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German Pages 324 Year 2014
Susanne Schröter (Hg.) Geschlechtergerechtigkeit durch Demokratisierung?
Susanne Schröter (Hg.)
Geschlechtergerechtigkeit durch Demokratisierung? Transformationen und Restaurationen von Genderverhältnissen in der islamischen Welt
Gefördert durch den Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
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Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Susanne Schröter Übersetzungen aus dem Englischen: Sabine Lang Lektorat & Satz: Oliver Bertrand Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2173-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung. Geschlechtergerechtigkeit durch Demokratisierung?
Susanne Schröter | 7 Tunesien: Vom Staatsfeminismus zum revolutionären Islamismus
Susanne Schröter/Sonia Zayed | 17 Frühling der Frauen am Nil
Julia Gerlach | 45 Ermächtigung von Frauen im Jemen? Zur potentiellen Dynamik sozialer Bewegungen
Roswitha Badry | 67 „Wir sind die Hälfte der Bevölkerung Irans.“ Die Frauen in der Demokratiebewegung
Katajun Amirpur | 97 Transformationsdynamiken der Geschlechterordnung in Indonesien. Aktivistinnen im Spannungsfeld politischer, religiöser und kultureller Entwicklungen
Monika Arnez | 127 Der arabische Staat und die Politik des Überlebens. Das Beispiel Kuwait
Elham Manea | 163 Eine egalitäre Geschlechterordnung in Saudi-Arabien? Frauen als Akteure des Wandels
Sebastian Sons | 197
Konkurrenz, Kooperation und Widerstand. Handlungsoptionen irakischer Frauen im politischen Feld
Andrea Fischer-Tahir | 237 Afghanistan plus 10 – Demokratisierung per Intervention? Reflexionen zu Demokratisierung in Interventionsund Konfliktkontexten
Andrea Fleschenberg dos Ramos Pinéu | 265 Islam und Gender in Indien. Perspektiven der Geschlechtergerechtigkeit in der Minderheitensituation
Nadja-Christina Schneider | 297 Autorinnen und Autoren | 319
Einleitung Geschlechtergerechtigkeit durch Demokratisierung? S USANNE S CHRÖTER
Ist Demokratisierung ein Mittel, um Geschlechtergerechtigkeit herzustellen, wie viele Politiker in westlichen Ländern glauben? Bedeutet die Partizipation von Frauen an Revolutionen, dass sie die postrevolutionären Gesellschaften angemessen mitgestalten können? Und heißt weibliche Teilhabe, sei es als Demonstrantin oder als Wählerin, dass Frauenrechte im Sinne der Antidiskriminierungskonvention der Vereinten Nationen durchgesetzt werden? Die Autor/innen dieses Sammelbandes gehen den genannten Fragen am Beispiel der jüngsten Entwicklungen in islamisch geprägten Ländern nach und befassen sich dabei vor allem mit der Bedeutung des Islams für die jeweiligen politischen und kulturellen Ordnungen. Ausgangspunkt und Inspiration für das Buch war eine Konferenz, die anlässlich der Umbrüche in der arabischen Welt im Dezember 2011 im Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg stattfand.1 Die so genannte „Arabellion“, an der Frauen als Demonstrantinnen und Bloggerinnen in großer Anzahl beteiligt waren, stellte ein Ereignis dar, das westliche Berichterstatter zu geradezu enthusiastischen Schlussfolgerungen über mögliche Umwälzungen der herrschenden Geschlechterordnungen motivierte. Verschleierte und unverschleierte Frauen, die die Fäuste in die Luft reckten, zierten über Monate die Titelseiten von Hochglanzmagazinen, und
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Die Tagung wurde im Rahmen des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt durchgeführt.
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auch die Fernsehanstalten zeigten gerne die weibliche Seite der Revolten. Als schließlich der jemenitischen Journalistin Tawakkul Karman für ihr politisches Engagement der Friedensnobelpreis verliehen wurde, schien es, als ob nicht nur ungeahnte Zeiten für die arabischen Welt anbrechen, sondern die Vorurteile des Westens gegenüber den islamisch geprägten Gesellschaftsordnungen gänzlich ad absurdum geführt würden. Einige arabische Wissenschaftlerinnen waren weniger euphorisch, und die Journalistin Mona Eltahawy stellte sogar die These auf, dass sich an der Diskriminierung und rechtlichen Benachteiligung von Frauen nach den Revolutionen kaum etwas ändern würde. Zu fest verwurzelt sei die Vorstellung von der Minderwertigkeit der Frauen und der Rechtmäßigkeit männlicher Dominanz, schrieb sie in einem aufsehenerregenden Artikel mit dem Titel „Why they hate us“, der im Mai 2012 in der amerikanischen Zeitschrift Foreign Policy veröffentlicht wurde. Dass Demokratisierung nicht automatisch zu einer geschlechtergerechten Ordnung führen muss, zeigt sich vor allem dort, dort wo die Demokratie starke islamische Erneuerungsbewegungen ermächtigte und islamistische Akteure in der Regierungsverantwortung stehen. Das ist zurzeit sowohl in Tunesien als auch in Ägypten der Fall. In den ersten freien Wahlen nach dem Sturz Zine El-Abidine Ben Alis erhielt die islamische Ennahda-Partei in Tunesien die Mehrheit aller abgegebenen Stimmen und stellt heute die Regierung. In Ägypten triumphierte die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbruderschaft. Beide stehen unter dem Druck radikaler salafistischer Organisationen, die nicht nur eine am Koran und der Sunna ausgerichtete Geschlechterordnung etablieren wollen, sondern die islamischen Quellen in einer denkbar patriarchalischen Lesart deuten. Diese Kräfte haben sich bereits mit Vorstellungen einer Geschlechterordnung zu Wort gemeldet, die den Prinzipien der UN-Konvention gegen die Diskriminierung von Frauen, die von allen Staaten Nordafrikas ratifiziert wurde, fundamental widerspricht. Dass sie ihre Ziele nicht nur mit gewaltfreien Mitteln verfolgen, haben die vergangenen Monate ebenfalls gezeigt. Verbale, aber auch tätliche Angriffe gegen Frauen haben seit den Umbrüchen ohnehin deutlich zugenommen – einerseits ausgehend von antirevolutionären Kräften, die Demonstrantinnen, wie in Ägypten, mit sexuellen Übergriffen, öffentlichen Entkleidungen und den so genannten „Jungfrauentests“ einzuschüchtern versuchten, andererseits aber auch von islamistischen Akteuren, die Verletzungen einer vermeintlichen gottgewollten mo-
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ralischen Ordnung mit Gewalt ahnden wollten. Die ägyptische Kunststudentin Aliaa Magda Elmahdy, die ihren unbekleideten Körper als Mittel des Protests im Internet gezeigt hatte, wurde durch massive Morddrohungen gezwungen unterzutauchen, Künstler/innen, die in Tunis, ebenfalls mit Aktbildern, gegen die zunehmende Islamisierung protestierten, lösten gar Straßenschlachten zwischen Salafisten und der Polizei aus. Gegen diese Entwicklungen formieren sich Proteste, und es zeichnen sich erbitterte Auseinandersetzungen zwischen denjenigen ab, die die Gleichheit der Geschlechter gesetzlich festgeschrieben sehen wollen und denjenigen, die auf religiös begründete Unterschiede zwischen Männern und Frauen rekurrieren. Inwieweit die neuen politischen Machthaber die Rechte von Frauen letztendlich stärken oder schwächen, ob sie neue Möglichkeiten der Partizipation eröffnen oder vorhandene einschränken, ob sie für eine Kultur der Gleichheit der Geschlechter oder eher für eine der komplementären Rollen von Männern und Frauen stehen, vermag zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand zu sagen. Tatsache ist jedoch, dass Frauen in den Parlamenten nur eine untergeordnete Rolle spielen und in den neuen Regierungen nahezu nicht präsent sind. Wenn islamistische Akteure und Organisationen durch Demokratisierungsprozesse politisch ermächtigt werden, sind Wissenschaftler/innen aufgefordert, die von westlichen Stiftungen und Parteien vorgetragene Gleichsetzung von Demokratisierung und Frauenrechten kritisch zu hinterfragen oder sogar noch weiter zu gehen und zur Diskussion zu stellen, ob Gleichheitsvorstellungen, wie sie in der erwähnten UN-Konvention niedergelegt wurden, von der Mehrheit der Bürger/innen überhaupt gewollt sind. Gerade in der islamischen Welt wurden Frauenrechte in der Vergangenheit vielfach durch autoritäre Herrscher gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt, spricht man vom „Staatsfeminismus“. Eines der bekanntesten Beispiele stellt der Iran während der Herrschaft der Pahlavis dar; aber auch die autokratischen Regime Tunesiens, der Türkei, Syriens oder des Iraks haben Modernisierung und Frauenemanzipation miteinander zu einer eigenen Staatsdoktrin verknüpft. In allen Fällen wurde das staatliche Emanzipationsprogramm sowohl gegen die traditionellen islamischen Eliten als auch gegen große Gruppen der frommen Bevölkerung durchgesetzt. Vor allem religiöse Frauen lehnten Maßnahmen wie das Verbot der Verschleierung ab, das Kemal Pascha 1925 in der Türkei und Schah Reza Pahlavi 1937 im Iran erlassen hatte. Im Iran fegte im Jahr 1979 eine stark von der Zivilge-
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sellschaft getragene Revolution den Schah und seine Modernisierungsagenda hinweg und machte Platz für einen islamischen Staat, in dem als erstes die Rechte der Frauen abgeschafft wurden. Heute dagegen hat sich ein großer Teil der gebildeten städtischen Jugend von diesem Staat abgewendet und fordert sowohl Demokratie als auch Frauenrechte. Staatliche Emanzipationsprogramme werden abgelehnt, das zeigt die Geschichte, wenn sie als Bestandteile autoritärer Herrschaft diskreditiert werden. Schwierig ist die Situation auch dort, wo Demokratie und Frauenrechte von außen im Rahmen einer militärischen Intervention implementiert wurden. Die Vorstellung der Gleichheit der Geschlechter wird in diesen Regionen von vielen als kulturimperialistisches Kampfmittel und als Teil einer fremden Ordnung empfunden, die der eigenen Gesellschaft mit Gewalt aufoktroyiert wird. Ob Emanzipationsmodelle, wie sie die Vereinten Nationen vorsehen, unter den Bedingungen freier Aushandlungsprozesse in islamischen Ländern Mehrheiten finden und dort selbstbestimmt etabliert werden können, ist nicht gesichert. Sie konkurrieren mit islamistischen Geschlechtermodellen, die auf „Gleichwertigkeit“ anstelle von „Gleichheit“ abzielen und die Rollen von Frauen primär als Ehefrauen und Mütter definieren. Es sind beileibe nicht nur Männer, die diese islamische Alternative zur „westlichen“ Emanzipation favorisieren. Gerade islamistische Akteurinnen arbeiten mit großem Engagement an der Implementierung einer neuen moralischen Ordnung, streiten für die Verhüllung des weiblichen Körpers und die Bestrafung von Unsittlichkeit. Sie stehen dabei säkularen Frauenrechtlerinnen gegenüber, die mit Recht fürchten, dass einmal errungene oder staatlich gewährte Freiheiten die ersten Opfer der angestrebten frommen Transformationen der Gesellschaften sein werden. Im Rahmen dieses Sammelbandes sollen die Aushandlungsprozesse zwischen unterschiedlichen Akteur/innen – Liberalen und Konservativen, Religiösen und Säkularen, Ideolog/innen und Pragmatiker/innen – ebenso ausgelotet werden wie die komplexen innen- und außenpolitischen Momente, die dabei wirksam werden. Der regionale Bogen ist weit gespannt und reicht von Südostasien bis zu äußersten Westen Nordafrikas; politisch werden sowohl Demokratien als auch autokratische Regime oder Staaten, die sich im politischen Umbruch befinden, thematisiert. In allen behandelten Ländern steht der Kampf um die zukünftige Geschlechterordnung im Zentrum politischer und kultureller Transformationsprozesse, werden allgemeine Vorstellungen von Gesellschaft in Genderkategorien verbalisiert oder
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zumindest mit diesen verknüpft. Die Auseinandersetzung um Frauenrechte ist kein Nebenschauplatz genereller Umbrüche, sondern steht im Zentrum politischer, religiöser, sozialer und rechtlicher Debatten. Der Beitrag von Sonia Zayed und mir befasst sich mit den virulenten Entwicklungen in Tunesien seit der Dekolonisierung. Wir haben darin den historischen Verlauf der Debatten um Frauenrechte nachgezeichnet, der in den 1930er Jahren mit den Schriften Tahar Haddads begann und unter Bourguiba und Ben Ali zu einem staatlich gelenkten Emanzipationsprogramm entwickelt wurde, das Tunesien den Ruf des in dieser Hinsicht modernsten Staates der arabischen Welt einbrachte. Ob die Idee der Gleichberechtigung der Geschlechter in der Bevölkerung verankert werden konnte oder im Prozess der Demokratisierung wieder revidiert und einem konservativen Modell geschlechtlicher Komplementarität Platz machen wird, ist ungewiss. Tunesien erlebt zurzeit dramatische Auseinandersetzungen um Gender und Islam, die nahezu täglich Schlagzeilen machen und von islamistischen Akteuren mit großer Gewaltbereitschaft geführt werden. Eine anders gelagerte Situation existiert in Ägypten, einem Land, in dem die Frauenbewegung bereits in die Anfänge des 20. Jh. zurückgeht. Julia Gerlach, die die Verläufe der Arabellion als Journalistin kritisch verfolgt, stellt in ihrem Essay dar, mit welchen Schwierigkeiten die jungen Revolutionärinnen zu kämpfen haben, die sich nicht nur gegen die politischen Machtverhältnisse, sondern auch gegen die Vorstellungen weiblicher Sittsamkeit stellen, denen zufolge eine ehrbare Frau nichts auf einer Demonstration zu suchen hat. Sexuelle Gewalt wurde als Mittel der Aufstandsbekämpfung gegen junge Frauen eingesetzt und teilweise von konservativen Kräften gebilligt. Wie in Tunesien konnten auch in Ägypten islamistische Parteien überwältigende Wahlerfolge verzeichnen, dominieren die aktuelle Regierung und geben zu Befürchtungen Anlass, dass Frauenrechte im demokratischen Prozess schrittweise abgebaut werden könnten. Roswitha Badry befasst sich mit der jüngeren Geschichte der Republik Jemen. Jemenitische Demonstrantinnen, die in langen schwarzen Gewändern auf die Straße gingen und Demokratie forderten, wurden in der westlichen Berichterstattung der Arabellion besonders gefeiert – nicht zuletzt wohl deshalb, weil man das Land bisher eher als rückschrittlich wahrgenommen hatte. Mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Aktivistin Tawakkul Karman im Jahr 2011 trug man der neuen Einsicht Rechnung, dass Jemenitinnen nicht notwendig Gefangene tribaler Traditionen oder re-
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ligiöser Restriktionen sein müssen, sondern auch als gebildete und selbstbewusste Gestalterin einer neuen Ordnung in Erscheinung treten können. Roswitha Badry zeigt, dass sie sich bereits seit Jahrzehnten für Demokratie und Frauenrechte engagieren und verdeutlicht, mit welchen Chancen und Hindernissen sie auf dem Weg einer Umsetzung ihrer Ideen konfrontiert werden. Der Iran ist eines der Beispiele, die zeigen, dass sich die Situation von Frauen im Laufe von Revolutionen massiv verschlechtern kann, selbst wenn sie aktiv am Regimewechsel beteiligt waren. Nach dem Sturz des Schahs etablierten die von der Bevölkerung ermächtigten religiösen Führer eine islamische Diktatur, in der Frauen alle Rechte verloren, die ihnen während der Pahlavi-Dynastie verliehen worden waren. Katjun Amirpur zeichnet nach, wie sie versuchen, sich trotz der herrschenden „GeschlechterApartheid“ Handlungsspielräume zu erobern, wie sie für Gerechtigkeit kämpfen und welchen Beitrag sie zur Demokratiebewegung des Jahres 2009 leisteten, die auf Anweisung Ahmadinejads mit äußerster Brutalität zerschlagen wurde. Während Frauenrechtlerinnen bis in die 1980er Jahre hinein glaubten, eine geschlechtergerechte Ordnung könne nur auf säkularen Prinzipien basieren und setze das Zurückdrängen des Religion voraus, sind viele iranische Feministinnen heute davon überzeugt, dass emanzipative Grundsätze nicht im Gegensatz zum Islam stehen müssen, sondern vielleicht sogar aus religiösen Texten herausgelesen werden können. Ein zweites Beispiel für ein Land, in dem eine siegreiche Revolution ein autoritäres säkulares System beendet hatte, stellt Indonesien dar. Dort hatte ein Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Organisationen und Akteure, unter ihnen viele Frauen, im Jahr 1998 den seit 33 Jahren regierenden Diktator Suharto gestürzt und einen umfassenden Demokratisierungsprozess eingeleitet, der von internationalen Beobachtern als gelungen und oftmals sogar als vorbildlich bezeichnet wird. Monika Arnez schildert, wie sich die indonesische Gesellschaft seit dieser Zeit zunehmend islamisiert und welche neuen rechtlichen Benachteiligungen Frauen durch die Einführung islamischer Gesetze und Verordnungen erfahren. Dass diese Entwicklung nicht gradlinig verläuft, zeigen andererseits jüngst aufgelegte Programme gegen häusliche Gewalt und die Ausbeutung von Hausangestellten, Frauenquoten für politische Parteien oder das staatliche Engagement für Mädchenbildung.
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Die im Golf-Kooperationsrat zusammengeschlossenen Staaten der arabischen Halbinsel haben bis dato keinen Demokratisierungsprozess durchlaufen. Die Opposition scheiterte an den harten Reaktionen der Herrschenden und vielleicht auch an mangelnder Unterstützung der Bevölkerung. Die Monarchien gelten nicht nur in Bezug auf politische Strukturen, sondern auch auf die herrschenden Geschlechterordnungen als ultra-konservativ. Trotzdem gerät auch hier einiges in Bewegung, sind die Machthaber genötigt Reformen einzuleiten. Elham Manea stellt die These auf, dass drei Merkmale der autoritären arabischen Staaten ihre Geschlechterpolitiken bestimmen: die fehlende Legitimierung, ihre Abhängigkeit von traditionellen Akteuren und eine schwierige Überlebenspolitik. Für Kuwait weist sie nach, dass ein in der Verfassung festgeschriebener Gleichheitsgrundsatz nicht unbedingt politische Konsequenzen nach sich ziehen muss und dass Frauenrechte nur dann gefördert werden, wenn es für die Herrschenden politisch opportun ist, wenn Frauenförderung im Hinblick auf relevante innenoder außenpolitische Faktoren eine Ressource darstellt oder einflussreiche Akteure ihre Position im Gefüge rivalisierender Konkurrenten durch eine entsprechende Positionierung stärken können. Der arabische Staat, schreibt Manea, handelt machiavellistisch, und erst als sich Frauen aus unterschiedlichen Lagern zusammenschlossen und eigene internationale Netzwerke zu ihrer Unterstützung mobilisierten, konnte eine der wichtigsten Forderungen, das Frauenwahlrecht, implementiert werden. Sebastian Sons untersucht in seinem Beitrag, wie sich Frauen in SaudiArabien zurzeit als Akteurinnen eines politischen und kulturellen Wandels positionieren. Eine zunehmende Anzahl von Frauen ist mittlerweile hoch gebildet, hat bessere Abschlüsse als die Männer, eine höhere Arbeitsmoral und dringt auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Frauen geben sich nicht mehr damit zufrieden, ihre Managementkompetenzen innerhalb der Familie einzubringen, eröffnen Unternehmen und erwirtschaften 25% des Privatkapitals. Verglichen mit der ökonomischen Entwicklung hinkt die Politik zwar noch weit hinterher, doch auch hier lassen sich erste Anzeichen für Veränderung beobachten, gelangen Frauen vereinzelt in Führungspositionen. Das Königshaus reagiert auf diese sich abzeichnenden Umwälzungen ambivalent. Einerseits werden Zugeständnisse gemacht, wurde Frauen u.a. für das Jahr 2015 das aktive und passive Wahlrecht versprochen, andererseits wird jede ernsthafte Opposition mit repressiven Maßnahmen unterdrückt.
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Zwei Artikel thematisieren die Folgen internationaler Interventionen für die Geschlechterordnungen. Andrea Fischer-Tahir hat die Entwicklungen der Geschlechterordnung im Irak erforscht. Der postkoloniale irakische Staat unter Herrschaft der seit 1968 regierenden Baath-Partei verfolgte ein ähnliches Modernisierungsprogramm wie die autokratischen Herrscher Tunesiens. Weibliche Bildung und Berufstätigkeit wurden gefördert und das Rechtssystem zugunsten der Frauen reformiert. Dass diese Transformation vornehmlich ökonomisch motiviert war, zeigt der Umstand, dass die Regierung das Rad der Geschichte Anfang der 1990er Jahre wieder zurückdrehte, als sich die Wirtschaftslage verschlechterte. Nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 setzte eine Entwicklung ein, die von Wissenschaftlerinnen sehr unterschiedlich bewertet wird. Sicher ist, dass sie ambivalent ist. Einerseits wurde das Personenstandsrecht an die Scharia angepasst, die Polygynie wieder erlaubt und das Züchtigungsrecht des Ehemannes gegenüber seiner Frau eingeführt, andererseits Frauenquoten eingeführt und neue Handlungsspielräume für Frauen eröffnet. Welche Chancen Aktivistinnen haben, um ihre Vorstellungen durchzusetzen, hängt, so Fischer-Tahir, maßgeblich davon ab, in welche männlich dominierten Netzwerke und Organisationen sie eingebunden sind und ob diese von ihrer Unterstützung politische Vorteile erwarten. Das zweite Beispiel für einen Staat, dessen politische Entwicklung durch eine militärische Intervention vorangetrieben wird, ist Afghanistan. Andrea Fleschenberg befasst sich mit den auf internationalen Konferenzen verabschiedeten Richtlinien zur Eliminierung der Diskriminierung von Frauen und den tatsächlichen Möglichkeiten ihrer Umsetzung. Vieles, darin ist sich Fleschenberg mit afghanischen Aktivistinnen einig, sei erreicht worden. Frauen arbeiten heute als Polizistinnen, sind in Gemeinderäten und im Parlament präsent, häusliche Gewalt wird debattiert, und Opfer können in Frauenhäusern Zuflucht suchen. Allerdings stößt die neue Ordnung vielerorts auf Unverständnis und wird als fremd wahrgenommen. Frauenrechtlerinnen befürchten, dass sich die Situation nach dem Abzug der internationalen Truppen dramatisch verschlechtern könnte und hoffen, dass all die Interventionsakteure, die die Implementierung von Frauenrechten in Afghanistan in der Vergangenheit auf ihre Agenda gesetzt hatten, daran auch nach 2014 festhalten. Der Aufsatz von Nadja-Christina Schneider beleuchtet die Situation muslimischer Frauen in Indien und bringt eine weitere Perspektive in die
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Thematik des Sammelbandes ein. Indien ist die größte Demokratie der Welt, und Muslime stellen eine Minderheit dar, die von nationalistischen Hindus wegen ihrer vermeintlich rückschrittlichen Geschlechterordnung diskriminiert wird. Anders als in vielen arabischen Ländern stellt das an der Scharia ausgerichtete Personenstandsrecht für Aktivistinnen kein Ziel der Kritik dar, sondern sei vielmehr, so Schneider, ein zentraler Bestandteil muslimischer Identitätspolitik. Frauenrechtlerinnen orientieren sich unter diesen schwierigen Verhältnissen nicht an säkularen Emanzipationsmodellen, sondern versuchen ihre Handlungsspielräume innerhalb eines religiösen Rahmens zu erweitern. So organisieren sie sich in eigenen Jama’at, und vereinzelt gelang es ihnen bereits Frauenmoscheen zu errichten.
Tunesien Vom Staatsfeminismus zum revolutionären Islamismus S USANNE S CHRÖTER /S ONIA Z AYED
E INLEITUNG Im Hinblick auf Frauenrechte galt Tunesien in den vergangenen Jahrzehnten als außergewöhnlich fortschrittliches islamisch geprägtes Land.1 Die internationale Nichtregierungsorganisation Freedom House lobte es im Jahr 2010 sogar als führend innerhalb der arabischen Welt.2 Für diese positive Einschätzung gibt es gute Gründe. Die Verfassung garantiert gleiche Rechte für Männer und Frauen, das Personenstandsrecht (Code Personnel Statut, CSP) gilt in der islamischen Welt als vorbildlich, und Frauen sind in der Öffentlichkeit und im Berufsleben präsent. Der Weg der Frauen vom heimischen Herd in die Öffentlichkeit fing bereits zu Zeiten des Kolonialismus an. Frauen erwarben Bildung, wurden berufstätig und nahmen sogar Führungspositionen ein. 1936 begann die erste Ärztin zu praktizieren, 1950 wurde die erste Zugführerin eingestellt, 1960 die erste Schiffskapitänin und 1962 die erste Pilotin. Frauen sind heute Richterinnen und Anwältinnen, und sie arbeiten im Polizei- und im Militärdienst. Im höheren Bildungsbereich scheinen sie im Jahr 2008 sogar ihre Landsmänner mit 59,5 % zu übertrumpfen.3
1
Vgl. Moghadam 1998, 2003.
2
Vgl. Ben Salem 2010.
3
Vgl. Ben Salem 2010.
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Der durch die demokratische Bewegung im Jahr 2011 durchgesetzte Regimewechsel könnte dieser Situation bald ein Ende bereiten. In der islamistischen Ennahda-Partei, die die Mehrheit aller Sitze in der verfassunggebenden Nationalversammlung gewann, formieren sich Kräfte, die die Gleichberechtigung der Geschlechter als „unislamisch“ ablehnen, und salafistische Eiferer machen Jagd auf all diejenigen, die sich nicht ihrer Vorstellung einer islamischen Lebensweise beugen. Ein neuer Verfassungsentwurf wird diskutiert, in dem Frauen nicht mehr als eigenständige Personen erscheinen, sondern nur noch als Anhängsel (takamul) ihrer Ehemänner definiert werden.
V OM
TRADIERTEN P ATRIARCHALISMUS ZUM STAATLICH GELENKTEN „F EMINISMUS “
Der Ausgangspunkt für die rasante Transformation der tunesischen Geschlechterordnung, die sich im 20. Jh. ereignete, war zu Beginn des Jahrhunderts noch denkbar deprimierend. Die Soziologin Mounira M. Charrad, die eine Reihe wissenschaftlicher Publikationen zur Geschichte des Landes vorgelegt hat,4 zeichnet ein düsteres Bild der traditionellen Geschlechterverhältnisse. Wie überall im Maghreb bildeten patrimoniale Verwandtschaftsbeziehungen die zentrale Achse jedweder sozialer und auch politischer Organisation5 und Frauen waren dabei einerseits für die Reproduktion notwendiges Übel, andererseits ein wohlfeiles Mittel der Allianzbildung. Als Gruppenfremde wurde ihnen tendenziell mit Misstrauen begegnet, denn man argwöhnte, sie könnten Zwietracht zwischen den Männern des Klans säen. Aus diesem Grund wurde möglichst endogam innerhalb einer Patrilinie geheiratet und die Verbindung zwischen Cousine und Cousin ersten Grades bevorzugt. Dazu kam, so Charrad, dass nicht nur klanfremde, sondern auch die eigenen Frauen grundsätzlich als gefährlich galten. Wenn sich eine Frau einem Mann näherte, pflegte man unter Bezugnahme auf einen Ausspruch des Propheten Mohammed zu sagen, dass nähere sich der
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Vgl. Charrad 1994, 1998, 2001, 2001, 2007.
5
Vgl. Charrad 2001: 51.
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Teufel.6 Grund dafür sei ihre sexuelle Verführungskraft, der Männer hilflos ausgeliefert seien. „Left unbridled“, so Charraud, „a woman’a very nature is the symbol of destruction. Her subversive tendencies must therefore be restrained, and her behavior regulated, if social disruption is to be avoided. Conceptions of the moral order require that [...] the woman be tamed to become all obedience and passivity.“ (Charrad 2001: 57)
Zu den Maßnahmen der Aufrechterhaltung von Kontrolle und der Eindämmung des durch Sexualität hervorgerufenen Chaos gehörten die strikte Segregation der Geschlechter und die Verhüllung der Frauen.7 Der öffentliche Raum war selbst in den Städten Männern vorbehalten, während sich der weibliche Handlungsraum auf das Haus beschränkte.8 Zur jener Zeit sei es, so Charrad, nicht nur üblich gewesen, Frauen in der islamischen Rechtsprechung9 die vollen Rechte, die ein Mann genoss, vorzuenthalten und sie als minderwertige Personen zu behandeln; diese Diskriminierung sei vielmehr geradezu zum originären Ausdruck der islamisch-tunesischen Identität stilisiert worden. Heiraten von minderjährigen Mädchen mit älteren wohlhabenden Männern wurde auch dann praktiziert, wenn das Mädchen nicht einverstanden war.10 Die Verstoßung der Frau durch das dreimalige Aussprechen der Scheidungsabsicht war genauso legitim wie die Polygynie.11 Frauen oder Mädchen, die sich gegen patriarchalische Willkür zur Wehr setzten, wurden nach der Sitte des dar joued durch einen Kadi oder auch schlicht durch ein männliches Mitglied der Familie auf unbestimmte Zeit in
6
Vgl. Charrad 2001: 57.
7
Diese Vorstellung einer eminent bedrohlichen sexuellen Kraft der Frauen, die nur durch strengste Meidungsregeln eingedämmt werden könne, findet sich im gesamten Maghreb. Die marokkanische Soziologin war eine der ersten arabischen Wissenschaftlerinnen, die diesen Ideenkomplex für Marokko dekonstruierte. Vgl. Mernissi 1998.
8
Vgl. Chamari 1991, Marzouki 1993, Charrad 1994.
9
90 % der tunesischen Gesellschaft sind sunnitische Muslime und folgen der malikitischen Rechtsschule.
10 Vgl. Richter-Dridi 1981. 11 Vgl. Charrad 1994.
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ein Haus eingeschlossen werden, um zu lernen, unterwürfig und gehorsam zu sein.12 Der tunesische Schriftsteller Tahar Haddad (1899-1935) kritisierte diese Missstände in seinem Werk „Die tunesische Frau in Gesetz und Gesellschaft“, die ihn als revolutionären Denker und Vorkämpfer der tunesischen Frauenrechte in die Geschichte des Landes einschreiben sollte. Er argumentierte gegen die Benachteiligung von Frauen im Recht, vor allem im Familienrecht, wandte sich entschieden gegen Polygynie und Verschleierung und kritisierte die mangelhafte Bildung, deren Ergebnis „[...] das Heranwachsen junger Menschen und besonders Frauen in Unwissenheit (÷ahl) und Dummheit (ۊumq)“ (Hajji 2009: 52) sei. Den Islam könne man nicht für solche Missstände verantwortlich machen, meinte er, vielmehr die falschen Interpretationen der religiösen Texte: „Ich bin felsenfest überzeugt, dass der Islam unschuldig ist, wenn es um den Vorwurf geht, er verhindere Reformen. Dies ist der Grund, der mich zum Verfassen dieser meiner Schrift über die Frau in Gesetz und Gesellschaft veranlasste, damit wir sehen, wer der Rechtleitende ist und wer nicht nur selbst in die Irre geht, sondern auch die anderen irreleitet.“ (Hajji 2009: 50)
Für die islamischen Autoritäten war das eine ungeheure Provokation, und anders als in Ägypten, wo der Jurist Qasim Amin bereits um die Jahrhundertwende zwei ähnlich emanzipative Schriften vorgelegt hatte, ohne damit einen Proteststurm der städtischen Elite auszulösen,13 wurde die Publikation Haddads ein Skandalon. Die Theologen seiner Alma Mater, der einflussreichen theologischen Al-Zaituna-Universität,14 erklärten ihn zum Häretiker; der Verkauf seines Buches wurde verboten, er selbst verlor seine Lehr- und Prüfungsberechtigung, und man erkannte ihm sein Notariatsdiplom ab. Öf-
12 Vgl. Tchaicha/Arfaoui 2012: 218. 13 Im Jahr 1899 veröffentliche Amin die Schrift „Die Befreiung der Frau“ (Tahrir Al-Mar‘ah) und zwei Jahre später dann ein weiteres Buch unter dem Titel „Die neue Frau“ (Al-Mar‘ah Al-Jadidah). 14 Die Al-Zaituna-Universität wurde im Jahr 737 AD als Bildungseinrichtung der Al-Zaituna-Moschee in Tunis gegründet und ist die älteste islamische Universität der Welt. Der bekannteste Absolvent war der Historiker Abdul-Rahman Ibn Khaldun (1332-1406).
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fentliche Angriffe bis hin zu körperlichen Misshandlungen auf der Straße folgten. Der Visionär fühlte sich all dem nicht gewachsen, verfiel in Depressionen und verstarb kurz darauf im Jahr 1935.15 Trotz dieser Repressionen entfalteten seine Schriften eine beachtliche Wirkung. Bereits ein Jahr nach seinem Tod wurde die erste tunesische Frauenorganisation unter dem Namen l’Union Musulmane des Femmes de Tunisie (UMFT) mit Bchira Ben Mrad16 als Vorsitzender gegründet. Sie vertrat allerdings konservative islamische Wertvorstellung.17 Andere Frauenorganisationen waren gewerkschaftlich eingebunden, vertraten sozialistische Ideen oder standen der ägyptischen Muslimbruderschaft nahe.18 Mit dem Beginn des nationalen Befreiungskampfes wurden die Stimmen nach Gleichberechtigung von Frauen und Männern lauter, und nach der Unabhängigkeit erreichten sie endlich den politischen Mainstream. Nach einem antikolonialen Kampf erkannte Frankreich Tunesien am 20. März 1956 als unabhängigen Staat an, und am 25. Juli 1957 wurde die Republik ausgerufen. Der erste tunesischen Präsidenten Habib Bourguiba modernisierte den Staat fundamental. Er hatte in Frankreich studiert, sein Studium der Politikwissenschaften 1927 an der Sorbonne-Universität abgeschlossen und hatte eine Französin geheiratet. Als Politiker orientierte er sich an der westlichen Welt19 und besonders am Modell des Laizismus. Er sah in der Machtfülle islamischer Gelehrter und Institutionen ein entscheidendes Entwicklungshindernis des jungen postkolonialen Staates und suchte sie mit verschiedenen Maßnahmen zu begrenzen. Alle religiösen Stiftungen (waqf) wurden aufgelöst und deren Vermögen in die Kassen des Staates überführt,20 die Schariagerichte abgeschafft und ein säkulares Justizsystem etabliert. Das Bildungswesen, bis dahin unter der Kontrolle religiöser Akteure, wurde ebenfalls verstaatlicht.21 Auch Al-Zaituna-Universität verlor ihre Unabhängigkeit, und die Professoren wurden Staatsangestellte.22
15 Vgl. Hajji 2009. 16 Bchira Ben Mrad (1913-1993) war eine renommierte tunesische Feministin. 17 Vgl. Marzouki 1993. 18 Vgl. Dwyer 1991: 192. 19 Vgl. Salem 1984. 20 Das betraf auch den Grundbesitz der Moschee. Vgl. Weber 2001: 23. 21 Vgl. Allman 1979. 22 Vgl. Faat 2007: 216f.
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Koranschulen wurden dezimiert und unter staatliche Aufsicht gestellt. Von besonderer Bedeutung in Bourguibas Modernisierungsprogramm war die Etablierung von Frauenrechten,23 und in dieser Hinsicht knüpfte er an den Ideen des verstorbenen Haddad an.24 Bereits am 13. August 1956 wurde das in der arabischen Welt fortschrittlichste Personenstandsrecht eingeführt.25 Tunesische Frauen erhielten das Recht auf Erwerbsarbeit, durften selbständig reisen, ein Bankkonto eröffnen und ohne Einverständnis ihrer Ehemänner ein Unternehmen gründen. Die Zivilehe wurde eingeführt, die einseitige Verstoßung der Frau durch den Mann abgeschafft und die Polygynie unter Strafe gestellt. Das Mindestheiratsalter für Mädchen wurde auf 15 Jahre festgelegt, das für Jungen auf 18. Zuvor hatte es keinerlei Beschränkungen gegeben. Scheidungen waren für beide Ehepartner möglich, auch ohne Angabe von Gründen, mussten aber gerichtlich vollzogen werden. Seit 1973 waren Abtreibungen straffrei. Bourguiba setzte eine fundamentale Umwälzung der Gesellschaft in Gang, die man im besten Sinne als „Kulturrevolution von oben“ bezeichnen muss. Die Bevölkerung wurde nur mäßig einbezogen, und der damalige Justizminister Ahmed Mestiri argwöhnte, dass die Entscheidungen des Präsidenten in der konservativen Mehrheit der Gesellschaft keinen Rückhalt haben könnten.26 Strittig waren vor allem die repressiven Maßnahmen gegen die islamische Bekleidung von Frauen. Wie Haddad, der den Schleier als „Hundemaulkorb“ bezeichnet hatte, wandte sich Bourguiba dezidiert gegen die islamische Verhüllung und verbot sie in öffentlichen Einrichtungen.27 Bourguiba konnte sein radikales Modernisierungsprogramm nur als autoritärer Herrscher durchsetzen und er hatte anfangs die dafür notwenige Legitimation. 1957 wurde er tunesisches Staatsoberhaupt und 1959 mit 92% aller abgegebenen Stimmen als Präsident gewählt. 1974 ließ er sich
23 Vgl. Weber 2001. 24 Die Etablierung einer emanzipativen Geschlechterordnung wurde nicht nur in Tunesien zum Symbol der Moderne. Zur gleichen Zeit setzten Kemal Pascha in der Türkei und Reza Schah im Iran ganz ähnliche Programme durch und legten sich ebenfalls vornehmlich mit den etablierten islamischen Autoritäten an. 25 Vgl. Pritsch 1958. 26 Vgl. Möller/Veenhuis 2012. 27 Vgl. Salem 2010: 493.
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von der Nationalversammlung zum Präsidenten auf Lebenszeit bestätigen. Politische Opposition formierte sich vor allem aus den Reihen islamischer Kräfte, die sich gegen die Verwestlichung des Landes stellten und massiv für eine Rückkehr zu den Werten des Islams mobilisierten.28 Bereits in den 1960er Jahren entstand aus den Reihen von Gelehrten der zwangssäkularisierten Al-Zaituna-Universität eine islamistische Erneuerungsbewegung;29 und ab 1981 formierte sich politisch-religiöser Widerstand unter Leitung des Philosophielehrers Rached Ghannouchi in der „Mouvement de la Tendance Islamique“ (MIT). Die religiöse Opposition wurde allerdings mit Hilfe staatlicher Repression eingedämmt und Ghannouchi im Jahr 1987 zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt.30 1987 wurde Bourguiba in einem unblutigen Putsch von seinen ehemaligen Innenminister Zine El-Abidine Ben Ali gestürzt. Im gleichen Jahr kam es in den Touristenorten Monastir und Sousse zu Bombenanschlägen, bei denen 13 Personen verletzt wurden. Ben Ali reagierte vergleichsweise milde, ließ mehrere Verdächtige begnadigen und nur zwei Angeklagte hinrichten. Ohnehin bemühte er sich um eine vorsichtige Korrektur des politischen Kurses und entwickelte eine Strategie der „Öffnung“ (Moghadam 2005: 295), in der er auf die arabisch-islamische Identität Tunesiens rekurrierte. Er unterstützte islamische Veranstaltungen mit staatlichen Zuschüssen und versuchte einen Schulterschluss mit liberalen islamischen Kräften, die sich in Tunesien seit den 1980er Jahren eigenständig organisierten. Die AlZaituna-Universität wurde aufgewertet und erhielt neue Aufgabenbereiche, Fernsehsendungen wurden durch die Rufe zum Gebet unterbrochen. Im März 1988 wurde ein „Nationalpakt“ zwischen Vertretern der oppositionellen Parteien, Islamisten,31 Gewerkschaftsvorsitzenden und feministischen Organisationen32 verabschiedet, um eine Grundlage für die politische Teil-
28 Vgl. Hamdi 1998; Ismael 2003; Salem 1984; Shahin 1997; Wöhler-Khalfallah 2004. 29 Vgl. Faath 2007: 217. 30 Vgl. Hamdi 1998; Deutsches Orient-Institut 2011: 6. 31 Beteiligt waren insbesondere Vertreter der MIT. 32 Es waren vorwiegend Repräsentantinnen der „Association Tunisienne des Femmes Démocrates“, die sich um die Legalisierung als autonome Frauenorganisation bemühten. Nach drei Versuchen wurde ihnen 1989 die Anerkennung als unabhängige Frauenorganisation unter Auflagen zuteil.
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habe festzulegen. Eine Bedingung für die staatliche Akzeptanz war die Zustimmung zum Prinzip der Geschlechtergleichheit. Weber schreibt dazu: „In einer auf die islamistische Partei eingemünzten Erklärung, Gruppen dürfen sich nur dann bilden, wenn sie sich u.a. zum Prinzip der Gleichheit von Männern und Frauen bekennen würden, erhob Ben Ali Geschlechtergleichheit zu einem politischen Kriterium.“ (Weber 2001: 34)
Seine Emanzipationspolitik war Teil der autoritären Staatspolitik und intendierte nicht zuletzt die Kontrolle autonomer Frauenorganisationen. Diejenigen, die sich staatsnah zeigten, wurden dem Staatssekretariat für Frauenangelegenheiten und ab 1993 dem Frauen- und Familienministerium beigeordnet. Nur wenige, wie der Association Tunisienne des Femmes Démocrates (ATFD)33, die Rechtsberatung für Frauen in Scheidungsfällen und bei häuslicher Gewalt anbot, konnten eine gewisse Unabhängigkeit bewahren. In Bezug auf die Umgestaltung der Geschlechterordnung führte Ben Ali den Reformkurs Bourguibas fort. Die eheliche Gehorsamspflicht der Frauen wurde abgeschafft, Frauen konnten ihre Staatsangehörigkeit auf ihre Kinder übertragen und, nach einer Scheidung, das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder mit ihrem Ex-Ehemann teilen. Im öffentlichen Dienst wurde die islamische Kopfbedeckung für Frauen, der hijab, verboten. Um den Islam nicht nur den Islamisten zu überlassen, veranlasste Ben Ali die Unterstützung von Vertretern eines liberal-säkularen Islams. Moderat-islamische Gelehrte wie Mohamed Talbi, Mohamed Charfi, Hamadi Redissi oder Abdelwahab Meddeb wurden gefördert und traten als öffentliche Intellektuelle in Erscheinung. Das Kalkül, den Islamismus durch einen staatlich anerkannten Reformislam zurückzudrängen, ging allerdings nicht auf. Der Islamismus blieb ein wichtiger Akteur im politischen Kräftespiel. Aus der Mouvement de la Tendance Islamique ging im Jahr 1988 eine neue Organisation namens „Hizb Ennahda“ hervor, die den Antrag auf Zulassung als Partei stellte. Im April 1989 kandidierten Ennahda-Vertreter auf Unabhängigenlisten und erhielten signifikante Stimmenanteile.34 Ben Ali reagierte mit Repression und es kam zum Bruch mit den Islamisten. Die
33 http://femmesdemocrates.org/ (01.09.2012). 34 Vgl. Weber 2001: 35, Esposito 2001: 104f.
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Partei wurde verboten und Tausende ihrer Mitglieder bei Polizeiaktionen verhaftet.35 Viele, darunter Rached Ghannouchi, flohen ins Exil. Die harte Reaktion des Staates trug ebenso zur Radikalisierung bei wie die Infiltrationen durch den transnationalen Islamismus. Faath stellte in einer 2007 durchgeführten Studie fest, dass wahhabitische Einflüsse eine große Rolle spielten.36 Vor allem die Diskriminierung kopftuchtragender Frauen sollte sich als zweischneidiges Schwert erweisen. Eine steigende Anzahl von Frauen, vorwiegend junge Arbeiterinnen und Studentinnen, zeigte sich, allen Verboten zum Trotz, in islamischer Kleidung in der Öffentlichkeit, und das Kopftuch wurde nach und nach zum Symbol des islamischen Widerstands Der Erfolg islamistischer Ideologien bei tunesischen Frauen war allerdings nicht nur eine Folge autoritärer Staatsführung, sondern resultierte auch aus einem grundsätzlichen Widerspruch zwischen einer emanzipativen und einer islamischen Ordnung. Die verbrieften Rechte und die staatliche Gleichheitsrhetorik kollidierten mit einem tief verwurzelten gesellschaftlichen Patriarchalismus, der auch religiös legitimiert wurde. Die Mehrheit der Tunesier und Tunesierinnen idealisierte eine komplementäre Rollenverteilung, in der die Frau als Hausfrau und Mutter dem berufstätigen Mann gegenüberstand, und berufstätige Frauen litten unter einer doppelten Belastung, da sie die häuslichen Pflichten zusätzlich zu ihrem Beruf erledigen mussten. Das Wunschbild einer harmonischen Ehe kollidierte mit den schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, und viele Frauen reichten wegen häuslicher Gewalt die Scheidung ein. Eine Wiederverheiratung war für sie, anders als für Männer, oft nicht möglich, und die Anzahl von alleinerziehenden Müttern stieg. Insgesamt hielten die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mit den politischen Entwicklungen Schritt. Dieses Missverhältnis führte im Anschluss an die Revolution von 2010/11 zu unerwarteten, aber dennoch folgerichtigen Dynamiken.
35 Shahin (1997: 101) schreibt von etwa 8.000 Betroffenen. 36 Vgl. Faath 2007: 227. Die Einflussnahme geschah durch verschiedene Propagandamaterialien, aber auch durch das Fernsehen und andere neue Medien.
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R EVOLUTIONÄRE V ERHÄLTNISSE Ben Ali hatte seine Herrschaft anfangs durch wirtschaftliche Erfolge absichern können.37 Bis 1999 verzeichnete das Land teilweise Wachstumsraten von 5%, die Armut konnte signifikant reduziert werden und die Geburtenrate sank von 6,2% im Jahr 1975 auf 1% im Jahr 2005.38 Allerdings erfolgte die Entwicklung nicht gleichermaßen im ganzen Land, und die Schere zwischen Modernisierungsgewinnern und -verlierern ging auseinander. Die Oberschicht wurde reicher, und die Familie des Präsidenten wurde durch die ungeheure Anhäufung materieller Güter zu einem Symbol für Korruption und Ausbeutung.39 Die Armen dagegen blieben arm. Zwischen 2008 und 2010 kam es in einzelnen Regionen wie in Gafsa zu sozialen Aufständen.40 24% der Bevölkerung war unter 15 Jahren, viele von ihnen ohne Chancen auf eine geregelte Erwerbstätigkeit und die Möglichkeit zu heiraten und eine Familie zu ernähren. Besonders die gut ausgebildete städtische Jugend war frustriert. Die Arbeitslosigkeit unter ihnen betrug 25%. Zu der Misere kamen die täglichen Schikanen und Erniedrigungen durch Vertreter des Staates, und insbesondere durch die Polizei. Die tunesische Revolution begann mit der Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi in Sidi Bouzid am 17. Dezember 2010, der nach dem Tod des Vaters die Aufgabe übernommen hatte, seine Geschwister und Mutter zu versorgen. Als Ursachen für seine Tat werden gewöhnlich behördliche Schikanen, die Beschlagnahmung seiner Waren und Misshandlungen auf dem Polizeirevier genannt. Besonders erwähnt wird der Umstand, dass ihn eine Polizistin, Faida Hamdi, geohrfeigt habe und dass die Entehrung, von einer Frau misshandelt worden zu sein, für ihn unerträglich gewesen sei. Sein verzweifelter Selbstmord wurde durch Blogs41, Facebook und Twitter einer breiten Öffentlichkeit zugäng-
37 Vgl. Murphy 1999. 38 Vgl. Deutsches Orient-Institut 2011: 8. 39 Vgl. Beau/Graciet 2009. 40 Vgl. Deutsches Orient-Institut 2011: 9. 41 Zu den bekanntesten tunesischen Internetaktivisten zählten zwei männliche Blogger (Haythem El-Mekki und Slim Amamou, der in der Übergangsregierung Staatssekretär für Jugend und Sport wurde) und eine weibliche Bloggerin namens Lina Ben Mhenni. Ihr Blog „A Tunisian Girl“ war ein wichtiges Agita-
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lich gemacht und dadurch ein Dominoeffekt verursacht.42 Es kam zu Massenprotesten gegen Korruption, Nepotismus, Polizeiterror, soziale Ungleichheit, und Arbeitslosigkeit, die das Ende der autokratischen Herrschaft von Ben Ali einleiteten. Am 4. Januar 2011 starb Mohammed Bouazizi in einem Krankenhaus, und die Demonstrationen und Proteste nahmen an Intensität zu. Die Gewerkschaften solidarisierten sich mit der demonstrierenden Jugend, und auch das Militär wandte sich vom Regime ab. Frauen waren an allen oppositionellen Aktivitäten beteiligt. Die Bilder von Tunesierinnen, die Fahnen schwenkten, auf den Rücken von Männern saßen und dabei gegen Ben Ali rebellierten, gingen durch die Weltpresse. Sie forderten explizit demokratische Werte: Gerechtigkeit, Redefreiheit, Versammlungsfreiheit und freie Wahlen. Souhayr Belhassen schreibt: „Women massively participated in the [Jasmine] uprising to make sure their demands would be taken into account“ (Goulding 2011a: 4). Am 14. Januar 2011 trat Zine El-Abidine Ben Ali von seinem Amt als Staatspräsident zurück und floh nach Saudi-Arabien. Nach der Flucht gerieten tatsächliche und vermeintliche Anhänger des autoritären Regimes in die Kritik, darunter auch Feministinnen, die unter Ben Ali in seiner Einheitspartei Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD) als Mitglieder tätig waren, und die größte tunesische Frauenorganisation, die Union Nationale de la Femme Tunisienne (UNFT), die unter der Schirmherrschaft von Leila Ben Ali stand. Sie wurde genötigt, auf gerichtliche Anordnung hin nach der Revolution ihre Aktivitäten einzustellen.43 Rached Ghannouchi kehrte am 30. Januar 2011 als Vorsitzender der islamistischen Ennahda-Partei nach zwei Jahrzehnten Exil nach Tunesien zurück. Auch andere Parteimitglieder der Ennahda, wie Hamadi Jbali und Mohammed Oun, hatten die letzten zwei Jahrzehnte nicht in Tunesien oder in Gefängnissen verbracht. Die gesellschaftliche Realität war ihnen daher nicht aus eigenen Erfahrungen und Erlebnissen bekannt. Das macht gewisse wirklichkeitsfremde Statements dieser Politiker verständlich. So hatte der aktuelle tunesische Premierminister und Ennahda-Funktionär Hamadi Jbali am 13. November 2011 anlässlich eines Treffens mit dem palästinensischen
tionsorgan der Revolution. Zur Rolle neuer sozialer Medien in der Arabellion, vgl. Schröter 2011. 42 Vgl. Ryan 2011a. 43 Vgl. Goulding 2011a.
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Hamas44-Delegierten Houda Naim von „einem historischen Moment für Tunesien und – inschallah – vom 6. Kalifat“ gesprochen. Mohammed Oun hatte Sonia Zayed gegenüber in einem Interview sein Befremden gegenüber der realen tunesischen Gesellschaft eingestanden. Selbst das Verhalten der eigenen Familienmitglieder sei ihm unverständlich: „Ein Islamist (mutadayin) trifft auf eine emanzipierte Tochter, die nachts ausgehen will“45. Ghannouchi bemühte sich, auftretende Befürchtungen säkularer und liberaler Kräfte zu zerstreuen und definierte seine Partei als „modernistisch, [...] aber mit tiefen Wurzeln in der arabisch-islamischen Identität“. Sie stünde für individuelle Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung und Korruptionsbekämpfung. 46 In Bezug auf die liberale Geschlechterordnung versicherte Ghannouchi, dass das Personenstandsrecht von 1956 Bestand habe, da es gar nicht unislamisch, sondern letztendlich sogar von der Scharia abgeleitet sei. Die Polygynie sei zu Recht in Tunesien illegal und die islamische Kopfbedeckung, der hijab, eine rein persönliche Entscheidung. Maßnahmen des islamischen Strafrechts wie Steinigung oder Amputation von Gliedmaßen stünden nicht zur Diskussion.47 In seinen Reden wiederholte er stets, dass die Errungenschaft der tunesischen Frauen auch in der neuen Ordnung Bestand haben würden.48 Trotz dieser Beteuerungen bleibt Misstrauen bestehen. Einerseits vermuten Liberale, dass Ghannouchis Worte in der zukünftigen Politik des
44 „Hamas“ ist das Akronym für die palästinensische islamistische Partei Harakat Al-Muqawamah Al-ֈ Islamiyyah („Islamische Widerstandsbewegung“). Sie regiert seit den Wahlen vom 25.01.2006 den Gazastreifen. 45 Interview mit Mohammed Oun, Montplaisir (01.11.2011). 46 Vgl. u.a. Schmidt 2011; Tamimi 2001. Ghannouchi gilt auch bei vielen politischen Beobachtern westlicher Universitäten als gemäßigter islamischer Führer, als jemand, dessen Ideen „[...] came closer to accepting Western-style democracy and political pluralism than his counterparts elsewhere [...]“ (MaddyWeitzmann 2011a). 47 Vgl. Ben Gamra 2011. Der Vorstand des UNFT hat sich von Leila Ben Ali distanziert. Es fand eine Strukturierung statt und seit 2012 nahm sie offiziell als nichtregierungsnahe tunesische Frauenorganisation ihre demokratische Arbeit auf. Der arabische Internetauftritt befindet sich auf folgender Website: http:// www.unft.org.tn/ar/index.php (24.08.2012). 48 Vgl. Byrne 2011.
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Landes kein Gewicht haben würden und letztendlich doch eine Islamisierung des Rechts angestrebt werde, andererseits sind von ihm auch Aussagen bekannt, die auf eine Retraditionalisierung der Geschlechterordnung zielen. „Islam does not allow women to work while a battallion of men is unemployed“, sagte er vor mehr als 10 Jahren, „especially since a woman can take care of the home.“ (zitiert nach: Haddad/Esposito 1998: 9) Die beschwichtigende Rhetorik Ghannouchis war ohnehin nur eine Stimme der Ennahda. Andere hatten weniger Skrupel, islamische Werte konträr zu liberalen Werten zu definieren. Ein Beispiel ist die EnnahdaSprecherin Souad Abderrahim, die kein Kopftuch trägt und Mitglied der Nationalversammlung ist. Sie sorgte im November 2011 für einen Eklat, als sie in einem Interview mit dem arabischen Radiosender Monte Carlo Doualiya alleinerziehende Mütter als „Schande“ bezeichnete und forderte, ihnen ihre bislang verbürgten Rechte abzusprechen.49 Der Menschenrechtsminister, Samir Dilou, ebenfalls Sprecher der Ennahda, behauptete im Juni 2011, die Polygamie in der tunesischen Verfassung verankern zu wollen.50 Auch offiziellen Verlautbarungen der Partei gaben denjenigen Recht, die der Ennahda eine sukzessive Islamisierung des Staates unterstellten. „Der Islam hat nie – weder in seinen Texten noch in seiner Geschichte – die Trennung von Religion und Politik oder dem Irdischen und dem Geistlichen gekannt“51, heißt es in einer programmatischen Erklärung. Die Trennung von Staat und Religion seien „ein Angriff auf das islamische Denken“. Der extremistische Flügel der Ennahda ging noch weiter und forderte, die Scharia ausdrücklich als Grundlage der neuen tunesischen Ordnung in der Präambel der neuen Verfassung festzulegen. Außerdem solle ein „Hoher Islamischer Rat“52 eingeführt werden, der darüber zu wachen habe, dass kein Gesetz in
49 Vgl. Nadiya 2011. 50 Nachdem dies eine Kontroverse in der Presse verursacht hatte, behauptete er, falsch zitiert worden zu sein. Vgl. Investir en Tunisie, am 01.06.2011 erschienen; am 02.06.2011 erschien folgende Meldung aus der selbigen Internetplattform, gelesen unter tunisie-investir-en-tunisie.net: Tunisie: éclaircissement de M. Samir Dilou, http://www.investir-en-tunisie.net/index.php?option=com_con tent&view=article&id=10256 (30.11.2011). 51 Vgl. Wandler 2012b. 52 Vgl. Nadiya 2012.
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Tunesien gegen islamische Werte verstoße.53 Die Radikalen konnten sich bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings nicht durchsetzen. Die Ennahda entschied sich im März 2012 für einen Verzicht der religiösen Festschreibung des Wortes Scharia im neuen Verfassungsentwurf. Der erste Artikel der tunesischen Verfassung lautet stattdessen: „Tunesien ist ein freier Staat, unabhängig und souverän, seine Religion ist der Islam, seine Sprache das Arabische und seine Staatsform ist die Republik.“54 Abgesehen vom beunruhigenden Getöse einiger Ennahda-Vertreter ging die Partei nach der Revolution daran, von Bourguiba und Ben Ali erlassene anti-islamische Repressionen zu beseitigen. So war die Ennahda maßgeblich am Aufheben des Kopftuchverbots in öffentlichen Institutionen beteiligt. Sie setzte sich außerdem erfolgreich dafür ein, dass Frauen auf den Bildern von Personalausweisen und Pässen ein Kopftuch tragen dürfen. Unter Ben Ali war dies nicht möglich gewesen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bereits im Vorfeld der Wahl zur verfassungsgebenden Nationalversammlung Ängste vor einer möglichen Islamisierung und einer damit einhergehenden Patriarchalisierung des post-autoritären Tunesiens laut wurden.55 Der Übergang in ein neues demokratisches Tunesien wurde in Kommissionen und durch Übergangsinstitutionen vorbereitet. Anfang März 2011 wurde eine Übergangsregierung unter Führung des greisen Béji Caïd Essabsi eingesetzt, an der auch zwei Ministerinnen (unter 21 Ministern) beteiligt waren. Béji Caïd Essabsi hatte schon unter den Präsidenten Bourguiba und Ben Ali Ministerämter bekleidet und war gewissermaßen ein Mann des alten Regimes. Der weitere Reformprozess wurde durch eine Reformkommission und eine Wahlkommission begleitet. In den Verfahren spielte die Frage der Partizipation von Frauen eine gewichtige Rolle. Das am 11. April 2011 verabschiedete Paritätsgesetz der tunesischen Übergangsregierung schreibt vor, dass Parteien in der Auflistung paritätisch männliche und weibliche Kandidaten aufweisen müssen, andernfalls seien sie zu den Wahlen am 23. Oktober 2011 zur verfassungsgebenden Versammlung nicht zugelassen.56 Das fand nicht jeder der neuen politischen
53 Vgl. Wandler 2012a. 54 Poser-Ben Khala (2008): Artikel I der tunesischen Verfassung. 55 Vgl. Ryan 2011b; Al-Yafai 2011. 56 Vgl. Goulding 2011b.
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Akteure richtig, und Béji Caïd Essabsi selbst kritisierte die Frauenquote öffentlich. Durchgesetzt wurde sie ohnehin nur unzureichend, und in einigen Wahlkreisen im Süden des Landes57 begründete man die höhere Männerquote mit der unzureichenden Anzahl weiblicher Kandidaten. Letztendlich sollen 93% männliche Kandidaten und nur 7% Kandidatinnen aufgestellt worden sein.58 Auch Ben Ali hatte für die von ihm vorgeschlagene Frauenquote von 30 % in seiner eigenen Partei, der RCD, nicht durchgesetzt.59 Am 23. Oktober 2011 wählte die tunesische Bevölkerung die Mitglieder einer verfassungsgebenden Versammlung, bei der die islamistische Ennahda-Partei, die erst am 1. März 2011 von der Übergangsregierung zugelassen wurde, 41,5 % der abgegebenen Stimmen gewann und 89 von 217 Parlamentssitzen erhielt. Die Hälfte ihrer Abgeordneten ist aufgrund des Paritätsgesetzes weiblich. Die Ennahda bildete eine Koalition mit zwei linksliberalen Parteien, der sozialdemokratischen Ettakol oder auch Front Démocratique pour le Travail et les Libertés (FDTL), die 21 Sitze erwerben konnte, und dem von dem Menschenrechtsaktivisten Moncef Marzouki geführten Congrès pour la République (CPR), der 30 Sitze erhielt. Die demokratische Parti Démocrate Progressive (PDP) schnitt überraschend schwach ab und erhielt nur 17 Sitze bei 8% aller abgegebenen Stimmen. Die Partei Al-Aridha Al-Chaabia (Pétition Populaire) des Medienunternehmers Hechimi Hamidi gewann 19 Sitze und wurde, nach der Ennahda, CPR und Ettakol, die viertstärkste Partei in der Versammlung.60 Dass diese Ergebnisse nicht primär darauf hinweisen, dass die Mehrheit der Tunesier eine islamische Regierung befürwortet, sondern darauf, dass die tunesische Gesellschaft tief gespalten ist, gibt der Politikwissenschaftler MaddyWeitzmann zu bedenken. Die Stärke der Ennahda sei auch eine Folge der
57 Es handelt um die Bezirke von Kassrine, Sidi Bouzid, Kairouan und Silana, die auch die höchste Analphabetenrate des Landes aufweisen. Bei den Frauen liegt sie bei 36 %. Vgl. International Foundation for Electoral Systems in the Middle East and North Africa (Juli 2011). 58 Statistik der tunesischen Wahlkommission Instance Supérieur Indépendante pour les Elections (ISIE), http://www.isie.tn/Fr/statistiques-des-listes-candida tes_11_142 (16.11.2011). 59 Vgl. Goulding 2010. 60 Zum Ausgang der Wahl vgl. auch Loetzer 2012.
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Uneinigkeit der Linken, die im Endergebnis zusammengerechnet aber auf eine ähnlich hohe Anzahl an Wählerstimmen komme.61
S ALAFISMUS Wie überall in den Ländern der Arabellion ermächtigte die Revolution auch in Tunesien radikal-islamistische Kräfte. Im April 2011 trat eine salafistische Gruppe namens Ansar As-Scharia zum ersten Mal in der Öffentlichkeit auf. Sie war zu diesem Zeitpunkt eine der einflussreichsten salafistischen Gruppierungen des Landes und brachte bei einer Straßenrally in Kairouan zwischen 5.000 und 15.000 Menschen auf die Straße.62 Ansar AsScharia positioniert sich als strikte Gegnerin der Demokratie und unterstreicht ihr Ziel einer islamistischen Umgestaltung der Gesellschaft durch spektakuläre Aktionen und radikale Forderungen. So initiierte sie eine Bewegung zur Besetzung liberaler Moscheen, im Rahmen derer Imame einer zu großen Nähe zum alten Regime angeklagt und verjagt wurden. Weitere Kampagnen betrafen die Forderung nach Geschlechtersegregation im öffentlichen Raum und die Einschränkung von Freiheitsrechten unter dem Vorwand den Islam zu verteidigen. Eine andere Gruppe, die zunehmend an Einfluss gewinnt, ist die unter dem alten Regime verbotene Partei Hizb AtTahrir, deren Mitglieder zurzeit auch in Indonesien und Zentralasien als radikale Einpeitscher und gewaltbereite Glaubenskrieger in Erscheinung treten. Am 10. März 2012 konnte die Organisation eine spektakuläre Veranstaltung in Tunis durchführen, auf der sie ihr Programm einer neuen Geschlechterordnung vorstellte: die erste „Weltfrauenkonferenz“ von Hizb AtTahrir. Unter dem Slogan „Das Kalifat: Ein leuchtendes Beispiel für die Rechte der Frauen und ihre politische Rolle“ prangerten Rednerinnen die vermeintlichen Unzulänglichkeiten der liberalen Demokratie an. Nach der Auffassung von Hizb At-Tahrir sind die Rechte und die Sicherheit von Frauen nur innerhalb eines islamischen Kalifats und der Institution der Scharia gewährleistet.63 Bemerkenswert ist, dass der bereits erwähnte Menschenrechtsminister Samir Dilou an der Konferenz teilnahm und über das
61 Vgl. Maddy-Weitzmann 2011b. 62 Vgl. Merone/Cavatorta 2012. 63 Vgl. Ajmi 2012.
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Thema Homosexualität referierte, die er als „Perversion“ und Gefahr für tunesische Familien denunzierte. Im Fastenmonats Ramadan im Jahr 2012 wurde Hizb At-Tahrir als tunesische Partei anerkannt. Auch die radikalislamischen Gruppierungen Errahma (auch: Ar-Rahma) und El-Eslah Jabhet (auch: Jabhat Al-Islah) erhielten in dieser Zeit den offiziellen Parteienstatus. Die solchermaßen gestärkten Salafisten nutzen ihre Position seitdem, um Druck auf die Ennahda auszuüben und den Kurs der Partei stärker in eine islamistische Richtung zu bewegen. Außerdem positionieren sie sich als „Kraft der Straße“, greifen Personen an, die sich ihrer Meinung nach unislamisch verhalten, attackieren missliebige Institutionen und versuchen, islamische Normen und Werte auch an säkularen Einrichtungen durchzusetzen. Ein spektakuläres Beispiel für den Machtkampf zwischen ihnen und tunesischen Liberalen, der unmittelbar nach dem Sturz Ben Alis begann, ist die Auseinandersetzung an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Manouba. Sie ist mit 26.000 Studierenden, davon 60% Frauen, eine der größten des Landes, und das, was sich dort ereignete, hatte Signalwirkungen für ganz Tunesien. Im Frühling 2012 hatten islamistische Studentinnen einen massiven Vorstoß zur Islamisierung der Hochschulen gestartet. Sie forderten Geschlechtertrennung in den Hörsälen und verlangten, ihre Prüfungen mit Gesichtsschleier (niqab) ablegen zu dürfen. Nach geltendem Recht ist dies nicht erlaubt. Der Präsident der Universität verweigerte sich den Forderungen der Islamistinnen, bot aber an, das Tragen des niqab außerhalb der Unterrichtsräume zu gestatten. Daraufhin begannen männliche Salafisten mit einer Belagerung des Campus. Vor dem Büro des Dekans Habib Kazadgli wurde eine Barrikade erreichtet, später wurde es sogar verwüstet, und der Lehrbetrieb musste eingestellt werden. Am 12. März hissten Salafisten die schwarze Fahne von Al-Qaida auf dem Universitätsgelände. Die Regierung weigerte sich, dem Ersuchen des Präsidenten nachzukommen und der salafistischen Blockade durch den Einsatz von Sicherheitskräften ein Ende zu machen. Stattdessen gingen Polizisten im Verlauf der sich zuspitzenden Situation mehrfach gewaltsam gegen Professoren, Pressesprecher der Universität und anti-salafistische Studierende vor. Von Bedeutung für die Dynamiken in Tunesien sind jedoch nicht nur die Aktivitäten der Salafisten, sondern insbesondere auch die Reaktion der Ennahda und der tunesischen Gesellschaft. Während die geisteswissenschaftlichen Dekane mehrerer Universitäten (Sousse, Manouba, Sfax, Tunis
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und Kairoan) Habib Kazdagli unterstützten, sich einstimmig für ein Verbot des niqab an Universitäten aussprachen und sich besorgt über das ungehinderte Gewähren-lassen der Salafisten äußerten, waren Vertreter der Ennahda sehr unterschiedlicher Ansicht. Sonia Zayed hatte Gelegenheit, im Oktober 2011 mit Vertreterinnen der Ennahda in La Manouba zu sprechen und traf auf nahezu einhelliges Einverständnis mit den Forderungen der Salafisten. Zustimmung gab es auch in der Politik. So kritisierte Moncef Ben Salem, der Minister für Höhere Bildung, den Rektor von La Manouba und bescheinigte ihm Unfähigkeit den Konflikt zu lösen. Es gäbe auch an anderen Universitäten Tunesiens niqab-Trägerinnen, und niemand habe bislang ein Problem darin gesehen, argumentierte er. Außerdem unterrichteten viele tunesische Lehrer in den Golfstaaten, wo die Studentinnen ausnahmslos verschleiert seien. Die aktuelle Frauenministerin Siham Badi dagegen kritisierte die niqab-Trägerinnen, die den Lehrbetrieb mit ihren Forderungen behinderten, und der Innenminister Ali Laarayedh trat gar mit der Drohung an die Öffentlichkeit, keine Toleranz gegenüber jedem zu zeigen, der „Personen am Betreten von Verwaltungsgebäuden oder ähnlichen Einrichtungen hindert“ (Loetzer 2012: 19). Erst drei Wochen nach dieser markigen Bekundung, kam es, so Klaus Loetzer, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tunis, zu einer Entscheidung. Am 30. Januar 2012 positionierte sich Ali Laarayedh mit folgendem Statement im tunesischen Fernsehsender Hannibal TV: „Den niqab gibt es nicht im Islam und er hat keine Grundlage in unserer Religion. Es handelt sich lediglich um eine Auslegung und eine persönliche Wahl.“ Niqab-Trägerinnen seien daher verpflichtet, sich an die Geschäftsordnung der Fakultäten halten zu müssen. Den Kampf zwischen dem liberalen Innenminister und dem frommen Minister für Höhere Bildung gewann jedoch der Letztgenannte. Am 7. September 2012 verkündete er, dass die Studentinnen künftig das verbriefte Recht hätten, im niqab an den Veranstaltungen teilzunehmen und geprüft zu werden. Der Dekan wurde mittlerweile angeklagt, mit Gewalt gegen eine Studentin vorgegangen zu sein und muss sich vor Gericht verantworten. Ihm droht eine Haftstrafe. Ein zweites Schlachtfeld der tunesischen Salafisten sind kulturelle Ereignisse, die ihnen als „gottlos“ oder „unislamisch“ erscheinen. Erste Anzeichen für den neuen Zeitgeist konnte man bereits im Herbst 2011 anlässlich der Ausstrahlung des französisch-iranischen Zeichentrickfilms „Persepolis“ durch den TV-Sender Nessma TV beobachten. Im Film wird Gott als
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bärtiger alter Mann gezeigt, und das gilt den Hardlinern als Blasphemie. Sie mobilisierten Hunderte ihrer Anhänger, griffen den Fernsehsender an und steckten das Haus des Nessma-Besitzers Nabil Karoui in Brand. Zu einem ähnlichen Eklat führte die 10. Printemps des Arts Plastiques de Tunis, die vom 2. bis zum 10. Juni 2012 nördlich von Tunis im Vorort La Marsa veranstaltet wurde – unter der Schirmherrschaft des Kulturministeriums. Stein des Anstoßes waren Objekte, die unbekleidete weibliche Körper zeigten oder den neuen islamistischen Kurs kritisch kommentierten. Salafistische Aktivisten mobilisierten in diesem Fall erneut gewaltbereite Eiferer, und obwohl auch die Künstler/innen ihre Freunde zusammenriefen, konnte eine Zerstörung der Werke nicht verhindert werden. Nach dieser Attacke lieferten sich salafistische Demonstranten tagelange Straßenschlachten mit der Polizei, in deren Verlauf eine Person erschossen wurde. An der Ausstellung beteiligte Künstler/innen erhielten Morddrohungen. Diese Vorkommnisse haben in der nationalen und internationalen Presse Schlagzeilen gemacht, doch es gibt eine Fülle kleiner Übergriffe, deren Tendenz nicht weniger beunruhigend ist. So wurden im Sommer 2012 mehrere kulturelle Festivals im Nordwesten Tunesiens abgesagt, weil die Organisatoren bedroht wurden. Im August des gleichen Jahres wurde ein sufistisches Fest in Kairouan auf dem der bekannte tunesische Musiker Lotfi Bouchnak auftreten sollte, von den Radikalen verhindert. Salafisten machen nicht nur gegen Institutionen mobil, sondern bedrohen auch Einzelpersonen. Eine von ihnen ist die Internetaktivistin Lina Ben Mhenni, die während der Revolution eine Schlüsselfigur war64 und für den Friedensnobelpreis nominiert wurde. Sie hatte die Korruption und Gewalt des Regimes Ben Ali öffentlich verurteilt, die Staatsgewalt an den Pranger gestellt und Demonstrationen organisiert. Jetzt schreibt sie gegen die zunehmende Islamisierung des Landes und gegen Vorschläge zur Wiedereinführung der Polygynie an. Diese Aktivitäten sind nicht weniger gefährlich als ihr Kampf gegen das alte Regime. Jüngst tauchte ihr Name gar auf einer salafistischen Todesliste auf. Der Komödiant Lotfi Abdelli musste seine Comedy-Show „Made in Tunisia, 100 % halal“ abbrechen, nachdem bärtige Männer in der Sendung erschienen und ihn bedrohten. Selbst unpolitische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens werden von den Salafisten attackiert, wenn sie deren Vorstellungen einer islamischen Lebensweise
64 Vgl. Ben Mhenni 2011.
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nicht entsprechen – so z.B. die Langstreckenläuferin Habiba Ghribi, die während der Sommerolympiade 2012 in London eine Silbermedaille im 3000 Meter-Lauf gewann. Salafisten denunzierten ihre vermeintliche „Nacktheit“, d.h. das Tragen von Sportbekleidung während des Laufes, als Beleidigung des Islams und verlangten die Aberkennung ihrer Staatsbürgerschaft. Ein zweiter tunesischer Olympiasieger, Oussama Mellouli, wurde ebenfalls ein Opfer salafistischer Bedrohungen. Der Gewinner der Goldmedaille im 10-Kilometer-Schwimm-Marathon hatte vor dem Wettkampf Wasser getrunken, was ihm als gotteslästerlich angekreidet wurde, da die Veranstaltung während des islamischen Fastenmonats (Ramadan) war. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, und es ist unwahrscheinlich, dass die Vorfälle in naher Zukunft abreißen werden. Salafisten sind in Tunesien relevante politische Akteure, und jede Art der Verharmlosung durch Verweise auf ihre numerische Schwäche ist unangebracht. Staatliche Sicherheitskräfte gehen nicht entschieden genug gegen islamistische Gewalttäter vor, und diejenigen, die bedroht und eingeschüchtert werden, finden keine signifikante Unterstützung. Dadurch werden Fakten geschaffen. Wenn der Preis für freie Meinungsäußerungen und künstlerischen Ausdruck Gewalt bis hin zu Morddrohungen ist, überlegt sich manch eine(r), lieber zu schweigen. Das Gleiche gilt für einen persönlichen Lebensstil, der nicht den Normen der Salafisten entspricht. Trinken während der Fastenzeit oder das Tragen von Sportkleidung wird bereits zur Mutprobe. Immer wieder kommt es außerdem zu Übergriffen auf Frauen, die Kopf und Körper nicht züchtig genug verhüllen. Die Salafisten erscheinen auf der Straße, bei ihren Aktivitäten gegen vermeintlich unislamische Gegner und auch im Kampf gegen die Staatsgewalt, vornehmlich als randalierende Masse. Der Eindruck eines unorganisierten Mobs täuscht jedoch. Sie sind gut organisiert und formieren sich unter der neuen Regierung zunehmend, auch als politische Parteien. Dadurch stehen ihnen vielfältige Handlungsfelder offen. Schon jetzt können sie sich auf die Fahnen schreiben, maßgeblich am Re-Islamisierungsprozess Tunesiens beteiligt zu sein. Bedenklich sind die Verflechtungen zwischen salafistischen Organisationen und der Ennahda, bzw. die guten Beziehungen von EnnahdaMitgliedern wie dem Gründungsmitglied Sadok Chourou zu diversen radikal-islamistischen Organisationen. Die Vernetzungen zwischen vermeint-
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lich gemäßigten und radikalen Islamisten beschränkten sich allerdings nicht nur auf die Führungselite. Auch die Parteibasis ist stark fragmentiert, und die Grenzen zum Extremismus verschwimmen. „In many ways Ennahda tends to see the Salafists as potential traveling companions who need to be re-educated and reintegrated into political institutions“ (Tajine 2011), argwöhnen Fabio Merone und Francesco Cavatorta in der Zeitschrift Jadaliyya, und dies trifft insbesondere für Vorstellungen einer islam-kompatiblen Geschlechterordnung zu.
G LEICHHEIT ODER K OMPLEMENTARITÄT DER G ESCHLECHTER ? Die Widersprüche zwischen einem freiheitlich-emanzipativen und einem religiös-reaktionären Tunesien wurden z.B. an den Debatten zur Erarbeitung einer neuen Verfassung deutlich. In einem neuen Artikel 27, den eine Kommission unter Mitwirkung weiblicher Ennahda-Abgeordneter erarbeitet hatte, heißt es: „Der Staat gewährleistet den Schutz der Rechte der Frau und ihrer Errungenschaften unter der Achtung des Prinzips, dass die Frau den Mann innerhalb der Familie ergänzt und ihm bei der Entwicklung des Landes zur Seite steht.“ (Zit. in Braune 2012)
Von grundsätzlicher Gleichheit oder Gleichberechtigung ist keine Rede mehr. Frauen kommen als eigenständige Personen, zum Beispiel als Ledige, Geschiedene oder alleinerziehende Mütter, nicht mehr vor, und sie sollen dem Mann in der Ehe nicht mehr gleichgestellt sein. Gegen diese NeuOrientierung gab es erwartungsgemäß Proteste und Einsprüche auf unterschiedlichen Ebenen. Auf parlamentarischer Ebene reagierten Linke und Feministinnen und legten einen Gegenentwurf vor, der die Bewahrung der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen betont. In der Öffentlichkeit zeigten Demonstrationen, dass der neue Kurs nicht die Zustimmung aller Tunesier und Tunesierinnen erhält. Spektakulär war vor allem die Mobilisierung von etwa 7.000 Frauen und auch einigen unterstützenden Männern, die am 13. August 2012, dem 56. Jahrestag der Einführung des
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zivilen Personenstandsrechts, durch die Innenstadt von Tunis zogen.65 Sie verlangen die Beibehaltung der alten Verfassung. Was sich in der postrevolutionären Phase beobachten lässt, ist auch ein Kampf unterschiedlicher sozialer Schichten und ihrer verschiedenen Weltanschauungen. Die urbane Mittel- und Oberschicht war in der Vergangenheit säkular orientiert und profitierte von der „westlichen“ Öffnung und dem Modernisierungskurs unter Bourguiba und Ben Ali. Frauen eigneten sich Bildung an, machten Karriere und konnten ihre Handlungsspielräume signifikant ausdehnen. Der Widerstand gegen das alte Regime, an dem die gebildete urbane Jugend entscheidenden Anteil hatte, war politisch motiviert, nicht religiös. Diejenigen, die die Geschicke Tunesiens heute so maßgeblich bestimmen, waren nicht an der Revolution beteiligt. Aus diesem Umstand resultiert die massive Enttäuschung der jungen Revolutionäre. Sie hatten ein Mehr an Freiheit erreichen wollen, keine neuen autoritären Fesseln. Das Ergebnis der demokratischen Wahl zeigt allerdings, dass diese Schichten nur einen Teil der Bevölkerung ausmachen, und dass ein anderer, numerisch nicht übersehbarer Teil ganz anderen Idealen verhaftet ist. Die städtischen Armen und die Landbevölkerung sind nach wie vor ihrer Tradition und einem extrem konservativen Islam verpflichtet und halten die Emanzipation der Frauen für eine dekadente westliche Erfindung. Erschwerend kommt hinzu, dass auch unter jüngeren gebildeten Tunesierinnen die Akzeptanz religiöser Lebensmodelle zunimmt.66 Das zeigt eine empirische Studie, die zwischen 2007 und 2011 von Jane Tchaicha und Khedija Arfaoui durchgeführt wurde und auf qualitativen Interviews mit 33 Personen unterschiedlichen Alters basiert, die alle der oberen Mittelschicht angehören. Auffällig ist ein signifikanter Unterschied zwischen den Auffassungen der älteren Generation, den „feministischen Pionierinnen“ und den jungen Frauen, die sich von den Versprechungen der Emanzipationspolitik enttäuscht sehen. Einige dieser jungen Frauen wenden sich jetzt aus freien Stücken einem nicht-egalitären Gendermodell zu. Sie assoziieren Feminismus mit westlichem Denken und lehnen ihn schon aus diesem Grund ab.67
65 Vgl. The Middle East Channel (20.8.2012), http://mideast.foreignpolicy.com /posts/2012/08/20/complementary_status_for_tunisian_women (24.08.2012). 66 Vgl. Baffoun 1994. 67 Vgl. Tchaicha/Arfaoui 2012: 224.
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Nicht zu vernachlässigen sind aber auch die Diskrepanzen zwischen dem staatlichen Emanzipationsideal und dem patriarchalischen Alltag. Viele der Befragten gaben an, dass sich aufgrund des emanzipativen Personenstandsrechts zwar einiges zum Positiven gewendet habe, insbesondere der Zugang von Frauen zu Bildungseinrichtungen, dass die Gesellschaft den hehren Gleichheitspostulaten jedoch weit hinterherhinke. Frauen müssten doppelt so hart arbeiten, um die berufliche Anerkennung zu erhalten, die Männern zuteilwerde, und auch in den Familien würden sie in jeder Hinsicht benachteiligt. Noch immer, so scheint es, wirkt der „patriarchale Gendervertrag“, den Valentine Moghadam in der gesamten Region für die Persistenz konservativer Geschlechternormen verantwortlich macht.68 Der neue Trend, sich in der Öffentlichkeit zu verschleiern, wurde von den Interviewten sehr unterschiedlich gesehen. Während einige der Jüngeren dies als religiöse Pflicht definierten, kritisierten andere die dahinter stehende Doppelmoral, das Vortäuschen moralischer Reinheit, die gar nicht vorhanden sei. Das abschließende Bild, das sich aus der Auswertung der Gespräche ergab, zeigte keinen einheitlichen Trend, sondern eine große Variabilität von Einstellungen und Praxen. In einem freien Prozess von Auseinandersetzungen und Diskussionen würde dies die Chance bieten, eine wahrhaft pluralistische Gesellschaft zu etablieren, in der Frauen sich sowohl für einen säkularen, als auch einen religiösen Lebensentwurf entscheiden und diese Wahl auch jederzeit wieder revidieren könnten. Die Drohkulisse der Salafisten verhindert eine freie Debatte allerdings, und die Ennahda schlingert zwischen den Forderungen der säkularen Tunesier und Tunesierinnen, die die Fortschreibung der liberalen Geschlechterordnung im Recht gewährleistet wissen wollen, und den religiösen Eiferern in und außerhalb der Partei. Wenn es den Hardlinern gelingen sollte, ihre Ideen in der neuen Verfassung festzulegen, dürfte dies für eine lange Zeit das Ende jeder deliberativen Kommunikation sein und sich das Rad der Geschichte für die Frauen um Jahrzehnte „zurückdrehen“.
68 Vgl. Moghadam 2002: 242.
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Frühling der Frauen am Nil J ULIA G ERLACH
„Ich werde nicht aufgeben. Egal was passiert, die Revolution muss weitergehen“, sagt Hadir Faruk und ballt die Faust, um den Worten Nachdruck zu verleihen. Die zierliche 31-jährige mit den großen schwarzumrandeten Augen sitzt auf der Kante eines alten Sofas. Sie trägt Tank-Top und ein Palästinensertuch, das sie locker um die Schultern gelegt hat. Die halblangen Haare hat sie zum Pferdeschwanz gebunden. Wenn sie auf die Straße geht, dann bindet sie sich ein Kopftuch um, gerne trägt sie es in den Farben Ägyptens: Schwarz und weiß und rot. Hadir Faruk gehört zum harten Kern der Revolutionäre von Kairo. Wann immer in den vergangenen Monaten für die Revolution und gegen das Wiedererstarken des alten Regimes demonstriert wurde, war sie dabei. „Ich habe mich selbst von einer ganz neuen Seite kennengelernt in diesem letzten Jahr“, erzählt sie. Vor allem habe sie festgestellt, dass sie keine Angst habe. „Ich fürchte mich nicht vor der Polizei und auch nicht vor den Schlägertruppen, die sie auf uns hetzen. Ich renne nicht weg, wenn Steine fliegen und wenn Tränengas geschossen wird“, beschreibt sie. Leider sei sie als Barrikadenkämpferin dennoch nicht geeignet: „Ich kann einfach nicht gut werfen“. Sie deutet auf ihre Oberarme. Eine Rolle hat sie dennoch gefunden: „Ich feuere die Leute an“. Bei Demonstrationen fährt Hadir Faruk oft auf dem Lautsprecherwagen und stimmt Sprechchöre an. Wenn es zu Auseinandersetzungen kommt – im vergangenen Jahr kam es immer wieder zu Gewaltausbrüchen in Kairo – dann ermuntert sie die Straßenkämpfer weiterzumachen. „Ich rufe ihnen Mut zu und vor allem halte ich sie davon ab, wegzurennen, wenn die Polizei sie angreift“. Wegrennen sei gefährlich. „Wenn sie mit scharfer Muniti-
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on schießen, dann schießen sie zumeist, wenn die Leute ihnen den Rücken zukehren“. Hadir Faruk ist also so etwas wie eine Cheerleaderin der ägyptischen Revolution und sie ist längst nicht die einzige Frau, die ganz vorne dabei ist beim Aufstand der Jugend am Nil.
