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German Pages 240 Year 2014
Annika McPherson, Barbara Paul, Sylvia Pritsch, Melanie Unseld, Silke Wenk (Hg.) Wanderungen
Band 8
Editorial Die weltweiten Transformationen der Geschlechterverhältnisse und Bedeutungszuschreibungen an »Geschlecht« zeigen widersprüchliche Entwicklungen, Kontinuitäten und Wandlungen. Die Veränderung alter und die Konturierung neuer Segmentationslinien stehen in einem komplexen Spannungsverhältnis zueinander. Die Reihe Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung stellt regelmäßig neuere Untersuchungen in diesem Themenbereich vor. Dabei wird der Breite möglicher Zugangsweisen Rechnung getragen: Natur-, technik-, sozial- und kulturwissenschaftliche Sichtweisen werden miteinander verknüpft und die Ansätze verbinden die strukturierende Bedeutung der Kategorie »Geschlecht« systematisch mit der Wirkung anderer sozialer Differenzlinien wie »Klasse«, »Ethnizität«, »Rasse« und »Generation«. Die Schriftenreihe gibt Perspektiven Raum, in denen die radikale Infragestellung der heterosexuellen und auf Zweigeschlechtlichkeit basierenden gesellschaftlichen Ordnung im Zentrum steht und zugrunde liegende Machtverhältnisse reflektiert werden. Ziel der Reihe ist es, wissenschaftliche Beiträge zu publizieren, die Fragen nach Geschlechterkonstruktionen und Geschlechterverhältnissen in Kultur, Gesellschaft und Wissenschaft aufgreifen und Impulse für weitere Auseinandersetzungen geben. Angesprochen werden sollen alle an Themen der Frauen- und Geschlechterforschung Interessierten aus dem universitären und weiteren wissenschaftlichen Umfeld – Studierende, Lehrende und Forschende. Zugleich sind die Publikationen auch für jene Praxiskontexte interessant, die sich kritisch mit der geschlechterbezogenen Verfasstheit von Kultur, Technik, Wissenschaft und Gesellschaft auseinandersetzen. Die Reihe wird herausgegeben von den Forschungseinrichtungen »Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung« der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg (ZFG) und »Zentrum Gender Studies« der Universität Bremen (ZGS).
Annika McPherson, Barbara Paul, Sylvia Pritsch, Melanie Unseld, Silke Wenk (Hg.)
Wanderungen Migrationen und Transformationen aus geschlechterwissenschaftlichen Perspektiven
Diese Publikation wurde gefördert vom Deutschen Akademikerinnenbund e.V. (Berlin)
sowie von der Mariann Steegmann Foundation.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2013 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlaggestaltung und Abbildung: Matthias Krispin Redaktion: Sylvia Pritsch Korrektorat: Cornelia Sonnleitner, Bochum Satz: Annika McPherson Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2220-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Wanderungen von Menschen, Dingen und Konzepten aus geschlechterwissenschaftlichen Perspektiven. Einleitung | 7
W ANDERUNGEN VON BEGRIFFEN UND KONZEPTEN Visuelle Migrationen der Hottentotten-Venus: Zum Entwurf einer Forschungsperspektive
Kerstin Brandes | 19 Same Same But Different: Intimmodifikationen zwischen Zwang und Selbstbestimmung
Anna-Katharina Meßmer | 35 Versklavung, Schwarze Feministische Kritik und die Epistemologie der Gender Studies
Sabine Broeck | 51 T RANSFORMATIONEN DURCH W ANDERUNGSPROZESSE Zwischen Ausbeutung und Empowerment? Genderspezifische Handlungsmacht von Maquiladora-Arbeiterinnen in Nordmexiko
Miriam Trzeciak/Elisabeth Tuider | 71 Mobilität und Geschlecht in der Prähistorischen Archäologie – oder: Wer ist am Kulturkontakt beteiligt?
Julia Katharina Koch | 89 Europäische Netzwerke, Gender und Kulturpolitik. Christina von Schweden als Förderin der Musikkultur in Rom
Katrin Losleben | 105
Die ›Wanderung‹ zwischen Migration und Spaziergang: Performanzen der Ent-Konturierung von ›Heimat‹ und ›Fremde‹ in Erzähltexten weiblicher Autoren der Gegenwartsliteratur
Miriam Kanne | 119 Geschlecht und globaler Bildraum: Virtuelle Wanderungen und Wandlungen im Werk von Miao Xiaochun
Isabel Seliger | 135 Cyberspace: Mobile Räume für mobile Menschen? Epistemologische Überlegungen im Spannungsfeld von Geschlecht, Migration und ICT
Waltraud Ernst | 151 POLITIKEN DER NORMALISIERUNG Keep it in the Closet? Flüchtlingsanerkennung wegen Homosexualität
Nora Markard/Laura Adamietz | 169 Europäische Migrationspolitik aus gendertheoretischer Perspektive: Eine ethnografische Analyse des AntiTrafficking-Dispositivs
Sabine Hess | 185 Zur Bedeutungsverschiebung des Biologischen: Queere und feministische Kritik an der Normativität der ›neuen‹ Familie mit The Kids Are All Right (USA 2010) und First Person Plural (USA 2000)
Anja Michaelsen | 201 Die Kunst der Migrationen
Nanna Heidenreich | 217 Autorinnen und Herausgeberinnen | 231
Wanderungen von Menschen, Dingen und Konzepten aus geschlechterwissenschaftlichen Perspektiven. Einleitung
Menschen, Dinge und Konzepte sind weltweit in Bewegung geraten. Bewegungen, die durch eine global werdende Ökonomie, durch neue Technologien der Informationsübermittlung und des Transports und nicht zuletzt durch die unzähligen regionalen und internationalen Kriege zunehmen. Diese Migrationsprozesse neuen Ausmaßes werden ebenso kritisch und ängstlich wie fasziniert beobachtet. Durch diese Prozesse verändern sich reale und imaginäre Räume, sie öffnen sich, gehen verloren oder werden neu geschaffen. Menschen, die sich bislang in sicheren Territorien und innerhalb von Grenzen geschützt wähnten, sehen sich zum Teil dadurch bedroht. Zugleich fühlen sich viele durch Wanderungen kultureller Artefakte, Dinge, Bilder, Töne aus anderen Kulturen angeregt und bereichert. Die Zirkulation von Waren, Technologien, Informationen und vielem mehr scheint, forciert durch ökonomische Interessen, keine Grenzen mehr zu kennen. Der Imperativ der Mobilität ruft indes zugleich Gegenbewegungen hervor: Entschleunigung, der Wunsch nach ›Heimat‹, ›Auszeiten‹ und auch das Wandern im wörtlichen Sinne scheinen stetig an Attraktivität zu gewinnen. Hybridisierungen und Fremdheitserfahrungen rufen allerdings nicht selten Sehnsüchte nach Eindeutigkeit und vermeintlich Vertrautem hervor. Andererseits können Herausforderungen, die durch eine Befremdung des Eigenen, des sicher und unhinterfragbar Geglaubten entstehen, neue Perspektiven der Kritik eröffnen. Im Feld der Wissenschaft lassen Wanderungen von Begriffen und Konzepten, die sowohl zwischen Disziplinen als auch Kulturen stattfinden, weder die jeweiligen Wissensfelder noch die Begriffe unverändert. Begriffe zirkulieren
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nicht nur zwischen Natur- und Sozial-, Technik- und Kulturwissenschaften, sie versprechen darüber hinaus, die Kluft zwischen verschiedenen Regionen und Kulturen der Welt zu überbrücken. Wanderungen von Begriffen und Konzepten schaffen interdiskursive Bezüge zwischen verschiedenen Diskursformationen; sie können aber auch Differenzen unsichtbar werden lassen.1 In der vorliegenden Publikation werden die vielfältigen Formen von Wanderungen, Überkreuzungen und Transformationen als geschlechtlichte und vergeschlechtlichende Prozesse erörtert. Angesichts der Vielfalt dieser Bewegungen stellt sich die Frage, welche politischen Dimensionen und Konsequenzen von Migrationen und Transformationen aus geschlechterwissenschaftlichen Perspektiven zu diskutieren sind und wie sie analysiert werden können. Welche Auswirkungen lassen sich auf Geschlechterverhältnisse sowie auf Begriffe von Geschlecht bzw. Gender beobachten? Inwiefern lassen sich Migrationen mit ihren Begegnungen zwischen Vertrautem und Fremdem als vergeschlechtlichte und vergeschlechtlichende Prozesse verstehen? Die Leitfragen dieses Bandes basieren auf einem bewusst breit gehaltenen Begriff von »Wanderung«, der, anders als in bisherigen Publikationen zum Thema, nicht nur die Migration von Menschen, sondern auch von kulturellen Artefakten – Bilder, Musik und andere Objekte – sowie Ideen und Konzepten gemeinsam in den Blick nimmt.2 Die Begriffe Geschlecht/Gender und Wanderung/Migration bilden Anknüpfungspunkte für interdiskursive Bezüge zwischen den Beiträgen aus einem breiten fachlichen Spektrum – aus Kunst-, Musik-, Literatur- und Kulturwissenschaften, Soziologie, Politik- und Rechtswissenschaft, Prähistorische Archäologie, Asienwissenschaften sowie der Feministischen Naturwissenschafts- und Technikkritik, wobei die einzelnen Beiträge wiederum in ihrem inter- und transdisziplinären Zugang herkömmliche Disziplingrenzen über-
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Vgl. zur Wanderung von Begriffen und Konzepten Said (1983), Bal (2002). Die überwiegende Zahl der deutschsprachigen Publikationen zum Thema untersucht die Migration von Menschen (siehe z.B. Lutz 2009). Einen Fokus auf travelling concepts innerhalb der Gender Studies, vor allem bezogen auf das Wandern von Begriffen zwischen »Ost« und »West«, legt der Band Travelling Gender Studies: Grenzüberschreitende Wissens- und Institutionentransfers von Binder et al. (2011); ebenfalls zu West-Ost-Bewegungen von Theorien, allerdings ohne GenderSchwerpunkt siehe Hüchtker et al. (2011). Außerdem existieren vereinzelt Studien zu Migrationen im Kontext von Literatur, Bildender Kunst, Materieller Kultur, übergreifende Studien jedoch nicht.
