schon beschrieben worden. Der Triumphzug hat nach der kurzen Unterbrechung seinen Marsch wieder aufgenommen, dem Stadtinnern zu. Da ziehen sie an uns vorüber, glänzend und gefeiert, unter dem Geläute der Glocken — da ziehen sie durch dieſelben Straßen, die vor wenigen Tagen noch unter den eisernen Schritten unserer Feldgrauen gedröhnt haben. Die Franzosen hatten verkündet, sie wollten ihren Einmarsch in dieses Land zu einem Triumphzug geſtalten, wie die Welt ihn seit den Tagen der alten Römer, seit dem Einzug des Titus in Rom nach der Unterwerfung Jeruſalems, nicht mehr erlebt habe. Ob Titus auch die halbe Welt zur Hilfe rufen mußte, um die Juden zu unterwerfen?
fühl des Ausgeſchloſſenſeins, des Losgelöstseins aus der Gemeinschaft der schaffenden Menschen ist das Schwerste. Ich glaube, daß ein Volk an der Arbeitslosigkeit zugrunde gehen kann. Eine Armee von Zermürbten, Freudlosen, Verbitterten erzeugt die Arbeitslosigkeit in unſerem Lande. Ein Heer, das von Tag zu Tag wächst. Wie, wenn dieſe Millionen der Stumpfheit ihres Daſeins überdrüſſig_werden, wenn ihre seelische und materielle Not den Höhepunkt erreicht hat? Werden sie sich nicht in wütende Bestien verwandeln, diese Millionen ?
Ich trage einen Schmußfled mit mir herum, den alle Seife der Welt nicht abwaschen kann. Was hilft es, wenn ich meinen Körper mit Seife und Bürste bearbeite, wenn ich mir in der Badeanstalt abwechs selnd falte und heiße Duschen über den Leib laufen lasse, bis mir der Schweiß aus allen Poren bricht und ich glaube, unter meinen eigenen rasenden Herzschlägen ersticken zu müſſen? An meinem Arm habe ich eine blutende Wunde.
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Ich habe sie mit Eſſig ausgewaſchen. Über dem beißenden, überempfindlichen Schmerz empfinde ich fast so etwas wie Wonne.
Wenn ich noch an einen Gott glauben könnte, nach allem, was geschehen ist, ich würde ihm kniefällig danken, ihm oder dem anderen höheren Wesen, das mir die fast übermenschliche Kraft verlieh, mich des Scheuſals zu erwehren. Noch jetzt bricht mir der Angstschweiß aus, wenn ich daran zurückdenke . Allein mit ihm in der Wohnung, ganz allein- und ich schwaches Mädel habe mich seiner erwehren können ! Aber seine Berührung, seine ekelhafte Umklammerung mußte ich über mich ergehen lassen, und seine Zähne grub er in meinen Arm. Ich bin nahe daran, verrückt zu werden . Und keinen, keinen Menschen, dem ich es sagen könnte. Papa würde diese Bestie erwürgen, wenn er wüßte . . ..
2. Kapitel Arbeitslos
Der kleine Schmidt hat mich besucht. Er will durchaus, daß ich gegen die Kündigung Einspruch erhebe. Er und die Mehrzahl der Kollegen seien bereit, als Zeugen gegen Strauß aufzutreten, wenn ich die Sache vor das Arbeitsgericht bringen wolle, sagt er. Er meint es ja gut, der kleine begeisterte Nazi . Aber ich kenne die Menschen besser als er. Ich weiß nur zu gut, wie eine Klage gegen den mächtigen und angesehenen Kaufmann
Leo Strauß beim Arbeitsgericht aufgenommen würde. Zudem bin ich in keiner Gewerkschaft organisiert,
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müßte die Kosten eines Rechtsstreites selbst tragen, wenn - foll zu meinen Ungunsten entschieden würde. Und dann — ich mich vor allen Menschen bloßſtellen, indem ich den Vorfall in der Villa des Juden haarklein erzählen muß ? Ich kann einfach nicht. Außerdem habe ich keine Zeugen. Leo wird die ganze Sache vielleicht von einer anderen Seite ſchildern. Er hat ja Geld, viel Geld, und außerdem iſt er Jude. Ich habe schon öfter gehört, daß das hiesige Arbeitsgericht sich fast ausschließlich aus Juden zuſammenſeßt. Mein Chef gab als Kündigungsgrund unentschuldigtes Fehlen an. Am Tage nach dem Vorfall brachte ich es nicht über mich, ins Geschäft zu gehen. Zu Hause täuschte ich Kopfweh vor, und wirklich fühlte ich mich elend und schwach, als hätte ich eine schwere Krankheit hinter mir. Ich fehlte auch an den darauffolgenden zwei Tagen, ohne mich zu entschuldigen. Ich nahm an, daß der Chef wohl wüßte, worin der wahre Grund meines Fernbleibens vom Geschäft zu suchen sei. Ich war ohnehin feſt entſchloſſen geweſen, meinerſeits zu kündigen, als der Einſchreibebrief eintraf. Die Eltern waren außer sich, machten mir die heftigsten Vorwürfe ; ich müßte sofort in die Firma gehen, mich entschuldigen, Herrn Strauß bitten, die Sache zurückzunehmen . Als ich Donnerstags wieder ins Geschäft kam, war Herr Strauß verreist. Eine andere Angestellte verſah meinen Dienst, man wußte nicht recht, in welcher Abteilung man mich nun unterbringen sollte. Von allen Seiten wurde ich mit Fragen bestürmt, was denn geschehen sei . Der Chef habe in den lezten Tagen eine Laune gehabt, die einfach jeder Beschreibung ſpotte. Schon am Montag habe er das Arbeitsamt beauftragt, ihm eine neue Sekretärin zu schicken. — In der Kantine war es, während der Frühſtückspauſe. Die Angestellten der Firma waren fast vollzählig zugegen, als ich mich von meinem Plak erhob und mit lauter, feſter Stimme berichtete, was sich am Sonntag zwiſchen Leo Strauß und mir zugetragen hatte. 11 Der Weg in die Heimat
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Totenstille ringsum. Lilian iſt blaß geworden, die Schröder weint, die Kollegen ſizen mit hochroten Köpfen. Endlich schreit Schmidt in die Versammlung : ,,Sollen wir uns das gefallen lassen? Seht ihr jezt endlich ein, wie recht ich habe, wenn ich die Juden haſſe? Dürfen wir ruhig mitansehen, wie eine unserer Kolleginnen von dem Schwein mißbraucht wird und dann noch auf die Straße fliegen soll ? " Er bebt vor Wut. „ Aber Sie mußten ihn ja immer in Schuß nehmen“, wendet er sich an mich. „ Wie oft habe ich Sie gewarnt, Fräulein Martin. Sie tragen selbst mit Schuld an dem, was geschehen ist." „ Ich konnte ihn ja noch abwehren“, sage ich leise, brennend rot vor Scham, weil aller Blicke auf mich gerichtet ſind. „ Und ich könnte auch nicht mehr hier ins Geschäft kommen, selbst wenn er mich nicht entlaſſen hätte. Ich kann ihn nicht mehr ſehen, ohne ihm ins Gesicht zu ſpucken ! “ „ Es ist gut, daß er dir mit der Kündigung zuvorgekommen ist", meint Lilian. „ Wegen der Arbeitslosenunterstügung." „Ja, wollen Sie das alles so ruhig hinnehmen, ohne zu protestieren ?" fragt Schmidt aufgeregt. „ Gleich heute verflagen Sie den Kerl. Wir alle können als Zeugen gegen ihn auftreten, vor allem die weiblichen Angestellten. Sie find doch nicht die erste, der er schmußige Anträge gestellt hat!" Die Mädel ſizen still. Keine tut den Mund auf. Endlich ſagt die Schröder halblaut : „Ich kann meine Stelle nicht aufs Spiel ſeken. Ich muß meine Mutter ernähren.“
Sofort fällt eine andere ein : „ Nein, das kann Fräulein Martin nicht von uns verlangen. In der heutigen Zeit ist jeder froh, wenn er Arbeit hat. Strauß findet jeden Tag Erſaß für uns. Wenn unſereiner aber mal auf der Straße ſizt, ist er für immer draußen. Und wir fliegen bestimmt alle, wenn wir vor 322
dem Arbeitsgericht gegen ihn aussagen. Er wird schon einen Grund finden, verlaßt euch darauf!“ „ Ich meine auch, das ist eine Sache, die Fräulein Martin mit Strauß allein ausmachen muß“, ſchließt sich Fräulein Weber an. „ Wißt ihr noch, wie es mit dem kleinen Mariechen Plaut war, damals ? Die flog hier, weil sie schwanger war. Sie verklagte den Chef und gab an, er ſei der Vater, er habe sie überfallen. Sie fiel mit ihrer Klage glatt durch. Strauß sammelte Zeugen gegen das arme Mädel, die aussagen mußten, daß sie mit ihr in intimen Beziehungen gestanden hätten. Wahrscheinlich hat er sie mit viel Geld bestochen. Mariechen stellte sich schrecklich an, beteuerte immer wieder, daß sie alle dieſe Männer nur oberflächlich kenne. Es half ihr nichts. Strauß wurde von dem Gericht als untadeliger Ehrenmann bezeichnet, der allerorts größte Hochachtung genieße." „ Aber dieser Fall ist doch ganz anders “, wendet Lilian ein. „Wir wiſſen doch alle, wer Fräulein Martin iſt. Ich meine, es ist selbstverständlich, daß wir sie jetzt nicht im Stich lassen dürfen." „Feiglinge seid ihr“, ruft Erich Schmidt. „ Ihr habt einen schönen Begriff von Kollegialität. Schämt euch!“ So wäre es noch lange hin und her gegangen, wenn ich
der Debatte nicht selbst ein Ende gemacht hätte. Ich erklärte, daß ich von einer Klage gegen Herrn Strauß absehen wolle. Noch heute wolle ich zu einem Arzt gehen und mich krank schreiben lassen, nur, um dieses Haus nicht mehr betreten zu müssen. *
Meine Krankheit war keine vorgeschobene Sache. Ich fühlte mich seit Tagen elend wie lange nicht, erbrach alles Eſſen, fieberte und entdeckte eines Tages, daß meine Hautfarbe dunkelgelblich ſchimmerte. Der Arzt stellte Gelbsucht fest, und ich kam bereits am folgenden Tage ins Krankenhaus. 11*
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So blieb es mir erspart, Leo Strauß noch einmal ſehen zu müſſen. Am Ersten schickte er mir meine Papiere und ein weiteres Monatsgehalt. Ich hatte meine Schwester beauftragt, die beiden Kleider einzupacken und an die Firma zurückzusenden. Nun liegt dies alles hinter mir. Ich bin erlöst. Schwer ist es nur, die Vorwürfe der Eltern zu ertragen. In dieser Zeit, und dazu noch bei unserer verzweifelten wirtschaftlichen Lage, eine gute Stelle leichtsinnig preiszugeben! Nur mit Mühe konnte ich Vater daran hindern, zu Strauß zu gehen und ſeinerseits zu verſuchen, alles wieMutter ahnt etwas. der in Ordnung zu bringen. Mutteraugen sehen tiefer. Wenn sie mich im Krankenhaus besucht, erwähnt ſie die Sache nie. Ich selbst habe die feste Zuversicht, daß ich wieder eine Beschäftigung finden werde, wenn ich erſt geſund bin. Fürs erste sind wir ja vor der Not geschützt. Wenn man arbeitswillig ist wie ich, kann man einfach nicht zugrundegehen, tröste ich mich. Irgend etwas werde ich schon finden, sei es auch im Verkauf oder schlimmstenfalls als Dienstmädchen. Ich werde nicht refignieren wie ſo viele andere. Ich weiß, daß ich auf jedem Gebiet etwas Tüchtiges zu leiſten imstande bin. Keinesfalls werde ich den --Eltern zur Last fallen. Lilian, die Treue, besucht mich oft. Sie erwähnt die Firma mit keinem Wort. Ich bin ihr dankbar dafür. Schlimmer sind die Besuche des kleinen Schmidt. Immer wieder versucht er mich zu überreden, den Chef zu verflagen. Er meint es ja so gut, der kleine Gerechtigkeitsfanatiker. Aber er quält mich mit seinen aufgeregten Reden. „ Ich werde Ihnen bald keine Besuche mehr gestatten“, sagt Schwester Klara abends, als sie das Fieber gemeſſen hat. ,,Es regt Sie doch noch zu sehr auf, Kleine."
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Erich Schmidt war seit zwei Wochen nicht mehr bei mir. Ich darf jezt nachmittags zwei Stunden aufstehen, ſpaziere von einem Saal zum anderen und statte den kranken Frauen und Mädchen kleine Besuche ab . Sie mögen mich alle gern. Und mir ſelbſt macht es Freude, dieſe armen Menschen mit ein paar guten Worten zu ermuntern, ihnen Schokolade und Konfekt zu schenken, die meine Besucher mir unüberlegterweise mitbrachten, obwohl ich sie nicht eſſen darf.
Lilian kommt Sonntags nachmittags zu mir. ,,Weißt du das Neueste ?" fragt sie aufgeregt, kaum, daß fie mich begrüßt hat. „ Schmidt ist geflogen. Fristlos entlaſſen. Er hatte einen großen Krach mit Othello, wir hörten die beiden schreien, daß das ganze Haus zuſammenlief. Dann kam der fleine Schmidt aus dem Privatbüro, mit hochrotem Kopf. ‚Dem Schwein hab ' ich mal die Meinung gesagt', rief er uns entgegen. Jezt kann ich natürlich gehen. Aber das ſchadet nichts. Mir iſt jezt ganz leicht und glücklich zumute, weil ich mal ordentlich ausgepackt habe.' Mehr war aus ihm nicht herauszubringen . Wir steckten uns hinter Othellos Sekretärin, die im Nebenzimmer alles mit angehört hat.
Du, die erzählte uns schöne Sachen!
Othello hatte den Schmidt zu sich rufen laſſen, um ihm die Meinung zu sagen wegen SA. und so weiter. Er wollte den Jungen verwarnen. Wenn er weiter unter den Angestellten diese aufrührerische Nazipropaganda triebe, würde er ihn entlassen, sagte er. Da habe Schmidt aber losgelegt. Du weißt, wie er brüllen kann, wenn er im Zuge ist. Auch deine Sache soll er vorgebracht und dem Strauß gedroht haben, daß man mit ihm noch einmal abrechnen werde ! Und zum Schluß brüllte er Heil Hitler ! ' und lief hinaus. - Ja, jezt kann er stempeln gehn, der arme Kerl !" So etwas Ahnliches habe ich ja tommen sehen. Ich habe wirklich Hochachtung vor dem Jungen, der seine Sache so begeistert vertritt. Und wieder kommt mir der Gedanke, 325
daß hinter dieser Idee doch etwas Besonderes stecken muß, weil gerade die Jugend ihr so begeistert anhängt. * Eine Woche später werde ich aus dem Krankenhaus entlaſſen. Tags darauf melde ich mich bei dem Arbeitsamt für weibliche Angestellte und erhalte nach endlosen Formalitäten die grüne Stempelkarte : Nummer 18833. Zweimal wöchentlich gehe ich stempeln. Freitags vormittags stehe ich in einer langen Schlange zwiſchen anderen Frauen und Mädchen und warte geduldig, bis die Reihe an mir ist und der Beamte mir elf Mark und fünfundzwanzig Pfennige auf den Tisch zählt. Zweimal bin ich ohnmächtig geworden während des langen Wartens in dem muffigen, überfüllten Schalterraum . Jeder dieser Körper strömt einen anderen Geruch aus. Die Kleider der Frauen riechen nach Kohl- und Waſchdunst, nach schlecht gelüfteten Wohnungen, ein bißchen nach Schweiß . Oft ist auch heftiger Blumengeruch zu verspüren, Maiglöckchen und Heliotrop, wie man es in großen Flaschen mit goldenen Etiketten zu kaufen bekommt, in der Ehape. Ich verwendete früher einmal « Le Chic de Molyneux». Ach, wie lange ist das her! Damals wäre ich nicht mit schiefen Abfäßen über die Straße gelaufen, mit einem Mantel, den Mutter mit eingesetzten Stoffstreifen verlängert hat. Wohl besize ich auch jezt noch zwei, drei gute Kleider. Die muß ich sorgsam aufbewahren, falls ich mich irgendwo vorstellen muß . Wer nimmt eine erbärmlich gekleidete Verkäuferin oder einen Mannequin, dem die Armut nur so aus den fadenſcheinigen Kleidern leuchtet? * Bisher habe ich mich erst einmal persönlich vorstellen müſſen. Trotzdem ich auf jedes Zeitungsinserat ſchrieb, ganz gleich, ob es sich um die Stelle einer Verkäuferin, Stenotypiſtin,
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Kindergärtnerin,
Empfangsdame
oder
eines
Mannequins handelte. Auf lektere Idee brachte mich Lilian. Sie meinte, ich hätte eine ausgesprochene Modellfigur. Keine meiner Bemühungen brachte mir bisher Erfolg.