N ACH DEM S TURZ DER WIEDER ABGEDRÄNGT
D IKTATUR
WURDEN
F RAUEN
Ohne Zweifel haben die Frauen in den Arabellionen 2011 eine große Rolle gespielt. Sie waren bei den Demonstrationen in Ägypten und auch in den anderen Ländern ganz vorne mit dabei. Sie haben mit ihrer Präsenz dafür gesorgt, dass die Polizei und das Militär nicht ganz so brutal gegen die Demonstranten vorgingen und wenn doch, dann belegten die verletzten Demonstrantinnen in besonderer Weise die Brutalität der Regime und mobilisierten so gegen sie. Frauen halfen mit, die arabischen Regime zu stürzen oder zumindest zum Wackeln zu bringen. Und dann? „Leider passiert hier das, was in den meisten Revolutionen in der Geschichte passierte: Sobald der Kampf vorbei ist, werden die Frauen abgedrängt“, so die bekannte ägyptische Feministin Nawal Al-Saadawi. So spielen die Frauen in der Politik Ägyptens nach der Revolution eine noch geringere Rolle als zuvor. Im Militärrat, der seit dem Sturz Mubaraks regiert, sitzt keine einzige Frau und auch im Übergangskabinett wurden die Ministerposten fast ausschließlich an Männer vergeben. Ausnahmefrau ist da Fayza Abou Naga. Ausgerechnet. Die Ministerin für internationale Zusammenarbeit ist zugleich eine der wenigen, die sich aus der Mubarakzeit herübergerettet hat. Sie steckt hinter der Hetzkampagne gegen ausländische Stiftungen und ägyptischen NGOs. Mit der Kampagne ist es ihr gelungen, von ihrer Verbindung zum Alten Regime abzulenken. Im Parlament sieht es auch nicht besser aus: Weniger als zwei Prozent der Abgeordneten sind Frauen. Die meisten von ihnen gehören zu islamischen Parteien. Der Nationale Ägyptische Frauenrat, der lange im Schatten der Regierung ein Sprachrohr der First Lady Suzanne Mubarak gewesen war, wurde im März 2012 neubelebt. Allerdings sorgte dies für eine große Debatte. Die islamischen Parteien hatten verlangt, den Rat in Familien-Rat umzubenennen, schließlich solle die Familie und nicht die Frau im Mittelpunkt stehen. Anders gesagt: Die Frauen wurden aus der
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Politik verdrängt und der Trend zum Islam macht wenig Hoffnung auf mehr Frauenrechte in absehbarer Zeit. Nicht nur im Hinblick auf die Frauenrechte, auch was die Demokratisierung insgesamt angeht, ist die Revolution in Ägypten weit hinter den Erwartungen der Revolutionäre zurückgeblieben. Das alte Regime ist noch stark und weiß seine Position zu verteidigen. Anfang Juni wurden Mubarak und sein ehemaliger Innenminister Habib Al-Adly zu jeweils 25 Jahren Haft verurteilt. Die mitangeklagten hohen Offiziere und die beiden Mubarak-Söhne wurden freigesprochen. Ebenso wie im Fall zahlreicher Polizisten, die in getrennten Prozessen wegen Gewalt gegen Demonstranten angeklagt wurden, sahen die Richter die Schuld nicht ausreichend bewiesen. Das lag unter anderem daran, dass viele Beweise vernichtet und Zeugen unter Druck gesetzt wurden. Auch politisch ist das alte Regime wieder auf dem Vormarsch, wie nicht zuletzt der Erfolg Ahmed Schafiks bei den Präsidentschaftswahlen zeigt. Alles vorbei, also? Revolution gescheitert und Ägypten zurück auf Null? Nein, denn parallel zu der Revolution auf der Straße hat im vergangenen Jahr auch noch ein anderer Aufstand das Land erschüttert. Die konservative Gesellschaft wurde aufgerüttelt. Ägypten ist bunter geworden, schon rein äußerlich: Kairo ist voller Graffiti und auch in vielen kleineren Städten sind Mauern und Hauswände mit den Bildern der Märtyrer der Revolution, des Anti-Militärrats und anderen ProtestSprüchen bedeckt. Eine bunte Kulturszene, die es zuvor nur in kleinen Nischen gab, hat sich ausgebreitet und auch im Zwischenmenschlichen hat sich viel verändert. Als im November Alia al Mahdy ein Nacktfoto von sich ins Internet stellte und über Twitter den Link verschickte, begannen Beobachter Vergleiche zwischen dem Ägyptischen 2011 und dem Europäischen 1968 zu ziehen. Ganz so weit geht die Umwälzung nicht, zumindest nicht was Sex und Nacktheit angeht, aber die gesellschaftlichen Auswirkungen des Aufstandes sind dennoch unübersehbar und auch noch nicht beendet.
D IE ZWEITE F RONT : R EVOLUTION
IN DER
F AMILIE
So war Hadir Faruk im vergangenen Jahr nicht nur auf der Straße ganz vorne dabei, als es darum ging das alte Regime zu bekämpfen. „Bis vergangenes Jahr war ich eine brave Hausfrau und Mutter“, beschreibt Hadir Faruk
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und freut sich über den erstaunten Blick. Sie hat mit knapp zwanzig geheiratet, bekam schnell drei Kinder und lebte mit ihrem Mann in einer der neuen Wüstenstädte am Stadtrand von Kairo. „Ich habe mich um meine Kinder gekümmert. Was man halt so macht. Schule, Hausaufgaben, Fußball. Ich hatte das Ziel, gute Menschen aus ihnen zu machen. Männer! Damit war ich beschäftigt“, erzählt sie. Dann begannen im Januar 2011 die Demonstrationen und Hadir Faruk blieb weiter bei ihren Kindern. Als die Proteste größer wurden, da reichte es ihr irgendwann. Sie brachte die Kinder zur Schwiegermutter und ging auf den Tahrir. „Bei der Familie kam das nicht gut an“, sagt sie. Es gab ständigen Streit, vor allem mit der Familie ihres Mannes; darüber ob sie demonstrieren, ob sie auf den Tahrir-Platz gehen darf. Der Kampf war mit dem Sturz Mubaraks am 11. Februar 2011 nicht vorbei. Hadir Faruk gehörte zwischenzeitlich zu den Mitbegründern einer Jugendpartei, und natürlich fanden die Versammlungen abends statt und dauerten bis tief in die Nacht. Das Projekt scheiterte, aber Hadir hatte Geschmack an ihrem neuen Leben gefunden. Zudem wurde sie gebraucht. Es folgten immer neue Protestwellen: Auf der Straße und damit auch in ihrer Familie. Inzwischen sind die Kinder ganz bei der Oma, Hadir Faruk hat sich von ihrem Mann scheiden lassen und lebt nun allein. „Immerhin habe ich noch diese Wohnung. Eine ganze Reihe von Mädchen haben sich über die Revolution so mit ihren Familien überworfen, dass sie ausziehen mussten und nun wohnen sie mal hier mal da“. Sich politisch zu engagieren ist nichts Neues für Hadir Faruk. „Schau, das bin ich!“, sie zeigt ein Foto von einen Kinderfest der linken Tagammua-Partei. Sie ist beim Sackhüpfen zu sehen. „Ich gehöre seit damals zur Tagammua-Partei. Da politische Arbeit immer so gefährlich war, haben wir vor allem Sozialarbeit gemacht. Trotzdem drohte immer Verhaftung und ich habe mich mit meiner Heirat weitgehend zurückgezogen“, sagt sie. Auch ihr Mann ist politisch aktiv. Er gehört zur Jugendbewegung des „6. April“. Hadir Faruk ist eine von vielen jungen Frauen, die in der Revolution mitkämpfen und so ganz nebenbei die konservative ägyptische Gesellschaftsordnung auf den Kopf stellen. Der politische Wandel durch den Sturz Mubaraks ist bisher begrenzt. Der gesellschaftliche Umbruch dafür im vollen Gange und die Frauen sind die, die diesen Kampf anführen und dafür bezahlen.
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I KONE
DER
G EWALT : D IE F RAU
MIT DEM
B LAUEN BH
Es gibt ein Bild, das wie kein anderes für den Umgang der Militärregierung mit den Frauen in Ägypten steht: Es eine am Boden liegende Frau. Der schwarze Mantel wurde ihr weggerissen und sie liegt entblößt mit nacktem Bauch und blauen BH. Ein Soldat mit schweren Stiefeln tritt ihr mitten in den Leib. Das Bild ging um die Welt und die Frau mit dem Blauen BH ist zu einem Symbol geworden. Für die Rechte der Frauen, die mit Füßen getreten werden, aber auch für die Auseinandersetzung der ägyptischen Gesellschaft mit den aufmüpfigen Frauen vom Tahrir-Platz, mit Hadir Faruk und den anderen, die mit der Revolution ein neues Leben begonnen haben. Wer die Frau mit dem Blauen BH ist, weiß man nicht. Sie wurde verprügelt, berühmt und dann verschwand sie wieder. Viele forderten sie auf, sich zu melden und das Militär zu verklagen, doch sie blieb in Deckung. Hadir Faruk sagt, dass sie die Frau mit dem Blauen BH kenne. Sie sei eine bekannte Aktivistin, wie sie immer vorne mit dabei. Am Tag, als die Frau mit dem Blauen BH misshandelt wurde, verhaftete man auch Hadir Faruk. „Ich wurde 13 Stunden festgehalten, verhört und verprügelt. Sie brachen mir dabei den Arm“, erzählt sie. Ausgerechnet das leere Parlamentsgebäude hatte sich die Militärpolizei dafür ausgesucht. Kurz danach wurde das Gebäude gründlich geputzt und die frischgewählten Parlamentarier, die ersten frei gewählten Abgeordneten nach der Revolution bezogen die Säle. Doch erst einmal verbrachte Hadir Faruk hier 13 lange Stunden: Verhör, Prügel und erst als ihr Arm zerschmettert war, wurde sie in ein Krankenhaus gebracht. Jetzt muss sie sich vor Gericht verantworten: „Ich habe großes Glück, weil ich nicht vor ein Militärgericht gestellt werden, wie viele andere. Das liegt daran, dass mein Fall viel Aufmerksamkeit von Menschenrechtsorganisationen bekommen hat. Aber eine lange Gefängnisstrafe wegen Körperverletzung können sie mir doch geben!“, sagt sie. Dabei war es doch sie, deren Arm gebrochen wurde.
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A NSEHEN
DER D EMONSTRANTINNEN WIRD GEZIELT ZERSTÖRT Schlimmer als unter dem Schmerz und unter der drohenden Strafe leidet sie jedoch unter dem Zustand der Revolution. Nicht nur herrscht politischer Stillstand und die Macht der Militärs und des alten Regimes scheint ungebrochen. „Ich finde es schrecklich, wie schlecht das Ansehen der Revolutionäre in der Bevölkerung ist. Sie hassen uns regelrecht“, sagt sie. Ägypten ist gespalten. In die mutigen Jungen, die auf Veränderung drängen und nicht nur die Politik, sondern auch die Gesellschaft freier und demokratischer gestalten wollen. Auf der anderen Seite stehen die Konservativen an der Macht und unter den hergebrachten politischen Gruppierungen. Konservativ und voller Angst vor Wandel ist aber auch der Großteil der Bevölkerung. Die Aktivistinnen und ganz besonders die „Frau mit dem blauen BH“ sind für sie ein Gräuel. „Wenn die sich anständig angezogen hätte, dann wäre das nie passiert“, schimpft eine Frau mit Kopftuch und Mantel: „Wer trägt denn bitte nur einen BH unter dem Gewand? So gehört sich das!“, sagt sie und zupft an ihren Ausschnitt. Ein melierter Strickpulli kommt zum Vorschein. Die Frau, die sich „Umm Ahmed – Mutter von Ahmed“ nennt, ist Teil einer aufgebrachten Menge, die sich auf dem Abassia-Platz versammelt hat. Die große Straßenkreuzung in der Nähe des Sitzes der Militärregierung ist zu einem Treffpunkt des anderen Ägyptens geworden. Sie sind für die Militärregierung und gegen den Tahrir-Platz. Für den Anstand in den Familien und gegen den Aufbruch der Frauen. „Was hat dieses Mädchen überhaupt auf dem Tahrir-Platz verloren?“ Umm Ahmed spuckt die Worte förmlich aus. Voller Verachtung. Die Umstehenden pflichten ihr bei. Das Mädchen mit dem blauen BH – für viele Ägypter symbolisiert sie die Brutalität des Militärregimes. Aber nicht für alle. Die konservative Mehrheit fühlt sich von ihr bedroht: Ihre Ordnung, ihre Werte und ihr Land sehen sie in Gefahr. Die Mehrheit der Ägypter stand den Aktivisten der Revolution mit ihren radikalen Ideen und ihrem lässigen Umgang zwischen den Geschlechtern von Anfang an skeptisch gegenüber. Das änderte sich kurzfristig, als Mubarak gestürzt wurde und sich die Welt anerkennend über Ägyptens Jugend äußerte. Da feierte auch die konservative Mehrheit „ihre“ Helden. Als die Aktivisten jedoch begannen, das Militär zu kritisieren und dagegen zu
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demonstrierten, war es damit vorbei. Die Menschen wollten die Kritik nicht hören. Sie sehnten sich nach Ruhe und Stabilität. Als die Militärpolizei zum ersten Mal am 9. März mit großer Brutalität den Tahrir-Platz räumen ließ, reagierten viele Ägypter verstört. „Wie kann die Armee so etwas tun?“ fragten sich viele. Es habe sich nur um „BaltagiaSchlägerbanden“ gehandelt, ließ dann die Regierung verlautbaren und die Leser der regierungsnahen Al-Ahram atmeten erleichtert auf: Ach so. Dann traf die Gewalt ja die Richtigen! Das einzige, was diese Erklärung störte, waren die jungen Frauen, die mit verhaftet wurden. Sie passten so gar nicht in das Bild der Baltagia. Samira Ibrahim etwa oder Salwa Husseini. Zwei junge Frauen mit Kopftuch. Die beiden gaben eine Pressekonferenz und erzählten, dass ihnen ein Armeeangehöriger im Arztkittel nach ihrer Verhaftung am 9. März den Finger in ihre Scheide gesteckt habe, um zu prüfen ob sie Jungfrauen seien oder nicht. Der Militärführung gelang es zunächst noch, Samira, Salwa und Co als Lügnerinnen darzustellen, doch der „Jungfräulichkeitstest“ verfolgte die Generäle. Zwei Monate später erzählte einer der CNN-Reporterin Schahira Amin, dass es tatsächlich solche Tests gegeben habe. „Sie müssen verstehen, diese Mädchen sind nicht so wie ihre Töchter oder meine. Die haben mit Männern übernachtet“, soll er gesagt haben. Natürlich ging Amin damit auf Sendung und das Bild der Militärs bekam Risse. Was, wenn es stimmt, dass die Generäle genauso brutal sind, wie das alte Regime? Dann müssten auch sie gestürzt werden, aber was dann? „Die Menschen haben Angst davor. Sie wollen das gute Bild der Armee um jeden Preis bewahren. Aus diesem Grund schauen sie voller Hass auf die Aktivisten, die diese Themen aufbringen“, so Magda Al-Adly, vom Al-Nadeem-Zentrum, das sich um die Rechte von Gefangenen kümmert.
E INE F RAU
KLAGT GEGEN DAS
M ILITÄR
Samira Ibrahim hat sich als Erste getraut und Klagen gegen das Militär eingereicht. Sie wurde dafür von den Aktivisten gefeiert, und das Verwaltungsgericht gab ihr sogar Recht: Jungfräulichkeitstests sind kein erlaubtes Mittel in Militärgewahrsam. Auch ein Militärgericht beschäftigte sich mit ihrem Fall. Samira Ibrahim bekam international Anerkennung: Ein Frau klagt gegen die Armee, das hatte es noch nicht gegeben. Umso größer war
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die Enttäuschung als das Gericht im März den Offizier freisprach, der für den Jungfräulichkeitstest verantwortlich gewesen sein soll. Doch wie kommen die Generäle überhaupt auf die Idee, Frauen zu quälen und solche Tests durchzuführen? „Ich weiß es natürlich auch nicht, aber ich kenne die Logik der konservativen Ägypter“, versucht Al-Adly eine Erklärung: „Diese Männer haben wie die Mehrheit der Ägypter gedacht, die Mädchen nicht aus politischen Gründen sondern wegen der Männer dort waren und mit ihnen geschlafen haben. Was machen Mädchen sonst, wenn sie nicht unter Aufsicht ihrer Eltern stehen? Die Offiziere fürchteten wohl, dass die Mädchen, wenn ihre Eltern dahinter kommen, den Offizieren den Verlust ihrer Jungfräulichkeit in die Schuhe schieben und behaupteten, dass sie vergewaltigt wurden“, beschreibt sie. Aus Sicht der Generäle ist es also durchaus naheliegend zu prüfen, ob die Frauen Jungfrauen sind, schließlich gilt es den Ruf der Armee zu schützen.
S EXUELLE B ELÄSTIGUNG ALS M ITTEL DER A UFSTANDSBEKÄMPFUNG Und dann geht es auch um Einschüchterung der Opposition: Dazu wird sexuelle Belästigung in Ägypten schon seit Jahrzehnten eingesetzt. Zivilpolizisten mischen oft Demonstrationen auf, fassen Frauen in die Hose oder reißen ihnen die Kleider weg. Auf diese Weise sollten Frauen aus der Politik geekelt werden. Immer wieder wurden im vergangenen Jahr Frauen auf dem Tahrir-Platz angegriffen. Besonders häufig passieren solche Angriffe auf Frauendemonstrationen, die die Stellung der Frauen und sexuelle Belästigung zum Thema haben. So wurden am 8. März 2011 Frauen von Schlägergruppen attackiert und auch im Juni 2012 gab es massive Übergriffe auf eine Frauendemonstration und das, obwohl die Demonstrantinnen inzwischen vorbereitet sind und ein Spalier um den Demo-Zug gebildet hatten. Übergriffe sind auch häufig an Tagen, an denen es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kommt. Viele Familien halten ihre Töchter deswegen lieber zu Hause: Dabei geht es um den Schutz der Mädchen und um die Ehre ihrer Väter. Wie sieht das denn auch aus, wenn ein Vater seine Tochter womöglich gar auf dem Tahrirplatz übernachten lässt? Da setzt er doch ihre Ehre fahrlässig aufs Spiel.
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„Anständige Leute würden die Revolution sowieso tagsüber machen. Dann würden die Mädchen gar nicht auf die Idee kommen, draußen zu schlafen“, sagt Mustapha Abdel Wardith. Er ist Kulturredakteur bei Al Ahram. Auch er steht in der aufgebrachten Menge am Abassiaplatz. Besonders empörend findet er, wie die Aktivisten die Wahrheit verdrehten. „Ich habe das Video mit der Frau mit dem blauen BH nicht gesehen habe, aber ich habe gehört, dass es in Wirklichkeit das Mädchen war, das die Soldaten angriff. Dass sie dann wegrannte, stolperte und ein paar ihrer Freunde ihr den Mantel aufrissen, als sie sie wegziehen wollten. Die Soldaten kamen ihr zu Hilfe, wollte ihre Blöße bedecken. Es ist schlimm, wie die Wahrheit manipuliert wird“, sagt er. Diese Version des Tathergangs ist weit verbreitet und auch Feldmarschall Tantawi vertritt sie. Der ehemalige USPräsident Jimmy Carter besuchte Tantawi kurz nach dem Vorfall und fasst dessen Aussagen zusammen: „Er sagte mir, dass die kursierenden Videos, die Militärs bei Angriffen auf Demonstranten und auch auf das Mädchen mit dem blauen BH zeigen, alle gefälscht seien. Er sagte, dass die Soldaten im Gegenteil der Frau geholfen hätten, sich wieder zu bekleiden und aus der provokativen Aufmachung herauszukommen“.
A KTIVISTINNEN
VORS
M ILITÄRGERICHT
Inzwischen wurden mehrere Aktivistinnen vom Militärgericht wegen Körperverletzung verurteilt. Unter ihnen ist auch Asmaa Mahfuz. Eine USZeitschrift gab ihr einmal den Beinamen Jeanne D’Arc vom Nil. Asmaa Mahfuz wurde wegen eines mutigen Videos bekannt. Wenige Tage vor dem Beginn der Revolution am 25. Januar 2011 postete sie es und motivierte so viele, sich am Aufstand zu beteiligen. Das Gericht verurteilte sie zu einem Jahr, weil die Richter es als erwiesen ansahen, dass Asmaa Mahfuz einen Mann verprügelt habe, der für das Militär in einem Prozess ausgesagt habe. Bereits im vergangenen Sommer wurde sie zum Staatsanwalt zitiert, damals soll sie den Militärrat beleidigt und zu Gewalt aufgerufen haben. Im Juni 2011 kam es zu einer Demonstration in Abassia. Aufgebracht waren die Jugendlichen der Bewegung des 6. April zum Verteidigungsministerium gezogen. Die Generäle hatten behauptet, dass die Bewegung von ausländischen Agenten unterwandert sei und vom Ausland finanziert werde, um Ägypten ins Chaos zu stürzen. Es kam zu Ausschreitungen und Asmaa
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Mahfuz gab einem arabischen Satellitensender ein sehr emotionales Interview. Das konservative Frauenbild der großen Mehrheit der Ägypter, und zu dieser gehören auch die Generäle, hat seine Wurzeln in den Traditionen vom Nil. Gefüttert wird es allerdings auch von religiöser Seite. Hier spielen vor allem Salafisten eine Rolle: Rund um die Uhr beraten ihre Prediger im Satelliten-TV Gläubige in Ehe- und Familienfragen und prägen so die Vorstellung vieler Ägypter von ihrer Religion. Die alte Regierung gab ihnen Sendelizenzen und förderte sie, denn sie kümmerten sich nur ums Private und hielt die Menschen fern von der politischen Muslimbruderschaft. Nicht zuletzt predigten die Salafisten, dass ein ungerechter Herrscher auf jeden Fall dem Chaos einer Revolution vorzuziehen sei, und sie hielten Mubarak lange die Treue. Als sich abzeichnete, dass die Demonstrationen immer größer werden würden, veränderten die Salafisten ihre Position. Sie erlaubten ihren Anhängern, sich zu beteiligen, und auch manch andere Prinzipien warfen sie im Frühjahr 2011 über Bord. So hatten die Salafisten die Beteiligung an Wahlen und den Parlamentarismus insgesamt stets abgelehnt. Schließlich steht nur Gott die Setzung von Recht zu. Doch als alle anderen Gruppen nach dem Sturz Mubaraks begannen Parteien zu gründen, hielten sie mit, und da sie vom Parteiengesetz dazu verpflichtet wurden, stellten sie sogar Frauen für die Parlamentswahlen auf. Dabei sehen die Salafisten die Frauen eher im Haus als in der Politik und der Wahlkampf stürzte sie gleich wieder in Gewissenskonflikte:„Wir haben es ihnen freigestellt, ob sie ihr Gesicht auf dem Wahlplakat zeigen oder es lieber durch eine Blume oder ein Bild ihres Ehemannes ersetzen wollen“, erklärt der Sprecher der Partei Mohammed Nour. Die meisten entschieden sich für eine Rose. Mit 27 Prozent der Sitze spielt die Nour-Partei im neuen Parlament eine wichtige Rolle. „Ich will dem Westen gar nicht schmeicheln und behaupten, dass wir Frauen gerne in Regierungsposten sehen würden“, sagt Nour. „Die Frage nach der Politik ist auch wirklich ein Minderheitenthema: Die ägyptischen Frauen haben ganz andere Probleme: Sie brauchen bessere Bildung, Jobs und Gesundheitsversorgung“, sagt er.
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A UFBRUCH AUCH BEI F RAUEN I SLAMISCHEN L AGER
IM
Iman Mohammed schüttelt den Kopf: „Der Islam verbietet den Frauen nicht in die Politik zu gehen. Im Gegenteil!“. Die 22-jährige trägt einen langen Mantel und ein Kopftuch, das ihr weit in die Stirn reicht. Der Aufstand der Frauen ist nicht auf liberale und linke Intellektuelle beschränkt. Iman ist eine von vielen Töchtern aus frommem Haus, die sich angeschlossen hat. Ebenso wie Hadir ist sie auf der Suche nach Freiheit und einer neuen Gesellschaftsordnung, allerdings will sie diese mit islamischen Vorzeichen. „Ich bin Ikhwania – Muslimschwester“, stellt sich Iman vor. Sie sitzt in einem Szene-Café in der Nähe des Tahrir-Platzes und trinkt heiße Schokolade: „Allerdings bezeichnen mich die Muslimbrüder als EX“, fügt sie grinsend hinzu. Die Informatik-Studentin stammt aus einer Familie, die seit mehreren Generationen zur Bruderschaft gehört. Das wäre wohl auch so geblieben, wäre nicht die Revolution gekommen. „Es begann mit einem Anruf der Leiterin meiner Mädchengruppe. Sie wollte nicht, dass ich am 25. Januar mit demonstriere. Ich bin trotzdem gegangen“, beschreibt sie den Beginn ihrer Loslösung. An diesem Tag passierte noch etwas: Sie traf Mohammed: „Ich lernte ihn kennen, weil er mich anschrie. Ich stand ganz vorne in der Demo, direkt vor der Polizei. Er schrie, das sei kein Platz für Mädchen und ich schrie zurück, dass ich da genauso stehen könne, wie jeder Mann“, erinnert sie sich und ihre Augen glitzern. Es wurde mehr daraus. Nach dem Sturz Mubaraks machte er ihr einen Antrag. Doch sie zögerte: „Ich mochte ihn, aber während der Tage auf dem Tahrir hat er mich bevormundet; typisch ägyptischer Mann“, beschreibt sie. Sie wollte sich nichts mehr befehlen lassen. „Mit der Revolution veränderte sich Mohammed. Er nimmt meine Meinung jetzt ernster und wir diskutieren“. Einen solchen Wandel beobachte sie auch bei anderen. „Hier findet gerade eine Neuverteilung der Rollen statt“, sagt sie. Im Sommer machte Iman den Bruch mit der Bruderschaft endgültig und gründete die „ägyptische Trendpartei“ mit. „Ich teile die Inhalte der Bruderschaft zu 100 Prozent. Was mich stört, ist der Gehorsam, der von den Mitgliedern erwartet wird“, sagt sei. Zudem sei es ungerecht, dass Frauen nicht die gleichen Rechte innerhalb der Organisation hätten, wie Männer. Mohammed war immer an ihrer Seite, und im November war es soweit. „Ich habe beobachtet, wie er sich verändert hat. Er ist schon der Richtige“,
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sagt sie. Sie verlobten sich. Zum Heiraten haben die beiden jedoch im Moment keine Zeit. Die Revolution braucht sie. Es gilt, sie voranzutreiben, und dazu muss vor allem das Ansehen der Revolutionäre verbessert werden. „Es ist schrecklich, wie schlecht die Mehrheit der Bevölkerung über uns denkt“, sagt sie nachdenklich. Dies sei ihr besonders im Zusammenhang mit dem Mädchen mit dem blauen BH klargeworden. „Diese Bilder und die Art, wie über sie geredet wird, ist das Schlimmste, was ich in dem ganzen Jahr erlebt habe“, sagt sie. Und wie geht es weiter? Sobald die Revolution geschafft ist, wollen Iman und Mohammed heiraten. Sie will auch als Ehefrau und Mutter weiter in der Politik mitmischen und träumt davon, ein Medienunternehmen zu gründen. Insgesamt ist sie optimistisch, was die Zukunft angeht. „Ich bin sicher, dass Ägypten bald eine wichtige internationale Rolle spielen wird“, sagt sie. Besonders auf die Frauen setzt sie Hoffnung: „Die Bilder der Frauen im Parlament haben mich berührt. Mit ihren großen Kopftüchern sind sie so anders als die korrupten Politikerinnen unter Mubarak. So eine soll Ministerpräsidentin werden“. Warum so bescheiden? Warum nicht Präsidentin? „An der Spitze hätte ich lieber einen Mann, nicht wegen der Religion, einfach vom Gefühl her“, sagt sie. Iman steht für eine neue Generation ägyptischer Frauen. Sie wollen politische Veränderung, persönliche Freiheit. Sie sehen das Erstarken der Islamisten nicht als Bedrohung, sondern als Chance. Es gilt sie zu ergreifen und die islamische Gesellschaft mitzugestalten.
M ENSCHEN SOLLEN GERNE DIE I SLAMISCHEN R EGELN BEFOLGEN , DEM R EST DROHEN S TRAFEN Die neue Balance von Freiheit und Grenzen kann keine so gut erklären wie Hebba Kutb. Allein die Erwähnung ihres Namens lässt viele Ägypter erröten. Die Anfangvierzigjährige mit dem beigen Kopftuch ist Ägyptens erste Sex-Talkerin und plaudert live über Masturbation, Orgasmus und Islam. Die promovierte Sexologin kann bestätigen, was Iman Mohammed beobachtet hat: Im vergangenen Jahr hat sich einiges getan zwischen den Geschlechtern in Ägypten. „Die größte Veränderung ist, dass sich die Männer mehr für die Bedürfnisse der Frauen interessieren“, sagt sie. Das liege auch
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daran, dass die Männer gesehen haben, wie Frauen für ihre Rechte aufstehen. „Da haben sie Angst, dass ihre Frauen ihnen untreu werden könnten, wenn sie sexuell nicht befriedigt werden“, sagt sie. Was das Sexleben angehe, könne man durchaus von einer Revolution sprechen, sagt die Ärztin: „Nicht im westlichen Sinne, nicht, dass wir uns falsch verstehen. Der Westen ist kein Vorbild für uns“. Sie propagiert eine sexuelle Revolution, die strikt auf die Ehebetten beschränkt bleibt. So will sie die islamische Gesellschaftsordnung voranbringen: Die Menschen sollen davon abgehalten werden, die Gebote des Islams zu übertreten. Sprich: Sie sollen nicht fremdgehen. Deswegen will Kutb ihnen helfen, besseren Sex innerhalb der Ehe zu haben. Sie will eine Gesellschaft, in der die Menschen sich frei und zufrieden fühlen und aus ganzem Herzen die Gesetze der Religion beachten. Wer nicht mitmachen will, nun denn, um den kümmert sich dann der Staatsanwalt.
D IE B EVÖLKERUNG SOLL DEN I SLAM ZU LEBEN
DAZU ERZOGEN WERDEN ,
So sieht es auch das Programm der Muslimbruderschaft an: „Renaissance – der Wille des Volkes“, mit diesem Slogan trat Mohammed Mursi zur Präsidentschaftswahl 2012 an. Die Muslimbruderschaft will nicht nur Reform und Veränderung in Politik und Wirtschaft. Ägypten soll ein erfolgreicheres und zugleich islamischeres Land werden. Die Muslimbrüder versprechen, dass sie – wenn sie an der Macht sind – niemandem etwas aufzwingen würden. Keine Frau soll gegen ihren Willen Kopftuch tragen. Es ist den Brüdern klar – und das sagen sie auch öffentlich – dass ein strengislamisches Regierungssystem derzeit in Ägypten nicht mehrheitsfähig ist. Allerdings muss das ja nicht so bleiben. Genau hier setzt die „NahdaRenaissance“ an. Die ganze Gesellschaft soll umgekrempelt und erhöht werden, und da fängt man natürlich am besten in der Familie an, bei den Frauen, die ihre Kinder von Anfang an im rechten Glauben erziehen sollen. Im Ortsverein der Muslimbruderschaft im Mittelschichtsviertel Maadi versammeln sich die Muslimschwestern, beraten über ihre nächsten Aktivitäten. „Wir wollen für die Menschen da sein und bieten das an, was sie brauchen“, erklärt Asmat Mohammad, die Leiterin der Frauenabteilung. Sie konzentriere sich vor allem auf Hausaufgabenhilfe und Spielgruppen für
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Kinder, sagt sie. Die meisten Angebote würden Mitglieder kostenlos anbieten. „Wir haben ja viele Ärztinnen und Lehrerinnen in unseren Reihen, die gerne helfen wollen. Da viele unter der Wirtschaftskrise leiden, nehmen die Familien in unserer Nachbarschaft diese Angebote gerne an“, beschreibt sie. Zudem hätten viele Frauen Probleme bei der Kindererziehung und im Umgang mit ihren Ehemännern: „Wir haben eine Psychologin, die hier regelmäßig Sprechstunden abhält“. Natürlich gehe es darum, Frauen zu ihren Rechten zu verhelfen. Allerdings sei nun einmal die Familie die Keimzelle der Gesellschaft. „Der Islam gibt Anleitung zu einem besseren Leben und auch dazu, wie die Geschlechter miteinander umgehen sollen. Wir helfen den Frauen, in ihrer Rolle aufzugehen. Wenn die Eheleute zufrieden miteinander sind, dann sind die Familien stabiler und das ist die Grundlage einer besseren Gesellschaft“, sagt sie. Natürlich engagieren sich die Muslimschwestern auch für die Armen. Nicht zuletzt bekommen so die Mittelschichtsfrauen eine Aufgabe. „Wir gehen zu den Armen und helfen ihnen, indem wir beispielsweise die Verteilung von Kochgasflaschen in die Hand nehmen oder billige Lebensmittel im Großhandel kaufen und sie dann auf den Märkten in den Armenvierteln zum Einkaufspreis weiterverkaufen“, beschreibt sie. Natürlich kommen auch diese Dienstleistungen mit einer Botschaft. Je ärmer und ungebildeter die Zielgruppe, desto stärker setze sie auf den Islam. „Es ist einfacher, einem armen Mann dazu zu bringen, seine Frau gut zu behandeln, wenn man ihm sagt, dass dies eine religiöse Pflicht ist, als wenn man ihm mit den Menschenrechten kommt“, sagt sie. In Ägypten leben 40 Prozent unter der Armutsgrenze und geschätzte 30 Prozent der Bevölkerung haben Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben oder können es gar nicht. Es geht also um die Veränderung der Gesellschaft von innen heraus. Die Menschen sollen an das islamische Projekt herangeführt werden, bis sie daran glauben. „Die Parlamentswahlen in vier Jahren sehen wir dann als Volkabstimmung über die Einführung des islamischen Systems. Dann wollen wir nicht nur stärkste Fraktion werden, wie dieses Mal. Dann wollen wir 80 Prozent Zustimmung“, erklärt Ashraf AlScherbini, führender Kopf in der Ortsgruppe Maadi.
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E NTZAUBERUNG
DER I SLAMISTEN
Die Muslimbruderschaft gewann die Parlamentswahlen im November haushoch und hat mit den Salafisten zusammen eine Mehrheit von mehr als 70 Prozent der Sitze. Allerdings hat das Ansehen der Islamisten bereits wenige Monate nach Beginn der Parlamentsarbeit heftige Risse bekommen. Schuld daran sind in erster Linie die sehr hohen Erwartungen ihrer Wähler. „Ich habe sie gewählt, weil sie versprochen haben, das Land nach Vorne zu bringen“, sagt Umm Mohammed, eine Zeitungsfrau aus dem Stadtteil Maadi: „Aber sie haben uns betrogen. Nichts machen sie und noch schlimmer: Statt die Wirtschaft zu sanieren, debattieren sie darüber Frauenrechte einzuschränken“, sagt sie. Tatsächlich ist jedoch der Spielraum der Parlamentarier in Ägypten begrenzt. Das Parlament darf nicht die Regierung bestellen oder absetzen. „Die Leute kennen sich so wenig in der Politik aus, dass sie den Unterschied zwischen Legislative und Exekutive nicht kennen“, fasst der Abgeordnete Khalid al Hanafi das Dilemma zusammen. Allerdings trafen so manche der Gesetzesinitiativen der Islamisten im Parlament auf heftige Kritik. So verlangten sie mehrfach die Veränderung des Familiengesetzes und die Einschränkung der Rechte der Frauen im Scheidungsfall. Besonders umstritten ist das Familiengesetz von 2000. Es erlaubt Frauen, die Scheidung einzureichen, wenn sie dafür auf Unterhaltszahlungen verzichten. Das Gesetz trägt den Beinamen „Suzanne Mubarak-Gesetz“ und schon aus diesem Grund, so sehen es die Konservativen, muss es verändert werden. „Dies ist eine doppelte Ungerechtigkeit“, so die erwähnte Frauenrechtlerin Magda Al-Adly: „Wir haben jahrelang Lobbyarbeit für mehr Frauenrechte gemacht und als wir endlich so weit waren und das Gesetz beschlossen werden sollte, da kam damals Frau Mubarak und hat sich an die Spitze der Frauenbewegung gestellt. Sie hat nichts dafür getan, aber dann international die Lorbeeren geerntet. Jetzt gibt es eine Kampagne gegen das Gesetz und die Gegner wollen es verändern, weil es ein Überbleibsel des alten Regimes ist. Das ist doch unfair“, sagt sie. Stärker noch als unter der Debatte über das Familienrecht litt das Ansehen der Islamisten unter Gesetzesinitiativen einzelner besonders radikaler Abgeordneter. Sie verlangten das Verbot von Porno-Webseiten. Sicherlich eine Initiative, die von vielen begrüßt würde, jedoch stehen die Umsetzungskosten angesichts der Wirtschaftskrise nicht im Verhältnis. Man kann von einer regelrechten Ent-
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zauberung der Islamisten durch die Parlamentsarbeit sprechen. Sie erfolgt parallel zu einer weiteren Ausdifferenzierung des politischen Spektrums. Das zeigte sich bei den Präsidentschaftswahlen. Neue politische Akteure, wie etwa der Nasserist Hamdeen Sabachi oder der moderate Islamist Abdel Moneim Abou Fouttouch gewannen in der ersten Runde je fast ebenso viele Stimmen wie der Kandidat der Muslimbruderschaft. Mohammed Mursi gewann zwar die Wahlen, aber es gelang ihm nicht, die Stimmenzahl der Parlamentswahl zu halten: Fast 4 Millionen Wähler wandten sich von der Bruderschaft ab. Für Aufsehen sorgen auch die Aussagen der Abgeordneten Azza Al-Garb. Sie ist eine führende Persönlichkeit in der Freiheits- und Gerechtigkeits-Partei, dem politischen Arm der Muslimbruderschaft. Sie sprach sich dafür aus, das Verbot der Geschlechtsverstümmelung aufzuheben. Es solle einer Frau freigestellt werden, sich dieser Operation zu unterziehen. In Ägypten sind schätzungsweise 80 Prozent der verheirateten Frauen beschnitten. In der jüngeren Generation ist die Zahl stark zurückgegangen; auch weil die Praxis unter Strafe steht und sich die Religionsführer – muslimische und christliche – gegen die Beschneidung ausgesprochen haben. Dass ausgerechnet eine der wenigen Frauen im Parlament nun die Frauenrechte einschränken will, kam in der Öffentlichkeit schlecht an. Die Muslimbrüder selber schieben ihren Imageverlust auf eine gezielte Medienkampagne gegen sie. Dieser Vorwurf ist nicht aus der Luft gegriffen. So berichteten Mitte April zahlreiche Zeitungen in Ägypten und auch im Ausland, dass im Parlament ein Gesetzesvorschlag vorläge, der Männern Abschieds-Sex erlaube. Noch sechs Stunden nach dem Tod ihrer Frauen, dürften sie mit der Leiche Geschlechtsverkehr betreiben. Die Medien beriefen sich auf ein Schreiben von Mervat Al-Tallawy, der neuen Vorsitzenden des Nationalen Frauenrates, die sich beim Parlamentspräsidenten dafür eingesetzt habe, dieses Gesetz zu blockieren. Tallawy erklärt am 30. April: „Der Frauenrat hat nie einen solchen Brief geschickt und auch wurde ein solches Gesetz nicht debattiert […] die Veröffentlichung solcher Behauptungen dient dazu, dass ägyptische Parlament schlecht darzustellen und Zwist zu säen zwischen den Kulturen“. Dass so viele Ägypter die Meldung geglaubt haben, zeigt allerdings, wie stark die islamistischen Parteien an Vertrauen verloren haben. Man traut ihnen alles zu.
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E INE F IRST L ADY , DIE DER Ä GYPTERINNEN
AUSSIEHT , WIE DIE
M EHRHEIT
Kurz vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen kursierte ein Foto im Internet. Es zeigte den Jordanischen König an der Seite seiner wunderschönen Frau Rania, den Libanesischen Ministerpräsidenten in Begleitung seiner ebenfalls sehr eleganten Gattin und dann ein Bild von Mohammed Mursi und seiner Ehefrau. Nagly Ali trägt das große Kopftuch der Muslimschwestern, Brille, das Gesicht ungeschmikt. Auch dies Bild ist Teil des Wahlkampfes: Ahmed Schafik tritt an als derjenige, der Ägypten vor dem Abrutschen in ein dunkles islamisches Zeitalter bewahrt. „Wieso mokieren sich alle über die Frau von Mursi. Sie sieht aus wie die Mehrheit der Ägypterinnen. Was ist falsch daran“, kritisiert Twitterin die Kampagne. Nagla Aly reicht zur Begrüßung ihre weiche Hand und lächelt freundlich, bevor sie sich auf das einfache Sofa im Besuchszimmer des Hauses setzt, in dem ihr Mann aufgewachsen ist. Mohammed Mursi kommt aus einen Dorf im Delta, sein Vater war Fellache. Nagla Aly war siebzehn, als sie Mursi heiratet. Gemeinsam gingen sie in die USA. Mursi studierte und lehrte dort an der Universität. „In dieser Zeit haben wir viel gelernt. Vor allem kamen wir dort in Kontakt mit der Muslimbruderschaft. Wir haben dann viel über den Islam gelesen. Das war toll“, beschreibt sie. Dann kam der Anruf, ihr Mann wurde aufgefordert, der Bruderschaft beizutreten. „Da haben sie dann auch mich gefragt. Das ist bei uns üblich. Schließlich bedeutete die Mitgliedschaft oft Verhaftung und auch die Frauen und Familien musste die Last der politischen Arbeit mittragen. Ich war aber von vornherein einverstanden und gerne bereit“, sagt sie. Als First Lady werde sie sicher anders als Suzanne Mubarak. „Was ich machen werde? Warten wir es einmal ab. Wenn es so weit ist, wird man mir sicher sagen, was ich zu tun habe“, sagt sie und ergänzt: „Ich werde nicht die First Lady, sondern die erste Dienerin des Volkes sein“.
W ARUM HASSEN SIE UNS ? D EBATTE A RTIKEL VON M ONA E LTAHAWY
UM EINEN
Die Rolle der Frauen in den Arabischen Revolutionen ist ein Thema, das die Medien immer wieder beschäftigt. Sind sie die Verliererinnen des Auf-
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standes oder profitieren sie doch davon? Arabische, aber vor allem auch westliche Zeitungen, Talkshows und Magazine haben diese Frage hin und her gewendet und von allen Seiten untersucht. Besonderes Aufsehen erregte ein Artikel der bekannten ägyptischen Aktivistin Mona Eltahawy. „Warum hassen Sie uns. Der wirkliche Krieg gegen Frauen wird im Mittleren Osten geführt“. Erschienen ist er in der Mai-Ausgabe der US-Zeitschrift Foreign Policy,1 die sich mit dem Thema Sex und Politik befasst. Eltahawy, die selbst im November auf dem Tahrir-Platz Opfer eines sexuellen Angriffs wurde, klagt darin die arabischen Männer an. Ihr Hass gegen die Frauen sei der Grund für die schlechte Stellung und die Unterdrückung der Frauen. „Der Hass auf Frauen ist in der ägyptischen Gesellschaft tief verwurzelt. Diejenigen unter uns, die demonstriert haben, mussten lernen sich zu bewegen in einem Mienenfeld aus sexuellen Angriffen; ausgeführt von dem Regime und seinen Lakaien, aber auch von Mitrevolutionären“ „Wir sind mitten in einer Revolution. Es ist eine Revolution, in der Frauen gestorben sind, verprügelt, beschossen und sexuell angegriffen wurden, als sie an der Seite der Männer kämpften, um den obersten Patriarchen – Mubarak – loszuwerden, wobei noch so viele Unter-Patriarchen uns unterdrücken. Die Muslimbruderschaft, die fast die Hälfte der Sitze in unserem neuen revolutionären Parlament gewonnen hat, glaubt nicht daran, dass Frauen (oder Christen) Präsident sein können. Die Frau, die das ‚Frauenkomitee‘ der Bruderschaft leitet, sagte kürzlich, dass Frauen nicht demonstriere sollten. Es sei verdienstvoller, wenn sie ihre Ehemänner und Brüder für sich protestieren ließen“. „Was sollte also passieren? Zunächst einmal müssen wir aufhören, uns etwas vorzumachen. Wir müssen dem Kulturrelativismus widerstehen und dürfen nicht vergessen, dass Frauen auch in Revolutionen die billigsten Spielsteine sind. Euch – in der Welt da draussen – wird man erzählen, dass es Teil unserer Kultur ist und unserer Religion, Frauen X oder Y oder Z anzutun. Denkt aber daran, dass es bestimmt keine Frau war, die dies so gesagt hat. Die arabischen Revolutionen mögen von einem Mann ausgelöst worden sein – von Mohammed Al-Bouazizi, der sich selbst in Brand setzte – doch sie werden vollendet werden durch arabische Frauen.“ Dieser Artikel löste eine Welle von Reaktionen aus. Viele feierten Eltahawy, weil sie sich mutig gegen die Repression der Frauen ausspricht
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http://www.foreignpolicy.com/articles/2012/04/23/why_do_they_hate_us
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und nicht so wie viele andere die gesamte Schuld dem alten Regime und den Islamisten gibt, sondern auch auf gesellschaftliche Missstände hinweist. Allerdings erntete sie auch sehr viel Kritik, vor allem von anderen jungen arabischen Aktivistinnen. Gigi Ibrahim fragt in ihren Blog „Tahrir and Beyond“2: „Mona, warum hasst du uns?“ „Ärgerlich an ihrem Artikel ist, dass sie sich als ‚Stimme‘ für so viele nicht hörbare Frauen sieht, die von ihren Ehemännern und von den patriarchalen Systemen der arabischen Länder unterdrückt und geschlagen werden. Sie ist der Hoffnungsanker für die arabischen Muslime, die im männerdominierten Mittleren Osten leben und gezwungen werden den Gesichtsschleier zu tragen und zuhause wie Sklaven zu arbeiten. Nicht nur bildet sie sich ein, für diese Frauen zu sprechen, sie versteht sich auch als eine der ganz wenigen, die tapfer, gebildet und eloquent genug sind, um diese unterdrückten Stimmen in die westlichen Medien zu tragen; wie die BBC, FP und CNN. Diese sind natürlich nicht in der Lage selbst die unterdrückten Wesen, die arabischen Frauen zu erreichen“. Auch Scheerine Seykali und Maya Mikdaschi kritisieren in ihrem Artikel „Lets talk about sex“3 ebenfalls die Art, wie sich Mona Eltahawy mit ihrem Artikel in der US-Zeitschrift ins Rampenlicht drängele. Kritisch sehen sie, dass sie sich als eine Art Kronzeugin gegen den Islam beim Westen anbiedere und Vorurteile und Islamophobie im Westen so verstärke. Im Zentrum ihrer Kritik steht jedoch der Inhalt von Mona Eltahawys Artikel. Die Analyse sei eindimensional auf das Geschlechterverhältnis reduziert und lasse die politischen Machtverhältnisse außer Acht. Es ist die klassische feministische Debatte um Haupt- und Nebenwiderspruch: „Das Regime Mubarak missbrauchte nicht nur die Körper der Frauen für ihre Politik der Folter und Repression.“ Sie zitiert mehrfach Bouazizi als Funke der die Revolutionen entflammte. Doch sie vergisst Khalid Said, dessen Gesicht – zur Unkenntlichkeit zerschlagen – zur Ikone der Revolution wurde. Sie übersieht die gemeinsame Erfahrung, dass der Körper zu einem Ort der Erniedrigung und Repression wird. Sie erkennt nicht, was Ahdaf Soueif so treffend zum Ausdruck brachte: „So wie das Gesicht von Khaled Said die Glaubwürdigkeit des Innenministeriums zerstörte, zerschlug das Bild der Frau mit dem blauen BH den Ruf des Militärs“. Der
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http://theangryegyptian.wordpress.com/2012/04/25/mona-hate-us/
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http://www.jadaliyya.com/pages/index/5233/lets-talk-about-sex
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Hass auf das Volk, Männer und Frauen ist die Grundeigenschaft der kolonialen, neo-kolonialen und autoritären Herrscher der Region … man kann den Konflikt nicht auf die Formel: „Männer hassen Frauen“ reduzieren und ihn dann mit einer Prise Islam und Kultur würzen. Der Konflikt ist untrennbar mit den politischen und ökonomischen Gegebenheiten verbunden, die im Zusammenspiel mit patriarchalen Strukturen das unebene Terrain schaffen, in dem Männer und Frauen gemeinsam navigieren müssen. Es gibt nicht dieses eine Raster von „Kultur“ und „Hass“, das sich ersetzen ließe durch „Toleranz“ und „Liebe“.
S CHLUSSFOLGERUNG Es ist wohl zu früh, um die Frage zu beantworten, ob der Arabische Frühling auch ein Frühling der Frauen ist. Klar ist, dass die Revolution in Ägypten noch nicht zu Ende ist und zu einem Erstarken der konservativislamischen Bewegungen geführt hat. Die Muslimbruderschaft und die Salafisten haben gemeinsam eine Mehrheit im Parlament, und hier gibt es Bestrebungen die Rechte der Frau im Sinne ihrer Lesart des Islams zu interpretieren. Es gibt Bestrebungen, das Familienrecht zu verändern, das Scheidungsrecht der Frauen einzuschränken und auch ansonsten die Rolle der Frau eher gemäß ihrer Aufgaben als Ehefrau und Mutter zu definieren. Die Militärregierung geht mit ihrem brutalen Vorgehen gegen Aktivistinnen und den Einsatz von sexueller Belästigung als Mittel der Aufstandsbekämpfung in eine ähnliche Richtung. Das Bild der Frau mit dem blauen BH ist dafür das Symbol. Beiden Kräften geht es darum, Frauen aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Sie wollen die Gesellschaft entlang konservativer Werte organisiert sehen und dazu gehört auch die Einhaltung der Geschlechterrollen. Hierbei können sie auf die Unterstützung der Mehrheit der Gesellschaft zählen. Doch es gibt Gegenkräfte. Die Revolution in Ägypten ist auch eine Revolution der Frauen. Im doppelten Sinne. Erstens war der Protest von Anfang an sehr weiblich. Viele Frauen waren am 25. Januar 2011 mit auf den Straßen. Das liegt unter anderem daran, dass der Protest auf Facebook begann, einem sehr weiblichen Medium. Im weitgehend geschützten Raum des Internets beteiligten sich von Anfang an Frauen an den Protesten, und als diese auf die Straße verlegt wurden, kamen die Frauen ganz selbstver-
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ständlich mit. Allerdings nicht alle, manche mussten zuvor noch eine weitere Revolution gewinnen: Die gegen ihre Eltern, die sie nicht demonstrieren lassen wollten. 1001 Mädchen stritten mit ihrer Mutter und ihrem Vater, und viele setzten sich durch. Im vergangenen Jahr haben sich auf diese Art viele Familien von innen heraus verändert: Mädchen haben mehr zu sagen, die Jugend insgesamt bekommt Gehör, schließlich haben sie geschafft, was ihre Eltern sich nicht einmal zu träumen wagten. Sie haben Mubarak verjagt. Es stellte sich dann bald heraus, dass der politische Wandel bisher begrenzt war, nur die Spitze des Regimes wurde ausgetauscht, und ein Großteil blieb in Takt. Die Gesellschaft hingegen hat sich seit 2011 stark verändert. Die Menschen sind insgesamt selbstbewusster, politischer und kritischer geworden. Sie haben Geschmack daran gefunden, für ihre Rechte zu streiten. Zudem ist es zu einer Ausdifferenzierung des politischen Spektrums gekommen. Zu dem groben Raster „Pro-Regierung“, „Pro-Muslimbruderschaft“ und „lass-mich-in-Ruhe“ sind zahlreiche neue Optionen gekommen. Der Erfolg des nasseristischen Kandidaten Hamdeen Sabachi, der in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen immerhin auf Platz drei landete, ist eines von zahlreichen Beispielen für diese Entwicklung. Wer hätte gedacht, dass ein Linker solch einen Erfolg haben könnte. Hieß es doch bisher, dass auf den arabischen Frühling eine islamische Regierungsmehrheit folgen muss. Es ist ein Trend zur Individualisierung zu beobachten, Lebensstile verändern sich, und immer mehr Jugendliche trauen sich, sich über Konventionen und Tabus hinwegzusetzen. Sie sind bereit dafür zu kämpfen und so wie sie auf der Straße gegen die Kräfte des alten Regimes kämpfen, genauso stehen ihnen auch gesellschaftlich noch Auseinandersetzungen bevor. Auch was die Rolle der Frau angeht, mobilisiert die Konterrevolution. Sie setzt auf Einschüchterung der Akteurinnen und darauf, ihr Ansehen zu zerstören. Sie haben begriffen, dass Aufstand ansteckend ist und wollen verhindern, dass Hadir Faruk, Azmaa Mahfuz oder womöglich Alia Al-Mahdy zu Vorbildern für die Masse der ägyptischen Mädchen werden.
Ermächtigung von Frauen im Jemen? Zur potentiellen Dynamik sozialer Bewegungen R OSWITHA B ADRY
1. E INFÜHRENDE B EMERKUNGEN Als ich gefragt wurde, ob ich einen Beitrag zu den jüngeren Ereignissen in Libyen, Irak oder Jemen zu dem vorliegenden Sammelband beisteuern möchte, fiel meine Entscheidung spontan auf das letztgenannte Land, und zwar aus folgenden Gründen. Zum einen hatte ich mich, wie wohl manch anderer Medien-Konsument, nicht der Faszination der Bilder entziehen können, die vor allem über den arabischen Al-Jazeera-Sender zu den friedlichen Massenprotesten in Sanaa und anderen jemenitischen Städten seit Anfang 2011 transportiert wurden. Frauen, die Mehrzahl von ihnen traditionell schwarz gekleidet und fast vollkommen verhüllt, waren daran maßgeblich beteiligt gewesen und hatten sich mehrfach in Interviews selbstbewusst zu Wort gemeldet. Die enorme Präsenz von Frauen bei den gewaltlosen Demonstrationen und Sit-ins war nicht zuletzt deswegen so bemerkenswert, da Jemen in der Regel als überaus konservatives Land mit eindeutiger Geschlechterdiskrepanz (mit Blick auf Alphabetisierungs- und Beschäftigungsrate, Rechtsstatus, politische Repräsentation etc.) gilt.1 Im Ok-
1
Siehe etwa den von Schwoebel (2011) erwähnten „Global Gender Gap Report“, bei dem das Geschlechtergefälle in 130 Ländern untersucht wurde und Jemen an letzter Stelle stand. Solche Ranglisten sollten jedoch höchstens als etwaiges Indiz gelten, da die Bemessungsgrundlagen ebenso variieren wie die zugrunde ge-
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tober wurde dieser bisher unbekannten Sichtbarkeit von Jemenitinnen im öffentlichen Raum zudem durch die Entscheidung des Nobelpreiskomitees, neben zwei Liberianerinnen die jemenitische Journalistin und Aktivistin Tawakkul Karman mit dem Friedensnobelpreis 2011 auszuzeichnen, Rechnung getragen. Zum anderen war im Unterschied zu Libyen oder dem Irak eine direkte militärische Intervention seitens „des Westens“ oder ihrer arabischen Verbündeten nicht zu erwarten. Abgesehen von unbemannten Drohnen-Angriffen auf vermeintliche Al-Qaida-Stützpunkte oder bewaffneten Zusammenstößen in der Grenzregion zu Saudi-Arabien, zu denen es in den vergangenen Jahren mehrfach gekommen war, beschränkte sich die Einflussnahme der führenden außenpolitischen Akteure (Golfkooperationsrat, besonders Saudi-Arabien, USA, UN Sicherheitsrat) auf Entscheidungsprozesse im Jemen in den letzten Monaten eher auf Vermittlungsversuche und Verhandeln im Hintergrund. Eine (weitere) Militarisierung des Konflikts zwischen Opposition und Regime hätte, wie anderweitige Erfahrungen wiederholt gezeigt haben, ohne Frage eine Ausgrenzung von Frauen zur Folge; eine direkte bewaffnete Einmischung von außen wäre überdies der Transparenz der Ereignisse noch abträglicher. Dass die Protestierenden im Jemen ihrem Unmut gewaltfrei Ausdruck gaben, ist angesichts der Vielzahl an Schusswaffen im Land (mindestens ebenso viele Waffen in Privathand wie Einwohner)2 erstaunlich und anerkennenswert zugleich; offensichtlich war diese Zurückhaltung den hauptsächlichen Aktivist/innen zu verdanken. Ebenso beeindruckend war die demonstrative Geschlossenheit der Reihen: Sollten die mehrmonatigen standhaften Proteste gegen das Salih-Regime etwa das geschafft haben, was nach der divide et impera – Politik der beiden vergangenen Dekaden nicht mehr möglich schien – ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl über alle Fraktionierungen hinweg?3
legten Prämissen und Zielvorgaben. – Es sei angemerkt, dass in diesem Beitrag eine vereinfachte Umschrift des Arabischen verwendet wird. 2
Dazu finden sich abweichende und recht vage Angaben. Vgl. Fattah 2011: 81;
3
Bereits vor einigen Jahren hatte Wedeen (2004: 275) bemerkt, dass anscheinend
Wedeen 2004: 249; FES 2011; Yemen-Protests 2011. im Jemen trotz des Fehlens eines starken oder effektiven Staates Nationsbildung auf der ‚Graswurzelebene’ stattfindet, und das entgegen herkömmlicher Theorien. – Zur Kooperation und Solidarität Anfang 201;1 s.a. Manea 2011b.
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Als direkter Auslöser für den „Volksaufstand“ im Jemen hatte sicherlich der Sturz von Ben Ali in Tunesien nach ähnlichen Massenprotesten gewirkt. Was die Genese der Forderungen der jemenitischen Regimegegner betrifft, so bestehen zwar etliche Parallelen zu anderen arabischen Staaten, dennoch sind die Ursprünge, die Entwicklung und potentielle Dynamik der sozialpolitischen Protestbewegung im Jemen nur vor dem landesspezifischen historischen Kontext seit der Vereinigung von 1990 zu erklären. Der Fokus der folgenden Ausführungen liegt deshalb auf den Ursachen, dem Verlauf und den möglichen Wirkungen der jüngeren Ereignisse, und zwar in einer allgemeinen und einer geschlechtsspezifischen Perspektive. Inwiefern haben jene, wie es manche Beobachter/innen formuliert haben, zu einer „Ermächtigung von Frauen“ (empowerment)4 beigetragen? Auch wenn es grundsätzlich schwierig ist, aktuelle Geschehen adäquat einzuschätzen (trotz Informationsflut sind viele Faktoren bzw. Variablen unbekannt) und Prognosen in der Regel schon bald überholt sind, so lässt sich dennoch mit einigem Recht folgende These aufstellen: Die aktive Teilhabe an den Erhebungen von 2011 stellte zumindest für einige Jemenitinnen eine (persönliche) „Ermächtigung“ dar, weil sie als vorläufiger Höhepunkt einer allmählichen gesellschaftlichen Transformation zu werten ist, welche spätestens Ende der 1990er Jahre einsetzte. Der von manchen Akteuren anvisierte Systemwandel mit nachhaltigen Reformen in Staat und Gesellschaft, d.h. einschließlich einer tatsächlichen sozialpolitischen „Ermächtigung“, mag angesichts der innen- und außenpolitischen Kräfteverhältnisse vorerst ausbleiben. Gleichwohl wird, nicht zuletzt wegen der demographischen Entwicklung, auch in Zukunft mit der Stimme von (gebildeten) Frauen (und der Jugend im Allgemeinen) zu rechnen sein.
4
Das Konzept des empowerment wurde zuerst Mitte der 1980er Jahre von Frauen im globalen Süden entwickelt, um diskriminierenden und fehlschlagenden Entwicklungskonzepten aus dem globalen Norden entgegenzuwirken, wurde in der Folge aber von nördlich-individualistischen Vorstellungen beeinflusst, vor allem auf die wirtschaftliche und politische Partizipation von Frauen eingeengt und neben gender mainstreaming zum zentralen Bestandteil der Aktionsplattform von Beijing 1995. Die anfangs sehr pragmatische Geschlechterstrategie „von unten“ intendierte „die Stärkung der Selbstbestimmungs-, Entscheidungs- und Einflussmöglichkeiten von Frauen und ihre gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen.“ (Jensen 2005: 154)
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1.1 Soziale Bewegung: Definition, Dynamik, Theorien Wie bereits im Titel anklingt, begreife ich die jüngeren Ereignisse im Jemen zunächst einmal als soziale Bewegung. Für mich als Beobachterin von außen birgt dieser neutrale Terminus den Vorteil, die Protestbewegung als Ergebnis und (eventuell) Initialzündung eines länger andauernden Prozesses zu verstehen. Ob es sich um eine Revolution5 im Sinne eines Systemwandels handelt, lässt sich dagegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht definitiv sagen, setzen doch Revolutionen einen Wechsel in der Herrschaftsstruktur voraus; die Ersetzung des Staatschefs oder auch der bisherigen Elite, wie etwa bei Militärputschen, ist demnach noch keine Revolution.6 Der Begriff „soziale Bewegung“ hat im Laufe des 20. Jahrhunderts eine starke Erweiterung erfahren, so dass eine große Bandbreite von Phänomenen darunter subsumiert werden kann. Eine vage Übereinstimmung herrscht dahingehend vor, dass soziale Bewegungen einerseits von kurzlebigen, spontanen kollektiven Erscheinungsformen und andererseits von hoch formalisierten und institutionalisierten Organisationen abzugrenzen und dass sie sowohl Produkte als auch Produzenten (bzw. Opponenten) sozialen Wandels (infolge von Modernisierungsschüben) sind.7 Sozialwissenschaftler haben, abgesehen von unterschiedlichen Definitionen verschiedene Typologien (unter dem Aspekt der Zielsetzung, Reichweite, Mobilisierungs- und Handlungsstrategien oder Aktionsformen) und theoretische Ansätze entworfen, um Sozialbewegungen zu erfassen. Aus der Vielzahl an Definitionen sei diejenige des US-amerikanischen Soziologen, Politologen und Historikers Charles Tilly herausgegriffen:
5
Dass Aktivisten vor Ort von Revolution sprechen, ist angesichts jahrelanger Unterdrückung und der Opfer während der Protestmärsche verständlich. Doch müssen selbst die Akteure, darunter Tawakkul Karman oder Nadia Al-Sakkaf, einräumen, dass die Revolution erst am Anfang steht. Damit ist das Kernproblem aller Sozialbewegungen in der Phase der Neuordnung angesprochen: Die ursprünglichen Zielvorstellungen werden im Zuge ‚realpolitischer Erfordernisse’ verwässert oder gar aufgegeben.
6
Vgl. Zimmermann 1987: 465.
7
Vgl. Rucht 1987: 481f.
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„A social movement is a sustained series of interactions between power holders and persons successfully claiming to speak on behalf of a constituency lacking formal representation, in the course of which those persons make publicly visible demands for changes in the distribution or exercise of power, and back those demands with public demonstrations of support.“ (Tilly 1984: 306)
Tilly geht davon aus, dass soziale Bewegungen ein bedeutendes Instrument für Durchschnittsbürger darstellen, um an öffentlicher Politik zu partizipieren. Erst das Zusammenspiel von drei Elementen erlaubt es seiner Ansicht nach, von einer solchen zu sprechen:8 a) Aktion: anhaltende, organisierte öffentliche Anstrengung mit kollekti-
ven Forderungen gegenüber Autoritäten; b) Repertoire: Nutzung einer Kombination verschiedener Aktionsformen
c)
(darunter Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Petitionen, Medienauftritte, Pamphlete); „WUNC displays“, d.h. die Beteiligten demonstrieren gemeinsam öffentlich „worthiness, unity, numbers, and commitments on the part of themselves and/or their constituencies“, so z.B. durch die Präsenz von Müttern und Kindern, durch Transparente, Abzeichen oder Stirnbänder, Unterschriftensammlungen und das Trotzen gegen allerlei Widrigkeiten, inklusive Repression.
Was die Dynamik von sozialen Bewegungen angeht, so ist die früher verbreitete Vorstellung von einer Art „natürlichem“ Lebenszyklus (von einem Anfangs- und Wachstumsstadium über eine Phase der Organisation bis hin zu Institutionalisierung, Kooptation oder Repression und schließlich Niedergang mit Option zur späteren Revitalisierung) durch eine Reihe empirischer Untersuchungen ins Wanken geraten und höchstens von heuristischem Wert.9 Die in den letzten Dekaden dominierenden theoretischen Ansätze (Konzepte der Ressourcenmobilisierung und der Neuen Sozialen Bewegung) konzeptualisieren soziale Bewegungen als Geflecht von Netzwerken, von institutionellen und personellen Verbindungen, in denen die assoziierten
8
Vgl. Tilly 2004: 3f. und passim.
9
Vgl. Rucht 1987: 482.
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Gruppierungen eingebettet sind.10 Umstritten bleibt, ob und in welcher Weise neue Technologien (digitale Medien11) Sozialbewegungen transformiert haben. Es steht dagegen fest, dass die internationale Vernetzung der Organisationen der sozialen Bewegungen sowie die internationale Aufmerksamkeit samt Interventionschancen im Vergleich zum 20. Jahrhundert angewachsen sind.12 Gleichfalls sind die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ vor dem Hintergrund der innen- und außenpolitischen Auswirkungen der neuzeitlichen Globalisierung, der Folgen des internationalen „Anti-Terror-(Qaida-)Kampfes“ sowie systemischer Dysfunktionalitäten und struktureller Spannungen in den einzelnen Ländern zu sehen.
2. U RSACHEN UND W IRKUNGEN DER M ASSENPROTESTE IM J AHRE 2011 2.1 Allgemeine Missstände seit der Vereinigung von 1990 – Zerplatzte Hoffnungen Die Etablierung der Republik Jemen (RJ) am 22. Mai 1990 vereinigte zwei ideologisch konträr ausgerichtete Staaten mit unterschiedlichen Zukunftsvisionen miteinander, wurde aber von der Mehrheitsbevölkerung des gesamten Jemen begrüßt. Die Entscheidung zur Einheit basierte auf einer Reihe interner und externer Faktoren, darunter den dringenden wirtschaftlichen Bedürfnissen des Südens (offiziell: Demokratische Volksrepublik Jemen, DVRJ, seit 1967) und der Entdeckung von Erdöl in umstrittenen Grenzge-
10 Vgl. Clark 2004: 942. 11 Angesichts des oft benutzten Ausdrucks „Facebook-Revolution“ ist mit Blick auf den Jemen festzuhalten, dass z.B. die Internet-Nutzung noch recht gering ist. Al-Sakkaf (2011a: 161) spricht von etwa 5%, wobei durch persönliche Kontakte ein gewisser „Schneeballeffekt“ erreicht werden kann. Nur wenige Oppositionsgruppen nutzen intensiv die verschiedenen neuen Medientechnologien, vgl. etwa das 2010 von studentischen Aktivisten gegründete „internationale Netzwerk“ Yemen Peace Project (2011). 12 Tilly 2004: bes. 97f., 106f.
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bieten.13 Die offiziellen Verhandlungspartner aus Nord- (offiziell: Arabische Republik Jemen, ARJ, seit 1962) wie Süd-Jemen ließen sich anscheinend von kurzfristigen politischen und ökonomischen Vorteilen leiten; dabei versäumten sie es, strittige Themenfelder (so „die Frauenfrage“) zuvor auszuhandeln und detailliert festzulegen, wohl in der Annahme, ihre jeweiligen Kontrahenten im Zuge eigener Machterweiterung ausstechen zu können.14 Der „Frühling“ nach der Vereinigung währte nicht lang, da hatten sich die Hoffnungen auf liberalisierende und demokratisierende Effekte der Einheit weitgehend zerschlagen. Präsident Ali Abdullah Salih, seit 1976 Staatsoberhaupt der ARJ, seit 1990 der RJ, erwies sich als schlauer Stratege und verstand es, nach und nach die Macht in seinen Händen und denen seiner Klientel zu konzentrieren. Wie in anderen autoritären arabischen Staaten bewährten sich rentierstaats- und neo-patrimoniale Herrschaftsmechanismen: Patronage, Nepotismus, Bestechung und Kooptation loyaler bzw. kooperationswilliger Kräfte zum einen, Kontrolle, Gegeneinander-Ausspielen und Unterdrückung potentieller Konkurrenten sowie autonomer gesellschaftlicher Organisationen zum anderen. Formelle politische Institutionen wie Parlament, Parteien oder Verbände mögen im Neo-Patrimonialismus bestehen, aber informelle personelle Klientelbeziehungen und Patronagenetzwerke durchziehen das gesamte politische System und sind ausschlaggebend für die Entscheidungsfindung. Die notwendigen finanziellen Mittel liefern ökonomische (Einnahmen aus der Ölwirtschaft) oder sogenannte politische Renten (u.a. militärische und finanzielle Hilfe aus dem Ausland, intraregionale Unterstützungsleistungen). Gestärkt wird das System durch gegenseitige Verflechtungen innerhalb der Kernelite, so von Staat und Wirtschaft sowie Staat und Zivilgesellschaft.15 Im Jemen zeigten sich solche neo-patrimonialen Mechanismen z.B. an Salihs Politik gegenüber den führenden Parteien und Stämmen. Die von Salih und seiner Partei, dem Allgemeinen Volkskongress (AVK), unterstützte Gründung der Islah-
13 Zu dem Bündel an Faktoren, die zur Vereinigung beitrugen, siehe z.B. Manea: 2011a: 117. Zur Geschichte der Landesteile vor 1990 siehe u.a. Smith/ Burrowes/Mermier 2001; Ferchl 1995: 49-64; Glosemeyer 2005: 551-556; oder die im Munzinger (Jemen – gesamt: 2011) angegebene weiterführende Literatur. 14 Vgl. Brehony 2011: 198, 209. 15 Vgl. Kreitmeyr/Schlumberger 2010; Beck 2009.
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Partei (IP)16 war in erster Linie als Gegengewicht zur Sozialistischen Partei (JSP) gedacht. Tatsächlich ging die IP aus den Parlamentswahlen von 1993 als zweitstärkste Kraft hervor. Die JSP, seit 1990 Koalitionspartner, wurde zunehmend in die Enge getrieben. Der blutige zweimonatige Bürgerkrieg von 1994 besiegelte letztlich die Dominanz des Nordens gegenüber dem Süden in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Änderungen und Ergänzungen zur Verfassung von 1991 (1994, 2001) erweiterten zum einen sukzessive die Befugnisse (und Amtszeit) des Präsidenten, machten zum anderen weitgehende Zugeständnisse an die konservativen und fundamentalistischen islamischen Kräfte. Nachdem Salih seine Position gefestigt und die Wahl von 1997 der AVK die absolute Mehrheit im Parlament beschert hatte, konnte der Präsident auf die IP verzichten und ließ sich 1999 erstmals direkt im Amt bestätigen. Um die Vorherrschaft der AKP zu unterminieren, kam es nach mehreren Annäherungsversuchen und innerparteilichen Politikwechseln schließlich 2005 zu einer ungewöhnlichen Zweckallianz zwischen IP und JSP (sowie drei weiterer kleinerer Parteien): der JMP („Joint Meeting Parties“), die jedoch in der Folgezeit den Großteil ihrer Ziele nicht erreichte.17 Gegenüber den im Jemen strategisch wichtigen Stämmen hatte Salih von Beginn seiner Herrschaft an eine ähnliche Strategie verfolgt: Aufrechterhaltung der prekären Machtbalance durch partielle Einbindung in den Staatsapparat, darunter das Militär, Geldzuweisungen aus den Ölrenten sowie den seit Mitte der 1990er Jahren wieder stärker fließenden Auslandsund Militärhilfen,18 darüber hinaus Propagieren eines „masculinized ethos“, der den Stamm (und sein kämpferisches Potential) zur Metapher für die je-
16 Beide Parteien stellen eine Art Dachverband unterschiedlicher Strömungen dar. In der IP (offiziell: Jemenitische Vereinigung für Reform) sind konservative Stammesvertreter und Geschäftsleute ebenso vertreten wie islamisch-fundamentalistische Kreise moderater und extremer Couleur. Salih verfügt über enge persönliche und tribale Verbindungen zu prominenten Persönlichkeiten der IP. 17 Vgl. Browers 2007. 18 Zu den Folgen des Zweiten Golfkriegs für Jemen siehe Ferchl 1995: 76-83. Jemen hatte sich gegen den Einsatz militärischer Mittel gegen den Irak ausgesprochen. Die Hilfszuweisungen aus dem Ausland wurden daraufhin ausgesetzt und etwa eine Millionen jemenitischer Gastarbeiter aus Saudi-Arabien ausgewiesen; hinzu kamen Flüchtlinge aus Kuwait und Somalia. Dies warf die Planungen im gerade vereinigten Jemen um Jahre zurück.
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menitische Nation werden ließ.19 Auch Saudi-Arabien alimentiert seit Jahren einflussreiche Stammesführer im Jemen als eine Art Prävention, um traditionell-konservative Kräfte zu stärken.20 Nach dem 11. September 2001 hat sich Salih seine Kooperationswilligkeit im ‚Anti-Terror-Kampf‘ entsprechend vergüten lassen (Aufstockung der US-Militärhilfe, Ausbildung von Spezialeinheiten) und sich als einziger Garant der Stabilität und „entstehenden Demokratie im Jemen“ präsentiert. Gleichzeitig spielte er die „Qaida-Karte“, um Aufstände im Land niederzuschlagen.21 Seit mehreren Jahren hat sich die wachsende Unzufriedenheit in ganz Jemen sowohl in friedlichen Demonstrationen als auch gewaltsamen Konflikten entladen. Im Süden wurden Rufe nach Sezession laut, im NordOsten rebellierte die zaiditische22 Opposition. All diese Auflösungserscheinungen haben einige Beobachter/innen dazu veranlasst, Jemen als „scheiternden“ (Brehony: 2011: XX) oder bereits „gescheiterten Staat“ (Filkins 2011: [4]; vgl. Manea: 2011c) zu titulieren. Die negative Wirtschafsbilanz tangierte den Großteil der Bevölkerung: Das Regime hatte Jemens ohnehin relativ geringen, zudem schwindenden Öl- und Gasreserven23 nicht zum Ausbau anderer Wirtschaftssektoren, sondern zur Aufrechterhaltung der Patronage-Netzwerke genutzt. Die Abhängigkeit von den Öleinnahmen ist deshalb weiterhin hoch. Etwa 43% der 24 Mio. Jemeniten leben unterhalb der Armutsgrenze, die Arbeitslosigkeit wird auf 40-45% geschätzt und trifft besonders die Jugend, welche die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung stellt. Die Geburtenrate gehört mit 3,5% zu den höchsten der Welt, die Analphabetenquote beträgt noch ca. 45% (68% Frauen). Während Jemen regelmäßig am Ende der Indizes steht, welche die menschliche Entwicklung und Rechtstaatlichkeit bemessen, steht es ebenso oft an der Spitze der
19 Vgl. Bruck 2005: 9. 20 Vgl. Filkins 2011: 5; Fattal 2011: 83; s.a. Scahill 2011: 12. 21 Vgl. Ghosh 2011: 2, 3f.; Manea 2011c; Scahill 2011: 11, 14; Wedeen 2004: 251. 22 Zur Zaidiyya, der sog. „Fünfer-Schia“, die seit Ende des 9. Jahrhunderts bis 1962 im Nordjemen eine bzw. die führende Elite stellte, Madelung 2002; Halm: 1988: 244-249; vgl. Bruck 2005: Kap. 1-2. 23 Dazu existieren unterschiedliche Einschätzungen, vgl. Plaut 2008; Phillips 2007: 17.
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Ranglisten, welche das Ausmaß an Korruption bewerten.24 Verarmung weiter Teile der Bevölkerung infolge von Strukturanpassungsplänen im Verbund mit IWF und Weltbank bei gleichzeitiger Misswirtschaft und Selbstbereicherung der herrschenden Clique ist wie in Tunesien und Ägypten als die Hauptursache der Proteste von 2011 zu identifizieren. Das belegen auch die anfänglichen Forderungen nach „Brot“ und „Arbeit“. Ebenso hatten die Verschiebung der Parlamentswahlen (2009) um zwei Jahre und der Plan zu einer weiteren Verfassungsänderung, die den Präsidenten auf Lebenszeit im Amt belassen hätte, für Unmut gesorgt. Die Übereinkunft dazu war bezeichnenderweise von den führenden Parteien (AVK und JMP) auf Vermittlung westlicher Berater25 zustande gekommen, eigentlich mit dem Ziel, weitgehende Reformen (im Wahlrecht, zur Stärkung des Parlaments und der föderalen Struktur etc.) einzuleiten, die aber nie verhandelt wurden. Die Kompromissbereitschaft der JMP hat ihrem Ansehen in weiten Teilen der Bevölkerung geschadet. Wenn die Parteienallianz sich später den Protesten angeschlossen hat und sich letztlich erfolgreich als Verhandlungspartner profilierte, so entsprach das nicht unbedingt dem Ansinnen der zunächst federführenden jungen Akteure der „Intifada“. 2.2 Geschlechtsspezifische Erfahrungen seit 1990 – Frauenrechte als Spielball der Politik Nach der Vereinigung hatten viele Frauen aus dem Norden gehofft, mehr Rechte zu erhalten, während ihre Geschlechtsgenossinnen im Süden erwartet hatten, ihren Rechtsstatus zu bewahren. Doch innerhalb weniger Jahre wurde deutlich, dass Rechte und Forderungen von Frauen nicht realisiert wurden, sondern von Parteiführern leichtfertig aus politischer Berechnung geopfert wurden. Patriarchale Sozialstrukturen, Basis des neopatrimonialen Systems, wurden durch Gesetzesänderungen verfestigt, selbst wenn sie infolge sozialer und kultureller Globalisierungseffekte partiell aufgebrochen werden konnten. Das recht fortschrittliche Familiengesetz der DVRJ von
24 Vgl. Munzinger (Jemen – gesamt 2011: 11-19); Fattah 2011: 80; Basha 2005: 1, 6; Basha 2007; Brehony 2011: XIX. 25 Interessant ist, dass auch in diesem Fall, wie schon bei den Verhandlungen zur Begründung der JMP (Browers: 2007: 578), das US-National Democratic Institute (NDI) eine maßgebliche Rolle spielte (Country report Yemen 2011: 11).
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1974, das Frauen zumindest de jure, wenn auch nicht de facto26, mehr Rechte mit Blick auf Ehe, Scheidung und Sorgerecht garantiert hatte als das Personalstatut der ARJ von 1976, wurde nicht übernommen. Stattdessen stellte das neue Personenstandsrecht der RJ von 1992 nahezu eine Kopie des Familiengesetzes der ARJ dar. Verfassungs- und Gesetzesänderungen sowie Ergänzungen zum Personalstatut (1998/1999) kamen konservativen und islamistischen Vorstellungen zum Geschlechterverhältnis entgegen.27 Den Ausgangspunkt dafür bildete die Festlegung „der Scharia“ als „(einzige) Quelle der gesamten Gesetzgebung“ (Art. 3; zuvor „die Hauptquelle der Gesetzgebung“) in der Verfassung von 1994. Der Wortlaut des Gleichstellungsparagraphen wurde entsprechend gekürzt (gleiche Rechte und öffentliche Pflichten für alle jemenitischen Bürger ohne detaillierten AntiDiskriminierungspassus, Art. 40). Überdies gelten Frauen nun als „Schwestern der Männer mit Rechten und Pflichten nach Maßgabe der Scharia und des Gesetzes“ (Art. 31 der Verfassung von 1994), mithin als Abhängige und Untergeordnete. Im neuen Familienrecht wurden die Privilegien des Vormunds und Ehemannes ausgebaut (Gehorsamspflicht der Frau, praktisch keine Beschränkung für Polygynie usw.). Seit der Modifizierung des Personalstatuts von 1999 sind Eheschließungen von Minderjährigen durch
26 Die Situation in der Hauptstadt Aden war (und ist) vom sog. Hinterland zu trennen. Wie im Nordjemen kann man von einer Phase des Staatsfeminismus sprechen; die beiden offiziellen Frauenbewegungen schlossen sich nach der Vereinigung zu einer „Frauenunion“ (Yemen Women's Union) zusammen. – Die gesellschaftliche und religiöse Pluralität des Jemen sowie die unterschiedliche Geschichte der verschiedenen Landesteile schlagen sich (neben der politischen Fragmentierung) in der tatsächlichen Rechtspluralität nieder. Trotz des „SchariaParagraphen“ konkurrieren auch nach der Verfassungsänderung von 1994 religiöses Recht (eigentlich islamische Jurisprudenz verschiedener Rechtsschulen, die zu Unrecht als „Scharia“ bezeichnet wird – vgl. z.B. Badry 2011), staatliches Recht aus unterschiedlichen Quellen und Gewohnheitsrecht (der Stämme) miteinander (Glosemeyer 2005: 559). – Zur Infragestellung der patriarchalischen Lesart „der Scharia“ vgl. z.B. Yemen Observer: 2005. 27 Zum Rechtsstatus von Frauen vor und nach der Vereinigung im Einzelnen u.a.: Manea 2011a: 113-137 (bes. Tabelle 7.1, S.115, und Tabelle 7.2, S. 122 – Gegenüberstellung markanter Gesetzespassagen); Manea 2010; Basha 2005 und Basha 2007: 5-11; Welchman 2007: 40f., 62f., 166, 170, 179f., 184.
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den Vormund gestattet. Weitere Beschränkungen der Rechte von Frauen sind im Straf-, Zeugen-, Arbeits- oder Staatsangehörigkeitsgesetz verankert; vage Formulierungen und die Unterrepräsentation von Frauen im Polizei- und Justizapparat führen zu zusätzlicher Ungleichbehandlung. Trotz der eindeutigen Verstöße gegen die Frauenrechtskonvention blieb Jemen auch nach der Vereinigung Unterzeichnerstaat der CEDAW (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, 1981), welche die DVRJ bereits 1984 mit nur einem Vorbehalt ratifiziert hatte. Aufschlussreich sind deshalb neben den turnusgemäßen offiziellen Rechenschaftsberichten an den CEDAW-Ausschuss die von unabhängigen Aktivistinnen vorgelegten „Schattenberichte“.28 Proteste von Frauenrechtlerinnen gegen die diskriminierenden Gesetze sind seit 1992 belegt. Dennoch konnten sich verschiedene Frauen- und Menschenrechtsaktivisten erst 2003 in Form einer gemeinsamen nationalen Kampagne Gehör verschaffen und so eine weitere Gesetzesinitiative zur Stärkung der Position des Mannes in der Ehe (bayt at-ta’a samt Zwangsgewalt des Richters) verhindern.29 Dieser Teilerfolg ist einem Bewusstseinswandel und neuartigen Aktionismus innerhalb der Frauenbewegung zuzuschreiben – eine Entwicklung, die sich kurz vor der Jahrtausendwende bemerkbar gemacht hatte und deren Hintergrund sich nach Yadav/Clark (2010) wie folgt darstellt. Obgleich ‚die Frauenfrage‘ zum bevorzugten Gegenstand der Debatten unter den führenden Parteien geworden war, mussten Aktivistinnen feststellen, dass ihre Möglichkeiten, direkt auf die Gestaltung jemenitischer Politik über staatliche Institutionen Einfluss zu nehmen, begrenzt blieben. Sie waren zwar als Wählerinnen umworben, nicht aber als Kandidatinnen gefragt. Erfahrungsberichte von Parlamentskandidatinnen, Parlamentarierinnen, aber auch unabhängigen Aktivistinnen wie A. Basha, zeugen von Einschüchterungsversuchen, fehlender Unterstützung (im Wahlkampf, bei Projekten), Diffamierungskampagnen (in halb-amtlicher Presse, über Moscheen) und anderen Formen der Behinderung, Ausschließung und Marginalisierung.30 Der Jurist und Menschenrechtsaktivist M. AlMichlafi hat in einer Studie nachgewiesen, dass die Mehrzahl der Parteiprogramme das traditionelle Rollenbild von Frauen als Mütter und Haus-
28 Vgl. Basha 2007. 29 Vgl. Basha 2005: 4f. 30 Vgl. Manea 2010: 6f., 22, 25f.; Yadav/Clark 2010: 61-72.
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frauen widerspiegelt.31 Gegen das passive Wahlrecht für Frauen hatte sich wiederholt die IP (v.a. der ultra-konservative Flügel) ausgesprochen; ihre Position hatten sie u.a. durch Rechtsgutachten religiös zu legitimieren versucht. Erst nach den Stimmeneinbußen bei den Wahlen von 1997 gab die Partei dem Druck einer jungen reform-orientierten Fraktion nach und nahm erstmals 7 Frauen in das höchste Parteigremium, die beratende Versammlung, auf. Doch selbst nach dem Zusammenschluss mit der JSP, einer Partei, die immer Kandidatinnen aufgestellt hatte, konnte sich die IP zu keiner klaren Haltung durchringen.32 Politische Ausgrenzung bei gleichzeitiger Instrumentalisierung zu politischen Zwecken rief bei vielen Aktivistinnen Frustration und ParteiVerdrossenheit hervor; seit Mitte der 1990er Jahre verlegten sie ihr Engagement deshalb stärker auf den Verbandssektor. Das sich seither abzeichnende Phänomen der „NGO-isation“ (Jad 2003; Jürgensen 2004: 321-323), das etwa zeitgleich in anderen arabischen Ländern auftauchte, war nicht zuletzt internationalen Bemühungen und Unterstützungsleistungen (UNFrauenkonferenzen, darunter in Beijing 1995; Projektfinanzierung) geschuldet, wird von Frauenrechtlerinnen weltweit allerdings kontrovers gesehen und ambivalent beurteilt. 2.2.1 ‚Früchte‘ und Risiken der Partizipation in zivilgesellschaftlichen Organisationen für die Frauenbewegung Vor 1990 hatte es nur wenige „Nichtregierungsorganisationen“33, darunter Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, im Jemen gegeben. Mit der
31 Zit. in Yadav/Clark 2010: 71. 32 Vgl. Programm der JMP: Erst der letzte Punkt 11 geht in vagen Formulierungen auf „die Frauenfrage“ ein. Die Aufstellung von Kandidatinnen aus der IP für die Parlamentswahlen blieb auch danach eine Streitfrage. Vgl. Browers 2007: 581f.; Yadav/Clark 2010: 81f. 33 Der Ausdruck ist umstritten, weil er in vielen Fällen nicht zutrifft (Phänomen der RONGOS, GONGOS, DONGOS – Royal, Government, Donor [organized] – NGOs – oder der ISIs/Islamic Social Institutions, die Clark vergleichend untersucht). Dazu z.B. Clark 2004: 942, Anm. 1; Jürgensen 2004: 326-328; Kreitmeyr/Schlumberger 2010.