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schreiten.3 Auf diese Weise fungieren Gender und Migration als »intersubjektives Werkzeug«,4 insofern die Konzepte auch selbst in ihrer unterschiedlichen Verknüpfung in verschiedenen Kontexten in Bewegung gesetzt werden und eine beständige Neubefragung bewirken. Der Band fasst Vorträge zusammen, die auf der 2. Jahrestagung der Fachgesellschaft Geschlechterstudien/Gender Studies Association (Gender e.V.), ausgerichtet vom Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZFG) der Carl von Ossietzky Universität, präsentiert und diskutiert wurden (ergänzt um die Beiträge von Broeck, Ernst und Losleben). Die Beiträge sind in drei Abschnitten zusammengefasst, die sich dem Thema unter verschiedenen Gesichtspunkten nähern: Wanderungen von Begriffen und Konzepten, Transformationen durch Wanderungsprozesse und Politiken der Normalisierung. Gleichwohl gibt es wichtige inhaltliche Querverbindungen zwischen den Abschnitten, denn die Erörterung der Frage, warum und auf welche Art und Weise Konzepte wandern, ist Gegenstand aller Beiträge ebenso wie die Analyse und Kommentierung damit verbundener Transformationen. Wanderungen von Begriffen und Konzepten: Das Phänomen von wandernden Begriffen und sich kreuzenden Theorien überschreitet zeitliche ebenso wie nationale oder kulturelle Grenzen. Dass es sich insbesondere im Austausch zwischen ›erster‹ und ›dritter‹ Welt keineswegs um geradlinige Bewegungen handelt, sondern verschlungene »Feedback-Schleifen«, ambivalente Aneignungs- und Widerstandsformen wirksam werden, wurde bereits Ende der 1980er Jahre thematisiert (Clifford 1989). Aktuell zeigt sich dies in konkreten Wanderungsbewegungen verschiedener Konzepte und Bilder zwischen Afrika und Europa, welche in den Beiträgen dieses Abschnitts vorgestellt werden. Eine genderpolitische Herausforderung stellt der Umgang mit der Aneignung einer kolonialen Figur in der (süd-)afrikanischen Populärkultur dar, die Kerstin Brandes in ihrem Beitrag »Visuelle Migrationen der Hottentotten-Venus: Zum
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›Transdisziplinarität‹ verstehen wir als disziplinübergreifende Herangehensweise, die nicht nur Problemstellungen behandelt, die sich zwischen bestimmten Disziplinen bewegen (Interdisziplinarität), sondern auch solche, die sich der disziplinären Zuordnung entziehen, sowie als »epistemologisches Projekt, das die hegemonialen Bedingungen von Wissenserzeugung kritisch reflektiert« (Walgenbach et al. 2007: 20). Dazu gehört notwendigerweise auch, bestehende disziplinäre Differenzen nicht auszublenden, sondern kritisch zu reflektieren. »Concepts are tools of intersubjectivity: They facilitare discussion on the basis of a common lnaguage« (Bal 2002: 22).
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Entwurf einer Forschungsperspektive« an der Schnittstelle zwischen Migrations- und Bilddiskursen vorstellt. Während die Geschichte von Saartjie Baartmann als paradigmatisch für koloniale Verfügbarmachung des schwarzen weiblichen Körpers gilt, erscheint ihr Bild aktuell im Internet als sexualisiertes Objekt und Rollenmodell. Um die Vielschichtigkeit des Phänomens nicht aus den Augen zu verlieren, soll, so das Plädoyer der Autorin, die Figur als Produkt von Bildwanderungen analysiert werden, die je nach Kontext unterschiedliche Formen von Normalisierungen vornimmt. Anna-Katharina Meßmer thematisiert in ihrem Beitrag »Same Same But Different: Intimmodifikationen zwischen Zwang und Selbstbestimmung« die im westlichen medizinischen Diskurs verdrängten Praktiken von Intimchirurgie bei Frauen. Durch die Gegenüberstellung der Zuschreibungen von »Verschönerung« versus »Verstümmelung« in diesen Diskursen werden Ähnlichkeiten zwischen westlich-europäischen und afrikanischen Praktiken strikt negiert. Meßmers Untersuchung weist auf die Verflechtung von kolonialen, medizinischen und (menschen-)rechtlichen Diskursen, in denen ein rassistisches Othering im Dienste der westlichen Selbstlegitimation produziert wird. Für die Einwanderung dekolonialisierender Konzepte und Schreibweisen aus dem Schwarzen Feminismus in die aktuellen westlich-weißen Gender Studies plädiert schließlich Sabine Broeck in »Versklavung, Schwarze Feministische Kritik und die Epistemologie der Gender Studies«. Ihr Beitrag zeichnet Stationen der literarischen Bearbeitung des Bewusstwerdungsprozesses Schwarzer Autorinnen nach und kommt zu dem Schluss, dass Sklaverei nicht allein als Determinante von Subjektivitäten kolonisierter Völker verstanden werden darf, sondern ebenfalls als konstitutiver Bestandteil westlicher Subjektivität aufgezeigt werden sollte. Alle drei Beiträge des ersten Abschnitts weisen auf das Fortwirken kolonialer Wissens- und Handlungsstrukturen hin, die zum Teil an unerwarteter Stelle wirksam werden. Um ihnen adäquat zu begegnen, erfordern sie Perspektivverschiebungen bis hin zu entschiedenen Gegenstrategien. Transformationen durch Wanderungsprozesse: Von kollektiven wie individuellen Veränderungen durch konkrete Migrationsbewegungen quer durch die Jahrhunderte berichten die Beiträge des zweiten Abschnitts. Zugleich wird gezeigt, wie die Einführung von Gender als Kategorie zu Umwertungen in dem jeweiligen Forschungsfeld führt bzw. eine Neubewertung auch feministischer Grundannahmen nötig macht.
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Julia Katharina Koch stellt die zentrale Rolle von Mobilität als Mittel des Kulturkontaktes und damit der Kulturveränderung in der Prähistorischen Archäologie heraus. Sie zeigt in dem Beitrag »Mobilität und Geschlecht in der Prähistorischen Archäologie – oder: Wer ist am Kulturkontakt beteiligt?«, wie sich die Perspektive auf Mobilität durch Ansätze der Geschlechterforschung transformiert hat, so dass herkömmliche Theorien, die Mobilität allein dem männlichen Geschlecht zuordneten, grundlegend revidiert werden mussten. Zugleich wird deutlich, dass die archäologische Methodik – wie etwa die Knochenanalyse – auch eine Herausforderung an das Gender-Konzept darstellt. Katrin Losleben führt mit ihrem Beitrag »Europäische Netzwerke, Gender und Kulturpolitik: Christina von Schweden als Förderin der Musikkultur in Rom« in musikkulturelle Wanderungsbewegungen der Frühen Neuzeit ein. Mit ihrer soziopolitischen Lektüre des Lebens und der Handlungsweisen der schwedischen Königin als Musikpatronin zielt Losleben auf eine Umwertung musikhistorischer Darstellungen ab, so dass die Verhaltensweisen der Aristokratin nicht als Machtverzicht, sondern als deren Aneignung im kulturpolitischen Rahmen lesbar werden können. Um eine Neubewertung innerhalb des gendertheoretischen Kontextes geht es im Beitrag von Miriam Trzeciak und Elisabeth Tuider, die mit »Zwischen Ausbeutung und Empowerment? Genderspezifische Handlungsmacht von Maquiladora-Arbeiterinnen in Nordmexiko« Ergebnisse ihrer Feldforschung zur Situation von Maquiladora-Arbeiterinnen in Nordmexiko vorstellen. Sie kontrastieren die gängige Einschätzung der Arbeitsverhältnisse als ausbeuterisch und unterdrückend mit Selbsteinschätzungen von migrierten Arbeiterinnen, die diese Arbeitsform als durchaus positiv erlebten. Generalisierte Zuschreibungen als Opfer, wie sie sich im genderpolitischen Kontext etabliert haben, werden damit in Frage gestellt, ebenso wie der Begriff des »Empowerments« differenziert werden muss. Dass Grenzüberschreitungen, die mit Migrationen verbunden sind, auch als Chance erscheinen, mit tradierten (Geschlechter-)Normierungen zu brechen, zeigen auch die weiteren Beiträge. Miriam Kanne beleuchtet in »Die ›Wanderung‹ zwischen Migration und Spaziergang: Performanzen der EntKonturierung von ›Heimat‹ und ›Fremde‹ in Erzähltexten weiblicher Autoren der Gegenwartsliteratur« die dekonstruktiven Effekte der Literatur auf das Verständnis von »Heimat« und »Fremde«. Die Analysen ausgewählter Texte von Ingeborg Bachmann, Barbara Honigmann und Emine Özdamar zeigen eine doppelte Verschiebung in der literarischen Raumaneignung der Protago-
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nistinnen, insofern mit den räumlichen Grenzen auch die Geschlechterzuschreibungen überschritten werden. Die Befragung kultureller Grenzen im Bereich der Bildenden Kunst untersucht Isabel Seliger in ihrem Aufsatz »Geschlecht und globaler Bildraum: Virtuelle Wanderungen und Wandlungen im Werk von Miao Xiaochun«. Die Aneignung europäischer ›Meisterwerke‹ und ihre Transformierung im digitalen Bildraum durch den Medienkünstler Miao Xiaochun eröffnet einen visuellen Raum des transkulturellen Dialogs, und stellt, so die Lesart der Autorin, den privilegierten männlich-europäischen Blick sowie tradierte westliche Kunstund Geschlechterkonzepte in Frage. Die Frage nach Grenzüberschreitungen in digitalen Medien stellt auch Waltraud Ernst in ihrem Beitrag »Cyberspace: Mobile Räume für mobile Menschen? Epistemologische Überlegungen im Spannungsfeld von Geschlecht, Migration und ICT«. Sie führt Migrationsbewegungen innerhalb und außerhalb des digitalen Netzes zusammen und zeigt, wie sich Vorstellungen von Weiblichkeit, Personalität und Raum verändern müssen, um den vielschichtigen Phänomenen Rechnung tragen zu können. Älteren Utopien, die sich von neuen Kommunikationstechnologien generell eine Auflösung der Geschlechterhierarchie erhofften, stellt sie konkrete Erfahrungen und Maßnahmen aus dem Bereich der Informations- und Computertechnologie gegenüber. Die Beiträge dieses Abschnitts deuten nicht nur auf die Vielfalt verschiedener Transformationsprozesse durch die Geschichte, sondern zeigen auch, dass ihre Analyse eine – in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht – transkulturelle sowie transdisziplinäre Betrachtungsweise erfordert, um die Komplexität der Phänomene in den Blick zu bekommen. Politiken der Normalisierung: Dass Wanderungen und die Rede von Migration selbstverständlich nicht per se zum Abbau von Grenzziehungen und tradierten Normen führen, sondern sie im Gegenteil (re-)etablieren, fokussieren die Beiträge des letzten Abschnitts unter dem Gesichtspunkt der Normalisierung. Wie die Übertragung des europäischen Rechtsbegriffs auf außereuropäische Kontexte sich vom Anspruch, Schutz für Flüchtlinge mit nichtheteronormativen Lebensweisen zu bieten, in normierende Zuschreibungen verwandeln, zeigen Nora Markard und Laura Adamietz in »Keep it in the Closet? Flüchtlingsanerkennung wegen Homosexualität«. In »Europäische Migrationspolitik aus gendertheoretischer Perspektive. Eine ethnographische Analyse des Anti-Trafficking-Dispositivs« beschreibt Sabine Hess, wie Maßnahmen zum Schutz von migrierten Sexarbeiterinnen –