Ein großes Modenhaus wollte mich für die Herbstmodenſchau vormerken. Aber bis dahin währt es noch lange. Ich denke mit Kummer daran, daß ich bis zum Herbst kein einziges Paar guter Schuhe mehr haben werde. Und ein vornehmes, geschmackvolles Aussehen ist doch Grundbedingung für einen Bewerbungsbesuch. Die Hoffnung, durch den Arbeitsnachweis eine Stellung zu bekommen, habe ich längst aufgegeben. Die Beamtin sagt uns immer wieder, daß unsere Besuche zwecklos seien. Es liefen keine Anfragen bei ihr ein, schon seit langer Zeit nicht mehr. Früher war es mir gleichgültig, wie ich aussah. Jekt mustere ich mich täglich im Spiegel, frage mich ängstlich, ob dieses blaſſe Gesicht, die großen, dunkelumſchatteten Augen, die magere Gestalt im armseligen Kleidchen wirklich noch genügen, um meine Bemühungen um Arbeit wirksam zu unterstüßen. Fräulein Oppenheimer, die Beamtin vom Arbeitsamt, meinte nämlich, daß es einem hübschen Mädel wie mir doch leichter fallen müsse, etwas zu finden, als einer anderen, deren Äußeres unscheinbar und ungepflegt ist. ,,Versuchen Sie doch einmal, als Frifiermodell oder dergleichen unterzukommen“, riet ſie. „ Da ist noch eher etwas zu machen, weil wirklich hübsche Mädels immer gefragt werden. Oder in einem Reklameinstitut als Photographiermodell für Strümpfe, Wäsche und dergleichen. Sie dürfen nur nicht zimperlich sein. Haben Sie es schon einmal beim Theater versucht, als Statistin oder Chorgirl ? Wenn Sie durchaus Arbeit haben wollen, müssen Sie eben alles versuchen." Ja, so einfach, wie das Fräulein es hinstellt, ist es nun doch nicht. Ich sehe immer mehr ein, daß ich bestenfalls eine Gelegenheitsarbeit finden werde. Und selbst da muß
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ich noch vorsichtig sein, daß die Bezahlung eine gewiſſe Höhe nicht übersteigt. Sonst kürzt man mir die Unterstügung. Abends schreiben wir Adressen, Vater und ich. Wenn ich eine Schreibmaschine besäße, könnte ich wohl hin und wieder Diſſertationen oder Ähnliches bekommen. Aber zu dieser Anschaffung fehlt mir das Geld.
Es ist Frühling geworden. In wenigen Wochen werde ich ausgesteuert und dem Wohlfahrtsamt überwiesen. Und noch immer keine, auch nicht die geringste Aussicht, Arbeit zu bekommen. Es ist zum Verzweifeln. Zu Hause die bittere Not sehen zu müssen und nichts tun zu können, um sie zu lindern. Wir darben wie in den schlimmsten Kriegsjahren. Nur ist es jezt noch grausamer. Die Auslagen in den Lebensmittelgeschäften, den Reichtum und die Sattheit der anderen sehen zu müſſen und selbst gerade zur Not ſeinen Hunger stillen zu können, ist hart. Ich bin oft nahe daran, die Kommunisten zu verstehen, die das Volk offen oder versteckt zur Plünderung auffordern.
* Ich bin Statistin bei einer Revue. * Warum gehen so viele Mädchen durch das Leben, behütet und bewahrt
vor
allem
Schmuß,
aller
Erniedrigung?
Warum muß gerade ich von nichts verschont bleiben? Und ich habe geglaubt, zu etwas Beſſerem beſtimmt zu sein. Ich habe Schönheit und Reinheit über alles geliebt. Geht es denn immer tiefer hinunter mit mir? War die Station Leo Strauß noch nicht die schlimmste ? Was wird nach dieser Revue folgen ?
*
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Unsagbarer Etel schüttelt mich, sooft ich dieses graue Theatergebäude betrete. Die süßliche, parfümgetränkte Luft löſt faſt phyſiſches Übelſein in mir aus. Ich wollte doch Geld verdienen um jeden Preis. Wir gehen jetzt zu dritt aufs Stempelbüro, Vater, Kurt und ich. Kurt beendete zu Ostern seine Lehre und wurde prompt entlaſſen. Papa hat alles versucht. Immer und immer wieder schreibt er seiner Schwester. Ihr, der Inhaberin einer großen Fabrik, müſſe es doch ein leichtes sein, ihm irgendwelche Arbeit zu verschaffen. Er wolle ja kein Geld von ihr. Nur eine Stellung, gleich welcher Art, möge sie ihm verschaffen. Wenn er doch diese zwecklosen, demütigenden Bitten unterließe ! Die Antworten der vornehmen Tante bleiben sich immer gleich : Viele gute Ermahnungen zur Sparſamkeit und der Hinweis auf einen Gott im Himmel, an den man nur recht fest glauben müſſe, dann habe er schon ein Einsehen mit uns. Wie bequem ist dieser Gott doch für die reichen Leute! Man kann alle seine Verpflichtungen auf ihn abwälzen. Wahrhaftig eine herrliche Einrichtung. Von Zeit zu Zeit kommt mal ein Paket aus Leipzig, mit ungefähr folgendem Inhalt : Kleider und Wäsche, noch aus der Vorkriegszeit ſtammend, ihrer Fadenscheinigkeit und ihrem Schnitt nach zu schließen. Verschiedene Päckchen mit Malzkaffee, Grieß, Mehl uſw. Als höchstes der Gefühle etwas Schokolade „ für die Kinder", beileibe keine Markenschokolade, sondern irgendein Einheitsprodukt in ſchreiend bunter Packung. Die Spenderin dieser Gaben lebt unterdes in Leipzig in einer schloßartigen Villa, gibt Geſellſchaften, macht Italienund Nordlandreiſen, ſtiftet große Summen für wohltätige Zwecke. Wie erhebend, wenn da in der Zeitung steht : Eine hochherzige Wohltäterin, Frau Kommerzienrat Soundso, 329
ſtiftet zum Neubau des Leipziger Krüppelheims ſoundſoviel tausend Mark . . . Ich bin so verbittert, ſo von Haß erfüllt, daß ich oft glaube, daran erſticken zu müſſen. Ich bekäme es fertig, dieſe Frau zu erwürgen. Ich möchte ihr das Haus über dem Kopf anstecken, ich möchte ―― ja ― ich möchte alle reichen Leute der Welt, alle die, die von unseren Sorgen, von unserer Not nichts wiſſen und nichts wiſſen wollen, alle dieſe Schieber und Kriegsgewinnler, Bankiers und Kommerzienräte, die Bleys, die Leo Strauß', die Schwarzschilds und Löwensteins - was möchte ich? Gerechtigkeit ! Nur Gerechtigkeit. Wo finde ich sie? Mein eigenes Schicksal will ich gar nicht so sehr in den Vordergrund stellen. Aber ich habe in dieser legten Zeit sehen gelernt. Ich sehe die Schicksalsgenossen auf dem Arbeitsamt, die Angestellten in den Betrieben, die Verkäuferinnen in den Warenhäusern. Ich sehe die Krüppel an den Straßenecken, die verhungerten Altstadtkinder Tausend fremde und doch so verwandte Schicksale, meiſt noch viel grausamer, viel verzweifelter als das meine. Ungerechtigkeit, Schwindel, Bosheit, Habsucht, Betrug, く Grausamkeit. Das ist Deutſchland. Das Land unſerer Hoffnung, unserer Ideale. Wie weit liegt das alles zurück! „ Geh doch zu den Kommunisten, wenn du so gegen die Reichen bist", hat mir irgendwer gesagt. Kommunisten ! Was ich bisher von ihnen gesehen und gehört habe, hat mich nur abgestoßen. Zu diesen verwilderten, verkommenen Existenzen soll ich, Johanna Martin ? Es steckt noch ein ganz kleiner Reſt von ästhetischem Gefühl in mir, noch ein Atom des Glaubens meiner Kindertage. Sehr lange wird das alles nicht mehr vorhalten. Jeder neue, harte Tag nimmt ein Stück von dem früheren Menschen. Meine Wandlung vollzieht sich stetig und unaufhaltsam . Wie werde ich aus dieser Revue hervorgehen? 330
Als eine Empörerin oder ſchon des Kampfes müde? Ich habe so oft Stunden, in denen mir die völlige Sinnlosigkeit des Daseins, des unausgesetzten Kampfes gegen eine Welt von Brutalität und Gemeinheit, erschreckend klar wird. Wenn Mutter nicht wäre, dieſe arme verhärmfe Mutter und die jungen Geschwister . So müde bin ich manchmal, so müde.
Also die Revue. In der Zeitung hieß es : Junge hübsche Damen als Statiſtinnen für Revue gesucht. Ich sagte daheim nichts von meinem Vorhaben und ging am nächsten Morgen ins Theater, mich vorzustellen. Dort warteten außer mir etwa hundert Mädchen, die sich alle jung und hübsch und gut gewachsen vorkamen. Ich sah Gesichter, vor denen mir graute. Straßenmädchen, billige, herausfordernde Eleganz, dick aufgetragene Schminke auf verlebten, frechen Gesichtern. Ich sah aber auch Mädchen meines Schlages, ehemalige Kontoristinnen und Verkäuferinnen, bescheidene Gestalten, die sich vergeblich bemühten, aufzufallen und es den Straßendirnen an Koketterie gleichzutun. Mein erster Gedanke war: fliehen. Mein zweiter: es gibt mindestens zwei Mark pro Abend. Ich blieb. Die Mädchen schwazten und lachten, rauchten, liefen aufgeregt durcheinander wie eine Herde Schlachtvieh. Endlich erschien ein zappeliger kleiner Mann in weißem Kittel. ,,In zwei Reihen aufstellen !" fommandierte er. Wir stehen in Reih und Glied, wie die Soldaten.
Die Straßenmädchen recken ihre Brüste und lächeln eindeutig. Der weiße Kittel schreitet schnell die Reihen ab, er sieht 331
sehr komisch aus : Hakennaſe, riefige Hornbrille, eine lange Haarsträhne hängt ihm im Gesicht. hier ..." ,,Sier ― hier Er packt ein paar Mädels am Arm und schiebt sie aus der Reihe. Im ganzen werden ungefähr zwanzig herausgestellt. Ich bin dabei. „ So, ihr kommt mit 'rauf auf die Bühne“ , sagt der Mann. „ Die anderen können gehen." Laute Empörung seitens der Zurückgewiesenen. Tränen, Bitten, Beſchwörungen, Flüche. ,,Warum haben Sie mich nicht genommen, ich hab' so gute Beine — ach bitte, bitte, Herr Regiſſeur - ich hab' ich war früher beim schon bei zwei Revuen mitgemacht Opernballett - Schiebung . . .“ Eine hebt tatsächlich den Rock hoch und spaziert vor dem Mann auf und ab, in einer grelleuchtenden grünen Schlupfhose. Der Regisseur bleibt ungerührt. „ Geht nich, Kinder, ein andermal.“ Er drängt die auf geregten Mädchen nach dem Tor zu. „ Wir brauchen doch 66 nur zwölfe, so seid doch vernünftig .. Wir zwanzig steigen die Treppe zur Bühne hinauf, während die anderen langsam abziehen, wobei sie dem Regisseur nicht gerade salonfähige Schimpfworte an den Kopf werfen. „ Saubande !" brummt der vor sich hin. Dann stehe ich zum erstenmal im Leben auf einer Bühne. Zwischen Kulissen, die scharf nach Leim und Farbe riechen, zwischen riesigen, halbausgepackten Koffern und Kisten mit Kostümen, zwischen Stricken und Vorhängen stolpert man herum und steht endlich in Reih und Glied an der Rampe, diesmal vor dem Allermächtigsten, dem Herrn Revuedirektor persönlich. Ein greller Scheinwerfer wird eingeschaltet - wir find das Licht nicht gewohnt und schließen geblendet die Augen.
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Blinzelnd nehme ich den Anblick des Revuegottes, dieſes Despoten über ungezählte halbnackte Frauen, des Schöpfers Finnverwirrender Farbensymphonien (ſo heißt es in den Zeitungen) in mich auf. Dieser Mann mit der ungeheuren Glaze, der da hemdärmelig, eine Zigarre rauchend, in einem Seſſel der ersten Parkettreihe sigt, ist ein Mann vom Schlag der Strauß, der Löwenstein, der Schwarzschild. Nur noch ausgeprägter, noch vollkommener. Sein Gesicht ist nicht unintelligent und nicht einmal ausgesprochen unsympathisch. Wie ein europäiſcher Buddha ſizt er dort, unbeweglich, die dicken Daumen in die Ärmelausſchnitte der Weste ge= stedt. Nur seine kleinen dunklen Augen sind lebendig, die bewegen sich blizſchnell, prüfend über uns hinweg. ,,Rufen Se mal die gnäd'ge Frau", sagt er jetzt zu dem weißen Kittel, der devot hinter ihm steht. Der flattert davon und kehrt nach einer geraumen Weile in Begleitung eines weiblichen Weſens zurück. Man sieht von ihr zunächst nur den strohblonden Wuſchelkopf, die Zigarette im Mundwinkel und einen winzigen kläffenden Köter, den sie unter dem Arm trägt. Der Direktor nimmt ihr den Hund ab und seht ihn auf seinen Schoß, streichelt und küßt ihn und gibt ihm die zärtlichsten Koſenamen. Die Strohblonde lächelt wohlgefällig und geschmeichelt, als gälten alle diese Ausbrüche von Zärtlichkeit ihr. Wir ſcheinen für die beiden nicht zu exiſtieren . Wir stehen eingeſchüchtert, regungslos, verwirrt durch die Helle, verwirrt durch das neue, geheimnisvolle Milieu, und müſſen uns obendrein noch Mühe geben, recht vorteilhaft auszusehen ... …… Direktor Ricardo und der Wuschelkopf unterhalten sich laut und vernehmlich; das Gespräch dreht sich um Hotelzimmer, Premierenvorverkauf, Zeitungsreklame und vor allem um den Köter Buzi. Endlich sieht der Revuegott auf und sagt: Ach so!" und brüllt dem Regiſſeur mit wahrer Donner333
ſtimme zu, warum er die teuren Lampen so lange brennen laſſe. Als aber der also Angefahrene diensteifrig den Befehl zum Ausschalten des Scheinwerfers geben will, erhält er eine neue Abfuhr. Diesmal von der Strohblonden. „ Sie oller Duſſel glauben wohl, ich soll mir die Mädel im Dunkeln aussuchen, ja ? “ kreischt sie aufgebracht. Ricardo streicht ihr beruhigend über den Arm und bittet sie, sich „ die da oben“ mal genauer anzusehen. Seiner Meinung nach sei nichts Berühmtes darunter. Die Blonde steigt die wenigen Stufen von dem Zuschauerraum zur Bühne hinauf und steht jezt vor uns, grell beleuchtet. Ich sehe ein widerlich häßliches, verlebtes Gesicht. Unzählige Fältchen um Augen- und Mundwinkel geben ihm etwas Herenhaftes. Sie schreitet rasch die Reihe ab, uns mit ihren stechenden schwarzen Augen muſternd. - zeigt mal eure Beine nee, ,,Da und da, und da — Sie kann ich nicht brauchen, Sie sind zu mager - Wonsky, war denn nichts Beſſeres dabei ? “ fährt sie den Regiſſeur an. 66 „ Nein, gnäd'ge Frau . Die übrigen waren noch schlimmer.' „ Also ihr zwölfe könnt bleiben. Der junge Mann da wird euch alles übrige ſagen. Hoffentlich stellt ihr euch nicht zu steif an. - Na, was steht ihr noch hier herum?" wendet sie sich an die acht Mädels, die sie zurückgestellt hat. „ Ihr haltet uns nur auf.“ „ So, jezt brauche ich zwei für die griechischen Koſtüme“, tönt die Stimme des Direktors aus dem Parkett. „ Wen meinst du, Mauſi ?“ ,,Vielleicht die große Blonde ..." „ Nee, ist zu fad. Komm du mal her, Kleine - ja, dich meine ich, stell dich nicht so dumm - und dann die mit
den braunen Loden ..."