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Vereinigung stieg ihre Zahl dagegen sprunghaft an. Im sechsten Rechenschaftsbericht des Jemen an die CEDAW-Kommission von 2007 ist die Rede von insgesamt 4000 zivilgesellschaftlichen Organisationen (ZGOs), von denen sich allein 200 auf die Belange von Frauen, Familien und Kindern spezialisiert hätten.34 In der Tat decken die ZGOs eine breite Palette von Aktivitäten ab: Gesundheitsversorgung, Bildungsförderung, karitatives soziales Engagement; Menschenrechts- und Frauenrechtsorganisationen, die Rechtsberatung anbieten, Informations- und Aufklärungsarbeit leisten35; wirtschaftliche Förderprogramme inklusive Bereitstellung von Mikrokrediten oder Schulungsmaßnahmen. Die Einbindung von Frauen in die Arbeit von ZGOs hat allerdings positive wie negative Konsequenzen gezeitigt.36 Zum einen ermöglichen die Einzelprojekte nicht nur konkrete Hilfe und Unterstützung für Bedürftige vor Ort, sondern (unter Umständen) auch die Chance, dass Frauen unterschiedlichen sozialen Hintergrunds und unterschiedlicher Interessen und Ausrichtung zusammenarbeiten, voneinander lernen und sich gegenseitig bestärken. Mitarbeit in ZGOs kann Selbstachtung hervorrufen, ein Solidaritätsgefühl schaffen, das Selbstvertrauen stärken und dazu beitragen verschiedene Fertigkeiten auszubilden bzw. zu perfektionieren. Darüber hinaus kann das Engagement in ZGOs dazu beitragen, dass die Partizipation von Frauen in der Öffentlichkeit in der breiten Bevölkerung auf größere Akzeptanz stößt, was langfristig den Weg zu einer stärkeren politischen Repräsentation von Frauen in staatlichen Institutionen,
34 Yemen’s sixth periodic report: 2007: 21. Eine unvollständige Liste wurde vom „Human Rights Information and Training Center“ (vgl. dazu auch Bemerkungen von Yadav/Clark 2010: 90f.) auf Arabisch erstellt: http://www.yemenembassy. org/economic/TheDirectoryoftheYemenNGOs.pdf (25.11.2011). 35 Berichte, Studien oder Kampagnen zu Menschenrechtsverletzungen (s.a. T. Karmans Organisation), Gewalt gegen Frauen (häusliche Gewalt, Genitalverstümmelung/FGM – noch praktiziert v.a. in Küstenregionen des Jemen) oder Aufklärung z.B. über erbrechtliche Ansprüche (bes. unter Frauen auf dem Land). 36 Zu den Vorteilen und Risiken z.B. Clark 2004: 964; Yadav/Clark 2010: 91f.; Phillips 2007: 10f.
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unter Umständen mit Hilfe einer Quotenregelung37, ebnen mag. Die Kontakte, die Frauen im Zuge der Einbindung in den Verbandssektor aufgebaut haben, sollten in der Tat eine wichtige Grundlage für die auf Netzwerken basierende Tätigkeit der „außerparlamentarischen“ Oppositionsbewegung legen, von der dann die Massenproteste im Jahre 2011 ausgingen. Zum anderen sind jedoch die Gefahren und Risiken, die mit einem stärkeren, weit verzweigten Engagement im zivilgesellschaftlichen Sektor verbunden sind, nicht zu unterschätzen. Sind die gesellschaftspolitischen Bedingungen fragil, kann die Vielzahl an ZGOs zur weiteren Fragmentierung und größeren Konkurrenz führen, was der Konsensbildung in grundlegende Zielsetzungen abträglich ist. Die finanzielle Abhängigkeit von staatlichen oder ausländischen Geldgebern birgt die Möglichkeit der Einflussnahme auf Agenden und Projekte, gleichfalls der Anfälligkeit für Kooptation und Patronage bzw. Angreifbarkeit bei nicht-konformem Verhalten. So erlauben das Verbandsgesetz von 2001 sowie die dazugehörige Verordnung von 2004 der jemenitischen Regierung erheblichen Spielraum in der Überwachung und Kontrolle von ZGOs (Phillips: 2007: 8). Auf Druck der Regierung haben deshalb mehrere Verbände eine halb-offizielle Rolle akzeptiert. Während Wohltätigkeit von Frauen eine längere Tradition hat, gesellschaftlich als unbedenklich und sozialpolitisch als nützlich angesehen wird, haben unabhängige Frauenrechtsgruppen, die mit ihrem Eintreten für Geschlechtergleichheit die vorherrschenden kulturellen Normen in Frage stellen (wie das von A. Basha geleitete Sisters Arab Forum for Human Rights), mit einem Mangel an Ressourcen oder Anfeindung von konservativen Kreisen zu rechnen. Was die ebenfalls seit der Vereinigung stärker in Erscheinung getretenen islamischen sozialen Institutionen betrifft, welche unter dem Verdacht stehen, einen „Staat im Staate“ begründen zu wollen, so hat Clark mit Blick auf die 1990 gegründete IP-nahe Charitable Society for Social Welfare38 Folgendes herausgearbeitet: Der Schwerpunkt der Aktivi-
37 Bashas Organisation (SAF) hat sich schon 2001 für eine 30%-Quote eingesetzt; seit 2004 wird sie dabei vom Women’s National Committee unterstützt. (Basha 2005: 8) 38 Auch Islah Charitable Society, obwohl formal unabhängig von der IP. Bei ihr handelt es sich um die „most succesful humanitarian, nonprofit PVO (Private Voluntary Organization) helping the poor in Yemen“. (Clark 2004: 959) – Die Versorgung der Protestierenden (mit Nahrungsmitteln, Medikamenten usw.) in
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täten liegt zwar einerseits auf dem Einwerben von Spendengeldern, welche dann an Bedürftige verteilt werden, andererseits aber auf Fortbildungsangeboten (gegen Gebühren). Letztere dienen wie die Partizipation selbst vor allem der Intensivierung horizontaler Beziehungsgeflechte unter den bisher marginalisierten „neuen gebildeten Mittelschichten“.39 Wie bereits Jad (2003) gewarnt hatte und Detailuntersuchungen aus Ländern wie Ägypten oder Libanon belegen, nutzen viele Vertreter/innen jener Schichten die Mitarbeit in ZGOs in erster Linie zur Selbstprofilierung und als Sprungbrett für ihre eigene Karriere. Die Präsenz in den Massenprotesten mag diese Konkurrenz anfänglich überdeckt haben; dennoch ist es auffällig, dass frauenspezifische Belange unter den Slogans des „Volksaufstandes“ nicht zu finden waren und die Forderungen unter den verschiedenen Frauengruppen nach wie vor auseinander klaffen.40 Auf kurze Sicht könnte es sich zudem als Nachteil erweisen, dass sich die „progressiven“ Aktivistinnen und Aktivisten von der hauptsächlichen Oppositionsfront (JMP) distanziert haben. Das könnte dazu führen, dass Gleichstellungsforderungen der Frauenrechtlerinnen erneut ignoriert werden. In diesem Zusammenhang scheint es sinnvoll, sich die wichtigsten Einschnitte im bisherigen Verlauf der Massenproteste nochmals zu vergegenwärtigen. 2.3.
Phasen und (vorläufige) Folgen der Massenproteste (Januar 2011 – Januar 2012)
Die Proteste im Jemen41 begannen Anfang des Jahres 2011 und weiteten sich schnell von der Hauptstadt Sanaa auf Städte wie Taiz und Aden aus. Immer mehr Menschen konnten für die Slogans der Protestierenden gewonnen werden; diese beinhalteten neben Einheits- und Zuversichtsbekun-
der Hauptstadt, welche u.a. Al-Sakkaf (2011a: 160) anspricht, ging vermutlich vornehmlich auf das Konto dieser Organisation, deren Hauptsitz nahe dem Campus der Universität von Sanaa liegt. (Clark 2004: 962) 39 Vgl. Clark 2004: 959-965, bes. 962f. 40 Vgl. Al-Sakkaf 2011a: 160; Yemen: Interview with A. Basha: 2011. 41 Zur Chronologie der Ereignisse z.B.: Yemen-Protests: 2011; Jemen – gesamt 2011; s.a. Carapico 2011; Fahim 2011; Finn 2011b, 2011c; Smoltczyk 2011.
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dungen42 insbesondere den von der tunesischen und ägyptischen Bewegung übernommenen Appell an den Präsidenten, „zu gehen“ (Irhal!), und die Forderung nach „Sturz des Regimes“ (isqat an-nizam). Salihs Reaktionen ähnelten denen anderer arabischer Potentaten während des „Arabischen Frühlings“: Hin- und Herschwanken zwischen (scheinbarem) Einlenken, versöhnlichen Worten und Reformversprechungen einerseits, provokanten Maßnahmen und Verlautbarungen (Verdacht der ausländischen Verschwörung; Verunglimpfung bzw. Kriminalisierung der Regimegegner, darunter der beteiligten Frauen, unter Nutzung des aus der islamischen Geschichte altbekannten fitna-fasad-Topos, das gemeinhin mit Zersetzung, Destabilisierung und moralischem Verfall assoziiert wird; Mobilisierung der eigenen Anhänger für Gegenkundgebungen) und Repression andererseits. Die offensichtlichen Verzögerungstaktiken des Präsidenten brachten die Regimegegner nur noch mehr auf. Nachdem am 18. März zahlreiche friedliche Demonstranten in Sanaa von Sicherheitskräften getötet oder verletzt worden waren, rief der Präsident den Ausnahmezustand aus; wichtige Stammesführer sowie Vertreter aus Regierung und Militär wandten sich vom Regime ab. Bewaffnete Zusammenstöße zwischen Regierungstruppen und Stammesverbänden in Sanaa im Mai markierten die Wende zu einem Machtkampf zwischen den Eliten und beschworen im Monat darauf einen Angriff auf den Präsidentenpalast herauf, woraufhin der verwundete Salih zur Behandlung nach Saudi-Arabien ausgeflogen wurde. Salih-Gegner bildeten im August einen „nationalen Übergangsrat“, um ihre Ansprüche anzumelden.43 Nach der Rückkehr des Präsidenten Ende September beruhigte sich die Lage nicht. Schließlich unterzeichnete Salih am 23. November 2011 nach zehnmonatigen Straßendemonstrationen, die seinen Rücktritt gefordert hatten, und massivem Druck von außen einen vom Golfkooperationsrat ausgearbeiteten Übergangsplan (Machtübergabe an den bisherigen
42 Wie „Wir werden siegen“, „Einheit ist unsere Stärke“ oder „Du (Salih) wirst verurteilt“. 43 Siehe Who is the NC: 2011 und den dort in Auszügen zitierten Artikel von Laura Kasinof in der New York Times vom 17.08.2011. Unter den Forderungen des NC, bestehend aus 143 Mitgliedern, darunter 11 Frauen (Sprecherin Frau Hurriyya Maschhur), finden sich die Ablehnung einer Amnestie für Salih, seine Familie und regime elements und die Forderung nach einem demokratischen Rechtsstaat inkl. gender balance.
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Vizepräsidenten Hadi, Bildung einer Übergangsregierung, Präsidentschaftswahlen vorgesehen für Februar 2012 mit Hadi als einzigem Kandidaten) in Riad; auch Vertreter der Oppositionsparteien (JMP) stimmten der Vereinbarung zu. Die Salih, seiner Familie und seinen Helfern nach dieser Übereinkunft zugesagte Straffreiheit entsprach nicht den Erwartungen und Forderungen eines Großteils der Opposition, so dass die Proteste (zumindest eines harten Kerns mit weit weniger Frauen als zuvor) im Januar 2012 anhielten;44 Salih selbst verließ, wie seit November erwartet, am 22. Januar 2012 den Jemen Richtung USA – angeblich nur zu erneuter medizinischer Versorgung. Von der breiten internationalen Öffentlichkeit werden diese Ereignisse allerdings kaum mehr wahrgenommen. Mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an Tawakkul Karman war anscheinend der Zenit der „internationalen Solidaritäts- und Sympathiebekundungen“ erreicht. Weitergehende Forderungen der Sozialbewegung stießen an die Grenzen des vorrangigen Sicherheits- und Stabilitätsinteresses der maßgeblichen Akteure und Geberländer. 2.3.1 Tawakkul Karman: „Symbol“ und „internationales öffentliches Gesicht“ der Erhebung von 2011 und des Frauenaktivismus Tawakkul Karman steht seit ihrer Auszeichnung durch das Nobelpreiskomitee nicht nur stellvertretend für den bedeutenden Beitrag von Frauen (und Jugendlichen insgesamt) zum „Arabischen Frühling“, sondern auch, wie Yadav (2011) schreibt, wegen ihres Lebensweges für „Ursache und Wirkung“ der Protestbewegung im Jemen. Ohne Karmans Entschlossenheit und Verdienst prinzipiell in Frage zu stellen, ist die überraschende Karriere der jüngsten und ersten arabischen Friedensnobelpreisträgerin doch gleich-
44 Für heftige Reaktionen sorgte nicht nur der Kabinettsbeschluss zu einem Amnestiegesetz für Salih samt Entourage (für die gesamte Amtszeit) Anfang Januar 2012 (dazu Süddeutsche Zeitung vom 09.01.2012), sondern zuvor der erneute Versuch des ehemaligen Präsidenten, selbst nach der Unterzeichnung der Vereinbarung weiterhin als Staatsoberhaupt aufzutreten und den späteren Regierungsentscheid (seit 21.01.2012 Parlamentsbeschluss) vorweg zu nehmen. – Wegen der Unruhen wird eine Verschiebung des Wahltermins nicht ausgeschlossen.
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ermaßen im Zusammenhang mit einem aktuellen Paradigmenwechsel im „westlichen“ Diskurs zu sehen. Während ‚ein islamischer Staat basierend auf der Scharia’ oder Verhandlungen mit „Taleban“ bisher als nicht opportun galten, zeigen sich führende ‚Westmächte‘ mittlerweile verständnisvoll und kompromissbereit. Selbst das Nobelpreiskomitee erklärte, „dass islamische Gruppierungen und Parteien [...] als Teil der Lösung begriffen werden müssen“ (zitiert nach FES 2011). Tawakkul Karmans Biographie ist (bisher) nur lückenhaft zu eruieren.45 Die Aktivistin wurde am 07. Februar 1979 in der Provinz Taiz geboren. Politisches Interesse war ihr sozusagen in die Wiege gelegt: Ihr Vater diente bis 1994 als Minister unter Salih. Was ihre Ausbildung angeht, so erwarb sie einen Abschluss in Politik- oder Verwaltungswissenschaft an der Universität Sanaa. Sie ist verheiratet und hat drei Töchter. Vater und Ehemann haben sie nach eigener Aussage immer in ihrer politischen Arbeit bestärkt. Wie ihr Vater und ein Onkel ist Tawakkul Mitglied der IP; seit 2007 hat sie einen Sitz im Schura-Rat. Dennoch betont sie ihre Unabhängigkeit, und tatsächlich haben ihre Aktivitäten sowohl in- als auch außerhalb der Partei Kritik und Widerstand hervorgerufen. Selbst für das Regierungsorgan AlThawra („Revolution“) schreibend, begründete sie mit einigen Mitstreiterinnen die Organisation „Journalistinnen ohne Ketten“ (engl. Abk.: WJWC), eine „NRO“, die sich anfangs für die Ausdrucks- und Meinungsfreiheit der Medien einsetzte, bald aber ihr Engagement auf alle Menschenund Bürgerrechte ausdehnte. Die Organisation erhielt von Beginn an Unterstützung von „westlichen“ Institutionen und verfasste regelmäßig Berichte zu Verstößen gegen die Pressefreiheit46; ein SMS-Service zur Verbreitung
45 Auf der offiziellen Website des Nobelpreiskomitees findet sich noch Mitte Januar 2012 der Verweis auf eine später zu publizierende Autobiographie http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/2011/karman.html (22.01.2012). Die folgenden biographischen Angaben stützen sich u.a. auf http://en.wikipedia.org/wiki/Tawakel_Karman (22.11.2011); Al-Sakkaf 2010; Yadav 2011; Finn 2011a, 2011d; Sinjab 2011; Obermaier 2011; FES 2011; Yemen T.K. and WJWC 2011; diverse Artikel in NZZ (08.10.2011); (10.12.2011), Zeit-Online (10.12.2011) und anderen Zeitungen. 46 Seit 2008 häuften sich Meldungen über Einschränkungen der Pressefreiheit und Festnahme kritischer Journalisten; Ende 2010 zeigten sich Menschenrechtler be-
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von Nachrichten über die Menschenrechtslage wurde von staatlicher Seite unterbunden, nachdem er anscheinend eine gewisse Popularität erlangt hatte. Seit Mai 2007 organisierte Karman Demonstrationen und Sit-ins, so zur Verteidigung von Menschenrechten sowie aus Protest gegen die Korruption in der Regierung. Als sie Mitte Januar 2011, inspiriert durch die Ereignisse in Tunesien, Teile der studentischen Jugend erfolgreich mobilisierte, wurde sie kurz inhaftiert, nach Protesten gegen ihre Festnahme aber bald wieder auf freien Fuß gesetzt. Auflagen und Einschüchterungsversuchen zum Trotz setzte sie ihr Engagement fort und wurde zum „Symbol“ der Bewegung im Jemen. Um die Welt gingen Bilder, wie sie beherzt eine Gruppe von Männern anführt, eloquent Interviews an internationale Medien gibt (so nach der Bekanntmachung des Entschlusses des Nobelpreiskomitees) oder selbstbewusst bei der offiziellen Verleihung in Oslo auftritt. Ausgezeichnet wurde Karman (und zwei Liberianerinnen), laut der Begründung des Nobelpreiskomitees, „for their non-violent struggle for the safety of women and for women’s rights to full participation in peace-building work.“ Bereits 2010 hatte Karman (neben 9 weiteren Frauen aus der ganzen Welt) in New York den International Women of Courage Award für ihre „exceptional leadership and courage in the area of women's rights and equality“ (zitiert nach www.nobelprize.org bzw. Al-Sakkaf: 2010) erhalten. Der Kampf für Frauenrechte nimmt allerdings, zumindest im Vergleich zu anderen Aktivistinnen, keinen so prominenten Platz in Karmans Engagement ein, wie die erwähnten Begründungen der Juroren vermuten lassen. Es ist richtig, dass Karman 2004 ihren Gesichtsschleier (niqab) anlässlich einer Konferenz abgelegt hat – aus Gründen der Öffentlichkeitsarbeit und weil das „vom Islam nicht vorgeschrieben“, sondern eine „traditionelle Praxis“ (zitiert nach Al-Sakkaf: 2010) sei. Auch hat sie Frauen wiederholt aufgefordert, aktiv zu werden und dafür nicht erst die Erlaubnis oder Zustimmung (des Vormunds bzw. Ehemannes) einzuholen. Zudem hat sie erzkonservative Elemente in der IP verärgert, als sie sich im Oktober 2010 für die Festlegung des Mindestheiratsalters auf 17 Jahre aussprach und den Boykott diesbezüglicher Gesetzesvorlagen anprangerte. In ihrer Rede bei der offiziellen Nobelpreisverleihung stand jedoch wie zuvor das Plädoyer für die Ahndung der Verbrechen von Diktatoren (im Allgemeinen, implizit von
sorgt über die geplante Verschärfung des Pressegesetzes (Jemen – gesamt 2011: 10; WJWC 2010).
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Salih) im Vordergrund – dies, nachdem sie bei ihrem Besuch in New York und Washington im Oktober 2011 keine Unterstützung für dieses Vorhaben hatte erreichen können. Das Gewicht der gerade gekürten jüngsten Friedensnobelpreisträgerin wurde allem Anschein nach weit geringer eingeschätzt als das der führenden, aber unter den jugendlichen Demonstranten der ersten Stunde weitgehend diskreditierten Oppositionsparteien. Obwohl Karman wegen ihres Führungsstils in der Protestbewegung nicht unumstritten ist, hat die Preisverleihung Jemeniten mit Stolz erfüllt, wurden sie doch nun nicht mehr in erster Linie mit Al-Qaida und Terror assoziiert. Zudem mag die Karriere Karmans manche Jemenitinnen zu größerem Aktivismus beflügelt haben,47 wenngleich sich dies erst längerfristig angemessen beurteilen lassen wird. Karman selbst wirbt weiterhin für ihr Kernanliegen und wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass nicht einmal die erste Phase der Revolution abgeschlossen sei – so im Januar 2012 über den arabischen Sender Al-Jazeera. Gleichzeitig führte sie der Weg nach Doha (Qatar), wo sie um Unterstützung für die Etablierung eines „Senders Bilqis“ (benannt nach der sagenumwobenen Königin von Saba) nachsuchte.48
3. A BSCHLIESSENDE B EMERKUNGEN : „E RMÄCHTIGUNG “ VON F RAUEN IM J EMEN ? „It seems that as Yemen’s women have tried the taste of being publicly active and engaged in their own country’s affairs, they are likely to continue playing a significant role after the revolution, even if not as prominent.“ (Al-Sakkaf: 2011a: 161)
47 Vgl. Jamjoom/Almasmari 2011. 48 Tawakkul Karman tatlub min markaz al-Doha li-hurriyyat al-i‘lam da‘maha liitlaq qanat Bilqis (T.K. bittet das Zentrum für Freiheit der Medien um Unterstützung beim Start des Bilqis-Senders). In: Al-Masdar Online (Sanaa), (14.10.2011) http://www.almasdaronline.com/index.php?page=news&article-se ction=39&news_id=24516 (13.12.2011). Ihre Äußerungen zu Bilqis deuten auf ein unkritisches Geschichtsverständnis. Vgl. dagegen Al-Sakkaf 2012, die zu einer stärkeren Hinterfragung sog. Wahrheiten aufruft, die u.a. über Schulbücher vermittelt werden.
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„Will gender justice be included in the agendas of social transformation that are now taking shape in the Arab Spring? It’s too soon to know, but least women in Yemen are not afraid to make that demand.“ (Chen: 2011)
Die beiden Zitate spiegeln den vorsichtigen Optimismus Mitte 2011 wider: Die erste Aussage stammt von der Chefredakteurin (seit 2005) der unabhängigen englischsprachigen Yemen Times, die zweite von einer freien Journalistin aus den USA. Beide unterstreichen die wichtige Erfahrung aktiver Teilhabe an den Massenprotesten der vergangenen Monate besonders für jemenitische Frauen (aus ganz unterschiedlichen Bevölkerungssegmenten). Viele von ihnen haben erstmals ihre Meinung öffentlich kundgetan und den Eindruck gewonnen, dass auch ihre Stimme Gewicht haben kann. Insofern haben sie gleichberechtigte Teilhabe demonstriert, nicht aber unbedingt auf Transparenten oder anderen „displays“ dokumentiert. Somit ist eher der Einschätzung der Insiderin als der Außenbeobachterin zuzustimmen. Die Partizipation breiter Volksmassen an den Protesten wird sicherlich fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses werden und mag, da die Angst vor Grenzüberschreitung überwunden scheint, zukünftiges Engagement und Gestaltungswillen hervorbringen. Dennoch zeigen die Entwicklungen seit Ende 2011, dass ein fundamentaler Wandel in der politischen Struktur wie Kultur (inklusive tatsächlicher sozialpolitischer Ermächtigung von Frauen) noch nicht in Sicht ist. Die Verzögerungstaktik von Salih ist in gewisser Weise aufgegangen, da nun erneut die Kräfte, welche immer schon „allmähliche Reformen“ favorisierten und mehrheitlich dem alten Regime angehörten, übergangsweise die Macht übernommen haben. In der Übergangsregierung aus AVK und Vertretern der Opposition (JMP, Nationalrat) sind insgesamt nur drei Frauen vertreten49, die Jugend wurde nicht bedacht. Wichtige Ressorts (Erdöl-, Außen-, Verteidigungsministerium)
49 Vgl. Jemen – gesamt 2011: 6f. zur Kabinettsliste und http://govinthelab.com/ avaaz-yemen-update/ (16.01.2012): Hurriyya Maschhur, Yemeni Women's National Committee, Sprecherin des NC, jetzt Ministerin für Menschenrechtsfragen; Amat ar-Razzaq Hamad, Ministerin für Arbeit und Soziales, jetzt für Civil Services; Dschawhara Thabit, Stellvertretende Generalsekretärin der JSP, jetzt Staatsministerin für Kabinetts-Angelegenheiten. Al-Sakkaf (2011c) zeigte sich enttäuscht, dass die „viel diskutierte 20%-Quote“ (vgl. oben Anm. 36) nicht umgesetzt wurde.
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verbleiben wie die Kontrolle über Militär und Sicherheitsapparat in den Händen von Salihs Anhängern (AVK) oder Großfamilie. Die etablierte(n) Oppositionspartei(en) hatte(n) einen höheren Organisationsgrad aufzuweisen und verfügte(n) über bessere Kontakte (im In- und Ausland) als die neu geschaffenen Gruppierungen und Fraktionen der Protestbewegung, die zumindest bisher nur diverse, zudem vage politische Visionen vorgelegt haben. Die etablierten Kräfte sind zwar nicht weniger heterogen, den Hauptakteuren in der Region erschienen sie aber als die derzeit einzigen Garanten für Stabilität und einen „geordneten Wandel“. Die jugendlichen „Revolutionäre“ fühlen sich demgegenüber von den „Trittbrettfahrern“ ausgebootet. Enttäuscht und ernüchtert, wenngleich weiterhin kämpferisch, stellte Al-Sakkaf im Dezember 2011 (b) fest: „I fear that if we allow Yemeni politicians to resume business as usual, we will lose the massive opportunity presented by the Arab Spring, which should have been – and could still be – used to improve conditions for women in Yemen.“
Ihre Empfehlung lautet: Frauen sollten sich in der zweijährigen Übergangsphase in den noch zu bildenden Komitees auf allen Ebenen sichtbar einbringen. Trotz der dramatischen Szenarien, die manche Beobachter/innen zeichnen (Bürgerkrieg; Balkanisierung; wirtschaftlicher Kollaps etc.) und manche Akteure im Land bewusst schüren (Berichte über Schlägertrupps und Al-Qaida, die einige Gebiete unsicher machen), darf man gespannt sein auf die zukünftige Entwicklung im Jemen. Es ist zu hoffen, dass es den Aktivistinnen und Aktivisten mit Hilfe der jungen neuen Bildungsschicht gelingt, ihre Interessen in einer Agenda zusammenzuführen und diese gemeinsam durchzusetzen.
L ITERATURVERZEICHNIS Al-Hashad (2011): Al-Wilayat Al-muttahida „masduma“ Bi-Tawakkul Karman (übersetzt aus dem Arab.: US „schockiert“ über T.K.), (29.10.2011), http://hshd.net/news 11444.html (28.12.2011). Al-Sakkaf, Nadia (2011a): „Yemen’s revolution. The lack of public reasoning“, in: Heinrich Böll Stiftung (Hg.), Perspectives 23 (2), S. 159-162
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„Wir sind die Hälfte der Bevölkerung des Irans.“ Die Frauen in der Demokratiebewegung K ATAJUN A MIRPUR
F RAUEN IN DER G RÜNEN B EWEGUNG W AHLEN DES J AHRES 2009
UND DIE
Drei Millionen Menschen gingen am 17. Juni 2009 in Teheran auf die Straße, um gegen eine in ihren Augen gefälschte Wahl zu demonstrieren. Statt des damals und heute wieder amtierenden Präsidenten Mahmud Ahmadinejad hielten sie seinen Herausforderer Mir Hossein Moussavi für den Sieger der Wahl. Unter diesen Protestierenden waren besonders viele Frauen, und als die Revolutionswächter nach einigen Tages des Protests zu schießen und zu knüppeln begannen, waren es immer noch besonders viele Frauen, die an vorderster Front mitliefen und demonstrierten. Auch zum Gesicht dieser Protestbewegung wurde eine Frau. Die Studentin Neda Agha Soltan wurde am 20. Juni auf einer Demonstration gegen die vermutliche Wahlfälschung von einem mutmaßlichen Heckenschützen erschossen. Das Video, das ihr Sterben zeigt und um die Welt ging, machte die Brutalität des iranischen Regimes öffentlich – und weckte ungeahnte Aufmerksamkeit für diese Protestbewegung, die so jung und so weiblich daherkam. Es gibt Lieder ihr zu Ehren, in Oxford wurde ein Stipendium nach ihr benannt, und die bekannte amerikanische Bildhauerin Paula Slater arbeitete eine Büste nach ihrem Bild.
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Es ist kein Zufall, dass so viele Frauen gegen die vermutliche Wahlfälschung protestierten. Sie haben am meisten verloren in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Denn in Iran herrscht Geschlechter-Apartheid. Das System, das mit der Revolution von 1978/79 in Iran eingeführt wurde, hatte sich als erstes daran gemacht, die Rechte von Frauen einzuschränken. Nur Wochen nach dem Zusammenbruch des Pahlavi-Regimes wurde das fortschrittliche Familiengesetz aus dem Jahre 1967 aufgehoben und durch eines ersetzt, das auf den Vorgaben des islamischen Rechts beruhte: Das Recht auf Scheidung und das Sorgerecht geschiedener Frauen für die Kinder wurden eingeschränkt, das Mindestalter für die Verheiratung von Mädchen wurde zunächst auf dreizehn, dann auf neun Jahre herabgesetzt, Polygamie wurde erlaubt. Das Zeugnis einer Frau vor Gericht war fortan nur halb so viel wert wie das eines Mannes, das gleiche galt für die finanzielle Entschädigung bei einem Unfall mit tödlichem Ausgang: Die Hinterbliebenen einer Frau erhalten nur die Hälfte dessen, was als Entschädigung für ein männliches Opfer bezahlt wird. Das Leben einer Frau ist also nur halb so viel wert wie das eines Mannes. Das entsprach allerdings nicht dem, was sich viele der Aktivistinnen von der Revolution erwartet hatten: Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten waren aktive Teilnehmerinnen bei den Ereignissen, die 1979 zum Sturz der Monarchie führen sollten. Sie schlossen sich der revolutionären Bewegung aus einer Reihe von Gründen an – aus religiösen und säkularen, ökonomischen und politischen, konservativen, moderaten und radikalen. Ungeachtet dieser unterschiedlichen Motive erwartete die Mehrheit der Frauen, dass die Revolution eine Mehrung, nicht eine Einschränkung ihre Rechte und Chancen mit sich bringen würde. Sie erwarteten nicht, dass die Errungenschaften, die sie in den Jahrzehnten zuvor hatten erwirken können, wieder rückgängig gemacht würden. Sie sahen nicht voraus, dass Männern wieder einseitig das Recht auf Scheidung gegeben würde oder dass sie die Erlaubnis ihres Mannes benötigen würden, um arbeiten zu gehen. Sie hatten sich auch nicht vorgestellt, dass sie an ihrer Arbeitsstätte nicht mehr willkommen sein würden; dass ein neues Strafrecht, für Frauen spezielle Strafen vorsehen würde und dass sie das Recht verlieren würden, selbst zu entscheiden, was sie anziehen. Sie hatten nicht vorausgesehen, dass eine Gesellschaft entstehen würde auf der Basis von Geschlechtersegregation. Shahla Sherkat beispielsweise. Sherkat ist eine Islamistin wie sie im Buche steht. Wer so verschleiert ist wie sie, trägt das Kopftuch auch dort,
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wo sie nicht muss und sie keine Islamische Republik Iran dazu zwingt. Sozialisiert wurde Sherkat in der Islamischen Revolution. Hier, im antiimperialistischen Kampf und im Kampf gegen die Schah-Herrschaft hatte die Studentin der Psychologie in den siebziger Jahren ihre politische Heimat gefunden. Und dann zählte sie zu den Gewinnern der Revolution. Ihr übergab man die Verantwortung für eine eigene Zeitschrift. Sie wurde Chefredakteurin der populären Frauenzeitschrift Zan-e ruz, die es schon zu Schahzeiten gegeben hatte. Doch 1991 verließ Shahla Sherkat die staatliche Zan-e ruz und gründete ihre eigene Frauenzeitschrift. Anlass waren Differenzen mit den Herausgebern gewesen, also dem Staat. Denn wie viele Frauen hatte Sherkat angenommen, dass die Revolution auch ihnen Befreiung bringen würde. Das war nicht geschehen. Doch mit Blick auf die politischen Prioritäten – es herrschte Krieg – hatte sie den Kampf für Gleichberechtigung in den ersten Jahren nach der Revolution zurückgestellt. Als Sherkat merkte, dass die ehemaligen Revolutionäre unter revolutionärer Befreiung auch Jahre nach dem Krieg immer noch nicht die Befreiung der Frau vom Patriarchat verstanden, zog sie ihre Konsequenzen: Sie gründete Zanan und wollte für ihr Projekt die bekannte Juristin Mehrangiz Kar gewinnen. Das war insofern ein mutiger Schritt, als Kar nach der Revolution mit den Machthabern Probleme bekommen hatte, weil ihr Gesicht vor der Revolution in der Zeitung ohne Kopftuch zu sehen gewesen war und weil sie unter dem Schah-Regime im Staatsdienst gestanden hatte. Kar willigte in die Zusammenarbeit ein und sollte als Rechtsexpertin später über anderthalb Jahrzehnte – Zanan wurde 2008 geschlossen – die iranischen Frauen über ihre Rechte aufklären, Kampagnen anführen, Neuinterpretationen des islamischen Rechts fordern. Auch für Kar war diese Zusammenarbeit ein mutiger Schritt. Entsprechend zurückhaltend reagierte sie zuerst auf Sherkats Idee. Sie wusste, was passieren würde: dass sie sich die Feindschaft all derer zuziehen würde, die meinen, Islam und Feminismus seien ein Widerspruch; das, was nun unter dem Namen „islamischer Feminismus“ bekannt wurde, könne es nicht geben.
I SLAMISCHER F EMINISMUS Die Debatte über das Phänomen des islamischen Feminismus – vor allen unter Exiliranerinnen geführt – wurde hitziger als Afsaneh Najmabadi, Pro-
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fessorin für Geschichte und Frauenstudien in den USA, im Jahre 1994 einen Vertrag hielt, bei dem sie den islamischen Feminismus, für den die Zeitschrift Zanan ihrer Meinung nach stand, als eine Reformbewegung beschrieb, die den Dialog zwischen religiösen und säkularen Feministinnen eröffnen könnte. Najmabadi erklärte, ihr Enthusiasmus für den islamischen Feminismus beruhe auf der Einsicht, dass es einen gemeinsamen Nenner zwischen den säkularen Feministinnen und den religiösen geben könne: der Versuch, den rechtlichen und sozialen Status von Frauen zu verbessern.1 Heftig attackiert wurde Najmabadi dafür von der Fraktion der iranischen Linken. Haideh Moghissi, Professorin für Soziologie an der York’s School for Women’s Studies, beispielsweise entgegnete: „Es ist eine Mode geworden, sich enthusiastisch über die Reformbemühungen von muslimischen Frauen zu äußern und auf ihrer gedanklichen Unabhängigkeit zu bestehen.“2 Sie kritisierte „diese Apologeten der Islamischen Regierung“ und erklärt, der Terminus Feminismus werde falsch und in unverantwortlicher Weise verwendet. Plötzlich seien alle islamischen aktiven Frauen islamische Feministinnen, „obschon ihre Aktivitäten nicht einmal in die breiteste Definition von Feminismus passen.“ Diese Ansicht war in den neunziger Jahren vor allem unter ExilIraner/innen vorherrschend. Sie erklärten, dass es keine Verbesserung von Frauenrechten geben könne, solange die Islamische Republik existiere. Ein Kampf innerhalb des Systems verflache die Ziele des Feminismus und trage nur zum Fortbestand der Islamischen Republik bei. Als säkulare, linke Feministin – die meisten der Kritikerinnen und auch Kar hatten diesen Hintergrund – dürfe man sich auf keine islamische Begründung für Frauenrechte einlassen. Inzwischen, über 20 Jahre nach Beginn der Debatte und nach mehr als dreißig Jahren Kampf um Frauenrechte in der Islamischen Republik, scheint jedoch Konsens zu sein, dass der islamischen Unterfütterung von Argumenten zumindest ein gewisser praktischer Nutzen abzugewinnen ist – und sei es als Mittel zum Zweck. Der islamische Feminismus hat sich als
1
Vgl. Najmabadi 1998: 59-84; dies.: 2000: 29-45.
2
Moghissi 1998: 42.
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theoretische Richtung etabliert, wovon auch die umfangreiche Literatur zeugt, die ihm inzwischen gewidmet wird.3 Ziba Mir-Hosseini definiert ihn als „a gender discourse, that was and is feminist in its aspiration and demands, yet Islamic in its language and sources of legitimacy.“4 Margot Badran schreibt: „The basic argument of Islamic Feminism is that the Qur’an affirms the principle of equality of all human beings but that the practice of equality of women and men (and other categories of people) has been impeded or subverted by patriarchal ideas (ideology) and practices.“5
Und Nayereh Tohidi erklärt: „In short, I see Muslim feminism or ‚Islamic feminism‘ as a faith-based response of certain strata of Muslim women in their negotiation with and struggle against the old (traditionalist patriarchy) on the one hand and the new (modern and post-modern) realities on the other.“6
Vermutlich muss so und nicht anders argumentieren, wer in einem System etwas erreichen will, in dem sich alles und jeder auf die Religion beruft. Von diesem System und wie der Kampf der iranischen Frauen für Gleichheit und Gerechtigkeit in der Praxis aussieht, soll im Folgenden die Rede sein. Denn was Zanan in den neunziger Jahren begonnen hat, findet heute seinen Niederschlag in einer breit angelegten Kampagne, der Kampagne Eine Million Unterschriften. Zwar ist Iran ein Land, in dem in rechtlicher Hinsicht Apartheid herrscht. Andererseits ist Iran ungeachtet der rechtlichen Diskriminierung
3
Siehe neben der bereits oben erwähnten Literatur: Kian 1997; dies. 1996; dies. 1998; Badran 2002; dies. 2005; dies. 2006; Moghaddam 2002; Roald 1998; Sheikh 2003; Simmons 2003; Mirza 2006.
4
Mir-Hosseini 2006: 640.
5
Badran 2002.
6
http://www.amews.org/review/reviewarticles/tohidi.htm In diesem Aufsatz geht sie auf die Kontroverse um den Begriff ein und zwar nicht nur auf die im iranischen Kontext, sondern auch in anderen Zusammenhängen, wo ähnliche Einwände gegen den Begriff und den Gedanken formuliert werden.
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heute auch ein Land, in dem zwei Drittel aller Studierenden Frauen sind. Frauen halten ein Drittel aller akademischen Doktorgrade; sie werden Abgeordnete, Ärztinnen, Lehrerinnen und Bürgermeisterinnen und Polizistinnen. Sogar die absolute Männerdomämne des Nahen Ostens haben sie erobert, den Straßenverkehr. Sie fahren Taxi, und sie werden Rennfahrerinnen. Und sie üben in Massen den Männersport Karate aus. Eine Million Mitglieder hat der iranische Frauenkarateverband – Karate als Antwort auf ein Rechtssystem, das es Männern gestattet, ihre Frauen zu schlagen? So könnte man das deuten. Auch im künstlerischen Bereich haben die Frauen einen festen Platz gefunden: Ihre Romane erobern die Bestsellerlisten und sie machen Filme. Einige Regisseurinnen sind inzwischen zu internationalem und nationalem Ruhm gelangt und sie nutzen ihr Können und ihren Einfluss: Rakhshan Bani Etemad beispielsweise. Von dem Mann, den sie für den wahren Sieger der Wahlen des Jahres 2009 halten, von Mir Hossein Moussavi, hatten sich viele gesellschaftlich und politisch aktive Frauen eine deutliche Verbesserung ihrer Lage versprochen – und sie hatten auf ihre Lage aufmerksam gemacht und sich an die Politiker gewandt. Rakhshan Bani Etemad hatte im Frühjahr 2009, kurz vor der Wahl, ein erschütterndes Zeugnis der Situation iranischer Frauen vorgelegt. In ihrem Film „Wir sind die Hälfte der Bevölkerung Irans“, der diesem Aufsatz den Titel gab, zeigt Bani Etemad Fälle von sozialer und gesellschaftlicher Not; Frauen in prekärer Lage. Und sie zeigt die Versammlungen von Frauen unterschiedlichster politischer Couleur, die sich gemeinsam mit ihren Forderungen an die vier Präsidentschaftskandidaten wenden. Genannt werden: Beitritt zur CEDAW, Änderung des Scheidungsrechts, Änderung des Polygamieparagraphen. Zu sehen sind Diskussionen unter den Frauenrechtlerinnen, in denen offen angesprochen wird, dass man als Journalistin das Wort „Frauenbewegung“ nicht in der Zeitung schreiben dürfe und das Wort Zan, Frau, gefiltert werde, sodass man nicht einmal „Frauenkrankheiten“ googeln könne.7 Zum Drehbuch gehörte jedoch auch, alle vier Präsidentschaftskandidaten einzuladen, sich den Film anzuschauen – und ihre Reaktion aufzunehmen. Auch die Reaktion ist also Teil des Films. Alle vier Präsidentschaftskandidaten wurden eingeladen, Ahmadinejad kam gar nicht erst, Präsidentschaftskandidat Mir-Hossein Moussavi erschien zur Filmvorführung mit
7
http://www.youtube.com/watch?v=l_BinbdFndI&feature=related (05.06.2009).
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seiner Frau, Zahra Rahnavard. Und als Moussavi nicht mehr als Standardfloskeln von sich zu geben wusste – à la Kultur und Gesellschaft müssen sich ändern –, fiel sie ihm ins Wort. „Das größte Problem ist das Rechtssystem“, entfuhr es ihr in aller Deutlichkeit: „90 Prozent aller Gesetze in diesem Land sind gegen die Frau.“8 Zahra Rahnavard, die Ehefrau von Moussavi, war Kanzlerin einer Universität, bevor Ahmadinejad kurz nach seinem Amtsantritt im Jahre 2005 alle iranischen Universitäten von unliebsamen Professoren, sie eingeschlossen, säubern ließ. Rahnavard ist sicher keine Radikalreformerin, und sie bewegt sich in einem Rahmen, den manche für zu eng islamisch halten. Doch sie hat sich in den vergangenen dreißig Jahren immer wieder zu Wort gemeldet und sich für Frauenrechte stark gemacht. Sie fordert mehr politische Partizipation und mehr Vertretung von Frauen durch Frauen im Parlament. Viele dachten während des Wahlkampfes, dass Moussavi mit dieser Frau an seiner Seite gar nicht anders könne, als sich für Gleichberechtigung einsetzen, wenn er Präsident wird. Vielleicht war Zahra Rahnavard sogar wahlentscheidend. Denn zu Anfang standen die Chancen Ahmadinejads, der die offiziellen Medien kontrollierte und mit Staatsgeldern Wahlgeschenke verteilte, gar nicht schlecht. Das belegen auch Umfragen von unabhängiger Seite. Doch dann fand jenes denkwürdige TV-Duell zwischen Ahmadinejad und Moussavi statt: Bei diesem Duell hielt plötzlich Amtsinhaber Ahmadinejad seinem Herausforderer Moussavi ein Bild von dessen Frau entgegen und behauptete, sie, die Hochschulprofessorin und Frauenrechtlerin, habe sich ihre Diplome erschlichen.9 In dem Moment hatte Ahmadinejad viele Sympathisanten verloren. So sagen zumindest viele Iraner. Es war dieses fies-feiste Begam, begam (soll ich es sagen, soll ich es sagen), durch das sich viele sich an die inquisitorischen Situationen erinnert fühlten, die fast ein jeder schon erlebt hat: Einbestellt von einem revolutionären sogenannten Komittee, weil das Kopftuch zu weit hinten, die Musik im Auto zu laut. Und dann die Reaktion von Moussavi: Der spröde Wirtschaftsfachmann wurde wütend und leidenschaftlich und verteidigte auf rührende Art seine
8
Ebd.
9
http://www.youtube.com/watch?v=Luvx4gwgdSg&feature=related (02.02.2012).
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Frau gegen die Diffamierung. Diese Art der zärtlichen Verbundenheit, die das Ehepaar auch im Wahlkampf zeigte, hatte viele auf eine Änderung im Politikstil hoffen lassen – zumal Rahnavard bei jedem Wahlkampfauftritt ihres Mannes dabei war und immer die abschließenden, frenetisch bejubelten Worte sprach – sogar auf Moussavis offiziellem Wahlkampfspot.10 Auch das kannte man bisher nicht in der Islamischen Republik Iran: Dass der Mann seiner Frau das letzte Wort lässt. Wegen ihr oder weil sie mit ihm war, waren viele Frauen im Wahlkampf für Moussavi aktiv und unterstützten ihn.11 Kein Wunder war es daher, dass die Frauen besonders enttäuscht waren nach dem angeblichen Wahlausgang – und zu Hunderttausenden auf die Straßen gingen. Neben „Wo ist meine Stimme“ und „Kein Krieg, keine Lügen, Freiheit“ war „Frauen = Männer“ der Slogan, den man am häufigsten bei den Demonstrationen sah. Davon zeugen viele Bilder, die man leicht findet, wenn man ein google-search unternimmt. Dass unter den Protestierenden im Juni 2009 besonders viele Frauen waren, hat jedoch nicht nur etwas mit der Demütigung und Benachteiligung im täglichen Leben zu tun, sondern auch mit der wichtigen Rolle, die die Frauenbewegung um die Zeitschrift Zanan und die Eine-Million-Unterschriften-Kampagne in den Jahren zuvor gespielt hat. Diese Bewegung hat nicht nur ein soziales Netzwerk geschaffen, auf dem die neuen Proteste aufbauen konnten, sondern auch eine neue Mentalität der Kooperation: säkulare und islamisch orientierte Feministinnen hatten nach vielen Jahren und sicher durch die prägenden Rolle von Zanan gelernt, gemeinsam für ihre Ziele zu kämpfen. Hinzu kommt: Die Islamisierung führte in Iran zwar zu einer massiven rechtlichen Benachteiligung der Frauen, und sie hatte auch eine Separierung der Geschlechter zur Folge, nicht aber den Ausschluss der Frauen aus der Gesellschaft. Frauen waren entgegen der landläufigen Meinung niemals einflusslos. Sie waren nie von der Erwerbstätigkeit ausgeschlossen, und die Erwerbstätigkeit gilt gemeinhin als Voraussetzung für die Forderung nach politischen Rechten, da sie die ökonomische Unabhängigkeit vom Mann
10 http://www.youtube.com/watch?v=RCkSCP22t-Q (02.02.2012). 11 Sehr eindrucksvoll ist das auf diesem CNN-Bericht zu verfolgen: http://www. youtube.com/watch?v=iHtqkkwvzVM (02.02.2012).
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garantiert.12 Auch ein Absinken der Qualität der Ausbildung war nicht festzustellen. Wie Val Moghadam gezeigt hat, widerlegt die kontinuierliche Partizipation von Frauen in Öffentlichkeit und Gesellschaft die Idee einer theokratischen und männlich-dominierten Gesellschaft.13 Im Gegenteil: Wenn die Frauen durch die Revolution etwas gewonnen haben, dann Bildung und Gesundheit. Im Jahre 1975 lag die Analphabetenquote von Frauen in den Städten bei 45, auf dem Land bei mehr als 45 Prozent. Heute können 97 Prozent aller Frauen zwischen 15 und 24 Jahren lesen und schreiben. Auch die gesundheitliche Versorgung hat sich gewaltig verbessert. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen liegt heute bei 72 Jahren, die der Männer zwei Jahre darunter.14 Die Gründe für die starke Präsenz der Frauen im Berufsleben sind zahlreich: Frauen waren vor der Revolution in den Arbeitsmarkt gut integriert und vereinfacht gesagt, war dieser Prozess schlicht irreversibel. Frauen aus allen Bereichen der Arbeitswelt weigerten sich, wieder nach Hause zu gehen. Befördert wurde die Teilhabe der Frauen zudem durch den iranischirakischen Krieg – und die damit verbundenen ökonomischen Notwendigkeiten. Da zeitweise eine Million Männer Kriegsdienst leisteten, mussten die Frauen ihre Jobs übernehmen. Viele Frauen mussten aus finanziellen Gründen arbeiten, und der Staat brauchte ihre Fähigkeiten. Deshalb sind heute auch viele säkulare Intellektuelle überzeugt, dass die Islamische Revolution die Stellung der Frauen in mancherlei Hinsicht verbessert hat.15 Heute gibt es viele Frauen, die aus traditionellen Familien kommen, aber dennoch studieren und am politischen, sozialen und wirt-
12 Moghadam vergleicht die Beschäftigungszahlen der Jahre 1974/75 und 1983/84. Sie begründet die Tatsache, dass die Erwerbstätigkeit der Frauen nicht abgenommen hat, mit den Erfordernissen des Krieges, der Wirtschaftsmisere, dem Mangel an qualifizierten Kräften etc. (Vgl. Moghadam 1988: 231ff.) Ihr widerspricht Haleh Afshar; laut Afshar sind Frauen sehr wohl aus dem Erwerbsleben gedrängt worden. (Afshar 1996: 127). Azadeh Kian hingegen schließt sich der Auffassung von Moghadam an (Kian 1995: 412). 13 Vgl. Moghadam 1988: 239. 14 Zur Geschichte der Frauenbewegung in Iran siehe: Paidar 1995; Sanasarian 1981; Nashat 1983. 15 Vgl. Kian 1996.
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schaftlichen Leben teilnehmen.16 Früher wurden diese Frauen von ihren Vätern daran gehindert, das Haus zu verlassen. Sie hielten die Universitäten für einen Hort der Unmoral und fürchteten, ihre Töchter müssten am Arbeitsplatz unsittliche Kontakte zu Männern pflegen – bzw. ihnen die Hand geben. Und so zynisch es klingen mag: Ein nicht unbeträchtlicher Faktor für die Bewusstwerdung der islamischen Frauen war außerdem gerade die religiöse Autokratie; sie provozierte die Forderungen nach Gleichberechtigung durch ihre rigide, frauenfeindliche Politik. Die Islamische Revolution hatte im Gegensatz zu der in der frühen Literatur verbreiteten Meinung also durchaus emanzipatorische Auswirkungen; erst sie bereitete den Weg für ein öffentliches feministisches Bewusstsein. Zudem liegt das Scheitern der Regierungspolitik auch in der massiven Mobilisierung und Partizipation von Frauen – auch jenen aus den traditionellen Schichten – während der Revolution begründet. Die Geistlichen trugen somit sogar dazu bei, dass Frauen die öffentliche Sphäre infiltrierten. Frauen hatten demonstriert, protestiert, gewählt. Nun waren sie da – und waren auch nicht mehr weg zu kriegen. Langsam begehrten die Frauen gegen die rechtlichen Ungerechtigkeiten auf. Hinzu kommt: Zwar hatten die iranischen Frauen nach der Revolution viele bürgerliche Rechte verloren, aber es waren ihnen die politischen Rechte, die sie unter dem Schah erworben hatten, geblieben. Und damit begannen sie zu kämpfen: Frauen, die sich vor der Revolution nicht um Frauenfragen gekümmert hatten und die einige Errungenschaften, die auf die Arbeitsgesetzgebung zurückgingen, für selbstverständlich gehalten hatten – das Gesetz zum Schutz der Familie, Kindergärten etc. – verteidigten nun aktiv Frauenrechte, als sie sahen, dass diese Rechte bedroht waren. Frauen durch das gesamte soziale Spektrum hindurch waren von der neuen Gesetzgebung im Scheidungsrecht betroffen und empfindlich getroffen. Der größte Protest gegen die Suspendierung des Gesetzes zum Schutze der Familie kam aus traditionellen Kreisen. Ganz gleich was die Agenda der Islamischen Republik auch war: Die Frauen weigerten sich schlicht nach der Revolution zu der traditionellen Rolle als Hausfrau und Mutter zurückzukeh-
16 Zur Ausbildung von Frauen vgl. Higgins, Patricia J./ Shoar-Ghaffari 1994; über ihren Zugang zu ökonomischen Ressourcen: Aghajanian 1994; über ihren Anteil am Erwerbsleben: Moghadam 1994.
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ren, in die das Regime sie drängen wollte. Auf unzählige verschiedene Arten und Weisen reklamierten sie den öffentlichen Sektor für sich. Frauen kämpften gegen die Suspendierung des Gesetzes zum Schutze der Familie, indem sie an die Büros von bekannten Geistlichen schrieben. Sie bombardierten die weiblichen Mitglieder des Parlaments mit Briefen, Frauenzeitschriften schrieben über die missliche Lage von Frauen und füllten ihre Leserbriefsparten mit Berichten über dieses Thema. Die Regierung konnte diese Unmutsäußerungen nicht ignorieren, denn sie kamen von Frauen, die im traditionellen Islam verwurzelt waren und somit zur ureigensten Klientel der neuen Herrschenden zählten. Sogar eine Reihe von Töchtern ranghoher Geistlicher nahm sich der Anliegen dieser Frauen an.17 Schließlich machte die Regierung in Bezug auf das Gesetz zum Schutz der Familie, das sie noch kurz vorher als unislamisch gebrandmarkt hatte, einen Rückzug. Wesentliche Teile des Gesetzes wurden wieder eingeführt.18 Schon bald nach der Revolution entstand zudem eine emanzipatorische Frauenbewegung, die mit islamischen Argumenten für Gleichberechtigung kämpfte. Dass Frauen nicht gleichberechtigt sind, liegt für die islamischen Frauenrechtlerinnen nicht am Koran, sondern daran, dass bisher nur Männer den Koran interpretiert haben. Sie hätten den Koran ausschließlich zu ihren eigenen Gunsten ausgelegt. Gleichberechtigung ist deshalb grundsätzlich möglich. So argumentiert beispielsweise Shirin Ebadi, die Juristen und Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 2004. Kritikerinnen wie Ebadi sind für die konservativen Geistlichen weit gefährlicher als säkulare Intellektuelle, denn hier werden sie mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Ebadi benutzt genuin islamische Argumente, um Forderungen durchzusetzen, die in ihrer Konsequenz denen der säkular argumentierenden Frauen kaum nachstehen; ihr Begehren wird jedoch aufgrund ihrer Argumentation nicht von vornherein mit dem Vorwurf, sie seien areligiös, abgeschmettert. Obschon sie sich besonders im Bereich der Frauenrechte engagiert, lässt sich Ebadi nicht gerne als Feministin bezeichnen – aus einem einfachen Grund: Sie will nicht kategorisiert werden – und wenn doch, dann möchte sie sich lieber als Menschenrechtsverteidigerin bezeichnen lassen. Denn Menschenrechtler setzten sich für Gleichheit und Gerechtigkeit beider Ge-
17 Unter den Frauenrechtlerinnen finden sich einige Töchter und Ehefrauen prominenter Geistlicher. Vgl. Amirpur 1999. 18 Vgl. Esfandiari 1997: 43.
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schlechter sowie der Religionen, der Rassen ein, als Menschenrechtsverteidiger befürworte man ohnehin die gesetzliche Gleichberechtigung der Geschlechter, argumentiert sie. Aus dieser Haltung – als Verteidigerin der Menschenrechte – resultiert auch ihre Position zum Kopftuch. Zwar lehnt sie den Kopftuchzwang, wie er in Iran herrscht ab, denn es müsse die freie Entscheidung der Frauen sein, ob sie ein Kopftuch tragen wollen oder nicht. Andererseits sagt sie, die Präsenz von Frauen in den verschiedensten Sphären der iranischen Gesellschaft, belege, dass Kopftuch und gesellschaftliche Aktivität keine unüberwindbaren Gegensätze sind. Sie wird nicht müde zu verneinen, was alle Fragenden immer wieder unterstellen: Dass das Kopftuch für den Ausschluss der Frauen aus der Gesellschaft stehe. Iran sei dafür ein gutes Gegenbeispiel – und außerdem lägen die wesentlichen Probleme der Frauen ohnedies im rechtlichen Bereich.
D IE K AMPAGNE Bei den rechtlichen Problemen der Frauen setzt die Kampagne Eine Million Unterschriften an, die im Sommer 2006 ins Leben gerufen wurde. Ziel ihrer Kampagne ist es, innerhalb von zwei Jahren eine Million Unterschriften zu sammeln, denn dann müsste sich laut Verfassung das iranische Parlament damit beschäftigen. Vorbild ist eine Aktion in Marokko, wo König Hassan II. im Jahr 2004 die rechtliche Gleichstellung der Frau verfügte, nachdem innerhalb von zwei Jahren eine Million Unterschriften gesammelt worden war. An der iranischen Kampagne beteiligen sich Frauenaktivistinnen verschiedener politischer Couleur: säkulare und religiöse, linke und rechte. Ziel ist es, ein landesweites Netzwerk zu schaffen. Frauen aller gesellschaftlichen Schichten sollen miteinander in Kontakt gebracht werden. Im Anschluss an die Sammlung von einer Million Unterschriften sollen die Forderungen der Frauenrechtlerinnen in einen Gesetzesentwurf gegossen werden. Wenn zwei Drittel der Abgeordneten zustimmen, könnte danach in einem Volksentscheid darüber abgestimmt werden. Der Frauenbewegung geht es dabei um zweierlei: um die Veränderung des Rechts, das Frauen benachteiligt, und um die Veränderung der Kultur, denn die diskriminierenden Gesetze spiegeln konservative, traditionelle Ansichten und Lebensgewohnheiten wieder und finden dort ihren Rückhalt. Die Kampagne Eine Million Unterschriften setzt also auf den doppelten Wandel von
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Recht und Bewusstsein, und deshalb ist sie so wichtig, denn sie macht Arbeit an der Basis. Das Bewusstsein bestimmt und ändert das Sein, ist ihr Ansatz. Folgendes Gründungsdokument findet sich im Internet unter www.we-change.biz: „Alle Gesetze im Iran betrachten die Frauen als ein zweitrangiges Geschlecht und diskriminieren sie. Dies geschieht in einer Gesellschaft, in der mehr als 60 Prozent der immatrikulierten Studenten weiblich sind. In vielen Gesellschaften glaubt man, dass das Gesetz immer ein Schritt weiter sein müsse als die Kultur, damit die gesellschaftliche Kultur wachsen könne. Im Iran hinken die Gesetze jedoch hinter der Kultur und der Lage der Frauen hinterher. Dieses Projekt soll auf einer breiten gesellschaftlichen Basis einen positiven gesellschaftlichen Wandel herbeiführen. Das Ziel dieser Bewegung ist deutlich definiert und es ist berechtigt. Das Ziel ist, die frauendiskriminierenden Gesetze abzuschaffen.“19
In ihrem Gründungsdokument benennt die Kampagne Eine Million Unterschriften die rechtlichen Ungerechtigkeiten in deutlichen Worten: „Laut Gesetz ist ein neunjähriges Mädchen vollständig strafmündig. Wenn das Mädchen eine Straftat begeht, die mit der Todesstrafe geahndet wird, kann das Gericht die Todesstrafe verhängen. Wenn eine Frau und ein Mann auf der Straße einen Unfall verursachen und beide gelähmt werden, bekommt die Frau nach dem geltenden Gesetz nur halb so viel Schmerzensgeld wie der Mann. Wenn sich etwas vor den Augen einer Frau und eines Mannes ereignet, wird die Zeugenaussage einer Frau, die alleine ist, nicht akzeptiert, aber die Zeugenaussage eines Mannes wird akzeptiert. Laut Gesetz kann der Vater, mit Erlaubnis des Gerichtes, seine 13-jährige Tochter sogar an einen 70jährigen Mann verheiraten. Laut Gesetz darf die Mutter nicht die finanzielle Verantwortung für ihre Kinder übernehmen. Die Mutter darf nicht über den Wohnort, über die Ausreiseerlaubnis und noch nicht einmal über die Heilungsmaßnahmen ihrer Kinder entscheiden. Laut Gesetz dürfen die Männer mehrere Frauen haben und ihre Frauen verstoßen, wann sie es wollen.“20
Shirin Ebadi, die bekannte Dichterin Simin Behbahani, und die erste Verlegerin Irans, Shahla Lahiji, die sich seit jeher einen Namen als streitbare
19 http://www.we-change.org/english/spip.php?article40 (02.02.2012). 20 http://www.we-change.org/english/spip.php?article40 (02.02.2012).
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Kämpferinnen für Frauenrechte gemacht haben, waren unter den Erstunterzeichnern dieser Erklärung. Simin Behbahani war in den letzten dreißig Jahren nie müde geworden daran zu erinnern, dass die iranischen Frauen keineswegs die bemitleidenswerten schwachen Geschöpfe seien, für die sie Ausland immer gehalten werden, sondern ausgesprochene Power-Frauen.21 Die Kampagne gibt der 1927 geborenen grande dame der persischen Poesie und Vorsitzenden des iranischen Schriftstellerverbandes Recht. Und Shahla Lahiji, die im Jahre 2001 den PEN-Preis für verfolgte Schriftsteller bekam, hat gerade in Bezug auf den weitestgehend als gescheitert angesehenen politischen Reformprozess unter Mohammad Khatami immer betont, dass es trotz allem und trotz aller erlittener Rückschläge in Iran eine positive Veränderung in der Auseinandersetzung um Frauenrechte gegeben hat. Das Thema Frauenrechte würde jetzt immerhin von weiten Teilen der Bevölkerung diskutiert, während bis vor kurzem der Diskurs auf einige intellektuelle Zirkel beschränkt war.22 Am 27. August 2006 lief die Kampagne Eine Million Unterschriften für Gleichberechtigung offiziell an. Im ganzen Land waren Hunderte von Frauen unterwegs, sie gingen von Haus zu Haus, sprachen die Leute auf den Straßen, in Bussen und Sammeltaxis an, gingen zu Zeitungsredaktionen, in die Moscheen, Hochzeits- und Trauerfeiern, kurz: überall dorthin, wo sie Frauen antreffen können. Die Sammlung von einer Million Unterschriften ist dabei nur eine der Säulen dieser Kampagne. Sie will auf einer breiten gesellschaftlichen Basis einen positiven gesellschaftlichen Wandel herbeiführen. Außerdem ist die Schaffung einer offenen Diskussion auf einer breiten gesellschaftlichen Basis ihr Ziel. Die Aktivistinnen sollen in direkten Kontakt mit den Bürgern treten, damit ein Bewusstsein für die Alltagsnöte und -probleme der Menschen entsteht – insbesondere auf der juristischen Ebene. Gleichzeitig sollen diese Bemühungen die Kontakte verschiedener Gruppen untereinander intensivieren. „Eine der positiven Folgen könnte sein, dass die verstummten Frauen eine Stimme bekommen.“23 Grundlage dieser Kampagne ist „der Glaube an das Wachstum des Bewusstseins, an eine Gesprächskultur unter den Bürgern und an die Erlernung von kollektiven demokratischen Aktivitäten im Sinne der Reformen
21 Interview der Autorin (Juli 1997). 22 Interview der Autorin (Oktober 2002). 23 http://www.we-change.org/english/spip.php?article39 (02.02.2012).
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von unten, d.h. aus der Mitte der Gesellschaft und nicht von oben.“24 Ein gesellschaftlicher Wandel sei nur dann langfristig garantiert, wenn dieser gesellschaftlich verwurzelt sei und aus der Mitte der Gesellschaft komme. Zudem müssten die Frauen verstehen, dass ihre juristische Probleme keine individuellen oder privaten Probleme seien, und dass eine große Zahl von Frauen dagegen kämpfe. Der Text der Erklärung wendet sich gegen die vermutete Unterstellung, dass die Forderungen der Frauenbewegung nur von einer Minderheit getragen würden. Die Initiatoren erklären, die erfolgreiche Durchführung dieser Kampagne werde zeigen, dass die berechtigten Forderungen zur Veränderung der diskriminierenden Gesetze „nicht von vier bis fünf Tausend Frauen ausgehen. Im Gegenteil, diese Forderung stellt eine umfassende Forderung dar.“25 Das Gros der iranischen Frauen und Männer würde unter den existierenden gesetzlichen Ungleichheiten leiden. Die Initiatorinnen der Kampagne legen viel Wert darauf zu betonen, dass die Forderungen nach Veränderung und Reformierung der Gesetze nicht nur Forderungen einer bestimmten Schicht von Frauen ist. „Um die Aktivist/innen zum Schweigen zu bringen, werfen die Gegner der Kampagne diesen vor, lediglich aus Langeweile, Profilierungssucht usw. zu handeln. Dieser Vorwurf entbehrt allerdings jeglicher Wahrheit! Denn die ungerechten Gesetze wirken sich auf das Leben aller iranischen Frauen aus, gleich ob sie gebildet oder Analphabetin, ob sie wohlhabend oder arm, ob sie ledig oder verheiratet sind, ob sie vom Land oder aus der Stadt kommen.“26
Die Kampagne ist langfristig angelegt und soll solange andauern, bis Eine Million Unterschriften gesammelt worden sind. Angenommen wurde zu Beginn, dass dies bis zu zwei Jahre dauern kann, inzwischen geht man jedoch davon aus, dass es weit mehr Zeit in Anspruch nehmen könnte. Aber die Erklärung betont mehrfach, dass das Sammeln von einer Million Unterschriften nur eine der geplanten Aktivitäten im Rahmen der Kampagne sein soll. Betont wird der Informationscharakter der Kampagne.
24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd.
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Es dürfen Frauen und Männer unterzeichnen. Diese Unterschriften werden in speziellen Formularen gesammelt, damit alle Unterschriften einheitlich sind. Hier können die Unterzeichner auch eintragen, welchen Gesetzesänderungen ihrer Ansicht nach Priorität zukommt. Zudem werden die Unterschriften auf der entsprechenden Website dokumentiert. Die Interessenten, die sich an der Kampagne beteiligen wollen, werden aufgefordert, an die folgende e-mail Adresse zu schreiben: [email protected] oder an: Teheran, Postfach 14335-851. All diese Hinweise und Angaben zeigen, wie durchdacht und gut organisiert die Kampagne ist. Davon zeugt auch der mehrsprachige InternetAuftritt, der sehr professionell gemacht ist. Es finden sich dort alle Schritte der Kampagne in Artikeln und einem Film dokumentiert. Zudem gibt es viele weiterführende Links zur Thematik und zahlreiche Artikel und Interviews, in denen es um Frauenrechte und die Frauenbewegung in Iran geht – vor allem natürlich mit Frauenrechtlerinnen und besonders der neuen Ikone der Frauenbewegung, der Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi, aber auch mit Männern, beispielsweise dem Regisseur Jafar Panahi, der sich mit seinem Film „Der Kreis“, der Frauenschicksale beschreibt, einen Namen gemacht hat.27 Einfühlsame Berichte der Aktivistinnen Jelve Javaheri und Maryam Hosseinikhah über ihre Zeit im Gefängnis und vor allem über die Frauen, die dort aufgrund von unsäglich ungerechten Gesetzen festgehalten werden, finden sich ebenfalls auf der Homepage.28 Es wurde erwähnt, dass nach der Sammlung von einer Million Stimmen konkrete Vorschläge für Gesetzesänderungen eingebracht werden sollen. Doch dazu sind – neben dem Sammeln der Unterschriften, das aus dem Begehren ein Volksbegehren macht – einige Vorarbeiten nötig. So müssen die Frauenrechtlerinnen in dieser Gesellschaft, in der alles eine islamische Legitimation haben muss, den Nachweis erbringen, dass ihr Begehren nicht gegen den Islam gerichtet ist. Das ist der Vorwurf, der ihnen am häufigsten gemacht wird und der am gefährlichsten ist für sie. Immer wieder weisen
27 http://www.we-change.biz/english/spip.php?article138 (29.09.2008). 28 http://www.we-change.biz/english/spip.php?article210; http://www.we-change.info/english/spip.php?article177; http://www.we-change.info/english/spip.php?article203 (29.09.2008).
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sie daher in Interviews darauf hin, dass auch religiöse Autoritäten erklärt hätten, die Frauen betreffenden Gesetze könnten geändert werden.29 Auf der Homepage der Kampagne findet sich ein in Interviewform abgefasster Artikel von Sussan Tahmasebi, in dem sie die FAQ, die am häufigsten über die Kampagne gestellten Fragen beantwortet – unter anderem die Frage, ob die Forderungen der Kampagne im Widerspruch zum Islam stehen. „No. While the Campaign seeks to bring Iranian law addressing women’s status in line with international human rights standards, these demands are in no way in contradiction to Islam. Iranian law is based on interpretations of Sharia law, but these interpretations have been up for debate by religious scholars for some time, not only in Iran but around the Islamic world. Shiite Islam, on which the interpretations of Sharia rely with respect to Iranian law, claims to be dynamic and responsive to the specific needs of people and time. Iranian society has changed much since 1400 years ago, but the interpretations of Sharia on which the Iranian law is based remain rather conservative. We ask that the laws come in line with international human rights standards and recognize the important role that religious scholars can play in facilitating our demand. In fact, long before the start of the Campaign, religious scholars, including ayatollahs Sanei’i and Bojnourdi, for example, using dynamic jurisprudence and ijtahad had addressed some of our demands by offering new and progressive interpretations of Sharia with respect to women’s rights. But these interpretations have not been translated into laws governing the rights of women. We hope that our effort will convey the urgency of our demands to lawmakers and hope that religious scholars take a more active role in examining these laws and bringing them inline with the realities of Iranian women and Iranian society. In fact, activists in the Campaign welcome progressive interpretations of Islam with regard to women’s rights and some have even held discussions with religious scholars in this respect.“30
Nur die Scharia ist göttlich, fiqh, die Rechtswissenschaft ist es nicht; sie ist wandelbar. Nach muslimischer Vorstellung ist die Scharia das offenbarte Recht, wörtlich der Weg, die Gesamtheit des Willen Gottes – wie er ihn seinem Propheten Mohammad offenbart hat. Fiqh hingegen, die Rechtswis-
29 http://www.we-change.biz/english/spip.php?article111 (29.09.2008). 30 http://www.we-change.org/english/spip.php?article226 (02.02.2012).
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senschaft, ist der Prozess des menschlichen Bemühens, rechtliche Bestimmungen aus den Quellen des Islams zu extrahieren. In anderen Worten: Während die Scharia ewig, universell und heilig ist, ist fiqh – wie jedes andere juridische System auch – menschlich und unterliegt dem Wandel.31 Diese Unterscheidung ist nicht neu, sie wurde bereits im 11. Jahrhundert von Al-Ghazzali entwickelt. Dennoch wird fiqh gerade heute oft mit Scharia verwechselt und dies häufig in einer ideologischen Absicht. Doch was Islamisten und andere als ein Gebot der Scharia ausgeben und somit als göttlich und unfehlbar deklarieren, ist das Ergebnis von fiqh, also juristischer Spekulation und somit menschlich und durchaus fehlbar. Auf fiqh Texte, die sowohl in der Form als auch im Inhalt patriarchalisch sind, wird sich oft berufen als Gottes Gesetz – und zwar, wie die Frauenrechtlerin Ziba Mir-Hosseini formuliert „as a means to silence and frustrate Muslims’ search for legal justice and equality, which are intrinsic to this-worldly justice.“32 Feministische Denker und Denkerinnen setzen hier an: Bei der Unterscheidung zwischen fiqh und Scharia und einer Neuinterpretation der Textquellen im Lichte der Gleichheit der Geschlechter,33 sowie in der Herausarbeitung der egalitarian message des Korans.34 Das auch das System der Islamischen Republik diese Unterscheidung zwischen fiqh und Scharia praktiziert, hat sie unter Beweis gestellt: Wenn beispielsweise die diye (Blutgeld) für Juden, das jahrzehntelang nur die Hälfte des Blutgeldes für Muslime betrug, dem der Muslime angepasst werden kann, wie im Jahre 2007 geschehen, dann dürfte es keine theoretischen Gründe geben, die eine Anpassung auch des Blutgeldes von Frauen an das der Männer verhindern. Das Blutgeld ist die finanzielle Entschädigung, die den Hinterbliebenen im Todesfall gezahlt wird. Sie beträgt für Frauen bis heute nur halb so viel wie für Männer.
31 Siehe zu der Unterscheidung: Kamali 1989; Abou El Fadl 2001. 32 Mir-Hosseini 2006: 633. 33 Folgende Gelehrte praktizieren diese Art des feminist reading: Al-Hibri 1997; Ali 2003; Engineer 1992; Esack 2001; Jawad 1998; Mir-Hosseini 2003; ElAzhary Sonbol 2001. 34 Vgl. Barlas 2002; Mernissi 1991; Wadud 1999.
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M ÄNNLICHE U NTERSTÜTZUNG Wichtige Unterstützung bekommen die Frauenrechtlerinnen für ihre Forderungen aus Qom, der Theologenstadt Irans. So erklärt Ayatollah Moussavi Tabrizi, das Sammeln von Unterschriften verstoße nicht gegen die nationale Sicherheit, ebenso wenig wie die Forderungen der Frauenrechtlerinnen nach Gleichberechtigung gegen den Islam verstoßen würden.35 „We have many laws that address women’s status or even men’s status [in the Iranian legal code], which have to be reformed in accordance to current needs in order to come in line with and meet the needs of citizens. Concerning women, laws such as dieh (or compensation for bodily injury), inheritance, child custody, divorce and…can in fact be changed, and these reforms and changes are in no way in contradiction to Sharia law. In fact, many religious leaders and grand ayatollahs have issued Fatwas which seek to reform current laws.“36
Auffällig ist, dass die Frauenrechtlerinnen der Kampagne selten selber koranische Aussagen und islamische Vorgaben interpretieren, sondern immer auf die Autorität vor allem zweier „Quellen der Nachahmung“ verweisen, auf Ayatollah Sanei und Ayatollah Bojnurdi. In gewisser Weise erstaunt dieses Vorgehen: Dem islamischen Feminismus war die Idee immanent, dass in der Gesellschaft eine frauen-unfreundliche Interpretation der koranischen Aussagen vorherrsche, weil bisher nur Männer den Koran interpretiert hätten; deshalb wollte man der männlichen eine weibliche Interpretation gegenüber und entgegenstellen. Der Grund dafür, dass die Frauenrechtlerinnen in der Kampagne Eine Million Unterschriften den Koran nicht selber interpretieren, sondern auf männliche Autoritäten verweisen, könnte sein, dass man meint, so eine größere Schlagkraft zu entfalten. Der schiitische Islam hat theoretisch ein großes Potential zur Modernisierung, da er das Prinzip von ijtihad und vor allem das des taqlid kennt. Dem schiitischen Islam wohnt durch die Autoritätsgläubigkeit, die er postuliert, ein größeres Potential zur Modernisierung und Progressivität (wie ebenso zur Regressivität) inne als dem sunnitischen Islam, der solche Autoritäten nicht kennt. Das bedeutet, dass es zur Durch-
35 http://www.we-change.biz/english/spip.php?article169 36 http://www.we-change.biz/english/spip.php?article169
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setzung von Frauenrechten auch und besonders notwendig ist, anerkannte und am besten männliche Autoritäten auf seine Seite zu ziehen, deren im Grunde simples Rechtsgutachten ausreicht, um einer Forderung den Nimbus des „unislamischen“ zu nehmen. Sollte es sich zudem um eine religiöse Autorität, eine „Quelle der Nachahmung“, mit großer Gefolgschaft handeln, wäre dies für den Erfolg der Bewegung von außerordentlicher Bedeutung. Anstatt selber zu interpretieren, wenden die Frauen also diese Taktik an – vielleicht weil sie wirklich mehr Erfolg verspricht. Die iranischen Frauenrechtlerinnen von heute sind für ihre Zwecke bei Groß-Ayatollah Yusuf Sane’i fündig geworden. Sane’i, eine der angesehensten Autoritäten des schiitischen Islam, war einst Teil der klerikalen Machtelite Irans und gehörte lange zu denjenigen, die vom System profitiert haben und es als Mitglied des Wächterrats und als Oberster Richter mitgestaltet haben. Heute wird er den Reformern zugerechnet. Sane’i gilt als Nachfolger der höchsten Autorität der Grünen Bewegung, Groß-Ayatollah Hossein Ali Montazeri, der im Dezember 2009 verstorben ist. Sane’is Argumentation für eine Änderung der Gesetze leitet Sane’i aus dem besonders in der Schia wichtigen Prinzip der Gerechtigkeit ab: „Das ist ein großer Fehler, dass wir über etwas, das mit der Gerechtigkeit nicht in Einklang zu bringen ist, sagen, gut, dann stimmt es eben nicht überein; aber nun wo die Religion es gesagt hat, akzeptieren wir es. Wir müssen die Gesetze, denen wir begegnen, mit der islamische Gerechtigkeit abwägen und schauen, ob sie sich mit der islamischen Gerechtigkeit vereinbaren lassen oder nicht. Entsprechen sie der Ungerechtigkeit? Wenn sie der Ungerechtigkeit entsprechen, müssen wir darüber neu nachdenken und eine Ansicht verkünden, deren Grundlage die Gerechtigkeit ist. Obschon die Gerechtigkeit zu den Prinzipien unserer Religion zählt, wird zuweilen beim Verstehen der Gesetze der Gerechtigkeit keine Beachtung geschenkt.“37
Diese Aussage, sowie die folgenden finden sich auf Sane’is Hompage unter der Rubrik hoquq-e zan, Rechte der Frauen, wobei schon die Existenz einer solchen Rubrik aufschlussreich ist. In dieser Rubrik hat Sane’i verschiedene Interviews zusammengestellt, die er im Laufe der Jahre gegeben hat.
37 http://www.saanei.org/page.php?pg=showzanan&id=3&lang=fa (02.02.2012).
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Angesprochen auf die konkreten Ungerechtigkeiten, die Frauen im herrschenden Rechts Irans betreffen, sagt Sane’i, dass er nur im theoretischen, rechtswissenschaftlichen Bereich bleiben möchte und nicht auf die konkreten Gesetze eingehen kann, aber seiner Meinung nach gibt es keinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Und dann wird er doch sehr konkret: Das Blutgeld für Mann und Frau sei das gleiche; auch Moqaddas Ardabili (gest. 993/1585) habe keine Überlieferung der Imame finden können, die etwas anderes behauptet.38 Er habe sich selber darüber gewundert, aber nach eingehender Prüfung festgestellt, dass Ardabili Recht habe.39 Außerdem fügt er hinzu, haben Frauen auch das Recht, Staatspräsident zu werden und „Quelle der Nachahmung“ und sogar, horrible dictu, vali-ye faqih.40 Frauen bräuchten auch nicht die Erlaubnis ihres Vaters zur Heirat und um scheiden zu lassen, sagt Sane’i.41 In einem anderen Interview, hier mit der Zeitschrift Zanan, wird Sane’i gefragt, warum er sich mit der Frage der diye befasst habe. Er erwidert, der schiitische Islam kenne das Instrumentarium des ijtihad, das den Gelehrten von den Imamen an die Hand gegeben worden sei, und die Gelehrten des islamischen Rechts seien nun aufgerufen, auf das zu reagieren, was die Imame vorausgesehen hätten. Nämlich darauf, dass die Menschheit sich in Richtung Fortschritt befinde. Dieser Tatsache müsse durch eine Anpassung der Gesetze an die Erfordernisse der heutigen Zeit Rechnung getragen werden.42 Wo Sane’i allerdings keine Gesetzesänderung unterstützt, ist im Erbrecht. Es sei ungerecht, wenn Mädchen mehr erben würden als Jungen, wie der Koran dies bestimmt und das iranische Gesetz es bis heute festschreibt. Auch dürfte Frauen nicht derselbe Erbteil zugestanden werden wie Männern. Auch hier argumentiert Sane’i mit der Gerechtigkeit. Denn da der Mann der Frau die mehr, die Brautgabe, bezahlen müsse und sogar dann, wenn die Frau selbst arbeitet, den kompletten Lebensunterhalt der Frau be-
38 Ebd. 39 Moqaddas Ardabili ist eine der wichtigsten schiitischen Autoritäten, bekannt für seine Frömmigkeit und für Studien der schiitischen Rechtswissenschaft. Ihm soll der zwölfte Imam erschienen sein. 40 http://www.saanei.org/page.php?pg=showzanan&id=3&lang=fa (02.02.2012). 41 Ebd. 42 http://www.saanei.org/page.php?pg=showzanan&id=4&lang=fa (02.02.2012).
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streiten muss, sei es ungerecht, wenn der Mann nicht mehr erben würde als die Frau. Sane’i beharrt darauf, dass die Frau das von ihr selbst verdiente, das ihr als Brautgabe zugestandene und das ererbte Vermögen nicht zum gemeinsamen Lebensunterhalt aufwenden sollte. Das mag unrealistisch und etwas weltfremd sein, aber wenn es so praktiziert wird, dann verfügt die Frau tatsächlich über höhere Vermögenswerte als der Mann, der nicht nur vollständig für sie, sondern auch für beider Kinder aufkommen muss und ihr nach islamischem Recht sogar Stillgeld zu zahlen verpflichtet ist. Sane’i schlussfolgert: „Die Gleichberechtigung ist hier also gewahrt. Und eigentlich müssten die Männer gegen das Erbrecht protestieren und sagen, wieso habt ihr unseren Anteil auf das doppelte festgelegt; ihr müsst unseren Anteil höher festlegen. Nominell ist er [der Anteil der Männer am Erbe] doppelt so hoch, aber der Tradition nach ist er [dem der Frauen] gleich.“43
Es fällt auf, wie stark Sane’i mit der Gerechtigkeit argumentiert und nicht mit dem Korantext und auch nicht mit der einen oder der anderen Überlieferung der Imame, sondern nur mit dem, was diese den Rechtsgelehrten aufgetragen hätten: mittels des ijtihad die alten Gesetze an die neuen Erfordernisse und Umstände anzupassen – und zwar so, dass es zum wichtigsten Grundsatz des schiitischen Glaubens nicht im Widerspruch steht, dem der Gerechtigkeit. Sane’i sagt, sogar die Überlieferungen der Imame müssten mit der eigenen, menschlichen Vernunft abgewogen werden: „Wir müssen den Islam mit der Vernunft/dem Verstand abwägen (bayad eslam-ra ba aql besanjim). Es darf nicht so sein, dass wir unseren Islam der Vernunft/dem Verstand diktieren. Die Vernunft/der Verstand ist die Grundlage des Verstehens des Islams (adl zir bana-ye fahm-e eslam ast).“
Neben der Gerechtigkeit, der gegenüber jedes Gesetz abgewogen werden muss, ist also die Vernunft ein Kriterium für das Gesetz. Der Vernunft kommt in der Schia allergrößte Bedeutung zu. So wird beispielsweise argumentiert, dass Lügen nicht deshalb schlecht und verboten ist, weil die Religion dies sagt; sondern dass die Religion dies sage, weil Lügen schlecht
43 Ebd.
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und verboten ist. Kriterium ist also hier die Vernunft, nicht die Religion. Und der Wert der Gerechtigkeit existiert unabhängig von den religiösen Texten. Unser Sinn und unsere Definition der Gerechtigkeit werden bestimmt durch Quellen außerhalb der Religion, sie sind angeboren und haben eine rationale Basis.
D ER E RFOLG DER K AMPAGNE UND DER D EMOKRATIEBEWEGUNG INSGESAMT Es ist nicht gelungen, innerhalb von zwei Jahren, eine Million Stimmen zu sammeln. Dafür ist zum einen das rigide Vorgehen der Behörden verantwortlich. Der Druck auf die Aktivistinnen hat unter der Regierung Mahmoud Ahmadinejads stark zugenommen.44 Viele Aktivisten wurden bedroht, vor Gericht geladen, angeklagt gegen die nationale Sicherheit verstoßen zu haben und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die Website der Kampagne wurde blockiert, die Aktivistinnen beschuldigt, eine samtene Revolution zu planen und von den USA Gelder zu bekommen.45 Doch dafür, dass bislang nur so wenig Stimmen gesammelt wurden konnten, kann nicht nur das rigide Vorgehen der Behörden verantwortlich sein. Aus der Bewegung selbst ist Selbstkritik vernehmen. So bemängelt Homa Zarafshan, eine der ersten Unterzeichnerinnen und Aktivistinnen der Kampagne, in einem Artikel, der auf roozonline erschien, dass die Frauenbewegung sich noch nicht landesweit und jenseits der Großstädte organisieren konnte und stellt fest: „Die Masse der Frauen, die den untersten Schichten der städtischen und agrarischen Gesellschaft entstammen, können immer noch keinen Widerstand leisten, obwohl sie unterdrückt werden.“46
Zarafshan zufolge gehören die Aktivisten der Frauenbewegung hauptsächlich der iranischen Mittelschicht an. Gegenwärtig sei die Frauenbewegung
44 http://www.zamahang.com/podcast/20070703_masoomeh_tohidi.mp3 (27.09.2008). 45 Vgl. Esfandiari 2007. 46 http://www.roozonline.com/archives/2007/03/003291.php (27.09.2008).