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an zentraler Stelle die feministische Anti-Trafficking-Kampagne, die inzwischen EU-weit verankert ist – ein negatives Bild »der Migrantin« als Opfer verfestigen, das wiederum auf mehreren Ebenen zur Legitimation und Verstärkung des europäischen Grenzregimes eingesetzt wird. Zu den eher unsichtbaren Formen von Migration gehört die transnationale Adoption, die Anja Michaelsen mit ihrem Beitrag »Zur Bedeutungsverschiebung des Biologischen. Queere und feministische Kritik an der Normativität der ›neuen‹ Familie mit The Kids Are All Right (USA 2010) und First Person Plural (USA 2000)« thematisiert. Auch sie weist darauf hin, dass feministische Überzeugungen womöglich die intendierten Ziele konterkarieren, wenn das Postulat von der Nachrangigkeit leiblicher gegenüber sozialer Mutterschaft Machthierarchien negiert, die im Kontext transnationaler Adoptionen und aktueller Reproduktionstechnologien wirksam werden. Abschließend knüpft Nanna Heidenreich mit ihrem Beitrag »Die Kunst der Migrationen« auf einer metatheoretischen Ebene an die Frage nach dem Potenzial von ›Migration‹ als grenzüberschreitendes oder begrenzendes und normalisierendes Konzept an. Sie unterzieht die »Perspektive der Migration« in Verknüpfungen zwischen Kunst- und Migrationsdiskursen und künstlerischen Praktiken einer kritischen Lektüre. Zentral ist hier die Frage nach dem theoretisch-methodischen Status des Begriffs der Migration sowie seiner politisierenden oder depolitisierenden Konsequenzen. Die besondere Herausforderung auch für Gender/Queer Studies manifestiert sich für Heidenreich darin, Strategien der »Unwahrnehmbarkeit« auszuloten. Deutlich wird aus den Beiträgen dieses Abschnitts, dass vermeintlich eindeutige geschlechterpolitische Forderungen angesichts der sich unter aktuellen Migrationsbedingungen verändernden Voraussetzungen regelmäßig überdacht werden müssen, um neue Arten und Weisen der Normalisierung nicht aus dem Blick zu verlieren. Wanderungsbewegungen von Konzepten und Begriffen, das belegen die Beiträge im Einzelnen wie in ihrer Zusammenschau, weisen eine hohe Ambivalenz auf, die zugleich zu Analysen en détail als auch zu transdisziplinären Perspektiven auffordert. Wanderungen von Begriffen zwischen Kulturen können sowohl der Überbrückung von Differenzen dienen, wie vor allem in den Beiträgen des zweiten Abschnitts deutlich wird, als auch zugleich zur Sicherung eben dieser Differenz eingesetzt werden, wie die Beiträge des ersten und dritten Abschnitts zeigen. Das impliziert auch, dass die Frage nach universaler oder partikularer Gültigkeit von Werten nicht allein an einzelnen Begriffen
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oder Phänomenen entschieden werden kann, sondern darüber hinaus der Blick auf den historisch-kontextuellen Zusammenhang gerichtet werden muss. Das gilt ebenfalls für die Frage nach der Bewertung grenzüberschreitender Bewegungen. Wann diese Bewegungen Normen auflösen oder verfestigen, kommt hier aus verschiedenen Perspektiven in den Blick, die sich durchaus widerstreiten können und umso mehr den transdisziplinären Dialog herausfordern. Denn gerade in der interdisziplinären Zusammenschau werden bei der Verstärkung und Verschiebung normierender Grenzsetzungen Parallelen deutlich, ebenso wie bei der Durchsetzung westlich-europäischer Dominanz in Wissenschaft, Kunst und Politik. Und nicht zuletzt treten auf diese Weise auch (durchaus unerwartete) Gegenbewegungen zutage, die Anlass geben, die kritische Reflexion über Normierungen und Hegemonien ihrerseits zu analysieren. Explizit für die Konzepte von Migration, Empowerment, Opferstatus etwa wird ein Überdenken eingefordert, damit emanzipatorische Interventionen sich nicht in ihr Gegenteil verkehren. Die Beiträge aller drei Abschnitte zeigen in ihrer Diversität, dass die unterschiedlichen ›Wanderungen‹ von Begriffen, Konzepten, Phänomenen, die sowohl zwischen Disziplinen als auch Kulturen stattfinden, weder das Wissensfeld der Geschlechterforschung noch ihre zentralen Begriffe unberührt lassen. Sie bieten dabei auch Anlass, die Genderforschung weiter in ihrer Inter- und Transdisziplinarität zu stärken, auch und gerade dort, wo sie bislang noch wenig verankert ist. Annika McPherson, Barbara Paul, Sylvia Pritsch, Melanie Unseld, Silke Wenk
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D ANK Wir bedanken uns zunächst herzlich bei allen, die zum Gelingen des Symposiums im Rahmen der 2. Jahrestagung der Fachgesellschaft Geschlechterstudien/Gender Studies Association (Gender e.V.) beigetragen haben: Unser Dank gilt dabei vor allem dem Vorstand der Fachgesellschaft, der dem Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung/ZFG der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg zu unserer Freude die Ausrichtung der 2. Jahrestagung übertragen und diese auch finanziell unterstützt hat. Darüber hinaus erfuhren wir dankenswerterweise wichtige finanzielle Förderung durch die Universitätsgesellschaft Oldenburg (UGO) und die Fakultät III Sprach- und Kulturwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ohne die Mithilfe vieler, darunter vor allem Karola Gebauer, Jutta Jacob, Sara Stadler und Rena Onat, hätte das Symposium nicht stattfinden können, auch ihnen danken wir an dieser Stelle nochmals sehr herzlich. Die Drucklegung der Beiträge wurde dankenswerterweise finanziell unterstützt durch den Deutschen Akademikerinnenbund e.V. (DAB) und die Mariann Steegmann Foundation. Unser Dank gilt außerdem den Kolleg_innen des Zentrums Gender Studies/ZGS der Universität Bremen, die als Mitherausgeber_innen der Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung die Aufnahme des vorliegenden Buches in die Reihe begrüßt haben. Unser Dank gilt ferner dem transcript Verlag und dort vor allem Stefanie Hanneken für die geduldige und kompetente Betreuung unseres Publikationsprojekts. Last but not least danken wir allen Autor_innen, dass sie ihre Texte mit vielen spannenden und wichtigen Argumentationen für die vorliegende Publikation zur Verfügung stellten und hier gemeinsam mit uns veröffentlichen.
E DITORISCHE N OTIZ Da die Verwendung unterschiedlicher Formen der Personenbezeichnung gerade im Kontext der Geschlechterforschung stark von persönlichen und politischen Präferenzen abhängt, haben wir deren Gebrauch den Autor_innen, AutorInnen, Autorinnen und Autoren überlassen, so dass sich in den einzelnen Beiträgen unterschiedliche Formen finden.
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L ITERATUR Bal, Mieke (2002): Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide (Green College Lectures), Toronto: University of Toronto Press. Binder, Beate/Kerner, Ina/Kilian, Eveline/Jähnert, Gabriele/Nickel, HildegardMaria (Hg.) (2011): Travelling Gender Studies: Grenzüberschreitende Wissens- und Institutionentransfers, Münster: Westfälisches Dampfboot. Clifford, James (1989): »Notes on Travel and Theory«, in: Inscriptions 5 (Traveling Theories, Traveling Theorists), James Clifford/Dhareshwar, Vivek (Hg.), Center for Cultural Studies, University of California Santa Cruz, http://www.culturalstudies.ucsc.edu/PUB5/Inscriptions/Vol_5/clif ford.html [20.11.2012]. Hüchtker, Dietlind/Kliem, Alfrun (Hg.) (2011): Überbringen – Überformen – Überblenden: Theorietransfer im 20. Jahrhundert, Köln/Wien: Böhlau. Lutz, Helma (2009): Gender Mobil? Geschlecht und Migration in transnationalen Räumen, Münster: Westfälisches Dampfboot. Said, Edward W. (1983): »Traveling Theory«, in: The World, the Text, and the Critic, Cambridge, Mass: Harvard University Press, S. 226-247. Walgenbach, Katharina/Hornscheidt, Antje/Dietze, Gabriele /Palm, Kerstin (2007): Gender als interdependente Kategorie: neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen: Barbara Budrich.
Wanderungen von Begriffen und Konzepten
Visuelle Migrationen der Hottentotten-Venus: Zum Entwurf einer Forschungsperspektive 1 K ERSTIN B RANDES
Seit den 1980er Jahren ist die Afrikanerin, die 1810 unter dem Namen Saartjie Baartman2 von der südafrikanischen Kap-Region nach Europa gebracht und als Hottentotten-Venus bekannt wurde, ein vielbearbeitetes Thema und eine oft zitierte Referenzfigur kultur- und wissenschaftshistorischer, postkolonial und gendertheoretisch fokussierter Forschung sowie künstlerischer Auseinandersetzungen. Das historische Interesse an ihrer Person begründete sich in einer so diagnostizierten Steatopygie3 und in der Annahme, sie hätte übergroße Labien – die sogenannte Hottentotten-Schürze. Beides wurde in den zeitgenössischen Rassisierungsdiskursen als anatomisches Charakteristikum der Hottentotten-Frau und, damit verknüpft, als Zeichen degenerierter Sexualität diskutiert, worüber wiederum rassische Minderwertigkeit bewiesen werden sollte. Die gegenwärtige Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf die nur bruchstückhaft gesicherte Biografie der historischen Person, auf die Frage nach der Konstruktion der Figur in zeitgenössischen wie auch aktuellen Texten und Bildern sowie auf die Herausarbeitung ihres Ortes bzw. ihrer Funktion(en) im
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Der Beitrag basiert auf zwei früheren Texten (Brandes 2011a; Brandes 2011b). Ihr tatsächlicher Geburtsname ist nicht bekannt. Sie wurde/wird u.a. auch Saatje, Sarah oder Sara genannt, als Nachname auch Bartmann oder Baartmann. Ich werde im Folgenden die Benennungen der jeweiligen Referenztexte übernehmen. Das ist eine Fettablagerung am Gesäß, alltagssprachlich Fettsteiß genannt.