Das bin ich. Wir treten etwas vor, werden von Ricardo und der Blonden einer eingehenden Besichtigung unterzogen.
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„ Geht mal zu der Garderobiere, gleich links hinter der Bühne, sagt, sie soll euch die griechischen Kleider anziehen. Aber ein bißchen fix.“ „ Aber das geht doch nicht“, sage ich Minuten später entsetzt. Ich stehe vor dem hohen Ankleideſpiegel, halbnackt in dem winzigen, weißseidnen Kleidchen. Ich hatte mir ein langfließendes klaſſiſches Gewand vorgestellt und war im Grunde froh geweſen, als der Direktor mich für die griechische Tracht vorschlug. ,,Was geht nich? “ fragt die Garderobiere, eine ältere dürre Frau mit respekteinflößender Nase und strengem Mund.
Ihr zieht hier an, was der Direktor vorschreibt.
Wenn es euch nicht paßt, müßt ihr es gleich sagen. Wir haben keine Zeit, uns mit euch Statistinnen herumzuärgern.“ „ Kommen Sie ſchon“, drängt die zweite Griechin, ein auffallend hübsches, ſchwarzhaariges Mädchen. „ Der Herr Direktor wird sonst böse.“ „ Darf ich denn nicht wenigstens ein Unterkleid tragen?“ wage ich noch einmal zu bitten. ,,Warum nich gleich eine wollene Unterhose ?" entrüstet sich die Frau. „ Jezt hören Sie aber auf mit Ihrem dämlichen Schmus ! Lassen Sie so etwas unseren Direktor hören, der wird Ihnen schön heimleuchten!" ,,Kommen Sie!" Das Mädel packt mich an der Hand und zieht mich auf die Bühne. Wieder stehen wir im Licht der Scheinwerfer, unter den prüfenden Blicken des Direktors. Mehr als nackt sind wir in den kurzen Hemdchen, die obendrein noch seitlich aufgeschligt sind. „ Na, das geht ja “, meint der Direktor. „ Sie sehen nich übel aus, was, Mausi? “ ,,Hm, begeistert bin ich gerade nicht. “ Die Diva sieht sehr mißmutig aus. „ Ich weiß nicht, was du an ihnen Beſonderes findest. Sie sind doch beide recht unscheinbar.“ „ Ich finde sie sehr nett“, wagt der Regiſſeur einzuwerfen. „Vor allem sind sie noch sehr jung, das ſieht man.“ 335
Ein vernichtender Blick trifft ihn. „ Also erledigt“, entscheidet der Direktor. „ Jetzt führen Sie die Mädels auf die Probebühne und sehen Sie zu, wie sie sich anstellen. Die beiden da kann man vielleicht noch zum Schlußbild verwenden, für die Perlenkostüme. Ihr bekommt eine Mark fünfzig pro Abend. Proben werden nicht bezahlt.“ ― Die Scheinwerfer erlöſchen. Wir folgen dem Regiſſeur auf die Probebühne und laſſen uns während zweier Stunden von ihm unterweiſen.
Abends strahlt das ganze Haus im Licht zahlloſer Glühbirnen. Premierenstimmung. Hinter der Bühne wird ge= hekt, geſchimpft, geflucht ; unzählige Mädchen in prächtigen Koſtümen drängen sich zwiſchen den Kuliſſen. Die Blonde vom Vormittag ist kaum wiederzuerkennen. Sie trägt ein herrliches venezianiſches Koſtüm, ihr Geſicht ist unter der Schminke kaum mehr zu erkennen. Inzwiſchen habe ich erfahren, daß sie der große gefeierte Revuestar Ria della Mara und die intime Freundin Direktor Ricardos ist. (Übrigens heißt er Löwenstein, Ricardo ist sein Künstlername.) Wir Statiſtinnen haben unsere Garderobe im obersten Stockwerk, neben den Girls. Unter den vielen halbnackten Frauen so stark ist uns Abends
empfinde ich meine eigene Blöße nicht mehr ganz wie am Vormittag. Neunmaliger Koſtümwechſel vorgeschrieben, neunmal gilt es, während des die vier Treppen zur Garderobe heraufzulaufen,
um sich in aller Eile für das nächste Bild zurechtzumachen. Ein Friseur unterweist uns in der Kunst des Schminkens. Die Girls halten sich von uns Statiſtinnen streng abgesondert. Sie scheinen sich als Berufstänzerinnen sehr erhaben über uns zu dünken, die wir hier so eine Art Bühnenproletariat bilden. Den meisten unter uns Statiſtinnen ist das Milieu noch
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fremd. Neugierig stehen wir hinter der Bühne herum, stehen allen im Wege, werden jeden Augenblick beiseitegeschoben und nicht selten grob angefahren. Verschüchtert hocken wir schließlich zu dritt auf einer Kiſte, bewundern die vielen schönen Frauen in den herrlichen Kleidern, hören auf das geheimnisvolle Raunen aus dem Zuschauerraum. Die Mara ſteht mit einigen anderen am Vorhang, späht in das Parkett. Sie ist hochgradig aufgeregt. Wo ſie erscheint, weicht alles entsetzt zur Seite. Dann sezt das Orchester ein, der Vorhang öffnet sich, wir faſſen uns bei den Händen und ziehen in langſamen Reigenschritten über die blau beleuchtete Bühne. Dann gruppieren wir uns um die Mara, die ein altvenezianisches Liebeslied singt. Die Stimme entspricht ungefähr meinen Erwartungen. Schrill, überlaut, stellenweise schon etwas brüchig. Aber das Publikum scheint so etwas zu lieben. Donnernder Applaus ertönt, als sie geendet hat. So geht es während des ganzen Abends. Wir umgeben die Stars als lebende Kulissen, stehen während der Szenen unbeweglich, laſſen unſere Nacktheit leuchten und verschwinden dann wieder. Dafür gibt es eine Mark fünfzig pro Abend. Solche Revuevorstellung ist anstrengender als ein Tag auf dem Büro. Und immer dieſe heimliche Angst : wenn einer meiner früheren Bekannten mich entdeckte ! Ich bin froh, daß ich zu dem griechischen Gewand eine blonde Perücke trage. Außerdem hoffe ich durch die Schminke genügend entstellt zu sein, um etwaigen Bekannten fremd zu erscheinen.
So werde ich denn im ganzen sechzig Mark verdient haben, wenn diese Revue abgelaufen ist. Nie im Leben war das Geldverdienen so grausam schwer, so entehrend wie jezt. Straßenkehren wäre köstlich gegen dieſes . .
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Schon nach der zwölften Vorstellung lief ich weg. Eines Abends tam ich die Treppe zur Bühne herab, in meinem Diamantenkostüm. Da begegnete mir Ricardo. Ich wollte mit höflichem Gruß an ihm vorübergehen, als er mich anrief. „Hör mal, gehabt?"
Kleine,
hast
du
jemals
Tanzunterricht
Ich verneine, erstaunt. „ Ich möchte dich gern ausbilden laſſen, hast du keine Lust, Girl zu werden ? Ich meine, du bist nicht unbegabt. Kannſt mit uns nach Köln gehen, wenn wir hier fertig ſind. Hundertfünfzig Emm im Monat, na? “ Er steht dicht vor mir. Wieder spüre ich den Geruch eines dicken, erregten Mannes. Seine kleinen Augen streicheln meine Nadtheit. ,,Du bist doch ein gescheites Mädel“, fährt er fort und versucht meine Hand zu ergreifen, die ich ihm schnell entziehe. „ Und zudem die hübſcheſte von allen hier. Du kannſt dein Glück bei mir machen, Kleine. Ich hab' ſchon mehrere zum Film gebracht. Haſt du übrigens nach der Vorstellung Zeit? Wollen wir zusammen ein Glas Seft trinken?" Ich schüttle nur den Kopf, unfähig zu antworten. In diesem Augenblick verwischt sich das Bild des Revuedirektors mit dem meines früheren Chefs. Eiseskälte kriecht mir über den Rücken. „ Na, denn nicht. Aber wir reden noch miteinander. Es soll dein Schaden nicht sein, wenn du nett zu mir biſt. Du verstehst mich schon?“ O ja, ich verstand. Auch wenn er jezt nicht den Versuch gemacht hätte, mich an sich zu ziehen, wäre ich am nächſten Tag nicht mehr ins Theater gekommen. Vierundzwanzig Mark habe ich verdient. Zum Weinen ist es. Warum mußte ich als Mädchen auf die Welt kommen, warum iſt mir diese unſelige körperliche Schönheit verliehen? Sie macht mein Leben nur noch schwerer, noch ärmer. *
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Die nächste Station ist Modellstehen in einem Bildhaueratelier. Nur Kopf und Schultern. Und doch meine ich, es ſei fein weiter Schritt mehr bis zum Akt. Eine Mark bekomme ich pro Stunde. Es geht gut, bis der Künstler der rein beruflichen Beſchäftigung mit meiner Perſon überdrüſſig wird ; bis er beginnt, sich für mein Seelenleben zu intereſſieren. (Er ist überzeugter Anhänger Siegmund Freuds.) Er behauptet, ein Geheimnis hinter mir zu wittern, das er um jeden Preis ergründen wolle. Ich kenne diese Art von Geheimnisergründung. Ich gehe. Soll er sich mit den psychischen Rätseln anderer Leute befassen, das Schwein.
Wieder heißt es: Suchen, suchen. Bei uns hat sich die Not langſam zur Kataſtrophe ausgewachsen. Vater und Kurt find ausgesteuert und beziehen eine kleine Wohlfahrtsunterſtüßung . Ich bin die einzige in der Familie, die hin und wieder mal ein paar Pfennige verdient. Schon längst regen ſich die Eltern nicht mehr darüber auf, wenn ich mich für die Schaustellung meines Körpers bezahlen lasse. Wenn es nur nicht so furchtbar schlecht bezahlt würde ! Meine Beine sind jezt im Inseratenteil aller illustrierten Zeitungen zu sehen — als Strumpfreklame. Als Honorar bekam ich zwölf Paar sehr schöne Strümpfe ; glücklicherweise gelang es mir, sie sofort wieder zu vertaufen. Was soll ich mit ſeidenen Strümpfen, da ich doch faum ein anständiges Kleid besite. Bei einem Frisierwettbewerb war ich Modell. Ich habe fast geweint, als ich meine schöne goldbraune Haarfarbe opfern mußte. Nun laufe ich mit einem brandroten Schopf herum. Na, wenigstens habe ich Dauerwellen gratis befommen bei dieſer Gelegenheit. 339
Mangel an Fleiß und gutem Willen kann ich mir wirklich nicht vorwerfen. Ich schreibe abends Adressen, tausend Stüc fieben Mark fünfzig. Nächste Woche werde ich bei einer Modenschau mitwirken, wie ein Affe über einen langen Laufsteg stolzieren und den reichen Damen ihre neuen Winterkleider im vorteilhaftesten Licht präsentieren. Einerlei - daheim warten sie mit Schmerzen auf das Geld. Wir sind mit der Miete im Rückſtand, auch Bäder und Kolonialwarenhändler drängen auf Bezahlung. Mama wollte es mit Schneidern versuchen. Sie hat früher ſehr viel und ſehr hübsch genäht, alle Kleider für uns Kinder ſelbſt angefertigt. Ja, früher — glückliche Zeit, in der wir noch ein Dienstmädchen oder wenigſtens eine Stundenfrau halten konnten . Jezt find Mamas arme kleine Hände so verschafft, ſo rauh und schwielig wie die einer Bauernfrau. Sie kann kaum mehr die Nadel richtig halten. Und ist auch viel zu müde, um nach einem langen Arbeitstag, nach Kochen, Waschen, Scheuern, Bügeln sich noch an die Nähmaschine zu setzen. Ihr denkt nun ſicher, es bedürfe so vieler Worte nicht, um euch das verſtändlich zu machen, nicht wahr ? Hört hier einen Brief, deſſen Worte sich mir ſo feſt eingeprägt haben, daß ich sie heute noch auswendig herſagen fann.
Die Tante Kommerzienrat aus Leipzig schreibt: ,,Lieber Bruder, ich verstehe Deine Klagen nicht. Du hast doch drei erwachsene Kinder, können die denn nicht arbeiten? Auch Deine Frau täte beſſer daran, mal ihren Düntel beiseitezuschieben und sich nach irgendeinem Verdienst umzusehen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg." (So, Frau Kommerzienrat ? Dann, bitte, zeige du doch den vier Millionen Arbeitslosen in Deutſchland den Weg ! ) ... „ Gott muß doch ein Einsehen haben und wird Euch auch vorwärts helfen, nur müßt Ihr Eurerseits auch alles dazu tun, diese furchtbare Not zu überwinden. Aber freilich, wenn 340
man ſeine Kinder erzieht wie Ihr es getan habt — Klavierſpielen, gute Schule und dergleichen überflüssigen Kram —, da kann man nicht verlangen, daß sie sich im praktischen Leben bewähren ... Von mir kann ich wenig Neues berichten. Meine Galle macht mir wieder zu schaffen, ich werde nach Karlsbad müſſen. Habt Ihr meine letzte Karte aus Paris bekommen ? Eine bezaubernde Stadt! Diese Eleganz, diese entzückenden intimen Lokale im Montmartreviertel ! Ich wollte, Du hättest das alles sehen können, lieber Bruder. Mein Haus in Berchtesgaden wird zum Sommer neu gestrichen - kostet auch eine schöne Stange Geld. Ja, so hat jeder seine Sorgen ..." In dieser Tonart geht es vier Seiten lang. Ich preſſe die Hände vor den Mund, um nicht zu schreien vor Haß und Wut.