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hauptsächlich eine Bewegung von Intellektuellen, sie habe sich noch nicht zu einer gesellschaftlichen Bewegung entwickelt. Es handle sich bei der Bewegung hauptsächlich um studierte Frauen, Angestellte, Journalistinnen, Anwältinnen. Lehrerinnen und Studentinnen und Frauen, die schon mal ins Ausland gereist sind. Sie stellten zwar einen beachtenswerten Teil der Gesellschaft dar, das Problem sei jedoch, so Homa Zarafshan, dass die Forderungen der studierten Frauen noch nicht einmal bei allen Frauen der städtischen Mittelschichten angekommen seien. Nicht einmal alle weiblichen Angestellten und studierten Frauen würden die Forderungen der Frauenbewegung kennen. Hinzu kommt laut Nayereh Tohidi, dass die meisten Frauen gar nicht wissen, dass ihr Problem ein gesellschaftliches Problem ist und nicht ein persönliches. Deshalb sei es eine wichtige Erfahrung für die Aktivistinnen, dass sie im Zuge des face to face Kontaktes mit den Angesprochenen merken, was deren Prioritäten, deren Schwierigkeiten sind. Außerdem sei das Problem der iranischen Frauen nicht nur die Regierung und die Religion (doulat va mazhab), sondern „die Gewohnheiten, die Tradition und unsere allgemeine Kultur (orf, sonnat va farhang-e omuni-ye ma).“47 Iran ist sicherlich kein Beispiel dafür, dass Demokratisierung zu mehr Gleichberechtigung führt – schon deshalb nicht, weil es in Iran nach der Revolution von 1978/79 nicht zu einer Demokratisierung kam. Ironischerweise könnte man eher argumentieren, dass die religiöse Autokratie, die die Geschlechterapartheid einführte, immerhin zu mehr Bewusstsein für Gleichberechtigung führte – wie auch den Wunsch nach Demokratie verstärkte. Was sich in den letzten Jahren positiv verändert, ist, dass eine Bewusstseinsveränderung stattgefunden statt: Die Initiatorinnen der Kampagne berichten, sie seien optimistisch. Sie hätten das Gefühl, trotz der Repressionen viel erreicht zu haben. Niemand beschuldige sie mehr, dem Islam zu widersprechen. Niemand habe mehr Angst, über das Thema Frauenrechte zu reden. Es sei die These gewagt, dass die heutige Frauenbewegung nicht nur trotz des Islams existiert, sondern gerade wegen des Islams. Frauen in der islamischen Welt haben sich schon lange gegen ungerechte Geschlechterverhältnisse aufgelehnt. Doch das Aufkommen eines heimischen Feminis-
47 http://www.zamahang.com/podcast/20070703_masoomeh_tohidi.mp3 (27.09.2008).
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mus ist erst ein Phänomen der jüngeren Vergangenheit. Diese Verspätung mag zurückgehen auf das schwierige Verhältnis zwischen der Forderung von Frauen nach gleichen Rechten und der anti-kolonialen, nationalistischen Bewegungen ihrer Länder. Zu einer Zeit, in der der Feminismus sowohl als Bewusstsein als auch als Bewegung in Europa und den Vereinigten Staaten geboren wurde und sich formte, wurde er auch benutzt, „to morally justify the attacks on native societies and to support the notion of the comprehensive superiority of Europe,“ wie Leila Ahmed gezeigt hat.48 Deshalb mussten muslimische Frauen, die ein feministisches Bewusstsein hatten, ihre Bestrebungen nach Gleichberechtigung oft den antikolonialen und nationalen Prioritäten unterordnen. Zudem liefen sie sonst Gefahr, dem kolonialen Feind in die Hände zu spielen oder zumindest als Bewegung angesehen zu werden, die diesem Feind in die Hände spielt. Zu beobachten ist dieses Phänomen teilweise noch heute und es ist der Grund, warum auch heute noch viele Frauenrechtlerinnen in Iran nicht Feministinnen genannt werden möchten. Während westliche Frauen das Patriarchat im Namen von Modernität, Liberalismus und Demokratie kritisieren konnten, waren diese Ideologien in den Augen östlicher Männer und Frauen zu negativ besetzt und diskreditiert. Für säkulare Intellektuelle und Modernisierer war das Islamische Recht die Verkörperung eines zurückgebliebenen Systems, das im Namen des Fortschritts zurückgewiesen und abgelehnt werden musste. Und für Antikolonialisten und Nationalisten war der Feminismus ein kolonialistisches Projekt, dem es galt sich entgegen zu stellen. Vielen muslimischen Frauen blieb daher nur die Wahl, wie Ahmed es ausdrückt zwischen „Verrat und Verrat“. Sie mussten wählen zwischen ihrem Glauben und ihrem neuen feministischen Bewusstsein. Paradoxerweise führte das Aufleben des politischen Islam in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts dazu, dass sich für Frauen ein Raum öffnete, in dem sie ihren Glauben und ihre Identität mit einem Kampf für Gleichberechtigung versöhnen und vereinbaren konnten. Dies geschah nicht, weil die Islamisten eine gleichberechtigte Vision der Geschlechterverhältnisse angeboten hätten. Stattdessen provozierte ihre Agenda, die so genannte Rückkehr zur Scharia, und ihr Versuch, die patriarchalischen Gendervorstellungen in Gesetze zu übersetzen, zu einer Kritik dieser Vorstellungen. Doch eine immer größer werdende Zahl von Frauen
48 Ahmed 1992: 154.
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sieht keinen Zusammenhang zwischen den islamischen Idealen und dem Patriarchat und keinen Widerspruch zwischen dem islamischen Glauben und dem Feminismus – und befreite sich so von der Zwangsjacke des antikolonialistischen und nationalistischen Diskurses. Die Sprache des politischen Islam benutzend, konnten sie eine Kritik an den Ungerechtigkeiten des Islamischen Rechts in Bezug auf Gender formulieren, wie es ihnen vorher nicht möglich gewesen war. Deshalb sind die Aussichten im Moment, nach der Niederschlagung der Proteste vom Sommer 2009, zwar nicht rosig. Aber längerfristig könnte sich erfüllen, was die Aktivistinnen intendiert hatten: Sie, so schrieben sie, glaubten an „die Erlernung von kollektiven demokratischen Aktivitäten im Sinne der Reformen von unten, d.h. aus der Mitte der Gesellschaft und nicht von oben.“49
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Transformationsdynamiken der Geschlechterordnung in Indonesien Aktivistinnen im Spannungsfeld politischer, religiöser und kultureller Entwicklungen M ONIKA A RNEZ
E INLEITUNG Die Transformationsdynamiken der Geschlechterordnung in Indonesien sind in den letzten Jahrzehnten maßgeblich durch folgende Faktoren beeinflusst worden: das autoritäre Regime unter Präsident Suharto (orde baru, Neue Ordnung), die Revitalisierung des Islam seit den 1980er Jahren, den Sturz Suhartos im Jahre 1998 und die darauffolgenden Entwicklungen in der Zeit der Reformen, era reformasi. Dieser Artikel untersucht Kernelemente dieser Faktoren dahingehend, welche Veränderungen sie für die Geschlechterordnung in Indonesien bewirkt haben. Des Weiteren gibt er einen Ausblick auf Rolle und Funktion verschiedener Akteure, die in diesem Prozess eine wichtige Rolle gespielt haben: muslimische Massenorganisationen, NGOs und Intellektuellen, wobei der Schwerpunkt der Analyse auf muslimischen Frauenorganisationen liegt.1
1
In den Jahren 2008 und 2009 habe ich über einen Zeitraum von insgesamt vier Monaten Feldforschung in muslimischen Frauenorganisationen durchgeführt, im Rahmen des DFG-Projektes „Re-defining Gender in contemporary Indonesia“, in den Städten Jakarta, Yogyakarta und Surabaya. Der Fokus lag dabei auf der
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Von 1966 bis 1998 war Indonesien von dem Diktator Suharto beherrscht. In der Zeit des Regimes der Neuen Ordnung schränkte Suharto den Handlungsspielraum von Parteien, politischen Gruppierungen, Frauen und einzelnen Akteuren stark ein. Dies zeigte sich auch anhand der in Suhartos 32-jähriger Regierungszeit etablierten Geschlechterordnung. Frauen wurde hauptsächlich eine Rolle als Begleiterin und Unterstützerin des Ehemannes sowie Versorgerin ihrer Kinder zugewiesen. Suryakusuma spricht in diesem Kontext auch von ibuisme, einem staatlich geprägten Mutterkult2. Als Frauen von Beamten und Militärs waren sie automatisch Mitglieder in den zugehörigen Frauenorganisationen. Dharma Wanita, die größte und bekannteste der Frauenorganisationen, war eine Organisation für Ehefrauen von Beamten, und in Dharma Pertiwi waren die Frauen von Militärs zusammengefasst. Sowohl in Dharma Wanita als auch in Dharma Pertiwi waren die Frauen unterstützend für ihre Ehemänner tätig. In der Fachliteratur wird die Ursache für die Einführung einer solchen Geschlechterordnung mit dem Wunsch nach Stabilität verknüpft3. Auch Brenner nennt diesen Aspekt, führt aber des Weiteren aus, dass das Regime seine ideologische Macht nur aufrechterhalten konnte, indem es ein Schreckensszenario der unmittelbaren Bedrohung für den Staat entwarf, das zum Tragen komme, sobald diese Stabilität nicht aufrechterhalten werde4. Als Beispiele hierfür führt sie Diskurse über durch westliche Dekadenz begründeten moralischen Verfall an, über von Kommunisten ausgehende Gefahr sowie die Bedrohung durch den Extremismus islamischer Länder5. Das letztgenannte Narrativ, die Bedrohung des Staates durch den politischen Islam, war auch die Ursache dafür, dass Präsident Suharto dem Islam als politische Kraft keine Entwicklungsmöglichkeiten einräumte. Während seiner Regierungszeit fasste er alle islamischen Parteien in einer Sammel-
Fragestellung, welche Strategien zur Verbesserung der Situation für Frauen vor allem die jungen muslimischen Frauenorganisationen Fatayat NU und Nasyiatul Aisyiyah (NA) ergreifen. Im Zuge der Feldforschung wurden jedoch auch viele Multiplikatorinnen und Akteurinnen anderer Organisationen in die Untersuchung einbezogen. 2
Vgl. Suryakusuma 1996: 101f.
3
Vgl. hierzu beispielsweise Schwarz 1997: 122.
4
Vgl. Brenner 1999: 35.
5
Vgl. Brenner 1999: 36.
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partei, der PPP (Partai Persatuan Pembangunan, Vereinte Entwicklungspartei), zusammen. Hefner spricht in diesem Kontext davon, dass diese Partei, ebenso wie die nationalistische PDI (Partai Demokrat Indonesia, Demokratische Partei Indonesiens), in eine marginalisierte Position abgedrängt wurde6. Auch die muslimischen Massenorganisationen wurden dazu gezwungen, Gesetze zu ratifizieren und Führer aus ihren Reihen auszuwählen, die Linientreue gegenüber dem Regime versprachen7. Bekannt ist in diesem Zusammenhang auch der Versuch der Regierung, Abdurrahman Wahid, den liberalen Reformer der traditionalistischen islamischen Massenorganisation Nahdlatul Ulama, als Vorsitzenden dieser Organisation im Jahre 1994 abzusetzen8. Dennoch begann Suharto in den frühen 1990er Jahren darauf zu reagieren, dass der Islam aufgrund internationaler Verflechtungen und neuer Dynamiken zwischenzeitlich deutlich an Bedeutung gewonnen hatte. Ein Auslöser hierfür war die iranische Revolution 1979, im Zuge derer eine Vielzahl an Intellektuellen aus Indonesien die Gelegenheit nutzte, sich an einschlägigen Universitäten im Nahen Osten, insbesondere der Al Azhar in Kairo, ausbilden zu lassen. Viele Intellektuelle kehrten anschließend wieder in ihre Heimatländer zurück und versuchten, die im Ausland gewonnenen Impulse umzusetzen. Man kann demzufolge von einer Re-Islamisierung der Gesellschaft seit den 1980er Jahren sprechen, die in einem intensiveren Austausch von Intellektuellen an Universitäten sowie einer zunehmenden Bedeutung islamischer Symbole, vor allem des Schleiers9, in den Städten resultierte. An dieser Stelle sollte verdeutlicht werden, dass sich seit den 1980er Jahren zwei unterschiedliche Phänomene in Indonesien abzuzeichnen begannen, die sich auf die Vorstellung der Geschlechterordnung auswirkten. Einerseits wurden die Stimmen lauter, die mehr Frauenrechte in der Öffentlichkeit einforderten, so dass der Einfluss des staatlichen Mutterkultes ab-
6
Vgl. Hefner 1999: 43.
7
Ebd.
8
Ebd.
9
In Indonesien wird der Schleier zumeist als jilbab bezeichnet. Man versteht darunter im Allgemeinen einen Schleier, der nur das Gesicht freilässt. Andere Bezeichnungen für Schleier sind kerudung, eine losere Form, unter dem auch Haare sichtbar sein können sowie der chador, ein voller Gesichtsschleier, unter dem nur die Augen zu sehen sind.
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nahm. Eine Ursache hierfür war die zunehmende Einflussnahme internationaler Organisationen auf die religiöse Zivilgesellschaft10. Durch die zunehmende Interaktion zwischen internationalen und lokalen Organisationen wurde das Bewusstsein der indonesischen Gesellschaft für die Bedeutung von Gender-Fragen gestärkt. Dies wird auch von Informanten während meiner Feldforschung bestätigt, wie das folgende Beispiel illustriert. Laut Maryam Fithriati, einer Aktivistin der Fatayat NU, einer muslimischen Organisation junger Frauen, die in der Tradition der muslimischen Massenorganisation Nahdlatul Ulama steht, wurden dort seitdem gemeinsam geplante und durchgeführte Programme mit UNICEF zum Thema der Verbesserung des Lebensstandards von Kindern, mit der Asia Foundation zu Gewalt gegen Frauen und mit der Ford Foundation zum Themenkomplex reproduktiver Gesundheit aufgelegt und durchgeführt11. Gemäß Mahfudoh Ali Ubaid, der Vorsitzenden der Fatayat NU von 1979-89, hat die Intensivierung der Kooperation mit internationalen Geldgebern ihren Handlungsspielraum, der zuvor durch die Ideologie der Neuen Ordnung gering war, sehr erweitert12. Andererseits nahmen islamische Bewegungen zu, die aus der Revitalisierung des Islam hervorgegangen waren und zunächst verstärkt an den Universitäten operierten. Diese waren nicht bestrebt, Frauenrechte zu fördern, sondern sahen Beschneidungen der Freiheit von Frauen als notwendige Maßnahmen an, um sie in ein Rahmenwerk der moralgeleiteten Norm einzuordnen. Bruinessen spricht in diesem Kontext von einem ‚CampusIslam‘, der aus einem wachsenden Interesse der Studierenden an einer Auseinandersetzung mit islamischen Themen heraus an Bedeutung gewonnen habe13. Impulse für diese Bewegung, so Bruinessen, seien aus dem Nahen Osten gekommen, speziell der Muslimbruderschaft, deren Einfluss vor allem auf der Verbreitung ihrer Schriften, aber auch auf persönlichen Kontakten mit internationalen muslimischen Jugendorganisationen gefußt habe14. Die Gerakan Tarbiyah (Bildungsbewegung) oder Tarbiyah steht in enger Verbindung zu der Muslimbruderschaft. Sie gilt als die größte uni-
10 Vgl. Brenner 1996, Hefner 2000 und Doorn-Harder 2006. 11 Interview mit Maryam Fithriati, 10.08.2006, Fatayat NU, Jakarta. 12 Affiah 2005: 97. 13 Bruinessen 2005: 2010. 14 Ebd.
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versitäre Bewegung des Campus-Islam, die Mitte der 1980er Jahre in Indonesien aktiv wurde15. Sie legt besonderen Wert auf islamische Frömmigkeit und eine islamische Lebensweise – ihr gemäß können gesellschaftliche Probleme allein durch die Praktizierung eines purifizierten Islam überwunden werden. Die Tarbiyah verbreitet ihre Ideen über Texte des Forum Lingkar Pena (FLP), das gezielt Missionierung (dakwah) betreibt und mit der Bildungsbewegung verbunden ist16. Im Jahre 1998 entstand aus ihr die Gerechtigkeitspartei (PK, Partai Keadilan), die 2003 in Wohlfahrts- und Gerechtigkeitspartei (PKS, Partai Keadilan Sejahtera) umbenannt wurde17. Ihre meisten Mitglieder rekrutiert die Bewegung an den säkularen Universitäten auf Java, insbesondere in Jakarta, Yogyakarta, Bandung, Bogor und Surabaya18. Wie die bekannte Aktivistin Farha Ciciek verdeutlichte, rekrutieren sich Islamisten ihren Nachwuchs direkt an den Schulen. Über extracurriculare Aktivitäten, so Ciciek, üben Gruppen wie die Tarbiyah, die Hizbut Tahrir Indonesia (HTI), Salafisten und die verbotene Negara Islam Indonesia Einfluss auf die Schüler aus. Die Folge für junge Frauen sei gravierend: „Junge Frauen sind das Hauptopfer der Fundamentalisierung, sie müssen der Denkweise folgen, können sich nicht entwickeln“.19 Vor dem zunehmenden Einfluss dieser Tendenzen konnte Suharto nicht länger die Augen verschließen, und somit versuchte er sich in den 1990er Jahren selbst verstärkt als guten Muslim zu präsentieren: er unternahm beispielsweise in dieser Zeit eine Pilgerreise nach Mekka, und die Medien zeigten ihn nun gern als gläubigen Muslim. Auch institutionell begann Suharto den Islam stärker zu etablieren. Er errichtete islamische Banken und sorgte dafür, dass ein Gesetz, das den Schleier in Bildungsinstitutionen verbot, aufgehoben wurde20. Er unterstützte außerdem die Muslimische Intellektuellenorganisation Indonesiens (ICMI, Ikatan Cendekiawan Muslim Se-Indonesia), die im Dezember 1990 ihr erstes Treffen, das von Suharto eröffnet wurde, abhielt21. Ferner ließ er eine Vielzahl an Moscheen errich-
15 Vgl. Fealy/Hooker/White 2006: 438. 16 Vgl. Arnez 2009: 49. 17 Vgl. Machmudi 2006. 18 Vgl. Nashir 2006. 19 Interview mit Farha Ciciek, 07.05.2008, Jakarta. 20 Vgl. Wichelen 2010: 9. 21 Vgl. Hefner 1993: 1.
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ten. Aufgrund des Ausbruchs der Wirtschaftskrise im Jahre 1997, durch die das Vertrauen in Suharto endgültig erschüttert wurde, war sein später Versuch den Islam zu stärken jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Innerhalb der Bevölkerung hatte er inzwischen massiv an Unterstützung verloren. Studenten hatten schon seit 1992 zu Protesten gegen ihn aufgerufen, vor allem gegen sein auf Korruption und Vetternwirtschaft basierendes System. Im Mai 1998 spitzte sich die Lage zu, als Studenten gegen die dramatische Erhöhung der Preise demonstrierten und begannen, Reformen einzufordern22. Der wohl bekannteste Fall, in dem Unschuldige durch militärische Intervention zu Tode kamen, war die sogenannte Trisakti Tragödie. An der Universität Trisakti in Jakarta waren vier Studenten, die später als ‚ReformHelden‘ (pahlawan reformasi) bezeichnet wurden, am 12. Mai 1998 von militärischen Kräften erschossen worden. Während der Mai-Unruhen 1998 kam es zu vielen weiteren Gräueltaten gegen Demonstranten; außerdem wurden politische Aktivisten verschleppt, und es kam bis heute nicht zu einem Prozess gegen die Verantwortlichen. Eine weitere Gruppe, die zu dieser Zeit besonders zwischen die Fronten geriet, waren Frauen chinesischer Herkunft. Es gab viele Fälle von Vergewaltigung, und die Aggressionen richteten sich auch gegen Chinesen allgemein. So wurden chinesische Geschäfte niedergebrannt und Autos in Brand gesteckt. Suharto hatte die Lage auch selbst angeheizt, als er im März 1998 anlässlich einer Rede an muslimische Geistliche sagte, es sei vorwiegend die reiche ethnische chinesische Minderheit, welche die Schuld für die Wirtschaftskrise trage. Die Gewalt des Mobs brach sich jedoch auch willkürlich Bahn, so dass auch viele andere unschuldige Menschen in dieser Zeit ihr Hab und Gut verloren. Am 18. Mai rief Harmoko, Vorsitzender des Parlaments (DPR) und des Volksvertretungsrates (MPR), Suharto offiziell zum Rücktritt auf, mit der Begründung, dies sei das Beste für die Einheit des Volkes23. Drei Tage später trat Suharto dann offiziell zurück. Aktivistinnen begannen zu der Zeit ebenfalls eine bedeutendere Rolle zu spielen. So wurden neue NGOs gegründet, die sich speziell mit Themen befassten, die für Frauen relevant waren. Es entstand eine neue Generation von Aktivistinnen, deren Esprit und Einsatzbereitschaft durch Herausforderungen wie die Wirtschaftskrise 1997 und die Gewalt gegen Chinesinnen
22 Vgl. Siegel 1998: 75. 23 Vgl. Zulfiki/Setyardi/Fuadi 1998.
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1998 gestärkt wurde24. So wurde beispielsweise die KPI (Koalisi Perempuan Indonesia, Koalition indonesischer Frauen), ein Zusammenschluss bereits existierender Frauenorganisationen, als Reaktion auf die Diskriminierung von Frauen gegründet. Dies geschah nur drei Tage vor dem offiziellen Rücktritt Suhartos25. Insgesamt unterzeichneten 41 Aktivistinnen und Intellektuelle die Deklaration26. Auch die SIP (Suara Ibu Peduli, Stimme besorgter Frauen) entstand, die durch eine Protestaktion gegen die explodierten Preise für Milch und Milchpulver auf dem Platz des Hotel Indonesia (HI) am 23. Februar 1998 auf sich aufmerksam gemacht hatte. Diese Produkte waren infolge der vom IWF verlangten Subventionskürzungen stark angestiegen und konnten demzufolge von der Allgemeinheit nicht mehr bezahlt werden. SIP entwickelte sich im Laufe der folgenden Jahre zu einer Gruppierung, die auf Missstände und Ungerechtigkeit Frauen gegenüber aufmerksam machte. Gründerin von SIP ist Karlina Laksono, eine Dozentin für Philosophie an der Universitas Indonesia, eine bekannte Mitgründerin ist die Literaturwissenschaftlerin Melani Budianta. Muslimische Aktivistinnen hatten die Regierung 1998 ebenfalls unter Druck gesetzt, indem sie die Bereitstellung täglich notwendiger Lebensmittel forderten. Jedoch involvierten sie sich teilweise nur zögerlich in das Geschehen. Die Fatayat NU beispielsweise forderte Suhartos Rücktritt, lehnte aber direkte politische Aktionen ab.
I SLAM , K ÖRPER
UND
N ATION
Auch die Zeit nach den Mai-Unruhen, die era reformasi, war von Unstabilität sowie ethnischen und religiösen Konflikten gekennzeichnet. Dies rief Unsicherheit hervor, sowohl in den Fragen der Bedeutung des Islam und der Religiosität sowie der Wertigkeit der Familie und kultureller, geschlechtlicher und ethnischer Identitäten27. In dieser Atmosphäre der Unsicherheit haben verschiedene Akteure die Möglichkeit genutzt, ihre Macht
24 Vgl. Bianpoen 2002: 114. 25 Sen (1999) nennt fälschlicherweise den 20. Mai 1998 als Gründungsdatum der KPI. 26 Vgl. Sen 1999. 27 Vgl. Wichelen 2010: xx.
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auszubauen und Szenarien zu entwerfen, die der Bevölkerung Stabilität suggerieren. Im islamischen Kontext hat sowohl die Bedeutung liberaler Akteurinnen als auch diejenige der islamistischen Kräfte zugenommen. Letztere betrachten Akteurinnen, die sich für eine Stärkung der Rechte der Frauen einsetzen, als Manifestierung der westlichen Hegemonie. Beispiele sind islamistische Organisationen, die einen Islamstaat und eine Rückkehr zum Kalifat fordern und oftmals in einen transnationalen Kontext eingebettet sind wie z.B. die HTI oder Hidayatullah. An dieser Stelle möchte ich mich auf Budiman beziehen, der die Handlungen muslimischer Akteurinnen zu islamistischen Organisationen in Bezug gesetzt hat. Als Reaktion auf islamistische Kräfte, so Budiman, haben sich seit der reformasi muslimische Akteurinnen gegen Anschuldigungen verteidigen müssen, dass sie die Viren westlicher Modernität, des Säkularismus und des Liberalismus verbreitet hätten, die mit islamischen Lehren unvereinbar seien28. Weiter führt er aus: „[they are] compelled to find ways of arguing for modernity without allowing themselves to be charged with advocating Westernisation“29. Folgt man dieser Argumentation, so sind Wege muslimischer Akteurinnen zur Moderne also davon geprägt, dass sie ihre Identitäten in Harmonie mit islamischen Lehren formen und gleichzeitig globalisierte Werte und Kräfte abwägen, die Indonesien mit der religiösen Moral erreicht haben30. Die zunehmende identitätsstiftende Funktion des Islam, die auch gleichzeitig mit dem Anspruch moralischer Werte verknüpft war, resultierte in der Entstehung einer Vielzahl muslimischer Parteien, die jedoch unterschiedliche Ausrichtungen vertraten. Beispiele sind die PKB (Partai Kebangkitan Bangsa, Erweckungspartei des Volkes) und die PAN (Partai Amanat Nasional, Partei des nationalen Mandats), welche die Interessen der größten muslimischen Massenorganisationen Nahdlatul Ulama und Muhammadiyah vertreten, sowie die islamistische Partei PKS. Obwohl muslimische Parteien weder in den Wahlen von 1999 noch von 2004 die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigten, konnten sich einzelne von ihnen über ihre Parteiprogramme hinaus sehr gut in Indonesien etablieren. Die PKS hat sich beispielsweise mit Themen wie der Korruptionsbekämp-
28 Vgl. Budiman 2008: 81. 29 Ebd.: 82. 30 Vgl. Hellwig 2011: 27.
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fung, der islamischen Bildung und dem moralisch akzeptablen Verhalten von Frauen in der Öffentlichkeit profiliert. Sie befürwortet explizit Polygynie, ein bescheidenes Auftreten der Frau sowie einen islamischen Kleidungsstil. Damit nimmt sie am Diskurs des „morality talk“ teil, wie Wichelen es bezeichnet31, der mit Hilfe einer Propagierung weiblicher Sexualmoral ein Gegengewicht zu unerwünschten Auswüchsen nach dem Sturz Suhartos wie die vermeintliche westlich importierte Zügellosigkeit bilden möchte. Den Schritt vom Diskurs über Moral zur Durchsetzung rigider Moralvorstellungen haben islamistische Kräfte vollzogen, die eine Auslegung des Islam forderten, wie er im siebten Jahrhundert in Medina vorherrschte, wie z.B. die FPI (Front Pembela Islam, Front zur Verteidigung des Islam), gegründet im Jahre 1998 von Muhammad Rizieq Shihab, Absolvent des von Saudi-Arabien finanzierten Instituts LIPIA, an dem die islamische Religion sowie die arabische Sprache gelehrt werden. Laskar Pembela Islam, die paramilitärische Einheit der FPI, hat in den letzten Jahren immer wieder durch ‚Razzien gegen Laster‘ (razzia maksiat) für Schlagzeilen gesorgt, indem sie Cafés, Bars, Nachtclubs und Bordelle attackierte32. Zudem war eine vermehrte Aktivität terroristischer Netzwerke wie der Laskar Jihad oder der Jemaah Islamiyah (JI) in Indonesien im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts festzustellen33. Die zunehmende Rolle islamistischer Kräfte geht mit Legitimierungsansprüchen einher, eine islamische moralische Hegemonie zu etablieren. Dies hatte eine zunehmende Einschränkung von Frauenrechten zur Folge, die sich besonders anhand einer virulenten Debatte um den weiblichen Körper zeigt. Er wird zur Referenzfolie eines Widerstreits um islamische Moral, die Stellung der Frau als moralische Instanz und Hüterin
31 Vgl. Wichelen 2010: 92. 32 Vgl. Hasan 2006: 3. 33 Die Jemaah Islamiyah war für das Bali-Attentat im Sari Club der im Süden der Insel gelegenen Touristen-Stadt Kuta verantwortlich, das im Oktober 2002 insgesamt 202 Menschenleben forderte. Wie Fealy verdeutlicht, handelt es sich bei JI nicht nur um ein lokales Phänomen, sondern um ein international operierendes Netzwerk, das auch für die Durchführung weiterer Anschläge verantwortlich war, wie beispielsweise eine Bombenserie auf Kirchen im Jahre 2000 (Fealy 2003: 3). Eine interessante Studie zur Laskar Jihad hat Hasan Noorhaidi (2006) vorgelegt.
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der sozialen Ordnung, die Regelung ihres Zugangs zum öffentlichen Raum sowie probate Kleidungsstile. Es lässt sich an dieser Stelle konstatieren, dass die Verhandlung weiblicher Sexualmoral in der Post-Suharto Ära zum Gegenstand zweier globaler Strömungen wurde, der islamischen Revitalisierung und des transnationalen Feminismus. Laut Rinaldo sind es diese Prozesse, die moralische Debatten um Gender verstärken und die es Frauen ermöglicht haben, sich in diesen Debatten zu engagieren34. Der Konflikt um den weiblichen Körper kann aber auch als ein Indikator der Transformation der Geschlechterordnung gewertet werden, die wiederum ein Teil einer sich im Wandel befindlichen Gesellschaft Indonesiens ist. Speziell für postkoloniale Kontexte hat Blackwood bemerkt, dass Staaten Vorstellungen von Gender schaffen und fördern, die mit den Bedürfnissen von Entwicklung übereinstimmen35. Dies lässt sich auch für Indonesien beobachten, da verschiedene Entwürfe von der weiteren Entwicklung der indonesischen Nation anhand der Kategorie Geschlecht verhandelt werden. Die Frage, wer den Zugriff auf und damit die Kontrolle über den weiblichen Körper hat, ist daran geknüpft, wer über Norm und Differenz entscheidet und damit gleichzeitig auch die Alltagspraktiken der weiblichen Bevölkerung beeinflusst. Foucault spricht in diesem Zusammenhang von der politischen Besetzung des Körpers, die sich daraus ergebe, dass der Körper unmittelbar im Feld des Politischen stehe und die Machtverhältnisse sich seiner bemächtigten36. Auch andere Studien37 haben gezeigt, dass Regime bestimmte Merkmale für Weiblichkeit und Männlichkeit festgelegen, um ihren Machtanspruch legitimieren. Dabei ist die Verwendung von Körpermetaphern von Bedeutung. Sie gehen in Entwürfe und Konstruktionen von Geschlecht und Geschlechterdifferenzen ein, welche Repräsentationen des Politischen beeinflussen, die mit Körperbildern operieren.38 Ramaswamy weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es für die nationalistischen Regime des 19. und teilweise auch des 20. Jahrhunderts kennzeichnend war, Ansprüche auf die Körper ihrer Bürger zu erheben, die geschlechtstypisch differenziert
34 Vgl. Rinaldo 2011: 48. 35 Vgl. Blackwood 1995: 125. 36 Vgl. Foucault 1994: 37. 37 Vgl. z.B. Stoler 1985. 38 Vgl. Härtel/Schade 2002: 205.
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waren. Diese dienten dazu, Frauen aufzurufen, der Nation mit dem Mutterleib zu dienen39. Für den tamilischen Nationalismus in Indien stellt sie fest, dass die Nation eine ‚somatische Formation‘ sei, in welcher der Körper der Frau, insbesondere der Körper der schutzbedürftigen, geschändeten Frau, eine wesentliche Rolle spiele40. Für Indonesien lässt sich beobachten, dass die Rechte der Frau auf ihren eigenen Körper sehr beschränkt sind. Arimbi schreibt dazu: „[…], in a society like Indonesia where religious teaching regarding the power of a husband over a wife is very strong, a woman’s right over her own body is significantly disregarded“41. Diese Beschränkung zeigt sich auch in der lokalen Gesetzgebung, die in Indonesien seit der Dezentralisierung an Bedeutung gewonnen hat.
P ERDA SHARIA : DER K AMPF GEGEN
DIE
U NMORAL
Eine Ausprägung, die oftmals im Zusammenhang mit der Beschränkung von Frauenrechten erwähnt wird, sind die perda sharia Islam, regionale religiöse Verordnungen, die vom Islamischen Recht beeinflusst sind und die im Zuge der Dezentralisierung seit 1999 vermehrt Anwendung finden42. Sie manifestieren sich in einer Reihe von Gesetzen, die insbesondere von Präsident Habibie, dem Nachfolger Suhartos, angestoßen wurden. Ein bedeutender Erlass in diesem Zusammenhang ist das vom Innenministerium er-
39 Vgl. Ramaswamy 2002: 211. 40 Ebd.: 209. 41 Vgl. Arimbi 2006: 149. 42 Eine weitere ist das Pornographiegesetz, das im Oktober 2008 nach jahrelangen Debatten im Parlament erlassen wurde. Während Verfechterinnen des Pornographiegesetzes mit der Notwendigkeit argumentieren, die Jugend vor pornographischem Material und dem Verfall der Moral zu schützen, insbesondere Kinder, haben vor allem muslimische Feministinnen, Künstler und Vertreter ethnischer Minderheiten gegen das Gesetz protestiert, da sie befürchteten, bestraft werden zu können, wenn sie den Idealen islamischer Bescheidenheit nicht entsprächen. Reflexionen der Implikationen des Pornographie-Gesetzes finden sich u.a. in Allen 2007 und Arnez 2010.
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lassene Gesetz Nr. 22/1999, das den Regionen mehr Kompetenzen zubilligte. Die Absicht bestand darin, in Abgrenzung zum zentralistischen SuhartoRegime, nun die Nähe zum Volk sowie Transparenz herzustellen43. Auf der Grundlage dieses Gesetzes wurde eine Vielzahl neuer Verordnungen erlassen. Salim unterteilt sie in perda für die Regulierung der öffentlichen Ordnung und sozialer Probleme, Regelungen, die sich mit Religiosität und diesbezüglichen Verpflichtungen befassen, und Verordnungen für muslimische Kleidung44. Bush, auf Salim rekurrierend, postuliert, dass sich von den 78 perda, die ihm zum Zeitpunkt seiner Analyse bekannt waren, nur die letzten beiden Kategorien, die insgesamt 55 Prozent ausmachen, konkret auf den Islam beziehen, während erstere, ungefähr 45 Prozent, auf allgemeine Regelungen der öffentlichen Moral wie Prostitution, Glücksspiel und den Verkauf alkoholischer Getränke rekurrieren45. Wie Bush im Einzelnen ausführt, machen 33 Prozent der auf den Islam bezogenen perda islamische Kleidung zur Vorschrift für bestimmte gesellschaftliche Gruppen wie Studenten oder Beamte, während weitere 40 Prozent von Schülern, Studierenden, Brautleuten und Beamten die Fähigkeit einfordern, den Koran lesen zu können und weitere 27 Prozent zakat, das Spenden von Almosen, regulieren46. Obwohl sich nicht alle dieser Verordnungen konkret auf den Islam beziehen, haben die perda zu kontroversen öffentlichen Diskussionen geführt. Befürworter argumentieren, man benötige diese um dem Verfall der guten Sitten entgegenzuwirken und Bürger vor Gefahren wie Prostitution und Glücksspiel zu schützen. Des Weiteren sei die Scharia eine Alternative zum korrupten säkularen Gerichtswesen. Aktivistinnen47 gehören zu denjenigen, die sich vor allem gegen die Implementierung solcher perda ausgesprochen und eingesetzt haben, mit der Maßgabe, dass Frauenrechte durch sie massiv eingeschränkt werden, auch wenn sie nicht immer implementiert sind. Aktivistinnen von Komnas Perempuan (Nationale Frauenkommission), die
43 Vgl. Schulte Nordholt /Klinken 2007: 13. 44 Vgl. Salim 2007: 126. 45 Vgl. Bush 2008: 176. 46 Ebd.: 177. 47 Laut Feillard und Madinier sind es vorwiegend Feministinnen und Menschenrechtsorganisationen, die sich gegen die perda sharia ausgesprochen haben. Vgl. Feillard/Madinier 2011: 236.
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sich vorwiegend mit Frauenrechten befasst, konstatierten bereits Ende 2010, dass insgesamt 189 perda diskriminierend gegenüber Frauen oder Minderheiten seien48. Nach ihren Angaben existierten Ende Mai 2011 mindestens 200 perda, die Menschen wegen ihrer Religion oder Moralvorstellungen diskriminierten49. Allein 30 perda seien explizit dafür konzipiert, den weiblichen Körper und das Verhalten von Frauen zu regeln50. Yuniarti Chuzaifah, Vorsitzende von Komnas Perempuan, erläutert, dass perda gegen Prostitution zwar ursprünglich zum Schutz der Frauen gedacht gewesen seien, sie sich aber nachteilig ausgewirkt hätten. Als Beispiel nennt sie, dass Frauen auf der Grundlage solcher Regelungen wie beispielsweise in Tangerang und Bantul dazu geführt hatten, dass sie fälschlicherweise der Prostitution bezichtigt und demzufolge inhaftiert wurden51. Auf diesen Umstand hatten Aktivistinnen in der Organisation Mitra Wacana (Freund des Diskurses) bereits 2008 reagiert. Hierbei handelt es sich um eine kleine lokale Organisation, die im Jahre 1996 in Yogyakarta gegründet wurde und von einer niederländischen Stiftung namens CORDAID finanziell unterstützt wird. Mitra Wacana fungierte längere Zeit als ein Forum für Diskussion und Information und wurde im Jahre 2005 eine eigenständige Organisation. Laut der Vorsitzenden Enik Maslahah wird das Empowerment von Frauen vor allem durch eine rigidere Praxis der islamischen Religion erschwert52. Als sie von dem perda 2007 berichtet, das im Süden von Yogyakarta, in Bantul, gegen Prostitution erlassen wurde, wird ihre kritische Einschätzung deutlich. Sie hält das Gesetz für gefährlich, da gegen unschuldige Frauen, die abends allein unterwegs waren, schon mehrfach der unberechtigte Vorwurf der Prostitution erhoben worden sei und mehrere von ihnen daraufhin inhaftiert worden seien53. Laut Enik zielt das lokale Gesetz vor allem auf religiöse Polarisierung und die Verdrängung der Frau aus dem öffentlichen Raum ab. Ein weiteres Motiv sei geschäftlicher Natur: die Regierung in Bantul wolle den Strandort Parang-
48 Vgl. Priyambodo 2011. 49 Vgl. Firli/Timo 2011. 50 Ebd. 51 Vgl. Dyah Ayu 2011. 52 Interview mit Enik Maslahah (22.05.2008), Yogyakarta. 53 Interview mit Enik Maslahah (22.05.2008), Yogyakarta. Die folgenden Informationen sind demselben Interview entnommen.
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tritis mit Hilfe des Gesetzes in ein Touristenressort verwandeln. Die Gegend am Strand sei aber dafür bekannt, dass sich dort viele Prostituierte in den Unterkünften aufhielten. Es gelte nun, die Gegend von Prostituierten zu 'säubern', um das schlechte Image von Parangtritis abzuwaschen. Dazu mache man sich auch eine rigidere Praxis der Religion zunutze. Eine Folge dieser Politik bestehe zudem darin, dass die Praxis des kejawen, javanischem Mystizismus, zurückgedrängt worden sei. Ihre Anhänger hätten sich früher zu Ritualen an den Strand begeben, in stiller Meditation. Dies wagten sie nun jedoch nicht mehr, aus Furcht vor möglicher Sanktionierung. Mitra Wacana habe bereits 2007 eine Diskussionsrunde veranstaltet, bei der auch eine Person von der Distrikt-Regierung Bantul anwesend gewesen sei. Da diese aber nicht von ihrer Meinung abgedrückt sei, dass alle Prostituierten aus Parangtritis verschwinden müssten, habe Mitra Wacana als Gegenreaktion eine Allianz gegen das Gesetz gegründet, gemeinsam mit 20 weiteren Organisationen.54 Sie hätten eine Kampagne gestartet, die hauptsächlich über lokale Radio- und Fernsehsender verbreitet worden sei.55 Die Unterstützung von Komnas Perempuan hätten sie ebenfalls erbeten, um die Allianz zu stärken und damit möglicherweise positive Veränderungen zu bewirken. Diese Hoffnung, so lässt sich konstatieren, hat sich zumindest nicht in der Gesetzgebung materialisiert, da der Oberste Gerichtshof bislang keines der als diskriminierend eingestuften perda rückgängig gemacht hat. Feillard und Madinier sehen gerade hierin eine zentrale Ursache für die weite Verbreitung islamischer Normen in Indonesien.56 Diese Entscheidung zeige, dass religiöse Gesetze außerhalb der klassischen Hierarchie des Gesetzes stünden und daher auch jenseits jeglicher legaler Strukturen etabliert werden könnten. Als Beispiel nennen sie die Verpflichtung, den Schleier als Teil der Schuluniform zu tragen, auch wenn diesbezüglich keine perda implementiert sind.57 Im Folgenden soll analysiert werden, inwiefern differierende Formen der Verschleierung unterschiedliche Implikationen auf die
54 Sie weist zudem darauf hin, dass nur vier von ihnen aktiv sind: die Institutionen PKPI Yogya, SP Solidaritas Perempuan, LKIS und INAP. 55 Genannt wurden in diesem Kontext Radio Anak Yogya, MBS, Elfira, Sonora und RPFM. 56 Vgl. Feillard/Madinier 2011: 237. 57 Ebd.
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Diskussion um eine Veränderung der Geschlechterordnung in Indonesien haben.
V ERSCHLEIERUNG ALS A USDRUCK HETEROGENER E NTWICKLUNGEN : R ELIGIOSITÄT UND I DENTITÄT Verschleierung in Indonesien ist ein vielschichtiges Phänomen, das Hinweise auf das Verhalten, die Intentionen und die Verortung der jeweiligen Akteurinnen, mit der Begrifflichkeit von Bourdieu, den Habitus (1997), gibt. Sowohl die Formen der Verschleierung als auch die individuellen Entscheidungen, den Schleier zu tragen, können von unterschiedlichen Motivationen beeinflusst sein. Eine ist sicherlich auf den Wunsch nach Veränderung der eigenen Persönlichkeit bezogen und die Intention, aufgrund eines neuen Bewusstseins (kesadaran) das persönliche Streben zu mehr Religiosität sowie die Hingabe zu Gott auch öffentlich sichtbar zu machen. Diese Frauen sprechen oftmals von einer Erfahrung der Erleuchtung, aber auch der gleichzeitigen Bürde der Verantwortung, die mit dem Tragen des Schleiers einhergeht.58 Im Gegensatz dazu gibt es auch viele junge Frauen, die den Schleier als Teil eines hübschen Modeaccessoires ansehen und ihn tragen, um ihr Modebewusstsein zu dokumentieren. Ein weiterer möglicher Impetus ist das Streben nach mehr Integration in die islamische Gemeinschaft (umat) sowie der Wunsch mit neuen Ausdrucksformen zu experimentieren. Mitunter wird auf Frauen auch sozialer Druck ausgeübt, insbesondere von islamistischen Gruppierungen, die Verschleierung als einen essentiellen Teil weiblicher Keuschheit und Reinheit betrachten, und sie fühlen sich daraufhin veranlasst, den Schleier zu tragen. Zusätzlich zu individuellen Motivationen differenziert Smith-Hefner zwischen verschiedenen Gruppen: vor allem islamische (ehemalige) Internatsschülerinnen und Islamistinnen, deren Heterogenität auch verschiedene Formen der Verschleierung bedingt:
58 Vgl. Brenner 1996: 683.
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„For many young women from pesantren (Muslim boarding school) backgrounds, the less restrictive kerudung is a familiar and natural symbol of their connection to and identification with the traditionalist community in which they were raised and educated. Some members of this group have embraced a liberal, even feminist vision of Islam and of women’s roles within it. Others have joined the growing group of ‚born-again‘ Islamists and have exchanged their looser kerudung for the more severe and enveloping jilbab. In its least fashionable and most deliberately unalluring form, the new veil symbolizes the wearer’s commitment not only to a stricter interpretation of Islamic norms but also to a disciplined community defined by pervasive controls on dress, lifestyle, and interactions with the opposite sex. The most militant participants in this community adopt the full chador, covering themselves from head to toe.“ (Smith-Hefner 2007: 415)
Sie führt fort, dass keine dieser Gruppen allerdings bislang die Hoheit über die Auslegung muslimischer Moderne gewonnen habe.59 Auch wenn ich diese Meinung teile, argumentiere ich, dass Verschleierung innerhalb der letzten 30 Jahre zunehmend zu einem Bestandteil indonesischer Alltagskultur geworden ist, der als politisch korrekt empfunden wird. Zum einen hat der Schleier in den letzten 30 Jahren stark an Popularität gewonnen, insbesondere in urbanen Räumen. Der weibliche Körper wird zunehmend verhüllt; der indonesische Ausdruck, der in Anlehnung an die islamische Vorstellung von awrah verwendet wird, ist tutup aurat und bezeichnet die Teile des männlichen und weiblichen Körpers, die gemäß islamischer Vorstellung bedeckt sein sollen.60 Der Wunsch, den Schleier in der Öffentlichkeit als religiöses Symbol zu tragen, hängt mit der islamischen Revitalisierung zusammen, die sich in diesem Zeitraum vollzogen hat. Die zunehmende Beliebtheit des Schleiers ist auch durch mehrere Studien zum Schleier in Indonesien belegt. Während laut Smith-Hefner in den 1970er Jahren nur drei Prozent der Studentinnen an den Universitäten verschleiert waren, lag der Prozentsatz der verschleierten Studentinnen Ende der 1990er und Anfang der 2000er bei 60 Prozent.61 Während meiner Feldforschung 2008 und 2009 waren unverschleierte Studentinnen an der Uni-
59 Vgl. Smith-Hefner 2007: 415. 60 Aurat wird in Indonesien auch mit Nacktheit allgemein konnotiert. 61 Vgl. Smith-Hefner 2007: 389f. Auch Brenner spricht von Verschleierung in den frühen 1990er Jahren als „marginale Praxis“ (1996: 691).
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versität Gajah Mada in der Minderzahl, und mehrere Informantinnen äußerten die Ansicht, dass sie sich ohne den Schleier unwohl fühlen würden, da sie sich in dem Falle als Fremdkörper empfänden. Sie sind Anhängerinnen der muslimischen Mittelklasse, die seit der islamischen Revitalisierung an Bedeutung gewonnen hat und sich durch ein vergleichsweise hohes Bildungsniveau auszeichnet. Diese Frauen definieren sich zunehmend über die islamische Religion und nicht mehr primär über ihre Zugehörigkeit zu Nationalität oder Ethnie. Für sie ist Verschleierung verstärkt zu einem Symbol des Engagements in einer modernen islamischen Welt geworden62, die sie selbst aktiv mitgestalten können. Folgt man diesem Argument, so erscheint es nicht verwunderlich, dass heute die Mehrheit der muslimischen Aktivistinnen einen universitären Abschluss hat und viele der Frauen selbst im Bildungssektor tätig sind, oftmals in islamischen Einrichtungen. In den Provinzen unterrichtet ein substanzieller Teil der Akteurinnen an islamischen Kindergärten und Schulen.63 In öffentlichen Diskursen in Indonesien ist Verschleierung ein Gegenstand scharfer Kontroversen. Um es mit den Worten von Wichelen auszudrücken: „Veiling discourses are resisted, contested, and collide even from within“64. Um diesen Widersprüchen nachzuspüren, sollen im Folgenden vor allem diejenigen Diskussionen kontextualisiert und analysiert werden, in denen der Schleier als Symbol der Unterdrückung oder der Befreiung verhandelt wird, um im Anschluss daran Fallbeispiele aus der Feldforschung für individuelle Motivationen den Schleier zu erörtern. Beginnen möchte ich mit der Verpflichtung außerhalb religiöser Verordnungen, den Schleier als Teil der Schuluniform zu tragen, auf die Farha Ciciek schon im Jahre 2008 Bezug genommen hat. Im Kontext ihrer Forschung zu zunehmenden islamistischen Tendenzen in Schulen stellte sie für den Standort Yogyakarta fest, dass es zwar keine offizielle Verpflichtung gäbe, den Schleier zu tragen, die Mädchen an den Schulen jedoch durch sozialen Druck gezwungen seien, sich zu verschleiern.65 Die weiterführenden Schulen würden von Islamisten indoktriniert: den Mädchen werde eine unterge-
62 Vgl. Smith-Hefner 2007: 385. 63 Beobachtungen aus eigener Feldforschung. 64 Vgl. Wichelen 2010: 69. 65 Interview mit Farha Ciciek (07.05.2008), Jakarta. Die folgenden Informationen, ebenso wie das wörtliche Zitat, sind demselben Interview entnommen.
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ordnete Stellung zugewiesen und sie dürften an vielen öffentlichen Aktivitäten nicht teilnehmen. Es handele sich hierbei um Diskriminierung der Mädchen, und man könne von einem ‚Mainstreaming des Islamismus‘ an weiterführenden Schulen sprechen. Dieser Versuch sei bei islamischen Schulen (madrasah) ebenfalls zu beobachten, wenn auch noch nicht so weit fortgeschritten. Im Gegensatz dazu sei es für die Islamisten schwieriger, in die islamischen Internate (pesantren) der muslimischen Massenorganisation Nahdlatul Ulama einzudringen. Der Grund bestehe darin, dass in pesantren unterschiedliche Interpretationen der religiösen Quellen besprochen würden, die Schülerinnen und Schüler die Texte sehr gut beherrschten und auf eine Sure mit 20 Suren antworten könnten. Farha Ciciek konstatiert: „Der Fundamentalismus kann sich in den Kreisen bewegen, die Geertz als abangan66 bezeichnet hat. Sie verstehen nicht genug von islamischen Lehren“. Als ein positives Beispiel nennt die Aktivistin einen Vorfall in Jember, wo eine Vorschrift für Frauen, sich zu verschleiern, abgelehnt worden war. Der damalige NU-Vorsitzende in Jember sei früher Vorsitzender der Frauenrechtsorganisation Rahima gewesen und habe den Mut aufgebracht, sich gegen nicht progressive regionale Verordnungen zur Wehr zu setzen. Die zunehmende Verpflichtung für Mädchen, sich an weiterführenden Schulen zu verschleiern, ist einerseits eine Umkehr der Doktrin des Suharto-Regimes, im dem der Schleier häufig als Symbol der Rückständigkeit und einem Mangel an Modernität abgelehnt wurde.67 Die neuen Regularien haben allerdings auch Kritikerinnen wie Farha Ciciek auf den Plan gerufen, die die Tendenz zur Zwangsverschleierung als Mittel der Unterdrückung von Frauen ansehen. Islamisten und viele fromme Musliminnen sehen das anders und messen dem Schleier eine besondere Bedeutung bei. Er steht für moralische Integrität und Abgrenzung gegen Westernisierung, ist aber für manche auch ein modisches Kleidungsstück. Islamistinnen bestehen darauf, dass der Schleier, auch wenn sein Tragen Pflicht ist, nicht als Symbol der Unterdrückung, sondern vielmehr der Befreiung zu betrachten sei:
66 Clifford Geertz hat Muslime in seinem bekannten Werk „The Religion of Java“ in abangan (nicht orthodoxe Muslime), santri (orthodoxe Muslime) und priyayi (Angehörige der Aristokratie, traditionelle bürokratische Elite) eingeteilt. 67 So verbot Suharto beispielsweise in den 1980er Jahren die Verschleierung von Büroangestellten.
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„Islamist women are particularly defensive of the veil. The actual imposition of the veil and the form it has taken is a contested domain. Nevertheless, many Muslim women have chosen the veil as the symbol of Islamisation and have accepted it as the public face of their revivalist position. For them the veil is liberating, and not an oppressive force. They maintain that the veil enables them to become the observers and not the observed; that it liberates them from the dictates of the fashion industry and the demands of the beauty myth. In the context of the patriarchal structures that shape women’s lives, the veil is a means of bypassing sexual harassment and ‘gaining respect’.“ (Afshar 1996: 198)
Sie sehen die Kontrolle über den eigenen Körper durch rigide Dresscodes (lange, weite Schleier oder der chador) als Instrument der Ermächtigung. Freiwillig bringen sie ein Opfer dar, um sich Gott vollständig hingeben zu können. Durch die Disziplinierung ihres eigenen Körpers, wie sie Bartky schon für Praktiken der Femininität und des Make-up beobachtet hat68, erreichen sie ein Gefühl der Kontrolle und Möglichkeit der Einflussnahme, sowohl auf ihren eigenen Körper als auch auf die Ausformung ihrer Identität. Viele Islamistinnen tragen lange weiße Schleier, wobei die weiße Farbe moralische Hygiene, Reinheit, tiefe Religiosität und sexuelle Restriktionen für die Frau symbolisiert. Sie lehnen die Kommerzialisierung der Verschleierung und insbesondere die Verwendung des Schleiers als Modeaccessoire, die in der indonesischen Gesellschaft weit verbreitet ist, strikt ab. Dabei verurteilen sie insbesondere die elektronischen sowie die Printmedien und fiksi Islam, islamische Unterhaltungsliteratur, die sie als gesellschaftliche Elemente wahrnehmen, die den Schleier vermarkten und seinen religiösen Wert degradieren. Bezogen auf fiksi Islam missbilligen sie auch die derzeit populären Darstellungen voll verschleierter Frauen mit modischem Gesichtsschleier und verführerischen Augen – ein Bild, das seit dem sensationellen Erfolg des Romans Ayat-ayat Cinta (Liebesverse, 2004) von Habiburrahman El Shirazy auf vielen Einbänden von Romanen verwendet wird. Dieses Bild empfinden Islamistinnen als Verzerrung ihres Glaubens und Verletzung der Regeln angemessener muslimischer Kleidung, die jede Art von tabarruj, Darstellung eigener Schönheit, verbietet.69
68 Vgl. Bartky 1990: 77. 69 Vgl. Amrullah 2011: 72, 73.
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Dass Islamistinnen zur Rekrutierung neuer Mitglieder auch mit der Angst der betreffenden Personen vor den möglichen Folgen der Sünde spielen, die mit ‚unkorrekter‘ Verschleierung verbunden ist, reflektiert auch die Erzählung von Alimatul Qibtiyah, einer Dozentin an der UIN Sunan Kalijaga in Yogyakarta und Mitglied der modernistischen Frauenorganisation Aisyiah. Bei einem Gespräch mit ihr in der Universität machte sie mich auf ihren Blog „Hijrah to Hijrah“ aufmerksam, in dem sie ihre eigenen Erfahrungen mit Mitgliedern eines islamischen Studienkreises (usroh) niedergelegt hat.70 Zu dem Zeitpunkt, so Alimah, habe sie noch keinen Schleier getragen. Ein einschneidendes Erlebnis sei für sie gewesen, dass die Frauen des Studienkreises gesagt hätten, wenn man keinen Schleier trage, würden im Leben nach dem Tode (akhirat) die Haare in der Hölle verbrannt. Sie habe davor große Angst gehabt und sich fortan stärker mit der Frage der Verschleierung auseinandergesetzt. Von diesem Zeitpunkt an habe sie an den einmal wöchentlich stattfindenden Treffen teilgenommen. Um sich die passende Kleidung, einen langen Schleier und ein langes Gewand, kaufen zu können, habe sie 1989 in ihrer Klasse Snacks verkauft. Erst nach einigen Jahren habe sie begonnen, die in dem Zirkel verbreiteten Ideen anzuzweifeln und die Notwendigkeit, einen langen Schleier zu tragen zu hinterfragen. Insgesamt habe ihre Suche nach dem ‚richtigen‘ Schleier 15 Jahre gedauert. Zusätzlich zu den Erfahrungen, die sie in ihrem Blog schildert, informierte sie mich darüber, dass sie über das Magazin Ummi in diese Kreise gekommen ist, eine Zeitschrift, die sich an eine islamistische weibliche Leserschaft richtet. Auf meine Frage, was die besondere Attraktivität des Studienkreises ausgemacht habe, antwortet sie: „Als Teenager sind wir doch in der Identitätsbildung und sind auf der Suche nach etwas Neuem. Und dies war schließlich etwas Neues, Interessantes. Es hat etwas mit der Psyche der Teenager zu tun.“ Auch die Atmosphäre in dem usroh sei sehr herzlich gewesen, man habe sich bei der Begrüßung immer umarmt und geküsst. Es sei wie eine Familie gewesen. Obwohl Islamisten bislang nicht die Hoheit in der Debatte um Verschleierung haben, so ist es sicherlich auch auf ihren Einfluss zurückzuführen, dass heute in Indonesien jede Kritik an Praktiken der Verschleierung
70 Interview mit Alimatul Qibtiyah (02.06.2008), UIN Kalijaga, Yogyakarta. Die folgenden Informationen sind demselben Interview entnommen, einschließlich des wörtlichen Zitates.
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im Keim erstickt wird. Wie Abshar-Abdalla korrekt konstatiert, kann eine kritische Aussage über den Schleier zu einem Vorwurf der Blasphemie oder der Ungläubigkeit an die Religion oder ihre heiligen Symbole führen und mit einer maximalen Haftstrafe von fünf Jahren geahndet werden.71 Das folgende Beispiel an einer internationalen Schule, der Geeta International School (GIS) in der westjavanischen Stadt Cirebon, illustriert die scharfen Reaktionen, die auf das Verbot der Schule von religiösen Symbolen, einschließlich des Schleiers, erfolgt sind. Speziell die Massenorganisation Muhammadiyah und der Religionsrat Indonesiens (MUI) verurteilten dieses Verbot.72 Auch andere muslimische Organisationen wie die GMC (Gerakan Muslim Cirebon, Bewegung der Muslime Cirebons) und die AMC (Aliansi Masyarakat Cirebon, Allianz der Gesellschaft Cirebons) schlossen sich den Protesten an und stellten Subardi, dem Bürgermeister von Cirebon, sogar ein Ultimatum, bis wann er Maßnahmen bezüglich der Entscheidung treffen soll.73 Andi Mulya, Vorsitzender des FUI (Forum Umat Islam, Forum der Islamischen Gemeinschaft), sagte, das Verbot religiöser Symbole der Schule widerspreche der Verfassung von 1945 sowie dem Wunsch der Bevölkerung, der islamischen Gelehrten (ulama) und der Distriktregierung in Cirebon.74 Auch Slamet Effendy Jusuf, ein ehemaliger Golkar-Politiker und jetziger Vorsitzender der Abteilung für Harmonie zwischen religiösen Gemeinschaften des indonesischen Religionsrats (MUI)75 hatte schnell reagiert. Wie die Tageszeitung Republika berichtete, bat er das Bildungsministerium und die Provinzregierung in Cirebon darum, sich mit der Frage zu befassen, ob die Schule unter diesen Umständen ihre Lizenz behalten dürfe76. Am 06. Februar 2012 berichtete das Nachrichtenportal Tempo, dass die Schule den Schleier für Schülerinnen infolge der Warnungen und Drohun-
71 Vgl. Abshar-Abdalla 2011. 72 Vgl. Muhammad/Amrullah 2012. 73 Vgl. Akhmad/Handayani 2012. 74 Ebd. 75 Trotz der konservativen Haltung des MUI hat dieser eine Abteilung für Harmonie zwischen den religiösen Gemeinschaften etabliert. Slamet Effendy hat sich in der Öffentlichkeit dafür ausgesprochen, dass diese Harmonie als Grundlage der nationalen Harmonie eine Notwendigkeit sei, deren Stabilität gewahrt werden müsse. Vgl. hierzu Rastika/Suprihadi 2011. 76 Vgl. Ruslan/Amrullah 2012.
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gen schließlich doch wieder zulasse77. Sie bezog sich dabei auf Angaben von Anwar Sanusi, dem Vorsitzenden des Bildungsbüros der Stadt Cirebon, der auch eine schriftliche Erklärung der Entscheidung gegenüber dem Bildungsbüro verlangte. Die auf das Verbot religiöser Symbole gezeigten vehementen Reaktionen zeugen von der tief verwurzelten Sorge vieler Muslime, dass ihnen Rechte, die sie seit dem Sturz Suhartos erringen konnten, wieder entzogen werden könnten. Besonders bedroht sehen sie sich von transnationalen Entwicklungen wie etwa dem Verbot der Verschleierung für Lehrerinnen an französischen Schulen. Mögliche Anzeichen, die darauf hindeuten, dass sich solche Entwicklungen auch in Indonesien vollziehen könnten, werden deshalb möglichst schnell bekämpft. Obwohl eine solche ‚OpferErzählung‘ heute als nicht mehr glaubwürdig erscheint78, übt diese tief sitzende Angst vor Diskriminierung noch immer Einfluss auf viele Entscheidungen aus, die den Umgang mit religiösen Symbolen betrifft. Zudem macht das Beispiel aber auch deutlich, dass Verschleierung heute, als ein Teil indonesischer Kultur, für selbstverständlich erachtet wird, ebenso wie das Recht der Musliminnen sich zu verschleiern. Die Frage nach der jeweils angemessenen Verschleierung für Akteurinnen ist notwendigerweise auch mit der Frage verbunden, welche Auffassung von Kultur (kebudayaan) sie haben und welcher Gruppe sie sich zugehörig fühlen. So betrachten viele Aktivistinnen der Fatayat NU sowie der Muslimat NU, eine mit der Nahdlatul Ulama assoziierte Frauenorganisation für Frauen über 45 Jahren, den Schleier als kulturelle Kleidung und als inhärenten Teil ihrer Identität. Im Zuge lokaler Empowerment-Programme in den Provinzen verwenden sie ihn auch als Geschäftsartikel, den sie verzieren und verkaufen.79 Des Weiteren sehen sie den Schleier als Möglichkeit der Abgrenzung zur arabischen Kultur. Sri Mulyati, Dozentin an der Fakultät für Theologie und Philosophie der UIN Jakarta, Vizedirektorin der Graduiertenschule und langjährige Vorsitzende der Fatayat NU, vertrat die Auffassung, die lokalen Gegeben-
77 Vgl. Syah 2012. 78 Vgl. Feillard/Madinier 2011: 267. 79 Die Schleier werden gewöhnlich in lokalen Treffen mit Pailletten verziert und bei Zusammentreffen der Frauen oder größeren Veranstaltungen wie beispielsweise Jahresgedenktagen verkauft. Dies gilt auch für Frauen in der Aisyiyah und Nasyiatul Aisyiyah.
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heiten und ‚Instrumente‘ des Islam differierten, wenn auch die Essenz des Islam dieselbe sei.80 Als Beispiel hierfür nannte sie die Verschleierung, die sich von derjenigen im Nahen Osten vor allem dadurch unterscheide, dass es in Indonesien aufgrund seiner spezifischen Kultur nicht nötig sei, sich vollständig zu verschleiern. Auch das Schattenspiel, wayang, erwähnte sie als ein für Indonesien typisches Mittel zur Verbreitung des Islam im Archipel. Ihrer Meinung nach ist ‚lokale Weisheit‘ im Kontext der Ausübung des Islam wichtig. Statt des Begriffs ‚Islam pribumi‘, einheimischer Islam, bevorzugt sie jedoch ‚Islam Indonesia‘, indonesischer Islam. Andererseits wird die Tatsache, dass in den letzten Jahren mehr Frauen den chador tragen, von Akteurinnen in muslimischen Frauenorganisationen bisweilen auch als unerwünschtes Eindringen in ihre Kultur empfunden. So empfindet Herliani, Vorsitzende der NA Kotagede, die Verschleierung arabischen Stils als Infiltrierung der NA-Mitglieder.81
W EGE
ZUR E RMÄCHTIGUNG : WELCHE R ECHTE HABEN MUSLIMISCHE
F RAUEN ?
Ein weiteres unter Muslimen sehr kontrovers diskutiertes Thema sind Frauenrechte, die anhand der Auslegung islamischer Quellen verhandelt werden. Auch hierbei gibt es große Unterschiede in der Argumentation zwischen verschiedenen islamischen Strömungen und Gruppierungen. Assyaukanie schreibt hierzu: „Classical Islamic sources have been contested by both Muslim conservatives and Muslim liberals to justify their respective views on women. While the former would look for verses or traditions (hadith) which can support their view on the subordinate status of women, the latter look for emancipation and equality.“ (Assyaukanie 2009: 123)
Unabhängig von ihrer jeweiligen Ausrichtung und Zielsetzung teilen jedoch die meisten muslimischen Organisationen und Parteien, auch islamistische, die Auffassung, dass Frauen nicht nur auf eine Rolle im häuslichen Umfeld
80 Interview mit Sri Mulyati (20.04.2008), Jakarta. 81 Interview mit Herliani (12.06.2008), Yogyakarta.
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reduziert werden sollten. Die islamistische HTI argumentiert beispielsweise, Frauen sollten Ehefrau und Mutter sein, sich um die Kinder kümmern, sie sollten aber auch in der Öffentlichkeit wirken, um politische Bildung weiter zu geben.82 Saroh, eine HTI-Aktivistin, gewichtet die Rolle der Frau als Hausfrau und diejenige in der Öffentlichkeit gleich stark. Die Notwendigkeit der Erfüllung häuslicher Pflichten begründet sie damit, dass nur auf diese Weise eine gute Bildung für den Nachwuchs ermöglicht werde und gottesfürchtige Kinder heranwüchsen.83 Mit Hilfe der häuslichen Aktivitäten kämpfe die Frau zudem für die islamische Gemeinschaft der Zukunft. Durch das Engagement der Frauen in der Öffentlichkeit könnten künftig „alle Probleme wie Armut, Dummheit und Kolonialisierung“ gelöst werden. Eine duale Rolle der Frau im Hause und im öffentlichen Raum, möglichst auch in der Politik, sei dementsprechend von Bedeutung, um die Ziele der HTI zu erreichen. Diese duale Rolle wird auch von PKSAktivistinnen als notwendig erachtet. In beiden Fällen werden Männer jedoch als oberste Führungskräfte nicht hinterfragt, da diese im Koran begründet sei. Hingegen haben andere muslimische Akteurinnen und Akteure insbesondere seit den 1990er Jahren versucht, mit Hilfe einer neuen Auslegung islamischer Quellen die Rechte von Frauen in der indonesischen Gesellschaft zu stärken. Beispiele hierfür finden sich in den Organisationen Fatayat NU, Yayasan Kesejahteraan Fatayat (Fatayat Wohlfahrtsstiftung), des Fahmina Instituts und der Rahima.84 Wie Feillard und Madinier richtig herausstellen, sind Frauenrechte ein Feld, das im Zuge der theologischen Erneuerung von besonderer Bedeutung ist: „[…] women’s rights and the place of women in society has been one of the arenas in which the theological renewal has been especially fertile. This subject takes on in Indonesia a special significance because it symbolizes the clash between two tradi-
82 Interview mit Kita, HTI-Mitglied (09.03.2009), Yogyakarta. 83 Gespräch mit Saroh, HTI-Mitglied (19.03.2009), Gresik. 84 Viele der Aktivistinnen und Aktivisten verfügen über Erfahrung und fundierte Kenntnisse der sharia und des fiqh (Aufzeichnung von Verhaltensregeln, die religiöse Gelehrte aus dem Koran, Traditionen, Analogien der beiden Quellen und dem Konsens von Legalisten abgeleitet haben), die sie oftmals an islamischen Universitäten erlangt haben.
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tions – the more liberal tradition of the Archipelago versus that conveyed by MiddleEastern Islam.“ (Feillard/Madinier 2011: 266)
Die kontextuelle Lesart der Texte, so die Argumentation der Aktivistinnen, erfordert die kontinuierliche Entwicklung und Anpassung an die heutigen Gegebenheiten. Wie die ehemalige Vorsitzende der Fatayat NU, Maria Ulfah Anshor, verdeutlicht, ist die Praxis der Auslegung islamischer Quellen jedoch kein Novum. In der Fatayat NU liege der Fokus auf Themen wie Gewalt gegen Frauen, reproduktive Gesundheit, Empfängnisverhütung und Menschenhandel, insbesondere von Frauen und jungen Mädchen.85 Allerdings ist an dieser Stelle anzumerken, dass eigene neue Auslegungen islamischer Quellen durch Aktivistinnen eine Ausnahme bilden. Bisher sind nur wenige Fälle bekannt, in denen ein solcher Versuch unternommen wurde, etwa der Vorstoß von Siti Musdah Mulia, das Familienrecht zu reformieren und eine Publikation von Maria Ulfah Anshor, die sich dem Thema Abtreibung widmet.86 In letzterem widerlegt sie die weit verbreitete Auffassung, dass Abtreibung im Islam generell verboten ist, indem sie Beispiele aus allen vier Sunni Rechtsschulen bringt, die Abtreibung unter bestimmten Bedingungen erlauben. Zudem empfiehlt sie, dass die Gesundheit der Frau im Vordergrund stehen und die Problematik der Abtreibung sekundär sein solle.87 Die Fatayat NU hat vor allem versucht, bei der Auslegung von Koranversen und islamischem Recht Einfluss auf männliche Religionslehrer an islamischen Internaten (kiai) auszuüben und damit der Tatsache Rechnung getragen, dass männliche Religionsgelehrte die Hegemonie über die Deutung islamischer Quellen haben. Die Zusammenarbeit mit pesantren ist die Strategie, welche die o.g. muslimischen Organisationen bevorzugt anwendeten, um ihre Vorstellungen der Geschlechterordnung in die
85 Interview mit Maria Ulfah Anshor (23.04.2008), Fatayat NU, Jakarta. 86 Beide Frauen waren langjährig in der Fatayat NU aktiv. Maria Ulfah Anshor war Vorsitzende von 2000-2010, Musdah Mulia war von 1986-1990 Vorsitzende der Fatayat in Süd-Sulawesi. Später (von 2000-2005) war sie Generalsekretärin der Muslimat NU. 87 Zur Auslegung der Abtreibung durch Maria Ulfah Anshor siehe Arnez 2009: 84f.
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Gesellschaft hineinzutragen.88 Siti Musdah Mulia hat schon im Jahre 2002 auf die Problematik hingewiesen, die sich aus einem solchen Ansatz heraus ergibt: die Tatsache, dass viele kiai den Vorstellungen der Frauen eher mit Ablehnung begegnen, da sie ihrer Meinung nach nicht den religiösen Normen entsprechen: „Das Problem besteht darin, dass nicht alle NU-Bürger, auch die kiai der NU eingeschlossen, die Idee der Kontextualisierung akzeptieren. Häufig tauchen Vorwürfe aus den Kreisen der kiai auf, dass ein solches Denken einen religiösen Irrtum bedeute.“ (Mulia 2002: 34)
Die Fortsetzung des Zitats verdeutlicht jedoch ihre Hoffnung, mit Hilfe der Einwirkung auf männliche religiöse Autoritäten graduell Erfolge erzielen zu können: „Jedoch gewöhnlich nach intensiven und manchmal angespannten Diskussionen sind sie [die kiai]89 überzeugt, dass es nicht mehr an der Zeit ist, das Erbe des Wissens nur textuell oder formal anzunehmen. Schließlich werden sie sich bewusst, dass es einen Transformationsprozess über einen Bewusstseinsprozess geben muss. Der Wunsch ist, dass sich dieser Wunsch entwicklungsgemäß, nicht radikal vollziehen soll […] die Frauen der NU müssen noch hart kämpfen, um Ideen der Gerechtigkeit und Gleichheit der Geschlechter durch Wege der Annäherung und religiöser Sprache zu vergesellschaften, insbesondere in den Kreisen der NU selbst, als ersten Schritt für den Versuch der Steigerung der politischen Partizipation der NU-Frauen […]“ (Mulia 2002: 34)
Ein weiteres Beispiel eines für die Fatayat NU zentralen Themas, der Verhinderung von Menschenhandel, scheint ein Beleg für den Erfolg eines solchen Ansatzes zu sein. Im Juli 2006 wurden zwei Fatwas, religiöse Verordnungen islamischer Gelehrter zu Themen des Glaubens90, zu Menschen-
88 Auf die Nutzung der pesantren als Multiplikator in diesem Kontext hat auch Findeisen hingewiesen (2008: 150). 89 Anmerkung der Verfasserin. 90 Es handelt sich dabei um Aussprüche, die rechtlich nicht bindend sind, jedoch als Empfehlungen zu islamischen Themen von vielen Muslimen ernst genommen werden.
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handel erlassen. Die erste verbietet die Ausbeutung, den Transport, Empfang, die Verlegung durch Einsatz von Bedrohung, Gewalt, Entführung, Fälschung, Machtmissbrauch oder Ausnutzung einer schwachen Position oder Fallenstellen durch Schulden. Die zweite verpflichtet die Regierung, religiöse Autoritäten und die Gesellschaft, solchen Menschenhandel zu verhindern und die Opfer zu schützen91. Eine Informantin bezieht sich auf diese Fatwas und beschreibt die Rolle, die sie als Aktivistinnen vor dem Erlass der Fatwas gespielt haben, folgendermaßen: „Wir versuchen die ulama einzubeziehen, da die NU, was diese Thematik anbelangt, noch nicht viel weiß, während die Fatayat schon viel in diesem Feld (Menschanhandel) gearbeitet hat. Wir involvieren die ulama, um Reinterpretationen des Koran zu diskutieren, Reinterpretationen des islamischen Rechts, sprechen darüber, worum es in den fatwas zu Menschenhandel genau geht und wie sie die Menschen dazu befähigt, Menschenhandel zu verhindern. Es gab eine klare Entscheidung, dass es haram ist und dass es die Pflicht der Menschen ist, Menschenhandel zu verhindern […] Erstens möchten wir die ulama informieren, zweitens möchten wir sie dafür sensibilisieren, was in ihrer Umgebung geschieht.“92
Diese Form der indirekten Einflussnahme bringt jedoch offenkundig Nachteile mit sich. Es ist für die Aktivistinnen schwierig, wenn nicht gar unmöglich, unabhängig von männlichen religiösen Gelehrten eine von der umat akzeptierte Auslegung islamischer Quellen zu begründen. Zudem ist zu bemerken, dass, auch wenn die Fatayat NU den Erlass der beiden von der Nahdlatul Ulama (NU) verabschiedeten Fatwas zum Thema Menschenhandel für sich als Erfolg verbuchte, andere Fälle die Grenzen dieser Art der Einflussnahme deutlich aufzeigen. Konservative ulama der NU haben in den letzten Jahren immer wieder fatwas erlassen, die gerade auch in puncto Frauenrechte einen Rückschritt für Frauenorganisationen bedeuteten. Bekannte Beispiele in diesem Zusammenhang sind der Erlass einer Fatwa durch die NU, welche die Präsidentschaft von Frauen als haram erklärt93 sowie eine Fatwa, welche die Heirat minderjähriger Mädchen erlaubt.94 Auf
91 Vgl. Rofiah 2006. 92 Interview mit Maryam Fithriati (11.08.2006), Fatayat NU, Jakarta. 93 Fatwa Pasuruan, erlassen im Juni 2004. Siehe hierzu Arnez 2009. 94 Beschluss anlässlich des 32. Kongresses der NU in Makassar, März 2010.
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die letztere hat die Fatayat NU gemeinsam mit der Syarikat Indonesia, ein Zusammenschluss von santri zur Beratung der Bevölkerung95, scharf reagiert. Basierend auf den Argumenten, die Heirat eines minderjährigen Mädchens gefährde ihre reproduktive Gesundheit und ihre zukünftigen Kinder und verletze das Gesetz Nr. 23 von 2002 hinsichtlich des Schutzes von Kindern und das Heiratsgesetz Nr. 1 von 1974 forderte diese Allianz sowohl die NU als auch den MUI96 auf, die Fatwa rückgängig zu machen, jedoch bisher ohne Erfolg. Gleichzeitig appellierte sie an muslimische Organisationen, eine Heirat minderjähriger Mädchen aktiv zu verhindern.97 Diese Rückschläge haben bisher nicht zu einer Verminderung des Engagements der Aktivistinnen für Frauenrechte geführt. Im Laufe der letzten Dekade sind jedoch einige Veränderungen zu beobachten, welche die Vergesellschaftung ihrer Ziele und die Arbeit der Aktivistinnen betrifft. Zunächst schließen sich einzelne Gruppierungen zunehmend zu Allianzen und größeren Verbänden zusammen, wenn es um die Positionierung in konfliktiven Diskursen geht. So sind pesantren in Organisationen wie der Fatayat NU oder der Rahima zwar immer noch wichtig für die Verbreitung ihrer Ideen, aber man bedient sich auch einer Vielzahl anderer Möglichkeiten, welche Medien, Literatur, die Durchführung von Workshops sowie die Einbindung muslimischer, auch international bekannter Intellektueller, bieten. Des Weiteren zeichnet sich ab, dass die Arbeit einzelner Organisationen, die sich ehemals sehr aktiv mit der Auslegung islamischer Quellen in puncto Frauenrechten befasst haben, wie der Fatayat Wohlfahrtsstiftung nicht gänzlich verloren ist. Diese 1990 gegründete und bis 2003 aktive, aus der Fatayat NU hervorgegangene Organisation, hatte gemeinsam mit islamischen Gelehrten islamische Quellen interpretiert. Sie diskutierten in YKF über fiqh Nisa98, erörterten anhand von hadith Fragen reproduktiver Gesundheit und der Menstruation. Die jungen Gelehrten schrieben dann auch bald schon selbst zu diesen Themen und verbreiteten ihre Publikationen in
95 Dieser Zusammenschluss besteht aus lokalen muslimischen Organisationen aus insgesamt 31 javanischen Provinzen. 96 Auch der indonesische Rat der Muslime hatte 2009 eine Fatwa erlassen, welche die Heirat Minderjähriger erlaubt, mit der Begründung, es gebe im Islam kein minimales Heiratsalter. 97 Vgl. Syarikat Indonesia 2010. 98 Fiqh, das sich mit Angelegenheiten der Frau befasst.
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pesantren verschiedener javanischer Städte wie z.B. Magelang, Pati, Krapyak und Kotagede über einen Zeitraum von mehreren Jahren.99 Ein weiterer Weg, den YKF beschritt, führte über die Literatur. Sie beauftragte die Schriftstellerin Abidah El Khalieqy damit, einen Roman zu verfassen, der dazu dienen sollte, für die adressierte Leserschaft, Schüler der islamischen Internate (santri), ein zeitgemäßes Verhältnis der Geschlechter zu zeichnen. Die YKF sah Khalieqy als die ideale Autorin für diesen Zweck an, da sie zwei Vorteile auf sich vereinigte: Bildung in pesantren genossen zu haben und eine Schriftstellerin zu sein.100 Seit 2003 wurde diese Organisation, die Doorn-Harder101 als prominentes Beispiel für Neuerungen im Bereich der Interpretationen islamischer Quellen anführte, inaktiv, aufgrund personeller Veränderungen. Ihre Ansätze werden aber in anderen Organisationen aufgegriffen und weiterverfolgt, etwa von LKIS in Yogyakarta oder dem Fahmina Institut in Cirebon. Prominenter Vertreter des letzteren ist kiai Husein Muhammad. Er fungiert als Vorsitzender des Fahmina Instituts, ist einer der Beauftragten der Organisation Komnas Perempuan und leitet das islamische Internat Dar al Tauhid in Arjawinangun, Cirebon. Viele muslimische Aktivistinnen beziehen sich auf ihn, wenn es um die Frage der Interpretation islamischer Quellen geht. Er konstatiert, dass Koranverse Frauen in Fragen der Führung (alqiwâmah) beispielsweise zwar eine untergeordnete Stellung zuweisen, da die Frau als diejenige beschrieben wird, die der Führung bedarf und ihrem Mann gegenüber gehorsam sein muss.102 Dies basiere auf der Vorstellung, dass der Mann der Frau intellektuell und physisch überlegen sei, die unter anderem damit begründet werde, dass Adam von Eva aus dem Paradies vertrieben worden sei und Gott Eva deshalb mit monatlicher Menstruation, Dummheit und Schmerzen bei der Geburt bestraft habe. Hierbei bezieht sich Husein auf Iman Ibnu Jarir al Thabari, einen Spezialisten der Koran-Exegese (tafsir) und seinen Text Jami’ Al-Bayân fî Ta’wîl Âyi Al-Qur’ân.103 Diese Überlegenheit, so Huseins Ar-
99
Interview mit Emma Marhumah, Direktorin des Frauenstudienzentrums der UIN Sunan Kalijaga (09.04.2008).
100 Vgl. Doorn-Harder 2006: 251. 101 Ebd. 244ff. 102 Vgl. Muhammad 2007: 89. 103 Vgl. Muhammad 2007: 91.
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gumentation, sei jedoch relativ und stark mit der sich stets verändernden sozialen Konstruktion der Kultur einer Gesellschaft verbunden.104 Auch für öffentliche Debatten fragen ihn muslimische Aktivistinnen an, damit er mittels seiner akzeptierten Autorität Frauenrechtsfragen mehr Gewicht verleiht. Der jüngste Fall betrifft die Gründung des KTS (Klub Taat Suami, Club Gehorsamer Ehefrauen), in Indonesien, der im Juni 2011, zehn Monate nach der Etablierung des Ikhwan Polygamy Clubs zur Förderung der Polygynie in Malaysia erfolgt war. Die Vorsitzende des Clubs, Gina Puspita, argumentiert, viele Menschen verstünden das Prinzip des Gehorsams im Islam nicht, und KTS diene dazu, hier Aufklärung zu betreiben.105 Die Voraussetzung für den Gehorsam der Frau dem Mann gegenüber sei der Gehorsam des Mannes gegenüber Gott; der Ehemann dürfe gottgegebene Regeln nicht brechen. Die Hauptverpflichtung der Frau liege wiederum in häuslichen Tätigkeiten, sie dürfe aber auch mitunter in der Öffentlichkeit aktiv werden, in Bereichen, die nutzbringend für die Gesellschaft seien.106 Husein Muhammad kritisierte KTS dafür, der Frau eine untergeordnete Rolle zuzuweisen und sie zu marginalisieren.107 Man benötige einen solchen Club nicht und er werde auch keine Unterstützung im Land erfahren.108
S CHLUSSBEMERKUNG Seit dem Sturz Suhartos ist eine Steigerung der Partizipation von Frauen in der Öffentlichkeit zu bemerken, unabhängig von ihrer jeweiligen religiösen Ausrichtung. Diese kann jedoch sehr unterschiedlichen Zwecken dienen, wie anhand der angeführten Beispiele verdeutlicht wurde. Während liberale Aktivistinnen dafür kämpfen, dass sie mehr Rechte erhalten und eine Teilhabe an Auslegungen islamischer Texte einzufordern versuchen, argumentieren Akteurinnen des islamistischen Spektrums für eine dem Mann untergeordnete Position der Frau, der die Aufgabe zukommt, sich für die Belan-
104 Ebd. 105 Vgl. Fazriyati 2011. 106 Ebd. 107 Vgl. Era Muslim 2011. 108 Ebd.
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ge der jeweiligen Organisation einzusetzen, ihre Ziele der umat zu erläutern und sie in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Obwohl beide Ausrichtungen keine rein nationalen Ausprägungen sind, da sie aus globalen Zusammenhängen entstanden und sich weiter entwickelten, zeichnen sie sich auch durch eigene Charakteristika aus. Liberale Aktivistinnen arbeiten eng mit internationalen Organisationen zusammen, welche die Verbesserung von Frauenrechten finanziell unterstützen, halten Vorträge zu Gender-Fragen, veranstalten Workshops zur Steigerung der Partizipation von Frauen in der Politik und setzen Programme zu ihrer Ermächtigung auf der GraswurzelEbene um. Eine der wesentlichen Strategien, wie sich anhand des Beispiels der muslimischen Frauenorganisation Fatayat NU zeigt, ist die gezielte Einwirkung auf die lokale Bevölkerung durch maßgeschneiderte Programme und Aktivitäten. Die Aktivistinnen versuchen gezielt auf Geschlechtergerechtigkeit hinzuwirken, in dem sie mit ulama kooperieren, die ihre Ziele teilen und diese in der Öffentlichkeit vertreten. Akteurinnen des islamistischen Spektrums nehmen die Überlegenheit des Mannes als gottgegeben hin und streben eine Purifizierung des Islam an, die vor allem auch eine Moralisierung der Gesellschaft vorsieht. In den hier analysierten Organisationen drückt sich diese in einer rigideren Form der Verschleierung, Ablehnung jeder Form von Kommerzialisierung109 und Westernisierung aus. Die Ziele der jeweiligen Gruppierungen unterscheiden sich im Hinblick auf die Vorstellungen, die sie von der Zukunft Indonesiens haben. Während die liberalen Aktivistinnen das Bild einer modernen islamischen Frau in einer demokratischen, geschlechtergerechten Gesellschaft anstreben, die dennoch in den Traditionen der Organisation verwurzelt ist, möchten Akteurinnen der islamistischen Ausrichtung das Islamische Recht im Staat etabliert sehen und sehen eine durch Kleidung und Verhalten symbolisierte moralische Normativität als ein Fundament der Gesellschaft. Es sollte jedoch an dieser Stelle verdeutlicht werden, dass es keine trennscharfe Abgrenzung zwischen den beiden Ausrichtungen gibt. Beide verstehen sich primär über ihre religiöse Zugehörigkeit, den Islam, und auf dieser Grundlage interagieren sie auch miteinander. So sind Mitgliedschaften in mehreren Organisationen, z.B. der Fatayat NU und der HTI oder der Nasyiatul Aisyiyah und der PKS nicht ausgeschlossen und kommen auch durchaus vor. Außerdem sind bereits viele Mitglieder aus den Frauenorga-
109 Dies trifft nicht auf die Nashid und andere popkulturelle Elemente zu.
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nisationen entweder von der HTI oder der PKS abgeworben worden. Erfahrungen einzelner Akteurinnen haben zudem gezeigt, dass die Entscheidung, welche die zum jeweiligen Lebensabschnitt passende Ausrichtung des Islam ist, von vielfältigen weiteren Faktoren geprägt ist wie etwa das soziale Umfeld, das speziell für Jugendliche eine besonders wichtige Funktion erfüllt. Demzufolge sollte man die Zugehörigkeit zu einer bestimmten islamischen Richtung nicht als starr und festgefügt betrachten.