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Kontext von Diskursen des Othering, für die sie umgekehrt auch als veranschaulichendes Beispiel eingesetzt wird.4 Mit ihrer Migration nach Europa und der Präsentation als HottentottenVenus wurde Saartjie Baartman zum Gegenstand vielfältiger und geradezu multimedialer Bild-, Kultur- und Wissensproduktion. Sie wurde erst in London, dann in Paris öffentlich zur Schau gestellt, dort zum wissenschaftlichen Forschungsobjekt für Georges Cuvier, den Begründer der vergleichenden Anatomie und zoologischen Taxonomie, und nach ihrem Tod um die Jahreswende 1815/16 schließlich auch zum Museumsexponat. Es gab Ausstellungsplakate sowie wissenschaftlich intendierte Zeichnungen und Berichte, Zeitungsartikel und Pamphlete, Lieder und Gedichte, ein Vaudeville-Theaterstück, Karikaturen und satirische Zeichnungen. Gegenwärtige Thematisierungen finden sich ebenfalls in nahezu der gesamten Breite derzeitiger Genres und Medien, in akademischen Texten ebenso wie künstlerischen Arbeiten.5 Mit der einhergehenden Verwendung des historischen Bildmaterials – sei es als Bild der Erinnerung oder historischer Beweis, als Objekt der Analyse, als Illustration oder Blickfang in Büchern und Artikeln, auf Buchdeckeln und Websites, als Zitat oder Collagematerial in künstlerischen Arbeiten oder Filmen – sind sowohl Bedeutungsverschiebungen und Umcodierungen als auch Kontinuitäten feststellbar. Gleichermaßen verweisen die historischen Bilder auf ikonografische Tradierungen und Vor-Bilder, die Eingang in die jeweiligen Inszenierungen gefunden haben, und insofern darauf, dass diese nicht voraussetzungslos waren und die historische Saartjie Baartman, einschließlich ihrer Performance als Hottentotten-Venus, in ein Bild eingepasst wurde, das ihr bereits vorausging. Ich möchte die Auseinandersetzung mit der Figur der Hottentotten-Venus, deren bekannteste, aber nicht einzige Personifikation Saartjie Baartman darstellt, als Frage nach visuellen Migrationen perspektivieren, womit die Schnittstelle zwischen Migrations- und Bilddiskursen bezeichnet sein soll. Visuelle Migrationen meint, zwei Bewegungen in Korrespondenz zu betrachten: 4
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Zur Problematik dieses biografischen Erzählens sowie eines verschobenen Rassismus und Sexismus vgl. Brandes 2004; das Bedürfnis, eine kohärente Geschichte zu erzählen, kollidiert mit der fragmentarischen und unsicheren Datenlage. Zu Letzterem vgl. auch bereits Sharpley-Whiting 1999. Ein Beispiel ist der Spielfilm Vénus Noire (F 2010) des französisch-tunesischen Regisseurs Abdellatif Kechiche, der bei den 67. Internationalen Filmtagen 2010 in Venedig vorgestellt wurde. Zu neueren Buchpublikationen gehören Willis 2010, eine Anthologie bereits auch andernorts veröffentlichter Beiträge, und Ritter 2010. Für ausführliche Bibliografien zum Thema siehe z.B. ebd., Willis 2010 oder http://carlagirl.net/artists-links/hottentot-venus-bibliography [23.03.2011].
V ISUELLE M IGRATIONEN
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auf der einen Seite, wie Migrantinnen und Migranten sowie Migration als spezifische Bewegung von Menschen ins Bild gesetzt werden, welche Ikonografien und Darstellungskonventionen zum Tragen kommen; und auf der anderen Seite, wie Migrationen als Bewegung im Feld des Visuellen beschreibbar werden als Formen der Wanderung, des Zirkulierens von Bildern, Motiven, Darstellungsweisen und (ihren) Bedeutungen – dem also, was wann, wie, wo und wem zu sehen gegeben wird; das schließt immer auch das ein, was unsichtbar bleibt oder gemacht wird, insofern es das Sichtbare mit bestimmt. Mein Anliegen ist es, die Figur der Hottentotten-Venus als ein stereotypisiertes und zugleich auch fortlaufend modifiziertes Produkt komplexer und immer wieder unübersichtlich werdender Bildwanderungen herauszuarbeiten. Diese Fokussierung scheint sinnvoll, weil die Figur der Hottentotten-Venus ein einschlägiges Beispiel für Prozesse der Bildfindung und der Bildzirkulation darstellt, die als solche von der bisherigen Forschung aber weitgehend unbenannt geblieben sind. Diese Prozesse verlaufen quer zu Medien, Genres und Disziplinen, quer zu Künsten, Popularkulturen und Wissenschaften. Sie lassen sich zurückverfolgen bis in die Zeit um 1500, sie sind historisch verknüpft mit einer Geschichte des Reisens, des Handels und der Kolonisierung mit all ihren ausbeuterischen, rassistischen und sexistischen Strukturen und Praktiken, und sie waren mit der Rückführung der sterblichen Überreste von Saartjie Baartman nach Südafrika im Jahr 2002 keineswegs abgeschlossen. Auch aktuelle Produktionen greifen auf historische Bilder der HottentottenVenus zurück, zitieren oder setzen sie neu ein. Eine bildwissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung, die diese als ihrerseits Bedeutung produzierende Zeichengefüge analysiert und etwa die Bedeutungsverschiebungen und deren diskursive Konsequenzen herausarbeitet, wie sie mit Ent- und Neukontextualisierungen oder mit Veränderungen an den Bildern selbst einhergehen, hat bisher kaum stattgefunden.6 Gefragt ist damit nach medialen Gebrauchsweisen sowie nach der Strukturierung und den Funktionsweisen eines kulturellen Bildrepertoires, einem historisch generierten Archiv, in dem ›faktische‹ Bilder und Vorstellungsbilder 6
Vielfach sind es künstlerische Arbeiten, die reflektiert und dekonstruierend mit den historischen Bildern umgehen; vgl. dazu z.B. Brandes (2004) sowie Brandes (2010: 127-182). Ritter (2010) setzt sich zwar auch mit historischem wie aktuellem Bildmaterial auseinander, allerdings definiert sie weder ihren Bildbegriff noch finden die einschlägigen Forschungen kunsthistorischer bzw. bildwissenschaftlicher Genderforschung zu Körper- und vor allem Weiblichkeitsbildern als Repräsentationen struktureller Gewalt Eingang in ihre Arbeit.
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einander wechselseitig beeinflussen und hervorbringen.7 Genauer müsste man von einem transkulturellen Bildrepertoire sprechen, insofern – wie etwa Michiko Mae und Britta Saal zusammengefasst haben – »Kultur […] immer Transkultur [ist] in dem Sinne, dass sie eben nicht eine abgeschlossene Einheit ist, sondern durch Austausch, Auseinandersetzung, Durchdringung etc. geprägt ist« (Mae/Saal 2007: 10). Dieses (trans-)kulturelle Bildrepertoire ist daran beteiligt, wie etwas gesehen und gedeutet wird, und wann welche Bilder wo und wofür eingesetzt werden oder werden können. So geht es etwa um die doppelte Frage, wie zum einen das, was als fremd erscheint oder stigmatisiert ist, durch Bildgebungsverfahren bzw. Bildfindungen angeeignet wird, die dieses Fremde in Mustern des Bekannten als ›fremd‹ fixieren; und zum anderen, dass die Bedeutungen, die Bildern, die von ›woanders‹ her kommen, gegeben werden, vor allem etwas über die ›eigene‹ Bildkultur aussagen (können). Prozesse des Zeigens, Sehens und Deutens, wie sie sich hier vollziehen, finden innerhalb von Machtverhältnissen statt, die (auch) entlang der Achsen von Geschlecht und Ethnizität organisiert sind. Hegemoniale Bildpolitiken setzen Bilder des Weiblichen als Platzhalter, als Spiegel und Projektionsfläche ein, um abstrakte Werte zu bezeichnen oder symbolische Ordnungen herzustellen, die darüber hinaus allzu oft mit einem Ausschluss realer Frauen verknüpft sind (Schade/Wenk 1995: 371). Bilder Schwarzer Weiblichkeit fungieren dabei als das ganz Andere, über das sich ein hegemoniales – männlich konnotiertes, Weißes – Subjekt, eine Weiße Gesellschaft konstituiert. Von besonderer Relevanz ist daher die quasi automatische, unbewusst vollzogene Präferenz bestimmter Bilder für bestimmte Zwecke, weil sie sich scheinbar selbstverständlich anbieten und aus sich selbst heraus verstehbar scheinen. Denn die sich damit vollziehende Naturalisierung von (Bild-)Bedeutungen in der angenommenen Unmittelbarkeit zwischen Abgebildetem und dem, was es abbilden bzw. wofür es stehen soll, betrifft Bilder des Weiblichen – und so auch die der Hottentotten-Venus – in besonderem Maße.
V OR -B ILDER
UND
K ONTEXTUALISIERUNGEN
Im europäischen Kontext von Freak-Shows, Kuriositätenkabinetten, ersten naturgeschichtlichen Museen und dem Aufstieg der Natur- und Humanwissen7
Zum Begriff des »kulturellen Bildrepertoires« siehe Silverman (1997); zum Konzept des kulturellen Gedächtnisses vgl. Wenk (2011).
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schaften um 1800 war die Spektakularisierung des ganz Anderen, des Unbekannten und Fremden – und so auch der Blick auf die Hottentotten-Venus – angesiedelt zwischen populärem Freizeitvergnügen, Volksbildung und Verwissenschaftlichung, zwischen voyeuristischer Schaulust und Wille zum Wissen. Die zeitgenössisch entstandenen Bilder der Hottentotten-Venus sind nicht einheitlich. Unterschiedliche Darstellungsweisen – z.B. hinsichtlich Pose, Kleidung, beigegebenen Attributen sowie der Ins-Bild-Setzung insgesamt – korrespondieren mit den jeweiligen Kontexten des zeitgenössischen Zu-SehenGebens, innerhalb derer und für die sie hergestellt wurden. So zeigt ein Ausstellungsplakat von 1810 neben der besonderen Betonung des Gesäßes die Figur mit allen Accessoires, die um 1800 das europäische Bild der Hottentotten bestimmten und als fremd markierten: Schaffell-Umhang (kaross) und eine Art Lendenschurz, Hirtenstab, sandalenähnliche Fußbekleidung, Kopfbedeckung und Pfeife (Abb. 1). Abbildung 1: Saartje, the Hottentot Venus, Plakat, London 1810.
Quelle: Bernth Lindfors (Hg.): Africans on Stage: Studies in Ethnological Show Business, Bloomington: Indiana University Press (1999: 28).
Das ganzfigurige Aquarellbild von Léon de Wailly (Abb. 2) hingegen gehört zu den Zeichnungen, die verschiedene Künstler während der von Georges Cuvier und zwei weiteren Wissenschaftlern im März 1815 veranstalteten Unter-
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suchung und Vermessung der Hottentotten-Frau im Pariser Jardin du Roi anfertigten. Abbildung 2: Léon de Wailly: Frontalansicht von Saartjie Baartman, der Hottentot Venus, 1815, Aquarellfarbe/Pergament, 48,3 x 33,5 cm.