... Während des oft stundenlangen Wartens auf der Arbeitsvermittlungsstelle vertreibe ich mir die Zeit damit, die Frauen und Mädchen zu beobachten, die in dem Raum verſammelt find. Sie vertreiben sich die Zeit mit Leſen oder auch mit Handarbeiten. Andere wieder schwägen von ihren häuslichen Angelegenheiten oder behandeln das unerschöpfliche Thema: Männer. Ich habe es gelernt, in ihren Zügen zu forschen, aus den jungen und alten Gesichtern ganze Geschichten zu lesen. Schwestern sind wir alle. Verbunden durch gemeinsames hartes Schicksal. Ich fühle mich --- wenn ich an die Zeit der Revue dente --- geradezu heimisch unter dieſen Mädchen. Es gibt eine Zusammengehörigkeit der Ausgestoßenen, eine Solidarität der Enterbten. Man muß nur den Mut haben, sich zu ihnen zu bekennen. Den lezten Rest bürgerlichen Klaſſendünkels von sich abstreifen um, ja was ? zu werden? Genoſſin ? Proletarierin ? Kameradin ? Ich weiß es nicht. Da halte ich ein Flugblatt in den Händen. In der lekten Zeit werden uns immer öfter solche Zettel vor dem Eingang des Arbeitsamtes in die Hände gedrückt. Zettel, deren Her-
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kunft man nur ahnen kann. Stets sind sie mit unverſtändlichen Abkürzungen unterzeichnet, wie : JAH. , RGO. und so weiter. Der Inhalt ist sich immer gleichbleibend : Aufforderung zum Zusammenschluß aller Arbeitslosen, zum Kampf gegen Unterdrückung und Elend. Und zum Schluß eine Einladung zu einer Proteſtverſammlung in dem und dem Lokal. Man müßte einmal hingehen, sich die Leute anhören. Wenigstens jemand, der sich unserer Not annimmt. Iſt es nicht besser, sich den Empörern, den Rebellen anzuſchließen, als im Stumpffinn zugrunde zu gehen ? Immer öfter regen sich solche Gedanken in mir. Bedürften alle dieſe gequälten Menschen nicht nur einer Führung, um ſich aus ihrem Elend zu befreien ? Sollen wir denn ewig hungern und schweigen, schweigen und hungern, ohne den Mund zum Schreien zu öffnen? Haben dieſe Millionen Arbeitsloser denn teine Fäuste, um sich damit einen Weg aus der Not zu bahnen ? Um uns wird gepraßt und geschlemmt, geschoben und betrogen, und wir schweigen immer noch still? So viele Gesichter ſehe ich um mich, ſoviel junge, arbeitswillige oder doch arbeitsfähige Menschen. Und hier steht ihr, wartet, wartet - Jahre hindurch wartet ihr schon. Im nächsten Jahr werdet ihr immer noch hier stehen, eure Stempelfarte in der Hand. Eure Haltung wird bis dahin etwas weniger aufrecht sein, eure Gesichter um einen Schein blaſſer, eure Seelen abgeſtumpfter. Aber ihr wartet geduldig. Worauf? Warum empört ihr euch eigentlich nicht ? Müßt ihr erst auf dem Tiefpunkt des körperlichen und seelischen Elends angelangt sein, ehe ihr euch wehrt ? * In einer Zeitschrift entdecke ich ein Gedicht, das mich nicht mehr zur Ruhe kommen läßt. .
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Erich Weinert heißt der Verfaſſer. nehme ich an. Hört, was er schreibt :
Ein Kommuniſt,
„ Unaufhörlich wächst die lange graue Arbeitslosenschlange. Und es wird das graue Heer täglich mehr und immer mehr. Für die heimlichen Regierer, Wirtschaftsführer, Halsabſchnürer, bist du nur noch tote Last, wenn du keine Arbeit haſt !
Einmal aber wird es dämmern, einmal wird den großen Schlemmern vor der Schlange, endlos lang, angst und bang ! Denn dann werden die marschieren,
alle, die ihr warten ließt! Nicht mehr hungern, nicht mehr frieren, Denn das Licht der Zukunft grüßt.
Dann marschiert die graue Schlange mit befreiendem Gesange in den Tag, wo es klirrt, wo es Arbeit geben wird !" Einmal aber wird es dämmern, sage ich langsam vor mich hin. Wo erscheint das Licht der Zukunft, wo ? Wann naht jener Tag, an dem es flirrt? Eine fremde, fast wilde Unruhe ist in mir. Es drängt mich nach Mitteilung, nach Gemeinschaft. Ich fühle, daß ich nicht länger allein stehen darf. Ach, ich würde mein Leben aufs Spiel ſezen, um einer Sache zu dienen, die um unsere Erlösung kämpft ! Einer allein ist nichts ; eine Stimme der Empörung verhallt ungehört. Wie aber, wenn sich diese eine Stimme mit den von Millionen verbände ?
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Bier Millionen warten in Deutschland. Auf den Tag, wo es klirrt, wo es Arbeit geben wird. „ Zu den Nazis oder zu den Kommunisten, sonst bleibt keine Wahl", hörte ich leßthin. Ich kenne keine der beiden Bewegungen genügend, um entscheiden zu können. Hitler hat die Jugend hinter sich. Hitler ist Idealist. Ist uns noch mit Idealismus zu helfen? Ich glaube es nicht. Aus den Reihen der Allerverbittertſten , Allergeknechtetſten muß es losbrechen. Ich weiß , welchen Haß Ungerechtigkeit erzeugt. Kann nicht nur eine Bewegung des Haſſes wiederum Gerechtigkeit schaffen ? Wenn ich nur einen Menschen hätte, der mich führte. Mein Bekanntenkreis sezt sich aus kleinen, bescheidenen Bürgern zuſammen. Sie wählen Zentrum oder Volks-partei oder -- äußerstenfalls Sozialdemokraten. Der kleine Kurt und seine Freunde sympathisieren stark mit den Nazis. Wenn ich so jung und begeistert wäre wie Kurt, so voll des guten Glaubens, ich würde eine der ihren werden.
Heiseres, näſelndes Gebrüll der Zeitungsverkäufer in der Römerstraße. Genau wie vor vierzehn Jahren. Blaue und gelbe Uniformen , überelegante Offiziere mit Reitstöcken, schäbig gekleidete Poilus ; hübsche Frauen drängen sich vor den Auslagen der Schaufenster, Verkäuferinnen werden nach Ladenſchluß von ihren Freunden erwartet, kleine Schulmädchen geben sich hier ein Stelldichein mit ihren Gymnaſiaſten ... Römerstraße in Mez. Nichts hat sich verändert, nichts. Ich size in der kleinen Konfiserie, ſeit zwei Stunden ſchon, sehe durch die große Fensterscheibe auf die Straße hinaus, auf die durch den Regen heßenden Menschen, die kotbesprizten Fahrzeuge. Sämtliche Zeitschriftenbände des Lokals habe ich durchgeblättert. Ich vertrieb mir die Zeit damit, die Damen an den Nebentischen zu beobachten, meine französischen Sprachkenntnisse aufzufriſchen, indem ich ihren Gesprächen zu folgen versuchte. Dann langweilte mich auch das. Man müßte hinaus, an die frische Luft. Hinaus, ja, wohin denn ? Ach, wenn ich nur einen einzigen Menschen hier kennen würde ! So furchtbar fremd und verlaſſen komme ich mir vor. Das Alleinsein trägt sich nirgends so schwer wie in der Heimat. Immer wieder muß ich es mir ins Gedächtnis zurückrufen : daß ich hier in Mez, in Mez , in Meg bin. Daß dies teine Stadt wie alle anderen Städte der Welt ist. Daß ich hier zu Hauſe bin. 469
Zu Hause? Ja, Jeanne Martin, da biſt du alſo wieder in Mezz. So hättest du dir den ersten Tag in der alten Heimat nicht vorgeſtellt, nicht wahr ? Wo bleibt die jubelnde Wiederſehensfreude, wo bleibt wenigstens ein Gefühl ſanfter Trauer und Wehmut angesichts dieſer Stadt, zu der es dich doch vierzehn Jahre hindurch mit brennender Sehnsucht zog? Vielleicht kann ich es noch nicht recht glauben. Sicher iſt es so. Ich glaube immer noch zu träumen und im nächsten Augenblick drüben in Deutschland zu erwachen. Vielleicht habe ich mich auch unbewußt mit einem Panzer der Gefühllosigkeit umgeben, als ich die Fahrt nach der Heimat antrat. Ich fürchtete wohl den zu übermächtigen Anprall der Freude bei der Heimkehr. Ich ertrage ja teine Freude mehr. An Leid bin ich gewöhnt, bis zur völligen Stumpfheit. Aber Freude? Mit ungläubiger Verwunderung nahm ich vor Tagen die Nachricht auf, daß ich wieder nach Mek zurückdürfe. Papa erledigte alle Gänge für mich. Die ganze Familie beneidete mich um das große Glück, zu dem mir Tante Suzanne verholfen hat : sie schickte mir einen größeren Geldbetrag, damals, als ich todkrank lag. ,,Schickt das Mädel nach Mek, in der Heimat wird es genesen", schrieb sie. ,,Ich kenne meine kleine Jeanne. Nur das Heimweh hat sie so weit gebracht ..." Das Heimweh? Ich weiß es im Grunde selbst nicht mehr. Ja, vielleicht wäre ich nie so arm, so elend geworden, wenn ich eine Heimat mein eigen genannt hätte. Alles Leid wäre leichter zu ertragen gewesen. - Aber ist denn dies die Heimat? Met sagt mir - vorderhand - gar nichts. Eine Stadt wie alle anderen Städte der Welt. Heimat ? Ist Heimat nicht vielmehr ein Begriff, ein Wort, das Frieden und Geborgenheit in ſich ſchließt? Ich will nicht soviel nachdenken. Es führt zu nichts. Jedenfalls werde ich eine ruhige, beſchauliche Zeit der Genesung hier verbringen . Keine Stimme der Außenwelt
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soll mich stören
die Eltern versprachen mir, in ihren
Briefen nichts von den politiſchen Geſchehnissen in Deutſchland zu erwähnen. - Es geht den Meinen jezt besser, um fie quält mich keine Sorge mehr. Vater fand durch Vermittlung unseres Pfarrers eine bescheidene Anstellung. Käthe ist immer noch bei Dr. Wegener tätig, Kurt geht seinem Beruf als Laufbursche nach. Meine schwere Krankheit hatte ein Gutes : sie stellte die Verbindung zwischen meinen Eltern und Suzanne, die sich im Laufe der Zeit merklich gelockert hatte, wieder her. Suzannes Mann ist längst gestorben. Sie hat die Führung des Geschäfts übernommen. Wenn sie auch keine Reichtümer erworben hat, so lebt sie doch in gesicherten Verhältnissen. Wir hatten uns auseinandergelebt, ich weiß selbst nicht, aus welchem Grunde. Eine Postkarte zu den Festtagen stellte zum Schluß die einzige Beziehung zwischen Tante Suzanne und uns her. Als ich vor Wochen zwischen Leben und Tod schwebte, benachrichtigten die Eltern Suzanne von dem Vorfall . Umgehend traf ein Brief von ihr ein und diese Geldsendung, die mir die Heimkehr nach Meß ermöglichte. Suzanne erkundigte sich teilnehmend nach unseren Verhältniſſen, erklärte sich sofort bereit, die kleine Marianne ― aufzunehmen, bis es uns wieder besser ginge. Die Gute. Gleich morgen werde ich ihr schreiben. Sie soll das erste Lebenszeichen von mir aus der alten Heimat erhalten, an der sie so sehr hängt. Hätte ich sie doch jezt bei mir ! Oder auch Mutter. Ich möchte meinen Kopf an die Schulter eines lieben Menschen lehnen und mich ausweinen. — Zu denken, daß zwei, drei Straßen entfernt von hier unser altes Haus steht ! Die Häuſer von Olrys und Bertrands - Marcel und Berthe ! Wie konnte ich sie vergessen! Wie groß wird ihre Freude sein, die kleine Jeanne wiederzusehen ! Werden sie mich überhaupt noch erken471
nen ? Wie stelle ich mir das eigentlich vor? Für mich sind die beiden immer noch Kinder geblieben. Wenn ich an Berthe denke, sehe ich das vierzehnjährige Mädel vor mir , und mit den Schillerlocken , dem weißen Schürzchen
- schon ele! ist er ein Mann . Vielleicht rcut MaHe oder sicher — et verheirat . Auch Berthe hat vielleicht schon Kinder. Jedenfalls muß ich die Adressen der beiden auskundschaften . Gleich morgen . Ach ja, Madame Maſſun wird auch noch in Mez leben , und die Bäckersleute, die Fetters , waren sen ... zoht ch sic Frhannic doch Obau sie alle sehr verändert haben ? Ob sie mich wieder aufnehmen werden ? Wieder senkt sich das Gefühl des Verlassenseins schwer auf mich. Die Heimat verschließt fich mir das spürte ich schon bei der Ankunft in Met. Keine Spur von Freude oder Wehmut war in mir, als ich hier eintraf. Vielleicht , weil ich mich unbewußt jeder Rührseligkeit verschloß . Vielleicht , weil es in Strömen regnete . Und ganz sicher, weil ich von einem widerlichen Kerl ſchon im Zug und später noch auf dem Bahnhof betigtt wu läsMi . enen Augen , müde , verdroſſen fuhr ich durch chleoss gesrd t die Stad . Es bereitete mir eine Art von wilder Schadenfreude, mich an meiner eigenen Enttäuschung zu weiden . Dann kam der Einzug in ein kleines , nicht allzu sauberes Hotelzimmer . Das einzige Fenster sieht nach dem Hof über die jenſeitige Hausmauer geht der Blick auf ein Gewirr von Schornsteinen und verweinten Schieferdächern . Das kleine Stubenmädchen bringt mir Waschwasser. Ich richte irgendeine Frage an sie, in deutscher Sprache. Sie zuckt die Achseln , mißt mich mit frechem Blick, murmelt etwas wie « ne comprends pas» und verläßt das Zimmer, die Tür mit hörbarem Schwung hinter sich zuwerfend . Natürlich man muß sich darein finden , hier im Aus d n lan zu sei . Seltsam, in meiner Erinnerung war Mez immer deutsch für mich geblieben, troz des letzten Halb-
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jahres, das wir unter franzöſiſchem Regime dort verlebten. Während ich mich wasche und umkleide, höre ich draußen im Flur das Mädchen hantieren. Es wischt den Fußboden und singt dabei mit unangenehm schriller Stimme : ,,Das ist die Liebe der Matrosen.“ Ihre deutsche Aussprache ist einwandfrei. Falsches Frauenzimmer ! Ich werde mich fortan konsequent der deutschen Sprache bedienen, wenn ich mit ihr rede. Also immer noch der Deutschenhaß hier im Lande während wir drüben von Völkerversöhnung reden. Mein Zimmer ist eigentlich nicht ungemütlich. Wenn man nachsichtig über die behäbige Unsauberkeit hinwegſieht, über die Spinnengewebe an der Decke und den Wänden, ist es irgendwie heimatlich-traulich hier. Breites Bett mit Spizenvorhängen. Ein Marmorkamin mit halbblin= dem Spiegel in vergoldetem Rahmen darüber. Auf dem Sims steht eine nedische Gipsfigur, irgendein musenhaftes Wesen, mit verklärtem Gesichtsausdruck. «Le Printemps » ſteht erläuternd in verſchnörkelten Buchstaben auf dem Sodel. Ich war etwas versöhnlicher gestimmt, als ich das Hotel verließ, um einen kleinen Abendſpaziergang durch die Stadt zu unternehmen. Dann fand ich mich auf der Römerstraße. Unſchlüſſig stand ich ſekundenlang, dann bummelte ich langſam ſtadteinwärts. Es regnet, regnet, regnet. Das ermüdende Getriebe enger Geschäftsstraßen nimmt mich auf. Es ist hier wie in allen anderen Städten der Welt. Blaue Uniformen, französische Aufschriften über den Geſchäften machen mir die Stadt nur noch fremder. In ein Geschäft. Irgend etwas kaufen. Nur mit einem Menschen ein paar Worte wechseln. Nicht so allein ſein jeßt. Angstlich meide ich die Gegend unserer früheren Wohnung. Heute bin ich noch zu verwirrt, zu verstört, um dem An-
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prall dieser Fülle von Erinnerungen ſtandzuhalten, die der Anblick der alten Stätten in mir wachrufen wird. Daß ich keinem bekannten Menschen begegne, feinem einzigen ! Dort die Dame in dem weißen Hütchen - ist das nicht...? Ich will auf sie zugehen, sie anreden — da sinkt mir wieder der Mut. Schon ist sie vorüber ... Soll ich der Kathedrale einen Besuch abstatten? Zwei, drei Straßen noch - mit fast unwiderstehlicher Gewalt zieht es mich dorthin —, das gotiſche Wunderbild des Domes steht mir so deutlich vor Augen . Es war am Tag vor der Abreise, blendende Sonne lag über dem Paradeplak, ließ das ſtumpfe Grau des Bauwerkes aufflammen ... Nein. Ich will auf die Sonne warten, ehe ich den Traum aus vierzehn langen, bangen Sehnsuchtsjahren wahrmache, einmal wieder das kühle Dämmergrau des alten Domes zu betreten. Den Geruch von brennenden Kerzen, welkenden Blumen und Weihrauch einzuatmen, die betenden Frauen vor dem Bild der wundertätigen Mutter Gottes knien zu sehen und vor allem das Farbenwunder der gemalten Kirchenfenster zu erleben, die tauſend zitternden Sonnenreflexe der Glasgemälde, auf dem Steinboden gleißend und flimmernd ... Sonne meiner Heimat. Vielleicht fehltest nur du mir am Tage meiner Heimkehr, vielleicht hätte sich das Wiedersehen zu einem Fest gestalten lassen, wenn du diese Stadt nicht gemieden hättest ... So aber stand meine Heimkehr im Zeichen schwerer, bleigrauer Regenwolken. So zeigt mir die Heimat ein verweintes Gesicht. Die Stadt Mezz scheint sich mir zu verschließen.