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Der arabische Staat und die Politik des Überlebens Das Beispiel Kuwait E LHAM M ANEA
1. E INLEITUNG Angesichts der jüngsten Entwicklungen in der arabischen Welt und der Tatsache, dass einige arabische Präsidenten tatsächlich unter dem Druck der Bevölkerung zurückgetreten sind, haben viele Wissenschaftler die Frage aufgeworfen, wie sich diese Entwicklungen auf die Geschlechtergerechtigkeit auswirken werden. Werden Frauen von diesen Entwicklungen profitieren? Werden sie in der Lage sein, die systematische Diskriminierung zu überwinden, die in manchen arabischen Ländern gesetzlich verankert ist und sich auf ihr ganzes Leben auswirkt? Werden sie die Rechte und die gesetzliche Gleichstellung bewahren und schützen können, die sie (beispielsweise in Tunesien) im Laufe der Zeit erlangt haben? In anderen Worten: Werden sie in dem Prozess des Wandels, in dem diese Region begriffen ist, gleichberechtigte Partnerinnen der Männer sein? Abgesehen davon, dass ein Präsidentenwechsel nicht unbedingt gleichbedeutend mit einem Regimewechsel ist, bin ich der Ansicht, dass ein genauer Blick auf den arabischen Staat und die Überlebenspolitik, die er in der Vergangenheit verfolgt hat, möglicherweise Prognosen für künftige Entwicklungen zulässt. Außerdem lassen sich auf diese Weise Hinweise auf die Muster finden, nach denen sich der Staat in einem liberaleren, demokratischeren Kontext verhalten könnte.
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Ich behaupte, dass der arabische Staat nach einer bestimmten „Logik“ und bestimmten „Mustern“ funktioniert und dass diese sich unmittelbar auf seine Geschlechterpolitik auswirken, sowohl im öffentlichen, als auch im privaten Bereich. Als Grundlage für den theoretischen Rahmen der Untersuchung bietet sich meiner Meinung nach das Konzept des arabischen autoritären Staates an. Ich verwende dieses Konzept daher bei meiner Untersuchung über Frauenrechte in drei Ländern – Jemen, Syrien und Kuwait –, in denen ich zwischen 2006 und 2008 Feldforschung durchgeführt habe. Im vorliegenden Beitrag werde ich zunächst die Grundzüge des arabischen autoritären Staates umreißen und dann die Problematik am Beispiel des Frauenwahlrechts in Kuwait veranschaulichen.1
2. G RUNDZÜGE
DES ARABISCHEN AUTORITÄREN S TAATES
Der arabische autoritäre Staat weist drei Grundzüge auf: er verfügt über keine Legitimität, seine herrschenden Eliten stützen sich auf eine traditionelle Machtbasis, und er ist unablässig mit Überlebenspolitik beschäftigt. Diese drei Eigenschaften verhindern, dass der Staat eine kohärente Geschlechterpolitik betreibt, und führen bisweilen dazu, dass sein Handeln im Widerspruch zu seinem rhetorischen Bekenntnis zur Frauenemanzipation steht. Ich vertrete die Meinung, dass wir diese drei Grundzüge einer genauen Betrachtung unterziehen müssen, um dann zu untersuchen, wie sie die Geschlechterpolitik des Staates prägen. 2.1 Die arabischen Regimes verfügen über keine Legitimation Genau genommen sind es die Eliten, deren Machtanspruch jeder Legitimation entbehrt. Als der arabische Staat geboren wurde, fand er sich von zwei
1
Die Ergebnisse der Untersuchung, einschließlich der hier vorgestellten Fallstudie, erschienen 2011 in London als Buch mit dem Titel The Arab State and Women’s Rights: The Trap of Authoritarian Governance in der Reihe „Routledge Studies in Middle Eastern Politics“.
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Seiten Druck ausgesetzt: innerstaatlichem Druck, der seinen Ursprung in einer (durch Stammeszugehörigkeit, Glaubensrichtung, Religion, Sprache usw. begründeten) Spaltung der Gesellschaft hatte, und äußerem Druck seitens regionaler Akteure, die Pläne hegten, diese Regimes von Grund auf zu verändern oder sie sich sogar einzuverleiben. Gleichzeitig wurden diese Staaten zwischen zwei gegensätzlichen Ideologien aufgerieben, dem PanArabismus und dem Pan-Islamismus. Beide sind das genaue Gegenteil des Nationalstaats, der sich durch fest umrissene Grenzen und gleiche Rechte für alle Bürger auszeichnet, und haben daher oft dazu beigetragen, die Legitimität dieser Staaten noch weiter zu unterhöhlen. Über die Zeit wurde das Fehlen von Legitimation ein grundlegender Bestandteil des Systems und macht sich heutzutage durch drei Indikatoren bemerkbar: Im Falle Kuwaits hat eine starke panarabische Bewegung immer wieder die Legitimität der Monarchie in Frage gestellt, in welcher der Emir gemeinsam mit dem Parlament regiert und so lange an der Macht bleibt, bis er stirbt. Zum System gehört eine inoffizielle politische Sphäre. In dieser kann der Präsident, Emir oder König – wenn er möchte – Entscheidungen treffen, die sich über die Institutionen und Verfassung des Staates hinwegsetzen. In Kuwait trifft der Emir sämtliche wichtigen Entscheidungen, bevor diese zum Ministerrat gelangen. Immer, wenn das Parlament seine Aufgabe ernst nimmt und Vorstöße unternimmt, als gesetzgebende und regulierende Instanz aufzutreten, beruft sich der Emir auf sein „verfassungsmäßiges Recht“ – und löst das Parlament kurzerhand auf. Die Regierungen unterliegen keiner unabhängigen Aufsicht oder Rechenschaftspflicht. Die Immunität der Herrschenden ist unantastbar, was sich bereits bei vielen Gelegenheiten gezeigt hat. In Kuwait konnte die Regierung kurzerhand sämtliche rechtlichen Grundsätze über den Haufen werfen und unverhohlen in der Verfassung festschreiben, dass der Emir Immunität genießt – und das, obwohl er innerhalb des Regierungssystems eine tragende Rolle einnimmt. 2.2 Die traditionelle Machtbasis In den frühen Jahren ihrer Unabhängigkeit besaßen diese Regimes keine Legitimität; die Autorität der Führer vieler arabischer Staaten wurde ständig angezweifelt, und es bestand häufig die Gefahr eines Militärputschs.
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Diese Situation zwang die Staatsführer, sich von ihrer traditionellen Machtbasis abhängig zu machen – was indessen ihre Legitimität nur noch weiter schwächte. In den drei Ländern, die Gegenstand meiner Feldforschung waren, besteht diese traditionelle Basis aus zwei Machtzirkeln: einem inneren und einem äußeren. Zum inneren Machtzirkel gehören die unmittelbaren Klanmitglieder: der eigene Stammesklan des Herrschers, der auch über die Glaubensrichtung definiert ist. In Kuwait ist dies die sunnitische Sabah-Familie. Zum inneren Zirkel der Machtbasis zählt darüber hinaus die erweiterte Stammesbzw. Religionsgruppe. In Kuwait stützt sich die Macht der Sabah-Familie auf die Kaufmannsschicht des sunnitischen Najdi Bani Utub-Stammes, zu dem die Herrscherfamilie gehört. Der äußere Zirkel der Machtbasis, auf der die drei politischen Systeme beruhen, zeichnet sich durch Uneinheitlichkeit und Fluktuation aus. Zu ihm gehören diejenigen Gruppen (definiert über Religion, Glaubensrichtung, Stammeszugehörigkeit und regionale Herkunft), die marginalisiert sind, diskriminiert werden, sich innerhalb des Gesamtsystems bedroht fühlen oder einfach Teil des politischen Systems werden und von ihm profitieren möchten. Dieser Zirkel hat sich für die Überlebenspolitik der herrschenden Eliten als entscheidend wichtig erwiesen: Sie machten sich Angst und Ehrgeiz dieser Gruppen sowie deren Gefühl, ungleich behandelt zu werden, geschickt zu Nutze und spielten sie gegen andere, rivalisierende politische Kräfte oder gegeneinander aus. 2.3 Die Politik des Überlebens Das dritte Charakteristikum des arabischen autoritären Staates ist, dass er ständig mit Überlebenspolitik beschäftigt ist. Überlebenspolitik wird hier definiert als die ständig wechselnden Allianzen des Herrschers mit unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Gruppen sowie seine Strategie, Ressourcen an diese Gruppen zu verteilen bzw. ihnen diese zuzuschleusen, damit er an seiner Macht festhalten und sich in einer feindseligen regionalen Umgebung behaupten kann. In anderen Worten – und im machiavellistischen Sinne: Er unternimmt, was auch immer erforderlich ist, um im gefährlichen Treibsand arabischer Politik zu überleben. Diese Herrscher müssen unterschiedliche und manchmal widerstreitende Interessen unter einen Hut bringen und gleichzeitig ihre Strategien auf das oberste Ziel
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dieser Politik ausrichten: an der Macht zu bleiben. Zu diesem Zweck greift das Staatsoberhaupt auf unterschiedliche Mittel zurück, darunter zum einen die Vergabe von hohen Ämtern an loyale Gefolgsleute, zum anderen die Ausschaltung politischer Gegner. Im arabischen Kontext haben sich Staatsoberhäupter zudem zweier zusätzlicher Überlebensstrategien bedient. Zum einen gehen sie wechselnde Bündnisse mit gesellschaftlichen Gruppen innerhalb des größeren Zirkels ihrer traditionellen Machtbasis ein, um dadurch solche Gruppen zu schwächen, die eine politische Konkurrenz und somit eine Bedrohung für ihre Machtposition darstellen. Diese Allianzen sind von Natur aus flüchtig – sie verschieben sich wie Wanderdünen, je nachdem, woher der Wind der Politik weht. Die zweite Strategie besteht darin, den Islam als Trumpfkarte auszuspielen. In diesem Fall macht sich der Staatchef das Phänomen des politischen Islam zu Nutze. Er stärkt manche islamistischen Gruppen, andere jedoch nicht, und schmiedet mit ersteren politische Bündnisse. Diese Strategie verfolgt vor allem ein politisches Ziel: Der Herrscher benützt die Unterstützung durch islamistische Gruppen als Mittel zur religiösen Legitimierung seiner Rolle und/oder zur Delegitimierung seiner Widersacher. Diese Taktik hat sich auch als äußerst effektiv bei der Schwächung von islamistischen Gruppen erwiesen, die für die Herrschenden im Staat eine ernsthafte Bedrohung darstellen. Genauso effektiv ist sie im Umgang mit politischen Gruppen, die in diesen Gesellschaften ein Erstarken des politischen Islam fürchten; sie kann man mit dieser Taktik aufs Abschiebegleis rangieren oder sogar dazu zu bringen, widerstrebend das Regime zu unterstützen. Hier macht sich der Herrscher absichtlich die Furcht der Menschen zu Nutze – sei es die Angst vor islamischem Fundamentalismus und dessen Intoleranz gegenüber nicht-sunnitischen, nicht-schiitischen oder nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen, vor der Tyrannei einer theokratischen Herrschaft oder vor der Stigmatisierung als Gegner des Islam. Vor diesem Hintergrund vertrete ich die Ansicht, dass die oben genannten drei Merkmale des arabischen autoritären Staates – fehlende Legitimierung, Abhängigkeit von der traditionellen Machtbasis und Überlebenspolitik – auch dessen Geschlechterpolitik geprägt haben. Die Ergebnisse dieser Untersuchung legen insbesondere nahe, dass die Staatschefs eine geschickte Überlebenspolitik verfolgen und häufig Bündnisse mit gesellschaftlichen Gruppen aus dem weiteren Umfeld ihrer traditionellen Machtbasis eingehen, vor allem, um den Islam als Trumpfkarte auszuspielen (sich also der
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Unterstützung islamistischer Gruppen zu bedienen, um die eigene Rolle religiös zu legitimieren und/oder diejenige von Widersachern zu delegitimieren). Diese Allianzen haben sehr nachteilige Auswirkungen auf die Geschlechterpolitik der arabischen Staaten gehabt und dazu geführt, dass die Regierungen ihre jeweilige Familiengesetzgebung nur äußerst ungern ändern. Die Islamisten wiederum haben zur Geschlechterfrage eine Einstellung, die von eisernen religiösen Grundsätzen geprägt ist, wodurch sich die Frage der Gleichberechtigung von Frauen in arabischen Ländern zusätzlich verkompliziert hat. Andererseits hatte auch der Umstand, auf welche Gesellschaftsgruppen sich die Eliten zwecks Machterhalts stützten, nachteilige Auswirkungen auf die staatliche Politik gegenüber Frauen. Außerdem haben der Überlebenspolitik geschuldete Veränderungen in diesen Allianzen manchmal nicht minder erstaunliche Veränderungen in dieser Politik herbeigeführt. Meine Ausführungen zum arabischen autoritären Staat und Frauenrechten sind in Abbildung 1 zusammengefasst. Abbildung 1: Der arabische autoritäre Staat und Frauenrechte
Politische Eliten
Fehlende Legitimation
Überlebenspolitik
Staatliche Geschlechterpolitik
Gesellschaftliche Machtbasis
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Es ergibt sich aus der Untersuchung, dass die Frage der Frauenrechte in arabischen Staaten ebenfalls politischer Natur ist und in hohem Maße mit dem inhärenten Defizit des arabischen Staates zusammenhängt, nämlich seine fehlende Legitimation. Darüber hinaus ist die Geschlechterpolitik arabischer Staaten in hohem Maße davon bestimmt, ob sie zum Überleben dieser Staaten beiträgt. Anders gesagt: Meiner Ansicht nach ist der arabische Staat in seiner Handhabung der Geschlechterpolitik weder liberal noch patriarchal, sondern opportunistisch; er verhält sich stets machiavellistisch. Daraus ergibt sich, dass der Staat die Gleichberechtigung der Frau immer gefördert hat, wenn es für ihn politisch opportun war. War es das nicht, geschah in Sachen Frauenrechte nichts. Diesen Erklärungsansatz werde ich im Folgenden am Fallbeispiel des Frauenwahlrechts in Kuwait veranschaulichen. Die Ergebnisse stammen aus meiner im Jahre 2008 in Kuwait durchgeführten Feldforschung, die durch ein großzügiges Stipendium im Rahmen des Universitären Forschungsschwerpunktes „Asien und Europa“ an der Universität Zürich ermöglicht wurde.
3. F RAUENWAHLRECHT E INE F ALLSTUDIE
IN
K UWAIT :
Wie lange dauerte es, bis in Kuwait die politischen Rechte von Frauen anerkannt und bekräftigt wurden? Die Antwort ist: sehr lange. Ich möchte hier die Frage aufwerfen, warum. Wie auch im Falle des Jemen und Syriens deuten die Ergebnisse meiner Feldforschung darauf hin, dass die Weigerung, Frauen das Wahlrecht zu erteilen, auf die autoritäre Natur des arabischen Staates zurückgeht. Sowohl die Überlebenspolitik, als auch die traditionelle Machtbasis der Elite spielten eine entscheidende Rolle dabei, diesen Prozess in die Länge zu ziehen und Frauen ihre Rechte vorzuenthalten. Politische Gründe waren es aber auch, die letztlich die kuwaitische Führung veranlassten, Frauen das Wahlrecht zu gewähren. Ungeachtet der Entscheidungen der Staatsführung blieben Frauen indessen weiterhin aus den politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen.
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3.1 Die Wunschbild der Verfassung und ein Gesetz zum Wahlrecht Von dem Moment an, als Kuwait unabhängig wurde, befand sich der Staat in einer Zwickmühle. Einerseits sah die Verfassung ausdrücklich vor, dass die Geschlechter gleichgestellt seien. Andererseits verhinderte aber die gesellschaftliche und politische Realität, dass dieses Idealbild im Wahlrecht so umgesetzt wurde, dass es sich auch auf Frauen erstreckte. Tatsächlich handelte es sich bei diesem Idealbild um einen Import aus Ägypten, denn die Rechtsexperten, die beim Aufsetzen der kuwaitischen Verfassung halfen, waren Ägypter. Der bekannteste unter ihnen war Abdel Razek Alsanhory. So wundert es nicht, dass Artikel 29 der kuwaitischen Verfassung von 1962, dem zufolge „alle Menschen in ihrer Menschenwürde und ihren öffentlichen Rechten und Verpflichtungen vor dem Gesetz gleich sind, ohne Unterschiede nach Geschlecht, Herkunft, Sprache oder Religion“, wie eine modifizierte Fassung von Artikel 31 der ägyptischen Verfassung von 1956 wirkt. Gleichheit bedeutete jedoch nicht unbedingt auch politische Gleichberechtigung, zumindest nicht für die damaligen kuwaitischen Politiker. Diese Männer verstanden Gleichheit in einem gesellschaftlichen Sinne. Der Politikwissenschaftler Ahmed Al-Baghdadi formuliert dies folgendermaßen: „Einige Artikel der Verfassung blieben statisch und starr. Niemand dachte über sie nach. Alle akzeptierten sie, ohne sie zu hinterfragen; das galt gleichermaßen für Männer und Frauen. Nicht einmal die Liberalen machten sich Gedanken über die politischen Rechte der Frauen. Für sie war die Frau ein soziales und menschliches Wesen mit dem Recht auf Bildung und Arbeit […] aber ohne politische Rechte. Sie war kein politisches Wesen“.2
Al-Baghdadi zufolge war die Frage der politischen Rechte von Frauen „nichts, worüber in der kuwaitischen Gesellschaft nachgedacht wurde“.3 Als der Verfassungsrat, der mit der Bekanntgabe der kuwaitischen Gesetze beauftragt war, 1962 das Wahlrecht aufsetzte, legte er in Artikel 1 fest, dass der Wähler männlich und älter als 20 Jahre sein musste. Diese Entschei-
2
Interview der Verfasserin mit Ahmed Al-Baghdadi.
3
Ebd.
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dung war keineswegs dem Druck einer islamistischen Front geschuldet, die sich der Idee des Frauenwahlrechtes widersetzte. Wie der Historiker Ahmed Dieen ausführt, war diese Entscheidung völlig normal – sie ging einfach mit den damals gültigen gesellschaftlichen Normen konform: „Der Verfassungsrat setzte sich aus einer Gruppe Kaufleute, einer Gruppe arabischer Nationalisten [aus der 1958 gegründeten Arabischen Nationalbewegung, die sich arabische Einheit und gesellschaftlichen Fortschritt auf die Fahnen geschrieben hatte] und einigen gemäßigten Elementen zusammen. Unter den Mitgliedern befanden sich keine Islamisten. Aber [die Mitglieder] waren von einem gesellschaftlichen Erbe beeinflusst, das die Rolle der Frau in einem gewissen Maße marginalisierte. Hinzu kam natürlich auch die existierende gesellschaftliche Realität, die Frauen sozial und wirtschaftlich einschränkte“.4
Diese realen sozialen und wirtschaftlichen Einschränkungen fanden auch einen Niederschlag in den Forderungen der Frauen selbst. Dies zeigt sich in ihren Schriften aus den 1950er und 1960er Jahren, vor allem in Zeitungsartikeln. Drei Fragen beschäftigten sie dabei am meisten:5 3.1.1 Bildung 1952 wurden an zwei Grundschulen für Mädchen Realschulklassen eingeführt. Die Autorinnen verlangten aber mehr; sie wollten separate höhere Schulen und Zugang zu Hochschulbildung. Ihrem Wunsch wurde stattgegeben, als sich durch das Erdöl die Staatskassen füllten. Frauen stand nunmehr Bildung auf sämtlichen Ebenen offen, aber nicht alle konnten daran teilhaben. Insbesondere die Beduinenstämme erlaubten Frauen nicht, das Bildungsangebot im gleichen Maße wahrzunehmen wie Städterinnen. Bildung für Frauen galt bei ihnen nicht als erstrebenswert, und die Bemühungen der Regierung, dem Analphabetentum ein Ende zu bereiten und für alle Kinder zwischen sechs und 14 Jahren die Schulpflicht einzuführen, stießen auf erheblichen Widerstand.
4
Interview der Verfasserin mit Ahmed Dieen (Historiker und Publizist), Kuwait (17.01.2006).
5
Vgl. Al-Mughni 1993: 50-58.
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3.1.2 Abbaya Die abbaya, der lange, schwarze, Umhang, der von Frauen über ihrer Kleidung getragen wird und Gesicht und Körper komplett verhüllt. Dieses Thema wurde erstmals 1953 von einer Gruppe Frauen aus der Kaufmannsschicht bei einem Treffen diskutiert; anschließend brachten sie ihre Meinung zu Papier und schickten den Text an die Lokalzeitung Al-Riad. Später wurden ihre Ansichten radikaler, und vier von ihnen zogen 1956 ihre abbayas aus, verbrannten sie auf dem Schulhof und gingen unverschleiert nach Hause. Erst ab den 1960er Jahren und später konnten Frauen aber die abbaya endgültig ablegen. 3.1.3 Uneingeschränkte Beschäftigung von Frauen 1961 beschloss der Bildungsrat, die Berufstätigkeit von Frauen auf drei Ministerien zu beschränken: Gesundheit, Bildung sowie Arbeit und Soziales. Hinter dieser Entscheidung stand die Absicht, die strenge Trennung der Geschlechter am Arbeitsplatz aufrecht zu erhalten. Dies rief aber Protest auf Seiten der Frauen (wieder aus der gleichen Kaufmannsschicht) hervor. Sie verfassten Streitschriften und übten so viel Druck aus, dass der Rat ein Jahr später seine Entscheidung widerrief. Trotzdem vertrat der Staat weiter eine Politik, die „eine Betätigung kuwaitischer Frauen in Berufen, die ihrer Natur am besten entsprechen […]“ befürwortete, „insbesondere als Lehrerinnen, in der Sozialarbeit, auf medizinischem Gebiet und in der wissenschaftlichen Forschung“. 6 Kurz: Die von Frauen erhobenen Forderungen blieben mit ihrem gesellschaftlichen Lebenskontext verknüpft. Politische Rechte waren für sie damals kein Thema. Dies zeigt sich auch darin, dass es nach der Entscheidung des Verfassungsausrates, nur männlichen Bürgern das Wahlrecht zu erteilen, keinen Aufruhr gab – die kuwaitischen Frauenrechtsaktivistinnen hüllten sich in Schweigen.
6
Fünfjahresplan für die Periode 1985/1986-1989/1990, vgl. Al-Mughni 1993: 59.
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3.2 Frauenwahlrecht und Überlebenspolitik In den frühen 1970er Jahren fand die Frage des Frauenwahlrechts Eingang in die Agenden von Aktivistinnen. Hier war die erste Kuwaitische Frauenkonferenz besonders wichtig, auf der die Grundlage des späteren Gesetzesentwurfes zur Gleichstellung formuliert wurde. Diese Tagung, an der mehr als 100 Kuwaiterinnen teilnahmen, wurde am 15. Dezember 1971 von der Arab Women’s Development Society (AWDS) veranstaltet. Das Papier enthielt sieben Forderungen, allen voran diejenige nach einem uneingeschränkten Recht für Frauen, sich zur Wahl aufstellen zu lassen.7 1971 wurde der Gesetzesentwurf bei der Nationalversammlung eingereicht. Zwei Jahre später begutachtete der Beschwerdeausschuss der Nationalversammlung den Entwurf und schickte ihn dieser zwecks Erörterung.8 Bei der Diskussion des Entwurfes konzentrierte sich die Versammlung auf zwei Themen: die Erteilung des Frauenwahlrechts und Beschränkungen hinsichtlich der Polygamie. Die restlichen Forderungen wurden im Laufe der Zeit so gut wie erfüllt: kuwaitische Frauen durften den Anwaltsberuf ergreifen und in sämtlichen Abteilungen des Außenministeriums arbeiten; außerdem stand ihnen in vielen Berufsfeldern die Beförderung offen. Betrachtet man die Meinungen, die bezüglich des Frauenwahlrechts vertreten wurden, so lassen sich zwei gegensätzliche Positionen unterscheiden. Auf der einen Seite stand die Mehrheit der Abgeordneten, traditionalistisch ausgerichtete und regierungstreue Stammesdelegierte, die sich geschlossen dagegen aussprachen. Auf der anderen Seite standen Delegierte,
7
Die übrigen Forderungen waren: „2. Gleichheit in allen Beschäftigungsbereichen und mehr Möglichkeiten für Frauen, in die höchsten administrativen Positionen aufzusteigen; 3. Gleichheit bei der Beschäftigung im Außenministerium und die Aufnahme von Frauen in das diplomatische Korps; 4. Finanzielle Beihilfen für Frauen, die im Regierungssektor arbeiten, einschließlich Beihilfen für Kinder, wie sie Männern gewährt werden, die im öffentlichen Sektor tätig sind; 5. Die Einsetzung von Frauen als Fachanwältinnen zwecks Erstellung eines Entwurfes für das Familienrecht; 6. Einschränkung der Polygamie durch die Vorschrift, dass der zweite Ehevertrag bei Gericht zu unterzeichnen ist; 7. Ausschluss des Ehemannes von jeglicher Beihilfe für Kinder aus seiner Zweitehe, falls die Erstfrau ein Kind geboren hat“. Ebd.: 76-77.
8
Ebd.: 78.
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die vorwiegend der nationalistischen und linken Opposition angehörten und sich zögerlich für das Frauenwahlrecht aussprachen – und ich möchte hierbei das Wort „zögerlich“ hervorheben. Die traditionalistischen Delegierten beriefen sich auf Religion, Brauchtum und kulturelles Erbe, um ihr entschlossenes „Nein“ zu begründen. Dies zeigt sich deutlich in den folgenden drei Zitaten aus Reden dieser Politiker:9 „Wir [Männer] sollten entscheiden, welche Umgebung für sie [die Frau] am besten geeignet und in Einklang mit unseren wahren Traditionen und der islamischen Zivilisation ist […] Und wenn wir einer Frau Ehre erweisen und ihre Ehre bewahren wollen, dann sollten wir sie zur Herrin des Hauses machen, wo sie für den Haushalt verantwortlich ist und die nächste Generation groß zieht. Deshalb sollten wir sie besser aus der Welt der Politik fernhalten“. „Wir sollten unser Erbe bewahren und an unserem Glauben festhalten. Im Islam sind Männer die Versorger von Frauen und nicht Frauen die Versorgerinnen von Männern. Aus diesem Grunde rufe ich alle Mitglieder der Nationalversammlung auf, […] sich auf ihre Religion, moralischen Werte und Traditionen zu besinnen“. „Sollen wir uns etwa dafür einsetzen, dass Frauen sich herrisch gebärden dürfen? Frauen besitzen Würde und bestimmte Rechte, aber das bedeutet nicht, dass wir ihnen Rechte geben sollten, die ihnen nicht zustehen“.
Das Thema beschränkte sich aber nicht auf diese eine Dimension – die Bezugnahme auf Religion und Kultur als Rechtfertigung für das Fortbestehen geschlechtlicher Diskriminierung. Warum wohl war die Regierung gegen das Frauenstimmrecht, und warum sprach sich die Opposition nur mit mäßiger Begeisterung für dieses Recht aus? Wenn man sich diese Frage stellt, wird offensichtlich, dass auch eine politische Dimension im Spiel war. Einfach gesagt spielte sowohl die Überlebenspolitik, als auch die traditionelle Machtbasis eine entscheidende Rolle bei der Formulierung dieser Standpunkte. Der Regierung war nicht daran gelegen, die Wahlberechtigung ausgerechnet zu einer Zeit auszuweiten, als sie bereits genug Probleme mit den vorhandenen männlichen Wählern hatte. Die Opposition wiederum war auf
9
Zit. ebd.: 79f.
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die Stimmen ihrer konservativen Wählerschaft angewiesen und entsprechend darauf bedacht, ihre Unterstützer nicht vor den Kopf zu stoßen. Mehrere meiner Interviewpartner nannten das Widerstreben der Regierung, die Zahl der Wahlberechtigten zu erhöhen, als Hauptgrund für deren Ablehnung des Frauenwahlrechts in den 1970er Jahren. Der Politikwissenschaftler Ghanem Alnajjar sagte: „Die Herrscherfamilie befand sich in einem Konflikt mit den politischen Kräften, und die Wahlergebnisse wurden aus ihrer Sicht allmählich unliebsam […] Angesichts dieser Entwicklung war der Exekutive nicht daran gelegen, die Wählerbasis zu erweitern […] [Deshalb] war sie gegen eine Herabsetzung des Wahlalters oder eine Erhöhung der Zahl der Wahlberechtigten […] Mehr Wahlberechtigte [bedeuteten] zugleich mehr potenzielle Gegner der Regierung […] Das ist der Grund; es ging nicht gegen Frauen, sondern gegen jegliche Erweiterung der Wählerbasis, das heißt, jegliche Erweiterung der Wählerbasis, die der Regierung potenziell feindlich gesinnt war“.10
Die gleiche Meinung vertrat auch der Historiker und Autor Ahmed Dieen: „Es lag nicht im Interesse der Regierung, die am politischen Prozess beteiligte gesellschaftliche Basis zu erweitern. Das Regime wollte vielmehr sicher stellen, dass diese politische Basis klein und begrenzt blieb, sodass es sie kontrollieren konnte. Jede Erweiterung dieser Basis galt als [Mittel], das politische Gleichgewicht auf die eine oder andere Weise zu verändern“.11
Der Journalist Fakher Sultan fasste dies genauer: „Um es noch präziser auszudrücken: Die herrschende Obrigkeit hätte in den 1970er und nicht in den 1980er Jahren zugunsten des Frauenwahlrechts entscheiden müssen. In den 70er Jahren gab es eine starke liberale Strömung, aber die Regierung war nicht in der Lage, dieser liberalen Strömung nachzugeben. Jede Entscheidung zugunsten von Frauen galt als eine Entscheidung zugunsten der liberalen Strömung, nämlich der Linken und der Sozialisten; diese fügten der Regierung Schaden zu und
10 Interview der Verfasserin mit Ghanem Alnajjar. 11 Interview der Verfasserin mit Ahmed Dieen.
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stellten sich gegen deren Politik […] daher sah die Regierung keinen Sinn darin, eine Maßnahme zu ergreifen, von der die Opposition profitieren würde“.12
Es war daher vorhersehbar, dass die Regierung dem Antrag nicht stattgeben würde. Ihre Verbündeten aus den Stämmen und dem traditionalistischen Lager, aber auch die Minister, sorgten dafür, dass er „zur späteren Prüfung“ zu den Akten gelegt wurde. Die Opposition jedoch griff das Thema Frauenwahlrecht auf und stellte es öffentlich zur Debatte. Das Wahlprogramm der Progressiven Demokratischen Bewegung – einer linken und sozialistischen Partei – enthielt 1971 beispielsweise die Forderung, Frauen das Wahlrecht zu erteilen. Während der Sitzung der Nationalversammlung bewegten sich die Mitglieder der Opposition und die liberal gesinnten Kaufleute jedoch auf einem schmalen Grat. Einerseits befürworteten sie Frauenrechte. Kuwaitische Frauen hatten inzwischen Universitätsabschlüsse und stellten unter Beweis, dass sie öffentliche Aufgaben übernehmen konnten. Sie hatten zumindest das Wahlrecht verdient, insbesondere, wenn auch der Islam ihnen eine Beteiligung an der Politik nicht untersagte. So argumentierten jedenfalls die Befürworter. Die Tatsache, dass ihre eigenen Töchter an der Frauenrechtskampagne beteiligt waren, verlieh diesen Argumenten zusätzlich eine persönliche Note. Andererseits betonten die Abgeordneten jedoch, dass die wichtigste Rolle der Frau diejenige der Hausfrau sei, „damit sie eine nützliche und gesunde nächste Generation groß zieht“; Frauen sollten sich außerdem nicht schmücken und pflichtbewusst die arabisch-islamischen Traditionen respektieren und bewahren.13 Das beste Beispiel für diese Argumentation war Ahmad Al-Khatib, damals Führer der nationalistischen kuwaitischen Opposition. Al-Khatib setzte sich zwar für die politischen Rechte der Frauen ein, aber er stellte doch sicherheitshalber in der Sitzung fest: „Ich denke, die Rolle der Frau beschränkt sich vor allem auf die häusliche Umgebung […] und wir dulden keinen Schmuck“.14 Das Argument läuft hier darauf hinaus, dass eine Frau, die sich schmückt, unmoralisches Verhalten herausfordert.
12 Interview der Verfasserin mit Fakher Sultan. 13 Vgl. Al-Mughni 1993: 80f. 14 Alajjami 2000 (übers. aus dem Arabischen): 116.
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Dieser traditionelle Standpunkt überrascht nicht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Al-Khatibs Wählerschaft, Al-Hawaly,15 eine Stammesgruppe war. Da er auf sie angewiesen war, um gewählt und wiedergewählt zu werden, und weil er sich ohnehin schon mit seinen Forderungen nach panarabischer Solidarität und inneren Reformen gegen die Regierung stellte, wäre es unklug gewesen, das Thema politische Frauenrechte zu forcieren und seine einzige Unterstützerbasis vor den Kopf zu stoßen. Diese Politiker trugen auch dem Umstand Rechnung, dass nicht einmal die nationalistische und liberale Opposition dem Frauenwahlrecht Priorität einräumte. Dieen, der damals selbst der Opposition angehörte, formuliert dies folgendermaßen: „Es muss auch gesagt werden, dass [die Opposition] die politischen Rechte der Frauen nicht auf ihre Prioritätenliste setzte, ungeachtet der Tatsache, dass die progressiven Kräfte und deren Abgeordnete das Frauenwahlrecht zur Sprache brachten“.16
„Warum?“, fragte ich ihn im Interview. Er antwortete: „Damals hatte der politische Kampf oberste Priorität; der Konflikt mit den ausländischen Ölgesellschaften und die nationalistischen politischen Fragen wurden vorrangig behandelt. Die Frauenfrage war präsent, aber sie war nicht vorrangig“.17
3.3 Die Allianz der Regierung mit den Islamisten und das Frauenwahlrecht In den 1980er Jahren wurde die Frage der politischen Rechte von Frauen weiterhin aufgeschoben, aber aus anderen politischen Erwägungen heraus. Ab den 1970er Jahren schloss das kuwaitische Regime als Teil seiner Strategie zur Schwächung der panarabischen nationalistischen Opposition ein Bündnis mit der Islamistischen Bewegung. Die Opposition hatte vor allem nach der Niederlage der Araber im Sechstagekrieg mit Israel 1967 an Ein-
15 Georgia University/Kuwait Politics Database, http://www2.gsu.edu/~polmfh/ database/resultsbydistrict10.htm (28.01.2009). 16 Interview der Verfasserin mit Ahmed Dieen. 17 Ebd.
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fluss und Beliebtheit eingebüßt. Der politische Islam hingegen war auf dem Vormarsch, insbesondere nach der Islamischen Revolution im Iran 1979. Ein Kollateralschaden dieses Bündnisses war das Thema Frauenwahlrecht. Die Allianz zwischen der kuwaitischen Regierung und der islamistischen Bewegung war von ständigem gegenseitigem Geben und Nehmen geprägt. Als Gegenleistung für ihre konzertierten Angriffe auf die nationalistische und liberale Opposition erhielt die islamistische Bewegung freie Hand bei der Verbreitung ihrer Ideologie in den Moscheen und mittels Vereinigungen und Wohlfahrtsorganisationen, die von offizieller Seite gebilligt wurden. Als beispielsweise die Regierung 1976 das Parlament auflöste und die Verfassung außer Kraft setzte, befürworteten die kuwaitischen Muslimbrüder diese Entscheidung und traten der Regierungskoalition bei, die anschließend gebildet wurde.18 Die Zusammenarbeit wurde dadurch offenkundig; 1977 berichtete eine kuwaitische Zeitschrift über ein Treffen zwischen dem Minister für Soziales (einem Mitglied der Königsfamilie) und dem Präsidenten der offiziellen „Gesellschaft für Gesellschaftliche Reformen“ der Muslimbrüder. Der Präsident dieser Gesellschaft verlangte, dass die Regierung „die islamische Strömung als ein Instrument zum Schutz Kuwaits und aller seiner Bewohner vor den zerstörerischen und verderbten Ideen und Grundsätzen unterstützen solle, die auf ausländische Einflüsse zurückgehen“. Der Minister willigte ein und verkündete: „Die Regierung unterstützt und fördert die islamische Strömung“.19 Ende der 1980er Jahre hatte diese Unterstützung und Förderung durch die Regierung institutionelle Formen angenommen. Islamisten rivalisierten mit der etablierten Kaufmannsschicht und bedienten sich dabei islamischer Wirtschaftseinrichtungen wie des Kuwait Finance House und des Zakat House, die praktischerweise nicht den Gesetzen der Nationalbank – und der entsprechenden Überwachung – unterlagen. Außerdem hatten sie nicht nur Kontrolle über die Vorstandsgremien von Verbraucher- und Kooperationsverbänden, sondern auch über die Arbeiter-, Studenten- und Lehrerverbände. Darüber hinaus hatten die Islamisten in den meisten staatlichen Einrichtungen Schlüsselpositionen inne und gewannen dort erheblichen Einfluss, insbesondere in den Ministerien für Bildung, Islamische Angelegenheiten,
18 Vgl. Al-Mudairis 1999: 33f. 19 Society Magazine (Majalat Al-Mujtama’a; übers. aus dem Arabischen), Nr. 380 (27.12.1977), zit. ebd., 34.
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Arbeit und Soziales, darüber hinaus an der Universität von Kuwait und anderen Institutionen.20 Aus Sicht der Regierung war dieses Bündnis das Ergebnis rationaler Erwägungen: Die Herrschenden hatten dabei schlichtweg weniger zu verlieren. Die nationalistische und liberale Opposition drängte seit Längerem auf Reformen, darunter verantwortungsvolle Regierungsführung (Trennung zwischen dem Amt des Kronprinzen und dem des Premierministers), Überwachung öffentlicher Ausgaben (Prüfung von Ausschreibungen der Regierung und Finanzpolitik) und Bekämpfung der Korruption. Das Hauptinteresse der Islamisten lag demgegenüber darin, Kontrolle über das Verhalten des Einzelnen auszuüben, vor allem der Frauen, damit dieses Verhalten ihrer islamistischen Auffassung und ihrem Weltbild entsprach. Muthafar Abduallah Rashid, ein kuwaitischer Journalist, formulierte dies folgendermaßen: „Die Regierung hatte viel weniger zu verlieren, wenn sie mit den Islamisten ein Bündnis einging als mit den Liberalen. Die Forderungen der Liberalen waren deutlich, und die der Islamisten waren auch deutlich. Eine der Forderungen der Liberalen bezog sich auf eine Trennung des Amtes des Kronprinzen und dem des Premierministers [nach der Wahl von 2003 verzichtete der Kronprinz auf das Amt des Premierministers]. Das war eine rein politische Forderung; sie zielte darauf ab, gesetzliche Regelungen im politischen Prozess zu schaffen und das Problem aus der Welt zu räumen, dass der Premierminister über jeglicher Kritik steht, weil er zugleich der Kronprinz ist. Angesichts einer solchen Forderung beschlich die Machthaber großes Unbehagen. Die Forderungen der Islamisten dagegen sind nicht Besorgnis erregend – ‚Wir wollen nicht, dass Frauen in Bekleidungsgeschäften arbeiten! Wir wollen religiöse Sender und mehr religiöse Programme im staatlichen Fernsehen von Kuwait!‘ Na und – wo ist das Problem? ‚Wir wollen eine Geschlechtertrennung zwischen männlichen und weiblichen Studierenden an der Universität von Kuwait!‘ – ‚Wo ist das Problem? Dann trennen wir sie eben‘. Diese Forderungen kosten die Regierung weit weniger als die ernsthaften politischen Reformen, die sich die Opposition auf die Fahnen geschrieben hatte“.21
20 Vgl. Al-Mudairis 1999: 47f. 21 Interview der Verfasserin mit Muthafar Abduallah Rashid (Autor), Kuwait (14.01.2008). Muthafar Abduallah Rashid ist Sekretär des Parlamentarischen
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Betrachtet man die Standpunkte und Anträge der Islamisten seit den 1980er Jahren, so bestätigt sich Rashids Feststellung aus dem Jahre 1993. So weigerten sich die Muslimbrüder beispielsweise, die Forderung nach einer Ämtertrennung zwischen Premierminister und Kronprinz zu unterstützen. Das Gleiche galt für die Forderung, dass Mitglieder der herrschenden SabahFamilie nicht an der Spitze unabhängiger Ministerien (Verteidigung, Inneres, Außenministerium) stehen sollten. Sie begründeten diese Weigerung mit zwei Argumenten: dass „die inneren Verhältnisse einer solchen Herangehensweise nicht standhalten würden“ und dass die Regierung „es vermeiden sollte, den Feinden des Heimatlandes eine Chance zu geben“. Wiederholt verlangten die Islamisten von der Regierung die Einführung Islamischen Rechts und eine Verfassungsänderung dahingehend, dass die Scharia die einzige Quelle aller Gesetze ist. Die Islamisten kritisierten auch die Entscheidung der Universität von Kuwait, dass Studentinnen beim Betreten der Labore keinen niqaab (ein Gesichtsschleier, der das Gesicht völlig verdeckt und nur eine Öffnung für die Augen frei lässt) tragen durften, und brachten dieses Thema auch ins Parlament ein. Es beherrschte die Debatten während der ersten Sitzungsperiode des Parlaments im Jahre 1993. Schließlich unterstützten sie einen Antrag auf Einrichtung eines Komitees für die „Propagierung sittlichen und Prävention unsittlichen Verhaltens“, ähnlich der religiösen Sittenpolizei Saudi-Arabiens. Hierdurch sollte sichergestellt werden, dass sowohl die Kuwaiter, als auch dort ansässige Ausländer sich an islamische Verhaltensbeschränkungen hielten.22 Die Salafia-Bewegung vertrat sehr ähnliche Standpunkte. Sie setzte sich vorbehaltlos für die Rolle der kuwaitischen Königsfamilie ein. Ungerechtes Handeln seitens des Herrschers rechtfertige keine Auflehnung gegen ihn, ließ sie verlauten. Nur dann, „wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Herrscher ein Irrgläubiger ist“, sei ein Aufstand gerechtfertigt. Auch die SalafiaBewegung verlangte, dass die Scharia durch eine Verfassungsänderung zur alleinigen Grundlage der Gesetzgebung erklärt werden sollte. Sie forderte Geschlechtertrennung an Schulen und Universitäten. Darüber hinaus sollten Konzerte und Modeschauen ebenso verboten werden wie die Tätigkeit von
Ausschusses für Frauen im Parlament von Kuwait. Während des Interviews legte er jedoch Wert auf die Feststellung, dass er seine private Meinung äußerte. 22 Vgl. Al-Mudairis 1999: 48ff.
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Frauen in der Werbung und Satellitensender, die Werte und Moral der Gesellschaft untergruben. Außerdem befürwortete sie die Einrichtung des Komitees für die „Propagierung sittlichen und Prävention unsittlichen Verhaltens“.23 Das Bündnis zwischen Regierung und Islamisten hatte eindeutig unmittelbare Auswirkungen auf die Frage des Frauenstimmrechts. Die islamistische Ideologie betonte die biologischen und intellektuellen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, sah die Mutterrolle als wichtigste Aufgabe der Frau, predigte ein Weltbild, das Frauen aus Politik und gewerkschaftlich organisierter Arbeit auszuschließen suchte, und verlangte eine Wiederherstellung der absoluten Autorität des Mannes über die Frau.24 Wieder ging es bei der nachgiebigen Haltung der Regierung nicht etwa um die politischen Rechte der Frauen. Politische Erwägungen ließen es zu kostspielig erscheinen, sich für Frauenrechte einzusetzen. Fakhir Sultan erläutert dies wie folgt: „Als die Regierung sah, dass sie der Opposition nur dann eine Niederlage beibringen konnte, wenn sie sich mit der islamistischen Bewegung verbündete, handelte sie entsprechend. […] Sie tat das nicht aus Zuneigung zu den Islamisten; es ging ihr darum, den Einfluss der Opposition zu schmälern. Die 1980er Jahre waren die Zeit der Islamisten, und die Regierung hütete sich, Schritte zu unternehmen, von denen sich die Islamisten beleidigt oder angegriffen fühlten […] Die Sabah-Familie ist bekanntermaßen emanzipiert, und man sieht unter ihren Mitgliedern selten verschleierte Frauen; aber sie tat nie diesen Schritt – sie tat nie den Schritt, sich für die politischen Rechte von Frauen einzusetzen. Der Grund war das starke Bündnis zwischen der Regierung und den Muslimbrüdern. In den 1990er Jahren bestanden beide islamischen Strömungen weiter, sowohl die Muslimbrüder, als auch die Salafia“.25
3.4 Neuer politischer Kontext, neue Entscheidung Im Sommer 1999 erließ der Emir von Kuwait eine Verfügung, in der er Frauen ihre politischen Rechte zugestand. Im November desselben Jahres lehnte das Parlament diese Verfügung ab – und zwar gleich zweimal. Sechs
23 Ebd.: 22-50. 24 Vgl. Al-Mughni 1993: 114-122. 25 Interview der Verfasserin mit Fakhir Sultan.
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Jahre später, im Jahr 2005, bekräftigte es schließlich doch diese Rechte und stimmte der Erteilung des Frauenwahlrechts zu. Warum erließ der Emir diese Verfügung? Warum lehnte das Parlament sie ab? Und warum stimmte es ihr dann 2005 doch zu? Auch hier ist der politische Kontext von entscheidender Bedeutung. Zunächst sind die Rolle des Emirs von Kuwait und seine Entscheidung aus dem Jahre 1999 zu berücksichtigen: „Der Wendepunkt kam 1999 während der Besetzung [durch den Irak]. Er hatte mehrere Gründe: Es gab im Kuwait eine Bewegung zivilen Ungehorsams, viele [kuwaitische] Frauen und Mädchen starben, andere wurden inhaftiert, und auf der Konferenz in Dschidda wurde [zwischen der Opposition und der Sabah-Familie] die Übereinkunft getroffen, die Verfassung von 1962 wiederherzustellen, die 1987 nach der Auflösung des Parlaments außer Kraft gesetzt worden war. Nach Rückkehr des Emirs aus dem Exil und stand die Herrscherfamilie jedenfalls bei der internationalen Koalition in der Pflicht, der sie ihre Rückkehr zur Macht verdankte. Dazu gehörte die Verpflichtung, sich an die Verfassung von 1962 zu halten. Im April 1991 hielt der Emir eine Ansprache und erwähnte darin, dass man die Stellung der Frau stärken müsse. Das musste er sagen; angesichts seiner Verpflichtungen gegenüber den Staaten, die zur Befreiung Kuwaits beigetragen hatten, beugte er sich damit dem äußeren Druck“.26
So erläuterte der Historiker Dieen die Entscheidung des Emirs. In der Tat erwähnte der Emir in seiner Ansprache vom 7. April 1991 das Frauenwahlrecht. In einer Fernsehansprache an die Nation lobte Jabir al Sabah das kuwaitische Volk für die Unerschütterlichkeit, mit der es der brutalen Besetzung durch den Irak entgegengetreten war, und kündigte an, dass im kommenden Jahr verfassungsgemäße Wahlen stattfinden würden, „sobald sich die Lage beruhigt hat und das Leben wieder seinen [normalen] Lauf nimmt“. Er sagte, die Frage der Erteilung des Wahlrechts an Frauen und Bürger zweiter Klasse solle „geprüft“ werden.27 Es war allerdings keine freie Entscheidung seitens der Sabah-Familie, Wahlen abzuhalten, die Verfassung wieder in Kraft zu setzen und die Frage des Frauenwahlrechts zu prüfen. Diese Bedingungen mussten als Gegenleistung für die Unterstützung durch die USA bei der Befreiung Kuwaits
26 Interview der Verfasserin mit Ahmed Dieen. 27 Vgl. Hiro 1992: 414.
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von der irakischen Besetzung 1990 erfüllt werden, und das Volk von Kuwait erkannte dabei die Handlungsvollmacht der Sabah-Familie an. Die Regierung Bush (1989-1993), die das internationale Bündnis gegen die Besetzung Kuwaits durch den Irak und gegen die an Saudi-Arabien gerichteten irakischen Drohgebärden anführte, drängte die Sabah-Familie, die sich damals im Exil in Dschidda befand, wieder demokratische Verhältnisse herzustellen. Dies war zwingend notwendig, denn amerikanische Politiker kritisierten im Kongress, dass amerikanische „Jungs“ ihr Blut für die „feudalen Autokraten“ auf der Arabischen Halbinsel vergossen. Auch die amerikanische Öffentlichkeit war nicht überzeugt und hielt die Wiedereinsetzung der kuwaitischen Regierung und den Schutz Saudi-Arabiens keineswegs für hinreichende Gründe, den Irak zu bekämpfen. Zugleich hegten Kuwaiter, die nach der Besetzung in Land blieben, Ressentiments gegenüber der Sabah-Familie. Etwa 210.000 kuwaitische Bürgerinnen und Bürger (ein Drittel der Gesamtbevölkerung), die unter der irakischen Besatzung gelitten hatten, waren der Ansicht, dass ihnen ein größeres Mitspracherecht bei der Lenkung der Geschicke ihres Landes zustand. Sie standen nicht nur der Sabah-Familie kritisch gegenüber, sondern auch Kuwaitern, die aus ihrer Heimat geflohen waren, anstatt sie zu verteidigen. Außerdem begann die kuwaitische Opposition im Exil Forderungen nach Wiederherstellung der Verfassung und der Anberaumung von Wahlen zu stellen.28 Als Reaktion hierauf berief die Sabah-Familie Mitte Oktober 1990 die Volkskonferenz in Dschidda ein. Die meisten der tausend Kuwaiter, die daran teilnahmen, waren regierungstreue Parlamentarier und Beamte, aber unter den Teilnehmern befanden sich auch Ahmad Al-Khatib und seine Gefolgsleute aus dem oppositionellen Lager, das sich für Verfassung und Demokratie stark machte. Sie kamen in der Annahme zur Konferenz, dass der Emir die Verfassung von 1962 wieder in Kraft setzen würde, die auf dem Konzept der Al-Sabah-Familie als Herrscher des Erbemirats von Kuwait und des Volkes als Quelle sämtlicher Macht beruhte. Im Gegenzug wollten die Oppositionellen sich für die Wiedereinsetzung der Sabah-Familie als Herrscherdynastie einsetzen. Ganz im Sinne dieses Einverständnisses erklärte der Kronprinz auf der Volkskonferenz, dass das Al-Sabah-Regime in
28 Ebd.: 219f; 245f; 413.
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einem befreiten Kuwait „die Freiheiten festigen würde, die von der Verfassung aus dem Jahre 1962 zugestanden werden“.29 Wie zweideutig die Formulierung „die Freiheiten festigen“ war, zeigte sich, als der Kronprinz nach der Befreiung Kuwaits ein neues Kabinett zu bilden versuchte und zu argumentieren begann, dass „Wiederaufbau und Sicherheit Vorrang vor Demokratisierung haben sollten“. Die Opposition weigerte sich, dem Kabinett beizutreten, und bestand auf einem Zeitplan für Parlamentswahlen. Darin wurde sie von 96 angesehenen Bürgern unterstützt, Mitgliedern der Kaufmannsschicht, die den Emir drängten, das Parlament wieder einzusetzen sowie Pressefreiheit, unabhängige Justiz und Versammlungs- und Redefreiheit wiederherzustellen. Außerdem solle er ein unabhängiges Gremium zur Prüfung „sämtlicher in letzter Zeit von der Regierung vergebenen Aufträge“30 berufen. Aus diesen Gründen hielt der Emir am 7. April die Rede, in der er seine Versprechungen machte. Sein Entgegenkommen war verständlich, denn sogar die traditionellen islamistischen Verbündeten der Sabah-Familie, die Muslimbrüder, hatten sich der Opposition angeschlossen und verlangten eine Wiederherstellung parlamentarischer Strukturen. Die Verfassung wurde wieder in Kraft gesetzt, und 1992 fanden Wahlen statt. Die „Prüfung“ der Frage des Frauenwahlrechts aber schlug sich in keinerlei konkreten Maßnahmen nieder, sehr zur Enttäuschung von Aktivistinnen. Ihrer Ansicht nach war es an der Zeit, dass man ihnen ihre politischen Rechte zugestand, vor allem angesichts ihrer zentralen Rolle in der Bewegung zivilen Ungehorsams gegen die irakische Besatzung: Sie waren es gewesen, die als erste eine Demonstration gegen die Besatzung veranstalteten; sie hatten Waffen geschmuggelt, Flugblätter gegen die Besatzung verteilt und kuwaitische Männer versteckt, denen die irakische Armee auf den Fersen war. Fatima Al-Abdali, die während der irakischen Besatzung in Kuwait blieb und in der Bewegung gegen diese Besatzung aktiv war, gab dieser Enttäuschung Ausdruck: „Wir gingen davon aus, dass wir unsere Rechte unmittelbar nach der Befreiung bekommen würden – dass [nach allem, was wir geleistet hatten], deutlich werden wür-
29 Ebd.: 219f. 30 Ebd.: 413f.
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de, dass wir, Frauen und Männer, gleichberechtigt sind […]. Während der Zeit des Wideraufbaus in Kuwait verhielten wir uns ruhig, denn wir glaubten, dass die politische Führung uns ganz bestimmt unsere Rechte zugestehen würden. […] Als sie dann aber mit den Vorbereitungen für die Wahlen von 1992 begann, wurde uns klar, dass die Frauenfrage [keine Priorität] besaß. ‚Ihr habt während der Besatzung eure Pflicht getan, jetzt bleibt zu Hause.‘ Das hat uns auf die Barrikaden gebracht, und wir fingen an, politisch für unsere Rechte zu kämpfen“.31
Der Kampf der Frauen um das Wahlrecht erhielt zusätzlichen Auftrieb, als sich erstmals bekannte islamistische Aktivistinnen den Aktionen anschlossen. Auch für sie war ihre Teilnahme am Widerstand gegen die Besatzung ein Wendepunkt gewesen. Khawla Al-Attiqi, eine bekannte islamistische Frauenrechtsaktivistin mit Verbindungen zu den Muslimbrüdern, hatte sich aktiv an diesem Widerstand beteiligt, allerdings im Exil. Sie beschrieb diesen Gesinnungswechsel wie folgt: „Wir stellten fest, dass wir Frauen Teil des Widerstands [gegen die Besatzung] waren; Tatsache ist doch, dass Frauen Angst um die Männer hatten und sie versteckten, und Frauen statt Männern waren auf den Straßen von Kuwait unterwegs. Ich war damals in Dubai und leitete sieben Komitees [gegen die Besatzung]. Mein Tag fing morgens um neun Uhr an, und abends um elf kam ich nach Hause. […] Frauen haben während der Besatzung mehr Arbeit geleistet als Männer, sie haben stärkeren Widerstand geleistet als Männer, und [bei der Verteidigung Kuwaits] sind Frauen genauso umgekommen wie Männer. […] All das hatten wir leisten können – […] warum also sollte man uns unsere politischen Rechte vorenthalten?“32
Enttäuscht über die politischen Führer aus der Herrscherfamilie und die Nichterfüllung des Versprechens, den Frauen das Stimmrecht einzuräumen, intensivierten diese ihren Kampf, der nunmehr seit 20 Jahren andauerte. Die Frauengesellschaft für Kultur und Gesellschaft (Women’s Cultural and Social Society, WCSS) lud liberale Parlamentarier zu einer Diskussionsreihe über das Thema Frauenrechte ein, organisierte einen Schweigemarsch zur Nationalversammlung und trug die Debatte in viele öffentliche Konfe-
31 Interview der Verfasserin mit Fatima Al-Abdali. 32 Interview der Verfasserin mit Khawla Al-Attiqi (Aktivistin, islamistische Bewegung Kuwaits), Kuwait (16.01.2008).
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renzen. 1995 gründeten Aktivistinnen das Netzwerk „Komitees für Frauenangelegenheiten“ (Women’s Issues Commitees, WIC), um die unterschiedlichen Aktivitäten freiwilliger liberaler Zusammenschlüsse in Sachen Frauenwahlrecht zu koordinieren. Sie riefen andere Frauen dazu auf, einen Tag lang nicht zur Arbeit zu gehen und stattdessen zu Hause zu bleiben; als symbolisches Zeichen ihres Protests gegen die Verwehrung ihrer Rechte sollten sie außerdem blaue Bänder tragen. Verfechterinnen des Frauenstimmrechts, die solche Bänder trugen, hielten am Wahltag Mahnwachen in Wahllokalen. Darüber hinaus setzten sie auf rechtlicher Ebene ihre Versuche fort, Gerichtsverfahren gegen Beamte anzustrengen, die ihnen verboten, sich in die Wählerlisten einzutragen.33 All dies spielte sicherlich eine Rolle dabei, dass die Herrscherfamilie unter Druck und auf internationaler Ebene in eine peinliche Lage geriet. Aber drei andere Faktoren waren ausschlaggebend für den Entschluss des Emirs, seine Meinung zu ändern und 1999 seine Verfügung zu erlassen. Der erste Faktor war eine veränderte Konstellation in der Herrscherfamilie zu Gunsten der Mitglieder, die das Frauenwahlrecht befürworteten. Der Gesundheitszustand des Kronprinzen und Premierministers, Saad AlSabah, begann sich nach dem Ende des zweiten Golfkrieges zu verschlechtern. Sheikh Saad, der auch für die Leitung von Wahlen in Kuwait zuständig war, war ein strikter Gegner des Frauenstimmrechts; im Wesentlichen war er gegen jegliche Ausweitung des Wahlrechts in Kuwait: „Als sein Gesundheitszustand immer schlechter wurde, konnten wir beobachten, dass Bewegung in das Thema Frauenrechte kam“, sagt der Politikwissenschaftler Ghanim Alnajjar.34 Mit Sheik Saads Gesundheit schwand auch seine Macht; sie verlagerte sich zu Gunsten des Außenministers Sheikh Ahmed Al-Sabah. Aufgrund seines Amtes erkannte dieser, was für Schaden dem internationalen Ansehen Kuwaits erwachsen konnte, wenn den Frauen ihre Rechte verwehrt blieben. Alnajjar führte aus: „Als Außenminister war er diesem Druck [von außen] ausgesetzt; er musste sich ständig anhören: ‚Kuwait ist eine gute Demokratie – außer, wenn es um das politische Recht der Frauen auf Wahlbeteiligung geht“.35
33 Vgl. Tétreault 2004. 34 Interview der Verfasserin mit Ghanim Alnajjar. 35 Interview der Verfasserin mit Ghanim Alnajjar.
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Der zweite Faktor war die Uneinigkeit innerhalb der islamistischen Bewegung in dieser Angelegenheit. Dem Historiker Dieen zufolge „bestand eine der Veränderungen der damaligen Zeit darin, dass sogar die Muslimbrüder in ihrem politischen Programm zur Sprache brachten, dass man die Stellung der Frau stärken und Frauen das Wahlrecht erteilen sollte, nicht aber das Recht, selbst zu kandidieren“.36 Tatsächlich forderten die Muslimbrüder, die sich in „Islamische Verfassungsbewegung“ umbenannten, in ihrem politischen Programm mit dem Titel „Für eine neue verfassungsgemäße islamische Strategie zum Wiederaufbau Kuwaits“ in Artikel 18, „Frauen ihr politisches Recht auf Stimmabgabe bei Wahlen zu erteilen“.37 Die Weigerung, diese Forderung auf das Recht für Frauen auszudehnen, sich selbst zur Wahl zur stellen, ließ die innere Kluft in der Bewegung erkennen. Die oben bereits zitierte islamistische Aktivistin Khalwa Al-Attiqi berichtet, dass es innerhalb der Bewegung heftige Kontroversen zu diesem Thema gab: „[…] die Bewegung war sich darüber sehr uneinig; es gab kontroverse Debatten, Treffen wurden einberufen – sollen wir es unterstützen oder nicht? Und was für eine Rolle spielen wir in der nächsten Wahlperiode? Viele waren für das Recht von Frauen, ins Parlament einzuziehen, aber diejenigen, die dagegen waren, waren um zwei Stimmen überlegen; auf der Generalversammlung der Bewegung wurde dieses Recht mit einer Mehrheit von zwei Stimmen abgelehnt“.38
Der dritte Faktor, der den Emir zu seiner Verfügung von 1999 veranlasste, war Druck von Seiten der Vereinigten Staaten. Alnajjar zufolge erhoben die USA „mehr als einmal die Forderung“, dass Kuwait den Frauen das Wahlrecht erteilen sollte. Der Autor Khalil Ali Haider sagte, die Entscheidung in Kuwait sei mit solcher Entschiedenheit gefallen, „weil es äußeren Druck gab; […] nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begannen die USA, Druck auszuüben, der sich dann nach 2001 noch verstärkte“.39
36 Interview der Verfasserin mit Ahmed Dieen. 37 „Islamic Constitutional Movement“, in: Al-Mudairis 1999: 89-121. 38 Interview der Verfasserin mit Khalwa Al-Attiqi. 39 Interview der Verfasserin mit Khalil Ali Haidar (Autor und Experte für die islamistischen Bewegungen in Kuwait), Kuwait (15.01.2008).
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Durch die Kombination dieser drei Faktoren sah sich der Emir am 16. Mai 1999 genötigt, während der Parlamentsferien die Verfügung Nr. 9 zu erlassen. Darin bestimmte er eine Änderung von Artikel 1 des Wahlrechts dahingehend, dass alle kuwaitischen Bürgerinnen und Bürger über 21 Jahren das Recht auf Stimmabgabe bei Wahlen besitzen.40 3.5 Abstimmungen erst gegen, dann für das Frauenwahlrecht Die Entscheidung war gefallen. Aber gemäß der kuwaitischen Verfassung muss jedem Gesetz, das der Emir während Parlamentsferien erlässt, bei der nächsten Sitzung des Parlaments zugestimmt werden. 1999 gab es dort zwei Abstimmungen über die Verfügung des Emirs, und sie wurde beide Male abgelehnt. Sechs Jahre später erließen die Abgeordneten dann doch ein Gesetz, das Frauen ihre politischen Rechte einräumte. Warum? „Das Gesetz hätte 1999 erlassen werden müssen. Es fehlten dazu nur zwei Stimmen“,41 sagt Professor Ghanim Alnajjar rückblickend. Tatsächlich stimmten in der Sitzung vom 30. November 1999 dreißig Abgeordnete für das Frauenwahlrecht, 32 dagegen, und zwei enthielten sich der Stimme.42 Das Hin und Her im Parlament war für die Regierung kein Vergnügen, aber es gab außerdem noch einen anderen entscheidenden Haken: Eigentlich hätte sich die Regierung für den Erlass des vom Emir vorgelegten Gesetzes stark machen sollen, aber sie war selbst nicht davon überzeugt. Wieder spielten dabei drei Faktoren eine Rolle. Zum einen machte der Emir nicht mit Nachdruck deutlich, dass er das Gesetz wünschte. Professor Ahmed Al-Baghdadi sagte: „Seine Hoheit der Emir verlieh anfänglich diesem Wunsch Ausdruck, aber er tat es nicht so nachdrücklich, dass die anderen [Parlamentarier] den Eindruck gewonnen hätten, er wolle Zustimmung zu dem Gesetz. [Die Parlamentarier] fragten den Emir:
40 Erlass Nr. 9/1999 des Emirs zur Änderung des Wahlrechts Nr. 35, 1962. 41 Interview der Verfasserin mit Ghanim Alnajjar. 42 Archiv des kuwaitischen Parlaments/Abstimmungsergebnisse der Parlamentssitzung (30.11.1999).
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‚Können wir frei abstimmen?‘, und er antwortete, ‚ja, es steht jedem frei [wie er abstimmt]‘.“43
Diese alles andere als enthusiastische Einstellung zeigte sich noch deutlicher, als die Regierung ihre eigenen Minister – die gesetzlich verpflichtet sind, im Parlament die Meinung der Regierung zu vertreten – nach deren eigener Überzeugung abstimmen ließ. Dieen sagte dazu: „Die Regierung hat nicht die nötige verfassungsmäßige Rückendeckung gegeben, sie hat nicht die Mehrheit aufgeboten, die erforderlich gewesen wäre, um ein Scheitern zu verhindern; sie ließ zu, dass einer ihrer Minister dagegen stimmte, und ließ ihre königstreuen Anhänger abstimmen, ohne ihnen [wie im Falle sonstiger Gesetze] vorzuschreiben, wie sie ihre Stimme abgeben sollen. Deshalb kam das Gesetz nicht durch“.44
Zweitens spielten die inneren Rivalitäten der Sabah-Familie eine sehr hinderliche Rolle bei der Verabschiedung des Gesetzes. Einem Insider zufolge, der anonym bleiben möchte, war ein einflussreicher Angehöriger der Königsfamilie aufgrund persönlicher Meinungsverschiedenheiten mit Außenminister Sabah entschlossen, das Gesetz zu verhindern: „Wäre es verabschiedet worden, so wäre dies ein persönlicher Sieg für den Außenminister gewesen. Das wollte er nicht. Daher unternahm er alles, um Sabahs Sieg zu vereiteln“.45 Dieser Teil der Sabah-Familie versuchte auch, die Abgeordneten im Parlament dahingehend zu beeinflussen, dass sie das Gesetz ablehnten. Drittens schließlich enthielt sich ein liberaler Parlamentarier, der als Befürworter des Frauenwahlrechts bekannt war, der Stimme, weil das Prozedere beim Einbringen des Gesetzes nicht der Verfassung entsprach. Bei der ersten Abstimmung ging es darum, dass der Emir das Gesetz erlassen hatte. Er darf aber während der Parlamentsferien nur dann ein Gesetz erlassen, wenn eine Notsituation vorliegt, was hier jedoch nicht der Fall war. Bei der zweiten Abstimmung enthielt sich derselbe Abgeordnete wieder der Stim-
43 Interview der Verfasserin mit Ahmed al-Baghdadi. 44 Interview der Verfasserin mit Ahmed Dieen. 45 Gespräch anlässlich eines Feldforschungsaufenthaltes in Kuwait (Januar 2008).
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me, weil gemäß Artikel 99 und 100 der internen Parlamentsbestimmungen die gleiche Gesetzesvorlage nicht zweimal während einer Sitzungsperiode geprüft werden darf.46 Für ihn hatte die Integrität der kuwaitischen Verfassung und der darin festgelegten parlamentarischen Verfahrensabläufe Vorrang. Was war 2005 anders? Dieses Mal stimmten bei der Parlamentssitzung am 16. Mai 35 Abgeordnete für das Frauenwahlrecht, 23 dagegen, und einer enthielt sich der Stimme. Alle meine Interviewpartner waren der Ansicht, dass die nachdrückliche Lobbyarbeit der Regierung zugunsten des Gesetzes von entscheidender Bedeutung war. Auf der anderen Seite betrieb aber auch Ahmad Al-Sa’adoun – der sich 1999 der Stimme enthalten hatte – Lobbyarbeit; er wollte seine Kollegen im Parlament dazu bringen, die Angelegenheit dem Verfassungsgericht vorzulegen und dieses entscheiden zu lassen, ob das Wahlrecht in Widerspruch zum in der Verfassung erwähnten Gleichheitsprinzip stand. Zehn Abgeordnete unterzeichneten einen entsprechenden Antrag, der am 16. Februar 2005 dem Parlament vorgelegt wurde. 40 Abgeordnete stimmten dagegen, 10 dafür.47 Dieen zufolge brachte dieser Antrag die Regierung in Verlegenheit: „[…] das hätte eine Bloßstellung der Regierung bedeutet, da die Initiative für die politischen Rechte der Frauen nicht von ihr, sondern vom Parlament und dem Gericht ausgegangen wäre […]. Die Regierung nahm Kontakt zu Ahmed al-Sa’adoun auf und bat ihn, seine nächsten Schritte zu verschieben, bis sie ihren Gesetzesentwurf vorlegen konnte“.48
Auch das war aber nicht der entscheidende Faktor, sondern der Umstand, dass Außenminister Sheikh Ahmed Al-Sabah im Juli 2003 Premierminister wurde, nachdem Sheikh Saad durch seine Krankheit dienstunfähig geworden war. Sheikh Ahmed war derjenige in der Königsfamilie, der das Frauenwahlrecht befürwortete; daher setzte sich die Regierung mit ihrem gan-
46 Siehe den Auszug aus den Anfragen des Abgeordneten Ahmed Al-Sa’adoun bei der parlamentarischen Debatte in der Zweiten Ordentlichen Sitzungsperiode, Sitzung Nr. 7, (30.11.1999), Parlament von Kuwait, Parlamentsarchiv, 368-372. 47 Georgia University/Kuwait Politics Database, http://www2.gsu.ed/~polmfh/ database/positions16.htm (03.01.2008). 48 Interview der Verfasserin mit Ahmed Dieen.
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zen Gewicht für das Gesetz ein. Der Autor Muthafar Abduallah Rashid brachte dies wie folgt auf den Punkt: „[…] in der zweiten Runde (2006) übte die Regierung großen Druck aus, besonders der Premierminister, und dadurch erhöhte sich auch der Druck auf die Abgeordneten“.49 Gerüchten zufolge gehörte zur Lobbyarbeit auch Stimmenkauf: Abgeordnete sollen Geld bekommen haben. Das lässt sich natürlich nicht beweisen. Es ist aber unbestritten, dass die Königsfamilie sämtliche Beziehungen spielen ließ, damit dem Gesetz zugestimmt wurde. Ahmed Al-Baghdadi erinnerte sich: „Letztlich ging dem Zugeständnis politischer Rechte an Frauen enormer Druck voraus, vor allem von der Sabah-Familie und dort wiederum von Sheikh Ahmed a-Fahd, der umfangreiche Beziehungen zu den Beduinen und religiösen Parteiungen im Parlament unterhielt. Daher konnte er sie verpflichten, für das Gesetz zu stimmen“.50 Auch einige Islamisten stimmten für das Gesetz. Die Muslimbrüder waren nach wie vor dagegen und beharrten darauf, dass Frauen zwar das Wahlrecht zustand, nicht aber das Recht, sich zur Wahl zu stellen. Dann relativierten sie ihren Standpunkt aber unvermittelt zugunsten der Frauen und erklärten, ihre ablehnende Haltung sei nicht religiös begründet, sondern den Zwängen der gesellschaftlichen Realität in Kuwait geschuldet. Vor allem aber bekundete eine kleine islamistische Partei – die Umma-Partei, die nicht im Parlament vertreten war – ihre uneingeschränkte Unterstützung des Stimmrechts für Frauen. Deen erinnerte sich: „[…] diese Ankündigung brachte andere islamistischen Parteien in Verlegenheit. Das Gute [an der Ankündigung] war aber, dass sie Abgeordneten aus dem traditionellen Lager, die politische Rechte für Frauen aus religiösen Gründen ablehnten, eine Art Absolution bot, trotzdem für das Gesetz zu stimmen“.51
Der Druck hatte den gewünschten Erfolg. Das Parlament erteilte den Frauen am 17. Mai 2005 endlich das Wahlrecht. Bei den nächsten Wahlen verloren diejenigen Islamisten, die für den Gesetzesentwurf gestimmt hatten, ihre Sitze.
49 Interview der Verfasserin mit Muthafar Abduallah Rashid. 50 Interview der Verfasserin mit Ahmed Al-Baghdadi. 51 Interview der Verfasserin mit Ahmed Dieen.
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So paradox es auch klingen mag: Die Islamisten, die gegen das Gesetz stimmten, wussten genau um die Vorteile des Frauenwahlrechts. Es ist bezeichnend, dass nach Zustimmung des Parlaments zum Stimmrecht für Frauen ein islamistischer Abgeordneter, Kahd Alkanah (der dagegen gestimmt hatte) um das Wort bat und Folgendes sagte: „Wir danken Gott für alles. Die Mehrheit hat dafür gestimmt, dass Frauen wählen und sich zur Wahl aufstellen lassen dürfen. Obwohl wir dies ablehnen, werden wir die Meinung der Mehrheit akzeptieren. Aber ich kann schon sehen, wie die Islamisten bei der nächsten Wahl jubeln und Beifall klatschen, so Gott will […] Ich sehe schon, wie sie am Abend der Wahl applaudieren, weil Frauen auf der Seite der konservativen Strömung stehen werden – auf der Seite der Islamisten“.52
Fahd Alkhanah sagte tatsächlich die Zukunft voraus. Bei den folgenden drei Wahlen gewannen die Islamisten die Mehrheit der Sitze, und keine einzige Kandidatin zog ins Parlament ein.
4. Z USAMMENFASSUNG Der arabische Staat ist in seiner Geschlechterpolitik weder patriarchal noch liberal. Wie sich am Beispiel des Frauenwahlrechts in Kuwait zeigt, ist er vielmehr opportunistisch und verhält sich stets machiavellistisch. Das bedeutet, dass der Staat die Frauenemanzipation immer dann gefördert hat, wenn es für ihn politisch opportun war. War es das nicht, geschah nichts in Sachen Frauenrechte. Die arabischen herrschenden Eliten waren unablässig mit Überlebenspolitik beschäftigt und unternahmen alles, was in irgendeiner Weise zu ihrem Machterhalt beitrug. Dies wiederum hat die Geschlechterpolitik geprägt – manchmal zum Besseren, meist aber zum Schlechteren. Das Beispiel Kuwait hat auch gezeigt, dass der arabische Staat bei der Formulierung seiner Standpunkte zu Geschlechterfragen nicht in einem Vakuum agiert. Er muss die unterschiedlichen und manchmal widersprüchlichen Interessen gesellschaftlicher Gruppen berücksichtigen, die für sein
52 Auszug aus Fahd Alkhanahs Rede in der Dritten Ordentlichen Sitzungsperiode des Parlaments, Sitzung Nr. 21, (16.05.2005), Parlament von Kuwait, Parlamentsarchiv, S. 621f.
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Überleben wichtig sind. Oppositionsgruppen wiederum, die sich an den politischen Prozessen beteiligten, waren kein Deut besser als die herrschenden Eliten. Auch sie verhielten sich opportunistisch und berechnend, wenn es um das Frauenwahlrecht ging. Zwar sprachen sie sich dafür aus, jedoch mit wenig Nachdruck, um ihre konservative Wählerschaft nicht vor den Kopf zu stoßen. Im Gegensatz dazu war die Einstellung islamistischer Gruppen zu Geschlechterfragen oft von strengen religiösen Prinzipien geleitet. Dadurch wurden sie eindeutig zu einem Hindernis bei der Erteilung des Wahlrechts an Frauen. Allerdings eröffnete sich durch die innere Zerstrittenheit der islamistischen Bewegungen in Kuwait auch eine Chance, die sich manche Parlamentarier und Interessengruppen zu Nutze machten. Am allerwichtigsten war aber die Initiative der Frauen selbst. Erst als Frauen mit unterschiedlichem ideologischem Hintergrund es schafften, sich zusammenzutun, konnten sie ihrer Sache auf nationaler und internationaler Ebene Gehör verschaffen. Als all dem wird deutlich, dass Demokratisierung nicht zwingend zu mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern führt, jedenfalls nicht auf kurze Sicht, denn auch in neuen Demokratien wird weiterhin Überlebenspolitik im Spiel sein, und nicht nur das: sie wird das Grundmuster politischen Handelns bleiben. Die Hauptakteure werden abwägen müssen, ob sich der Einsatz für Rechte, die mit den Interessen konservativer Wählerschaften kollidieren, für sie lohnt. Wenn sich aus dem Fall Kuwait eine Lehre ziehen lässt, dann diese: Bürger- und Menschenrechte gibt es von den Mächtigen in Staat und Politik nicht als Geschenk; sie müssen durch friedlichen, aber hartnäckigen Kampf errungen werden. Das gilt auch für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern.
5. L ITERATURVERZEICHNIS Alajjami, Mohammad M. (2000): Kuwaiti Women and Political Participation, Beirut: Dar Al-Jadid. Al-Mughni, Haya (1993): Women in Kuwait: The Politics of Gender, London: Saqi Books. Al-Mudairis, Falah A. (1999a): The Muslim Brothers Group in Kuwait, Kuwait: Dar Qurtas for Publication. Ders. (1999b): The Salafia Group in Kuwait. Kuwait: Dar Qurtas for Publication.
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Ders. (1999c)The Shiite Movement in Kuwait. Kuwait: Dar Qurtas for Publication. Emir’s Decree No. 9, 1999, on the Amendment of the Election Law No. 35, 1962. Excerpt of Deputy Ahmed Al-Sa’adoun’s interpellations during the Parliamentarian deliberation in the Second Ordinary Session No. 7, (30.11.1999), Parliament of Kuwait. Parliament Archive. Excerpt from Fahd Alkhanah’s speech. In the Third Parliamentarian Ordinary Session. Session No. 21, (16.05.2005). Georgia University/Kuwait Politics Database, http://www2.gsu.edu/~polm fh/database/resultsbydistrict10.htm (28.01.2009). Hiro, Dilip (1992): Desert Shield to Desert Storm: The Second Gulf War, London: Routledge. Islamic Constitutional Movement, Political Program: „For a New Islamic Constitutional Strategy for the Rebuilding of Kuwait“, in: Falah A. AlMudairis (1999): The Muslim Brothers Group in Kuwait, Kuwait: Dar Qurtas for Publication. Kuwaiti Parliament Archive/Voting Results of the Parliamentarian Session (30.11.1999). Tétreault, Mary Ann (2006): „Three Emirs and a Tale of Two Transitions“, in: The Middle East Report Online (10.02.2006). Dies. (2004): „Kuwait’s Parliament Considers Women’s Political Rights, Again“, in: Middle East Report Online, www.merip.org/mero/mero090 204.html (02.09.2004). Liste der Interviews Kuwait/Januar 2008 Abduallah Al-Nibari, Secertary General of the National and Democratic Tribune and a former Parlimentaria Abd Alwahab Al-Rawih, a businessman and a the First President of the Parliament’s Women’s Committee Ahmad Al-Baghdadi, Professor of Political Science and a liberal writer, Kuwait University Ahmed Al-Dieen, Kuwaiti historian and publisher Badriya Al-Awadhi, Professor in Law at Kuwait University
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Ghanim Al-Najjar, Professor of Political Science and a human rights activist, Kuwait Univeristy Fakhir Sultan, Journalist Fatima Al-Abdali, Women’s activist and the Secretary General of the Kuwaiti Women’s Network Fatima Al-Hissawy, lawyer and a nominee to the Kuwaiti Parliament Khalil Ali Haidar, journalist and an expert on Kuwaiti Islamist movement Khalil Ali Haidar, writer and expert on Islamist movements in Kuwait Kathem Abu A’adies, Lawyer and Legal Counselor Khawla Al-Attiqi, Islamist women activist with ties to the Muslim Brothers Lulwa Al-Mulla -Secretary General of the Women’s Cultural Social Society Minister Mudhi Al-Humoud, President of the University of the Arab League and since May 2008 Minister of State for Housing and Development Minister Nuria Al-Subaihi, Minister of Education Muthafar Abduallah Rashid, Kuwaiti journalist Suad Al-Jau Allah, President of the Women’s Committee in the Society of Social Reform (Muslim Brothers) Women’s gathering at the home of Professor Ahmad Al-Baghdadi, Field visit, Kuwait (15th January, 2008)
Eine egalitäre Geschlechterordnung in Saudi-Arabien? Frauen als Akteure des Wandels S EBASTIAN S ONS
E INLEITUNG Der „Arabische Frühling“ beeinflusst auch die gesellschaftlichen Diskussionen im Königreich Saudi-Arabien, das bislang als „Hort der Stabilität“ und dessen Königshaus als unumstritten galt. Doch die Forderungen nach mehr Freiheit, Partizipation, wirtschaftlicher Teilhabe und Zukunftsperspektiven in den Transformationsländern inspirieren mittlerweile auch Teile der saudischen Gesellschaft. Trotz des Ölreichtums leidet vor allem die Jugend unter hoher Arbeitslosigkeit, stößt die Verteilungspolitik des Königshauses an enge Grenzen, steht die Wirtschaftspolitik vor der Situation, die Abhängigkeit vom Öl reduzieren und die Wirtschaft diversifizieren, liberalisieren und privatisieren zu müssen. Saudi-Arabiens Wandel von einer beduinisch geprägten Wüstengesellschaft an der Peripherie der Weltreiche zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem modernen, wohlhabenden Regionalakteur verläuft rasant und stellt die traditionelle Allianz von Königshaus und wahhabitisch-religiöser Elite vor immer neue Herausforderungen. In diesem Zusammenhang ändert sich auch das Geschlechterbild: Je rapider der Modernisierungsschub vonstatten ging, auf desto stärkere Kritik stößt die rigide Geschlechtertrennung, die Frauen rechtlich, wirtschaftlich und politisch massiv benachteiligt. So durchläuft auch das Geschlechter-
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verhältnis in Saudi-Arabien einen fundamentalen Wandel, der vielfach in privaten Räumen und jenseits der Öffentlichkeit stattfindet, aber Traditionen und konservative Normen herausfordert. Frauen werden immer mehr zum politischen, wirtschaftlichen und reformerischen Akteur, formulieren ihre Ansprüche und erhalten in den öffentlichen Diskussionen mehr Gewicht. Durch ihr gutes Bildungsniveau, neue Diskursplattformen über das Internet und verstärktes wirtschaftliches Engagement gelingt es ihnen, sich schrittweise aus der traditionellen Geschlechtervorstellung zu befreien, Nischen zu finden und vorsichtig und behutsam ihren Einfluss geltend zu machen. Dadurch geraten konservative Identitäten und traditionelle Geschlechterbilder unter Druck und zwingen das patriarchalische Establishment zur Reaktion. Ob und inwieweit es sich jedoch um ein wirkliches Umdenken und eine Stärkung des Geschlechteregalitarismus handelt, bleibt fraglich. Stattdessen scheint es, als wolle das Königshaus seine Legitimation mithilfe von „Scheinreformen“ sichern, die liberalen Frauen kooptieren, um gleichzeitig die konservative Basis der saudischen Identität mit einem traditionellen Familien- und Geschlechterbild zu bewahren.
Z WISCHEN T RADITION UND M ODERNE : S AUDI -A RABIEN IM W ANDEL Saudi-Arabien erfährt in den letzten sieben Jahrzehnten einen enormen Modernisierungsschub, entwickelte sich durch den entdeckten Ölreichtum zu einem der einflussreichsten Regionalmächte im Nahen und Mittleren Osten und transformierte sich zunehmend von einer unbedeutenden peripheren zersplitterten Wüstengesellschaft zu einer global bedeutenden wirtschaftlichen Macht.1 Dabei vollziehen sich gesellschaftliche Transformationsprozesse im Zeitraffer: War die saudische Gesellschaft bei der Gründung des Königreichs 1932 noch beduinisch-tribal in heterogenen Stammes- und Clanstrukturen organisiert, trug die Herrschaft des Staatsgründers Ibn Saud und vor allem die Entdeckung der immensen Erdölvorkommen dazu bei, dass innerhalb dreier Generationen aus einer wenig beachteten Wüstenregion
1
Vgl. Long 2005: 26.
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kontrolliert durch Stammesführer, Beduinenclans und Oasenherrscher ein international agierender Akteur mit weitreichendem politischen, wirtschaftlichen und religiösen Einfluss wurde.2 Regionale Spannungen wurden mit Gewalt und religiöser Indoktrination überwunden, Stammesunterschiede und Ambivalenzen zwischen Najd und Hijaz mithilfe der wahhabitischen Ideologie reduziert, ohne sie gänzlich überwinden zu können. Die International Crisis Group schreibt: „Unification did not mean unity. The Kingdom of Saudi Arabia became home to disparate communities holding various religious and political beliefs and of different tribal backgrounds.“ (International Crisis Group: 2004) Dadurch veränderten sich Wahrnehmungen; einstige Gewissheiten wurden ebenso in Frage gestellt wie traditionelle Vorstellungen. Wurde die Existenz der Bewohner des heutigen Saudi-Arabiens zu Beginn des 20. Jahrhunderts von landwirtschaftlichen, familiären und kleinökonomischen Interessen in einem engen lokal-geneaologischen Kontext dominiert,3 haben Prozesse der Modernisierung wie rasante Urbanisierung, die Integration in den globalen Welthandel, regionale und transregionale politische Verantwortlichkeiten und ein Anstieg des Wohlstandsniveaus zu einer intensiven Auseinandersetzung mit eigenen Werten, Fragen nach nationaler Identität, Traditionen und konservativen Normen innerhalb der saudischen Gesellschaft geführt. Dieser Diskurs ist nach wie vor in vollem Gange und wird durch die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ nochmals verstärkt.4 Seit dem 18. Jahrhundert wird die saudische Identität von zwei Faktoren dominiert: Zum einen von der allumfassenden und als unumstößlich geltenden Macht des saudischen Königshauses, der Al-Saud. Zum anderen fungiert der Wahhabismus seit Generationen als religiöse Staatsdoktrin und als einigendes Band, um mannigfaltige Zentrifugalkräfte ideologisch auf islamischer Basis auszubalancieren, zwischen ambivalenten Fraktionen zu moderieren und ein konservativ-islamisches Wertebild zu konstruieren. Hierbei bleibt das Bündnis zwischen Muhammad Ibn Abd Al-Wahhab (1703-1792), dem Begründer der wahhabitischen Glaubensauslegung des sunnitischen Islams, und Muhammad Ibn Saud (1742-1765), dem damali-
2
Vgl. Henderson 2009.