Quelle: Deborah Willis/Carla Williams, The Black Female Body: A Photographic History, Philadelphia: Temple University Press (2002: 149).
Es war zur Dokumentation der körperlichen Spezifika im Dienste der anthropologischen Wissenschaft gedacht. Als solches auf eine Ähnlichkeit des Äußeren verpflichtet, sollte es die anatomisch-anthropologischen Beschreibungen der ›Andersartigkeit‹ von Saartjie Baartman visuell unterstützen, die hier zugleich stellvertretend für alle (weiblichen) Hottentotten steht. Die Unterschiede zwischen dem Plakat und der anthropologischen Zeichnung verweisen ebenso auf die Vor-Bilder, die jeweils aufgegriffen wurden. Das Bild der fremden Frau, das sie vorstellen, ist in beiden Fällen ein sehr
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europäisches. Das im Londoner Ausstellungsplakat eingeschriebene Bildrepertoire hat sich wesentlich Anfang des 16. Jahrhunderts herausgebildet. Das zeigt beispielsweise ein Vergleich mit dem Holzschnitt In Allago (1508; Abb. 3) von Hans Burgkmair d.Ä.: Das Hottentotten-Paar ist durch die Attribute als Nomaden und Fremde bezeichnet, während Bildaufbau und Pose der Figuren an Albrecht Dürers Adam und Eva (1504) erinnern (Strother 1998: 7f.). Abbildung 3: Hans Burgkmair d.Ä.: In Allago, 1508 (Holzschnitt, Illustration zu den Reisen des deutschen Kaufmanns Balthasar Springer, 1506).
Quelle: Bernth Lindfors (Hg.), Africans on Stage: Studies in Ethnological Show Business, Bloomington: Indiana University Press (1998: 5).
In der Analyse illustrierter europäischer Reiseberichte vom Kap der Guten Hoffnung seit der Frühen Neuzeit sowie der Nachverfolgung der Bilder – »their migration in space and time, their transformation into stereotypes« (Bassani/Tedeschi 1990: 158) – haben kunst- bzw. bildhistorische Forschungen die Entwicklung einer Ikonografie der Hottentotten herausgearbeitet, die
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auch die visuellen Repräsentationen der Saartjie Baartman bzw. der Hottentotten-Venus sowohl mit aufgenommen wie mit geprägt haben (Bassani/Tedeschi 1990; Strother 1998). Diese Ikonografie etablierte sich, wie Ezio Bassani und Letizia Tedeschi exemplarisch darlegen, vor allem entlang zweier ineinandergreifender Praktiken: zum einen durch die Übertragung bekannter und gewusster Bildmuster und Darstellungsweisen auf das Unbekannte, zum anderen durch das fortlaufende Kopieren einmal veröffentlichter Illustrationen von einem Buch in ein anderes, von einer Ausgabe in die nächste. Insofern ist diese Ikonografie also zutiefst europäisch codiert, sind die Hottentotten eine europäische Konstruktion, das Produkt eines weißen Blicks und zeitgenössischer Reproduktionstechnologien. Im historischen Verlauf modifizierte sie sich auch entsprechend der jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Umstände sowie der Effekte, die dies für den europäischen Blick auf die Anderen mit sich brachte. Diese visuellen Modifizierungen – von Fremdheit zu Wildheit und Bestialität, zu Trägheit, die durch die Pfeife bezeichnet ist, zur Figur des edlen Wilden bzw. zum Erotischen – wurden vor allem, wie Zoe S. Strother (1998) gezeigt hat, auf der Ebene der Geschlechterdifferenz, nämlich am Bild des Weiblichen ausgetragen. In der Aquarellzeichnung von Léon de Wailly (Abb. 2) bleibt mit der dezenten Andeutung von Standbein und Spielbein einerseits eine Referenz auf klassische Körperposen – und insofern auch idealisierende Körperbilder – erkennbar. Die Frontalität der Darstellung, zumal des Gesichts, deutet jedoch – ebenso wie auch die Profilansicht und eine auf demselben Format ausgeführte Mehrseitenansicht, die auf den weiteren Bildern zu sehen sind, – auf eine Inszenierungsweise, die sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mit der ethnografischen und der Verbrecher-Fotografie zum Standard für die Visualisierung und Katalogisierung des Anderen einer bürgerlichen Weißen Gesellschaft entwickelt haben sollte. Eines der gegenwärtig prominent zirkulierenden Bilder ist, neben Ausstellungsplakaten und einigen der satirischen Zeichnungen, der aus de Waillys Aquarell extrahierte Ausschnitt des Gesichts, welches, als Porträt, nun vornehmlich nicht auf den ethnografischen Typus, sondern auf die historische Person abhebt. In der Verwendung und Rezeption des Gesichtsausschnitts als ein eigenständiges Bild ist dieses in eine Bildkategorie transformiert, die seit der Renaissance einen Ort für die Vorstellung des Subjekts bedeutet, der Behauptung seiner Individualität und des Versprechens einer Dauerhaftigkeit
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über den Tod hinaus. Als kunsthistorische Gattung steht das Porträt im Spannungsfeld von Abbild und Ideal. Sein Ähnlichkeitsanspruch ist darauf angelegt, mit der äußeren Wiedererkennbarkeit zugleich den Charakter der/des Porträtierten nobilitierend zum Ausdruck zu bringen (Beyer 2002). Verfolgt man die Kontexte, innerhalb derer dieses Porträt der Saartjie Baartman auftritt, ergeben sich allerdings (auch) andere Konnotationen. Das Gesicht ziert beispielsweise Buchcover und übernimmt damit auch etwas von dem Ankündigungscharakter der historischen Ausstellungsplakate. Es ist auf der Homepage von Gamtoos Tourism zu sehen, wo unter »Other Attractions« auch »Sarah Bartman Grave« als Sehenswürdigkeit aufgeführt ist, hier mit kontrastierend schwarzem Hintergrund versehen, als Verweis auf eine lokale Berühmtheit.8 Desgleichen in der Übertragung in ein Wandbild in dem Ort Hankey im Gamtoos Valley, Südafrika, wo sich das Grab befindet.9 In der Online-Präsentation der Ausstellung Between Worlds. Voyagers to Britain 17001850 der National Portrait Gallery, 2007, erscheint das Porträt – vom Ausstellungstitel nahegelegt – einfach als das einer Reisenden aus fremdem Land, womit zugleich eine völlige Entpolitisierung stattfindet, insofern die zeithistorischen Umstände und Bedingungen ausgeblendet werden. Das Mitteilungsorgan des ANC, Sephadi, ein letztes Beispiel dieser höchst unvollständigen Auflistung, stellte es dem Bericht über die Rückführung – Sarah Bartmann Dignity Finally Restored – voran. Auf einer weiteren Abbildung in demselben Artikel erscheint es noch einmal, nunmehr im Zentrum eines Plakats zum südafrikanischen National Women’s Day.10 Zudem wurde es anscheinend von der südafrikanischen Regierung als Saartjie Baartmans »official national image« gewählt.11 In diesen letzten beiden Kontextualisierungen steht ihr Gesicht für alle südafrikanischen Frauen, und es wird zum allegorischen Gesicht der Nation.12
8
www.baviaans.net/index.php?page=page&menu_id=3&submenu_id=7 [31.03.2011]. 9 Abbildung in Crais/Scully (2009: 165). Dieses Bild wurde wiederum als Buchcover verwendet bei Ritter (2010). Für das Buchcover von Crais/Scully wurde das »Porträt« verwendet. 10 Sephadi, 20.09.2002, www.anc.org.za/show.php?id=2828 [31.03.2011]. 11 Das vermerkt Rachel Holmes in ihren beiden populärwissenschaftlichen und in Text und Bildmaterial nahezu identischen Büchern African Queen und The Hottentot Venus, einmal in Klammern gesetzt, einmal nicht, beide Male leider ohne Quellenangabe (Holmes 2007a: 89; Holmes 2007b: 144). 12 Zu Saartjie Baartman als allegorischer Figur vgl. Brandes (2004).
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In der Fokussierung des Gesichts, im Versuch der Nobilitierung, findet eine Vereinnahmung statt, insofern der historisch-kulturelle Kontext, auf den das ganzfigurige Aquarell von de Wailly durchaus verweist, entnannt wird. Der Versuch, Saartjie Baartman ein Gesicht zu geben, bewirkt dessen Ahistorisierung, und steht eher für das Begehren nach einer Projektionsfläche, die in diesem Bild der Dauer ihren Ort für das Nicht-Gewusste und Nicht-Sagbare sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart gefunden hat. Zur Diskussion steht damit die Ambivalenz des Porträts der Saartjie Baartman als Unterfangen einer retrospektiven visuellen Subjektkonstituierung und Symptom einer strukturellen Gewalt, die ein Versuch ist, die gewaltsame historische Situation zu verdrängen.
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IM
W EB 2.0
Die jüngsten Migrationen der Hottentotten–Venus ins und im Internet, die bisher keinerlei analytische Aufmerksamkeit gefunden haben, stellen eine neue Herausforderung auch an einen kritischen bildwissenschaftlichen Diskurs dar. In nochmals ganz besonderer Weise trifft dies auf das sogenannte Web 2.0 zu, welches seit seiner Instituierung 2005 ganz eigene Wanderwege ausgebildet hat. Internetforen und Weblogs stellen veränderte Möglichkeiten des Informationsaustauschs, der Kommunikation und Diskussion, Veröffentlichung und Teilhabe bereit. Doch, wie die Medienwissenschaftlerin Susanne Lummerding dargelegt hat, stehen an neue Medien und Medienkonstellationen geknüpfte Erwartungen zumeist »in deutlichem Gegensatz zu den tatsächlich beobachtbaren Praktiken und Effekten. So werden etwa Utopien einer Aufhebung sozialer, geografischer, ethnischer, gender-spezifischer, kultureller oder politischer Antagonismen konterkariert durch eine Reproduktion traditioneller dichotomer und hierarchischer Differenzen und antagonistischer Machtrelationen.«13 Das gilt auch in Bezug auf Bilder, und es betrifft auch Thematisierungen der Hottentotten-Venus bzw. der Saartjie Baartman in Foren und Blogs, die an Schnittstellen zwischen kulturellen Identitätsbehauptungen, Subjektivierungspraktiken und der Musik- bzw. Entertainment-Industrie angesiedelt sind. Es finden Bewegungen statt, die als neue Praktiken zwischen Wissenstechnik und Selbstmanagement (Reichert 2008) zugleich auch alte Geschichten weiter-
13 Lummerding (2005: 12). Hier war Web 2.0 noch kein Thema.
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führen. In Bezug auf zelebrierende Äußerungsformen einer von Hiphop und Rap geprägten – US-amerikanischen – Schwarzen Kultur, die sich offensiv in festgefügten Bildern heterosexueller Geschlechterbinarität inszeniert, findet eine Überlagerung der Hottentotten-Venus und der Video Vixen statt. Abbildung 4: Model Minority, Black Women Property Thrice (Luke & Doug E. Fresh & Dancer by Hilton Bailey, Venus Hottentot & Lil ‘Kim – via Straight Outta New York, Tip Drill – Music Video Still, Unconfirmed Photo of Rihanna Fenty – Photographer Unknown).