Es ist spät geworden. Das Lokal hat sich geleert, nur ich size immer noch hier, an meinem Fensterplay. 474
Ich muß gehen. Das Servierfräulein ſtreicht schon seit geraumer Zeit um meinen Tisch herum, das Mädel wird Feierabend machen wollen. Ich winke sie heran, begleiche meine Zeche, erstehe noch ein paar Ansichtskarten. Das Fräulein muß an meinem etwas mühsamen Französisch erkannt haben, daß ich Ausländerin bin. Denn ſie ſpricht plötzlich deutſch mit mir, ein etwas fremdklingendes, aber immerhin geläufiges Deutsch. Während sie mir in den Mantel hilft, fragt sie : ,,Madame ist wohl fremd hier?" Ja, fremd. Ob Madame sich hier länger aufzuhalten gedenke, fragt das Mädchen weiter. Oh, in Meß gebe es eine Menge Interessantes zu sehen. Zum Beiſpiel die Kathedrale, die Altstadt. Bei dem schlechten Wetter sei es im Freien allerdings troſtlos ; aber Madame möge ja nicht versäumen, der Esplanade und den Moſelanlagen einen Besuch abzustatten. Man habe von dort einen ſchönen Ausblick auf den St. Quentin. Oder draußen, auf der Höhe von St. Julien, da ſei es bei flarem Wetter ganz herrlich. Sie selbst wohne dort draußen. Der Weg sei ganz leicht zu finden. Durch die Rue Chambière, immer geradeaus ... Wie die Rue Chambière zu deutscher Zeit geheißen habe, frage ich. Friedhofstraße. Ich bedanke mich bei dem liebenswürdigen Mädel und drücke ihm ein reichliches Trinkgeld in die Hand. Dann stehe ich wieder auf der Straße, unſchlüſſig, wohin ich meine Schritte lenken soll. Durch die Friedhofstraße, immer geradeaus, nach den Höhen von St. Julien ... ? Etwas später size ich in einem Kino in der Römerstraße, sehe mir einen verstaubten, deutschen Tonfilm an.
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In dieser Nacht, der ersten Nacht in dem Bett mit den gen altmodischen Spizenvorhän , habe ich einen bösen Traum. le Ich stehe vor der Kathedra , die seltsamerweise teine Kirche , sondern ein Berg ist. Starr und grau liegt das vielzerklüftete Felsmaſſiv vor mir , deſſen Form irgendeine Ähnlichkeit mit der Dreitorſpige bei Garmisch aufweist . An den Nordhängen liegt noch Schnee . Mir ist sehr kalt , meine Zähne schlagen hörbar widereinander. Es hilft nichts , ich muß über den Gletscher hinaus, ehe ich nach St. Julien n Das hübsche Servierfräulei aus der Konditorei hantiert tomme . wenige Schritte von mir entfernt mit einem Staubsauger. „Sie sind wohl fremd hier, Madame ?" sagt sie, mich mit em ick eigentümlich Bl meſſend . „ Warten Sie, ich fege Ihnen ig rd ee, di rknwü t de eſge."grauen Augen —. Jezt seh ' ich erst, daß hn ersMe Sc we m das Fräulein in einer feldgrauen Soldatenunifor steckt . - das ist Friz, Friz er das istr ja au r au inre Frauinen Ab ga ke ge bs Tornow ! De St in se Händen verwandelt n r , ohrenbetäubendes de le en n en ig el ne rr es ch op ri si in ei , su Pr mm Motorgebru erfüllt die Luft . Dicht über uns freist ein ug ze Flug . Mir wird fast schwindlig angesichts der halshen Kunststücke, die es vollführt . Jezt überſchlägt sc ri he brec es sich einige Male in der Luft , verfängt sich irgendwo , tief hten unter uns , in den Telegraphendrä . Dann ist es spurlos
ren thase ! " lacht Friz. Er greift nach meiner ne ei An „Kl nd wu ch vers . gs Hand . Oh , seine Hand fühlt sich so stark an, so sicher und geborgen ist mir zumute , als er mich jezt aufwärts führt , an klaffenden Abgründen vorüber , über vereiste Felsen. ,,Was suchst du denn hier in Metz ? “ frage ich verwundert. „ Ich will dich doch in die Heimat führen , Jeanne !" sagt der Flieger. ,,Weil du den Weg allein nicht findest !" Ich bin etwas beschämt , weil ich einen Vorwurf aus seinen Worten zu hören glaube . Kann ich denn dafür, daß ich meine Heimat nicht mehr finde ?
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Wir tappen durch Dunkelheit und Kälte, über Felsen und Schnee vergebens halte ich Ausschau nach etwas,
das wie Mez aussieht. ,,Sieh nur, wie häßlich!" Frig deutet auf das alte, graue Haus in der Friedhofstraße, am Fuße des Berges . „Hier bist du also geboren, ſchämst du dich denn nicht ? “ Ich ziehe meine Hand aus der seinen. Wie kann er es wagen, mein Geburtshaus zu ſchmähen ? Ich bin ihm davongelaufen, stehe jezt vor der Haustür, an der ein großes Schild angebracht ist mit den Worten : ,,Für Flüchtlinge Eintritt verboten!" Aus jedem der zahllosen kleinen Fenſter ſieht ein fremdes Gesicht heraus. Spöttiſch grinſen ſie auf mich herab, deuten mit den Fingern auf mich, dann wieder auf das Schild an der Tür. Aber ich muß doch herein . Meine liebe Großmutter wohnt dort, und Großvater und Suzanne. Verzweifelt rüttele ich an der feſt verſchloſſenen Tür, trete mit den Füßen dagegen, bearbeite sie mit beiden Fäusten ... Tränen der Wut und Empörung ſteigen mir in die Augen. „Warum regst du dich so auf ?“ fragt Frik hinter mir. „ Sie sind doch alle längst tot, die du hier ſuchſt. Da mußt du schon nach Chambière hinausgehen .. !“ Ich wende mich um, will etwas entgegnen und bringe doch kein Wort über die Lippen. Das ist ja gar nicht mehr Friz, an der Stimme erkannte ich schon, daß Erwin hinter mir steht. „ Das ist also deine Heimat ! “ ſagt er spöttiſch. „ Na, ich fann mit dem besten Willen nichts Schönes daran finden. Hier wohnt doch nur verlaustes Pack. Nein, meine Liebe, die Sentimentalität mußt du dir abgewöhnen , wenn ich bei dir bleiben soll. Ehrlich gestanden, du langweilst mich, Hansi!“ „ So geh doch! “ will ich ihn anſchreien. „ Ich brauche dich ja gar nicht ..." 477
Da wird mein Blick durch ein seltsames Bild gefesselt . Aus den Mauerrigen des alten Hauſes , aus den Kellerlöchern kriechen zahllose glänzend -schwarze Käfer, ordnen sich in Viererreihen , kriechen langſam an mir vorüber, der Mosel zu. Dort ergießt sich das etle schwarze Heer ins èrefriedhof, ſehe Großnn Daer Waſſ . stehe ich auf dem Chambi vater in seiner gelben Jacke auf einer Bank ſizen . Er hat den Kopf aufgestüßt und sieht an mir vorbei , als kenne er er ch nic übht miDa . kommt mich das Gefühl des Verlaſſenſeins, des Ausgestoßenseins so stark, daß ich zu weinen beginne . Wohin ich auch gehe, wendet man sich von mir ab. Nur die eklen Käfer verfolgen mich, in wohlgeordneten Reihen ziehen sie hinter mir her, treiben mich dem Fluß
ck Im engt egle . Augenbli , als das trübe Waſſer ſchon meinen entg ..en Fuß erreicht, gelingt es mir, zur Seite zu ſpringen . ender Vor meinen Augen stürzen Millionen schwarzglänz Käfer in die Mosel
- in die Mosel ...
Ich erwache, das Gesicht in Tränen gebadet . Ein trüber Wintermorgen steht draußen vor den Fenn stern . Gespenstisch leuchtet die Frühlingsgötti auf dem s zu mir herüber. Kaminsim An Schlaf ist nicht mehr zu denken . Draußen auf dem Gang tappen eilige Schritte vorüber , der Staubsauger ſurrt
nt aus der Küche schallt die Stimme der Wirtin zu teng d si unUn . mir herauf, ſie zankt mit dem Hausknecht . Er heißt Lucien und ist der größte Esel der Welt , wie ich dem Gezänk der me . mich in den Kiſſen und drehe mich nach der ehbe auh en rgra FrIc vetn Wand. Wie seltsam , dieſer Traum !
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Wenn ich ihn als Omen für die Tage in Mez betrach= ten wollte - ach, Unsinn. Ich darf eben nicht länger allein
sein. Ich will mir heute ein Adreßbuch geben lassen und nach bekannten Namen suchen. Und wenn die Sonne erst wieder scheint, will ich Wiedersehen mit der Ponceletstraße, mit der Friedhofstraße, der Kathedrale feiern ... Soviel Schönes und Beglückendes steht mir bevor, wirklich, ich bin ein undankbarer Mensch. Vielleicht liegt alle Schuld nur an mir. Vielleicht bin ich selbst der Heimat untreu geworden ? Als junges, begeiſtertes Kind lebte ich einmal hier, als ein Mensch mit warmem , liebeerfülltem Herzen. Und wie tehrte ich zurück? Ich müßte der kleinen Jeanne wieder ähnlich werden, um die Heimat wiederzufinden. Mit ihren hellen, frohen Augen müßte ich die Welt betrachten ach, es ist nicht nur die Sonne, die mir hier fehlt. Es ist der flammende Idealismus meiner Kindertage, den sie mir drüben geraubt haben. Wie elend, wie bettelarm ich geworden bin, erkenne ich erst jezt. Dieſe Heimkehr nach Mek war ein Prüfstein ... Folgen ein paar Regentage, an denen ich müde, verdroſſen in der Stadt umherlaufe, mit naſſen Füßen, frierend und zitternd vor Unbehagen. Immer wieder suche ich dann die Konfiserie in der Römerstraße auf, wo ich mich mit realen Genüſſen, als da find : Kaffee und herrliches Gebäck, schadlos halte. Die Gegend unserer früheren Wohnung meide ich nach wie vor. Ebensowenig konnte ich mich bis jezt entſchließen, auf die Esplanade oder an die Mosel zu gehen. Ich suche mir ausschließlich das neuere, das Bahnhofsviertel , zu meinen Spaziergängen aus. Dieser Stadtteil ist nüchtern und modern, erst nach unserer Flucht aufgebaut. Ewig kann man sich nicht auf der Straße aufhalten. Vor der Stille meines Hotelzimmers graut mir — so bin ich in diesen feuchten, unfreundlichen Tagen faſt ausschließlich
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auf den Aufenthalt in Kinos oder Cafés angewiesen. Das aber bringt eine neue Unannehmlichkeit mit sich : die Zudringlichkeiten der Männer. Alleinstehende Frauen scheinen hier als eine Art Freiwild betrachtet zu werden. Auf der Straße, im Lokal, ja ſelbſt in der Kirche, der ich lezthin einen Besuch abſtattete, bin ich den Nachstellungen des anderen Geschlechts ausgesezt. Das verſezt mich in einen Zustand ewigen Geheßtseins. Mit meiner Gesundheit steht es in diesen Tagen nicht zum besten. Ich werde nächſtens einen Arzt aufſuchen müſsen. Nachts liege ich stundenlang schlaflos, achte auf den eigenen rasenden Herzschlag. Oft werde ich von Erstickungsanfällen heimgesucht. Und müde bin ich, zum Sterben müde. Vielleicht werde ich nicht mehr sehr lange leben. Merkwürdigerweise hat der Gedanke nichts Tröstliches mehr für mich. Im Gegenteil, angesichts der Vorstellung des Todes bricht mir kalter Angstschweiß aus. Mit aller Gewalt klammere ich mich plötzlich ans Leben. Mir ist oft, als habe ich vom Dasein doch noch etwas zu erwarten. Ist es vielleicht doch die Heimat, die mir wieder Lebensmut einflößte? Ach, bis jetzt zeigt sie mir kein gutes Gesicht. Ich kann mich auch nicht entschließen, alte Bekannte wieder aufzuſuchen. Nicht in dieſer Stimmung. Sonntag. Ich habe den Gottesdienst in der Notre-Dame-Kirche besucht. Als ich aus dem tiefen Dämmerdunkel der alten Kirche hinaus auf die Straße trete, bin ich zunächst geblendet von dem starken Sonnenlicht. Brausende Orgelklänge, Glockenläuten, Geruch von Weihrauch und Blumen - so fing der Tag an. Es wird ein guter Tag werden. Ich will ihn festlich gestalten ... Die Sonne verwandelt das Gesicht der Stadt Met mit einem Schlage. Wohl ist es Winter, wohl eilen die Menschen, in warme Pelze und Mäntel gehüllt, an mir vorüber. Mir aber ist so warm, für mich treiben alle kahlen 480
Äste Blüten. In vier, sechs Wochen wird der Frühling hier seinen Einzug halten. Wonnig ist der Frühling in Mek ich glaube ihn jezt schon durch die Eiseskälte des Januartages zu spüren. Wohin soll ich nun meine Schritte wenden ? Wohin? fragst du, Jeanne. Heim, heim, heim! Den Weg durch die Bonne Ruelle lege ich fast laufend zurück. Minuten später stehe ich in der Ponceletstraße, vor dem großen Torbogen des Hauſes Nummer zwei. Ich bin ganz ruhig, ganz besonnen. Nur mein Herz klopft bis zum Halse herauf, als ich langſam, zögernd das Innere des Hauses betrete, die breiten Treppen emporſteige, zum zweiten Stockwerk. Da ist das kleine Fenster nach dem Hof hinaus. Ich laſſe mich auf der Fensterbank nieder, sehe in den sonnenbeschienenen Hof hinab. Zwei Kinder spielen dort, ein Junge und ein Mädchen. «Allons, Lucie, un peu plus vite!» ruft der Junge , dem Mädel den Ball zuwerfend. Die fängt ihn auf, mit hocherhobenen Händen, lacht hellauf, als er ihren kleinen Händen wieder entgleitet und mit lustigen Sprüngen auf dem Steinpflaster auf- und niederhopst. Ich beuge mich weit hinaus, sehe in das Küchenfenster im Parterre. Bratenduft ſteigt zu mir empor, eine dicke Frau hantiert geſchäftig mit Töpfen und Pfannen. — Gleich wird Mama mich zum Eſſen rufen. Ich habe den Schulranzen auf die Treppe geworfen. „ Natürlich, nie haſt du ihn ordentlich umgeschnallt wie andere Kinder“, ſagt Mama. „ Nun lauf nicht gleich nach dem Essen wieder auf die Straße, zu Berthe. Ewig ist man in Sorge um dich, wenn die Flieger tommen." Da unten, wo der kleine Junge steht, schlug damals die Bombe ein. Sie hätte mich zerrissen, wenn ich etwas früher den Hof überquert hätte ... Jezt öffnet sich ein paar Stufen höher die Tür unſerer
16 Der Weg in die Heimat
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Wohnung. Ich will nach meinem Schulranzen greifen ... Da kommt eine junge, sehr elegante Frau an mir vorbei, steigt die Treppe herab. Sie hinterläßt einen Geruch von Peau d'Espagne oder Lavendel, ich kann es nicht so genau unterscheiden. Unten, am Treppenabſak, wendet sie sich noch einmal nach mir um, mißt mich mit erstauntem Blick. Dann ist sie verschwunden. Ich starre ihr nach, streiche mir dann über die Stirn ... Jetzt bin ich wieder völlig wach. — Diese fremde Dame wohnt also in unseren Räumen. Ich habe dort nichts mehr zu suchen. Ach, wäs gäbe ich darum, wenn ich noch einmal die Wohnung betreten dürfte. Noch einmal aus dem Fenster hinüber zu den Olrys zu sehen, Berthe einen Gruß zuzunicen. Da stehe ich vor der Tür. ,,Jules Boyer", steht auf dem Emailleschild. Unseres war aus Messing. Neben der Klingel war es angebracht, man sieht jezt noch deutlich die Spuren der Nägel im Holz. Die Boyers haben ihr Schild in der Mitte der Tür angenagelt. ,,Eintritt verboten ! " steht unsichtbar, in kleinen, flammenden Lettern darüber. Vor meinen Augen tanzen die Buchstaben auf und ab, ich lehne an der Tür, preſſe meinen heißen Kopf gegen das harte Holz. Tränen verdunkeln meinen Blick ; „ Jules Boyer“ ist jezt fast nicht mehr leserlich, vielleicht steht auch etwas anderes auf dem Schild,,, Eugen Martin" etwa. Meine Hände streichen über das glatte Holz der Tür, suchen die Klinke. Vielleicht ist sie gar nicht verschlossen, Madame Boyer hat es vielleicht vergessen. Oder das Dienstmädchen ist drin in der Küche. Wie, wenn ich auf den Knopf der Klingel drückte und es bäte ... Da höre ich Schritte im Gang. Wie geheßt laufe ich die Treppen hinab, auf die Straße hinaus.