3
Vgl. Steinberg 2004: 11.
4
Vgl. Sons 2011: 132ff.
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gem unbedeutenden Oasenherrscher in Al-Dir’iya, bis heute das Rückgrat und der Ausgangspunkt der saudischen Machtstabilität.5 Ibn Wahhab, der um das Jahr 1744/45 als Prediger eines orthodoxen, streng konservativen Islambildes in seinem lokalen Umfeld in der Region Hijaz Aufmerksamkeit erregte, forderte die Rückkehr zum „wahren Islam“ der frommen Altvorderen, um dem Vorbild des Propheten Muhammads zu entsprechen, die als verdorben und korrumpiert kritisierten Gesellschaftsformen zu überwinden und, so Ibn Abd Al-Wahhab, moralische Läuterung einer von Frevel, Atheismus und Apostasie zerfressenen Gesellschaft zu erreichen.6 Hierfür proklamierte er ein radikal exklusivistisches Gesellschaftsbild: Basierend auf der sunnitischen Hanbali-Rechtsschule verfolgte er eine streng antischiitische, fortschrittsfeindliche und puristische Propaganda, in der sogar Muslime exkommuniziert wurden (takfir), wandte sich gegen alltägliche Gebräuche und Normenkodizes und griff die lokalen Notablen und Dorfgläubigen an.7 Er verbot lokale Rituale wie die Gräberverehrung populärer Heiliger, Tanz, Musik und den Tabakkonsum. Damit stieß er in seinem Umfeld auf weitgehende Skepsis und gar offene Ablehnung.8 Erst in dem bis dahin politisch einflusslosen Muhammad Ibn Saud fand er einen interessierten Unterstützer, dem die religiöse Ideologie Abd Al-Wahhabs für seine Zwecke nutzte: Ibn Saud strebte nach lokaler Vorherrschaft und politischer Macht und wollte seinen Einflussbereich ausweiten. Ibn Abd Al-Wahhabs radikale Äußerungen dienten ihm somit als ideologisches Fundament seiner politischen und militärischen Machterweiterung. Gleichzeitig bot er seinem neuen Mitstreiter Sicherheit und Schutz, damit dieser mithilfe des Rückhalts Ibn Sauds seine Glaubensvorstellungen verbreiten und zunehmend popularisieren konnte. „Der streng exklusive Charakter des Wahhabismus fungierte als einer der maßgeblichen Schubfaktoren für die Errichtung des saudischen Staates. Denn er vermochte bis dahin voneinander getrennte soziale Gruppen zum Zwecke der Ausbreitung der wahhabitischen Lehre […] zu einen.“ (Preuschaft: 2010: 317). Diese kalkuliert-pragmatische WinWin-Partnerschaft bildet bis heute das Fundament des saudischen Gesellschaftsbildes: Das Königshaus der Al-Saud, die Nachkommen Ibn Sauds,
5
Vgl. Steinberg 2004: 33ff., Wöhler-Khalfallah 2009: 76.
6
Vgl. Steinberg 2007: 176f., Zuhur 2005.
7
Vgl. Peskes 1993: 15ff., Nevo 1998: 38.
8
Vgl. Wöhler-Khalfallah 2009: 76ff.
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entscheiden und führen die politischen Geschicke des Landes, während die wahhabitischen Rechts- und Religionsgelehrten (ulama), die geistliche Elite, als Legitimatoren der politischen Entscheidungen dienen. Dieses Bündnis könne demnach auch als eine Frühform für eine saudische nationalistische Ideologie gesehen werden.9 Sie basierte auf den beiden Eckpfeilern Königshaus und Gelehrsamkeit, die als unumstößliche Autoritäten und unveränderliche Konstanten im saudischen Staat gelten. Ohne sie gäbe es das heutige Saudi-Arabien nicht. Darum bleibt es für beide Partner von existenziellem Interesse, die ihnen entgegen zu bringende Loyalität zu bewahren.10 Diese Loyalität wurde in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder herausgefordert, doch der „unlösbaren Schicksalsgemeinschaft“ (Fürtig 2003: 203) aus politischer Macht und religiöser Autorität gelang es bislang, die Hierarchie des saudischen Staates nicht untergraben zu lassen und ihre Macht zu stabilisieren.11 Dennoch haben sich die Prioritäten und Machtzentren deutlich verschoben: So verloren die wahhabitischen ulama in letzter Zeit zunehmend an Einfluss und gelten mittlerweile nur noch als „Juniorpartner“ (Steinberg: 2006) und „Handlanger“ (Okruhlik 2011) der Al Saud. Sie stehen in enger Abhängigkeit zum Königshaus, wurden in die staatlichen Strukturen integriert und als eine Art „Staatsklerus“ kooptiert. „[…] Wahhabis lost control over policy and politics to royalty and state bureaucrats and technocrats – the political sphere is beyond Wahhabi control“ (Al-Manea 2007: 4). Umstrittene politische Entscheidungen der Al Saud bedürfen nach wie vor der religiösen Legitimation durch das oberste Gremium der ulama (hay‘at kibar al-ulama),12 bis auf Einzelfälle folgt der Rat jedoch den Vorstellungen des Königshauses. Steinberg schreibt: „Da sich die ‚offiziellen‘ Gelehrten im Konfliktfall meist dem Verlangen der Regierung nach einer Legitimation umstrittener politischer Entscheidungen beugten, warfen ihnen die Anhänger der reinen wahhabitischen Lehre vor, den wahren Islam zu verraten“ (Steinberg: 2005: 546). Wichtigstes loyalitäts- und stabilitätssicherndes Instrument des saudischen Staates bleiben nach wie vor die Einnahmen aus der Erdölprodukti-
9
Vgl. Manea 2001: 37.
10 Vgl. Hegghammer/Lacroix 2007: 105. 11 Vgl. Jones 2003. 12 Vgl. Preuschaft 2010: 321.
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on.13 Das Öl ist somit die Basis für Saudi-Arabiens wirtschaftlichen Wohlstand.14 Mit den generierten Einnahmen gelang es den Al Saud Allokationsmechanismen zu implementieren, um möglichst viele gesellschaftliche Gruppen am Reichtum partizipieren zu lassen. Saudi-Arabien wurde zum Rentierstaat klassischer Prägung.15 Zwischen 1983 und 2010 verdoppelte sich die Ölproduktion, allein zwischen 1999 und 2010 verdreifachte sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf.16 So stärkten die jeweiligen Könige das infrastrukturelle System, integrierten entlegene Regionen ins Staatsgebiet, bauten das Gesundheits- und Bildungssystem und den öffentlichen Sektor aus und betrieben eine Politik der vorsichtigen Integration in den internationalen Wirtschaftsmarkt. Insbesondere der seit 2005 amtierende König Abdullah kann als maßvoller Reformer in wirtschaftspolitischen Fragen bezeichnet werden. Trotz seiner greisen 88 Jahre gilt er als Öffner der saudischen Wirtschaft und versucht, für die gravierenden Herausforderungen adäquate Lösungen zu finden. So bleibt die Diversifizierung der Wirtschaft, um die Abhängigkeit von den Öleinnahmen zu reduzieren, ebenso wesentliches Ziel seiner Wirtschaftspolitik wie die Liberalisierung des Marktes. Ausländische Investoren sollen attraktive Rahmenbedingungen für Geschäfte vorfinden, bürokratische Hindernisse abgebaut und Privatisierung gestärkt werden. Gleichzeitig investiert der saudische Staat Milliarden in Infrastrukturmaßnahmen im Bildungs-, Transport-, Wohnungs- und Gesundheitssektor.17
13 Saudi-Arabien verfügt mit mehr als 260 Mrd. Barrel über etwa 19% der weltweiten Ölreserven, mit 10 Mio. Barrel förderte Saudi-Arabien im Jahr 2010 10% des weltweiten Erdöls, welches für etwa 215,5 Mrd. USD ins Ausland exportiert wurde. Damit beträgt der Anteil der Ölprodukte an der Gesamtausfuhr über 85% (Germany Trade and Invest 2011). 14 Vgl. Echagüe 2009. 15 Vgl. Hamzawy 2006; Hertog 2010; Steinberg 2004. 16 Index Mundi 2012. 17 So sieht der aktuelle Fünf-Jahres-Plan (2010-2014) ein Gesamtprojektvolumen von 385 Mrd. USD vor. Das entspricht einem Anstieg von 67,2% im Vergleich zum vorherigen Entwicklungsplan (Ministry of Planning: 2009: 77f.). Bis Mai 2011 betrug das Volumen aller laufenden Projekte 656 Mrd. USD, allein im Jahr 2012 sollen sich die Gesamtausgaben auf 184 Mrd. USD belaufen (Wall Street Journal 2011).
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Allerdings werden diese Schritte mit kalkulierter Behutsamkeit durchgeführt. Denn trotz des rasanten Modernisierungsschubs und des stetig steigenden Wohlstands- und Bildungsniveaus der saudischen Gesellschaft bleiben traditionelle Werte und konservative Anschauungen doch weiterhin identitätsbildend. Das Reformtempo orientiert sich dadurch ebenso wie die Inhalte an traditionellen, „von oben“ bestimmten Referenzrahmen, was insbesondere bei Geschlechterfragen augenscheinlich wird, wie später noch gezeigt werden soll. Der rasante Transformationsprozess stellt insbesondere die junge saudische Generation vor nicht zu unterschätzende Selbstfindungsprobleme: Während ihre Großeltern noch in einer beduinisch-tribalen Struktur mit kleinen ruralen Zentren und beschützt durch den sozialen und wirtschaftlichen Rückhalt des Stammes oder der Großfamilie aufwuchsen und das junge Saudi-Arabien noch ein fragiles Gebilde ohne alles kontrollierende Zentralgewalt war, in dem regionale, tribale und familiäre Gegensätze sich noch handlungsbestimmend auswirkten, erlebte die Elterngeneration die Auflösung tribaler und beduinischer Strukturen, die Genese eines Nationalstaates und die Verwässerung lokaler Identitäten, wuchs im Ölzeitalter auf und profitierte vom dadurch generierten Wohlstand.18 Der allgemeine Lebensstandard verbesserte sich, die Bedeutung der Regionen nahm gleichermaßen ab wie die Urbanisierung einsetzte, das Kamel wurde durch den obligatorischen Pick-Up-Geländewagen ersetzt und dem saudischen Königshaus gelang es, die Staatlichkeit zu institutionalisieren und eine nationale Identität zu kreieren. Dennoch blieb Saudi-Arabien eine vernachlässigte, eine isolierte Nation. Zwar nahm der Kontakt mit dem Ausland durch die Millionen arabischer Gastarbeiter zu, die aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs ins Land strömten, doch für den Rest der Welt blieb das Königshaus am Golf – abgesehen von seiner Bedeutung als verlässlicher Öllieferant – weitgehend uninteressant. Dies hat sich jedoch mittlerweile geändert und beeinflusst das Leben der dritten Generation: Sie wurden durch eine zunehmende Internationalisierung sozialisiert. Viele von ihnen studierten im englischsprachigen Ausland, haben sich von den traditionellen Normenmustern der vorherigen Generationen emanzipiert und sind „Wandler zwischen den Welten“. Ausgebildet in den USA, Kanada oder England trugen sie westliche Einflüsse in
18 Vgl. Yamani 2000: 5ff.
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ihre Heimat, was althergebrachte Werte und Normvorstellungen herausfordert. Individualisierung ersetzt familiäre Bande, Globalisierungsphänomene wie Internet, Satellitenfernsehen und die damit verbundene Partizipation an politischen und soziogesellschaften Diskursen verdrängen staatlich gesteuerte Meinungen und traditionell tradierte Wertevorstellungen. Dazu kommt, dass der Staat keine „Vollkaskoversorgung“ des Einzelnen mehr garantieren kann, so dass das Credo „No representation without taxation“ schrittweise an Bedeutung verliert und politische Ambitionen seitens der jungen saudischen Bevölkerung wachsen.19 Dies wirkt sich unweigerlich auf das traditionelle Bündnis von ulama und Al Saud auf, hat aber auch verfestigte Identitätsmuster aufgebrochen, so dass sich die saudische Gesellschaft in einem steten Wandel befindet. Hierbei steht der Konflikt von Tradition und Moderne oftmals im Fokus des innersaudischen Selbstwahrnehmungsprozesses. Konflikte zwischen Eltern- und Kindergeneration sind ebenso die Folge wie generationenimmanente Kontroversen um Fragen nach Zugehörigkeit, Selbstverständnis und Eigenwahrnehmung. Konservative Normen und Verhaltensmuster der Elterngeneration sollen befolgt werden, gleichzeitig werden junge SaudiAraber jedoch mit Lebensgewohnheiten, gesellschaftlichen Freiräumen und transparenter Öffentlichkeit in westlichen Industriegesellschaften konfrontiert. Diesen Widersprüchen müssen sie sich stellen, und jeder muss seinen eigenen Weg finden: Das Ergebnis ist ein heterogenes, oftmals ambivalentes Handlungs- und Argumentationsmuster. Trotz des immensen westlichen und vor allem US-amerikanischen Einflusses auf die saudische Gesellschaft durch politische und wirtschaftliche Kooperation, enger Zusammenarbeit in militärischen Fragen und der Deckungsgleichheit bei wichtigen sicherheitspolitischen Themen (Kampf gegen den Terrorismus, Eindämmung des Einflusses Irans) bleibt das Image des Westens und der USA ein weitgehend negatives.20 Westliche Einflüsse werden als Bedrohung für die moralischen Maßstäbe der saudischen Gesellschaft empfunden, die dadurch von innen zersetzt würden. Die Folge seien Dekadenz, ausschweifende Lebensweisen und der Verrat an islamisch-wahhabitischen Werten. So leben zwar weite Teile der saudischen Gesellschaft in einem relativen Luxus aufgrund der Annehmlichkeiten westlicher Importprodukte, ge-
19 Vgl. Echagüe 2009: 2. 20 Vgl. Steinberg 2004: 70; Zuhur 2005.
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rieren aber in der Öffentlichkeit u. a. durch gesellschaftlich akzeptierte Kleidernormen das Bild des zurückhaltenden, puristischen, bescheidenen Wahhabiten. Weltliche Genüsse werden laut Staatsdoktrin aus der Öffentlichkeit verbannt. Öffentliche Räume sind de facto inexistent, Kinos, Theater oder Opernhäuser verboten, Shoppingmalls fast die einzige Lokalität für Freizeitgestaltung in der Öffentlichkeit.21 Obwohl die saudische Gesellschaft mit den Einflüssen des Westens vertraut ist, werden sie davon in ihrer Heimat weitgehend ausgeschlossen. Stattdessen finden Aktivitäten außerhalb der strikten ideologischen Normen in privaten Räumen statt: Reiche saudische Geschäftsleute verfügen über Privatkinos und -diskotheken sowie eigene Alkoholvorräte; und Saudi-Arabien gilt als größter illegaler Alkoholimporteur der Welt,22 die Nikotinsucht als wesentliche gesundheitliche Herausforderung.23 USamerikanische Kinofilme werden konsumiert und aufstrebende saudische Schriftsteller lassen sich von äußeren Einflüssen inspirieren und kritisieren auf privaten Literaturzirkeln das bestehende Gesellschaftsbild SaudiArabiens als einengend und rückständig. Diese „Doppelmoral“, diese strenge Trennung von privaten und öffentlichen Räumen, wird durch die von AlSaud und ulama proklamierte konservativ-wahhabitische Staatsdoktrin vorgegeben, aber auch von weiten Teilen der Gesellschaft angenommen; sie ist ins kollektive Bewusstsein eingegangen und Bestandteil des alltäglichen Lebens jedes saudischen Staatsbürgers. Dadurch ist die saudische Gesellschaft schwer zu durchschauen, da wichtige Diskurse und Entwicklungen hinter geschlossenen Türen stattfinden. Die größte Herausforderung stellt die „Doppelmoral“ für die junge Generation dar, die einen Mittelweg aus individualistischer Selbstverwirklichung und kollektivem Normkonformismus finden muss. Die Probleme betreffen Fragen nach Karriereplanung, Ausbildung, Freizeitgestaltung und der Bedeutung von traditionellen sozialen Sicherungssystemen. Je stärker sich in den letzten Jahren der wirtschaftliche Wohlstand und die internationale Integration Saudi-Arabiens erhöhten, desto evidenter wurde der emotionale Konflikt der jungen Generation. Der „Arabische Frühling“ verschärfte diese Gewissenskonflikte und die
21 Vgl. Le Renard 2011. 22 Interview in Riad, Oktober 2010. 23 Immerhin rauchen 45% der saudischen Männer, bei den Frauen sind es 25% (Shahid 2011).
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Schwierigkeit einer neuen Definition von Staat, Kollektiv und Individuum noch.
„H ORT DER S TABILITÄT “? S AUDI -A RABIEN UND DER A RABISCHE F RÜHLING Für das saudische Königshaus bedeuten der Ausbruch des so genannten „Arabischen Frühlings“ im Frühjahr 2011 und dessen Auswirkungen in erster Linie eine Bedrohung des eigenen Machtanspruchs.24 Herausgefordert durch die inneren Transformationsprozesse und die immer signifikanter zu Tage tretenden Widersprüche innerhalb der saudischen Gesellschaft befindet sich das saudische Königshaus gemeinsam mit seinem Partner, den ulama, bereits seit Jahren in der Situation, gesellschaftlichen Wandel kontrollieren zu müssen. Immer noch erscheint die saudische Gesellschaft aus der externen Beobachtung als monolithischer Block, dessen politische Mobilität und Kritikbereitschaft durch das starke autoritäre Bündnis zwischen Al Saud und ulama sowie der großzügigen Verteilungspolitik über die Jahre „erkauft“ wurden. Saudi-Arabien wird gern als Hort der Stabilität gesehen, als Gesellschaft der ewig Gestrigen, denen es nicht um sozialen oder politischen Wandel, sondern allein um religiösen Konservatismus und wirtschaftlichen Aufschwung gehe. Dieses eindimensionale Bild verkennt jedoch die Realitäten und die dynamischen Prozesse, die die saudische Gesellschaft durchläuft. Zwar sind Parteien und offizielle Opposition im politischen System verboten, dennoch haben sich einflussreiche oppositionelle Gruppierungen herausgebildet, die Kritik an gesellschaftlichen Zuständen, wirtschaftlichen Entwicklungen und politischen Unfreiheiten äußerten.25 Bereits seit Jahrzehnten sieht sich das saudische Establishment von diversen Oppositionsbewegungen herausgefordert.26 In den Medien findet zunehmend eine offene Diskussion statt, einflussreiche Intellektuelle lassen dem Königshaus Petitionen zukommen, in denen sie ihre Unzufriedenheit
24 Vgl. u.a. Ghannoushi 2011; Lüders 2011; Perthes 2011; Lejeune 2011; AlRasheed 2011; Sons 2011. 25 Vgl. Teitelbaum 2002: 22ff. 26 Vgl. u.a. Dekmejian 1996; Fandy 2001; Krämer 2000; Lacroix 2011; AlRasheed 1996; Reissner 1980; Teitelbaum 2000.
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ausdrücken, bedeutsame Geistliche widmen sich tabuisierten Themen wie Abtreibung oder Organtransplantation, in unzähligen Blogs und Internetforen finden kontroverse Debatten um Demokratisierung, Wahlrecht, Reform des politischen Systems und mehr individuelle Freiheiten statt. Der saudischen Gesellschaft demnach eine generelle Politikverdrossenheit nachzusagen, entspräche nicht den Realitäten. Allerdings finden Diskurse nach wie vor in engen Grenzen statt: Direkte Kritik am Königshaus ist nach wie vor ein gesellschaftliches Tabu. Ganz im Gegenteil: Während Wirtschaftspolitik, Ineffizienz in der Verwaltung, eine verfehlte Bildungs- oder Arbeitsmarktpolitik mittlerweile häufig infrage gestellt werden, bleibt König Abdullah unumstritten. Er gilt als beliebter Regent, dessen weise und nachsichtige Politik das Land in die Moderne geführt habe. Er garantiere Stabilität und Frieden. So stellen die meisten saudischen Staatsbürger den Gesellschaftsvertrag zwischen Al Saud, Geistlichkeit und Untertanen nicht gänzlich in Frage. Dennoch brechen althergebrachte Muster schrittweise auf; Forderungen nach Wahlen, mehr gesellschaftlicher Öffnung und vereinzelte Stimmen nach einer Umwandlung des politischen Systems in eine konstitutionelle Monarchie zeigen erste Schritte, sich mehr als Bürger, weniger als Untertanen zu fühlen und dementsprechend mehr Einfluss auf politische Geschicke nehmen zu wollen. Das Königshaus hat diese Entwicklungstendenzen erkannt und reagiert mit einer geschickten Mischung aus erweiterten Freiräumen und Kontrolle. Die Ernsthaftigkeit dieser Maßnahmen zu mehr Demokratie und gesellschaftlicher Partizipation bleibt jedoch umstritten: Da es sich ausschließlich um Reformen von oben handelt, die Diskussionen ausschließlich in staatlich kontrollierten Räumen stattfinden und sich nicht dem Einfluss des Königshauses entziehen oder zumindest emanzipieren können, wird der autoritäre Charakter des Gesamtsystems nicht maßgeblich beeinflusst.27 So bleiben es Reformen mit symbolischem Charakter, die keineswegs zur Liberalisierung des Systems beitragen, sondern die bestehende Struktur und Hierarchie stabilisieren.28 Das Königshaus handelt nach der obersten Prämisse, die Wahrung von traditionellen Werten in Einklang mit Modernisierung zu bringen. Fortschritt zulassen, ohne die Legitimationsbasis zu destabilisieren. Während also die Wirtschaft reformiert wird und die öffentliche Dis-
27 Vgl. Hamzawy 2006; Steinberg 2007: 184. 28 Vgl. Human Rights Watch 2010.
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kussionskultur bei Fragen von Bildung oder Gesundheit zunimmt, blieb die wirkliche Reform des politischen Systems bislang unangetastet. SaudiArabien wird autoritär regiert, die Al Saud herrschen absolut und lassen bislang nur in sehr eingeschränktem Maße politische Partizipation zu. So etablierte König Abdullah 2003 mit dem Nationalen Dialogforum (liqa‘ alhiwar al-watani) eine Plattform für gesellschaftliche Diskussionen über relevante Themen wie Gesundheitspolitik, Minderheitenschutz und Frauenrechte.29 Gleiches gilt für die erstmalige Abhaltung von Gemeinderatswahlen im Jahr 2005 und die Wiederholung im Herbst 2011. Trotzallem: „Das Königshaus hat Saudi-Arabien nicht demokratisch reformiert, sondern autokratisch modernisiert“ (Wurm: 2007). Der „Arabische Frühling“ könnte diese bislang erfolgreiche Strategie gefährden, so die Sorge der Herrscherelite. Zweifelsohne zeigen viele saudische Staatsbürger Sympathie für das Aufbegehren ihre „muslimischen Brüder und Schwestern“ in Tunesien oder Ägypten. Ganz im Gegenteil zum saudischen König, der dem ehemaligen Präsidenten Zine El-Din Ben Ali Asyl gewährte und auch den Sturz Hosni Mubaraks in Ägypten verurteilte.30 Das sunnitische Herrscherhaus Bahrains wurde von unter saudischer Führung stehenden entsandten Truppen des Golfkooperationsrates (GKR) im Oktober 2011 gegen die durch die von der schiitischen Bevölkerungsmehrheit initiierten Aufstände aufgrund religiöser Benachteiligung und wirtschaftlicher Marginalisierung unterstützt.31 Auch im Jemen sah das saudische Königshaus die monatelangen Proteste gegen Präsident Ali Abdallah Salih skeptisch,32 und ließ dem bei einem Raketenangriff schwer verwundeten Salih in einem Krankenhaus in der saudischen Hauptstadt Riad behandeln. Nach seiner überraschenden Rückkehr in den Jemen engagierte sich Saudi-Arabien intensiv im Rahmen des GKR, eine diplomatische Lösung zu vermitteln.33
29 Vgl. Drewes 2010: 38ff. 30 Vgl. Thumann (07.07.2011), Sons: 2011. 31 Vgl. Kuwait Times 2011; International Crisis Group 2011; Steinberg 2011. 32 Vgl. Hammond 2011. 33 So trat Salih zurück und übergab die Macht an seinen Stellvertreter General Abd Rabbuh Mansur Al-Hadi. Im Februar 2012 sollen Präsidentschaftswahlen stattfinden, Salih wurde im Januar 2012 Immunität gewährt, was zu massiver Kritik seitens der Opposition führte (Al-Jazeera 2012). Diese Kompromisslösung dient
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Das saudische Königshaus zog aus den unterschiedlichen Entwicklungen in den diversen vom „Arabischen Frühling“ betroffenen Ländern die Konsequenz, dass der Status quo im Land und den benachbarten Golfstaaten gewahrt bleiben muss, um die eigene Machtposition nicht zu gefährden. Überlagert wird die Sorge vor Veränderung nur von der kollektiven Furcht, der Erzfeind um die Vorherrschaft am Golf, der schiitische Iran, könne die derzeitige Schwäche der arabischen Länder ausnutzen, um seinen Einfluss zu vergrößern (Zeino-Mahmalat 2009, Teitelbaum 2010). Neben diesen regionalen Besorgnissen gestaltet sich auch die soziökonomische Situation im Land als schwierig. So nahmen in den letzten Jahren die wirtschaftlichen Probleme zu, da zwar ein Diversifizierungsprozess der Wirtschaft eingeleitet, die Abhängigkeit von den Öleinnahmen aber nicht gravierend reduziert wurde. Der staatliche Sektor ist weiterhin wichtigster Arbeitgeber, da die Privatwirtschaft trotz verschiedener Liberalisierungsmaßnahmen noch immer nicht genügend Arbeitsplätze generiert.34 Dies führt dazu, dass Universitätsabsolventen nach ihrem Abschluss keine Arbeit finden. Da soziale Sicherungssysteme nicht existieren, müssen sie vom familiären Netzwerk aufgefangen werden, was ihre Abhängigkeit von traditionellen Strukturen verstärkt. Mittlerweile liegt die Arbeitslosigkeit offiziell bei 10,8%,35 inoffizielle Schätzungen vermuten jedoch eine weitaus höhere Quote, die zwischen 25-30% liegen könnte. Die Bevölkerung wächst jährlich um bis zu 3%: Bis 2050 soll die Einwohnerzahl von derzeit 27,9 Mio. Menschen auf 43,7 Mio. Menschen steigen.36 Bereits jetzt liegt das Durchschnittsalter bei 25,3 Jahren, etwa ein Drittel der Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre, mehr als 75% unter 30 Jahren.37 Die Einwohnerzahl Riads soll bis 2020 von 5,2 Mio. auf 11 Mio. wachsen.38 So steht das saudische Königshaus vor der massiven Herausforderung, zukünftig Arbeits-
nicht dem Demokratisierungs- und Transformationsprozess im Jemen, sondern der eigenen Stabilitätssicherung, die im indigenen Interesse des nördlichen Nachbarn liegt (Cordesman 2008; Salisbury 2011). 34 Vgl. Echagüe 2009. 35 Vgl. Internationaler Währungsfonds 2011. 36 Vgl. World Bank 2011. 37 Vgl. Population Reference Bureau 2011; Saudisches Gesundheitsministerium 2009. 38 Vgl. Jones 2003: 45.
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und Ausbildungsplätze schaffen zu müssen, um sozialen Unmut zu vermeiden und der demographischen Entwicklung entgegenzuwirken. Zwar generiert der Staat nach wie vor immense Einnahmen aus dem Ölsektor, doch die Allokationsmechanismen erreichen längst nicht mehr alle Bevölkerungsgruppen. Die Auswirkungen auf die sozioökonomische Situation des Einzelnen sind gravierend: Die Verteilungspolitik wird wahrscheinlich mittelfristig an ihre Grenzen stoßen, Steuerbefreiung und kostenlose Gesundheitsversorgung könnten kippen. Hinzu kommen die geringer ausfallenden Öleinnahmen bei sinkenden Ressourcen, die diametral der nachdrängenden Bevölkerung entgegenstehen. Trotz eines Bruttoinlandprodukts pro Kopf von 24.208 USD nimmt die Armut in Saudi-Arabien zu.39 Dies erhöht das soziale Konfliktpotenzial, da es dem Staat immer seltener gelingt, die steigende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Dennoch ist es dem König bewusst, wie schnell sozioökonomische Unzufriedenheit in offene Opposition und eine systemdestabilisierende Bewegung umschlagen können. Dies führten ihm die erfolgreichen Revolutionen in Ägypten und Tunesien drastisch vor Augen, und diese Entwicklung will er mit aller Macht in Saudi-Arabien vermeiden. Dementsprechend erhöhte er im Verlauf des Jahres 2011 die sozialen Zuwendungen.40 Mit diesen Maßnahmen reagierte er zwar auf die Auswirkungen des „Arabischen Frühlings“, allerdings müssen sie auch in einem langfristigen Gesamtkontext gesehen werden. Abdullah verstand es seit seiner Inthronisierung 2005 geschickt, die sozialen Probleme und die daraus erwachsenden möglichen Stabilitätsgefährdungen zu erkennen, und mit breitflächig angelegten Subventions- und Investitionspaketen dagegen zu steuern. Auch deswegen kam es in Folge des „Arabischen Frühlings“ nur zu sporadischen Demonstrationen, die zumeist von der schiitischen Min-
39 Vgl. United Nations Development Programme 2011. 40 Er stellte im April 35 Mio. USD für Wohlfahrtsleistungen bereit, erhöhte die Gehälter von Staatsangestellten im Februar um 15% und weitete das Investitionsbudget des saudischen Entwicklungsfonds um 11 Mrd. USD aus, damit kleine Kredite gefördert werden können; Shaheen (23.02.2011); Thumann (25.02.2011).
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derheit organisiert wurden.41 Von einer Welle des sozialen Protestes in Saudi-Arabien zu sprechen, wäre demnach mit Sicherheit übertrieben, doch die politische Dynamik in der Gesamtregion des Nahen und Mittleren Ostens hat auch das Königreich erfasst und beeinflusst politische Stabilitäten und jahrzehntelange Gewissheiten. Dessen ist sich das Königshaus durchaus bewusst. Es reagierte neben finanziellen Zuwendungen auch mit Repression: Die Zensur in den Medien wurde verstärkt, die Präsenz der Religionspolizei in der Öffentlichkeit ausgeweitet, Kritiker inhaftiert und die Aufständischen in Tunesien und Ägypten als „Feinde des Islams“ und „Chaoten“ denunziert.42 Das Königshaus befürchtet, seine ideologische Autorität verlieren zu können, wenn die attraktive Ausstrahlung von gesellschaftlicher Freiheit aus anderen arabischen Ländern in die Mitte der saudischen Gesellschaft dringen könnte. So bleiben die direkten Auswirkungen des „Arabischen Frühlings“ bislang noch gering, und Saudi-Arabien scheint den bisherigen Status quo zumindest kurz- und mittelfristig bewahren zu können. Dennoch wurde die saudische Gesellschaft durch die Ereignisse in den Transformationsländern weiter politisch sensibilisiert und interessiert. Besonders gilt dies für die saudischen Frauen.
41 Etwa 10-15% der Bevölkerung sind schiitischer Konfession, die überragende Mehrheit lebt in der Ostprovinz um Al-Hasa. Das sunnitische Königshaus steht den saudischen Schiiten kritisch bis ablehnend gegenüber. Der Wahhabismus betrachtet die Schiiten als Ungläubige, dementsprechend wird die schiitische Minderheit traditionell politisch und wirtschaftlich marginalisiert. Mittlerweile konnte sich die schiitische Minderheit Gehör verschaffen, fordert die Einhaltung der Menschenrechte, die Implementierung demokratischer Instrumente und die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage. Immer wieder kam es zu Demonstrationen, über Facebook oder das schiitische Oppositionsportal Rasid rufen schiitische Bewegungen immer wieder zu Protest auf. 42 Vgl. Today’s Zaman 2011.
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F RAUEN IN DER SAUDISCHEN G ESELLSCHAFT : V ERSCHLEIERTE U NFREIHEIT ODER F REIHEIT HINTER DEM S CHLEIER ? Die saudische Gesellschaft wird von einer strikten Geschlechtertrennung dominiert, die Frauen zu weiten Teilen vom öffentlichen Leben ausschließt. Während der Mann in seiner Rolle als Familienvorsitz, Ernährer, Entscheider in wirtschaftlichen und finanziellen Fragen eine omnipräsente Rollen spielt oder spielen muss, liegt die Bedeutung der Frau auf ihrer Funktion als Ehefrau, Hausfrau und Mutter. Sie gilt damit als moralische Wächterin der islamischen Grundwerte, der islamischen Moral.43 Ausdruck dieser Isolation der Frau von der Öffentlichkeit ist die strikte Kleiderordnung, die Frauen das Tragen der obligatorischen ayaba, der schwarzen Ganzkörperverhüllung, vorschreibt.44 Die Kleiderordnung dient so als Symbol für den Konservativismus der saudischen Gesellschaft, wird die Hierarchie doch geprägt durch eine strenge patriarchalische Struktur, in der Frauen nur eine marginale Rolle spielen. Dahinter steht der Versuch, über die klare Rollenverteilung in moralisch-islamische Instanz (die saudische Frau) und ihr Beschützer (der saudische Mann) ein überlegenes Gesellschaftsbild zu kreieren, was dem religiösen Anspruch der „Hüter der beiden Heiligen Stätten“ Mekka und Medina entsprechen soll.45 „Women, veiled and separated, provide a unifying symbol of Islamic piety. When co-opted by the monarchy, ideal Islamic women became a symbol of national identity“ (Doumato 1992: 45). Dieses traditionelle, national instrumentalisierte Geschlechterbild setzt sich in der rechtlichen Ungleichbehandlung der Frauen fort: Sie dürfen das Land nicht ohne Erlaubnis des männlichen Vormunds verlassen, im Ausland nur in Begleitung eines männlichen Begleiters studieren, verfügten bis 2001 über keinen eigenen Personalausweis, dürfen ohne die Erlaubnis des Ehemannes und des Vaters keinem Beruf nachgehen und durften bis vor kurzem keine Verträge unterzeichnen.46 Kurz: Sie gehen von der Verant-
43 Vgl. Doumato 1992: 33. 44 Vgl. Steinberg 2004: 137. 45 Vgl. Doumato 1992: 33. 46 Vgl. Steinberg 2004: 138.
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wortung des Vaters in der Regel direkt in die Verantwortlichkeit des Ehemannes über, verfügen über keine individuelle Autonomie und nur einen eingeschränkten Spielraum zur Selbstverwirklichung. Die Grundlage dieser Geschlechterordnung bildet das mahram-System, das dem Mann die Vormundschaft über die Frau überträgt. Religiös begründet, handelt es sich doch viel eher um eine Kombination aus traditionellen Normen, beduinischen Familienvorstellungen und ruralen Gewohnheiten, die in den nationalen Charakter des saudischen Staates übernommen und institutionalisiert wurden.47 Die Geschlechtertrennung fungiert demnach als ein Instrument, an Traditionen festzuhalten, um so die Stabilität des bestehenden politischreligiösen Systems zu gewährleisten. Dieses Geschlechterbild, zurückgehend auf Traditionen und konservative Wertvorstellungen, übernahm die Allianz zwischen saudischem Königshaus und ulama, um es als Eckpfeiler der neuen nationalstaatlichen Identität zu instrumentalisieren. So kooptierte der saudische Nationalstaat die patriarchalische Hierarchie der Beduinengesellschaft mit klarer Geschlechtertrennung und Aufgabenteilung. Je mehr sich die Stammesstrukturen und Großfamilien aufgrund der zunehmenden Urbanisierung auflösten, desto wichtiger wurden den Al-Saud die Definitionshoheit der Geschlechterordnung und die Bewahrung des männerdominierten Gesellschaftsbildes, um den Anforderungen der Moderne erfolgreich begegnen zu können.48 Neben der Loyalität zum König und der Deutungshoheit der religiösen Gelehrsamkeit erwuchs so das traditionelle Familien- und Geschlechterbild zum dritten wesentlichen Fixpunkt der nationalen Identität. Dazu trugen interessanterweise auch die Urbanisierung und der wachsende Wohlstand bei, die traditionelle Aufgabenfelder für Frauen in der Landwirtschaft oder im Haushalt überflüssig werden ließ, womit ihr Einflussbereich weiter schrumpfte.49 In diesen Strukturen werden die Frauen mehr und mehr in den privaten Raum zurückgedrängt. Ihre Aufgabenfelder sollen sich allein auf die Erziehung und den Haushalt beschränken.
47 Vgl. Schmid 2010: 91-92. 48 Vgl. Schmid 2010: 93; Steinberg 2004: 135. 49 So stieg der prozentuale Anteil der kleineren Kernfamilien von 58,9% im Jahr 2004 auf 64,9% im Jahr 2007 und verringerte dementsprechend den Anteil der klassischen Großfamilien (Ministerium für Wirtschaft und Planung 2009: 333).
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Als weiteres Symbol der strikten Geschlechtersegregation und der Ungleichbehandlung der Frau neben der Kleiderordnung dient sicherlich das Fahrverbot für Frauen. Hierbei entspann sich in den letzten Jahren eine leidenschaftliche Diskussion in der saudischen Öffentlichkeit, wobei sich Befürworter und Kritiker des Fahrverbots mit ähnlichen Argumenten gegenüberstehen.50 Die einen verlangen die Aufhebung des Fahrverbots, um Frauen am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen, die Abhängigkeit von ausländischen Fahrern zu reduzieren und so die finanziellen Belastungen zu beschränken.51 Die ablehnende Fraktion der Fahrerlaubnis für Frauen argumentiert mit der fehlenden Eignung von Frauen als Fahrerinnen, da sie sich im oftmals chaotischen Straßenverkehr insbesondere in den Metropolen wie Riad oder Jidda nicht behaupten könnten.52 Außerdem sei der Straßenverkehr bereits jetzt ausgelastet, Staus und Verkehrsbehinderungen an der Tagesordnung, sodass der Zustrom von Millionen weiblichen Autofahrern das infrastrukturelle System in SaudiArabien gänzlich behindern würde. Hinzu könnte das Auto für Frauen eine Gelegenheit bieten, mit fremden Männern ins Gespräch zu kommen, zu flirten oder gar fremdzugehen, zumal, wenn sie alleine im Auto führen, was die Aufhebung der Geschlechtertrennung und die sexuelle Enttabuisierung mit sich bringen könnte.53 Doch längst haben saudische Frauen ihre Nischen in diesen strikten rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gefunden und begonnen, die Vorteile der Geschlechtertrennung zu erkennen und für sich zu nutzen. Viele Frauen empfinden demnach beispielsweise das generelle Fahrverbot als Vorteil, könnten sie so der Hektik des Straßenverkehrs ent-
50 Vgl. u. a. Delong-Bas 2011; AFP 2009. 51 So belasten die Kosten für einen Fahrer vor allem das Haushaltsbudget von alleinerziehenden Müttern: Mittlerweile befinden sich 800.000 ausländische Fahrer im Land, deren Verdienst zwischen 350 und 500 USD liegt, was bis zu einem Drittel eines durchschnittlichen Monatsgehaltes betragen kann (Vogt 2011). 52 Eigene Interviews: 2011.Saudi-Arabien gilt als das Land mit den meisten Verkehrstoten der Welt: Zwischen 2008 und 2009 starben 6.485 Menschen und 36.000 wurden in 485.000 Verkehrsunfällen verletzt. Jeden Tag werden etwa 17 Menschen bei Verkehrsunfällen getötet, New York Times (12.05.2008). 53 Vgl. New York Times (12.05.2008).
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fliehen und während der Autofahrten Geschäfte erledigen, den Wagen also quasi als „fahrendes Büro“ nutzen. Es ist eine von außen kaum sichtbare Dynamik innerhalb der saudischen Frauen entstanden, die zu zunehmend mehr politischem und sozialem Einfluss geführt hat. Hierbei findet die Einflussnahme zumeist in privaten, in „verschleierten“ Räumen statt. Die übertragene Verantwortung in Fragen der Haushaltsführung und Erziehung hat dazu geführt, dass saudische Frauen in der Regel über weitreichende Autonomie im privaten Haushalt verfügen.54 Selbst in einer strikt geschlechtergetrennten Gesellschaft wie in Saudi-Arabien fungiert die Frau innerhalb der Familie, unsichtbar von der Öffentlichkeit, als wichtige Entscheidungsträgerin. Dies gilt vor allem für alleinerziehende Frauen, die ihren Haushalt allein organisieren müssen: „Women have to take over guardianship of the household. In most such cases, women rise to the occasion in shouldering responsibilities when the male members of the family fail to carry out their designated responsibilities. […] In a nutshell, a Saudi woman’s life is tied up with a man as if she could not lead a life without a male blood relative or husband.“ (Al-Amri 2011)
Dies wirkt sich auch auf Entscheidungsprozesse in männerdominierten Bereichen aus, die zumeist von Frauen mitbestimmt werden können. So gelingt es Frauen immer mehr, über private, semiöffentliche und netzwerkartige Kanäle Zutritt zu politischen und gesellschaftlichen Diskussionen zu erhalten, die ihnen vorher verschlossen blieben.55 Hierbei bewegen sich Frauen weitgehend in einem gesellschaftlich anerkannten Rahmen, in dem sie keineswegs gegen patriarchalische Normen verstoßen, sondern die oberflächliche Geschlechtertrennung anerkennen, um im Hintergrund Einfluss zu nehmen. Viele saudische Frauen entscheiden sich bewusst für diese zurückhaltende Art der Frauenbewegung, da sie aus den gesellschaftlichen Normen nicht ausbrechen möchten. Diese Vertreterinnen eines konservativwerteorientierten Geschlechterbildes unterstützen das traditionelle Bild der Frau und lehnen die Emanzipationsbewegungen ab. Doch in Ergänzung zu diesen wertkonservativen Frauen, die mit bestimmten Modifikationen das klassische Geschlechterbild akzeptieren und
54 Vgl. Schmid 2010: 94. 55 Vgl. u. a. Cooke 2001; Naseef 1999; Yamani 2008.
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sich damit arrangieren, drängen immer mehr Frauen in die Öffentlichkeit. Insbesondere zeigt sich dies in der Bildung, der Wirtschaft und der Politik. Der in diesen Bereichen stattfindende Emanzipationsprozess fordert die auf Königshaus, Religion und Familie fokussierte konstruierte Identität heraus und geriert ein sich schrittweise modifizierendes Frauenbild.
F RAUEN
IN DER
B ILDUNG
Insbesondere in der Bildung wird der fortschreitende Einfluss saudischer Frauen signifikant. Allein 55% der Universitätsabsolventen und 58% der Studierenden sind weiblich.56 Vor allem in erziehungs- und bildungskonzentrierten Studiengängen wie Medizin oder Lehramt dominieren weibliche Studierende, während sie von Ingenieurwissenschaften, Jura, der Petrochemie, Architektur oder Naturwissenschaften ausgeschlossen bleiben. Dennoch drängen immer mehr Frauen in klassische Männerdomänen und fordern die Partizipation an traditionell „männlichen“ Studiengängen wie z. B. Medienwissenschaften. Der Staat fördert die Ausbildung von Frauen, solange die angestrebten Berufe im „Einklang mit der Natur der Frau stehen“, wie das Arbeitsgesetz von 2005 festlegt (Art. 149). Das schließt alle Studiengänge aus, in denen während der Ausbildung oder der anschließenden Berufstätigkeit Kontakt zu Männern besteht. Dies definiert die Bildungsambitionen von Frauen an untergeordneter Stelle nach den klassischen Rollenaufgaben als Gattin und Mutter. Erst wenn diese Aufgaben erfüllt seien, dürfe sich die saudische Frau um ihre Karriere kümmern.57
56 Vgl. Almunajjed 2006: 24; Steinberg 2004: 137. 57 „An educated woman can help reduce waste resulting from lack of knowledge. Hence, she is an essential element for developing the familiy and enhancing its performance, while having a positive impact outside the family by participating in social activities. […] Indeed, it is not possible to consider the impact of women on the community (for example, participation in economic activity) in isolation from their roles as wives and mothers.“ (Ministerium für Wirtschaft und Planung 2009: 331).
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In diesem Zusammenhang treibt König Abdullah eine frauenfördernde Bildungspolitik voran.58 Dennoch orientiert sich ebenso wie bei den politischen Reformen auch die Förderung von Frauen im Bildungssektor an einer klar systemstärkenden Strategie, die die Stabilität der traditionellen Geschlechterstruktur bewahren will, ohne die gewachsenen Ambitionen der Frauen gänzlich zu negieren. Diese als halbherzig zu bezeichnende Öffnungspolitik für Frauen stellt allerdings gleichermaßen Studentinnen und Staat vor neue Herausforderungen: Die Ansprüche seitens der jungen Frauen steigen. Sie fordern zunehmend den Zugang zu ihnen bislang verschlossenen Studiengängen, zeigen in der Mehrheit eine höhere Arbeitsmoral und Lerndisziplin als ihre männlichen Kommilitonen und erreichen in der Regel die deutlich besseren Noten. Weiterhin geraten sie vielfach in Konflikt mit ihren Familien, die die neuen karriereorientierten Ambitionen ihrer Töchter nur selten nachvollziehen können oder fördern, insbesondere wenn sie keine Karriere im Bildungs- oder Gesundheitssektor anstreben. So befinden sich die Töchter häufig in einem Generationenkonflikt mit ihren Eltern, vor allem ihren Vätern, der die Stabilität der Familie als Eckpfeiler der saudischen Identität bedrohen und somit auch indirekte Auswirkungen auf die Legitimität des saudischen Königshauses haben kann. Während die männlichen Studierenden zumeist unter einem geringeren sozialen Druck stehen, benötigen die jungen Frauen frühzeitige Erfolge in Schule und Studium, müssen mit Wissen und guten Abschlüssen aufwarten, um auf dem männerdominierten Arbeitsmarkt eine entsprechende Anstellung zu finden. Noch immer bieten sich den Männern auch mit weniger Motivation und Leistungswille nach dem Studium größere Arbeitsmarktmöglichkeiten als
58 Als Leuchtturm- und Vorzeigeprojekt wurde im Jahr 2010 die Princess Noura Bint Abdul Rahman University eröffnet. Sie soll in Zukunft das größte Ausbildungszentrum für Frauen weltweit werden, bietet in 15 Fachbereichen Kapazität für 40.000 Studentinnen und verfügt über einen Campus mit einer Fläche von mehr als 8 Mio. m², ein 700-Betten-Krankenhaus und ein eigenes öffentliches Transportsystem für die Studierenden (Interview in Riad: 15.03.2011, Ministry of Higher Education: 2010. Construction Week Online 2011). Implementierte staatliche Initiativen wie das King Abdullah bin Abdul Aziz Al Saud Project for General Education Development (Tatwir) zur Neuausrichtung der Lehrpläne an modernen Lehrmethoden kommen den Frauen zugute. Vgl. dazu Almunajjed 2009: 19.
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Frauen. Dementsprechend schränkt sich die Wahl eines geeigneten Studiums unabhängig von den eigenen Interessen ein. Auch ein Studium im Ausland ist für Frauen mit deutlich höherem Aufwand verbunden als für Männer, da sie aufgrund des mahram-Systems von einem männlichen Verwandten begleitet werden müssen.59 Dies führt dazu, dass weibliche Studierende zumeist nur im Ausland studieren können, wenn sie verheiratet sind und sich der Ehemann bereit erklärt, eventuell seinen eigenen Arbeitsplatz und seine Karriereambitionen aufzugeben, um seine Frau zu begleiten.60 Allerdings finden die Familien auch vielfach eigene, unkonventionelle Lösungen, indem sie die Tochter mit einem männlichen Begleiter ins Ausland entsenden, der jeweilige Sohn oder Cousin aber nach einigen Monaten jedoch wieder nach Saudi-Arabien zurückkehrt, weil die Begleitung durch einen Mann in der Regel im europäischen Ausland unkontrolliert bleibt. Da sich diese Praxis verstärkt durchsetzt, werden die saudischen Frauen in einer neuen Umgebung mit fremden Einflüssen konfrontiert und gezwungen, sich außerhalb ihres familiären Umfelds zu behaupten. Somit verfügen sie über weitreichendere individuelle Autonomie als in ihrer Heimat. Auch wenn viele diese neu gewonnenen Freiheiten als Überforderung oder Dekadenz des Westens ablehnen, profitieren saudische Absolventinnen jedoch nach ihrer Rückkehr von diesen Erfahrungen und tragen sie in das streng geschlechtergetrennte Gesellschaftsbild Saudi-Arabiens. Dies modifiziert die Sichtweise auf das Mann-Frau-Verhältnis, die Fähigkeiten und Verantwortlichkeiten der Frau in einer Gesellschaft und erschwert es für die politische Ordnung, das traditionelle Frauenbild zugunsten des Mannes wie bisher ohne innergesellschaftliche Kritik durchzusetzen. Trotz der vielfach verbesserten Lehrinhalte für weibliche Studierende, den besseren Studienleistungen und der höheren Motivation stoßen die jungen Frauen jedoch nach Abschluss ihres Studiums auf enorme Hürden, einen adäquaten Arbeitsplatz zu finden.
59 Vgl. Schmid 2010: 91. 60 Saudische Facharztanwärterinnen in Deutschland berichten davon, nur aufgrund der Tätigkeit ihres Mannes im diplomatischen Dienst eine Facharztweiterbildung absolvieren zu können (Interview in Berlin, November 2011).
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F RAUEN
IN DER
W ISSENSCHAFT
Nur etwa jede zehnte Frau in Saudi-Arabien ist berufstätig, während bei den saudischen Männern über 60% arbeiten.61 Diese Diskrepanz zwischen Ausbildungsniveau und Partizipation am Berufsleben zeigt, wie stark der saudische Arbeitsmarkt noch von Männern und deren Förderung durch den saudischen Staat dominiert wird. Für Frauen bieten sich wenige Möglichkeiten ins Berufsleben einzutreten. Unabhängig von ihrer Ausbildung und ihren vielfach erworbenen Auslandserfahrungen in Europa oder den USA sind sie männlichen Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt unterlegen. Ihre Perspektiven werden auf die Kindererziehung, die Gesundheitsbranche und den Einzelhandel reduziert, wenngleich sich auch diese Berufsfelder keineswegs als unproblematisch darstellen.62 Die Politik hat erkannt, dass Frauen verstärkt ins Berufsleben integriert werden müssen, ohne dass deren prioritäre Aufgabenfelder im privaten Raum vernachlässigt werden sollen. Diesen Spagat auszubalancieren gestaltet sich zunehmend schwierig. Im aktuellen Fünf-Jahres-Plan (20092014) des Planungsministeriums ist festgeschrieben, die Arbeitslosigkeit auf 5,5% (2014) zu senken, um den Anteil saudischer Arbeitskräfte von
61 Vgl. Ministerium für Wirtschaft und Planung 2009: 169. 62 Vgl. Deutsches Orient-Institut 2011: 49. Selbst in weitgehend akzeptierten Berufen im Medizinsektor, wie z.B. in der Krankenpflege, drohen die patriarchalischen Verhältnisse die Zukunftsperspektiven für Frauen zu behindern. Immerhin kommen saudische Krankenschwestern auch mit Männern in Kontakt, müssen oftmals außerhalb geregelter Arbeitszeiten im Schichtdienst tätig sein und gelten somit als wenig kompatibel für mögliche Ehemänner (Abu Al-Naja 2007). Sie können die Anforderungen an das klassische Frauenbild, zuerst ihren Aufgaben als Ehefrau und Mutter nachzukommen, nicht optimal erfüllen, wodurch viele Krankenschwestern keinen Ehemann finden, was in der Öffentlichkeit und der eigenen Familie als Schande gilt. Im November 2010 erließen sechs hochrangige Geistliche des Staatsklerus‘ unter der Führung des Großmuftis Sheikh Abdul Aziz Al-Sheikh eine Fatwa, die es Frauen verbot, als Kassiererinnen in Supermärkten zu arbeiten, um die Geschlechtertrennung zu bewahren, obwohl das Arbeitsministerium vier Monate zuvor Frauen als Kassiererinnen in Jidda zugelassen hatte (Rasid 2010).
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36,7% (2009) auf 39,3% (2014) zu erhöhen.63 Gleichzeitig soll die gravierende Abhängigkeit von Gastarbeitern reduziert werden.64 Viele von ihnen stammen aus Billiglohnländern wie Pakistan, Indonesien oder Bangladesch und übernehmen hauptsächlich unterdurchschnittlich bezahlte Arbeiten im Dienstleistungssektor oder Baugewerbe, Arbeiten, die eine saudische Arbeitskraft nicht oder nur unwillig ausüben würde.65 Aufgrund des gestiegenen Wohlstands erhöhten sich auch die Ansprüche an den jeweiligen Arbeitsplatz, der gut bezahlt, wenig anspruchsvoll, aber gesellschaftlich anerkannt sein soll. So möchten viele im staatlichen Sektor arbeiten, während die meisten den Eintritt in den Privatsektor aufgrund des Konkurrenzdrucks und des höheren Arbeitsaufwands scheuen. „Manuelle Arbeit gilt nach alter Tradition als minderwertig und ist für viele Saudis inakzeptabel.“ (Steinberg: 2004: 130). Private Unternehmen sind daher noch immer verstärkt auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen, da sie nur unzureichend qualifiziertes einheimisches Personal mit überzogenen Gehaltsvorstellungen einstellen könnten.66 Dem soll mit einer „Saudisierungspolitik“ entgegengewirkt werden, von der auch weibliche Arbeitskräfte profitieren sollen. So soll die derzeitige Arbeitslosigkeit bei Frauen von 26,9% auf 13,1% gesenkt werden, während sie bei Männern nur bei 6,8% liegt.67 So stellt sich die Diskrepanz zwischen verbesserten Ausbildungsmöglichkeiten und unzureichenden Arbeitsmarktangeboten mittlerweile als dramatisch dar und kann auch nicht über Allokationsmechanismen ausgeglichen werden. Zukünftig wird es also nicht genügen, Frauen in den traditionellen Arbeitsbereichen wie Erziehung und Gesundheit zu beschäftigen, da allein
63 Vgl. Ministerium für Wirtschaft und Planung 2009: 182. 64 Derzeit befinden sich offiziell etwa 7 Mio. Gastarbeiter in Saudi-Arabien, was ungefähr einem Viertel der Gesamtbevölkerung entspricht (Ministerium für Wirtschaft und Planung 2009: 190). Zwischen 1990 und 2010 wuchs die Zahl der ausländischen Arbeitsmigranten um 2,5 Mio. (Markin 2010). 65 Vgl. Dehne 2010: 135. 66 Interview in Riad (April 2011). 67 Vgl. Ministerium für Wirtschaft und Planung 2009: 175, 182. Insbesondere hoch qualifizierte Frauen mit Universitätsabschluss finden häufig nach ihrer Ausbildung keinen passenden Arbeitsplatz. Allein 78,3% der weiblichen Bachelorabsolventen sind arbeitslos, bei den Männern beträgt dieser Wert nur 14,9%.
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aufgrund des demographischen Drucks eine Ausweitung der Arbeitsmöglichkeiten für Frauen unausweichlich wird. Und auch der Druck seitens der Frauen wächst: 2005 wurden zwischen 20.000 und 40.000 Unternehmen von weiblichen Chefs geleitet,68 darunter auch Geschäftsfrauen wie Lubna Al-Ulayyan, als Vorstandmitglied der „Saudi-Dutch Bank“, Aufsichtsratsmitglied von „Rolls Royce“ und „Citibank“ sowie Geschäftsführerin der „Olayan Financing Company“ eine der wichtigsten und reichsten Frauen Saudi-Arabiens.69 Laut Time Magazine gilt sie als eine der 100 einflussreichsten Frauen der Welt, für viele saudische Frauen ist sie ein Vorbild für individuelle Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung und Befreiung von patriarchalischen Geschlechterrollen in Saudi-Arabien. Insbesondere im Privatsektor finden saudische Geschäftsfrauen wie AlOlayyan ihre Nischen für wirtschaftliches Engagement, betätigen sich als Kunsthändlerinnen, eröffnen Schönheitssalons, Boutiquen und Antiquariate.70 Oftmals bieten sich für Frauen aus niederen sozialen Schichten sogar mehr Möglichkeiten, sich von der Geschlechtertrennung zu befreien, da sie mehrere Jobs annehmen müssen, und aus finanziellem Druck die sozialen Gepflogenheiten nicht mehr einhalten können. Dies gestaltet sich für Frauen in höheren sozialen Schichten noch weitaus schwieriger, wenngleich in der Privatwirtschaft Geschäftsfrauen auch aufgrund ihrer fachlichen Qualifikation mittlerweile deutlich besser von männlichen Geschäftspartnern akzeptiert werden als noch vor einigen Jahren. Denn ebenso wie bei den Frauen aufgrund der globalisierten Arbeitswelt und der Auslandserfahrung der Erfahrungswert im Umgang mit Männern im Privaten und Beruflichen stieg, verfügen auch viele männliche Geschäftsleute mittlerweile über ein pragmatisches Verhältnis zum anderen Geschlecht und akzeptieren Frauen als vollwertige Geschäftspartner, obwohl die Rahmenbedingungen für intergeschlechtliche Geschäftsbeziehungen durch die Geschlechtertrennung erschwert werden. Nach wie vor arbeiten Frauen und Männer in unterschiedlichen Abteilungen, nach wie vor werden bei Konferenzen und Mee-
68 Vgl. Schmid 2010: 97. 69 Vgl. Steinberg 2004: 139. 70 Vgl. Schmid 2010: 97.
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tings Frauen von den Männern separiert, dürfen mittlerweile aber über Telefon- und Videokonferenzen an den Besprechungen teilnehmen.71 Aufgrund der rechtlichen Regelungen, Unterhaltsforderungen einklagen zu dürfen und eingeschränkt erbberechtigt zu sein, generieren Frauen mittlerweile 25% des Privatkapitals und sind somit längst zu einem wichtigen wirtschaftlichen Faktor aufgestiegen.72 Diese Entwicklungen zeigen sich auch im öffentlichen Auftreten von Frauen. Sie gerieren sich selbstbewusster, unabhängiger und moderner, was sich auch in einer Modifikation der strikten Kleiderordnung äußert. Zwar hält die Uniformierung durch die abaya innerhalb Saudi-Arabien weiter an, doch werden mit modischen Accessoires und teuren Stoffen, verzierten und bestickten Kopftüchern und Schmuck sowie einer zunehmenden Sichtbarkeit des Haaransatzes vor allem bei jungen Frauen ein modischer Trend zur Individualisierung, sozialen Zugehörigkeit, Unabhängigkeit und ein Bekenntnis zur Moderne ausgedrückt.73 Obwohl sie sich nach wie vor in dem gesetzten sozialen Rahmen bewegen und es nicht in Frage käme, dauerhaft die abaya in der Öffentlichkeit abzulegen, suchen sie sich ihre Nischen, engagieren sich mit den Umständen und gestalten sie nach ihrem Willen um. So sind Frauen so nicht mehr Objekt der männerdominierten Normen und Wertvorstellungen, sondern handelnde Subjekte, die insbesondere im Wirtschaftsleben zunehmend Druck auf die tradierten Vorstellungen der patriarchalischen Gesellschaft ausüben.
F RAUEN
IN DER
P OLITIK
Während es den Frauen im Bildungs- und Wirtschaftsbereich schrittweise gelungen ist, sich im Rahmen des gesellschaftlichen Kodex‘ zu integrieren und Einfluss ausüben, spielen sie in der Politik noch eine marginale Rolle. Politik ist traditionell Aufgabe des Mannes. Den männlichen Vertretern des
71 2002 wurden Frauen zum ersten Mal auf dem jährlichen Wirtschaftsforum in Jidda als Teilnehmer zugelassen, vgl. Steinberg 2007: 190. 72 Vgl. Wurm 2007. 73 Im Ausland legen viele saudische Geschäftsfrauen die abaya zugunsten einer klassisch europäischen Kleidung ab und tauschen den Vollschleier mit einem einfachen Kopftuch oder verzichten gar ganz auf die Bedeckung des Haares.
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saudischen Königshauses obliegt die Richtlinienkompetenz, sie bestimmen die politischen Linien und treffen die wesentlichen Entscheidungen. Während in vielen anderen arabischen Golfstaaten Frauen bereits eine mehr oder weniger tragende politische Rolle als Ministerinnen oder einflussreiche Ehefrauen einnehmen, reduziert sich die politische Bedeutung der Frau in Saudi-Arabien zumeist auf eine beratende Funktion.74 Dennoch gelang es vielen Frauen, ihren Einfluss auch aufgrund des Wohlwollens von König Abdullah in den letzten Jahren auszuweiten: Die Gründung des Nationalen Dialogforums mit Frauen als integralem Bestandteil kann als ein Beispiel dafür gelten.75 Die Ernennung von Noura Bint Abdallah Al-Fayez zur stellvertretenden Ministerin für Frauenangelegenheiten im Erziehungsministerium im Februar 2009 unter Erziehungsminister Prinz Faisal Al-Saud sowie die Tätigkeit von Frauen als Beraterinnen im Majlis Ash-Shura, dem beratenden Gremium des Königshauses ohne legislative Befugnisse, sind weitere Entwicklungen zu mehr weiblicher Partizipation in der Politik.76 Auch innerhalb des Königshauses scheint die Einflussnahme von weiblichen Mitgliedern der Al-Saud zu steigen: So soll Prinzessin Adila die Ernennung von Noura Bint Abdallah Al-Fayez mit vorangetrieben haben.77 Zunehmend engagieren sich Frauen in der staatlich kontrollieren Zivilgesellschaft: Prinzessinnen leiten gemeinnützige Wohlfahrtsorganisationen, setzen sich für karitative Einrichtungen und Projekte ein. Gleichzeitig wird
74 Die einflussreichen saudischen Prinzen verfügen über ein eng geflochtenes Netzwerk an Verwandten und Freunden, auf die sie ihre persönliche politische Machtbasis stützen. Frauen kommen hierin quasi nicht vor. Die jeweiligen Nachfolger werden zumeist aus Reihen der Söhne rekrutiert, durch das Fehlen von Wahlen können sie auch nicht auf legitimen Weg der Mehrheitsentscheidung in einflussreiche Ämter gehoben werden. 75 Ab der zweiten Sitzung waren Frauen zugelassen, 2004 befasste sich eine dieser Sitzungen in Medina unter dem Thema „Die Frau: Ihre Rechten und Pflichten und die Verbindung zur Lehre“ (Al-mar’a: huququha wa wajibatuha wa `alaqa al-ta’lim) mit der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedeutung von Frauen ins Saudi-Arabien. Insgesamt beteiligten sich 70 Teilnehmer an der Konferenz, darunter die Hälfte Frauen (King Abdul Aziz Center for National Dialogue 2004). 76 Vgl. Schmid 2010: 103f. 77 Vgl. Henderson 2011.
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explizit frauenaffinen Themen wie Kinderpflege, Waisenbetreuung, Geriatrie und Alphabetisierungskampagnen mehr Aufmerksamkeit gewidmet.78 Während die aktive Partizipation von Frauen in der Politik so in bescheidenem Umfang zunimmt, verbesserten sich auch die rechtlichen Rahmenbedingungen für Frauen. Demnach erhalten Frauen nach einer Scheidung umfassendere Betreuung, können durch eine vorher festgelegte Klausel durch Eigeninitiative eine Scheidung realisieren, was dazu führte, dass Saudi-Arabien mittlerweile eine der höchsten Scheidungsraten der Welt hat. Dennoch bleibt die Nachhaltigkeit dieser ausgeweiteten politischen Einflussnahme durch Frauen fraglich. Es handelt sich um von oben implementierte Reformen, um eine gesteuerte Liberalisierung, die den Frauen mehr öffentlichen Raum zubilligt, viele der bestehenden Missstände aber nicht verändert, sondern eher manifestiert.79 Dem saudischen Königshaus gelingt es, politischen Willen zu demonstrieren, Frauen in das System zu integrieren, ohne dabei die Kontrolle zu verlieren. Es kann somit den emanzipatorischen Diskurs überwachen und bestimmt die Grenzen der geschlechterspezifischen Debatten. Einen Schritt zu mehr Geschlechteregalitarismus stellt dies noch nicht dar. Teilweise werden bestehende Machtstrukturen sogar verfestigt. Zwar werden vereinzelt erfolgreiche Frauen als Paradebeispiele einer gelungenen Emanzipation nach saudischem Modell stilisiert, ohne jedoch den Status quo nachhaltig zu verändern.80
78 So befassten sich 2008 von insgesamt 484 karitativen Einrichtungen 32 mit Frauenthemen, die zumeist auch von weiblichem Personal geleitet wurden. 79 Vgl. Human Rights Watch 2011. 80 Hierbei beschränkt sich der politische Einfluss von Frauen wie in anderen Gesellschaftssphären auf den Gesundheits- und Bildungsbereich; so sind viele weibliche Experten in den jeweiligen Ministerien auf der Arbeitsebene beschäftigt, während dies für das Außen- oder Wirtschaftsministerium keineswegs zu beobachten ist (Interview in Berlin, Dezember 2011).
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F RAUEN ALS CHANGE AGENTS ? P OLITISCHER A KTIVISMUS UND GESELLSCHAFTLICHER E INFLUSS IN Z EITEN DES „A RABISCHEN F RÜHLINGS “ Der „Arabische Frühling“ hat bei vielen saudischen Frauen ihre Bemühungen bestärkt, sich intensiver für ihre politischen und sozialen Forderungen in der Öffentlichkeit einzusetzen. Hauptkritikpunkte dieser liberalen Frauenbewegung sind die Geschlechtertrennung, die weiterhin existierende rechtliche Ungleichheit, die schlechten Arbeitsmarktverhältnisse für Frauen, die politische Unfreiheit sowie die Exklusion vom öffentlichen Leben. Ebenso wie in den Transformationsländern bedienen sich saudische Frauen verstärkt sozialer Medien, nutzen die kommunikativen Netzwerke von Facebook oder Twitter, engagieren sich über Blogs an der gesellschaftlichen Debatte und artikulieren offen ihre Wünsche, Hoffnungen und Visionen. Inspiriert durch die Bewegung des „Arabischen Frühlings“, die Themen wie Geschlechterungleichheit und Frauenrechte neu auf die Agenda setzte, lösen sich viele vor allem junge Frauen aus den gesellschaftlichtraditionellen Fesseln und kritisieren die drei Grundpfeiler der saudischen Stabilität, die Allianz zwischen Al Saud und ulama, die Deutungshoheit der Religionsgelehrten und die Familie. Hiermit fordern sie das politische System und damit das saudische Königshaus heraus. Diese Kontroverse entzündete sich in den letzten Monaten vor allem am Fahrverbot, das von vielen Aktivistinnen und Bloggerinnen thematisiert und attackiert wurde. Sinnbildlich für diesen Aufstand gegen das Establishment wurde die 32jährige Computerexpertin Manal Al-Sharif aus Damman, die sich beim Autofahren filmen ließ und während des etwa achtminütigen Videos heftige Kritik am Geschlechterverhältnis in Saudi-Arabien äußerte.81 Das Video wurde auf der Internetplattform YouTube mehr als 81.000-mal angeschaut (Stand: 09.01.2012), viele Nachahmerinnen folgten. Die junge Frau, die ihre Führerscheinprüfung in den USA abgelegt hatte, wurde so zu einer Figur des feministischen Aktivismus in Saudi-Arabien. Im Anschluss an ihre öffentlichkeitswirksame Aktion wurde sie für 15 Tage inhaftiert. Bereits 1991 hatten Hunderte Frauen in Riad durch öffentliches Fahren gegen das Fahrverbot kritisiert, jedoch mit ihren Forderungen keinen nach-
81 Vgl. Al-Rasheed 2012; Shubert 2011.
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haltigen Anklang bei Politik und Gesellschaft erreichen können. Es blieb bei einem Einzelfall, während Manal Al-Sharifs Aktion dagegen als die Speerspitze einer Reihe von Initiativen und Aktionen bewertet werden kann, die die Rolle der Frau in Saudi-Arabien thematisieren. FacebookSeiten wie Saudi Women Revolution oder Women2Drive sowie der Saudiwoman’s Weblog von Eman Al-Nafjan entwickelten sich in den letzten Monaten zu Sprachrohren einer saudischen Emanzipationsbewegung. Dass es sich bei dieser Bewegung keineswegs um ein neues, allein durch den „Arabischen Frühling“ inspiriertes Phänomen handelt, zeigte nicht zuletzt der kontrovers diskutierte Roman „Girls of Riyadh“ von Rajaa Alsanea aus dem Jahr 2005, in dem sie in bis dahin unbekannter Offenheit die alltäglichen gesellschaftlichen Probleme von saudischen Frauen bei Fragen der Sexualität, Partnerfindung oder Freizeitgestaltung thematisiert. Das Buch wurde verboten, erreichte aber auf dem Schwarzmarkt und im Ausland eine enorme Popularität. Für das saudische Königshaus stellen diese Initiativen und die in der Öffentlichkeit sichtbaren Forderungen nach mehr Frauenrechten ein nicht zu unterschätzendes Dilemma dar. Vor dem Hintergrund der mannigfaltigen sozioökonomischen Probleme, vor denen Frauen in Saudi-Arabien stehen, und der Inspiration durch den „Arabischen Frühling“ befürchtet das traditionelle Establishment, eine bislang noch wenig bedeutende Frauenbewegung könnte Massenwirksamkeit erreichen. Demzufolge reagiert das Königshaus mit altbewährten Instrumenten von Zuckerbrot und Peitsche: So wurden die Internetaktivitäten nicht grundlegend zensiert, das von einem Gericht verhängte Urteil zu 15 Peitschenhieben gegen eine Frau, die am Steuer ihres Wagens aufgegriffen worden war, wurde durch den König annulliert und nach massiven Protesten den Frauen das aktive und passive Wahlrecht bei den kommenden Kommunalwahlen im Jahr 2015 garantiert, nachdem sie bei den letztjährigen Wahlen noch ausgeschlossen waren.82 In den aus 150 Mitgliedern bestehenden Majlis Ash-Shura sollen ab 2013, wenn das jetzige Mandat endet, auch Frauen als vollwertige Mitglieder berufen werden können.83 „Indeed, there is a pool of highly-qualified, dynam-
82 Vgl. Human Rights Watch (Januar 2011). 83 Vgl. Royal Embassy of Saudi Arabia 2011. So verkündete König Abdallah am 25. September 2011 vor der Majlis Ash-Shura: „Since we reject to marginalize the role of women in the Saudi society, in every field of works, according to the
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ic Saudi women who are more than ready to become active council participants“ (Thompson 2011). Gleichzeitig stärkte das Königshaus die Präsenz der berüchtigten Religionspolizei (amutawa’), mehrere saudische Aktivistinnen wurden verhaftet und das traditionelle Geschlechterbild medienwirksam proklamiert. Auch eine konservative saudische Gegenbewegung von Frauen bei Facebook und Twitter mit dem Titel „I will drive my house and not the housemaids“ verurteilte und kritisierte vor allem die Bestrebungen, das Fahrverbot aufzuheben.84
F AZIT Diese ambivalenten Entwicklungen zeigen, dass sich die Forderungen der Frauen nicht mehr negieren lassen, dass das politische Establishment dementsprechend nicht allein mit Repression darauf reagieren kann, sondern Formen der Kooption implementiert, um den eigenen Machtanspruch zu sichern. Hierbei gerät die politische Elite nicht nur mit streng konservativen Geistlichen in Konflikt, die die Rechte der Frauen keineswegs ausweiten wollen, sondern auch innerhalb des saudischen Königshauses scheint eine lebhafte Diskussion um die Rolle der saudischen Frau in der Gesellschaft stattzufinden. Zwar sollte man noch nicht von einer populären und stabilitätsbedrohenden Frauenbewegung sprechen, die kurz- oder mittelfristig nachhaltige Veränderungen im traditionellen Geschlechterbild SaudiArabiens herbeiführen kann, doch längst befindet sich die Debatte um die Rolle der Frau, ihre Pflichten und Rechte auf der politischen, medialen und gesellschaftlichen Agenda. Die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ haben diese Debatte nicht ausgelöst, aber intensiviert, und durch die stärkere
(Islamic) Shariah guidelines, and after consultations with many of our scholars, especially those in the senior scholars council, and others, who have expressed the preference for this orientation, and supported this trend, we have decided the following: First, the participation of women in the Majlis Al-Shura as members from next session in accordance with the Shariah guidelines. Second, as of the next session, women will have the right to nominate themselves for membership of Municipal Councils, and also have the right to participate in the nomination of candidates with the Islamic guidelines.“ 84 Vgl. Shaheen (20.06.2011).
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Präsenz von Frauen im wirtschaftlichen und politischen Leben wird der Einfluss der Frauen weiter zunehmen. Trotz exzellenter Voraussetzungen aufgrund ihres Bildungsniveaus erfahren sie am meisten Hindernisse im alltäglichen Leben, werden in fast allen Bereichen gegenüber den Männern benachteiligt und tragen deswegen das größte gesellschaftliche Frustrationspotenzial in sich. Sie könnten deswegen zu einem nicht zu unterschätzenden change agent in Saudi-Arabien werden, wenngleich sich dieser Wandel wohl nicht in einer eruptiven Revolution oder dem Aufstand gegen das Königshaus äußern wird, sondern in behutsamen Schritten, die im Einklang mit gesellschaftlichen Normen stehen sollen. Selbst Frauen wie Manal Al-Sharif betonen ihre Demut vor dem saudischen König sowie ihre Folgsamkeit gegenüber den saudischen Traditionen. Keineswegs möchten sie als Rebellen oder Aufrührer gelten, sondern als Vertreterinnen und Anwältinnen von legitimen Forderungen, denen das Establishment aufgrund seiner Weisheit und Klugheit nachgeben werde. Damit reihen sich die Aktivistinnen in das traditionelle Vorgehen saudischer Opposition ein, die eher den Kompromiss denn die Konfrontation sucht. Hiermit folgt das saudische Königshaus einer altbewährten Strategie, Reformen weitgehend durch den Druck „von außen“ anzuregen. Einerseits soll Wandel stattfinden, werden soziale Probleme thematisiert und teilweise sehr kontrovers diskutiert. Andererseits existieren Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, da sonst die Autorität des Königs geschwächt werden könnte. So liegt die Entscheidungsgewalt über das Ausmaß der Reformen ausschließlich beim König. „Saudi politics has been highly centralized around the regime elite, whose patronage and largesse undermined the autonomy of social groups. […] And while politics has been decidedly top-down and dominated by vertical relationships, the regime quickly built up large-scale fiscal obligations toward its various clients in society […]“ (Hertog 2010: 3).
Dies beschreibt den autoritativen Charakter des politischen Systems und die mangelnden Möglichkeiten für gesellschaftliche Akteure, auf Missstände nicht nur hinzuweisen, sondern nachhaltig die Situation zu verändern. Saudische Reformpolitik ist also immer realpolitischen Erwägungen geschuldet und tariert zwischen außenpolitischem und innergesellschaftlichem Druck auf der einen Seite und dem machterhaltenden Kalkül des Königshauses auf
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der anderen Seite. Reformen sind sinnvoll, wenn sie das Image verbessern und die Machtbasis der Al Saud nicht bedrohen. Droht jedoch Autoritätsverlust oder ein nachhaltiges Aufbrechen der konservativen religiösen Deutungshoheit der Wahhabiya, greift der König durch, dreht Reformen zurück und schränkt neue Öffnungen zunehmend ein. Die gesellschaftlichen Reformakteure wie die Frauen beugen sich diesem traditionellen Spiel, so dass gravierende Änderungen bislang ausblieben. Allerdings könnten diese schrittweisen Veränderungen des Geschlechterbildes nicht nur die Rolle der Frau in der saudischen Gesellschaft verändern, sondern sich auch auf die Selbstwahrnehmung des Mannes auswirken. Auch er steht unter einem enormen psychologischen Druck, die Ansprüche, die von außen an ihn gestellt werden, zu erfüllen. Traditionelle Vorstellungen sehen in ihm den Familienvater, der Frau und Kinder durch sein üppiges Einkommen versorgen kann, der das Bild des gütigen, strengen, verantwortungsbewussten und autoritären Patriarchs erfüllt, gläubiger und frommer Muslim ist, sich aber gleichzeitig den mannigfaltigen Herausforderungen der Moderne stellen soll, wirtschaftlichen Erfolg erzielt, sich internationalisiert und als integraler Bestandteil an der Moderne teilnimmt. Unter diesen gestiegenen Ansprüchen leiden viele saudische Männer, fühlen sich überfordert, unverstanden und isoliert, da Schwächen des Mannes nach wie vor als gesellschaftliches Tabu gelten. Ebenso wie die Individualität der Frau im saudischen Kollektiv verpönt ist, gilt gleiches für den Mann. Die Folgen sind verstärkte illegale Drogensucht, Depressionen und psychische Krankheiten sowie eine steigende Suizidrate bei jungen Männern, die dem Druck der Familie, des Arbeitgebers, der eigenen Ansprüche nicht mehr gerecht werden können und wollen. So hat sich die Selbstmordrate zwischen 1999 und 2010 von 400 auf 790 Fällen fast verdoppelt.85 Dieser Prozess deutet auf eine spannende und dynamische Neuformierung des Geschlechterverhältnisses in Saudi-Arabien hin, das nicht nur traditionelle Strukturen aufbrechen, sondern mittel- und langfristig auch das politische System verändern kann.
85 Vgl. Hawari 2011.
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Konkurrenz, Kooperation und Widerstand Handlungsoptionen irakischer Frauen im politischen Feld A NDREA F ISCHER -T AHIR
Als Anfang 2011 Akteur/innen des zivilen Ungehorsams die Diktatoren von Tunesien und Ägypten stürzten, verliehen sie anderen Protestbewegungen im Nahen Osten und Nordafrika (MENA) eine neue Dynamik. So auch im Irak. In Bagdad etwa lebte der Widerstand gegen die konservative Politik der schiitischen Parteien auf – getragen von Gruppen, die sich für Säkularismus, individuelle Freiheit, Frauen- und Jugendrechte einsetzen.1 Im kurdischen Sulaimaniya legten vor allem Student/innen über Wochen das öffentliche Leben in der Stadt lahm und forderten tiefgreifende Reformen in den Bereichen Politik, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft.2 Der für den 25. Februar 2011 über unabhängige sowie soziale Medien ausgerufene „Tag des Zorns“ mobilisierte Männer und Frauen vom südlichen Basra, über den zentralen Irak bis nach Kurdistan. Dabei ging es vielen der Demonstrierenden um Korrekturen des gegenwärtigen Transitionsprozesses.3 Gleichzeitig spiegelten die Proteste sehr deutlich die Vielschichtigkeit des politischen Konflikts im Irak wider. So demonstrierten in der multiethnischen Stadt Kirkuk, um die herum die zweitgrößten Erdölvorkommen des Irak liegen, arabische Nationalisten gegen die kurdische Regionalregierung
1
Vgl. Al Ghazi 2011.
2
Vgl. Schmidinger/Kreuzer 2011.
3
Vgl. Aswat Al-Iraq, 24.2.2011; 25.2.2011; Awêne, 24.2.2011; 25.2.2011; Najm 2011.
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und deren Bestrebungen, die Provinz Kirkuk in ihre autonom verwaltete Region zu integrieren.4 Militante Kämpfer des „Mahdi-Flügels“, geführt vom schiitischen Prediger Muqtada As-Sadr, marschierten für den sofortigen Abzug der US-amerikanischen und anderen Besatzungskräfte.5 Anderenorts protestierten Anhänger der schiitischen Parteien gegen die Wiedereingliederung von früheren Baath-Mitglieder/innen in die irakische Politik.6 Derweil setzten terroristische Gruppen ihre Angriffe auf Einrichtungen des Staates fort; so etwa auf Provinzräte und Gouverneurssitze in Mosul, Tikrit und Diwaniyya. An all diesen Protesten gegen die Regierung in Bagdad, die Regionalregierung im kurdischen Erbil oder aber Provinzregierungen beteiligten sich Männer wie Frauen. Dennoch ist auffällig, dass Genderthemen keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielten. So formulierten einige zivilgesellschaftliche Gruppen, darunter Frauenorganisationen, gemeinsam mit dem Menschenrechtsausschuss des Parlaments „Empfehlungen zur Verbesserung der öffentlichen Freiheiten und sozialen Gerechtigkeit“, die relativ weit unten die Forderung nach Abschaffung bzw. Modifizierung des Verfassungsartikel 41 nennt – ein Artikel, der es den Bürger/innen theoretisch freistellt, Personenstandsfragen je nach Religion und Konfession zu regeln.7 In Kurdistan verabschiedeten die Demonstrierenden auf dem von Berderk-î Seray in Meydan-î Tehrîr (Platz der Freiheit) umbenannten zentralen Platz von Sulaimaniya einen Forderungskatalog, in dem die Abschaffung von „Gender-Diskriminierung und jeglicher Gewalt gegen Frauen“ erst an 21. Stelle genannt wird – kurz vor der Forderung nach höheren staatlichen Krediten bei Eheschließungen.8 Dabei standen sowohl in Bagdad als auch Sulaimaniya jede Menge Frauen in den ersten Reihen und fungierten als Rednerinnen – der verschiedenen politischen Bündnisse und Parteien.
4
Vgl. Aswat Al-Iraq 25.02.2011.
5
Vgl. Ramzi 2011.
6
Vgl. Shabakat Al-Akhbar An-Nasiriyya 10.6.2011
7
„Recommendations to improve Public Liberties and Social Justice jointly agreed by Civil Society and Iraqi Council of Representatives“, Press Release: http:// www.kvinnatillkvinna.se/en/recommendations-to-improve-public-liberties-andsocial-justice-jointly-agreed-by-civil-society-and-i (15.10.2011).
8
Vgl. Awêne 28.02.2011.
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Dieser Beitrag widmet sich den Frauen im politischen Feld. Dabei war es bereits im April 2003, als der Sturz des früheren Baath-Regimes durch eine von den USA geführte Invasion die entscheidende Voraussetzung für eine radikale Umstrukturierung der politischen Landschaft im Irak schuf. Von Beginn an waren Frauen Teil dieses Prozesses. In Parteien, Wahlbündnissen und Regierungskoalitionen sowie Frauenorganisationen unterstützten sie nationalistische, religiöse oder klassenbezogene Programme, setzten aber auch die „Frauenfrage“ – so der im Arabischen und Kurdischen gebräuchliche Ausdruck – auf die Tagesordnung. Anders als Nadje Al-Ali und Nicola Pratt, die den Verlust von Frauenrechten seit 2003 und eine zunehmende Unterdrückung der Irakerin an und für sich betonen,9 behaupte ich, dass der Umbruch Spielräume von Frauen nicht nur einschränkt, sondern auch neue eröffnet. Dies ließe sich mit einem Fokus auf bestimmte lokale Settings oder Berufsfelder zeigen, oder aber – wie es Karin Mlodoch (2012) tut – am Beispiel von Frauen in Kurdistan, die in den 1980er Jahren unter genozidaler Verfolgung gelitten hatten. Dieser Beitrag jedoch möchte die vielfältigen Akteurinnengruppen und ihre Themen im politischen Feld vorstellen. Dabei werde ich zeigen, dass Organisationsformen und Praxis der Frauen in hohem Maße von der nationalen, ethnischen und konfessionellen Fragmentierung des Irak und von Kämpfen der männlich-dominierten Parteien untereinander geprägt sind. Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Studie zu Identitätspolitik und Medien im Irak. Er ordnet sich zum einen in die Forschung zur gegenwärtigen Situation von Frauen im Irak ein10, knüpft aber zum anderen an die breite akademische Debatte um Gender in Konflikt bzw. Post-KonfliktGesellschaften an.11 Ich gehe davon aus, dass Frauen im Irak als einem konfliktgeschüttelten Land nicht bloße Opfer ihrer Verhältnisse, sondern Trägerinnen „sinnlich menschliche[r] Tätigkeit, Praxis“ (Marx 1845/1969: 5) sind, um den Marxschen Ausdruck zu verwenden. Daher soll auch aufgezeigt werden, dass die Akteurinnen (wie ihre männlichen Konkurrenten) oft dazu tendieren, eher für die Verbesserung der eigenen Position oder des
9
Vgl. Al-Ali/Pratt 2009a; 2009c.
10 Al-Ali/Pratt 2009a, 2009c; Mojab 2002; King 2008; Persinger 2010; Hardi 2011; Fischer-Tahir 2011; Mlodoch 2012 11 Kandiyoti 1991, 2007; Cockburn 1998, 2007; Mojab 2001; Richter-Devroe 2008, Al-Ali/Pratt 2009b; Dennerlein 2012.
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eigenen Status innerhalb partikulärer Gruppen oder der Gesellschaft zu streiten als für kollektive Rechte, ein Handlungsmuster, das – um an Pierre Bourdieu (2005) anzuschließen – zur Persistenz von Geschlechterungerechtigkeit und männlicher Dominanz beiträgt.
„S TAATLICHER F EMINISMUS “
IM I RAK ?