Quelle: http://modelminority.blogspot.com/2009_05_01_archive.html [31.03.2011].
Video Vixen heißen in der Hiphop- und Rap-Kultur14 jene (Schwarzen bzw. Nichtweißen) Frauen, die als Staffage und hypersexualisierte Attribute des (Schwarzen bzw. Nichtweißen) männlichen MC, des Masters of Ceremony, 14 Zu Hiphop als globaler Kultur vgl. Ha (n.d.).
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fungieren. Sie sind vor allem als Objekte männlich-machistischen sexuellen Begehrens und Besitzstandes inszeniert. Leicht bekleidet, mit rhythmischen Bewegungen und lasziven Blicken verbildlicht die Video Vixen die misogynen und sexistischen Fantasien, von denen die Texte sprechen. In einer Bildcollage aus Standbildern verschiedener Musikvideos findet sich die Profilansicht der Saartjie Baartman von Nicolas Huet le Jeune, die ebenfalls 1815 im Pariser Jardin du Roi als Aquarell entstanden ist. Durch die unterschiedliche Medialität ist hier trotz der Reduktion auf das Bildmotiv zwar auf (eine) Geschichte verwiesen, aber ebenso werden historische Kontexte und Entstehungsbedingungen auch ignoriert in der Gleichschaltung der Bilder. Saartjie Baartman wird nachträglich zu einem Vor-Bild: als role model für die Selbstdefinition einer als genuin angenommenen Schwarzen Weiblichkeit, die durch andere Körperlichkeit ausgezeichnet ist, und in der Zurschaustellung dieser Körperlichkeit – insbesondere eines big butt, eines breiten Gesäßes –, deren Bühne nunmehr Musikvideos, assoziierte Fotostrecken und eben Webformate sind. In Foren und Blogs, die vielfach von Schwarzen Frauen gemacht und/oder an Schwarze Frauen gerichtet sind, werden vor allem die Video Vixens und Hiphop-Models, die sich einen eigenständigen Bekanntheitsgrad geschaffen haben, ihrerseits als role models diskutiert, bewundert und auch kritisiert. Hier werden zwischen der Figur der Hottentotten-Venus, Saartjie Baartman und den Video Vixens vielschichtige und ambivalente Bezüge in Text wie Bild hergestellt. Es finden biografische Erzählungen statt, Solidaritätsbekundungen und Selbstbewusstseinsbeschwörungen; es werden Sexismus und Rassismus festgestellt, weibliche Schönheitsideale, Körpermaße und -proportionen zwischen Gegenwart und Geschichte begutachtet. 15 Die Figur der Video Vixen ist damit in einem Spannungsfeld situiert, in dem Maßgaben der EntertainmentIndustrie mit Vorstellungen von Schwarzer Kultur als subversives Gegenbild zu einer hegemonialen Weißen Gesellschaft, fortgesetzte Stereotypisierungen, Sexismen und Rassismen, essentialisierende Körperbilder und (deren) hochsti-
15 Vgl. z.B. www.zimbio.com/Hottentot+Venus; http://poshlifeposhstyle.com/2008 /07/buffy-the-body-the-modern-day-hottentot-venus/; www.hicktownpress.com/ is-angel-lola-luv-the-modern-day-hottentot-venus/; http://rnbphilly.com/tristate/ tiffany/the-original-video-vixen-from-1810/. Nach dem Wahlsieg von Barack Obama 2008 wurde die neue First Lady Michelle Obama in ähnlicher Weise diskutiert und ins Bild gesetzt. Vgl. z.B. www.salon.com/life/feature/2008/11/18/ michelles_booty; www.whataboutourdaughters.com/waod/2008/11/18/michelleobamas-booty-put-up-on-the-auction-block-by-salonco.html; sowie http://thehot ness.com/2009/10/29/from-hottentot-venus-to-the-white-house [alle 31.03.2011].
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lisierte Performances, visuelle Objektifizierung und sexuelle Ausbeutung Schwarzer Frauen und deren aktive Partizipation daran, Fremdbestimmung und Selbstpositionierung komplex ineinandergreifen. Populärkulturelle feministische Diskurse haben die Ambivalenz des big butt als »klarer Code für Blackness« (plastikmaedchen 2004) und ›dissidentes‹ metonymisches Zeichen »einer originär schwarzen bzw. nicht-weißen Kultur« (ebd.) darin formuliert, dass damit keineswegs die Sexismen und Rassismen aufgehoben seien, die Schwarze Frauen diskriminieren. Vielmehr würden Stereotypisierungen des 19. Jahrhunderts neu aufgelegt und verstärkt werden (hooks 1982), für deren Herausbildung Saartjie Baartman als eine Schlüsselfigur behauptet worden ist.16 Die Behauptung einer solchen Kontinuität sollte jedoch zugleich auch die sehr wohl veränderten Bedingungen aufzeigen. Zu analysieren wäre vielmehr das Spannungsfeld zwischen Kontinuitäten und Veränderungen, das eben auch die Bilder betrifft. Wie eine ikonografisch fundierte Argumentation plausibel machen kann, ist das (Vorstellungs-)Bild, in das Saartjie Baartman als Hottentotten-Venus mit ihrer Ankunft in Europa eingepasst wurde und das sich mit ihr, also ihrer Zurschaustellung und den Bildproduktionen, auch wieder verschoben hat, Ergebnis eines gleichermaßen historischen wie transkulturellen Prozesses. Es ist Ergebnis einer transkulturellen Bildfindung, mit der sich die zeitgenössischen europäischen Bildarchive gleichermaßen erweiterten und umordneten. Wie am Beispiel des Web 2.0 deutlich wird, kann eine Vorgängigkeit der Bilder aber nicht unbedingt mit der chronologischen Folge ihrer historischen Herstellung gleichgesetzt werden, sondern sie hängt auch davon ab, wann und wie mediale Zirkulationsprozesse sie verfügbar machen, wann sie gefunden werden. In Bezug auf die einschlägigen Internetforen und Weblogs mit ihren Text- und Bildpraktiken müsste genauso geschaut werden, wie in den Praktiken des
16 Das war die Argumentation von Sander L. Gilman (1986), zuerst abgedruckt 1985 in der Zeitschrift Critical Inquiry 12.1, S. 204-242, und nahezu unverändert wiedererschienen in Gilman (1985), in deutscher Sprache 1992. Kritisch zu Gilmans Argumentation sowie zu einer weitestgehend unhinterfragten Übernahme seiner Thesen durch feministische Wissenschaftlerinnen vgl. Magubane (2001, wiederabgedruckt in Willis 2010). Magubane kritisiert Gilmans analytische Perspektive als ahistorisch und auf einen psychologischen Determinismus verengt sowie, dass die meisten der Studien, die sich mit Saartjie Baartman bzw. Gilmans Analyse beschäftigen, genau den biologischen Essentialismus, den sie dekonstruieren wollen, neu verfestigen. Vgl. auch bereits Bal (1996), die Gilman ideologische Komplizenschaft attestiert und dies auch auf die Auswahl der in seinen Texten abgedruckten Bilder bezieht.
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Bloggens, des Kommentierens, Kopierens, Kompilierens, Weiterleitens und Zurschaustellens von Texten und Bildern eine bzw. eine ›eigene‹ Geschichte hergestellt wird, indem Gegenwärtiges und aktuelle Bedeutungen auf Ereignisse und Bilder der Vergangenheit rückprojiziert werden. Das wiederum betrifft nicht nur das Web 2.0. Mit jeder Generierung neuer/anderer Bilder und Bildverhältnisse, neuer/anderer Bedeutungen, verschiebt sich das gesamte Archiv, die Bezüge der Bilder und (ihrer) Bedeutungen untereinander – und überlassen es den Lektüren, sie in Ordnung zu bringen. Die Lektüre visueller Migrationen muss immer auch in Auseinandersetzung mit konfligierenden Zeitstrukturen stattfinden.
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Same Same But Different: Intimmodifikationen zwischen Zwang und Selbstbestimmung A NNA -K ATHARINA M ESSMER
Seit dem Urteil des Landgerichts Köln vom 07.05.2012 ist die Republik in Aufruhr und die Debatte um die Vorhaut und deren Existenzberechtigung scheint kein Ende zu nehmen. Der Umgang mit Genitalien wird dabei Kritiker/-innen und Befürworter/-innen gleichermaßen zum Sinnbild für eine freiheitliche, aufgeklärte und demokratische Gesellschaft. Doch während über die männliche1 Beschneidung diskutiert und (quasi-)deliberativ verhandelt wird, hat die weibliche Beschneidung bereits einen festen Platz im rechtlichen und diskursiven Gefüge der BRD: Im Spannungsfeld zwischen Zwang und Selbstbestimmung wird die weibliche Genitalbeschneidung – in beinahe all ihren Dimensionen und auch in beinahe allen politischen Lagern – eindeutig aufseiten des Zwangs und damit als unterwerfendes Herrschaftsinstrument verortet. In den Debatten um Intimmodifikationen ist die weibliche Genitalbeschneidung (oder häufiger ›Genitalverstümmelung‹)2 die Kontrastfolie für die Vorstellung des selbstbestimmten, souveränen Subjekts der westlichen Moderne geworden. Und so taucht die ›Genitalverstümmelung‹ insbesondere im Diskurs über kosmetische Intimchirurgie bei Frauen als eine Art thematische und 1 2
Wenn ich im Folgenden Geschlechterkategorien verwende wie männlich, weiblich etc., so beziehe ich mich dabei auf das alltagsweltliche Verständnis von Geschlecht. Zur Benennung der Praktik verwende ich den Begriff der ›Beschneidung‹. Zur Benennung des Deutungsmusters hingegen wähle ich den (bekannteren) Begriff der ›Genitalverstümmelung‹, schließlich transportiert er genau jene Dimensionen, die für das Deutungsmuster so relevant sind: Fremdbestimmung und Misshandlung. Zur Unterscheidung der beiden Begriffe vgl. den nächsten Abschnitt.
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argumentative Wegbegleiterin immer wieder auf. Im Folgenden wird der Fokus darauf liegen, wie die ›Genitalverstümmelung‹ als Deutungsmuster im Diskurs über kosmetische Chirurgie im weiblichen Genitalbereich (Female Genital Cosmetic Surgery, kurz FGCS) verhandelt und (re-)artikuliert wird und welche Funktion das Deutungsmuster dabei erfüllt.