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Es war doch schwerer, als ich glaubte. Mir ist zumute wie einem Bettler, vor dem man unbarmherzig die Türen verriegelt hat.
An einem
jener
einem stundenweiten
flaren, sonnigen Spaziergang
Januartage,
nach
moselaufwärts,
nach Longeville hinaus, kehre ich müde, durchfroren nach Mez zurück. Im Schaufenster der Boulangerie Fetter entdecke ich herrliche, braunknusperige Fleischpasteten -- ob ich hineingehen soll? Es kennt mich doch keiner mehr. Ich laufe also keine Gefahr, mich einer Begrüßungsszene auszusehen. Heute habe ich kein Bedürfnis nach Aussprache. Ich bin zu müde. Ach ja, da ſteht Madame Fetter hinter der Theke. Alt ist fie geworden, dick und behäbig. Das junge Mädchen an ihrer Seite könnte die kleine Henriette sein. Sie war damals zwei Jahre alt. Nebenan im Café lasse ich mich auf einem der kleinen Sofas nieder, bestelle Kaffee und Pasteten. Frau Fetter kommt einige Male an mir vorüber, ſie wünſcht mir höflich guten Abend. Flüchtig steht mir das Bild vor Augen, wie sie uns damals frühmorgens das Kuchenpaket überreichte, « pour les pauvres petits ! >> Ihr Gesicht war tränenüberſtrömt, ſie trug einen roten Schlafrock. Wenn sie wüßte, wem sie eben guten Abend gewünscht hat ! Da betritt Fräulein Madelaine den Raum. Die gute alte Madelaine ! Damals war ſie ſchon Verkäuferin bei den Fetters, damals war ſie ſchon ein altes, welkes Jüngferchen. Aber jetzt ! Ihr Haar ist schneeweiß geworden, unzählige Fältchen durchlaufen ihr gutes, kleines Gesicht. Ich war immer ihr besonderer Liebling. Stets hatte sie einen Bonbon oder eine Lakrizenstange für mich, wenn ich einkaufte. Übrigens mochte sie auch Berthe
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recht gern, wenn ſie ſich auch oft über die ſchnippiſchen Antworten meiner Freundin aufregte. „Die Jeanne Martin ist ein braves Kind “, pflegte sie zu sagen. ,,An der mußt du dir ein Beispiel nehmen, Berthe ! Nächstens bekommst du keinen Bonbon mehr, wenn du dich über meine Figur lustig machst, freches Ding!" Jezt trippelt Madelaine an mir vorüber, ein Tablett in den Händen. Immer noch trägt ſie dieſen komiſchen kleinen Haarknoten oben auf dem Kopf, wie ein Windbeutel mit Haarnadeln, ſagte Berthe früher. „ Madelaine“, rufe ich plözlich halblaut. „ Madelaine! “ Sie wendet sich nach mir um. ..Madame!" Sie steht vor mir, bereit, meine Wünsche entgegenzunehmen. „Madelaine, kennen Sie mich nicht mehr?" Ich faſſe nach ihrer kleinen, welken Hand. „ Madelaine, ich bin doch die Jeanne ..." Sie sieht mich an, faßt mich ſcharf ins Auge. Keine Spur von Erkennen auf ihrem Gesicht. «Je ne comprends pas, Madame! » sagt sie förmlich. ,,Sehen Sie mich doch einmal richtig an, Madelaine!" Jetzt rede ich deutsch. „ Erinnern Sie sich denn nicht mehr an die Martins, die früher hier wohnten, in der Ponceletstraße? Ich bin die kleine Jeanne, Madelaine, der Sie immer Bonbons geschenkt haben ...“ « Mon Dieu, Martins Jeanne !» Die Hände des alten Fräuleins beginnen in der meinen zu zittern. „ Ia, lebſt du denn noch, Kind ? Laß dich anschauen, ja, die braunen Augen, das schmale Gesicht — du bist also wieder in Mez? Willkommen in der alten Heimat, mein liebes, liebes Kind!" Sie schließt mich in die Arme, tüßt mich immer wieder, ich spüre ihre Tränen auf meinen Wangen. Eine warme Welle des Glücks überströmt mich. So hält mich die Heimat umfangen, zum erstenmal wieder. Dieſe
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alte runzlige Madelaine weint vor Freude. Ich bin doch nicht verlassen hier. In der Heimat leben noch immer Menschen, die mich liebhaben ! Die Gäſte des kleinen Cafés mögen unſerer Begrüßung mit erstaunten Blicken gefolgt sein. Madelaine kann sich gar nicht beruhigen. Immer wieder streichelt sie mein Geſicht, meine Hände. „ So hübsch bist du geworden, ſo ſtattlich und fein“, sagt sie. Eine große Zärtlichkeit schwingt in ihrer Stimme. Plöglich läßt sie mich stehen. Sie läuft nebenan in den Laden. „ Die kleine Jeanne Martin iſt drüben im Café, Madame!" ruft sie laut. Dann kommt sie zurück, gefolgt von ihrer Chefin. Madame Fetter schließt mich stumm in die Arme. Sie vermag nicht zu sprechen. Auch ihr laufen die hellen Tränen über das Gesicht ... Später muß sie wieder in den Laden zurück, die Kundſchaft bedienen. „ Du mußt heute mit uns Abendbrot eſſen, Kind“, sagt sie. „ Und uns erzählen, wie es euch drüben ergangen ist." Fräulein Madelaine weicht kaum von meiner Seite. „ So hübsch ist die kleine Jeanne geworden“, sagt sie immer wieder, mich liebevoll betrachtend . „ Wer hätte das gedacht ! Als Kind warst du eigentlich ziemlich häßlich, ſo mager — na ja, der Krieg. Hast du noch keinen Schat, hein?"
Ich schüttle den Kopf. „ Oh“, macht sie bedauernd und wiegt den Kopf hin und her. „ Das ist aber traurig. Aber in Deutschland heiraten die Mädchen wohl nicht so früh ?" ,,Nein, Madelaine. Weil die Männer meistens keine Arbeit haben, weißt du . Oder das Einkommen ist zu klein, um Frau und Kinder zu ernähren.“ ,,Ach, wenn man sich richtig liebhat, macht man sich darüber keine Sorgen", meint das alte Fräulein. „ Du mußt nicht denken, daß es den jungen Leuten hier viel besser
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- den hast du ginge. Der Marcel Bertrand zum Beiſpiel doch auch gekannt ? So ein hübscher großer Mensch mit blauen Augen ..." Hier wird Madelaine abgerufen . Sie läuft zum Büfett, richtet zwei Portionen Kaffee an, die
en ali ntiſch gt . inn m ck Ne,be denneGä ſie „Ei n st h bi Augenb Kind , icbr gleich wieder da!“ ruft enwelle ehut e Bl sie Mmi zu. in den Kopf gestiegen . Marißrg nerü t eiVo irr isim hebe r te es ut er ra st Gefährte meiner Kinderzeit . , lieb cel ! Vert en rd s s wo r a t , Marcel , werde ich dich wiederis au di ge W ines Rückkehr kaum erwarten . nnenMa karf Icnh dü ? dela sehe „Was wollten Sie mir von Marcel Bertrand erzählen, wohnt er noch hier in Mez ?" frage ich aufgeregt, als sie n mir Plaz genommen hat . wiederernebe natürlich , Jeannie. Der hat doch vor Jahren die „ Ab wie hieß sie doch gleich, sie wohnte auch hier in kleine raße .- du kennst sie doch, ein kleines zappeliges der StDing, eigentlich immer ein bißchen vorlaut ...“ „Berthe Olry“, sage ich etwas gepreßt . Sollten die beilen den Jugendgespie sich verbunden haben , meine kleine Berthe und mein großer Freund Marcel ... „Ja, Berthe Olry . Der Vater hat sich übrigens totgesoffen, denk nur. Und die dicke Madame Gautier , die hast du doch auch gekannt , der eine Sohn iſt im Krieg gefallen ... ,,Marcel und Berthe sind ein Paar geworden ! " sage ich leise vor mich hin . „ Erzählen Sie mir noch von den beiden, Madelaine, bitte. Wo wohnen sie, haben sie Kinder, ist immer noch so hübsch, ja? Berthe Madelaine scheint sich über me“in lebhaftes Intereſſe an er eniß t wu eln . kann ich nicht mehr erzählen. Sie zu beidwe den „ Ja, dund , vi wohnen in Montigny, soviel ich weiß . Es soll ihnen nicht sehr gut gehen . Der junge Bertrand ist auf einem Büro beschäftigt, glaube ich. Und da langt es immer nicht, wie es scheint . Madame Schneider hat mir das alles erzählt,
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die war doch mit Berthes Mutter befreundet. Ja, die Berthe ist eine richtige kleine Schönheit geworden . Wir dachten ja immer, die bekommt einmal einen Offizier oder einen höheren Beamten. Und nun ist sie an Marcel hängengeblieben ..."
Am Nachmittag des nächsten Tages fahre ich nach Montigny. Im Adreßbuch habe ich die Wohnung ausfindig gemacht. Mein Herz klopft wie raſend, als ich die Treppen einer beſcheidenen Mietskaſerne emporſteige. Auf der zweiten Etage lese ich: Marcel Bertrand. Geschrei eines kleines Kindes dringt gellend, durchdringend an meine Ohren. Eine scheltende Frauenſtimme, die unmöglich zu Berthe gehören kann. Ich zögere lange, ehe ich klingle. Schlürfende Schritte kommen auf die Tür zu, dann steht eine ältere Frau mir gegenüber. Ich frage nach Madame Bertrand. >> Lorr inzug : der Schule gelernt, gleich nach dem Franzosene «Oh Dieu de l'univers , chéri toujours la France ! Donne nous les vertus , qui font les peuples forts !>>
„ Warum singst du denn nicht mit uns, Jeanne ?" behw sc ert sich die Freundin . „ Du hast doch früher ſo ſchön en, als wir noch klein waren ! “ geſung „Ich kann nicht “, bringe ich mühsam heraus . „ Ich kann wirklich nicht, Berthe. Ich höre euch lieber zu.“ Hier begegne ich Marcels Blick. Was hat er denn mit einemmal ? Ordentlich zornig sieht er aus, seine Stirn hat t. Oder scheint es mir nur ſo ? sich geröte „ Spiel einmal die Marseillaise, Berthe “, sagt er kurz. die spiel' ich gar nicht gern . Möchtest du ſie hören, „ Ach, 66 Los ... ttle den Kopf . Wenn ich dieses Lied hören muß , Ich ehü nisc Jean ?" wird es mit meiner Fassung zu we sein. Endeng übersehen oder falsch Berthe scheint meine Kopfbe gu gedeutet zu haben .
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entſchloſſene, junge Kräfte am Werk. Ein feuriger Sturm brauste über das Land . . . Und ich kann zurückkehren, um die Früchte ihrer Arbeit zu ernten. Ich kehrte Deutschland den Rücken, angefüllt von Ekel und überdruß. Nach der alten Heimat zog es mich übermächtig. Es schien mir gleichgültig, ob ich unter Deutschen oder Franzosen lebte. Ich suchte ja nur den Frieden, suchte nur die Erde, das Land, das ich liebte. Und dann mußte ich erkennen, daß mich die Heimat nicht > mehr aufnehmen wollte. Ich litt unter der Fremdheit, unter dem Stempel, den die Herrschaft der Franzosen meiner Heimat aufgedrückt hatte. Ich litt vor allem unter den Erinnerungen, die sich mir gewaltsam aufdrängten, den Erinnerungen an die großen begeisterten Tage meiner Kindheit, die erfüllt waren von dem unbeirrbaren Glauben an Deutschland. Und ich erkannte, daß es im Grunde nur dieser Glaube war, nach dem ich mich diese langen schweren Jahre hindurch gesehnt hatte. Heimat ist kein ortsgebundener Begriff; Heimat ist Zugehörigkeit, Glauben an eine Nation. Jezt erst erfaßte ich die ganze Tiefe meines Leides : ich glaubte mich verdammt, ewig heimatlos zu ſein.