Wie in anderen Ländern der MENA-Region war historisch gesehen auch im Irak das Ringen um Frauenrechte in antikoloniale Kämpfe eingebettet und eng an Diskurse um „Entwicklung“ und „Fortschritt“ als mehr oder weniger aus westlicher Ideengeschichte adaptierte Konzepte gebunden. In den 1920er und 1930er Jahren setzten sich vor allem Schwestern, Ehefrauen und Mütter von Politikern und Intellektuellen für die schulische Bildung der Mädchen und Rechte von Frauen ein.12 In den 1940er Jahren übernahm die Irakische Kommunistische Partei (IKP) die Rolle der „Avantgarde“, die „Frauenfrage“ jedoch als einen „Nebenwiderspruch“ behandelnd. Gegründet 1943 avancierte die kommunistische Irakische Frauenliga zur ersten gesamtirakischen Frauenorganisation.13 Im Verlaufe der 1950er Jahre gründeten auch andere Parteien eigene Frauengruppen; so die Demokratische Partei Kurdistans (DPK) und die schiitische Islamische Daawa Partei. Seit den späten 1950er Jahren waren politische Umbrüche im Irak stets mit signifikanten Veränderungen hinsichtlich der rechtlichen Situation von Frauen verbunden. So verabschiedete die 1958 durch einen Putsch sowie gleichzeitige Revolution von unten an die Macht gekommene Regierung des Militärs Abd Al-Karim Qasim das Personenstandsgesetz, das der religiös und tribal begründeten rechtlichen Pluralität hinsichtlich Eheschließung, Sorgerecht für Kinder, Scheidung und Erbe ein für alle Iraker/innen gleichermaßen gültigem Regelwerk entgegensetzte. Zu den einschneidenden Veränderungen gehörte die Regelung, Ehen vor einem staatlichen Gericht schließen zu müssen und die Begrenzung der Polygynie auf zwei Ehefrauen, wobei die erste nachweislich krank oder unfruchtbar sein musste. Das Mindestheiratsalter wurde auf 18 Jahre festgelegt, Zwangsehen verboten, und Frauen erhielten das Recht auf Scheidung. Das Gesetz entstand unter
12 Vgl. Batatu 1978: 404, 494; Efrati 2004, 2012. 13 Vgl. Tschauschli 1986; Fischer-Tahir 2000.
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massivem Druck der IKP. Diese stellte auch mit der Frauenärztin und Generalsekretärin der Frauenliga, Naziha Al-Dulaimi, die erste irakische Ministerin (Ressort Kommunale Angelegenheiten). Auch die 1968 an die Macht gekommene Baath-Partei unternahm Anstrengungen, das Bildungsniveau von Frauen zu heben, Einkommensmöglichkeiten zu schaffen und ihnen das Recht auf Eigentum und Verfügungsgewalt über Land zu sichern. Die einem „arabischen Sozialismus“ verschriebene Baath-Partei propagierte das Image der Kleinfamilie und der gut ausgebildeten, werktätigen Frau, und förderte durch die Einrichtung staatlicher Kindergärten die Berufstätigkeit von Frauen. Diese Maßnahmen waren jedoch weniger Ausdruck für einen „staatlichen Feminismus“ als vielmehr Elemente eines Modernisierungsprojekts, das nicht nur „dem Fortschritt“ sondern vor allem der Kontrolle der irakischen Männer, Frauen und Kinder diente.14 Allerdings eröffnete die Baath-Partei auch Handlungsspielräume für Feministinnen. So rekonstruiert Achim Rohde einen heterogenen Mediendiskurs in den 1970er Jahren, in dem Akteurinnen der Baath-Generalunion der Frauen radikale Maßnahmen zum Schutz von Frauen vor Gewalt durch männliche Angehörige sowie Reformen zur Gleichberechtigung forderten.15 Diese Debatten endeten jedoch spätestens mit dem Krieg gegen den Iran (1980-1988). Das Regime nahm diesen Krieg, erst recht jedoch die durch die Besetzung Kuwaits (1990/91) sowie das Handelsembargo seit 1991 sich dramatisch verschlechternde Wirtschaftslage zum Anlass, Rechte von Frauen einzuschränken. So wurde das Heiratsalter für Mädchen wieder auf 15 Jahre heruntergesetzt und Einschränkungen der Polygynie aufgehoben. Ein Beschluss des Regimes von 2001 legte für Morde aus „Ehre“ eine Höchststrafe von einem Jahr fest und setzte somit die bisherige Regelung nach dem Strafgesetzbuch von 1969, die mindestens drei Jahre für derartige Verbrechen forderte, außer Kraft.16 Die Herrschenden propagierten nun – eingebettet in eine Islamisierung des öffentlichen Raumes – das Image der patriotischen Mutter, gehüllt in die schwarze abaya. Frauen wurden aus den Jobs im öffentlichen Sektor, der die meisten Iraker/innen beschäftigte, gedrängt, ihr Zugang zu Lebensmitteln, medizinischer Versorgung und ande-
14 Vgl. Farouk-Sluglett 1991; Joseph 1991; Makiya 1998: 88-93. 15 Vgl. Rohde 2011: 75-91. 16 Vgl. ILDP 2006: 62; Mattar 2006: 616.
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ren staatlichen Dienstleistungen eingeschränkt. Dies alles führte zu einem radikalen Rückgang der Teilnahme von Frauen im öffentlichen Leben.17 Derweil verliefen die Entwicklungen im kurdischen Norden anders. Der Aufstand vom März 1991, die Formierung des kurdischen quasi-Staates sowie der Schutz durch die Alliierten des Kuwait-Krieges begünstigten die Herausbildung einer feministischen Bewegung. Dabei agierten in den 1990er Jahren die Frauengruppen noch eng entlang von Parteigrenzen, ganz besonders während des kurdischen Milizenkrieges (1994-1998), in den nationalistische wie islamistische Parteien involviert waren. Nach Beendigung dieses Krieges jedoch begannen vor allem in Sulaimaniya nationalistische, kommunistische sowie islamistische Frauen miteinander zu kooperieren, um effektiver in der Öffentlichkeit eine Sensibilisierung zum Thema Gewalt gegen Frauen herzustellen. Internationale NGOs unterstützten diesen Prozess durch die Finanzierung von Projekten wie Frauenzentren und Schutzhäuser sowie durch Wissenstransfer. So waren in Kurdistan bereits vor 2003 Medienbeiträge, Konferenzen und Aufklärungsarbeit zu den Themen „Frauentötung“ (tîror-î jin), häusliche Gewalt, Zwangsehe, Selbstverbrennung von Frauen und Genitalverstümmelung an der Tagesordnung.18
D IE P OLITIKERIN
UND DER
U MBRUCH 2003
Einige Autorinnen argumentieren, dass seit April 2003 die Besatzungspolitik und der anhaltende Kriegszustand sowie die auf ethnischen und konfessionellen Zugehörigkeiten basierenden Parteien im Irak zu einer Verschlechterung der Lage vor allem der Frauen geführt haben.19 Das Argument ist so allgemein, dass es auch für Männer oder für Kinder gelten könnte. Darüber hinaus ignoriert es, dass der Sturz des Regimes insbesondere für diejenigen, die zu den bislang unterdrückten Gruppen gehörten, auch eine Verbesserung ihrer Lage und Lebensperspektive bedeutete. Dennoch kann nicht oft genug betont werden – und darin stimme ich mit Al-Ali und Pratt (2009a: 88-90) überein –, dass Frauen in der Politik an den Rand
17 Vgl. Al-Jawaheri 2008: 136. 18 Vgl. Fischer-Tahir 2003: 291-305. 19 Vgl. Al-Ali/Pratt 2009a: 85.
KONKURRENZ, KOOPERATION UND WIDERSTAND | 243
gedrängt wurden. Dies zeichnete sich bereits auf der Londoner Konferenz 2002 ab, auf der die Opposition Szenarien für den Sturz des Regimes und die spätere Ordnung diskutierten; unter den 300 Delegierten waren nur fünf Frauen. Die Marginalisierung setzte sich später in den politischen Treffen im Irak fort. Als im Juli 2003 unter Vermittlung der Besatzungsmacht der provisorische Irakische Regierungsrat gebildet wurde, waren unter den 25 Mitgliedern nur drei Frauen: die schiitische Frauenärztin Raja Al-Khuza’i aus Diwaniyya, die turkmenische Ingenieurin Sondul Chapuk aus Kirkuk, und die schiitische Geisteswissenschaftlerin Aquila Al-Hashimi aus Bagdad. Letztere war bereits unter dem früheren Regime im Außenministerium tätig gewesen; sie fiel im September 2003 einem Anschlag zum Opfer. Dem Rat standen 12 Männer vor, die die Parteien des Übergangsprozesses repräsentierten. Unter den ernannten 25 Ministern war nur eine Frau: die Kurdin Nasrin Berwari von der DPK, die zuvor in der kurdischen Regionalregierung als Ministerin für Aufbau und Entwicklung fungiert hatte. Berwari übernahm das Ministerium für Kommunales und öffentliche Arbeiten und wurde wiederernannt, als im Juni 2004 die Übergangsregierung gebildet wurde. Berwari nutzte ihr Amt auch dazu, Frauenrechte anzusprechen und unterstützte diesbezügliche Kampagnen. Ihre Verlobung mit dem konservativen sunnitischen Politiker Ghazi Yawar, der in den Jahren 2004 bis 2005 als Ministerpräsident amtierte, sorgte unter kurdischen Feministinnen für einige Verwirrung und beeinträchtigte Berwaris Glaubwürdigkeit. Zusätzlich warfen im Jahre 2006 Berichte über ihre Verstrickung in Korruption und Amtsmissbrauch einen Schatten über das Bild der engagierten Politikerin, um die es dann auch zunehmend stiller wurde.20 Auch nach den ersten freien Wahlen am 30. Januar 2005 und den jüngsten Wahlen am 7. März 2010 blieben Frauen in Regierungsämtern unterrepräsentiert. Diese Marginalisierung darf jedoch nicht nur als eine Form von Misogynie gedeutet werden. Vielmehr ist seit 2003 jegliche Kabinettsbildung ein Kompromiss unter den politischen Parteien, von denen die meisten behaupten, bestimmte ethnische und konfessionelle Bevölkerungsgruppen zu vertreten. Vor April 2003 hatte eine arabisch-sunnitische Elite regiert, wobei sunnitische Araber/innen etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Diese Elite hatte versucht, den schiitischen Araber/innen (ca.
20 Vgl. Awêne (13.06.2006); Hawlêrpost (17.12.2006).
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55 Prozent), den mehrheitlich sunnitischen Kurd/innen (ca. 15-20 Prozent) sowie den Minderheiten der Turkmen/innen, Christ/innen, Yezidi, Mandäer/innen und anderen (zusammen fünf Prozent) ihre Vorstellung von einem Irak als Teil der großen sunnitisch-arabischen Gemeinschaft aufzuoktroyieren. Der Sturz des Regimes bot Akteur/innen aus bislang marginalisierten Gruppen die Gelegenheit zur Übernahme von Regierungsgeschäften, legitimiert auch durch das Verfassungsreferendum am 15. Oktober 2005. Aus den Wahlen von 2005 ging eine Koalition aus (mehrheitlich arabischen) schiitischen Parteien mit religiös-konservativen Einstellungen siegreich hervor. Gemeinsam mit den seit 1991 in Kurdistan eigenständig herrschenden Parteien sowie einigen sunnitisch-arabischen Alibi-Politikern wurde eine Konsens-Regierung gebildet und führende Positionen nach ethnischkonfessioneller Herkunft quotiert; Ministerpräsident wurde ein Schiit, seine Stellvertreter je ein Kurde und ein Sunnit, Staatspräsident wurde ein Kurde, seine Stellvertreter wiederum je ein Schiit und Sunnit. Das Amt des Ministerpräsidenten erhielt Nuri Al-Maliki von der Daawa Partei; er bekleidet es nach den letzten Wahlen erneut. Hushyar Zibari, ein Spitzenpolitiker DPK, wurde Außenminister und Jalal Talabani, der Chef der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), wurde Staatspräsident; auch diese beiden Politiker sind bis heute im Amt und symbolisieren den Bruch mit der arabischsunnitischen Dominanz. Auf der Verfassungsebene erfolgte der Bruch mit dem früheren Regime übrigens unter anderem mit Begriffen wie „föderales System“ (Präambel und Artikel 1), „pluralistisches System“ (Präambel) und der Beschreibung des Irak als ein Staat mit „zahlreichen Nationalitäten, Religionen und Konfessionen“ (Artikel 3). Regierungsbildung im ethnisch eher homogenen Kurdistan war seit 1992 ebenfalls stets eine Frage von Aushandlung zwischen den führenden Parteien DPK und PUK, um kriegerische Handlungen zu vermeiden. Dabei wurden Frauen ebenfalls an den Rand gedrängt. Denn erstens ist ihre Repräsentanz in den Parteien selbst marginal und, egal ob die Parteien sich nationalistisch und säkular definieren (DPK) oder aber darüber hinaus auch sozialdemokratisch (PUK). Zweitens sind Frauen (bislang) keine Führerinnen von inneren Parteiflügeln, die um Vorherrschaft in den Parteien ringen und daher berücksichtigt werden müssten. Drittens bilden sie keine (militärisch wehrfähigen) Interessensgruppe wie etwa Stammesverbände oder kleinere Parteien, die als Klienten oder Bündnispartner versorgt oder als eventuelle Bedrohung durch Posten neutralisiert werden müssen. Die
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männlich-dominierten Parteien versprechen sich wenig Nutzen von der Verteilung von Posten an Frauen. Begleitet wird diese Praxis durch einen Diskurs, in dem behauptet wird, die Frauen seien noch nicht reif für solche Verantwortung. Die Vermeidung von Krieg, Befriedigung der Klientel und Schaffung von Bündnissen sind also die treibenden Prinzipien bei Regierungsbildungen in Bagdad und Erbil. Daher sind die Kabinette auch von so ungemeiner personeller Größe. Die Arroganz gegenüber den Frauen zeigt sich auch in folgendem Beispiel: Als im Mai 2006 kurdische Frauengruppen dagegen demonstrierten, dass nur zwei von 41 Ministerposten an Frauen gingen, ernannte der Ministerpräsident lediglich eine dritte. Tabelle 1:Repräsentanz auf Regierungsebene Kabinette
Frauen als Repräsentantinnen
Irakische Regierungen Regierungsrat Juli 2003
3 von 25
Interimsregierung Juni 2004
5 von 35
Kabinett April 2005
6 von 36
Kabinett Mai 2006
5 von 40
Kabinett Dezember 2010
1 von 49
Kurdische Regierungen Kabinett Mai 1992
1 von 17
Kabinett Mai 1993
1 von 17
Kabinett Mai 2006
2 bzw. 3 von 41
Kabinett Juli 2009
1 von 25
Allerdings beteiligen die Männerbünde Frauen an ihrem Spiel. Daher wurde beispielsweise ein Frauenministerium in Bagdad eingerichtet, welches
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indes kaum genügend finanzielle Ressourcen erhielt und von Nuri AlMaliki nicht unterstützt wurde, somit also keine politische Wirkungsmacht entfalten konnte.21 Kurdische Parteien wiederum setzen schon seit Jahren gezielt Frauen im Wahlkampf ein oder ernennen sie zu Fraktionsführerinnen. So Kwestan Muhammad. Sie agierte mehrere Jahre als Fraktionsvorsitzende der PUK im kurdischen Parlament, für die sie 1997 auch das Frauenbataillon geleitet hatte. Als Mitglied der PUK-Abspaltung Change (Goran) unter Führung von Nawshirwan Mustafa Amin, hat sie seit Juli 2009 erneut den Funktionsvorsitz inne. Die KDP-Fraktion wiederum wird von Sozan Khala Shehab geleitet. Da wichtige Entscheidungen ohnehin von den Politbüros getroffen werden, haben die beiden Frauen ebenso wenig politisches Gewicht wie die meisten Abgeordneten. Ihre Funktion verdanken sie allerdings vor allem der Tatsache, dass sie die Schwester bzw. die Tochter von anerkannten Märtyrern sind – und damit ist ein weiteres Prinzip für die Verteilung politischer Posten angesprochen.
D IE A KTIVISTIN
UND DER
U MBRUCH
Nach dem Ende des Regimes bildeten sich im Irak eine ganze Reihe von neuen Gruppen, die sich neben Frauenrechten und dem Schutz von Kindern, für die nationale Aussöhnung (musƗlaha) und ein Ende der Gewalt einsetzten. Die Akteurinnen knüpften dabei an frühere Untergrundorganisationen oder Exil-Gründungen an. Die Organisation für Frauenfreiheit beispielsweise wurde 2003 durch die Irakische Arbeiterkommunistische Partei gegründet. An ihrer Spitze stand die aus Kanada zurückgekehrte Architektin Yanar Muhammad. Im Kurdistan der 1990er Jahre hatten die Arbeiterkommunist/innen mit als erste das Thema „Ehrenmord“ auf die Tagesordnung gesetzt. Allerdings lag ihre Priorität auf dem Kampf der Werktätigen für einen gerechten Arbeiterkommunismus.22 Eine weitere linke Organisation war die bereits 1992 von der IKP gegründete Assoziation Al-Amal (Hoffnung), die sich in ihrem Kampf für eine „gerechte und demokratische Gesellschaft“ auf Frauenrechte konzentrierte.23 Leitende Kraft von Al-Amal
21 Vgl. Aswat Al-Iraq (09.03.2009); Flintoff 2009. 22 Vgl. Fischer-Tahir 2003: 240ff. 23 Vgl. www.iraqi-alamal.org.
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ist seit 1992 Hanna Adwar, ein langjähriges und hochrangiges Mitglied der IKP, die über viele Jahre die Frauenliga beim Weltbund Demokratischer Frauen vertrat und als Partisanin in Kurdistan gekämpft hatte. Als im Jahre 2001 in Sulaimaniya das kurdisches Netzwerk und Frauenschutzhaus Asûde gegründet wurde, gehörte Adwar zu den Unterstützerinnen. Inzwischen ist sie auch führende Aktivistin des Irakischen Frauennetzwerks, das „mehr als 90 Frauen- und andere Organisationen aus verschiedenen Teilen des Landes repräsentiert“.24 Während der Proteste 2011 engagierte sich Hanna Adwar in Bagdad. Am 6. Juni 2011 nutzte sie spektakulär eine von der Regierung inszenierte Menschenrechtskonferenz, um Nuri Al-Maliki direkt mit der Forderung nach einem Ende der Gewalt gegen Demonstrant/innen zu konfrontieren.25 Eine Reihe anderer neuer Gruppen wurde durch Frauen aus dem Umfeld des ehemaligen Oppositionsbündnisses Irakischer Nationalkongress (INC) gegründet oder aber durch Akademikerinnen mit engen Verbindungen zu anderen Parteien.26 Anders als Hanna Adwar stammten diese Frauen aus den alten sozialen Eliten des Irak. So beispielsweise die Architektin Maysun Al-Damluji, die die Unabhängige Frauengruppe gründete. Ihre Familie gehörte zur osmanischen Beamtenelite von Mosul. In den Jahren 2003 bis 2004 amtierte Al-Damluji als Kulturministerin, seit 2005 ist sie Abgeordnete und Sprecherin der von Iyad Allawi geleiteten semisäkularistischen Iraqiyya-Liste. Ein Beispiel für eine schiitisch-religiöse Vereinigung ist die Islamische Frauenorganisation, die zur alten Oppositionsgruppe Islamischer Hoher Rat im Irak gehört. Ihre Generalsekretärin, die Kinderärztin Jinan Al-Ubaydi, wurde 2005 ins Parlament gewählt. AlAli & Pratt zählen sie zu den „many women who were determined to reform the personal status code in line with shari’a.“ (Al-Ali/Pratt 2009a: 132) Als ein letztes Beispiel sei die ebenfalls schiitische, aber parteiunabhängige Irakische Witwenorganisation genannt, die 2004 durch die bereits erwähnte Politikerin Raja Al-Khuza’i gegründete wurde; sie entstammt einer führenden tribalen Lineage in Diwaniyya. Nach meinen Beobachtungen
24 Vgl. Aswat Al-Iraq (12.12.2009). 25 Vgl. Al-Baghdadiyya (05.06.2011). 26 Vgl. Al-Ali/Pratt 2009a: 126f.
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gehört sie zu den meist zitierten Frauenrechtlerinnen, wenn es um die rechtliche Gleichstellung von Frauen geht.27 In Bezug auf viele Frauengruppen, ob (arbeiter-)kommunistisch, liberal oder islamistisch, entsteht der Eindruck, dass sie sich entsprechend einer für die MENA-Region typischen „personalistic nature“ organisieren, das heißt, das Wirken nach innen wie außen eher um jeweils eine bestimmte Person anstatt ein Kollektiv strukturiert ist.28 Verallgemeinernd lässt sich auch sagen, dass die Frauengruppen im Irak, egal ob Parteiorganisation oder grassroot-Gruppe, sich entlang religiöser, ethnischer oder regionaler Zugehörigkeiten bilden. Ausnahmen sind die Kommunistinnen und Arbeiterkommunistinnen. Ansonsten agieren sie wie die Parteien zwar unter Bezug auf Bagdad, aber eher im regionalen (Millionenmetropole Bagdad, Kurdistan, Südirak, Mosul, Najaf und Kerbela, etc.) oder lokalen Rahmen. Mit Ausnahme der Arbeiter- und anderen Kommunistinnen ist keine Frauengruppe Irak-weit tätig. Übliche Mittel der politischen Arbeit sind Newsletter und Zeitschriften, Webseiten und die Kooperation mit den männlich-dominierten Medien. Mit Hilfe nationaler oder internationaler Geldgeber werden Frauenzentren und Frauenschutzhäuser betrieben. Die Frauen kooperieren in Kampagnen, organisieren Demonstrationen, Workshops zur Weiterbildung der eigenen Mitglieder oder Sympathisantinnen, sowie Konferenzen zum akademischen und politischen Austausch über relevante Themen. Besondere Kampftage vor allem der säkularen Frauengruppen sind der Internationale Frauentag am 8. März sowie der Internationale Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen am 25. November. Ein breites Spektrum von Akademikerinnen, Ärztinnen und Künstlerinnen unterstützt die Frauengruppen von innen und außen, wobei sie ihr Expertinnenwissen sowie das ihren Titeln und Positionen anhaftende symbolische Kapital einsetzen. Eine weitere wichtige unterstützende Berufsgruppe sind Journalist/innen. Internationale Medienorganisationen förderten Genderbewusstsein und die Kompetenzstärkung von Frauen durch Kurse, Vergabe von Jobs und Netzwerkarbeit. Darüber hinaus finanzierten die deutsche Media in Cooperation and Transition (mict) und das britische Institute for War and Peace Reporting (IWPR) die Radioprojekte „Ihre Stim-
27 Vgl. www.iraqiwidows.org 28 Vgl. Rosen 1984: 2ff.
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me“ und „Die andere Hälfte“, die zwischen 2005 und 2007 produziert und von mehreren Radiostationen landesweit ausgestrahlt wurden.29 Eine Reihe von Zeitungen beschäftigt Frauen, die ihre journalistische Tätigkeit auch als „Arbeit für die Frau“30 verstehen. Dabei berichten Frauen gleichzeitig von Versuchen ihrer männlichen Vorgesetzten und Kollegen, sie auf „Frauenthemen“ festzulegen31, wenn möglich auf Themenseiten, die da in irakischen Zeitungen „Frau und Gesellschaft“, „Frau und Familie“ oder „Partnerin des Mannes“ heißen. Generell muss konstatiert werden, dass die Arbeit der Gruppen vielerorts mit Gefahren verbunden ist. So werden Säkularistinnen und ihre Zentren immer wieder Ziel von Anschlägen. Versuchen die Gruppen zugunsten von Frauen in als Familienproblem verstandenen Konflikten zu vermitteln, etwa wenn eine Frau wegen häuslicher Gewalt in ein Schutzzentrum flieht oder gegen den Willen ihrer männlichen Angehörigen heiraten will, riskieren die Aktivistinnen, selbst Opfer von Gewalt zu werden. Eine Form der Organisation von Frauen, die völlig anders als die bisher skizzierte Praxis ist, bildet die sogenannte Frauen-Hawza (hawza nisa‘ iyya). Allgemein bezeichnet Hawza („Territorium des Lernens“) die schiitischen geistlichen Ausbildungszentren in Najaf und Kerbela, Samarra und Kazimiyya/Bagdad.32 Diese sind Männern vorbehalten. Allerdings begründete die Lehrerin und Publizistin Amina Haydar As-Sadr (Bint Al-Huda), Schwester des Ayatollah und Daawa-Gründers Muhammad Baqir As-Sadr in den 1960er Jahren religiöse Bildungszirkel. Ihre Studentinnen wiederum organisierten weitere Zirkel. Während dieses Netzwerk nach der Hinrichtung des Ayatollahs und seiner Schwester am 9. April 1980 in den Untergrund gedrängt wurde, entstammen ihm heute eine Reihe von Akteurinnen
29 Vgl. www.mict-international.org und www.niqash.org, sowie www.iwpr.net. 30 Interview mit Ala Latif, Redaktion der Zeitung Hawlatî, Sulaimaniya (05.10.2010). 31 Interview mit Hêro Ceza und Kwêstan Qadir Koste, Redaktion der Zeitung Kurdistan-î Nwê (03.10.2009). 32 Vgl. Ibrahim 1987; Litvak 1998.
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in den Frauenorganisationen sowie Fraktionen der Daawa, des Hohen Islamischen Rates im Irak und des Sadr-Flügels.33 Waren bisher eher Frauen angesprochen, die den Umbruch zur Erweiterung eigener Handlungsspielräume nutzten, so muss hier auch bemerkt werden, dass nach 2003 zahlreiche für Frauenrechte engagierte Personen aus dem Irak geflohen sind; sei es wegen des Verlusts an Privilegien als Unterstützerinnen des Regime, aus Angst vor Racheakten oder vor islamistischen Kräften. Auch schlossen sich viele Frauen dem sogenannten „Widerstand“ gegen die Besatzung und neuen Machthaber an.
T HEMEN
DER
F RAUENBEWEGUNG
Bildung, Arbeit, Einkommen Aktivistinnen der Frauenbewegung sehen Bildung sowohl als ein grundlegendes Recht, als auch eine Pflicht der irakischen Frau. Der Kampf um Bildung wird auf drei Ebenen geführt: Alphabetisierung, Bildung in Schule, Berufsschule und Universität und schließlich Akkumulation von Wissen über die Recht und Pflichten von Frauen in Familie und Gesellschaft. Statistiken von 2007 sprechen von 10,5 Prozent männlichen und 24,4 Prozent weiblichen Analphabeten im Irak. Während an Grundschulen noch eine ungefähre Balance von Jungen und Mädchen besteht, erreichen nur 3,3 Prozent der Mädchen gegenüber 6,2 Prozent der Jungen einen Hochschulabschluss (World Food Programme 2008: 30). Auf dem Arbeitsmarkt gelten Frauen ebenfalls als marginalisiert. Nach statistischen Angaben für die Zeit von 2004 bis 2007 waren es nur 13 Prozent der Frauen über 15 Jahre, die einer geregelten Beschäftigung mit Einkommen nachgingen. Allerdings ließen sich signifikante Unterschiede zwischen den Provinzen ausmachen: Lag im konservativen Mosul und im strukturschwachen Missan die Quote mit vier und sechs Prozent am niedrigsten, so war sie in den stark urbanisierten Provinzen Babil, Qadisiyya und Sulaimaniya mit 17 bis 23 Prozent am höchsten. Gleichzeitig stieg die Beschäftigung der Männer von 70 Pro-
33 Diesen Hinweis verdanke ich Anwar Al-Khaldy, die derzeit an der Freie Universität Berlin an ihrer Dissertation zum Leben und geistigen Erbe von Bint AlHuda im Irak arbeitet.
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zent (2004) auf 90 Prozent (2007), was auch mit neuen Jobmöglichkeiten vor allem bei den Sicherheitsorganen zusammenhängt.34 Beinah jede Gruppe bietet Kurse für Alphabetisierung, Fremdsprachen und Computer, Gesundheitsaufklärung und Seminare zu Recht und Politik an. Darüber hinaus werden Einkommen-generierende Projekte durchgeführt. In der Bildungsarbeit spiegeln sich die unterschiedlichen Weltsichten der Vereinigungen wider. So strebt die säkulare Bagdader Frauenassoziation nach der „Erhöhung des Niveaus an intellektuellem und sozialen Wissen ihrer Mitglieder, um sie für die Teilhabe an Entscheidungen in Politik, Familie und Beruf zu stärken“.35 Wie auch andere islamistische Gruppen wirbt die oben erwähnte schiitische Islamische Frauenorganisation im Irak für das Konzept von Frau als komplementär zum Mann, der in einer von Gott erschaffenen Ordnung spezifische Rechte und Pflichten zukomme. Sie beruft sich auf Bint Al-Huda und strebt nach der Herstellung von Sicherheit bezüglich „Wissen und Glauben als die Waffen der irakischen Frau“, treffend repräsentiert im Logo der Gruppe: eine lesende Frau mit islamischer Kopfbedeckung.36 Die Frauenquote Ein Thema, das Frauen im politischen Feld seit Beginn des Umbruchs 2003 leidenschaftlich diskutierten, ist das der Repräsentanz von Frauen in Legislative und Exekutive. So wurde von einigen bereits 2003/2004 die Forderung erhoben, im Transitional Administrative Law der Besatzungsverwaltung eine Frauenquote von 40 Prozent festzuschreiben. US-Verwalter Paul Bremer lehnte dies jedoch ebenso ab wie die führenden Politiker des neuen Irak.37 Schließlich wurde eine Frauenquote von 25 Prozent für die legislative Ebene beschlossen und in Verfassung (Art. 40) und Wahlgesetz festgeschrieben – eine Neuheit in der MENA-Region! Bei den Wahlen im Januar 2005 wurde diese Quote sogar noch übertroffen und circa 30 Prozent der Sitze gingen an Frauen. Die Wahlen zu den Provinzräten im Januar 2009 führten jedoch zu sehr widersprüchlichen Ergebnissen. So erhielten in eini-
34 Vgl. Ministry of Planning et al 2005: 107f; COSIT et al. 2008: 189f. 35 Vgl. Homepage der Frauenassoziation Bagdad, www.bwa-iraq.org 36 Vgl. Homepage der Islamischen Frauenorganisation im Irak, www.hawaona.org 37 Vgl. Al-Ali/Pratt 2009c: 80.
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gen Provinzen Frauen mehr als 30 Prozent der Sitze, während sie in anderen Provinzen kaum auf 15 Prozent kamen. Denn das Gesetz schreibt lediglich vor, dass von einer erfolgreichen Wahlliste jede vierte der in die Vertretung einziehenden Personen eine Frau sein muss. In mehreren Provinzen trat aber eine Vielzahl kleiner Listen an, die jeweils nicht mehr als zwei oder drei Kandidaten durchbrachten.38 Im Ergebnis der Wahlen 2010 belegen Frauen insgesamt 82 der 325 Sitze. Allerdings waren diese wie auch bereits jene zu den Provinzräten Personenwahlen mit offenen Listen. Die Ergebnisse zeigen eindeutig, dass irakische Wähler/innen eher männliche Kandidaten präferieren. So wurde nur ein kleiner Teil der Frauen, und zwar vor allem von schiitischen, konservativen Bündnissen, mit direkten Stimmen gewählt. Dabei ließen sich auch gravierende Unterschiede in der Zahl der erhaltenen Stimmen nachweisen. So erhielt die bereits oben erwähnte Iraqiyya-Sprecherin Maysun Al-Damluji, die in Bagdad antrat, gerade einmal 650 Stimmen, während der Mann mit den wenigsten Stimmen auf derselben Liste von 3.123 Wähler/innen gewählt wurde.39 Zu beobachten ist auch, dass Männer mit hohem Misstrauen und Neid auf die Frauenquote und die von ihr profitierenden Frauen blicken. Gelegentlich werden gescheiterte männliche Kandidaten zu „Opfern der Frauenquote“ erklärt.40 Anderenorts versuchen Männer die Ergebnisse der Quote zu unterlaufen. Der Provinzrat von Wassit setzte per Mehrheitsbeschluss durch, dass Vertreterinnen lediglich an den Sitzungen teilnehmen dürfen, wenn sie durch ihren Ehemann oder einen mahram begleitet werden, also einem männlichen Angehörigen, den zu heiraten verboten ist.41 Die Kontroverse um die Frauenquote wird in den Medien immer kurz vor und nach Wahlen am intensivsten geführt. Nehmen wir als Beispiel die regierungsnahe Tageszeitung Al-Sabah (Der Morgen), die mit 20.000
38 Vgl. Talal 2009. 39 Angaben nach der vollständigen Auszählung, veröffentlicht auf der Homepage der Hohen Wahlkommission des Irak www.ihec-iq.com 40 Vgl. Xebat (09.03.2010). 41 „Mahram“, posted on MacClatchy Trusted Voices: Inside Iraq, http://blogs .mcclatchydc.com/iraq/2009/12/mahram.html (05.12.2009). Das Thema wurde auf der Konferenz des Irakischen Frauennetzwerks am 11./12.12. 2009 diskutiert, Aswat Al-Iraq (12.12.2009).
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Exemplaren das auflagenstärkste Blatt im Irak ist.42 Wenige Tage vor den Wahlen im März 2010 widmete sich die Beilage „Demokratie und Zivilgesellschaft“ dem Thema und ließ dabei auch Politiker/innen, Rechts- und Geisteswissenschaftler/innen zu Wort kommen. Unterstützer/innen der Quote behaupteten, „die Quote dient der Kompetenzstärkung von Frauen“, „die Quote ist gut, aber nicht ausreichend, um Frauenrechte zu stärken“ sowie „Frauen stellen die Hälfte der Gesellschaft und verdienen daher mehr als nur 25 Prozent“. Die Gegner/innen hingegen argumentierten: „Kandidaten sollten gewählt werden aufgrund ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten, nicht weil sie Frauen sind“, „selbst Frauen präferieren männliche Kandidaten, weil sie deren Fähigkeiten mehr vertrauen“ und schließlich, so ein männlicher Autor: „Die Quote ist künstlich und behindert die natürliche und stufenweise Entwicklung von Frauen“.43 Auch irakische Feministinnen aus säkularen Milieus zeigen eine ambivalente Einstellung zur Quote. Sie weisen darauf hin, dass aufgrund der politischen Mehrheitsverhältnisse vor allem Frauen aus konservativen schiitischen Parteien von der Regelung profitieren, wobei von denen dann nichts für Frauenrechte gewonnen sei. Dennoch wird die Quote als ein notwendiges Instrument gesehen – „to see women in decision-making positions“ (Abass 2006: 15). Bemerkenswert sind Diskursstränge, die die Quote mit der Frage nach den Rechten der Jugend verbinden – immerhin ist die Hälfte der Iraker/innen jünger als 25 Jahre. In Kurdistan beispielsweise wurde im Jahre 2009 diskutiert, das passive Wahlrecht von 30 auf 25 Jahre herunterzusetzen. Diese Idee erhielt nicht nur Beifall unter Akteur/innen der Zivilgesellschaft. Im Gegenteil, eine bekannte feministische Publizistin schrieb in ihrer Kolumne „Gender-Balance“ (Themenseite „Frauen“) im Zentralorgan der PUK, Kurdistan-î Nwê (Neues Kurdistan): Es sei „ungerecht“, die „Jugendfrage“ genau wie die „Frauenfrage“ zu behandeln, denn „nach Meinung der meisten Denker sind Leute im Alter von 25 Jahren noch nicht reif für die Politik“ (Fetah 2009). Argumentieren vor allem männliche Kritiker noch recht selbstherrlich, so sind diese wie auch die Äußerung über die Quote als Gefahr für die „natürliche und stufenweise Entwicklung der
42 Interview mit Zuhair al-Jazairi, Chefredakteur der Nachrichtenagentur Aswat AlIraq. Sulaimaniya (07.10.2009). 43 Vgl. Al-Sabah (03.03.2009). Zusammenfassung der Artikel aus der wöchentlichen Beilage „Demokratie und Zivilgesellschaft“.
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Frau“ ein Hinweis auf Verunsicherung. Denn die Sprechenden sehen sich gezwungen, ihre Argumente mit Verweis auf höhere Autoritäten des Wissens oder etablierte Konzepte von „Fortschritt“ zu legitimieren. Das Personalstatut Kaum sechs Monate nach der Bildung des Irakischen Übergangsrat setzten am 29. Dezember 2003 Akteure der schiitisch-islamistischen Parteien die Resolution 137 durch, mit der sie das bisherige Personalstatut für ungültig erklärten und die Scharia als rechtliche Basis für Personenstandsfragen einführten. Heftige Proteste von Frauenrechtlerinnen zwangen die neuen Machthaber zur Rücknahme der Resolution.44 Die nächste Runde im Kampf um das Personalstatut erfolgte im Rahmen der Ausarbeitung der neuen Verfassung. Nur wenige Frauen wurden in die zuständige Kommission berufen und die Mehrheit der Abgeordneten waren jene der konservativen schiitischen Vereinigten Irakischen Allianz. Säkulare Feministinnen inner- und außerhalb des Parlaments sahen ihre Interessen gefährdet und forderten auf der Straße, in Konferenzräumen und den Medien die Stärkung von Frauenrechten in der Verfassung.45 Dennoch stimmten die Iraker/innen am 15. Oktober 2005 über eine Verfassung ab, die das bisherige Regelwerk gefährdet. Zwar heißt es in Art 14: „Alle Iraker sind vor dem Gesetz gleich und dürfen aufgrund von Geschlecht, Rasse, ethnische und nationale Herkunft, Farbe, Religion, Konfession, Glauben oder ökonomischem und sozialen Status nicht diskriminiert werden.“ Dies wird allerdings durch Artikel 41 relativiert, der besagt: „Alle Iraker sind frei ihre Personenstandsangelegenheiten in Übereinstimmung mit ihrer Religion, Konfession, ihrem Glauben oder ihrer Wahl zu regeln“. Wie auch eine Reihe anderer Artikel spiegelt dieser einen Kompromiss wider, den schiitisch-islamistische, sunnitisch-islamistische, sowie arabische und kurdische säkulare Kräfte versucht hatten, miteinander auszuhandeln – und er gibt Anlass für viele Interpretationen (ILDP 2006: 5, 89). Eine Reihe von Politikerinnen und Aktivistinnen in konservativen schiitischen Parteien betreibt aktiv die De-Säkularisierung des Irak, während andere keine eindeutige Position in dieser Frage beziehen. Ein solches Bei-
44 ILDP 2006: 87; Baba 2006: 10. 45 Vgl. auch Al-Ali/Pratt 2009a: 136ff.
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spiel ist die ehemalige Beraterin Nuri Al-Malikis, Mariyam Ar-Rayyis. Als Mitglied der Verfassungskommission hatte sie sich noch 2005 für die Stärkung islamischer Werte in der Verfassung ausgesprochen und war zuversichtlich, dass „wann immer Bürger Rechte erhalten, davon auch die Frauen profitieren“ würden.46 Später hingegen unterstützte sie eher die Bewahrung des Personalstatuts von 1959, das sie als „den Stolz der irakischen Frau“ bezeichnete.47 Während viele Akteur/innen schon die Beibehaltung des Gesetzes als maximales Kampfziel betrachten, unterziehen es einige Aktivist/innen und Jurist/innen einer radikalen Kritik aus feministischer und menschenrechtlicher Perspektive. Sie fordern eine Überarbeitung des Gesetzes in Einklang mit dem internationalen Übereinkommen über die Beseitigung jeder Form der Diskriminierung von Frauen.48 Ein Zweig dieses Diskurses in Kurdistan erreichte durch mehrjährige Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit, dass im Oktober 2008 das kurdische Parlament über Änderungen des Personenstandsgesetzes abstimmte. Ziel der Frauenrechtlerinnen war das vollständige Verbot der Vielehe. Zwar stimmte eine Mehrheit der Abgeordnet/innen für die Rücknahme von Änderungen durch die BaathPartei, ein Verbot der Polygynie konnte jedoch nicht durchgesetzt werden.49 Erwartungsgemäß hatten die Abgeordneten der Islamischen Union Kurdistan und eine Reihe Konservativer aus der DPK gegen den Antrag gestimmt. Das Scheitern des Antrages lag aber daran, dass zahlreiche männliche Abgeordnete der sich als sozialdemokratisch präsentierenden PUK vor der Abstimmung einfach den Saal verlassen hatten. Die Zukunft des Personenstandsgesetzes hängt wesentlich von den Machtverhältnissen im sowie den säkularen Akteur/innen außerhalb des Parlaments ab. Dabei ist die Persistenz von Polygynie nicht einfach eine rechtliche, sondern soziale Angelegenheit. So agieren in den mittleren und höheren Ebenen der PUK einige Männer, die sich wiederverheirateten, ohne dass die erste Ehe rechtskräftig geschieden worden war. Auch wird das Streben nach einem Verbot von Polygynie oftmals als den individuellen Interessen von Frauen entgegengesetzt gedeutet. Die kurdische Publizistin
46 Niqash (18.07.2005). 47 Al-Sharq Al-Awsat online (29.10.2006). 48 ILDP 2006: vii; Mattar 2006: 616f; Ali/Mohammed 2005; Babakhan 2006. 49 AFP (01.11.2008); Mohammad 2007.
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und Feministin Runak Faraj50, die lange Zeit das von ihr geleitete Frauenund Medienzentrum Rêwan in Sulaimaniya dominierte, äußerste mir gegenüber in einem Gespräch im März 2007 ihre Frustration darüber: „Ich kämpfe so sehr gegen Polygynie (frê-jin). Und dann triffst du in den Dörfern Frauen, die machen dir den Vorwurf: Das hat nichts mit unserem Leben zu tun. Wir sind sozial und ökonomisch gezwungen, der Ehe als Zweitfrau zuzustimmen. Das ist besser als unverheiratet zu bleiben.“
Diese Aussage ist nach meinen langjährigen Beobachtungen in Kurdistan nicht nur auf ländliche Frauen beschränkt. Ich persönlich kenne Akademikerinnen, die aus den gleichen Gründen in eine Ehe als zweite Frau eingewilligt haben. Gewalt gegen Frauen Wie durch irakische und internationale Organisationen dokumentiert, führten der Krieg und die anhaltende ethno-konfessionell gedeuteten Gewalt zu einem Anstieg von Fällen von Entführung, Vergewaltigung, „Ehrenmord“, und Zwangsprostitution. Gewalt gegen Frauen mit Verweisen auf Gewohnheitsrecht, Stammesrecht oder religiöse Besonderheiten können von dem fragilen Staat und der schwachen Zivilgesellschaft nicht oder nur unzureichend verhindert werden. Somit gibt es kaum Schutz gegen erzwungene Eheschließungen mit dem Parallelcousin, den „Austausch“ von Frauen unter zwei Männern oder die Praxis, einen Konflikt zwischen tribalen Gruppen durch die „Gabe“ einer Frau zu verhindern oder zu beenden.51 Dennoch wächst zunehmend die öffentliche Kritik an solchen Praktiken, und sie tut dies aufgrund der Bemühungen von Frauen- und Menschenrechtsgruppen, der Massenmedien und neuer Kommunikationsmedien, wobei Mobiltelefone und Internet auch durch die Verbrecher selbst eingesetzt werden. An dieser Stelle möchte ich kurz auf die Themen häusliche Gewalt, „Ehrenmord“ und Zwangsprostitution eingehen, wobei ich mich vorrangig auf Beispiele aus der Region Kurdistan beziehe.
50 Bislang ins Englische übersetzt wurden Faraj Rahim 2004; Faraj Rahim/Shwan 2004. 51 ILDP 2006: 65-71; Amnesty International 2007-2009.
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In der soziologischen Studie über die Lage kurdischer Frauen, die der Regionalleiter der NGO Norwegian People’s Aid in Kurdistan, Soran Qadir Koste, im Jahre 2005 vorlegte, und die auf der Befragung von circa 20.000 Frauen basiert, gaben etwa 50 Prozent an, bereits mindestens einmal Opfer von häuslicher Gewalt geworden zu sein. Die meisten der verheirateten Frauen nannten dabei den Ehemann als Täter.52 Nach Artikel 41 des Personenstandsgesetz ist der Ehemann berechtigt, seine Frau im Falle der „Widerspenstigkeit“ physisch zu bestrafen, ebenso wie Eltern und Lehrer das Recht haben, widerspenstige Kinder zu bestrafen.53 Dies steht im Widerspruch zu internationalen Menschenrechtskonventionen. Bemerkenswert sind die Ergebnisse anderer Befragungen, die darauf hindeuten, dass noch immer viele Frauen, das Recht des Mannes auf Maßregelung der Frau für legitim halten. So gaben bei einer Untersuchung der staatlichen Zentralorganisation für Statistiken und Informationstechnologie 59 Prozent der befragten Frauen an, dass „der Mann berechtigt ist, seine Frau zu schlagen“. Dabei wiesen die Daten große Unterschiede zwischen Kurdistan einerseits und den arabisch-dominierten Provinzen andererseits auf: In Bagdad stimmten 67 Prozent dieser Aussage zu, in Wassit 83 Prozent und in Dhi Qar 85 Prozent. In Sulaimaniya waren es nur 31 Prozent.54 Diesen Unterschied würde ich vor allem auf die kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit der lokalen Frauenbewegung seit Mitte der 1990er Jahre zurückführen. Wie bereits oben erwähnt, regelten das Strafgesetzbuch von 1969 und spätere Beschlüsse des Baath-Regimes den Umgang mit sogenannten Morden aus Gründen der „Ehre“. Die politische und Sicherheitslage im Irak allgemein erschwert die systematische Untersuchung von „Ehrenmorden“. In Kurdistan hingegen erreichte die Frauenbewegung im April 2000, dass die damalige PUK-Regierung einen Beschluss erließ, nachdem „Frauentötung“ (tîror-î jin) mit mehreren Jahren Gefängnis verurteilt wird. In der Folge beobachteten Frauenrechtlerinnen jedoch, wie die Täter nach Wegen suchten, die Morde zu verschleiern: als Unfälle, Selbsttötung, Selbstverbrennung oder Verschwinden lassen der Opfer. Andererseits müssen auch die Daten, die Frauengruppen an internationale Organisationen übermitteln, kritisch überprüft werden. Nach meinen Beobachtungen tendieren sowohl einzelne
52 Vgl. Koste 2005: 51, 692. 53 Vgl. ILDP 2006: 63f; Mattar 2006: 115f. 54 Vgl. COSIT 2006: 61f.
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Gruppen wie auch Individuen dazu, gegenüber anderen Akteur/innen im Feld ihre Daten sorgsam zu schützen, sie gegenüber internationalen Geldgebern aufzubauschen, und schließlich die Daten Anderer in Zweifel zu ziehen. Für diese Tendenz gibt es drei Hauptgründe. Erstens ist es die Konkurrenz um internationale Geldmittel und die Legitimationslogik, der die Antragstellerinnen unterworfen sind. Zweitens ist es die Konkurrenz um die Führung und höchste Anerkennung im Feld, und drittens die Verflechtung von Frauengruppen mit den politischen Parteien und die fortgesetzte allgemein politische Konkurrenz. So zielte im April 2010 eine Medienkampagne von säkularen Frauenrechtlerinnen und „männlichen Unterstützern“ gegen das oben erwähnte Frauenschutzzentrum Asûda nur oberflächlich gesehen auf dessen Leiterin; im Grund genommen agitierten hier Unterstützer/innen der Change Plattform gegen ihre „Mutterpartei“ PUK, die das Zentrum seit Jahren protegiert.55 Überhaupt unterliegt der Kampf gegen „Ehrenmorde“ wie alles andere im Irak nur allzu oft der Hegemonie von ethnischnationalistischen und konfessionellen Deutungsmustern. So wurde im April 2007 in einer Yezidi-Kleinstadt in der Provinz Mosul eine junge Frau von ihren Cousins und Onkeln öffentlich zu Tode gesteinigt, weil sie einen muslimischen Mann heiraten wollte. Die Steinigung wurde von Umstehenden mit Handykameras gefilmt. In der Folgezeit beeilten sich die männlichdominierten Medien in Kurdistan, den Vorfall vergessen zu machen, indem sie mit überaus großem Engagement auf nachfolgende Gewaltexzesse von muslimischen Arabern an Yezidi-Kurden berichteten. Auch wenn im Irak wie anderswo Prostitution als „unmoralisch“ gedeutet wird, blüht das Geschäft mit dem weiblichen Körper über ethnische, religiöse und konfessionelle Zugehörigkeitsgrenzen hinweg. Allerdings sind keineswegs nur Unsicherheit und wirtschaftliche Krise als Faktoren für das Ansteigen von Prostitution zu nennen. Im Gegenteil: in Kurdistan sind es gerade die zunehmende Sicherheit sowie wachsende „Kaufkraft“ von Männern aus verschiedenen sozialen Schichten, aber auch ein Diskurs, der Polygynie als wenn auch manchmal berechtigte, so doch aber „rückschrittliche“ Institution verhandelt. Zumindest weist dies Khandan Muhammed Jeza in ihrer Studie zum „Handel mit dem weiblichen Körper“ nach, die 2007 in Sulaimaniya erschien. Das Buch verurteilt deutlich den Missbrauch von Frauen unter Verhältnissen „männlicher Herrschaft“ (pyawsalarî) und
55 Vgl. Rudaw (03.05.2010).
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beschreibt detailliert die Formen, in denen Kleinhändler, Taxifahrer, Lehrer, Politiker der PUK und Angehörige der Sicherheitskräfte am „SexMarkt“ teilnehmen.56 Aber auch am Beispiel dieser engagierten und mutigen Studie57 zeigt sich die Verflechtung des Kampfes um Frauenrechte mit den Konflikten der Parteien: Die Entscheidung des kurdischen Ministerpräsidenten Nechirvan Barzani von der DPK, die Autorin mit einer Auszeichnung und einem Preisgeld zu belohnen, hatte mit Sicherheit damit zu tun, dass das Buch vor allem als Kritik am Konkurrenten PUK gelesen werden kann. Was Khandan Muhammed Jeza selbst betrifft, so erntete sie, die sie über viele Jahre als Leiterin das Frauenzentrum Xanzad in Sulaimaniya dominierte, nicht nur Anerkennung und eine hohe Summe Geld. Andere Feministinnen bestritten ihre Autorinschaft mit Verweis auf angeblich mangelndes „intellektuelles Niveau“. Außerdem erhielt sie eine Reihe von Morddrohungen, die sie veranlassten, nach Westeuropa zu fliehen.
F AZIT Weder gibt es „die irakische Frau“ noch „eine“ irakische Frauenbewegung. Frauen im politischen Feld agieren unter konkreten lokalen und regionalen Bedingungen und organisieren sich entlang ethnischer und religiöser Linien. Die Definition von Frauenrechten hängt in hohem Maße von nationalistischen, säkularen, linken oder islamistischen Überzeugungen ab. Dennoch kann es zu Kooperationen kommen. Konkurrenz unter individuellen Frauen um symbolisches Kapital und Macht im Feld gehört ebenso zu den Handlungsmustern wie Zentriertheit um einzelne Personen herum bzw. die starke Dominanz einzelner Frauen in den jeweiligen Gruppen. Dennoch artikuliert sich deutlicher Widerstand gegen männliche Herrschaft und ich bin optimistisch, dass er weiter wächst.
56 Vgl. auch Fischer-Tahir 2009: 146-153. 57 Sie wurde durch den deutschen Trägerverein des Frauenzentrums, Haukari e.V. ermöglicht. Vgl. www.haukari.de
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Afghanistan plus 10 – Demokratisierung per Intervention? Reflexionen zur Demokratisierung in Interventionsund Konfliktkontexten A NDREA F LESCHENBERG DOS R AMOS P INÉU
In den vergangenen beiden Dekaden kam es wiederholt zu militärischen Interventionen nicht nur mit dem Ziel der Konfliktbeilegung und nachhaltigen Friedenskonsolidierung, sondern dezidierter Regimewechsel gepaart mit avisiertem demokratischen Staats- und Institutionenaufbau während langer Jahre internationalen Engagements mit protektorats-gleichen Ausmaßen. In diesem Kontext spielten Prinzipien der guten Regierungsführung (good governance) als Richtlinien der zivil-militärischen Programme und Strategien im Postkonfliktland eine zentrale Rolle. Die Resolution 1325 der Vereinten Nationen zur Teilhabe von Frauen an Konfliktmediations- und Friedensverhandlungen setzte zudem, zumindest formal, geschlechter-sensible Parameter. Grundsätzlich können derartige Transitionsprozesse die Einführung und Institutionalisierung „neuer“ Mechanismen und Normenregime ermöglichen – sei es durch die Neuaushandlung von Verfassungen oder die Ratifizierung internationaler Menschenrechts- und Anti-Diskriminierungs-Konventionen – und infolgedessen einen geschlechterdemokratischen historischen Sprung (Dahlerup).
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„While there has been some success in relation to women’s participation in elections and formal politics and engagement in small-economic enterprise, inequitable gender power relations within the household and wider society have not been considered or understood, and thus opportunities have been lost.“ (O’Connell 2011: 455)
Problematisch sind zumeist die nachhaltige Verankerung institutioneller Mechanismen, das nachhaltige Mainstreaming positiver Diskriminierungsschritte und die gesellschaftsweite Diffusion geschlechterpolitischer Normenregime. Ausreichend erscheint dabei nicht die Etablierung von Repräsentationsmechanismen oder die Kodifizierung von gleichstellungsorientierten Gesetzesvorhaben und Programmen, wenn deren transversale Umsetzung in Hinblick auf Teilhabe, Implementierung und Sanktionierung nicht durch zuständige oder befugte (inter-)nationale Akteure durchgesetzt werden kann bzw. von diesen langfristig beabsichtigt ist. Zumeist sind aber bereits die Konfliktbeilegungs- und Friedenskonsolidierungsprozesse von abstinenten geschlechterpolitischen Forderungen und der fehlenden Anhörung bzw. Teilhabe entsprechender Femokrat/innen gekennzeichnet. So kritisiert O’Connell den weit verbreiteten Fakt, dass „[...] women’s demands for inclusion were resisted by male elites who commanded the formal and informal processes, even where women had been prominent as peace activists.“ (O’Connell 2011: 457) In den Betrachtungen und Diskussionen um Islam, Gender und Demokratisierung in der Untersuchungsregion dieses Bandes stellt Afghanistan als chronischer Konfliktkontext sowie als Beispiel eines vorangegangenen dezidiert misogynen Regimes ohne umfassende Staatlichkeit (gemäß der weitläufigen modernen, eurozentristisch geprägten Definition) einen Sonderfall dar. Es ist eines der wenigen Fallbeispiele für internationale Interventionen (und nachfolgender Okkupation) mit dem proklamierten Ziel eines Regimewechsels sowie einer soziopolitischen Demokratisierung, in denen Geschlechterverhältnisse und deren androzentrisch-misogynen Realitätskonstruktionen als wichtiger postulierter Legitimierungsgrund für die Intervention an sich sowie für das zivil-militärische internationale Engagement diverser staatlicher und nicht-staatlicher internationaler Interventionsakteure dient. Anders als in den Vergleichsfällen Kosovo und Osttimor kennzeichnet Afghanistan eine dezidiert proklamierte Institutionalisierung geschlechterpolitischer Mechanismen – wie Quoten, ministerielle Gender Units und eines international massiv unterstützten Ministeriums für Frauen-
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angelegenheiten (MoWA) – und ein capacity building auf parlamentarischer und zivilgesellschaftlicher Ebene im Rahmen des allgemeinen Staatsund Institutionenaufbaus. Jedoch sehen viele Beobachter diese Ansätze als eher symbolisch-rhetorischer Natur denn als wirkliche Transversalität im Staats- und Institutionenaufbau entfaltend: „It is questionable whether bodies such as the AIHRC and the MoWA were ever meant to be anything more than window-dressing in the nation-building game.“ (AzarbaijaniMoghaddam 2007: 133) Zudem sollte nicht vergessen werden, dass es Frauen in vielen neuen und gerade erst am Beginn stehenden, lang andauernden Transformationsprozessen sowie in Ländern, die sich nach jahrzehntelangen Konflikten im (Wieder-)Aufbau befinden, oftmals an den erforderlichen Kompetenzen und Handlungsspielraum fehlt, um sich öffentlich zu engagieren. Die Spielregeln sind häufig noch diffus bzw. werden wiederholt zur Verhandlungsmasse und Praktiken politischer Partizipation in staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen müssen ohne umfangreiche Trainingsmaßnahmen, Zeit oder nachhaltige Unterstützung umgesetzt werden. In einer durch das Ende von Kampfhandlungen geprägten, autokratischen oder hoch polarisierten – ja sogar misogynen – soziopolitischen Landschaft bedeutet es für politisch und zivilgesellschaftlich engagierte Frauen eine gewaltige Herausforderung, neue, abweichende Agenden vorzubringen oder eine kritische Masse für gleichstellungsorientierte Politiken aufzubauen, in denen die Belange von Frauen dauerhaft verankert werden.1 Dies gilt in besonderem Maße für Afghanistan, welches noch immer ein Land mit hoher Konflikt- und politischer Gewaltintensität darstellt, und die jüngsten Versuche, Talibanvertreter in Regierungsgespräche und mögliche politische Verhandlungen einzubeziehen, was – angesichts der vorherge-
1
Eine vorangegangene Untersuchung der Autorin unter Parlamentarier/innen der ersten Wolesi Jirga belegt, dass die meisten Parlamentarierinnen zwar frauenpolitische Anliegen als sehr wichtig einstufen, aber die Realisierbarkeit entsprechender Gesetzesinitiativen bedeutend niedriger. Gründe dafür sind u.a. (i) einflussreiche Vetoakteure in politischen Institutionen als auch in der Gesellschaft, (ii) die bisherige Regierungspolitik und politische Agenda unter Präsident Karzai als auch (iii) ein mangelndes Interesse bis hin zu Widerstand seitens der Mehrheit der Abgeordneten mit zumeist konservativen bis hin zu misogynen Orientierungen (vgl. Fleschenberg 2011).
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henden Erfahrungen von 1996-2001 – den Spielraum für gleichstellungsorientiertes gesellschaftliches Engagement und entsprechende Politikmaßnahmen aller Voraussicht nach weiter einengen, geschlechterpolitische Errungenschaften des letzten Jahrzehnts und womöglich jedes aktive öffentliche Engagement von Frauen massiv beschneiden würde. Von vielen Frauenaktivistinnen in Politik und Gesellschaft wird ein autokratischer Rückfall, sozusagen ein regressiv gewandter Transitionszyklus mit massiven geschlechterpolitischen Rückschritten bzw. der Aufkündigung der bisherigen Errungenschaften befürchtet.2 Derzeit wird die Frage von Transition in Afghanistan nicht so sehr im herkömmlichen Verständnis der Transformationsdebatte imaginiert und diskutiert. Bei Fragen der Transition geht es vor allem um die Frage, wie sich die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Zukunft des Landes nach dem geplanten Abzug der meisten internationalen Truppen in 2014 und Folgejahren gestalten wird: Welches normative Regime und welche politischen Akteure werden sich durchsetzen? Können die fragilen Schritte in Richtung Staats- und Institutionenaufbau gehalten und ggf. fortgesetzt werden oder entwickelt sich das afghanische System in eine andere Richtung? Können die prekären kritischen diskursiven Räume und Handlungsmöglichkeiten überleben, in denen sich Demokratisierungsagenten in den letzten zehn Jahren trotz massiver, systematischer Bedrohungen für menschenrechtliche und demokratisierungsrelevante Agenden öffentlich engagiert haben? Wird es auch nach dem Abzug der meisten internationalen Truppen und Akteure staatlicher Entwicklungszusammenarbeitsorganisationen eine politische und materielle Unterstützung dieser change agents geben, und wird sich deren Engagement gesamtgesellschaftlich vernetzen und Wirkung entfalten? Oder stellen die anderthalb Jahrzehnte internationaler Intervention und Okkupation letztlich nur eine weitere Episode von Fremdherrschaft mit begrenzter, reversibler soziopolitischer Wirkung und fehlender Nachhaltigkeit dar, wie dies schon mehrfach für die Historie des Landes und der afghanischen Gesellschaft als Narrativ entwickelt und weitergegeben wurde? In den nachfolgenden Ausführungen geht es dabei weniger um eine Analyse der aktuellen Realitäten als um eine Diskussion der Imaginationen, Agenden und Forderungen derjenigen Akteursgruppe, die sicherlich zu den
2
Siehe ausführlicher dazu Fleschenberg 2011.
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bedrohtesten post-2014 zählt: Frauenrechtsaktivistinnen in fragilen politischen Institutionen sowie in einer fragilen Zivilgesellschaft, welche von vielen als eine international gesponserte mit wenig gesellschaftsweiter Wirk- und Verbindungskraft gesehen wird, jedoch zu zentralen Demokratisierungsagenten in der akademischen Transitionsforschung zählt. Oder in den Worten von Azerbaijani-Moghaddam einer Zivilgesellschaft „at the mercy of uncivil society“ (2007: 134), deren Überlebensfähigkeit derzeit von der materiellen und personellen zivil-militärischen Unterstützung der internationalen Interventionsakteure abhängt. Im Fokus des Beitrages stehen die Forderungskataloge und Strategien dieser Akteure rund um die Frage der Transition – im Sinne einer wie auch immer definierten post-2001 Demokratisierung als auch post-2014 Transition –, die in den letzten Jahren erstaunlicherweise selten wahrgenommen und bei relevanten (inter-)nationalen Entscheidungsprozessen zur Zukunft des Landes kaum Gehör und Commitment fanden.
P RAKTIZIERTE D EMOKRATIE ? – L ICHTBLICKE UND K ONTROVERSEN „When a woman sits next to a fundamentalist in parliament, this alone is progress“. (Soraya Sobhrang, Afghanistan Independent Human Rights Commissioner, zit. nach: Ruttig 2011b) „The lack of support in Parliament for women to qualitatively participate and the lack of serious support by the Afghan leadership contribute to a lack of significant change in women holding senior positions with meaningful contributions in governance.“ (Hamid 2011: 24)
Die politische Partizipation von Frauen in staatlichen als auch in zivilgesellschaftlichen Diskussionen und Entscheidungsprozessen gilt als einer der Indikatoren für einen geschlechterdemokratischen Transitionsprozess und der Durchsetzung von citizenship-Rechten. Die Zahl der Kandidatinnen für Präsidentschafts-, Parlaments- und Provinzratswahlen hat von Wahlperiode zu Wahlperiode zugenommen, obwohl sich die Bedingungen für den Wahlkampf und die Interaktion mit Wählerinnen und Wähler zunehmend ver-
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schlechterte, als auch die Sicherheitssituation und die Bedrohungsintensität insbesondere der weiblichen Kandidaten. Unter der exekutiven Ägide des Afghanischen Frauennetzwerkes (Afghan Women Network, AWN) trafen sich im Ende Juni 2009 eine Reihe von Frauenrechtlerinnen und weiterer zivilgesellschaftlicher Vertreter zu einem Konsultationstreffen, aus dem die Fünf-Millionen-WählerinnenKampagne entstand, welche Anfang August desselben Jahres offiziell ausgerufen wurde. Internationale und nationale Akteure auf allen Ebenen des politischen und administrativen Systems wurden aufgefordert, die Teilhabe von wahlberechtigten Frauen sicherzustellen. Kandidaten der Präsidentschafts- und Provinzratswahlen wurden zudem aufgefordert, geschlechterpolitische Belange in ihre politischen Agenden aufzunehmen und sich diesen aktiv zu verschreiben: „[...]to acknowledge and include issues like women’s political, social, cultural, civil and economic rights, ensure the opportunities of reaching justice for women, amend the laws that affect women’s life ‘specifically the Family Law’ and implement the Law of elimination of violence against women in accordance with the Constitution and national and international commitments. [...] The Afghan Women Network as the implementer and supporter of this campaign believes that promoting democracy without women’s independent and active participation is unattainable. Therefore, all Afghan women are asked to realize the value of their votes and by considering their social responsibility, they shall participate in election.“ (The Declaration of Commitment to Afghan Women)3
Die aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten – Amtsinhaber Karzai und seine Herausforderer Ghani und Abdullah – trafen sich in der Folge mit Frauenrechtlerinnen und hielten Wahlkampfveranstaltungen, die spezifisch auf die weibliche Wahlbevölkerung abzielte und in denen diese frauenspezifische Wahlversprechen abgaben; ein zumindest öffentlichkeitswirksamer, rhetorisch-symbolischer Erfolg für afghanische Frauenorganisatio-
3
The Declaration of Commitment to Afghan Women. Five Million Afghan Women Campaign (04.08.2009), (Original in Dari), www.huntalternatives.org/download /1750_5_million_women_campaign_en.doc (23.04.2012).
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nen.4 Präsidentschaftskandidatin und ehemalige Ministerin für Frauenangelegenheiten, Massouda Jalal, forderte sogar eine Paritätsklausel für Kabinettposten (Arnoldy 2009). In einer von der Aktivistin moderierten Fernsehdebatte zwischen den beiden damals aussichtsreichsten Kandidaten für die Präsidentschaft, Hamid Karzai und Abdullah Abdullah, standen Frauenthemen im Fokus. Mahbouba Seraj kommentierte: „Women’s issues may have been low in priority for the candidates but they have been pushed higher as a result of the pressure of women activists“. (Mojumdar 2009) In der ersten Wolesi Jirga (2005-2010) partizipierten die ausschließlich auf reservierten Sitzen gewählten Parlamentarierinnen in nur wenigen formalen Führungspositionen: als Vizesprecherin des Hauses sowie als Vorsitzende der parlamentarischen Ausschüsse für Frauenangelegenheiten, Zivilgesellschaft und Menschenrechte bzw. für Natürliche Ressourcen.5 Derzeit besetzen drei Frauen Kabinettposten in sozialen Bereichen – öffentliche Gesundheit, Frauenangelegenheiten sowie Arbeit, soziale Angelegenheiten, Menschen mit Behinderung und Märtyrer.6 Ein Zusammenschluss von zivilgesellschaftlichen Vertretern brachte eine Liste mit Namen von qualifizierten Kandidatinnen für Ministerialposten ein und versuchte – mit wenig Erfolg – den Präsidenten als auch seinen inneren Entscheidungszirkel zu beeinflussen, den nationalen Vorgaben der Milleniumsentwicklungsziele zu entsprechen.7 Das zunehmend regierungskritische Parlament wies eine Reihe der vom Präsidenten nominierten Kandidaten in der ersten Runde parlamentarischer Bestätigung zurück, darunter auch die amtierende Ministerin für Frauenangelegenheiten Ghazanfar, welche sich erst nach mehreren Nominierungsrunden schlussendlich durchsetzen konnte. In der zweiten Runde nominierte Karzai drei Kandidatinnen: Amena Afzala, die ehemalige Ministerin für Jugendfragen, welche einer einflussreichen Familie entstammt und vom Parlament bestätigt wurde; die Mitbegründerin des Afghan Wo-
4
Vgl. Lemmon 2009. Hingegen kritisierte die Abgeordnete und Vorsitzende des damaligen parlamentarischen Women’s Caucus, Shinkai Karokhail, diese Wahlrhetorik und deren politischen Stellenwert: „Women’s issues are as sensitive as the Durand Line [...]. Why should they [candidates] do something that might lose them the votes of conservatives and extremists?“ (zit. in: Mojumdar 2009).
5
Vgl. Amiri et al. 2010: 5; Fleschenberg 2011.
6
Vgl. Hamid 2011: 24.
7
Vgl. Jarvenpaa 2010.
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men Network und Aktivistin Palwasha Hassan als neue (letztlich nicht erfolgreiche) Kandidatin für Frauenangelegenheiten sowie Soraya Dalil, welche bereits vorab für NGOs und internationale Hilfswerke im Bereich Public Health gearbeitet hatte und in einer späteren Runde vom Parlament bestätigt wurde.8 Wiederholt haben Frauenaktivistinnen in den vergangenen Jahren diverse Nominierungslisten mit qualifizierten Kandidatinnen für nationale Entscheidungsgremien im Präsidialamt vorgelegt, um die geringe weibliche Repräsentationsrate als auch die Nominierung von denjenigen Frauen zu verhindern, welche sich nicht den geschlechterpolitischen Agenden und Werten von Frauen- und anderen Menschenrechtsorganisationen verschreiben. Der Erfolg war minimal bis verschwindend gering. So wurde bspw. keine der vorgeschlagenen Kandidatinnen für den Friedensrat nominiert und die erfolgreich nominierten Frauen wurden von Frauen- und Menschenrechtsvertretern aufgrund ihrer konservativen politischen Orientierung weitgehend abgelehnt, wie dies auch in einem Protestbrief an Präsident Karzai zum Ausdruck gebracht wurde.9 Jedoch bestehen gewisse zivilgesellschaftliche Erfolge auf der diskursiven Ebene, in dem diese Themen und Belange in der Öffentlichkeit als Referenzrahmen präsent bleiben und langsam einer breiteren (wenn auch vor allem urbanen) Bevölkerungsgruppe bekannt werden, sowie darin, dass sich politische Führungspersönlichkeiten bspw. im Wahlkampf mit diesen Themen auseinandersetzen müssen und es aufgrund der Proteste und Lobbyarbeit wiederholt zu einer Erhöhung der weiblichen Repräsentationsrate oder der (wenn auch stark begrenzten bis verwässerten) Revision von Regierungspolitiken kam.10
8
Vgl. Foschini 2012; Hamid 2011: 24; Ruttig 2010b.
9
So die Kommissarin der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission, Soraya Sobhrang, in ihren Statements während Podiumsdiskussionen der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin am 08.09.2012 sowie in Halle am 10.09.2012 (Mitschriften der Autorin).
10 Neben anderen Faktoren wie Migration und die Option, verschiedene geschlechterpolitische Regime erlebt zu haben und vergleichen zu können, konstatieren Kabeer, Khan und Adeparvar in ihrer Studie zu Frauen der Hazara-Minderheit in Kabul die Signifikanz des neuen geschlechterpolitischen Diskurses in Politik und Gesellschaft. „This view that the emerging discourse of women’s rights
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F EMOKRAT / INNEN V ERHANDLUNGEN
IN S ICHT BEI ( INTER -) NATIONALEN ZUR Z UKUNFT DES L ANDES ?
Eine zentrale Strategie von Frauenrechtlerinnen und Frauenrechten verpflichteten Organisationen bestand und besteht in dem Versuch, auf nationale und internationale Regierungs- und Geberkonferenzen durch entsprechende zivilgesellschaftlicher Vorab-Konsultationen, Statements und Policy-Briefings Einfluss zu nehmen, Agenden zu setzen, Forderungen zu kommunizieren und insbesondere rote Linien für eventuelle Verhandlungskompromisse mit den Aufständischen aufzuzeigen. So mahnen sie öffentlich wiederholt an: „Afghan women are the first to benefit from stability and pay the heaviest price for the resurgence in violence. They are mobilized as never before to protect the gains they have made with the help of the international community since 2001 and to contribute to the peace process by promoting security and good governance grounded in respect for human rights and equality.“ (Afghan Women’s Leaders’ Statement 27.01.2010)
Die nicht zu überschreitenden roten Linien sind bspw. in den Verfassungsklauseln von 2004 kodifiziert, welche u.a. eine Legislativquotierung als auch die Gleichstellung von Frauen und Männern festschreiben. „Any negotiation, at the local or national level, with or without the Taliban, must include provisions to uphold the Afghan Constitution in its totality and adherence to all national and international regulations regarding women’s equal participation in politics, education, social development and other civic activities.“ (Afghan Women’s Network 2011a: 4)
constitutes a restraint on male power was held by a number of women. [...] They did not reject religious or cultural codes about rights and responsibilities but they felt a keen sense of injustice that violations of these codes went unnoticed, unpunished and even condoned. This ability to take a critical stance towards their own society, to ask whether it could be organised differently, is at least in part a product of some of the changes that they have lived through in recent years.“ (Kabeer et al. 2011: 21, 29)
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Ein wiederkehrender Kritikpunkt ist die fehlende oder bestenfalls marginale Präsenz und Teilhabe von Frauenvertreter/innen an offiziellen Verhandlungen und transitionsrelevanten Entscheidungsprozessen – und dies trotz der Unterzeichnung der Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrates durch die meisten teilnehmenden Staaten und der damit verbundenen Verpflichtung der Sicherstellung ebensolcher Teilhabemodi und Belange von Frauen in Konfliktmediations- und Friedenskonsolidierungskontexten. „The women of Afghanistan are the most under-utilized resource in Afghanistan – a resource that could be instrumental for successful peace and a stable country in the years to come. Afghan women have the right, the capacity and the desire to participate in crafting Afghanistan’s future, defining the terms of transition, and shaping the peace process.“ (Afghan Women’s Network 2011a)
Des Weiteren werden die fehlende Umsetzung der zahlreichen geschlechterpolitischen Benchmarks und Normsetzungen sowie die nicht-existente Sanktionierung misogyner Akteure, nicht selten in signifikanten staatlichen und gesellschaftlichen Entscheidungspositionen, und deren Vergehen angeprangert. Beobachterinnen sehen nicht nur bereits einen deutlichen Rückgang in frauenrechtlichen Bezugspunkten bei internationalen Verpflichtungserklärungen und Programmausrichtungen, sondern stellen auch die Echtheit des internationalen politischen Willens in Frage. Wie bereits zu Anfang der Intervention, in denen frauenrechtliche Rhetorik als reine Legitimierungsquelle und Fassade für andere zumeist sicherheitspolitische Interessen kritisiert wurde, werden diese Stimmen wieder deutlicher hörbar, auch wenn weiterhin eine langfristige internationale Unterstützung lokal bestimmter und gelenkter geschlechterpolitischer Transitionsprozesse von Frauen- und Menschenrechtsorganisationen als (fast überlebens-) wichtig angesehen wird. „[...] progress remains fragile and at times limited to rhetoric. There have been countless numbers of resolutions, laws, policies, action plans and strategies to empower the women of Afghanistan, but the track record for their implementation remains appalling.“ (Afghan Women’s Network 2011a: 1)
Citha D. Maaß (vormals Afghanistan-Expertin des Berliner Think Tanks Stiftung Wissenschaft und Politik) verwies bereits im Jahre 2008 darauf,
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dass sowohl in Wahl- als auch in politischen Verhandlungsprozessen auf nationaler und internationaler Ebene sicherzustellen sei, dass „Reformeliten in politische Entscheidungsprozesse“ einbezogen werden und die Gefahr einer „negativen Afghanisierung“ (Maaß 2008: 1) des politischen Systems zu vermeiden sei, damit politische und soziokulturelle Wandlungsprozesse eine Chance erhalten, sich zu entwickeln. Nachfolgend eine Analyse der Statements aus den Jahren 2010 und 2011 (Konferenzen in London, Kabul und Bonn), welche alle im Lichte der internationalen Diskussion zum Abzugsszenario 2014 und politischen Verhandlungen mit den Taliban – dem sogenannten Transitionsszenario – sowie zur mangelhaften Teilhabe und Konsultation von Afghan/innen stehen. Die internationale Konferenz in London zu Beginn des Jahres 2010 fand ohne offizielle Repräsentation von afghanischen Frauenvertreter/innen statt und wurde auch bezüglich der fehlenden frauenpolitischen Verhandlungsthemen kritisiert.11 Die entsprechende zivilgesellschaftliche Stellungnahme, Resultat von Konsultationen in Dubai und London, befasst sich insbesondere mit den Bereichen Sicherheit, Governance und geschlechtergerechter Entwicklungen. So ging es den beteiligten Frauenaktivistinnen darum, militärpolitische Fragen unter den Nexus von Sicherheit und Entwicklung zu stellen und die Notwendigkeit der Sicherstellung von Grundbedürfnissen – wie von den Vereinten Nationen in ihrem Konzept menschlicher Sicherheit ausgewiesen – als friedenssichernde Elemente hervorzuheben. Diese Forderungen nach Grundversorgung gehen einher mit dem Ruf nach (i) sozialem geschlechterpolitischen Wandel in öffentlichen und privaten Räumen, im privaten Alltag und in den diversen öffentlichen politischen Entscheidungsprozessen, und (ii) dem Verweis, dass Unsicherheit geschlechtsspezifische Dimensionen und Verzerrungen aufweist. Ein weiterer Referenzrahmen ist die Resolution 1325 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000, welche die Wahrung von Frauenrechten, insbesondere die Teilhabe an Mediations-, Versöhnungs- und Wiederaufbauprozessen, vorsieht. Entsprechend werden in dem Communiqué zur Londoner Konferenz u.a. folgende friedens-, sicherheits- und entwicklungspolitische Forderungen aufgestellt12:
11 Vgl. Afghan Women’s Leaders’ Statement 2010. 12 Vgl. Afghan Women’s Leaders’ Statement 2010.
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25-Prozent-Quote für Frauen bei afghanischen Friedensverhandlungen sowie bei entsprechenden (sub-)nationalen Entscheidungs- und Regulierungsgremien zu Sicherheit und Versöhnung wie dem präsidentiellen Nationalen Sicherheitsrat und der Peace Jirga; Rekrutierung von Frauen in zivile und militärische Sicherheitskräfte sowie internationale Friedensmissionen; Bewusstmachung, Gewährung und Wahrung frauenrechtlicher Errungenschaften bei der Ausbildung von Sicherheitskräften als auch bei Verhandlungen zur politischen Versöhnung mit Aufständischen; Bindung weiterer internationaler Geberzuwendungen an die gleichzeitige nationalstaatliche Umsetzung von Gleichstellungspolitiken im Sinne des Nationalen Aktionsplans für Frauen und der Afghanischen Nationalen Entwicklungsstrategie sowie deren Bindung an Gender Mainstreaming-Prinzipien; Ausweitung der reservierten Sitze auf subnationale politische Entscheidungsebenen sowie auf die Ministerialbürokratie; positive Diskriminierungsmaßnahmen zum Abbau geschlechtsspezifischer Teilhabe- und Kommunikationsbarrieren im politischen Wettbewerb und öffentlichen Diskurs.
In der einberufenen Friedensjirga in Kabul Anfang Juni 2010 stellten Frauen 21 Prozent der Delegierten – eine als Meilenstein eingestufte friedensund geschlechterpolitische Errungenschaften in Sachen Repräsentation – und forderten u.a. eine 30-Prozent-Quote in nationalen Programmen und Entscheidungsgremien, den Schutz frauenpolitischer Errungenschaften post-2001 und die Zurückweisung von politischen Entscheidungen und Policies, die sich nicht Prinzipien sozialer und, im speziellen, Geschlechtergerechtigkeit verpflichtet fühlen.13 Allerdings kritisierten Frauenaktivistinnen den intransparenten Auswahlprozess der Jirga-Mitglieder und die geringen Partizipationsmöglichkeiten (bspw. leitende Funktionen oder Redezeiten in den Komitees der Konsultativ-Versammlung). Einige Frauenaktivisten als auch Delegierte gingen in ihrer Kritik sogar weiter und argumentierten „that they had been deliberately excluded from the jirga because they were too outspoken about women’s rights prior to the assembly.“ (Human Rights Watch 2009: 40)
13 Vgl. Hamid 2011: 26.
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In der Deklaration des Ersten Frauenrates zur Kabuler Konferenz am 20. Juli 2010 nahmen teilnehmende Frauenrechtler/innen Bezug auf die Grundprinzipien guter und demokratischer Regierungsführung, verbunden mit Forderungen nach Inklusion und Partizipation gemäß der Verfassung, dem Nationalen Aktionsplan für Frauen sowie der Nationalen Entwicklungsstrategie (2008-2013), welche das Ziel formuliert, bis 2020 in Afghanistan eine „stabile islamische konstitutionelle Demokratie, in Frieden mit sich und seinen Nachbarn“ (Maaß 2008: 2) zu etablieren. Foki waren eine generelle 30-Prozent-Quote für jedwede Entscheidungsgremien und – ebenen, um Frauen als unverzichtbare Transitions- und Friedensagentinnen – bedingt durch ihre besonderen Erfahrungen als Konfliktüberlebende – zu positionieren und ihre Partizipation als auch die Formulierung eines Nationalen Aktionsplanes zur UN-Resolution 1325 und Folgeresolutionen erneut einzufordern.14 Bezug wurde dabei auch auf die Empfehlungen der FriedensjirgaKomitees zur nationalen Versöhnung genommen, wonach Frauenrechte keineswegs zur Verhandlungsmasse einer potentiellen Friedenskonsolidierung werden noch Frauen in ihrem Status als konstitutive Elemente einer solchen Regelung beschnitten werden sollten.15 Darüber hinausgehend fordern die Teilnehmenden einen soziokulturellen Wandel als Teil der nationalen Entwicklungsstrategie und deren Umsetzung sowie eine geschlechterpolitische Prioritisierung von Interventionsprogrammen: „Social and cultural constraints should not be used as an excuse, rather they should be dealt with determination and innovative strategies where more women from remote and war affected areas can benefit from development interventions.“ (Afghan Women’s Network 2010)
Analog zu universalen und transnationalen frauenpolitischen Forderungen (und deren Duktus) zählen diesbezüglich familienfreundliche Beschäftigungspolitiken, flexible Arbeitszeiten und verbesserte Arbeits- und Bil-
14 Ein solcher Aktionsplan fehlt bis dato, wobei bisher lediglich 36 Staaten weltweit einen solchen verabschiedet haben. Vgl. http://peacewomen.org/naps/ list-of-naps (23.04.2012). 15 Vgl. Afghan Women’s Network 2010.
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dungskontexte durch Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung als wichtige Komponenten. Dabei geht es in der Deklaration nicht nur um die Wahrung und Ausweitung gewonnener Teilhaberechte und kodifizierter geschlechterpolitischer Verpflichtungen, sondern auch um deren nachhaltigen Institutionalisierung durch das nationale Ministerium für Frauenangelegenheiten, welches als zentraler institutioneller Akteur für Implementierungs- und Kontrollprozesse der diversen Ministerien und deren mit der Umsetzung betrauten Bürokratien und Regierungsbeamten gestärkt werden sollte. Bis dato konnte das Ministerium, unter anderem aufgrund seines Mandats und prekären Status innerhalb des politischen Systems, nur wenig entsprechende Wirkungskraft entfalten und zentrale politische Akteure zur Zusammenarbeit bringen bzw. über rhetorische Lippenbekenntnisse hinausgehend deren Engagement einfordern.16 Fraglich ist zudem, inwieweit eine institutionelle Stärkung des Ministeriums territoriale und funktionale Wirkkraft in die Breite und Tiefe der Gesellschaft entfalten kann, insbesondere angesichts der anhaltenden fundamentalen transversalen Begrenztheit staatlicher Institutionen in Afghanistan. Darüber hinausgehend postulieren Frauenaktivistinnen eine Stärkung des nationalen Parlamentes, um sowohl Regierungsprogramme als auch jedwede gesetzgeberische Maßnahme einer Genderanalyse zu unterziehen. Als verantwortlich gesehen werden neben den zentralen politischen Institutionen Exekutive, Legislative, das Ministerium für Frauenangelegenheiten auch Femokratinnen aus der weiteren Zivilgesellschaft. Damit ist es nicht weit zu dem nachfolgenden Postulaten von Gender Budgeting für staatlich verwaltete und internationale EZ-Budgets sowie der Beteiligung der Zivilgesellschaft, insbesondere von Frauenorganisationen, bei der Haushaltsgestaltung und -verausgabung. Neben Fragen von Sicherheit und Governance wurden drei weitere Themencluster identifiziert17, zu denen umfassende Forderungen für die Kabuler Konferenz formuliert wurden, bspw. bezüglich: •
Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, die Erstellung genderdisaggregierter Datensätze, der Zugang zu Informationstechnologien,
16 Vgl. Fleschenberg 2011. 17 Vgl. Afghan Women Network 2010.
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Teilhabe an ländlichen, gender-sensitiven Strategieplanungs- und Programmprozessen in diversen landwirtschaftlichen Sektoren; der Entwicklung von Humankapital mittels spezifischer Bildungsmaßnahmen (berufliche Bildung, Stipendienprogramme), Arbeitsvermittlungsaktivitäten sowie der Sicherstellung eines frauenfreundlichen Umfeldes durch Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung bis hin zu geschlechter-getrennter Bildungsinfrastruktur; wirtschaftlicher und infrastruktureller Entwicklung die Verhinderung von Kinderarbeit, gender-sensitiver und -inklusiver Maßnahmen und Regulierungen in den Bereichen Berufsbildung, Wirtschaftsplanung und Projektevaluation.