D EUTUNGSMUSTER ›G ENITALVERSTÜMMELUNG ‹ Ausgehend von der wissenssoziologischen Diskursanalyse verstehe ich Diskurse als »Formen ›institutionellen Sprachgebrauchs‹, […] Aussagenkomplexe, die Behauptungen über Phänomenbereiche aufstellen und mit mehr oder weniger stark formalisierten/formalisierbaren Geltungsansprüchen versehen sind« (Keller 2007: 63). Sie bieten »Muster legitimer Äußerungsformen« (Keller 2001: 131) sowie verschiedene Positionierungsvorschläge, Subjektpositionen und Handlungsrepertoires an (vgl. Keller 2005: 265). Deutungsmuster sind dabei »grundlegende bedeutungsgenerierende Schemata, die durch Diskurse verbreitet werden und nahelegen, worum es sich bei einem Phänomen handelt« (ebd.: 243). Das Deutungsmuster ›Genitalverstümmelung‹ ist dementsprechend als bedeutungsgenerierendes Schema zu verstehen, über das sich – in beständigem Wechsel von Vergleich und Abgrenzung – das Phänomen FGCS formiert. Seine Ursprünge hat das Deutungsmuster jedoch weit vor den ersten ›Schönheitsoperationen‹ im weiblichen Genitalbereich und auch weit vor den (aktivistisch geprägten) Debatten über ›weibliche Genitalverstümmelung in Afrika‹, die in den 1970er Jahren aufkamen (vgl. Johnsdotter/Essén 2010). Vielmehr ist es tief in unserer Gesellschaft verankert und seine erste Konjunktur lässt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausmachen, als im deutschsprachigen Raum vermehrt die Beschneidung weiblicher Genitalien und insbesondere die Entfernung der Klitoris (Klitoridektomie) zu medizinischen Zwecken praktiziert wurden (Hulverscheidt 2002). Zur gleichen Zeit trugen ethnologische und anthropologische Forscher (!) Erkenntnisse über Beschneidungen in ›Afrika‹ (damals wie heute mehr als Land denn als Kontinent gedacht) zusammen und in der wechselseitigen Bezugnahme von Medizin und Anthropologie/Ethnologie verschmolzen auch die Erklärungsmodelle der beiden Disziplinen (ebd.: 70f.):
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»In Europa gegebene Indikationen für die operative Behandlung des äußeren Genitale (Masturbation, übermäßige Wollust, pathologische Vergrößerung der Schamlippen und/oder Klitoris) werden von europäischen Afrika-Expediteuren als Begründungen für die rituelle weibliche Beschneidung afrikanischer Völker angeführt. Die als sog. ›Hottentottenschürze‹ verlängerten Schamlippen galten in Europa als Pathologie, entstanden durch Masturbation. Bei Afrikanerinnen wurden sie von einigen Medizinern und Anthropologen als Rassenmerkmal angesehen, dies auch bei Ethnien, wo nicht das Vorkommen verlängerter Schamlippen beobachtet wurde, sondern nur die Beschneidung am Genitale« (ebd.: 89).
Die eurozentrische Perspektive, die Anwendung der eigenen, europäischen (medizinischen) Kategorisierungen auf die Beobachtung und Beschreibung des ›fremden Volkes‹, stabilisierte die Idee der Überlegenheit der eigenen Kultur und Rasse (vgl. Hulverscheidt 2007). Indem die Hypertrophie – und schon die Idee ist eurozentrisch – entweder als körperliches Rassenmerkmal, und damit als Abweichung vom Normalzustand der europäischen (Körper-)Norm, oder als Resultat des, ebenfalls abweichenden und als Rassenmerkmal definierten, übermäßig ausgeprägten Geschlechtstriebs beschrieben wird, entsteht die für das Deutungsmuster ›Genitalverstümmelung‹ so relevante Dimension des ›unzivilisierten Anderen‹. Dabei wird das ›Unzivilisierte‹ zu diesem Zeitpunkt nicht in der Genitalbeschneidung als kultureller Praktik ausgemacht – diese erscheint vielmehr als Notwendigkeit –, sondern in den ›rassischen‹ Merkmalen der beschnittenen Frauen: »This is a continuation of the cultural presupposition that ›primitive‹ races have a ›primitive‹ sexuality, which is represented in their bodies by physical signs of their ›true‹ nature« (Gilman 1999: 212). Hier schreibt sich das »Othering« (Spivak 1985) als dialektischer Prozess (»because the colonizing Other is established at the same time as its colonized others are produced as subjects«, Ashcroft/Griffiths/Tiffin 2000: 167) zunächst über die »natürliche Differenz« (vgl. Spivak 1985: 256) in das Deutungsmuster ein. Anfang des 20. Jahrhunderts wird dann auch die Genitalbeschneidung selbst zum Symbol des ›Unzivilisierten‹ und des ›Anderen‹ und die Differenz stabilisiert sich über das europäische Subjekt als »subject of science or knowledge« (ebd.). Die Unterscheidung zwischen medizinisch indizierten Eingriffen und kulturellen Praktiken spielt bis heute eine zentrale Rolle in der Abgrenzung. Von »wilden Völkerschaften« (vgl. Bilderlexikon der Sexualwissenschaft 1930, zitiert in Hulverscheidt 2002: 158) ist dabei nicht mehr die Rede, doch schreibt
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sich die Vorstellung eines ›unzivilisierten Anderen‹ in der Benennung und der Beschreibung der Praktik fort: So bezeichnen die Begriffe »Weibliche Genitalbeschneidung« (Female Genital Cutting, kurz FGC, oder Female Circumcision) und »Weibliche Genitalverstümmelung« (Female Genital Mutilation, kurz FGM) dasselbe Phänomen, transportieren aber unterschiedliche Bedeutungen: Während FGM auf die »dramatische Dimension der Beschneidungspraxis« (Asefaw 2007: 1) verweist und einen »politischen Akzent« (ebd.) setzen soll, wird FGC gewählt, um negative Zuschreibungen zu vermeiden und »einen objektiven Umgang zu ermöglichen, der den Kontext berücksichtigt« (ebd.). Beschnittene Frauen sprechen sich meist gegen die stigmatisierende Zuschreibung als »Verstümmelte« aus, wohingegen die WHO, Amnesty International und zahlreiche NGOs explizit den Begriff »mutilation« verwenden. Nach Schätzungen der WHO sind weltweit ca. 100 bis 140 Millionen Frauen beschnitten, die meisten in verschiedenen Staaten des westlichen und nordöstlichen Afrikas, wie Ägypten, Guinea oder Somalia, aber auch im Jemen, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Indonesien werden Genitalbeschneidungen durchgeführt (WHO 2008: 4). Als häufigstes Argument für die Beschneidung weiblicher Genitalien wird im westlichen Diskurs auf Tradition und Kultur sowie die Kontrolle und Unterdrückung der weiblichen Sexualität verwiesen (vgl. Amnesty International 2012). »Any ›choice‹ a (non-Western) woman may (want to) make to undergo a ›traditional‹ genital cutting procedure is seen to be overdetermined by culture, and therefore impossible« (Braun 2009: 235). Individuelle Beweggründe werden meist nicht thematisiert bzw. den Frauen generell abgesprochen: »The public view is that African women are victims per se. Rather than being seen as reflexive actors and decision-makers, they are mirrored as passive ›bearers of tradition‹« (Johnsdotter/Essén 2010: 31). Genau jene (zugeschriebenen) Dimensionen von Zwang, Misshandlung und Unfreiwilligkeit sind zentral für das Deutungsmuster ›Genitalverstümmelung‹, welches von je her ein westliches Konstrukt ist. Es wandert zwischen den Professionen und (Fach-)Diskursen und hat heute einen festen Platz im diskursiven Gefüge eingenommen. Auch in seiner Bedeutung bleibt es dabei weitgehend stabil: Seine spezifische Konnotation bezieht es nicht aus seinen europäischen Wurzeln medizinischer Beschneidungspraktiken im 19. Jahrhundert, sondern aus den – immer schon rassifizierten – europäischen Vorstellungen von afrikanischen Beschneidungen. Dabei ist es in seiner Form als »bedeutungsgenerierendes Schema« (vgl. Keller 2005: 243) vor allem ein westliches Konstrukt, dem über
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die permanente Reaktivierung des »Othering« ganz spezifische Dimensionen und Klassifikationen inhärent sind und das in ganz bestimmte Machtkonstellationen eingelassen ist. Als Deutungsmuster ist es dem Diskurs über die heutige Form der Intimchirurgie vorgängig, es ist implizit immer schon vorhanden und kann – wie zu sehen sein wird – nicht nicht thematisiert werden. Im Folgenden soll nun nicht diskutiert werden, inwiefern FGCS und FGM/C ›tatsächlich‹ vergleichbar sind, sondern wo sich definitorische und diskursive Grenzverschiebungen ausmachen lassen und wie dabei die ›Genitalverstümmelung‹ als ein eindeutiges Deutungsmuster über die Konstruktion eines ›unzivilisierten Anderen‹ die eigenen Praktiken der FGCS als aufgeklärt und medizinisch notwendig definiert und stabilisiert.
F EMALE G ENITAL C OSMETIC S URGERY Als Female Genital Cosmetic Surgery werden alle medizinisch nicht indizierten, kosmetischen oder ›ästhetisch-funktionalen‹ Eingriffe an den Genitalien von (zumeist erwachsenen) ›Cisfrauen‹3 bezeichnet, die der subjektiv wahrgenommenen Optimierung des eigenen Körpers dienen.4 Alternativ ist häufig auch die Rede von »Intimchirurgie«, »Intim-OPs«, »Vaginalverjüngung« und »Labia- bzw. Vaginalplastik«. Darunter fallen eine Vielzahl unterschiedlicher Eingriffe: Die Vaginalverengung mittels Skalpell oder Unterspritzung, die Fettabsaugung am Venushügel und an den äußeren Schamlippen, die Unterspritzung/Vergrößerung des G-Punktes, die chirurgische Verkleinerung oder Formveränderung der inneren und/oder äußeren Schamlippen, die Unterspritzung/Vergrößerung der äußeren Schamlippen, die Verkleinerung oder Entfernung der Klitorisvorhaut sowie die Repositionierung der Klitoris. 3
4
Als ›Cisgender‹ werden Menschen bezeichnet, bei denen Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität übereinstimmen. Der Begriff geht zurück auf die folgende Definition von Volkmar Sigusch: »Ich gestatte mir hier einmal ›Zissexualismus‹ und ›Zissexuelle‹, ganz sachlogisch und sprachlich korrekt, einzuführen um die geschlechtseuphorische Mehrheit, bei der Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität fraglos und scheinbar natural zusammenfallen, in jenes falbe Licht zu setzen, in dem nosomorpheer Blick und klinischer Jargon die geschlechtsdysphorische Minderheit, namentlich die Transsexuellen, erkennen zu können glaubt. Das lateinische cis- bedeutet als Vorsilbe ›diesseits‹« (Sigusch 1992: 138). Nicht unter die FGCS-Definition fallen sogenannte ›geschlechts‹- oder ›genitalangleichende‹ Operationen bei intersexuellen und transsexuellen Menschen.