Die ersten Tage und Wochen in Mek gingen dahin. Ich ging umher mit dem Gefühl des Fremdseins in der Heimat. Unter einem schweren, bleiernen Druck stand diese Zeit. Ich 507
versuchte mich zu zerstreuen. Alte Bekannte liefen mir über den Weg, ich verbrachte einige Tage mit ihnen, löste mich dann wieder, als ich erkannte, daß mich an diese Menschen nichts mehr band. Bald ertrug ich auch das Alleinſein nicht mehr. Ich fürchtete die Gedanken an die zurückliegende Zeit mehr als alles andere. ...Es geht nicht an, an der Welt vorbeizuleben . Wenn ich mir auch geschworen hatte, mich um Politik nicht mehr zu kümmern, vor allem keine Zeitungen zu lesen — wenn meine Angehörigen auch meinen Wunſch erfüllten und in keinem Brief etwas von den politischen Ereigniſſen in Deutschland erwähnten, so hörte ich doch aus den Äußerungen der Meter, aus ihren immer gehäſſiger werdenden Reden gegen Deutschland, daß da drüben, jenseits der Grenze, etwas Besonderes vor sich ging. Immer wieder wurde ich gewaltsam in eine Art Verteidigungsstellung gedrängt. Schon aus einem Gefühl der Ritterlichkeit heraus sah ich mich veranlaßt, das ange= griffene Land zu verteidigen, deſſen Nationalität nun einmal die meine war. Gewiß, ich hatte keine Veranlaſſung, in Deutſchland ein Ideal zu sehen. Zu tief hatte mich dieses Land enttäuscht. Und ich beobachtete mich selbst mit stiller Verwunderung, wenn ich mich zur Verteidigung dieſes Landes gegenüber den gehäſſigen Angriffen der Franzosen aufwarf. Ja, ich redete mich oft in förmliche Begeisterung bei dieſen Auseinandersetzungen. Und mußte mir immer häufiger sagen laſſen, ich sei ein „Hitlérien“.
„ Ach was, ich bin eine Deutſche“, äußerte ich dann wütend. „Muß man denn durchaus der nationalsozialiſtiſchen Partei angehören, um deutsch zu fühlen ?" So war es mit Marcel, dem besessenen Chauvinisten. So war es späterhin auch mit dem Capitaine Dubois und ſeinen Freunden. Dann erreichte mich die Nachricht, daß Hitler Reichskanzler 508
geworden war. Dann erfuhr ich von dem Reichstagsbrand, von dem Verbot der kommunistischen Partei. An diesem Tag trank ich bei Hazard eine halbe Flasche Seft. Nachts aber lag ich noch lange ſchlaflos und freute mich plöglich auf die Rückkehr nach Deutschland . Ich kannte Adolf Hitler und seine Bewegung, die jezt einen durchschlagenden Sieg in Deutschland errungen hatte, ja kaum . Aber aus den haßerfüllten Bemerkungen der französischen Preſſe konnte ich unschwer erkennen, daß die nationale Revolution für Deutschland eine Umwälzung bedeutete, eine Abrechnung mit der Vergangenheit, die sich für das Volk nur segensreich auswirken würde. Hatte dieselbe Preſſe nicht früher das Lob der deutschen Sozialdemokratie in allen Tönen geſungen ? Das Deutschland des Vorkrieges und das Deutſchland des dreißigsten Januar ſcheint für die Franzosen einen und denselben Begriff darzustellen. Und diese Tatsache macht mich plöglich so glücklich. Mit einemmal zerreißt ein schwerer Nebel vor meinen Augen - strahlendes Licht strömt in solcher Fülle auf mich ein, daß ich zunächst fast schmerzhaft geblendet bin. Ich war in dieſen Tagen nahe daran, von hier abzureisen. Es zog mich mit neuer, übermächtiger Sehnsucht nach Deutschland. .. Auf jeden Rausch folgt eine Ernüchterung. In den nächsten Tagen begann ich wieder zu grübeln, unsicher zu werden. Ich kannte die Nationalsozialisten nur aus verzerrten, entſtellten Schilderungen, früher von marriſtiſcher, jezt von französischer Seite. Häßliche Gerüchte um Hitler und seine Anhänger lagen mir in den Ohren. Ich ging jeder politischen Debatte ängstlich aus dem Wege. Wenn ich nicht so geläufig französisch sprechen könnte, würde mir schon manche Unannehmlichkeit hier begegnet sein. Man haßte wiederum alles Deutsche. Ich fühlte mich gewaltsam in die Tage des Franzoseneinzuges zurückversetzt.
Wie damals
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war ich oft nahe daran, alle Vernunft zu vergeſſen und ihnen ins Gesicht zu schreien, was ich dachte. Was - ich dachte ? Ja, was denn ? Daß ich mich zu einer Bewegung bekenne, die ich früher bekämpfte ? Daß ich fest an einen Mann glaube, den ich früher verächtlich machte? . Hin und her schwankte ich. Hier ſtand die nüchterne Überlegung, dort das Gefühl.
Und das letztere war schließlich
ausschlaggebend. Ich konnte die überlaute Stimme meines Herzens nicht mehr zum Schweigen bringen. Wie damals, nach dem Kriege, sehnte ich mich plöglich wieder nach Deutschland . Das Wort „ Vaterland“ gewann mit einemmal wieder Bedeutung. Ist ein Mensch arm, der Deutschland sein Vaterland nennen darf? Eine Lebensaufgabe liegt vor mir. Feſt umriſſen ſehe ich das Bild der Zukunft vor meinen Augen : Seite an Seite mit gleichgesinnter Jugend will ich kämpfen und schaffen an der Erneuerung meines Vaterlandes. Sie werden ehrliche Kämpfer brauchen können. sühnen, soviel ...
Und ich habe soviel zu
Nach Met bin ich gezogen, um die Heimat zu suchen. Ich fand sie — jenseits der Grenze. Ießt erſt freue ich mich der Schönheit, der Süße meiner alten Heimat so recht : eine kurze friedliche Zeit des Dahindämmerns werde ich hier noch verbringen. Heimaterde iſt ſo gütig. Ich will hier neue Kräfte schöpfen. Aus dem Frieden dieser Tage ſoll Kampfesmut erstehen. So sehe ich dem hellen, harten Leben in Deutschland entgegen.
*
Abends size ich auf dem Balkon, laſſe das Bild der finfenden Dämmerung über den alten Häusern am Flußufer auf mich wirken, spüre den schweren, etwas fauligen Geruch des Waſſers und lausche den abgerissenen Tönen einer Ziehharmonika aus einem der Nebenhäuſer.
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Dieser kleine Balkon ist etwas ganz Herrliches.
Man
schwebt gewissermaßen über dem Waſſer, fühlt sich von den schweren Wellen getrieben, als befinde man sich auf einem Schiff.
Um dieſes Balkons willen habe ich das Zimmer
genommen. Seinetwillen sieht man nachsichtig über manchen Nachteil dieser Behausung hinweg. Madame Benoit hat mir einen Korbſeſſel und ein kleines Tischchen herausgestellt. Auf einem Schemel neben mir hat der Kofferapparat Dubois' seinen Plak. Er hat ihn mir geliehen, mitſamt zwei dicken Plattenalben. - Ich rauche eine Zigarette, eine echte Camel, schwer, süß und betäubend. Dubois hat sie mir geschenkt. Übrigens wird er verstimmt sein, weil ich heute nicht mit ihm ausgegangen bin. Er hatte vorgeschlagen, zusammen nach Longeville oder Scy zu fahren und im Freien Abendbrot zu essen. Natürlich wäre der Gedanke verlockend - aber ich weiß
selbst nicht, was mich dazu bestimmt, mich in der letzten Zeit immer mehr von ihm zurückzuziehen. Vielleicht, weil ich jeden Tag hier bis zur Neige auf meine Art auszukoſten wünſche. Am liebsten bin ich allein. Natürlich mag ich Dubois sehr gut leiden. Gerade die gelaſſene, kühle und sachliche Atmosphäre in unserer Freundschaft empfinde ich als wohltuend. Wenn es ihm je einfallen sollte, das männlich-klare Verhältnis zwischen uns in erotische Bahnen zu lenken, so würde dies eine tiefe Enttäuschung für mich bedeuten. Dubois hat seine Liebschaften in Mez, deſſen bin ich sicher. Einer seiner Freunde erzählte mir ſogar von einem festen Verhältnis, das er mit einem jungen Mädchen unterhalte. Möglich, daß er Fernande sogar einmal heirate. Das beruhigt mich. Diese Fernande entspricht sicher dem Idealbild einer Frau, wie es Dubois vor Augen steht. Blond und sanft, ſchmiegsam und abſolut ungeiſtig. Ein zärtliches junges Wesen mit weichen Schultern, in deſſen Ideenwelt der Mann die führende Rolle einnimmt.
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Mit Ausnahme der weichen Schultern vielleicht gehen mir diese schönen Eigenschaften so ziemlich alle ab. Nein, es besteht keine Gefahr, daß Dubois sich in mich verliebte. Obwohl
er
durchaus
nicht
unempfänglich für
meine
äußeren Vorzüge zu ſein ſcheint. „ Mit einem häßlichen Menschen finde ich keinen Kontatt", sagte er einmal. ,,Wenn Sie als besessene Intellektuelle herumliefen, geschmacklos gekleidet, mit Pickeln im Gesicht, großen Füßen - ich garantiere Ihnen, daß keines unserer Gespräche friedlich verlaufen würde. Der Anblick eines schönen Menschen aber wirkt immer versöhnlich. Der geistreichste Ausspruch aus einem Mund mit ungepflegten Zähnen wird mich immer zum Widerspruch reizen.“ Übrigens haben wir schon oft miteinander gestritten. Nie nahmen die Plänkeleien ernſteren Charakter an, und zum Schluß gingen wir jedesmal versöhnt auseinander. ...Ich lasse eine von seinen Lieblingsplatten ſpielen. ,,Waldweben“ aus Siegfried. Seltsam, daß ein Franzose diese urdeutsche Musik so liebt. Es mag daher rühren, daß Paul die schönste Zeit seines Lebens in Deutschland verbracht hat. Er war jahrelang am Rhein, während der Besetzung. „ Ich begreife euch Deutsche nicht", sagte er einmal. ,,Immer zieht es euch ins Ausland . Ihr seid förmlich verſeſſen darauf, alles Fremde anzuhimmeln. Die Schönheit eures eigenen Landes aber überseht ihr. Ich war hingerissen, als ich den Rhein zum erstenmal sah. Mein Leben möchte ich dort verbringen, wenn ich kein Franzose wäre.“ Was soll ich entgegnen ? Er hat recht. Ob ich einen Franzosen heiraten könne, frug er mich einmal, in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft. ,,Ja, warum nicht ? " entgegnete ich. Er maß mich mit nachdenklichem Blick. ,,Würden Sie auch einen französischen Offizier heiraten, Mademoiselle Jeanne ?"
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Auch dies bejahe ich ohne Besinnen. „ Und wenn es später einmal Krieg gäbe ―― Sie könnten es also ohne Bedenken mitanſehen, wie Ihr Mann gegen Ihre eigenen Landsleute ins Feld zöge ?“ Jetzt werde ich brennendrot. Immer wieder versteht er es, mich auf jenes Thema hinauszuführen, das mir ſo verhaßt ist. ,,Aches gibt ja gar keinen Krieg mehr “, weiche ich aus. „Kriege hat es immer gegeben, zwischen Ihrem und meinem Volk, Mademoiselle. Wir sprechen ja auch nur von einer Möglichkeit. Also es würde Sie nicht bekümmern, wenn wir Franzosen in Ihr Land eindrängen, den Rhein eroberten . . .“ „Das wird niemals der Fall sein ! " fahre ich auf. „ Nie wird der Rhein französisch, nie, Dubois ! Das deutsche Volk wird wie ein Mann gegen euch aufstehen, euch aus dem Lande schlagen ..." Ich breche ab. Ich darf nicht vergeſſen, zu wem ich rede. Er lächelt sein infamstes Lächeln. ,,Sieh da ! Sie merken wohl selbst nicht, wie ſehr Sie sich immer widersprechen, Mademoiselle. Erst wollen Sie einen Franzosen heiraten, es gleichmütig mitanſehen, wie Ihr Mann gegen Deutſchland in den Krieg zieht. Im nächſten Moment aber fahren Sie auf, wenn ich die Möglichkeit eines französischen Sieges bespreche. Entweder sind Sie sich über Ihre eigene Einstellung nicht recht im klaren oder Sie ſpielen mir ein kleines Theater vor, Mademoiselle. Aber Sie dürften nicht so oft aus der Rolle fallen, meine ich.“ ,,Wieso spiele ich Theater ? " frage ich verwirrt. ,,Nun, indem Sie hier als international denkender Mensch auftreten und im Grunde die fanatischste Patriotin ſind, die ich kenne", entgegnet er ruhig. Wieder einmal wird mir das gesagt. Wieder einmal frage ich empört : „ Ich Patriotin?"
17 Der Weg in die Heimat
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,,Jawohl, Mademoiselle Jeanne.
Aber ich sehe immer
mehr ein, daß Sie sich selbst nicht zu kennen scheinen . Sie haben sich da von irgendwelchen Leuten etwas einreden laſſen. Einen merkwürdigen Umgang müſſen Sie in Deutschland gehabt haben. Ein Patriot enthüllt sich immer im fremden Land. Wiſſen Sie, wann ich Sie zum erstenmal durchschaute ? Als ich Sie kennenlernte, auf der Esplanade. Ich hatte damals grenzenloſe Hochachtung vor Ihnen, Mademoiselle. Es tut mir leid, daß Sie ſpäterhin das klare Bild, das ich mir von Ihrer Perſon machte, so verzerrten. Stellen Sie sich doch nicht immer als zynische Materialiſtin hin. Es fleidet Sie gar nicht. Ihr wahrer Kern bricht doch immer wieder durch -man muß es Ihnen geradezu einhämmern, daß Sie eine kleine begeisterte Deutsche sind, die ihr Vaterland über alles liebt." So und ähnlich redet Dubois zu mir. Habe ich heute nicht allen Grund, ihm dankbar zu sein? Seine Worte empörten mich zuerst, brachten mich dann zum Nachdenken und Grübeln und verhalfen mir ſchließlich zu der endgültigen Erkenntnis, daß ich im tiefſten Grunde immer ein Mensch gewesen bin, der ſein Vaterland liebte. Heute gibt es keine dieser Streitigkeiten mehr zwischen mir und dem Franzosen. Ich mache keinen Hehl mehr aus meinen Gedanken. Und bin weit entfernt davon, böse zu werden, wenn er mich als „ Hitlérien“ bezeichnet.
Damals, vor zwei Monaten, als ich ihn kennenlernte, war ich in einer seelischen Verfaſſung, die mich der Verzweiflung nahebrachte. Fremd lief ich umher, fand keine Beziehung mehr zwiſchen der Heimat, ihren Menschen und mir. Vor Deutschland graute mir, dorthin gab es vorläufig tein Zurück. In Mez aber war ich einer Fülle von quälenden Erinnerungen preisgegeben.
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Der Februar brachte häßliche, naßkalte Tage. Ich erwog allen Ernſtes, von Meg abzureiſen, nach Paris oder Nancy oder an irgendeinen anderen Ort. Mein Geld würde ausreichen, dort eine kurze Zeit zu verbringen. Dann müßte ich wohl oder übel nach Deutschland zurückfahren ... Eines Nachmittags - als es ausnahmsweise nicht regnete machte ich einen Spaziergang auf die Esplanade. Eine blaſſe Wintersonne stand über der Landschaft, eine Sonne, in der man fror. Lange stand ich an der Brüstung der Terrasse, sah den Fluß seine trägen, schmutzig-grauen Wellen wälzen. Ich wandte mich um, lehnte mit dem Rücken gegen die Brüstung und betrachtete das Denkmal, das jetzt die Stelle des Kaiser-Wilhelm- Standbildes ein1 nahm. «Le Poilu libérateur! > » Elender, billiger Kitsch. Eine verzückte Jungfrau , Symbol des Reichslandes Elsaß-Lothringen. Sie sprengt die Fesseln der deutschen Herrschaft von ihren emporgehobenen Händen. - Das Haupt hat sie verklärt zu dem Poilu gewandt, der über ihr auf dem Sockel steht. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, in den Anblic
des Denkmals verſunken. Natürlich ärgerte es mich nur wegen seiner Geschmacklosigkeit. Nicht etwa wegen der Gesinnung, die es uns Deutschen gegenüber ausdrückte. Ich zog Vergleiche zwischen dem Eisernen Feldgrauen und dieſem «Poilu libérateur» . Sie fielen sehr zuungunsten des letteren aus. Aber das war doch an und für sich kein Grund, in Tränen auszubrechen. Überreizte Nerven natürlich. Da stand ich vor dem französischen Denkmal und heulte wie ein Schulmädel . Als ich mich umwende, steht ein sehr eleganter franzöſiſcher Offizier neben mir. Ich bin wütend, daß er Zeuge meiner Tränen war. Ja, ich hasse ihn geradezu. Er betrachtet mich ruhig, nachdenklich, wie es scheint. Auf
seinem hübschen, männlichen Gesicht glaube ich so etwas wie Mitleid zu sehen.