Petersberg II sorgte, wie vorher London, für diverse Kontroversen, u.a. aufgrund der fehlenden zivilgesellschaftlichen Repräsentation und Partizipation während der eigentlichen Konferenz in Bonn im Dezember 2011. Zivilgesellschaftliche Vertreter trafen sich in einer vorgeschalteten Konferenz. Vorab fand unter der Ägide des Afghan Women’s Network Ende November ein Konsultationsforum mit 500 Frauenaktivistinnen aus zwanzig der vierunddreißig Provinzen Afghanistans statt, welches am 5. Dezember 2011 die Afghan Women’s Declaration und Anfang Oktober 2011 das Positionspapier Afghan Women: Towards Bonn and Beyond einbrachte.18 In der Präambel der Bonner Erklärung unterstreichen die Vertreterinnen ein notwendiges langfristiges internationales Engagement sowie die bisherigen geschlechterpolitischen Errungenschaften in den Bereichen Bildung, Teilhabe an politischen, bürokratischen und wirtschaftlichen Entwicklungen durch einzelne Frauen und von Frauenorganisationen, durch Parlamentarierinnen und Staatsbedienstete, die es nachhaltig abzusichern gilt. Ziel ist ein Bruch mit vorangegangenen Geschlechterregimen – „a different Afghanistan from the past, in which our daughters and their daughters will be able to actively engage in peace building and nation building in an equitable environment.“ (Afghan Women’s Network 2011b, Nr. 3-4)
Die Forderungen der Erklärung gruppieren sich um die Begriffspaare Frauen und gute Regierungsführung, Transition (hier: nach Abzug internationa-
18 Vgl. Afghan Women’s Network 2011a und b.
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ler Truppen in 2014), Frieden und Reintegration sowie internationaler Verpflichtungen in Afghanistan und sind, wie bereits in 2010, angelehnt an zentrale Maxime und Referenzrahmen internationaler Vereinbarungen und nationaler Verpflichtungen. Dabei sehen sich die Vertreterinnen von Frauen- und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen als „the main agents of change and inclusive democracy in Afghanistan“ (Afghan Women’s Network 2011b, Nr. 2, 17) – ein Engagement, welches langfristiger Schutzmechanismen der Vereinten Nationen und der internationalen Staatengemeinschaft bedürfe. In der Deklaration werden u.a. die Präsenz von misogynen (ehemaligen) Konfliktakteuren bei Aufbau- und Versöhnungsprozessen, Korruption und die Veruntreuung von Geldern durch staatliche Institutionen als signifikante Hindernisse für weibliche Repräsentation und Teilhabe im mehrgliedrigen Governance- und Justiz-System Afghanistans gesehen. Es sei Aufgabe der Regierung diese Vergehen zu beenden und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Sicherheit von Frauen und deren Teilhabe auf allen Ebenen zu zentralen Performanzindikatoren des Transitionsprozesses werden. Entsprechend sind weitere Anliegen nicht nur der Einbezug von Frauen in afghanisch geführten Friedens- und Versöhnungsverhandlungen durch eine 25-Prozent-Quote für (sub-)nationale Friedensräte (wie bereits in 2010 postuliert), sondern auch transparent zu führende, community-orientierte und kontrollierte Reintegrationsprozesse, in deren Zentrum nicht individuelle aufständische Kombattanten (d.h. in der Regel Männer) stehen, sondern auch die Interessen und Bedürfnisse ihrer Familienmitglieder und der Gemeinschaft, in die sie re-integriert werden.19 Im dazugehörigen Positionspapier werden die Fragen von Sicherheit und Teilhabe dahingehend zugespitzt, dass sich Aktivistinnen mit ihren Organisationen in ihrem Selbstverständnis im Vergleich zu (inter-)nationalen Sicherheitskräften als kompetenter einstufen, lokale Gemeinschaften, deren soziokulturellen Besonderheiten und sicherheitsrelevanten Bedürfnisse sowie Ursächlichkeiten zu verstehen, woraus explizite, umfangreiche Inklusions- und Konsultationsmaximen abgeleitet werden (Afghan Women’s Network 2011a: 2).20 Gleiches gilt auch hier für die Forderung nach einer
19 Vgl. Afghan Women’s Network 2011b, Nr. 7-14. 20 Dieser Meinung, auch vertreten durch eine Gruppe von Parlamentarierinnen, widersprach u.a. der stellvertretende Vorsitzende des nationalen Hohen Frie-
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30-Prozent-Quotierung für den Hohen Friedensrat des Afghan Peace and Reconciliation Program (APRP) zur Reintegration aufständischer Kombattanten und der Friedensräte auf Provinzebene, welche eine derzeitige de facto Teilhabe von zehn bis fünfzehn Prozent aufweisen (ebd.: 4).21 Darüber hinausgehend fordern sie •
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ein durchgehendes Gender Mainstreaming von Monitoring- und Evaluationsmechanismen, d.h., in sicherheitspolitischen Analysen werden u.a. Restriktionen, Bedrohungen und Übergriffe von/gegen Frauenorganisationen Teil des Indikatorensets; einen Rekrutierungsmechanismus für nationale Sicherheitskräfte, der eine gender-sensible Sicherheitsüberprüfung vorsieht und somit diejenigen Rekruten ausschließt, denen Frauenaktivisten und andere Community-Vertreter misogyne Vergehen oder Verhaltensweisen nachweisen; eine gender-spezifische Budgetquotierung des APRP in der Höhe von 25-30 Prozent für Wiederaufbau- und soziale Infrastrukturprogramme
densrates Luddin: „They (women) want to go as a group of women to meet with Mullah Omar. But that’s just not possible. If they go, they will be killed [...] And anyway, we all know that women can’t keep a secret for more than 34 hours.“ (zit. in: Hancock/Nemat 2011: 10). 21 Dem nationalen Hohen Friedensrat gehören derzeit acht Frauen (von 70 Mitgliedern insgesamt) an, deren Handlungsfähigkeit kaum mehr als symbolisch eingestuft wird, da sie – nach Meinung von Aktivistinnen wie Soraya Sobhrang – kaum in die entscheidenden Geheimverhandlungen einbezogen werden oder, so ein Mitglied des Beratergremiums, „[...] weil es schwierig ist, mit Konservativen umzugehen, wenn es um Frauenrechte geht.“ (ActionAid 2011: 6-7; Hancock/Nemat 2011: 21) Hamid (2011: 27) verweist zudem auf das Frauenkomitee innerhalb des Hohen Friedensrates, welches in seinem ersten Jahr Treffen mit 200 Frauen, u.a. auch von provinziellen Friedensräten abgehalten haben. Bei letzteren sollen Frauen mindestens drei der insgesamt 20-35 Sitze übernehmen, einen davon durch eine ministerielle Vertreterin für Frauenangelegenheiten. (Hancock/Nemat 2011: 21) Vgl. zu Gremienmitgliedern und deren Hintergründen http://www.afghan-bios.info/index.php?option=com_afghanbios&id=686& task=view&total=2411&start=842&Itemid=2 (14.04.2012).
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und entsprechende Dienstleistungen, die direkt Frauen in den betroffenen Gemeinden zugutekommen (ebd.: 2-4).
F RAUENRECHTLERINNEN – EIN H AUCH VON R EFORM , R EVOLUTION ODER K AMPF GEGEN W INDMÜHLEN ? „[...] what had made the difference is the stubborn determination and nothing-left-tolose mentality of Afghan women’s rights activists.“ (Kouvo 2012).
Die ehemalige Vizeministerin des afghanischen Frauenministeriums (20022006) und Kommissarin für Frauen- und Kinderrechte der Afghanischen Unabhängigen Menschenrechtskommission, Soraya Sobhrang, zeichnet ein von Widersprüchen und gegenläufigen Trends gekennzeichnetes Bild frauenrechtlicher Errungenschaften und soziopolitischen Wandels der letzten Dekade: „Since the Taliban were toppled, the situation changed completely. We have achieved much, no one can close their eyes to this: our constitution, the growth of civil society, the support of the international community, the development of the private sector, the re-opening of schools and universities, even positive discrimination, the role of women in the electoral process, in parliament and even the cabinet. We as civil society have access to the President, we were able to influence draft laws, [...] We have successfully lobbied for a ban on violence against women by law. There are even shelters for women. Article 22 of the constitution stipulates that men and women are equal before the law. But we are not satisfied that things have become better compared to before; things are still not where they should be.“ (Ruttig 2011b; vgl. Hancock/Nemat 2011: 1)
Gründe dafür liegen bspw. darin, dass zehn Jahre nach dem Fall der Taliban Frauenrechte in Afghanistan umstritten bleiben, von vielen als fremdartig, exogen wahrgenommen bzw. der dominierende top-down Interventionsansatz kritisiert wird.22 Zudem verfügen staatliche Institutionen nicht über ausreichende Interventionskapazitäten, um Gesetzesvorlagen gesellschaftsund landesweit um- und durchzusetzen – dies gilt umso mehr für gender-
22 Hancock/Nemat 2011: 7; Kabeer et al. 2011: 7.
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spezifische Vorlagen wie das Gesetz zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (EVAW), welchem eine umfangreiche Kampagne von Frauenrechtlerinnen zugrunde lag.23 In den Worten der frauenrechtlich engagierte Parlamentarierin Shukria Barakzei: „Surely, at this point this law [EVAW] cannot be put into practice, even in Kabul. However, by no means should we say ‘we don’t need this law because it cannot be implemented’. We have to pass the law and then try to create conditions to realize it. [...] The Afghan people, too, step by step, have to learn and accept a new approach to women’s position in society.“ (zit. in: Najibullah 2009).
Hinzukommt ein Kontext zunehmender Unsicherheit durch die anhaltenden Kampfhandlungen sowie strategische Akte verbaler und physischer Bedrohung als auch konkreter Gewalt an kritischen, engagierten öffentlichen Persönlichkeiten und exponierten Funktionsträger/innen – seien es Kandida-
23 Die zuständige Parlamentskommission, unter dem Vorsitz der Abgeordneten Fauzia Kofi, reichte im Herbst 2011 einen überarbeiteten Gesetzentwurf ein, der u.a. vorsieht, dass Bestrafungen unter EVAW von keiner politischen Autorität ausgesetzt oder abgemildert werden können – ein sonst verfassungsgemäßes präsidentielles Vorrecht. Diese Revision des per Präsidialdekret erlassenen Gesetzes aus dem Jahre 2009 muss von beiden Parlamentskammern verabschiedet werden. Das Gesetz selbst sanktioniert umfangreich frauenspezifische Gewaltformen – u.a. erstmals eine Kriminalisierung von Vergewaltigung – und diverser frauenfeindlicher kultureller Praktiken und gewährt Opfern – zumindest im Gesetzestext – umfangreiche Schutzrechte und Zugang zu rehabilitierenden Dienstleistungen. Hamid kommentiert einschränkend im Hinblick auf diverse geschlechterpolitische Dokumente, Politikstrategien und erlassene Gesetze: „These documents and policies reflect the dual nature of the state of women’s rights in Afghanistan. Women have their rights protected by official foundational documents, but are denied the same rights through the lack of mechanisms to enforce or implement their realization. Furthermore, most Afghan women and men are unaware of the rights that protect them in policies and laws.“ (Hamid 2011: 35f)
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tinnen für Parlamentswahlen, zivilgesellschaftliche Aktivistinnen, Beamtinnen, Journalistinnen oder Polizistinnen (siehe Fleschenberg 2011).24 „Women who are vocal in defense of their rights are regularly abused as ‚infidels‘ or ‚Christians‘, accusations often combined with sexual assaults. [...] They serve both as threats and as means to shut down substantive debate about the role of women.“ (Human Rights Watch 2009: 16)
Dabei berufen sich diese Aktivistinnen, wie zuvor gezeigt, fast ausschließlich auf nationale und internationale Vereinbarungen der afghanischen Regierung mit der internationalen Gebergemeinschaft, den Vereinten Nationen oder unterzeichneten internationalen Verträgen als Referenzrahmen für ihre frauenrechtlichen und gleichstellungspolitischen Forderungen. So sehen die afghanischen Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) eine 30-Prozent-Qquote für alle Governance-Gremien und -ebenen bis 2020 vor, für den öffentlichen Dienst bis 2013 sowie die Einrichtung von ministerialen Gender Units als Teil einer staatlichen women’s machinery.25 Nur Letzteres konnte weitgehend erreicht werden, alle anderen Eckwerte bedürfen noch einer deutlichen Verbesserung. So gab es bspw. erst in 2008 die bisher einzige Bürgermeisterin, Asra Jafari, in der Provinz Daikundi oder in 2005 die erste Gouverneurin, Habiba Surabi, in der Provinz Bamiyan. Seit 2003 wurden ungefähr 30.000 Frauen in den geschlechtergemischten Community Development Councils und 60.000 in den geschlechtergetrennten Councils zumeist auf Dorfebene einbezogen, auch wenn ihre Handlungsfähigkeit und die Qualität ihrer Partizipation – z. B. im Bereich Ressourcenkontrolle – als gering eingestuft wird. Bekannte Parlamentarierinnen wie Shukriya Barakzei oder Fauzia Kofi haben sich bereits als Präsidentschaftskandidatinnen für 2014 angemeldet.26 Als große Unsicherheit und Bedrohung werden in den Diskursen von Frauenaktivistinnen und diversen Politikerinnen sowie weiteren Teilen der
24 In ihrem Bericht Silence is Violence stellt die Afghanistan-Mission der Vereinten Nationen (2009: 10) heraus, dass die zielgerichtete Gewalt gegen öffentlich sichtbare und engagierte Frauen eine Signalwirkung für viele andere Frauen innewohnt und der Aktionsradius sich zunehmend verengt. 25 http://www.undp.org.af/MDGs/goal3.htm (14.04.2012). 26 Vgl. Hancock/Nemat 2011: 12f., 28; Hamid 2011.
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Zivilgesellschaft und politischen Vertretern demokratischer Gruppierungen (bspw. die parlamentarische Gruppierung Third Line) die Verhandlungen mit Aufständischen perzipiert, die bisher fast ausschließlich in Form von Geheimverhandlungen stattgefunden haben. Befürchtet wird, dass im Rahmen eines politischen Kompromisses oder Machtarrangements geschlechterpolitische Errungenschaften zur Verhandlungsmasse werden und die Verfassung zur Disposition stehen könnte statt rote Linien darstellen, die es nicht zu überschreiten gilt, ohne Sanktionierung oder internationalen Widerstand zu erfahren. Entsprechend pessimistisch ist bspw. die Mitbegründerin der Afghan Women’s Union Suraya Parlika: „I am not optimistic at all. We do not know the agenda of the talks and this worries all women in Afghanistan. Women are at risk of loosing everything they have gained.“ (zit. in: Ferris-Rotman 2011). Die politische Beobachterin Martine van Biljert (Afghan Analyst Network) sieht diese Angst u.a. in der fehlenden Positionierung (inter-)nationaler Akteure begründet: „At the moment there is no one standing up as a guarantor of the process; no one who says it’s really important this is done well. There are a lot of mixed messages.“ (zit. in: Ferris-Rotman 2011; vgl. Hancock/Nemat 2011: 2, 6, 23). Smits und Schoofs (2010) gehen in ihrer Bewertung internationaler strategischer Abzugsprioritäten sogar noch weiter: „‚Gender‘ is generally seen as a luxury to be left aside until the supposedly gender-neutral objectives in the domains of security and governance have been achieved.“ (zit. in: Hancock/Nemat 2011: 20).27 In einem Zeitungskolumne der International Herald Tribune warnt die ehemalige chilenische Präsidentin und derzeitige Direktorin von UN Women, Michelle Bachelet, angesichts der prekären und sich verschlechternden Situation afghanischer Frauen im derzeitigen Transitionsprozess:
27 Die Autorinnen zitieren zudem das Statement eines in Kabul stationierten Diplomaten: „We do recognise the need for protection of women’s rights. But we can’t impose this as a pre-negotiation red line because that will be counterproductive in getting to talks. Women’s issues are important but they are not our top priority.“ (Hancock/Nemat 2011: 21) Diese Position hält ein APRPRepräsentant für kontraproduktiv, denn sonst fehle ein wichtiges Signal an die Aufständischen, sich auch in Zukunft mit Frauen und deren Belangen auseinandersetzen zu setzen haben. (Ebd.: 22)
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„The once remarkable gains in protecting and promoting equality between women and men in Afghanistan are now facing their most serious challenges. [...] We must stop relegating women’s issues to a side agenda at international forums on Afghanistan. [...] If Afghan women continue to be ignored within the major political decision-making processes affecting their country, the vision of a more secure, prosperous and stable Afghanistan cannot be realized.“ (Bachelet 2012)
Vor diesem Hintergrund bewerten Femokratinnen in Parlament und Zivilgesellschaft den internationalen Abzug als Bedrohung ihres Engagements, der Nachhaltigkeit und Absicherung erzielter Errungenschaften und nicht zuletzt ihrer eigenen Person. Stellvertretend drei Stimmen öffentlich bzw. politisch engagierter Frauen, die das weit verbreitete Meinungsbild in der Zivilgesellschaft widerspiegeln: „Even the democrats speak more carefully now. They do not know whether they, if they expose themselves, get home alive. There is the impression that the enemies of democracy are already waiting and that one needs to self-censor oneself. [...] We have our past experience and are afraid that this can be repeated.“ (Sobhrang zit. in: Ruttig 2011b; vgl. Hamid 2011: 22-23) „It is difficult to imagine what the future will be like for women’s rights groups and activists now that the Taliban know the key women. These women will be the key targets for them. These women will have no choice but to leave.“ (Frauenrechtsaktivistin, anonym, zit. in: ActionAid 2011: 9) „I’ve had so many threats. I report them sometimes, but the authorities tell me not to make enemies, to keep quiet. But how can I stop talking about women’s rights and human rights?“ (Parlamentarierin, anonym, zit. in: Human Rights Watch 2009: 22; vgl. Kouvo 2012 und 2011d, ActionAid 2011, Ferris-Rotman 2011, UNAMA/ OHCHR 2009: 2, 10ff)
In einer der internationalen Nichtregierungsorganisation ActionAid in Auftrag gegebenen Umfrage unter eintausend Afghaninnen aus den Provinzen Kabul, Balkh, Kandahar, Herat und Bamiyan gaben 38 Prozent der Befrag-
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ten (41 Prozent der unter Dreißigjährigen) an, dass der internationale Abzug zu einer Verschlechterung der Lage und Sicherheit führen würde.28 Als Anzeichen für die zukünftige Qualität und den potentiellen Radius diskursiver Räume zur Thematisierung und letztendlich auch Wahrung frauenpolitischer Errungenschaften nach Abzug der internationalen Staatengemeinschaft gelten dabei u.a. die Kontroversen um Frauenhäuser als auch das schiitische Familiengesetz. In der Kontroverse um die von Nichtregierungsorganisationen (NROs) betriebenen Frauenhäuser versuchte die afghanische Regierung Anfang 2011 nach einer vorangegangenen negativen Medienberichterstattung diese staatlicher Kontrolle und Leitung zu unterstellen. Gleichzeitig warfen Regierungsvertreter den Frauenhaus-Verantwortlichen Korruption und Immoralität vor und hatten bereits zuvor angekündigt, staatliche Frauenhäuser bereitzustellen – ein sehr sensibles und heikles Thema in der afghanischen Öffentlichkeit, welches einhergeht mit umfangreichen Schutzverantwortlichkeiten der Zuständigen gegenüber den Schutzsuchenden. Beobachter werteten das Vorgehen der Regierung, insbesondere der Ministerin für Frauenangelegenheiten, als ein gezieltes Manöver, um bei konservativen Elementen in Politik und Gesellschaft zu punkten, Zugriff auf Finanzressourcen sowie im Hinblick auf die Ministerin persönlich und ihren Vorwürfen der Prostitutionsförderung weitere erforderliche Stimmen bei der notwendigen parlamentarischen Bestätigung ihrer Nominierung durch Präsident Karzai zu erhalten. Dabei wurde die Ministerin auch aus Regierungskreisen, bspw. seitens Vizejustizminister Haschimsai und des Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrats Dadfar Spanta kritisiert.29 Vertreterinnen des Afghan Women Network (AWN)30 brachten in ihrer Replik To the Gatekeepers of Women’s Honor: An Open Letter from the Women of Afghanistan ein hohes Maß an Verärgerung und Frustration zum Ausdruck angesichts (i) der fehlenden Konsultation relevanter zivilgesellschaftlicher Vertreter und Experten, (ii) der fehlenden Beibringung von Beweisen für die massiven Vorwürfe im Rahmen der eingesetzten Untersuchungskommission sowie (iii) der fehlenden effektiven Schutzgewährung
28 ActionAid 2011: 14. 29 Vgl. Ruttig 2011a. 30 Dachorganisation von 75 Frauen- und Menschenrechtsorganisationen und über 5000 Aktivisten (vgl. Kouvo 2011a).
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für Opfer als auch anderer mangelhafter Governance-Leistungen staatlicher Institutionen trotz (inter-)nationaler Aktionspläne und Vereinbarungen.31 „These walls, this table, this stove, this teapot – how often they have witnessed our gatherings, our frustrations, our stresses. How often they have welcomed this group of frustrated women friends, activists, and allies. [...] We, the women activists, are now accused by the government of having dis-honoured the national pride of the country by publicly exposing the egregious and often humiliating violations of rights that women are exposed to. This, they said, shamed us in the eyes of the world. This? The revelation of human rights abuse? Not the widespread corruption, the failure of governance?“ (Afghan Women’s Network in: Kouvo 2011a)
Letztendlich brachte dieser Sturm der instrumentalisierten öffentlichen Entrüstung, so Ruttig (2011a), einen Etappensieg für die Zivilgesellschaft: eine gemeinsame Kommission soll Qualitätsstandards in bestehenden und neuen Frauenhäusern überprüfen und es kommt weder zu einer staatlichen Kontrolle gemäß des intendierten Gesetzentwurfs noch zu einer Rückführung der dort untergebrachten Frauen, die dadurch massiv gefährdet worden wären. Das schiitische Familiengesetz wurde nach Bekanntwerden des von der Regierung im Parlament vorgelegten Gesetzesentwurfs aufgrund von nationalen und internationalen Protesten einer Revision in der zuständigen Parlamentskommission unterzogen. Kritik kam dabei nicht nur von internationaler Seite, bspw. der US-Regierung, sondern auch intern von Frauenrechtlerinnen, Wissenschaftlern und Politikern, welche zu einer Petition sowie öffentlichen Frauenprotesten gegen die Gesetzesvorlage führten. Der originäre Entwurf hätte, so die Einschätzung u.a. seitens der UN-Mission in Afghanistan, internationale Vertragsverpflichtungen Afghanistans verletzt. Einflussreiche und lautstarke Befürworter protestierten hingegen ebenfalls öffentlich für die Kodifizierung und griffen in einem Vorfall weibliche Gegendemonstranten verbal und physisch an. Andere, potentielle Gegendemonstrantinnen wurden bereits auf dem Weg eingeschüchtert oder angegriffen, so dass sie nicht an dem Protest gegen das Gesetz teilnehmen konnten.32
31 Vgl. AWN-Statement zit. in: Kouvo 2011a. 32 Vgl. Faiez/Vogt 2009; Boone 2009.
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Eine der Organisatorinnen der schließlich circa zweihundert Frauen starken Demonstration, Diana Saqeb, unterstrich das gefährliche Aufbegehren gegen konservative Vorhaben für alle Beteiligten – „einfache“ schiitische Frauen, in der Öffentlichkeit stehende, organisierte Frauenrechtlerinnen oder bekannte, etablierte Parlamentarierinnen wie Shinkai Karokhel: „Only two of the women MPs in parliament supported us from the beginning. They said it is too dangerous, because of the security situation. The Taliban supports this law and when the Taliban supports the law maybe it will attack the women who oppose it.“ (zit. in: Boone 2009)
Das überarbeitete Gesetz trat mit seiner Veröffentlichung Ende Juli 2009 in Kraft und enthält weiterhin kontroverse, restriktive Klauseln, die als Verletzung von in der Verfassung und in internationalen Konventionen kodifizierten Frauenrechten angesehen werden, bspw. in den Bereichen Sorgerecht, partnerschaftliche Fürsorgeleistungen und Entscheidungskompetenzen von Frauen.33
P OST -2014 – „ STAYING „ GOOD ENOUGH“ ?
ENGAGED “ ODER
Im Hinblick auf eine erfolgreiche geschlechterpolitische Transition, wie sie von einer Reihe zivilgesellschaftlicher Vertreter und Politiker unter Bezugnahme auf nationale und internationale Verpflichtungen u.a. zu Frauenrechten und gleichstellungspolitischen Maßnahmen eingefordert werden, bleibt festzuhalten, dass diese nicht als im Widerspruch zur vorherrschenden Religion des Landes gesehen werden. Vielmehr werden kulturelle Praktiken, der fehlende politische Wille internationaler und nationaler Akteure als auch die mangelnde Kenntnisse von Rechten in weiten Teilen der Bevölkerung als einige der zukünftigen Erfolgsherausforderungen gesehen. Dabei sehen Frauen- und Menschenrechtsaktivisten eine gewisse Bringschuld und Verpflichtung der internationalen Interventionsakteure und Ge-
33 http://www.stopvaw.org/restrictive_law_goes_into_effect_in_afghanistan.html (23.04.2012).
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meinschaft allgemein, weit über das derzeitige post-2014 Transitionsszenario hinausgehend. „The international community used women as an entry point into the country – they said they were here to protect women’s rights.“ (Asila Wardek, Direktorin im afghanischen Aussenministerium zit. in: ActionAid 2011: 3) „International aid beyond 2014 must have a clear gender allocation, specifying that a percentage of the aid that will go to women-focused projects and initiatives, either through the Afghan government or the local non-government organizations.“ (Afghan Women Network 2011a: 5)
Die Tendenzen der letzten Jahre – wie (i) die Akzeptanz von Wahlen, die weder frei noch fair waren und deren Ergebnisse zu langwierigen institutionellen Konflikten und einer negativen Wahrnehmung neuer politischer Institutionen geführt hat, oder (ii) der fehlende Wille, Teilhaberechte und Benchmarks in nationalen und internationalen Verhandlungsprozessen entsprechend der eingegangen Verpflichtungen einzuhalten und anzumahnen – sprechen eher für einen Trend hin zu „good enough“ im Sinne aktualisierter sicherheitspolitischer internationaler Prioritäten bis hin zur Interventionsmüdigkeit im betroffenen Kontext, denn für ein langfristiges Engagement zur Etablierung der 2020-Vision für Afghanistan und der Entsprechung der Forderungen von Demokratisierungsagenten, welche unter der bisherigen Intervention aufgebaut wurden. Dabei ist das Verbleiben (“staying engaged”) eine Grundvoraussetzung für den Erfolg der angestoßenen, wenn auch prekären und niederschwelligen Wandlungsprozesse und der sie vorantreibenden change agents. Eine Aufkündigung oder eine massive Reduzierung der materiellen und politischen Unterstützung wird dabei, aller Wahrscheinlichkeit nach, zu einer Gefährdung dieser Transitionsagenten führen, die bereits jetzt massiven Drohungen und politischer Gewalt ausgesetzt sind. Dabei geht es weniger um den Einfluss religiöser Vorgaben, denn um die politische Instrumentalisierung der Religion für machtpolitische Agenden und Interessen. Auch eine Demokratisierung per Intervention scheint wenig auf nahrhaften Boden gefallen zu sein – vielmehr haben Interventionsakteure durch ihre Präsenz diskursive und bis zu einem gewissen minimalen Grad institutionelle Räume geschaffen, in denen mögliche lokal tragende Demokratiemodelle diskutiert und eingefordert werden können,
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wobei gleichzeitig konterkarierend Konfliktparteien an Schaltstellen des politischen Systems kooptiert wurden. Angesichts der Geschichte des Landes und der bisherigen Rolle internationaler Interventionsakteure unterschiedlichster Provenienz scheint eine nachhaltige Unterstützung und Absicherung dieser Transitionsprozesse eine angemessene, fast geringe, wenn auch historisch und politisch signifikante Forderung der im Vorangegangenen analysierten Demokratisierungsagenten zu sein. Eine Absage an „staying engaged“ oder ein Festhalten an einem angesichts der aktuellen Qualitäten des politischen Systems und politischer Prozesse ad absurdum geführten „good enough“ würde sich nicht nur in Afghanistan sondern auch in zukünftigen Interventionskontexten, bspw. in der arabischen Welt, als negativer Präzedenzfall für die Gefahren und die Nachhaltigkeit demokratisierungsspezifisches Engagement auswirken.
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Islam und Gender in Indien Perspektiven der Geschlechtergerechtigkeit in der Minderheitensituation N ADJA -C HRISTINA S CHNEIDER In India, the relationship between religion and politics is highly contingent, and as such it defies any generalization.“ 1
E INLEITUNG In der Region Südasien leben heute weit mehr Muslime als in den arabischen und nordafrikanischen Staaten zusammen, die dennoch nach wie vor häufig als „Kernregion“ der „islamischen Welt“ betrachtet werden.2 Allein Indien gehört mit mehr als 145 Millionen Muslimen zu den Ländern mit den meisten Anhängern verschiedenster islamisch begründeter Glaubensformen weltweit, und mit einem Gesamtanteil von über 14 Prozent an der indischen Gesellschaft handelt es sich dabei zugleich um eine der größten religiösen Minderheiten weltweit. Allein vor dem Hintergrund der Minderheitensituation würde sich bereits ein systematischer Vergleich des „indi-
1
Vgl. Hasan 2009: 3.
2
Nahezu identisch ließe sich dieser Satz selbstverständlich auch für die Region Südostasien formulieren bzw. generell für Asien, wo heute weltweit die meisten Muslime leben.
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schen Islams“ beziehungsweise der Situation von Muslimen in der größten Demokratie der Welt mit dem Islam in Europa lohnen. Dies umso mehr, als Indien formal ein säkularer Nationalstaat ist, auch wenn sich das Modell des indischen Säkularismus eher auf der Nichtprivilegierung einer Religion gegenüber anderen bzw. auf dem „Managen der religiösen Pluralität“ begründet als auf einer „Privatisierung der Religion“ oder Verdrängung des Religiösen aus dem öffentlichen Bereich, wie sie dem SäkularismusVerständnis in Westeuropa vielfach zugrunde liegt.3 Dessen ungeachtet hat sich etwa im deutschsprachigen Raum bislang noch kein deutlich gestiegenes Aufmerksamkeit für das Thema Islam in Indien herausgebildet, was insbesondere für Fragestellungen gilt, die sich nicht ohne weiteres in einen Zusammenhang mit den gegenwärtig vorherrschenden Diskursen hinsichtlich eines vermeintlich „islaminhärenten Gewalt- oder Radikalisierungspotenzials“ oder einer angeblich „erschwerten Integrationsfähigkeit von Muslimen“ in säkulare Nationalstaaten bringen lassen. Die deutliche Benachteiligung der indischen Muslime in nahezu allen Bereichen der indischen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft wurde in den vergangenen Jahrzehnten oftmals der Minderheitengemeinschaft selbst angelastet beziehungsweise vor allem durch die seit den 1980er Jahren erstarkenden Hindunationalisten rundheraus negiert. Wiederholt spielte im Wahlkampf der hindunationalistischen Indischen Volkspartei (Bharatiya Janata Party, BJP) der Vorwurf, dass die Muslime durch die KongressPartei Jahrzehnte lang „bevorzugt behandelt“ worden seien, eine wesentliche Rolle. Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund markierte die Veröffentlichung des sogenannten „Sachar Committee Report“ von 20064 ei-
3
Zur aktuellen Säkularismus-Debatte und zur Besonderheit des indischen Säkularismus vgl. Bhargava 1998, 2006. Für Zoya Hasan besteht die zentrale Ironie des indischen Säkularismus darin, dass die Erhaltung der religiösen Diversität und der Rechte von Minderheiten tatsächlich den Boden für einen neuen Konservatismus bereitet hat. Die muslimischen Frauen hätten dafür ihrer Ansicht nach insbesondere im Kontext einer zunehmenden Kommunalisierung der indischen Politik in den vergangenen 30 Jahren den Preis bezahlt. Hasan 2009: 25f.
4
Das Rajinder Sachar Committee wurde 2005 durch den indischen Premierminister Manmohan Singh ernannt, um einen Bericht über die aktuelle sozioökomische Lage und Bildungssituation der muslimischen Minderheit zu erstellen. Vorsitzender des Komitees war der ehemalige vorsitzende Richter des Delhi
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nen zentralen Wendepunkt im öffentlichen Diskurs über die indischmuslimische Minderheit. Erstmals in der nachkolonialen Geschichte Indiens wurde darin beispielsweise offiziell festgehalten, dass die Muslime im öffentlichen Dienst deutlich unterrepräsentiert seien. Für besondere Aufregung hat in diesem Zusammenhang der Bezug auf die indische Armee gesorgt, aber nicht nur an diesem Punkt entzündete sich die anhaltende Diskussion über diesen Bericht. Um konkrete Maßnahmen und geeignete Mechanismen zur Verbesserung der Situation der Muslime und allen voran eine Chancengleichheit im Bildungsbereich zu erwirken, wurde als unmittelbare Folge des Sachar-Berichts die „National Minorities Development and Finance Corporation“ (NMDFC) ins Leben gerufen. Was jedoch die zentrale Problematik der politischen Identität und Repräsentation der indischen Muslime betrifft, so ist diese nach wie vor eng mit der ungelösten Zivilrechtsfrage verbunden, über die seit der Unabhängigkeit Indiens 1947 gestritten wird. Das islamische Personenstandsrecht (Muslim Personal Law) kann bis heute als Kernelement einer „muslimischen Identitätspolitik“ in Indien betrachtet werden, während insbesondere die Hindunationalisten das Festhalten der Muslime an einem separaten, religiös begründeten Familienrecht als Beweis für deren „Rückständigkeit“ und angeblich mangelnde Bereitschaft zur „Integration“ in die indische Nation anführen. Bislang weitgehend unbemerkt, scheint sich jedoch gerade um die Frage, wie das islamische Personenstandsrecht im Sinne einer Stärkung der Rechte von Musliminnen neu interpretiert und für die Praxis reformuliert werden kann, gegenwärtig eine neue muslimische Frauenbewegung zu formieren. Eine kurze Einführung zum dominierenden Diskurs über die „muslimische Frau“ und die Wahrnehmung der Geschlechterbeziehungen im Islam durch die nicht-muslimische Bevölkerungsmehrheit in Indien bildet den ersten Abschnitt dieses Beitrags. Im Anschluss daran soll mit dem berühmtberüchtigten Shah Bano-Fall Mitte der 1980er Jahre der Ausgangspunkt der neuen muslimischen Frauenrechtsbewegung vorgestellt werden, der zu-
High Court, Rajinder Sachar. Gemeinsam mit sechs weiteren Mitgliedern verfasste er einen 403 Seiten langen Bericht, der am 30. November 2006 im Unterhaus (Lok Sabha) des indischen Parlaments vorgestellt wurde. Für eine erste Übersicht zur Arbeit und den Rahmenbedingungen des Sachar-Berichts, siehe: Basant 2007: 828-32.
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gleich generell für einen Großteil der islambezogenen Debatten und Perzeptionen in Indien bis heute ein zentraler Bezugspunkt ist. Daran anknüpfend wird eine muslimische Frauenrechtsorganisation aus dem südindischen Bundesstaat Tamil Nadu vorgestellt, die mittlerweile auch über die Grenzen Indiens hinaus einige Bekanntheit erlangt hat. An diesen konkreten Beispielen können stellvertretend die Probleme und Chancen aufgezeigt werden, die gegenwärtig für die Perspektiven der Geschlechtergerechtigkeit in der Minderheitensituation wesentlich bestimmend zu sein scheinen.
S YSTEMATISCHE F EHL - UND N ICHTWAHRNEHMUNG MUSLIMISCHER F RAUEN Noch vor wenigen Jahren waren engagierte Reformer wie Asghar Ali Engineer oder die Soziologin und Journalistin Zarina Bhatty alles andere als überzeugt davon, dass überhaupt jemals so etwas wie einen „islamischen Feminismus“ oder eine von muslimischen Frauenrechtlerinnen getragene Bewegung in Indien in Erscheinung treten würde. In verschiedenen Publikationen der vergangenen Jahre haben beide argumentiert, dass in Indien eine ganz wesentliche Voraussetzung für die aus ihrer Sicht überfällige Herausbildung einer islamischen Geschlechterkritik nach wie vor nicht gegeben sei, nämlich zum einen eine feministisch begründete Koranhermeneutik und zum anderen die Einbeziehung muslimischer Frauen in die allgemeinen Frauen- und Geschlechterstudien.5 Das zuletzt genannte Defizit beschreibt die pakistanische Historikerin Tahera Aftab in der Einleitung zu ihrer bahnbrechenden kommentierten Bibliografie Inscribing South Asian Muslim Women, die 2008 im „Handbook of Oriental Studies“ erschienen ist, mit den folgenden Worten: „Wissenschaftliche Studien über die Geschichte und gegenwärtige Situation muslimischer Frauen in Südasien sind knapp an der Zahl, und wenn sie als eigener Untersuchungsgegenstand in Erscheinung treten, so werden sie in der Regel als „unterdrückt“, „diskriminiert“ und „rückständig“ dargestellt; als Opfer der doppelten Tyrannei ihrer Religion und des spezifisch südasiatischen Patriarchats, wie es im hinduistischen Modell traditioneller Weib-
5
Vgl. Bhatty 2003; Engineer 2006.
ISLAM UND GENDER IN INDIEN | 301
lichkeit begründet ist“.6 Die Notwendigkeit, südasiatische Musliminnen in die Historiografie des indischen Subkontinents, aber auch in die neueren Frauen- und Geschlechterstudien „einzuschreiben“, wie es der programmatische Titel ihrer Bibliografie ankündigt, sieht Aftab vor allem darin begründet, dass die muslimischen Frauen trotz ihrer anhaltend schwierigen Situation niemals so stumm und passiv waren, wie sie zumeist dargestellt werden. Ganz im Gegenteil haben sich viele von ihnen seit jeher im öffentlichen wie auch im privaten Bereich engagiert und spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts auch immer wieder ihre Rechte als volle Mitglieder ihrer Gemeinschaften eingefordert. Wissenschaftlerinnen wie Gail Minault (1998), Barbara Metcalf (1990), Abida Samiuddin (2002), Azra Asghar Ali (2000), Siobhan LambertHurley (2007) und Margit Pernau (2008), um nur einige wenige zu nennen, haben mit ihrer historischen Forschung bereits gezeigt, dass muslimische Frauen wie Männer sich seit der Mitte des 19. Jh. immer wieder um eine Neudefinition und Verbesserung bestehender Frauenrechte bemüht haben. Doch trotz der vielfältigen Bemühungen von Wissenschaftlern, Aktivisten und auch vereinzelt von Journalisten – darunter Männer wie Frauen –, der essentialistischen Konstruktion der muslimischen Frau als passives Opfer differenzierende Erzählungen und alternative Bilder entgegen zu setzen, scheint sich ihre stereotype Wahrnehmung in Indien als besonders hartnäckig zu erweisen. Von einem „gefährlichen Dreieck“ spricht in diesen Zusammenhang die verantwortliche Redakteurin der Zeitschrift Islamic Voice aus Bangalore, Nigar Ataulla, denn sobald das Gespräch auf den Status muslimischer Frauen im indischen Kontext komme, richte sich der Fokus unweigerlich auf drei Themen: auf die berüchtigte Verstoßungsform der Ehefrau durch den so genannten „Dreifach-Talaq“7, ferner auf die Polygamiefrage und drittens auf die Verschleierung der Frau.8 Dieser Eindruck wird beispielsweise durch eine 2003 veröffentlichte Studie der indischen Medienwissenschaftlerin Sabina Kidwai zur Wahr-
6
Vgl. Aftab 2008: xxxi (übersetzt aus d. Engl.).
7
Dahinter verbirgt sich das dreifache Ausrufen der Formel Talaq (wörtlich: Verstoßung) durch den Ehegatten, die zur sofortigen und unwiderruflichen Scheidung der Ehe führt.
8
Vgl. Ataulla 2006.
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nehmung der muslimischen Minderheit in Indien bestätigt.9 Einen Teil dieser Untersuchung bildete die Befragung von männlichen und weiblichen, muslimischen wie nicht-muslimischen Studierenden aus verschiedenen Delhier Colleges und Universitäten im Alter zwischen 18-24 Jahren. Obwohl die meisten von ihnen zunächst die Ansicht unterstützten, dass das in den indischen Medien vorherrschende Bild der verschleierten Frau keine realistische Darstellung indischer Musliminnen sei, stellte sich im Laufe der Gruppendiskussionen immer wieder heraus, dass der Schleier für die meisten Nicht-Muslime dennoch das zentrale Symbol für die Unterdrückung von Frauen durch die muslimische Gemeinschaft darstellte. Ihren niedrigen Status sahen die meisten nicht-muslimischen Befragten zum einen in den Ungleichbehandlungen durch das in Indien geltende islamische Personenstandsrecht (Muslim Personal Law), und zum anderen in der Religion selbst begründet, da der Islam ihrer Überzeugung nach Frauen stärker unterdrücke als andere Religionen.10 Analog dazu äußerten viele der befragten Studierenden die Ansicht, dass muslimische Frauen im Vergleich zu den Frauen anderer Religionszugehörigkeit „unterwürfig“, „zurückhaltend“ und „fragil“ seien und aufgrund ihrer sozialen Prägung (Kidwai verwendet hier im Original-Text den Begriff „conditioning“) nicht in der Lage seien, selbst für ihre Rechte zu kämpfen.11
9
Vgl. Kidwai 2003:104-128.
10 Zumindest erwähnt werden muss hier auch, dass auch die Konstruktion und Beschreibung der „muslimischen Frau“ in der wissenschaftlichen Literatur lange Zeit ganz zentral auf der Annahme basierte, dass die sozialen Realitäten muslimischer Frauen in Indien maßgeblich durch ihren rechtlichen Status im Rahmen des Muslim Personal Law sowie ihre geschlechtspezifischen Rolle im Islam bestimmt und folglich auch durch diese erklärbar seien. Erst seit kurzem wird diese weitgehend entkontextualisierte und sehr stark essentialisierte Kategorie der „indisch-muslimischen Frau“ auch in der akademischen Forschung hinterfragt. Searle-Chatterjee (2000: 145-162) fordert entsprechend, dass die Besonderheiten der jeweiligen Region, Lokalität, des Kontextes und der sozialen Schicht bzw. Kaste wesentlich umfassender als zuvor mit berücksichtigt würden und spricht sich klar gegen das Festhalten an der Vorstellung einer klar definierbaren, kohärenten – also letztlich nur vorgestellten Gruppe „muslimischer Frauen“ in Indien aus. Vgl. dazu auch Kirmani 2009: 47-62. 11 Vgl. Kidwai 2003: 108.
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Diese Aussagen machen deutlich, dass es bislang offenbar tatsächlich kaum gelungen zu sein scheint, muslimische Frauen in die großen Geschichtsnarrative „einzuschreiben“ bzw. sie als Akteurinnen überhaupt sichtbar zu machen. Auch wird der Eindruck bestärkt, dass die indischen Muslime nach wie vor als eine offensichtliche Gemeinschaft betrachtet werden, die ihre spezifischen Eigenschaften aus einer angeblich inhärenten Natur ihrer Religion bezieht. Dass sie als Teil der indischen Gesellschaft jedoch gleichermaßen wie andere Bevölkerungsgruppen auch in die verschiedensten Prozesse des ökonomischen Wandels, der Nationenbildung und selbstverständlich auch der Säkularisierung involviert waren und sind, wird darin kaum berücksichtigt.12 Schließlich zeigen die Aussagen der befragten Studierenden auch, dass in der Diskussion über die Rechte muslimischer Frauen häufig die Rolle des indischen Staates außer Acht gelassen. Deniz Kandiyoti und Amrita Chhachi haben darauf hingewiesen, dass insbesondere die Frage nach der Beziehung zwischen dem Staat und den patriarchalen Strukturen in der Gesellschaft, also im Falle Indiens auch in der muslimischen Gemeinschaft, ihrer Ansicht nach genauer beleuchtet werden müssten. Chhachi argumentiert in diesem Zusammenhang, dass der Staat schon immer aktiv an der Definition und Konstruktion des Bereichs des Privaten bzw. der Familie beteiligt war (ebd.). Geradezu beispielhaft belegen lässt sich dies mit Blick auf die Entstehungsgeschichte und nachkolonialen Intervention des indischen Staates in das sog. islamische Personenstandsrecht oder Muslim Personal Law, die im folgenden Abschnitt skizziert werden soll.
D IE K ONTROVERSE ÜBER DAS ISLAMISCHE P ERSONENSTANDSRECHT (M USLIM P ERSONAL L AW ) Wie in anderen Kolonien auch, erfolgte die Aufteilung des Straf- und Zivilrechts in Indien unter britischer Herrschaft. Das Strafrecht (Indian Penal Code) und das Strafverfahrensrecht (Criminal Procedure Code) wurden 1862 eingeführt und beide sollten unabhängig von Religion oder Kaste auf alle Teile der indischen Gesellschaft angewendet werden. Die Personenstandsrechte (Personal Laws) zur Regelung familien- und zivilrechtlicher
12 Vgl. Chhacchi 1999: 145ff.
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Fragen wurden dagegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Grundlage der Religionszugehörigkeit erlassen. Festzuhalten ist also zunächst, dass es sich bei den religiös begründeten Personenstandsrechten in Indien vornehmlich um gesetzliche Neuschöpfungen handelt, mit denen in erster Linie religiös definierte Gemeinschaften festgelegt und klar voneinander abgegrenzt werden sollten. Die starke Fokussierung der indischen Muslime auf das islamische Personenstandsrecht als Grundlage für ihre kulturelle Identität erklärt sich wiederum zum einen aus der innerislamischen Entwicklung seit der Abschaffung des osmanischen Kalifats durch Mustafa Kemal im Jahr 1924. Denn durch diesen Schritt war gleichzeitig das Ende eines a-nationalen politischen Raums der Muslime herbeigeführt worden, also der Möglichkeit, politische Gemeinschaften zu konstruieren, die sich nicht am Modell des Nationalstaates orientierten. In Indien, wo die Kalifatsbewegung einen recht großen Wirkungsradius erreicht hatte, sahen muslimische Gelehrte und Intellektuelle nach dem Wegfall des Kalifats bzw. dem Ende des Osmanischen Reichs vor allem im islamischen Personenstandsrecht einen letzten verbleibenden, gemeinsamen Nenner, auf dessen Basis sich ihrer Ansicht nach eine Identität der stark fragmentierten muslimischen Gemeinschaft herausbilden konnte.13 Zum anderen muss in diesem Zusammenhang auch berücksichtigt werden, dass muslimische Reformbewegungen bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert das Inkrafttreten des islamischen Personenstandsrechts gefordert hatten, um eine Modernisierung innerhalb der Logik des islamischen Rechts zu erwirken. Schon damals wurde betont, dass Frauen im Rahmen der Scharia über Rechte verfügten, wie sie durch keines der in Indien zum damaligen Zeitpunkt angewendeten Gewohnheitsrechte garantiert wurden. Als Beispiele wurden etwa das Recht der Muslimin auf Scheidung, Erbe und Wiederheirat nach einer Trennung oder nach dem Tod des Ehegatten angeführt. Entsprechend wurde die Verabschiedung des Muslim Personal Law Application Act (1937) und des Dissolution of Muslim Marriages Act (1939) von Frauenorganisationen zunächst als förderlich für die rechtliche Besserstellung muslimischer Frauen in Indien betrachtet und unterstützt.14
13 Vgl. Minault 1982. 14 Vgl. Shaikh 1991.
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Ganz anders bewerteten dagegen nach der Unabhängigkeit 1947 die Anhänger einer starken Zentralmacht und kulturellen Homogenität grundsätzlich die Existenz separater religiös begründeter Familienrechte. Durch die Verletzung liberaler Grundprinzipien wurde ihrer Überzeugung nach eine echte Nationenbildung und Modernisierung Indiens dauerhaft verhindert. Ähnlich wie die Anhänger des kemalistischen Modernisierungsprojektes in der Türkei waren auch sie davon überzeugt, dass einzig und allein ein einheitliches, säkulares Zivilrecht partikulare Identitäten einebnen, kommunalistische Ausschreitungen abwenden und somit den Prozess der "nationalen Integration" und Sozialreform beschleunigen könne.15 Ganz gezielt gegen das islamische Personenstandsrecht richtete sich seit Mitte der 1980er Jahre dann vor allem die Agitation der erstarkenden hindunationalistischen Organisationen. Sie griffen das islamische Personenstandsrecht immer wieder als Symbol der "Rückständigkeit und des Reformunwillens" indischer Muslime und andererseits als Inbegriff der angeblichen "Privilegierung" der muslimischen Minderheit durch die damalige Kongress-Regierung an. Insbesondere in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre versuchte sich die BJP als die „modernere“ sowie im Sinne der bürgerlichen Freiheitsrechte konsequentere Partei darzustellen und durch die Verankerung der Forderung nach einem einheitlichen säkularen Zivilrecht gemäß Art. 44 der indischen Verfassung16 in ihrem politischen Programm eine zusätzliche Legitimationsbasis zu verschaffen.17 Die zunehmend heftiger werdende Agitation der Hindunationalisten auf der einen und der entsprechend starke Widerstand einflussreicher muslimischer Organisationen gegen eine Reformierung des islamischen Personenstandsrechts auf der anderen Seite erreichten im Zusammenhang mit dem berühmten Shah Bano-Fall Mitte der 1980er Jahre ihren Höhepunkt, und diese mediale und reale Eskalation – noch im Vorfeld der hindunationalistischen Mobilisierung für die Errichtung eines Ram-Tempels in der nordindischen Stadt Ayodhya – hat
15 Vgl. Göle 1995: 92-96. 16 In Artikel 44 der indischen Verfassung heißt es im Wortlaut: "Uniform civil code for the citizen: The State shall endeavour to secure for the citizens a uniform civil code throughout the territory of India". 17 Nachdem die BJP Ende der 1990er an die Regierung kam, geriet dieses für die ehemalige Oppositionspartei in Wahlkampfzeiten so prominente Thema der religiös begründeten Personenstandsrechte allerdings schnell in den Hintergrund.
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maßgeblich zur Polarisierung der nachkolonialen indischen Gesellschaft beigetragen.
M EDIALE UND REALE E SKALATION D ER S HAH B ANO -F ALL
DER
D EBATTE :
Seinen Ausgangspunkt nahm dieser in zahlreichen wissenschaftlichen und journalistischen Publikationen umfassend diskutierte Fall bereits Ende der 1970er Jahre, als ein Zivilgericht den Rechtsanwalt M.A. Khan aus Indore im Bundesstaat Madhya Pradesh zu einer monatlichen Unterhaltszahlung an seine geschiedene Frau Shah Bano verurteilte.18 Khan wollte dies nicht akzeptieren und reichte daraufhin eine Berufungsklage beim Obersten Gericht in Delhi ein. Er begründete dies mit dem Einwand, dass eine Muslimin nach islamischem Recht lediglich während der dreimonatigen Wartezeit nach der Scheidung (iddat) Anspruch auf Unterhaltszahlungen hätte. Diese Klage wurde 1985 vom Obersten Gericht in Delhi abgewiesen und in der Urteilsbegründung durch den damaligen vorsitzenden Richter Chandrachud fanden sich mehrere deutlich herabsetzende und polemische Äußerungen in Bezug auf den Islam und die indischen Muslime. Nicht zuletzt durch die ausgesprochen problematische Art und Weise, wie dieses Urteil begründet wurde, löste das Supreme Court Urteil eine erbitterte Kontroverse zwischen den mehr oder weniger selbsternannten Wortführern der muslimischen Gemeinschaft und den Befürwortern eines einheitlichen Zivilrechts aus. Vor allem die hindunationalistische „Indische Volkspartei“ (BJP) hatte die Forderung nach einem einheitlichen Zivilrecht (Uniform Civil Code) und Abschaffung des islamischen Personenstandsrechts damals regelrecht gekapert, über Jahre regelrecht monopolisiert und als ein zentrales, hochgradig emotionalisierendes Wahlkampfthema ausgeschlachtet. Noch im Vorfeld der oben erwähnten, hindunationalistischen Mobilisierung für die Errichtung eines Ram-Tempels in Ayodhya Ende der 1980er und vor allem Anfang der 1990er Jahre war es folglich diese mediale und reale Eskalation in Reaktion auf den Shah Bano-Fall, die sehr stark zur Polarisierung der nachkolonialen indischen Gesellschaft beigetragen hat. In diesem Kontext erlangte zugleich die mediale Darstellung und Wahrnehmung der muslimischen Frau als ‚unterdrücktes Opfer‘ der islami-
18 Vgl. etwa Engineer 1987; Mahmood 1986; Mody 1987 und Schneider 2005.
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schen Religion und der männlichen indischen Muslime einen dramatischen Tiefpunkt und es lässt sich argumentieren, dass ein Großteil der negativen, stereotypen und hochgradig essentialisierenden Bilder, die sich bis heute in Indien feststellen lassen, ganz maßgeblich auf die mediale Eskalation während der Debatte über den Shah Bano-Fall zurück gehen.19 Angesichts des heftigen Widerstands seitens muslimischer Organisation gegen diesen Urteilsspruch fürchtete die damalige Kongress-Regierung unter Premierminister Rajiv Gandhi eine weitere Entfremdung ihrer muslimischen Wählerschaft und versuchte diese durch einen sehr übereilten Schritt abzuwenden: Sie erließ 1986 die Muslim Women (Protection on Rights of Divorce) Bill, kurz: Muslim Women Bill und später „Muslim Women Act“ als Ergänzungsparagraph zu Art. 125 des Strafverfahrensrechts. Darin wurde in Unterhaltsfragen die Priorität des islamischen Personenstandsrechts vor dem Strafverfahrensrecht festgelegt, wodurch muslimische Frauen faktisch von dessen Anwendbarkeit ausgeklammert und somit eindeutig diskriminiert wurden. Mit anderen Worten wurde damit auch dem Umstand, dass bereits seit einigen Jahren immer mehr muslimische Frauen versucht hatten, durch die Anwendung der säkularen Rechtsprechung in strittigen Unterhaltsfragen zu ihrem Recht zu kommen, ein Riegel vorgeschoben – ein Aspekt, der in der Debatte über den Shah Bano-Fall und den Muslim Women Act jedoch häufig übersehen wurde.20 Auf Drängen muslimischer Organisationen, insbesondere des 1973 gegründeten „All-Indian Muslim Personal Law Board“, war es also der indische Staat selbst, der durch seine gesetzgebende Macht dafür sorgte, dass die patriarchale, religiös begründete Kontrolle über muslimische Frauen wiederhergestellt beziehungsweise noch weiter bestärkt wurde. Von einem state-supported fundamentalism spricht Chhachi in diesem Zusammenhang, da es sich anders als gemeinhin angenommen wird, für sie eben nicht so verhält, dass die muslimischen Wortführer sich in dieser Debatte eine Einmischung des Staates in die „internen Angelegenheiten der muslimischen Gemeinschaft“ verboten, sondern sie hätten ganz im Gegenteil faktisch den Staat erst dazu gebracht, ihren hegemonialen Machtanspruch und ihre Kontrolle über die muslimische Gemeinschaft zu untermauern (ebd.).
19 Vgl. Schneider 2005: 191-260. 20 Vgl. Chhachhi 1999: 166f.
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P OST -S HAH B ANO : A LLMÄHLICHES E NTSTEHEN EINER NEUEN MUSLIMISCHEN F RAUENBEWEGUNG Mit Blick auf die indische Entwicklung seit dem Shah Bano-Fall lässt sich durchaus argumentieren, dass muslimische Frauenrechtlerinnen vor allem aufgrund der beschriebenen Verschränkung zwischen staatlichen Interventionen und patriarchaler Machtansprüche seitens muslimischer Organisationen geradezu gezwungen waren, neue Wege zu finden, um sich innerhalb des islamischen Tradition eine Legitimation zu verschaffen, um zumindest in kleinen Schritten eine Reform des Islamischen Personenstandsrechts voranzubringen. Entsprechend ist es vielleicht auch nur auf den ersten Blick verwunderlich, dass ausgerechnet dieser Fall sowie die Verabschiedung des „Muslim Women Act“ aus heutiger Sicht tatsächlich den Ausgangspunkt für eine neu entstehende, muslimische Frauenrechtsbewegung in Indien markieren, die zumindest partiell innerhalb eines islamisch begründeten Rahmens für die Stärkung der Rechte von Frauen und Geschlechtergerechtigkeit argumentiert. So wurden in den späten 1980er Jahren vielerorts muslimische Frauengruppen und -organisationen gegründet, beispielsweise die „Goa Muslim Women’s Association“ oder die „Organisation Awaaz-e-Niswan“ („Stimme der Frauen“) in Bombay. Obwohl diese beiden und andere muslimische Frauenorganisationen zum Teil seit mehr als 20 Jahren sehr aktiv sind, lässt sich beispielsweise in der englischsprachigen indischen Presse erst seit Beginn der 2000er Jahre ein gestiegenes Interesse an muslimischen Frauenorganisationen und -netzwerken feststellen. Vor allem in den letzten Jahren berichteten indische Zeitungen und Magazine häufiger über muslimische Aktivistinnen und Organisationen, die bestehende religiöse Autoritäten – insbesondere die Rolle der ulama (Religions- und Rechtsgelehrten) – kritisch hinterfragen, die sich für eine Reformierung des geltenden islamischen Personenstandsrechts zugunsten einer Stärkung der Rechte von Frauen einsetzen, die Moscheen für Frauen errichten wollen und die vor allem immer wieder darauf hinweisen, dass nicht der Islam selbst Frauen diskriminiere oder unterdrücke, sondern das patriarchale System, das auf einer einseitigen Auslegung der Schriftquellen, insbesondere des Korans basiere. Ganz anders als im Zuge des Shah Bano-Falles, als muslimische Frauen in der indischen Medienöffentlichkeit beinahe ausschließlich als „Opfer“ und „Unterdrückte“ dargestellt und wahrgenommen wurden, und in denen zwar
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sehr viel über, aber in den seltensten Fällen mit muslimischen Frauen gesprochen wurde, lässt sich hier also zumindest in Ansätzen eine interessante Neuentwicklung beobachten. Dass muslimische Frauenrechtsaktivistinnen nun häufiger als eine „überraschende Abweichung“ vom vorherrschenden Bild eingeführt werden, ist wiederum auch darauf zurückzuführen, dass sie selbst in zunehmendem Maße eine gezielte und kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Beispielsweise werden größere Versammlungen vorher durch eine Presseerklärung angekündigt, Ansprechpartner für Interviews benannt, Bilder zur Verfügung gestellt oder Resolutionen veröffentlicht. Viele Organisationen und Netzwerke haben die Bedeutung einer möglichst leicht auffindbaren Internetpräsenz erkannt und sehr wirksam umgesetzt, etwa in Form von Webseiten, Foren oder im Rahmen von internetbasierten sozialen Netzwerken. Eine Organisation, über die mittlerweile nicht nur innerhalb Indiens häufiger in den Medien berichtet, sondern über die auch bereits mehrere Reportagen und Dokumentarfilme gedreht wurden, soll als eine herausragende Repräsentantin der neu entstehenden muslimischen Frauenbewegung im folgenden Abschnitt vorgestellt werden.
D IE O RGANISATION STEPS
AUS
T AMIL N ADU
Ausgehend von der Beschreibung eines ca. fünfminütigen YouTubeVideos, das unter dem Titel „A Mosque of One’s Own“ dort von verschiedenen Nutzern hochgeladen und bis zum Datum des letzten Zugriffs (02.04.2012) bereits mehrere hundert Male aufgerufen wurde, wird in diesem Abschnitt die Organisation STEPS aus dem südindischen Bundesstaat Tamil Nadu vorgestellt, die 1987 von Daud Sharifa Khanam gegründet wurde. Über STEPS und vor allem über Sharifa Khanam selbst ist mittlerweile recht viel in den indischen Medien geschrieben worden und die Homepage widmet der Selbstbeschreibung dieser Organisation relativ viel Raum.21 Demnach wurde STEPS ursprünglich nicht ausschließlich für muslimische Frauen gegründet, sondern engagierte sich zunächst ganz allgemein gegen die Diskriminierung von und Gewalt gegen Frauen in Tamil Nadu. Erst seit 2003 geriet Sharifa Khanam verstärkt in die Schlagzeilen der nationalen indischen Presse, als sie eine monatliche Jama’at-Gemein-
21 http://www.stepswomenjamaat.org/
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deversammlung für muslimische Frauen ins Leben rief, um diesen einen öffentlichen Raum zu geben, in dem sie sich frei artikulieren können, in dem sie aber auch über die patriarchale Interpretation islamischer Grundsätze durch männliche Religions- und Rechtsgelehrte aufgeklärt werden sollten. Entstanden ist diese Frauen-Jama’at nach Angaben der Organisation auch als Reaktion auf die wachsende Frustration muslimischer Frauen im Bezirk Pudukottai über die Entscheidungen der bislang rein männlich besetzten Jama’at in familienrechtlichen Streitigkeiten, in denen Fragen der Mitgift, Scheidung, häuslichen Gewalt, des Sorgerechts oder auch um Kindesmissbrauch im Vordergrund stehen. Gehen die Frauen überhaupt zur örtlichen Polizei, um dort Hilfe zu suchen, so wird die Angelegenheit von dieser in vielen Fällen an die örtlichen Jama’at weitergereicht, zu denen Frauen jedoch keinen Zugang haben. Das heißt, es wird dort über Fälle entschieden, ohne die Frauen überhaupt anzuhören und entsprechend unausgewogen fallen die Entscheidungen aus. Der kurze Film „A Mosque of One’s Own“ veranschaulicht einige für das Thema dieses Beitrags sehr relevanten Aussagen und Informationen, die ich anhand von drei Aspekten umreißen möchte. Der kurze Film beginnt zunächst mit einem „typischen“, wenn nicht sogar „klischeehaften“ Bild der indisch-muslimischen Frau, denn das Thema „Mitgift“ beziehungsweise Gewalt in der Ehe wird gleich als erstes angedeutet. Dieses erste Bild wird jedoch gleichsam relativiert dadurch, denn die interviewte junge Frau, Fauzia, erwähnt, dass sie in der Auseinandersetzung mit ihrem Mann nun über ein gewichtiges neues Argument verfüge, nämlich die Rechte der Frau, wie sie im Koran formuliert seien, also der zentralen normativen Grundlage des Islams. Somit wird sehr anschaulich verdeutlicht, dass Fauzia für sich einen neuen Handlungsspielraum wahrnimmt, den es so für sie zuvor nicht gegeben hat. Ein zweiter interessanter Aspekt hängt mit der Tatsche zusammen, dass es sich bei dem Bezirk Pudukottai um keine großstädtisch geprägte Gegend handelt. Dies läuft der sehr häufig zu findenden Annahme zuwider, dass es allenfalls in Metropolen wie Mumbai, Delhi, Bangalore oder Hyderabad eine zahlenmäßig kleine Elite von muslimischen Frauenrechtsaktivistinnen und -aktivisten geben könne. Zwar trifft es mit Sicherheit zu, dass es in den Großstädten des Landes sehr aktive muslimische Frauenrechtsorganisationen wie etwa das 1999 gegründete „All-India Muslim Women’s Rights Network“ (MWRN) aus Mumbai oder die 2007 gegründete „Bewegung indischer muslimischer Frauen“ aus Delhi (Bharatiya Muslim Mahila Andolan,
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BMMA) oder auch das unter großer medialer Anteilnahme 2005 in Lakhnau gegründete „All-India Muslim Women’s Personal Law Board“ (AIMWPLB) gibt. Interessanterweise lässt sich jedoch neben diesen urbanen Zentren gerade in Tamil Nadu auch in weniger urbanisierten Regionen eine zunehmende Mobilisierung und „Politisierung muslimischer Frauen“ feststellen, die zum Teil sogar von einer säkularen Feministin wie Sumi Krishna als eine „der aufregendsten und spannungsreichsten Entwicklungen in der gegenwärtigen tamilischen Gesellschaft“ betrachtet wird.22 Sharifa Khanam selbst, die Gründerin von STEPS, wird ebenfalls in diesem kurzen Film vorgestellt und sowohl aus ihren eigenen Aussagen wie auch aus der Art und Weise, wie diese szenisch und visuell eingebettet werden, wird schnell erkennbar, dass Khanam einerseits viel Widerstand und auch Hetze gegen ihre Person erfährt, zugleich aber bereits einen recht großen Bekanntheitsgrad erlangt hat und dass über sie auch in den nationalen indischen Medien berichtet wird. Ergänzend kann hinzugefügt werden, dass sie inzwischen auch international bekannt geworden ist und als eine der zentralen Hoffnungsträgerinnen für eine neue Generation muslimischer Frauenrechtsaktivistinnen gilt, deren Selbstbewusstsein, Entschlossenheit und deren Agenda sich jedoch nicht, beziehungsweise nicht ausschließlich auf den Diskursen der säkular-liberalen oder säkular-nationalen Frauenbewegung begründen, sondern vielmehr auf dem Diskurs einer islamisch begründeten Geschlechterkritik, die in den vergangenen Jahren vor allem unter dem Begriff „islamischer Feminismus“ bekannt geworden ist. Deutlich wird dies vor allem an den Aussagen der interviewten Frauen im Film, in denen diese nicht den Islam als Religion für ihre rechtliche und soziale Situation verantwortlich machen, sondern vielmehr auf die Rechte der Frauen, wie sie der Koran garantiere. Entsprechend argumentieren sie, dass ausschließlich die patriarchalen Strukturen der Gesellschaft dafür verantwortlich seien, dass ihnen diese koranischen Rechte kontinuierlich verweigert würden. Die Gründung einer Jama’at-Versammlung von und für muslimische Frauen stellt somit auch die religiöse Autorität des traditionellen Jama’atSystems und seiner Kontrolle über die muslimischen Gemeinden grundlegend in Frage. Was aber vor allem in Indien (und über Indien hinaus) für einige mediale Aufmerksamkeit sorgt, ist das Vorhaben dieser neu gegründeten Frauen- Jama’at, in Puddukottai auf einem gestifteten Grundstück ei-
22 Vgl. Krishna 2007: 510.
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ne Moschee nur für Frauen zu errichten. Neben einem Gebetsraum und einem Koordinationsbüro für Erziehungsfragen und Arbeitsstellen für Frauen soll darin auch ein Forschungs- und Ausbildungszentrum eingerichtet werden, das dem Islamischen Recht bzw. der Rechtsprechung gewidmet ist. Obwohl Sharifa Khanam selbst und ihre Mitstreiterinnen in den vergangenen Jahren aufgrund dieser Initiative viel Sympathie und ein recht großes Medieninteresse erfahren haben, sehen sie sich zugleich mit einem massiven Widerstand seitens konservativer ulama (Religions- und Rechtsgelehrte) in ganz Indien konfrontiert und haben nach eigenen Angaben bereits mehrfach Morddrohungen erhalten. Dazu ist generell zu sagen, dass sich muslimische Frauenrechtsaktivistinnen, die sich argumentativ auf den Diskurs des islamischen Feminismus stützen, mit Vorwürfen auseinandersetzen und dem massiven Druck, der aus allen denkbaren Richtungen auf sie ausgeübt wird, standhalten müssen. Besonders oft wird von Mitgliedern der muslimischen Gemeinden, aber auch von Familienangehörigen der Frauenrechtlerinnen selbst der Vorwurf der Illoyalität erhoben, da sie ihre Interessen als Frauen angeblich vor die Notwendigkeit der Community stellen, eine einheitliche Front gegen die kommunalistischen und antimuslimischen Kräfte in der indischen Mehrheitsgesellschaft zu bilden. Sofern sie in NGOs organisiert sind, die auf ausländisches Kapital angewiesen sind, werden Verdächtigungen laut, dass sie sich nur bereichern wollen oder von ausländischen Interessen kaufen lassen. Wenn sie eng mit säkularen Organisationen oder politischen Parteien zusammen arbeiten, wird ebenfalls der Vorwurf der fehlenden Loyalität erhoben. Und auch hier entzündet sich die Kritik regelmäßig an dem Begriff „Feminismus“, den viele Aktivistinnen in ihrer Selbstbezeichnung folglich gar nicht erst verwenden, obwohl sie die theoretischen Ansätze, Überzeugungen und Praktiken erklärter Feministinnen teilen.23 Der Zugang zu Moscheen nicht nur als Ort des Gebets, sondern als öffentlicher Raum, an dem Frauen aktiv partizipieren können, ist unter den indischen Muslimen nach wie vor ein sehr umstrittenes Thema. Durch das Vorbild Sharifa Khanams und ihrer Organisation STEPS ermutigt, gibt es mittlerweile in verschiedenen Regionen Indiens ähnliche Bestrebungen Moscheen für Frauen zu errichten. Beispielsweise wurde Ende August 2008 eine neue Moschee für Frauen in Shillong im Nordosten Indiens eingeweiht
23 Vgl. Vatuk 2008; Schneider 2009.
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und nach Presseberichten haben am Tag der Eröffnung bereits 150 Frauen am Gebet teilgenommen.24 Auch die Aktivistinnen in Pudukottai halten trotz des erbitterten Widerstandes und großer finanzieller Schwierigkeiten an ihrem Vorhaben fest, ihre Moschee zu errichten, und Sharifa Khanam selbst koordiniert heute ein großes Netzwerk muslimischer Frauen in Tamil Nadu. Im Jahr 2008 war sie darüber hinaus mit einer ihrer Mitstreiterinnen als Rednerin auf dem dritten Internationalen Kongress des Islamischen Feminismus in Barcelona eingeladen, wodurch sie selbst nun nicht mehr nur als eine muslimische Frauenrechtsaktivistin aus Südindien gilt, sondern als eine der herausragenden, lokalen Akteurinnen des transnationalen islamischen Feminismus anerkannt und einem internationalen Publikum bekannt gemacht wurde.25 Die Frage, wie dieser am Beispiel der STEPS-Jama’at beschriebene neue Aktivismus muslimischer Frauen in gesamtindischer Perspektive kontextualisiert und vor allem interpretiert werden könnte, ist sicher nicht so leicht zu beantworten. Eine erste Hilfestellung bietet hierfür die vorhandene Literatur zu muslimisch-feministischen Artikulationen und Bewegungen in Südasien, in der von distinkten historischen Phasen muslimisch-
24 Vgl. Azad 2008. 25 Es gibt inzwischen eine umfangreiche Literatur, die sich zum einen konkret mit den theologischen und methodischen Fragen des sog. islamischen Feminismus befasst, also vor allem mit dem Problem einer geschlechtergerechten Koranauslegung. Mit Abstand am häufigsten zitiert werden in der Diskussion insbesondere die Werke von Amina Wadud (1992/1999) und Asma Barlas (2002). Der weitaus größere Teil der publizierten Literatur befasst sich jedoch mit Fragestellungen, die die historische und aktuelle Entwicklung sowie Zukunftsperspektiven des islamischen Feminismus nicht nur als Diskurs, sondern als globale Bewegung betreffen. Entsprechend schwierig ist es auch, die Begriffe „islamischer Feminismus“, „Gender Jihad“ oder „islamische Geschlechterkritik“ einzugrenzen. Die Kritik von Vertreterinnen einer islamisch begründeten Geschlechterkritik entzündet sich am rechtlichen Status der Frauen und an ihrer untergeordneten gesellschaftlichen Position, vor allem an den in vielen Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit – oder Minderheit wie etwa in Indien – geltenden islamischen Personenstandsrechte, die die Rechte der Frauen einschränken und die Männer dagegen deutlich privilegieren. Vgl. Moghadam (2007) und MirHosseini (2006).
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feministischer Aktivismen ausgegangen wird, allen voran in dem drei Bände umfassenden, von Abida Samiuddin und Rashida Khanam herausgegebenen Werk „Muslim feminism and feminist movement“ (2002). Ihrer Ansicht nach waren es in einer ersten Phase vor allem individuelle Schriften und Selbstzeugnisse, Gedichte, Kurzgeschichten, Romane, Autobiografien, journalistische Artikel, Essays und wissenschaftliche Abhandlungen, durch die frühe Formen eines Gender-Bewusstseins und feministische Ideen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden, eine erste Debatte angeregt und die zunehmende Vernetzung von Frauen ermöglicht wurde. Für die zweite Phase des muslimischen Feminismus in der zweiten Hälfte des 20. Jh. sei wiederum der sog. „everyday activism“ kennzeichnend, etwa in Gestalt individueller Innovationen, in der Schaffung von sozialen Hilfsorganisationen, Bildungsinitiativen und auch dadurch, dass zumindest muslimische Frauen der Mittel- und Oberschicht Zugang zum öffentlichen Leben und modernen Berufen erlangten. Erst in der dritten Phase, die Samiuddin und Khanam verstärkt in der aktuellen Gegenwart sehen, bildet sich wiederum nach ihrer Überzeugung eine organisierte Bewegung heraus, die sehr gut sichtbar und sehr viel konfrontativer als bisherige Formen des Aktivismus sei (ebd.). Während sich gegenwärtig in der Tat eine beispiellose Politisierung und Organisation muslimischer Frauen in Indien feststellen lässt, deren Bewegung mehr oder weniger sichtbar, aber mit Sicherheit sehr entschlossen ist, könnte eine unilineare Konzeption von chronologischen Phasen muslimisch-feministischer Artikulationen jedoch tendenziell dazu verleiten, sich etwas zu einseitig darauf zu konzentrieren und folglich einen großen Teil der anderen – und möglicherweise nicht minder relevanten aktuellen sozialen Dynamiken auszublenden oder von vorneherein auszuschließen. Denn gerade mit Blick auf die aktuelle Gegenwart lässt sich eben nicht nur die erwähnte Politisierung muslimischer Frauen in Indien beobachten, sondern eine grundsätzlich neue Entwicklung, die als Gleichzeitigkeit neuer und sehr diverser Artikulationen bezeichnet werden könnte. Diese Artikulationen können in Filmen, Gedichten, Romanen und journalistischen Formaten beispielsweise neue Subjektivitäten muslimischer Frauen in Indien beschreiben, die sich keinesfalls zwangsläufig in einem religiösen Rahmen bewegen oder religiös begründet sein müssen. Sie können aber auch weiterhin auf der Ebene des „everyday activism“ stattfinden oder zur Organisation im Rahmen einer sozialen Bewegung beitragen. Nicht zuletzt dadurch
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gewinnen muslimische Frauen in Indien gegenwärtig auch eine völlig neue Handlungsfähigkeit, um ihrer bislang weitgehend auf essenziellen Merkmalen und Stereotypen beruhenden Darstellung und Wahrnehmung nunmehr eigene, vielfältige Repräsentationen entgegen zu setzen.26 Wenn in diesem Beitrag argumentiert wurde, dass der Shah Bano-Fall und die anhaltende Kontroverse über das islamische Personenstandsrecht (Muslim Personal Law), einschließlich der aktuell in Indien geführten Diskussionen über einen reformierten Standardehevertrag (nikahnama) zentrale Bezugspunkte für die Handlungen und Artikulationen muslimischer Aktivistinnen darstellen, so muss dennoch eine Einschränkung zumindest erwähnt werden. Denn es stellt sich die Frage, ob diese Themen und Agenden, dasselbe Mobilisierungspotenzial für junge muslimische Frauen – und selbstverständlich auch für Männer – enthalten, wie dies für die ältere Generation der Fall war und weiterhin ist. In den Worten der jungen südindischen Filmemacherin Fathima Nizaruddin war der Shah Bano-Fall zwar „das Ereignis, das die Generation meiner Mutter politisiert hat, aber meine Generation und ich, wir wurden viel stärker durch die Gewalt in Gujarat im Jahr 2002 politisiert“.27 Es gibt durchaus erste Anzeichen dafür, dass sich einige der aktivsten Organisationen und Netzwerke in Indien gegenwärtig Gedanken darüber machen, wie die Themen und Agenden aussehen könnten und sollten, die die jungen muslimischen Frauen und Mädchen in Indien am stärksten ansprechen und mobilisieren könnten. So hat die Organisation Bharatiya Muslim Mahila Andolan (BMMA) beispielsweise kürzlich eine Umfrage zu den Hoffnungen und Erwartungen junger muslimischer Mädchen und Frauen in Indien durchgeführt, die sich in erster Linie auf erhöhte soziale Mobilität und vor allem auf bessere Ausbildungschancen richten: „We have felt for a long time that Muslim girls are neglected and their voices, opinions and needs overlooked. Their families give them least priority and the state acts as if they don't exist. Educated and empowered young women can play a key role in transforming the community. It is the most promising and the most deserving section of our society, which needs to be heard.“28
26 Vgl. zu diesem Aspekt ausführlicher: Schneider 2011. 27 Persönliches Interview am 13. Juli 2010. 28 „Muslim girls want to be allowed to study, work, explore the world”, Times of India 2010.
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Mit diesem Statement verweist Zakia Soman, einer der drei Mitbegründerinnen von BMMA, nicht nur auf ein gegenwärtiges Desiderat der Forschung, sondern der Hinweis auf die Jugend zeigt aus meiner Sicht vor allem für die kommenden Jahre eine hochrelevante Perspektive und erforderliche Ausrichtung für die Beschäftigung mit der muslimischen Bevölkerung in Indien an, die für die Frage der Geschlechtergerechtigkeit und Demokratisierung in der Minderheitensituation von zentraler Bedeutung sein wird. Denn auch wenn sich die soziale Basis für die Teilhabe an politischen Prozessen in den vergangenen Jahrzehnten in Indien erheblich ausgeweitet wurde und die indische Demokratie dadurch sicherlich wesentlich gestärkt werden konnte, bleibt die Demokratisierung ein fortlaufender Prozess, für den auch mit Blick auf die indischen Muslime und die Rechte muslimischer Frauen weiterhin mit großem Engagement gestritten werden muss.
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genres“, in: Islam et laïcité (Hg.), Existe-t-il un féminisme musulman? Paris: L’Harmattan, S. 43-48. Samiuddin, Abida (Hg.) (2002): Muslim feminism and feminist movement, Delhi: Global Vision Publ. House. Pernau, Margrit (2008): Bürger mit Turban. Muslime in Delhi im 19. Jh., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schneider, Nadja-Christina (2005): Zur Darstellung von „Kultur“ und „kultureller Differenz“ im indischen Mediensystem. Die indische Presse und die Repräsentation des Islams im Rahmen der Zivilrechtsdebatte, 1985-97 und 2003, Berlin: Logos. Dies. (2009): „Islamic feminism and Muslim women’s rights activism in India. From transnational discourse to local movement – or vice versa?“, in: Journal of International Women’s Studies 11 (1), S. 56-71. Dies. (2011): „Neue Mobilitäten muslimischer Frauen in Indien – (Trans-) lokale Dynamiken des „islamischen Feminismus“, in: SüdasienChronik, Bd. 1, S. 109-132. Searle-Chatterjee, Mary (2000): „Women, Islam and Nationhood in Hyderabad“, in: V. Damodaran/M. Unnithan-Kumar (Hg.), Postcolonial India. History, Politics and Culture, Delhi: Manohar, S. 145-162. Shaikh, Farzana (1991): Community and Consensus in Islam. Muslim Representation in Colonial India, 1860-1947, Bombay: Orient Longman Limited. Times of India (01.09.2010): „Muslim girls want to be allowed to study, work, explore the world“, in: http://articles.timesofindia.indiatimes. com/2010-09-01/interviews/28215648_1_muslim-women-bharatiyamuslim-mahila-andolan-personal-law (02.01.2012). Vatuk, Sylvia (2008): „Islamic Feminism in India. Indian Muslim Women Activists and the Reform of Muslim Personal Law“, in: Modern Asian Studies: Islamic Reform in South Asia 42 (2-3), S. 489-518. Wadud, Amina (1992/1999): Qur’an and Woman: Rereading the Sacred Text from a Woman's Perspective, Oxford/New York: OUP.
Autorinnen und Autoren
Amirpur, Katajun ist Professorin für Islamische Studien und Islamische Theologie in Hamburg und stellvertretende Direktorin der Akademie der Weltreligionen. Nach einem Studium der Islam- und Politikwissenschaften in Bonn und der schiitischen Theologie in Teheran wurde sie 2000 im Fach Iranistik in Erlangen/Bamberg promoviert. Sie lehrte in Berlin, Bonn und München, war Postdoktorandin in Leiden und Bonn sowie Assistenzprofessorin in Zürich. Arnez, Monika ist Juniorprofessorin für Austronesistik an der Universität Hamburg. Sie studierte indonesische Philologie, Ethnologie und Anglistik in Köln, schloss ihre Promotion im Jahr 2002 mit einer Dissertation über „Politische Gewalt und Macht in indonesischer Literatur von 1945 bis zur Gegenwart“ ab, war Lehrbeauftragte in Passau und wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Passau und Frankfurt am Main. Badry, Roswitha studierte Orientalische Philologie, Politologie und Geschichte an der Universität Köln und erwarb dort 1982 den Magister- und 1985 den Doktortitel. Anschließend war sie am Orientalischen Seminar der Universität Tübingen als wissenschaftliche Assistentin tätig und habilitierte sich 1995 über den koranisch verankerten Beratungsgedanken (Schura) in vormoderner Auslegung und in der neuzeitlichen Diskussion. Seit 1992 lehrt sie Islamwissenschaft an der Universität Freiburg. Fischer-Tahir, Andrea studierte Arabistik, Orientalistik, Ethnologie und Religionsgeschichte in Leipzig und schrieb ihre Masterarbeit über die Entwicklung der Frauenbewegung in Irakisch-Kurdistan. Ihre Dissertation
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wurde unter dem Titel „Wir gaben viele Märtyrer. Widerstand und kollektive Identitätsbildung in Suleimaniya, Irakisch-Kurdistan (1975-2000)“ publiziert. Zurzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Moderner Orient in Berlin. Fleschenberg dos Ramos Pinéu, Andrea ist Gastprofessorin an der Qaidi-Azam Universität in Islamabad. Sie studierte Politikwissenschaft, Völkerrecht und Psychologie in Bonn und wurde im Jahr 2003 an der Universität Erfurt promoviert. Zwischen 2007 und 2012 war sie Gastprofessorin in Lahore, Gastdozentin an der Universitat Jaume I in Castellón und wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Hildesheim und Marburg. Gerlach, Julia ist Journalistin und Autorin des Buches „Wir wollen Freiheit. Der Aufstand der arabischen Jugend“, das 2011 im Herder Verlag erschien. Sie studierte Politik- und Islamwissenschaften in Berlin, Aix-enProvence und Alexandria und lebt in Kairo. Manea, Elham ist Privatdozentin, Autorin und Menschenrechtsaktivistin. Sie studierte Politikwissenschaften, erwarb einen Bachelor-Abschluss in Kuwait, einen Master an der American University in Washington und wurde 2001 in Zürich promoviert. Von 1990 bis 1993 war sie wissenschaftliche Assistentin an der Universität Sanaa und lehrt heute an der Universität Zürich. Schneider, Nadja-Christina ist Juniorprofessorin für Medialität und Intermedialität in den Gesellschaften Asiens und Afrikas an der HumboldtUniversität in Berlin. Sie studierte Indologie, Islamwissenschaft, Geschichte und Englische Philologie in Freiburg und Berlin und beendete ihre Promotion im Jahr 2005 in Berlin. Seit dieser Zeit lehrt und forscht sie an der Humboldt-Universität. Sons, Sebastian ist Chefredakteur der Zeitschrift „Orient“ und wissenschaftlicher Abteilungsleiter im Deutschen Orient-Institut. Er studierte Islamwissenschaft, Politikwissenschaft und Geschichte an der FU Berlin und arbeitet an einer Dissertation über pakistanische Arbeitsmigranten in SaudiArabien.
AUTORINNEN UND AUTOREN | 321
Schröter, Susanne ist Professorin für Ethnologie kolonialer und postkolonialer Ordnungen im Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Universität Frankfurt am Main. Von 2004 bis 2008 war sie Inhaberin des Lehrstuhls für Südostasienkunde an der Universität Passau, zuvor Gastprofessorin an der Yale University, den Universitäten Mainz, Trier und Frankfurt sowie Research Fellow an der University of Chicago. Zayed, Sonia studierte Orientalistik und Ethnologie in Göttingen und Frankfurt und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Universität Frankfurt. Sie forscht im Rahmen ihres Dissertationsvorhabens über Transformationen der gegenwärtigen tunesischen Geschlechterordnung.
Globaler lokaler Islam Schirin Amir-Moazami Politisierte Religion Der Kopftuchstreit in Deutschland und Frankreich 2007, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-410-2
Sabine Berghahn, Petra Rostock (Hg.) Der Stoff, aus dem Konflikte sind Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz (unter Mitarbeit von Alexander Nöhring) 2009, 526 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-959-6
Markus Gamper Islamischer Feminismus in Deutschland? Religiosität, Identität und Gender in muslimischen Frauenvereinen 2011, 354 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1677-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Globaler lokaler Islam Nilüfer Göle, Ludwig Ammann (Hg.) Islam in Sicht Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum 2004, 384 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-237-5
Irka-Christin Mohr, Michael Kiefer (Hg.) Islamunterricht – Islamischer Religionsunterricht – Islamkunde Viele Titel – ein Fach? 2009, 240 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1222-6
Abbas Poya, Maurus Reinkowski (Hg.) Das Unbehagen in der Islamwissenschaft Ein klassisches Fach im Scheinwerferlicht der Politik und der Medien 2008, 336 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-715-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Globaler lokaler Islam Heiner Bielefeldt Muslime im säkularen Rechtsstaat Integrationschancen durch Religionsfreiheit
Tabea Scharrer Narrative islamischer Konversion Biographische Erzählungen konvertierter Muslime in Ostafrika
2003, 146 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN 978-3-89942-130-9
Januar 2013, 404 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2184-6
Hans-Ludwig Frese »Den Islam ausleben« Konzepte authentischer Lebensführung junger türkischer Muslime in der Diaspora
Georg Stauth Ägyptische heilige Orte I: Konstruktionen, Inszenierungen und Landschaften der Heiligen im Nildelta: ’Abdallah b. Salam Fotografische Begleitung von Axel Krause
2002, 350 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-933127-85-3
Gerdien Jonker Eine Wellenlänge zu Gott Der »Verband der Islamischen Kulturzentren in Europa« 2002, 282 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-933127-99-0
Irka-Christin Mohr Islamischer Religionsunterricht in Europa Lehrtexte als Instrumente muslimischer Selbstverortung im Vergleich 2006, 310 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-453-9
Sigrid Nökel Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken. Eine Fallstudie 2002, 340 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-933127-44-0
Mechthild Rumpf, Ute Gerhard, Mechtild M. Jansen (Hg.) Facetten islamischer Welten Geschlechterordnungen, Frauen- und Menschenrechte in der Diskussion
2005, 166 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-260-3
Georg Stauth Ägyptische heilige Orte II: Zwischen den Steinen des Pharao und islamischer Moderne. Konstruktionen, Inszenierungen und Landschaften der Heiligen im Nildelta: Fuwa – Sa al-Hagar (Sais) Mit ägyptologischen Studien von Silvia Prell. Fotografische Begleitung von Axel Krause 2008, 246 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-432-4
Georg Stauth Ägyptische heilige Orte III: Der Manzala-See bei Port Said und der Heilige der Fischer. Konstruktionen, Inszenierungen und Landschaften der Heiligen im Nildelta: Abû al-Wafâ‘ Fotografische Begleitung von Axel Krause 2010, 162 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1200-4
2003, 319 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-153-8
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