17*
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Rasch gehe ich davon, die Stufen der Terraſſe herab, auf die Wachtstraße. Wie ich erwartet hatte, folgt er mir. Ekelhaftes, zudringliches Volk, diese Männer. Wenn er mich jezt anſpricht, werde ich ſaugrob. Nein, er spricht mich nicht an. Aber er folgt mir bis in das Café in der Römerſtraße, nimmt dort an einem Nebentisch Play. Fräulein Germaine, die mich nun schon gut kennt, kommt auf mich zu und fragt nach meinen Wünschen. Der Offizier horcht auf, als er uns deutſch ſprechen hört. Hoffentlich ſieht er nun von jedem Annäherungsverſuch ab. Aha, er hat eine Zeitung hervorgezogen und vertieft ſich in die Lektüre. Germaine bringt mir Kaffee, guten, starken, köstlich duftenden Kaffee. So bekommt man ihn nur in Met. Meine gedrückte Stimmung schwindet merklich unter dem Genuß des Getränkes. eine Zigarette an. wärmt.
Ich eſſe Eclaires, zünde mir dann
Zufrieden bin ich, ſatt, wohlig durch-
Verstohlen mustere ich den Offizier, der keine Notiz mehr von meiner Anwesenheit zu nehmen scheint.
Er hat sich
einen Bogen Briefpapier geben laſſen und ist mit Schreiben beschäftigt. Ich sehe seinen geneigten, dunklen Kopf, das hübsche Profil. Solche Männer sind hier eine Seltenheit. Besonders die französischen Offiziere machen in der Mehrzahl einen kümmerlichen Eindruck. Klein, unſcheinbar, weibiſch. Dieser hier fällt unbedingt auf.
Ich bemerke, daß die
Damen ihn mit sichtlichem Wohlgefallen betrachten. Schließlich bin auch ich ein Mädchen und durchaus nicht frei von Gefallsucht. Ich freue mich, daß ich das blaue Kostüm trage, das mich so gut kleidet. Und auch der kleine rote Hut ſieht nicht übel aus zu meinen dunklen Loden. Ich mustere mich in dem gegenüberhängenden Spiegel. Man sieht mir noch an, daß ich geweint habe. 516
Die kleine Anwandlung von Eitelkeit ist schnell verflogen. Ich greife nach einer illuſtrierten Zeitſchrift und versuche wieder einmal, meine trüben Gedanken gewaltsam abzulenten. Hier, ein Bild : Hitler, Reichskanzler. „ Mademoiselle!" Fräulein Germaine steht vor mir. Sie gibt mir einen Brief. Dabei blinzelt ſie nach dem Offizier, der sich eben anſchickt, das Lokal zu verlaſſen. Ich warte, bis er draußen ist. Dann reiße ich das Kuvert auf. „ Mademoiselle!" steht da, in großen schrägen Buchstaben. „Leider ich nicht kann gut deutsch schreiben. Ich sah Sie vorhin am Denkmal des Poilu auf die Esplanade. Ich wußte sofort, daß Sie eine Deutsche sind. Ich habe großes Interesse, einmal mit eine deutsche Frau bekanntzuwerden. Ich war früher am Rhein und habe deutsche Frauen sehr achten gelernt. Bitte kommen Sie heute abend bei Hazard. Ich diniere dort. Gern möchte ich mit Ihnen ein wenig plaudern. Ihr ergeber Paul Dubois, Capitaine."
Ich weiß nicht, wie ich dazu kam, hinzugehen. Jedenfalls war es der erste schöne Abend, den ich in Mez verlebte.
Dubois schien mir beweisen zu wollen, daß er wirklich kein Abenteuer suchte. Er saß mit zwei anderen Offizieren zusammen am Tisch. Wir unterhielten uns ausgezeichnet. Zunächst waren sie sehr erstaunt über mein geläufiges Französisch. Dann erfuhren Sie, daß ich gebürtige Meterin bin und nach vierzehn Jahren wieder in meine Heimat zurückkehrte. Der Colonel und der Leutnant wollen durchaus Näheres über die Verhältnisse in Deutschland wiſſen. Ob ich auch eine Hitlérienne sei? 517
Ich verneine dies natürlich. Ob ich die Franzosen gut leiden möge ? Sehr gut, antworte ich. Ich fühle mich unter Franzosen eigentlich heimischer als in Deutschland . Das komme wohl daher, weil ich von kleinauf gleicherweise unter Franzosen und Deutschen gelebt habe. Dubois beſchränkt sich mehr aufs Zuhören. Oft begegne ich seinem Blick, er betrachtet mich ernst und nachdenklich, wie es scheint. „ Sie sind aus Metz ausgewiesen worden, damals ?“ fragt er einmal. ,,Ia - das heißt, Mutter und wir Kinder gingen freiwillig. Nur mein Vater wurde ausgewiesen." ,,Fiel es Ihnen nicht sehr schwer, damals ? Ich meine, hat es Ihnen nicht leid getan, als die Franzosen hier einzogen?“ will Dubois wiſſen. „ Ach, ich war ja noch so jung“, antworte ich. Er soll nicht so dumm fragen. Ich will mit diesen Dingen nicht mehr belastet werden. Ein Leben lang litt ich darunter - jetzt bin ich fertig damit. Ich size hier in dem gemütlichen Altlothringer Lokal, unter netten, galanten Franzosen, der Wein schmeckt herrlich, und der Mokka und die Schnäpse hinterher sind eine Sache für sich. „ Natürlich“, `pflichtet der alte Colonel bei , mich mit verliebtem Blid betrachtend. ,,Ein so reizendes junges Mädchen soll sich auch gar nicht um diese Sachen bekümmern. Wenn ich Sie ansehe, Mademoiselle, bin ich gegen Deutschland milder gestimmt. Prost, auf die Völkerversöhnung ! “ Meine Schuld war es nicht, daß das Glas zerbrach. Der Colonel hatte zu schwungvoll und begeistert angestoßen, nun liegt das Glas in Scherben, ſein Finger blutet ... Später gibt es Sekt. Ich unterhalte mich eigentlich nur noch mit den beiden anderen. Der Capitaine scheint ein sehr schweigsamer Mensch zu sein. Je lustiger wir drei werden, um so ruhiger ist er. Schließlich scheint es ſeinen Kameraden aufzufallen. 518
„ Mon vieu, was ist denn mit dir lós, Paul ? “ fragt der kleine Leutnant. „ Erſt freuſt du dich, ein deutſches Mädchen kennenzulernen, weil du mit ihr vom Rhein sprechen willst. - Er schwärmt nämlich vom Rhein, Mademoiselle. Dann bist du stumm wie ein Fisch.“ „ Ich muß mich entschuldigen. Ich bin ein bißchen müde“, ſagt Dubois, sich über die Augen streichend. „ Mademoiselle wird nicht böse sein, wenn ich jezt aufbreche.“ „ Aber wie spät ist es denn?" erkundige ich mich erschrocken. Die Uhr zeigt halb eins. Für Meter Begriffe allerdings reichlich spät. Wir sind die letzten Gäste in dem Lokal.
*
Irgendwie freue ich mich darüber, daß der Capitaine mich allein nach Hause begleitet. Die beiden anderen wohnen zusammen draußen in Montigny, während Dubois in der Innenstadt, in meiner Nähe, zu Hauſe iſt. So ergibt es sich von selbst, daß er den Heimweg mit mir zurücklegt. Der Abschied von den beiden, dem Colonel und dem Leutnant, war wortreich und sehr herzlich. Immer wieder versicherten sie, lange keinen so gemütlichen Abend verlebt zu haben. Dann gehen wir die Birnbaumstraße hinunter, der Capitaine und ich. Er schreitet so schnell aus, daß ich Mühe habe, mit ihm Schritt zu halten. Mich zieht es noch gar nicht nach Hauſe. Die ganze Nacht möchte ich am liebsten herumlaufen, in den alten, liebvertrauten Straßen. Hier in der Maternité kam mein Bruder Kurt zur Welt. In dem Haus neben der Segolenakirche wohnten früher einmal die Tornows. Da in der Marchandstraße lebte Vater, als er noch ein fleiner Junge war. Ach, Mek, Mez ! Natürlich versezt
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mich nur der Alkohol in dieſe füße, süße Heimatſtimmung. Traurig, daß man eines Rausches bedarf, um überhaupt noch eines solchen Gefühls fähig zu ſein. Ich achte gar nicht mehr auf den Mann an meiner Seite.
Und bin faſt erschreckt, als er sich mit einer Frage an mich wendet. „Warum haben Sie heute geweint, als Sie vor dem Denkmal standen, Modemoiselle ? " „Habe ich das ?" gebe ich verwirrt zurück. „ Ach -— Nerven, wissen Sie." Dann packe ich ihn am Arm, zwinge ihn, stehenzubleiben. „ Sehen Sie doch, Capitaine, wie ſchön!“ Wir stehen auf der Brücke. Vor uns liegt Alt-Mez, schimmernde Märchenſtadt im Licht des Mondes. Geheimnisvoll rauſcht das Moſelwehr in der Tiefe, geſpenſtiſch ſtehen die hohen, kahlen Bäume der Liebesinsel in der Nacht. Von der Kathedrale schlägt es ein Uhr. Am linken Moſelufer ragen die hohen gotischen Türme des Domes aus dem Häuſergewirr. Feine Filigranarbeit gegen den hellen Mondhimmel. „ Meine Heimat“, sage ich leiſe, erschüttert. Zum erstenmal, ſeit ich zurückgekehrt bin, überkommt mich das Heimgefühl wie eine große, heiße Welle des Glückes. Ich habe mich über das Brückengeländer gebeugt, sehe das schwarze Wunder des Fluſſes in der Tiefe, die breite Brücke, die das Mondlicht über den dunklen Waſſerſpiegel gelegt hat. Über diese Brücke wollte ich einmal gehen, als ich ein Kind war. Sie sollte mich in ein Land der Wunder bringen ... Aus dem Wasser steigen Stimmen zu mir herauf. Nein, feine Stimmen. Tiefer feierlicher Glockenklang. „ Haben Sie die Mutte schon einmal läuten gehört?“ frage ich. ,,Ia. Am vierzehnten Juli “, entgegnet der Offizier. 520
Plöglich werde ich mir seiner Anwesenheit wieder voll bewußt. Ich schäme mich meiner sentimentalen Anwandlung. „Wir wollen weitergehen, ja ?“ sage ich leichthin. ,,Wann hörten Sie denn die Mutte zum leztenmal ? Es muß doch lange her sein“, erkundigt er sich. „Als die Franzosen hier einzogen“, sage ich. „ Damals läuteten übrigens alle Glocken. Und von der Symphorieninsel schossen sie — und dann hörten wir die Clairons, die Marseillaise ...“ Hier verstumme ich. Ich muß mit meinen Nerven wirklich am Ende sein. Denn schon wieder steigt es mir heiß in die Augen. Zum Glück ist es hier in der Straße so dunkel, daß er meine Tränen nicht sehen kann.
Ja, so kam unsere Freundschaft zustande. Ich war täglich mit ihm zuſammen. Oft allein, oft auch in Gesellschaft des Colonels und des Leutnants. Eine Zeitlang bildete ich mir fast ein, in Paul verliebt zu sein. Ich fühlte mich in seiner Gesellschaft so sicher, so geborgen. Jezt, da er seine Miſſion an mir erfüllt hat, bindet mich faum mehr etwas an ihn. Mein ganzes Sinnen ist auf Deutschland gerichtet, meine Liebe, mein Glauben haben nur noch ein Ziel : Deutſchland . Da bleibt kein Raum mehr für anderes. Ich werde den Weg gehen, den mir ein Franzose zeigen mußte. Am Sonntag, dem letzten Sonntag, den ich hier verbringe, wollen wir einen Ausflug auf die Schlachtfelder unternehmen, Paul und ich. Schon lange planten wir den Besuch Verduns. Ich bin froh, daß wir ihn bis jetzt verschoben haben. Diese Fahrt soll gleichsam den Abschluß meiner Meter Tage bilden. 521
Mir ist, als hätten die Toten des Weltkrieges mir viel zu ſagen, ehe ich nach Deutschland heimkehre.
Abends ſizen wir im Beaurivage, Paul und ich. Unter Bäumen, die unter der schneeigen Last ihrer Blüten fast zusammenzubrechen scheinen. Nie habe ich einen solchen Frühling erlebt. Wir trinken eine Flasche Wein.
Diese Reben sind auf
den Hügeln meiner Heimat gewachsen.
Ein paar Blüten
sind von dem Kirschbaum gefallen, sie treiben auf dem Goldgelb meines Weinglases. Dubois will es ausleeren, ich hindere ihn daran. „ Lassen Sie doch, glauben Sie nicht, daß man von Kirſchblüten betrunken werden kann, Paul ? “ frage ich. „ Sicher", lacht er. „ Ich kannte einen Menschen, den ſchon der Anblick eines blühenden Baumes in eine Art Rauschzustand versezte. Er war ein Deutscher, Jeanne." Heimwärts wandern wir am Moselufer entlang. Die Landschaft liegt in Rot und Gold getaucht. Rosa, mit violetten Rändern, treiben ein paar Wolken am Himmel. „ Wir werden schönes Wetter haben auf der Fahrt", meint Paul. „Wir holen Sie morgen früh um acht Uhr ab. Hoffentlich verschlafen Sie nicht.“ ,,Wer - wir?" frage ich. „Fährt noch jemand mit ?" ,,Ja ach, ich habe Ihnen noch gar nichts davon er-
zählt ? Meine Freundin trifft heute nacht mit ihrer Mutter wieder hier ein. Sie waren in Straßburg bei Verwandten zu Besuch. Fernande wollte schon lange einmal wieder nach Verdun . Da dachte ich, wir nehmen ſie morgen mit. Es iſt Ihnen doch recht?" ,,Natürlich", erwidere ich. „ Warum haben Sie mir noch nie von Ihrer Freundin erzählt, Paul ? “ „ Ach, ich glaube doch, Ihnen einmal von ihr gesprochen zu haben“, meint er. „Fernande ist ein sehr liebes junges 522
Mädchen. Sie werden sich bestimmt gut mit ihr verstehen. Ein ganz einfacher, unkomplizierter Mensch, wiſſen Sie. Sie hat Schweres durchgemacht. Ihr Vater starb vor zwei Monaten, es war um die Zeit, als ich Sie kennenlernte. Jezt wird sie mit ihrer Mutter wieder in Mezz bleiben.“
Kann es mir im Grunde nicht gleichgültig sein, ob diese Fernande morgen mit uns fährt oder nicht? Ich size zu Hauſe auf meinem Balkon, laſſe eine Schallplatte nach der anderen spielen. Übrigens werde ich ihm am Montag den Apparat zurückſchicken. Ich muß langsam zur Abreise rüsten. Warum hat er eigentlich nie von Fernande gesprochen? Wohl wußte ich, daß er eine Freundin hat. Der Colonel erzählte es mir. Ob er sie sehr liebt, dieſe unbekannte Fernande?