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FGCS wird weltweit praktiziert, vor allem in Brasilien, den USA, Indien und China, also vorzugsweise in den Ländern, die laut Statistik der Internationalen Gesellschaft für Ästhetische Plastische Chirurgie (ISAPS) im internationalen Vergleich generell die meisten kosmetischen Operationen durchführen (ISAPS 2011). Für das Jahr 2010 erfasste die ISAPS weltweit über 67.000 intimchirurgische Eingriffe von plastischen Chirurginnen und Chirurgen – 2009 waren es noch 47.000 (ISAPS 2010, 2011). In Deutschland wird kosmetische Intimchirurgie vermehrt seit Anfang der 2000er Jahre praktiziert. Die ISAPS gibt für 2009 ca. 1000 Operationen von plastischen Chirurginnen und Chirurgen in Deutschland an (ISAPS 2010), 2010 waren es mit über 2200 mehr als doppelt so viele (ISAPS 2011). Da aber unterschiedliche Angaben von verschiedenen Fachgesellschaften existieren, die jeweils nur einen Teil der tatsächlich praktizierenden Ärztinnen und Ärzte berücksichtigen, dürfte die Zahl der Eingriffe realiter deutlich höher sein. Als kulturelle Rahmenbedingungen gelten insbesondere das Aufkommen einer spezifischen Intim- oder Genitalästhetik (Borkenhagen/Brähler 2008a, b), die zunehmende Sichtbarkeit weiblicher Genitalien durch enge Mode (Borkenhagen 2008) und Intimrasur (Brähler 2008), der erleichterte Zugang zu Pornografie (Walter 2010) sowie der allgemeine Trend zur Selbstoptimierung (vgl. Villa 2008). Jene Kontextualisierung von FGCS als immer auch kulturelles Phänomen erfolgt zumeist von feministischer (und) wissenschaftlicher Seite. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, spielt aber im öffentlichen Diskurs sowie in der Selbstdarstellung von Intimchirurginnen und -chirurgen der Verweis auf individuelle Beweggründe von Patientinnen eine zentrale Rolle.
S AME S AME ?... Die WHO unterscheidet in ihrem Statement »Eliminating Female Genital Mutilation« vier Typen bzw. Grade der weiblichen Genitalbeschneidung (WHO 2008).5 Dabei weist sie auch darauf hin, dass schönheitschirurgische Eingriffe
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»Type I: Partial or total removal of the clitoris and/or the prepuce (clitoridectomy). Type II: Partial or total removal of the clitoris and the labia minora, with or without excision of the labia majora (excision). Type III: Narrowing of the vaginal orifice with creation of a covering seal by cutting and appositioning the labia minora and/or the labia majora, with or without excision of the clitoris (infibulation). Type IV: All other harmful procedures to the female genitalia for non-medical purposes,
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im weiblichen Genitalbereich unter die WHO-Definition von Genitalverstümmelung fallen. Dies bezieht sich insbesondere auf den Typ IV, der am wenigsten trennscharf definiert ist (ebd.: 28). Doch auch Typ I und II sind im Hinblick darauf, welche Körperstellen modifiziert werden, nur schwer von FGCS abgrenzbar, insbesondere dann, wenn man einen differenzierteren Blick auf die Subtypen Ia (Entfernung der Klitorisvorhaut) und IIa (Entfernung der inneren Schamlippen) wirft (vgl. ebd.: 24). Klammert man den Kontext aus und legt den Fokus darauf, welche Teile der Anatomie entfernt oder modifiziert werden, sind die Eingriffe also nicht nur vergleichbar (Johnsdotter/Essén 2010: 32), sondern so ähnlich, dass sich definitorische Grenzziehungen verflüssigen. Dies zeigt sich insbesondere in den Ländern des ›Westens‹, die ›Genitalverstümmelung‹ als eigenen Straftatbestand eingeführt haben und nun spezifische Ausnahmeregelungen für intimchirurgische Eingriffe schaffen müssen (vgl. Berer 2010). Seit unter dem Stichwort »wunscherfüllende Medizin« (vgl. Kettner 2006) zunehmend ästhetische und optimierende Eingriffe an gesunden Körpern vorgenommen werden, liefert die Unterscheidung zwischen medizinischen und nicht-medizinischen Eingriffen bei dem Problem der ›Genitalverstümmelung‹ vs. Intimchirurgie keine plausible Abgrenzung mehr. Stattdessen wird die »Revision der Grenzziehung zu einem Dauerereignis« (Viehöver/Böschen/ Bärmann 2004: 261). Dies manifestiert sich auch im medizinethischen Diskurs der BRD. Operationen stellen nach deutschem Recht eine tatbestandsmäßige Körperverletzung im Sinne der §§ 223ff. StGB dar – unabhängig davon, »ob die Maßnahme erfolgreich oder mißglückt ist bzw. kunstgerecht oder fehlerhaft ausgeführt wurde« (Loose 2003: 20). Liegt – nach vorheriger, ordnungsgemäßer Aufklärung – eine Einwilligung der Patientin vor, so kann die Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit der Handlung entfallen, sofern der Eingriff nicht im Sinne des § 228 StGB gegen die guten Sitten verstößt. Genau dies ist allerdings bei der Genitalbeschneidung der Fall und zwar auch dann, »wenn die Genitalverstümmelung auf Verlangen der Patientin vorgenommen werden soll« (Deutscher Bundestag, Drucksache 16/1391: 2). Dementsprechend hat eine erwachsene Frau in Deutschland nicht die Möglichkeit, sich aus Weltanschauungsgründen beschneiden zu lassen. Ähnlich wie es Marge Berer (2010) im Hinblick auf die Situation in Großbritannien beschreibt, zielt auch die deutsche Gesetzgebung dementsprechend nicht auf die diskursiv so bedeutungsfor example: pricking, piercing, incising, scraping and cauterization« (WHO 2008: 4).
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vollen Dimensionen von Alter und Konsens bzw. Entscheidungsfreiheit: »The laws are about banning the procedure as a harmful practice« (ebd.: 109). Aus diesem Grund weist beispielsweise ein Gesetzesantrag des Bundesrates zur Einführung eines eigenen Straftatbestandes explizit darauf hin, dass es sich bei der ›Genitalverstümmelung‹ um eine »negative Veränderung der Genitalien« (Bundesrat, Drucksache 867/09: 7) u.a. mit »Beeinträchtigung der sexuellen Empfindungsfähigkeit« (ebd.: 8) handle, weswegen Intimchirurgie und Intimpiercings davon ausgenommen seien. Doch angesichts der Tatsache, dass die »negativen« Veränderungen nicht über eine bestimmte Form der Modifikation definiert werden, sondern ausschließlich darüber, dass es sich dabei um eine Praktik ›anderer Kulturen‹ (vgl. ebd.: 3) handelt, kommt es zu einem Re-Entry der Grenzverflüssigung, die Abgrenzung bleibt selbstreferentiell und stabilisiert sich in erster Linie über das »Othering«: Die ›eigenen‹ Praktiken stehen der Praktik der ›Anderen‹ gegenüber. Das eine ist im Einklang mit dem »Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden«, das andere nicht. Das eine ist rechtlich zulässig, das andere nicht. Dennoch kann definitorisch keine klare Grenze gezogen werden. Wenn aber Urteils- bzw. Entscheidungsfähigkeit und Volljährigkeit ebenso wenig Grenzmarker sind wie die Art der Modifikation, kann die konkrete Unterscheidung am Ende nur entweder anhand der Selbstbeschreibung der jeweiligen Patientinnen getroffen werden (»Ich möchte meine Schamlippen verkleinern lassen.« vs. »Ich möchte beschnitten werden.«) oder sie erfolgt anhand rassifizierter Genitalien: »[W]e are expected to discriminate between European and African female genitals« (Johnsdotter/Essén 2010: 33). In jedem Fall wird hier eine Unterscheidung eingeführt, die über das »Othering« die Vorstellung der eigenen Kultur als ›aufgeklärter‹ und der eigenen kulturellen Praktiken als ›selbstermächtigend‹ fort- und damit in (weibliche) Körper einschreibt.
…B UT D IFFERENT ! Jene Form des »Othering« lässt sich nun auch im FGCS-Diskurs beobachten. Das Auftauchen des Deutungsmusters ›Genitalverstümmelung‹ antwortet hier auf ein gewisses diffuses Unbehagen,6 welches viele Menschen dann befällt, 6
Auch ich war und bin nicht frei von diesem Unbehagen – weder in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Beschneidung noch in der Analyse des Diskurses um Intimchirurgie. Daher bleibt mir nur die Möglichkeit, genau dies of-
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wenn Hand und Skalpell an – nach medizinischer Definition – gesunde weibliche Genitalien angelegt werden. Dies gilt nicht nur deswegen, weil – wie Gesa Lindemann (1993) schreibt – das »Faktum der Offenheit des weiblichen körperlichen Leibes« (ebd.: 249) als »Ausgeliefertsein gegenüber der ›Verletzungsmacht‹ eines anderen« (ebd.) gedacht wird, sondern auch, und eng damit verknüpft, weil ›uns‹7 das Deutungsmuster in seiner Wirkmächtigkeit buchstäblich »unter die Haut« (Duden 1987) gegangen und dort im Plessner’schen Sinne (1975) leibliche Realität geworden ist. Um dieses Unbehagen geht es, wenn die ›Genitalverstümmelung‹ auf den Homepages von Intimchirurginnen und -chirurgen – gerahmt von einem medizinischen Kontext – als das ganz Andere der Medizin beschrieben wird, beispielsweise unter dem Stichwort »rekonstruktive Chirurgie«: »Häufig sind auch Patientinnen nach Voroperationen bei Schamlippenverkleinerungen mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Durch Narben oder Verwachsungen nach Operationen oder Geburten können die Funktion und Empfindsamkeit beeinträchtigt werden. In weiten Teilen Afrikas werden noch heute traditionell ›Beschneidungen‹ durchgeführt, die zu Verstümmelungen führen (female genital mutilation). Verletzungen, Erkrankungen, Tumore oder angeborene Variationen können die äußere weibliche Genitalregion entstellen. All diese Veränderungen können nur nach einer ganz persönlichen Diagnose und Voruntersuchung individuell behandelt und korrigiert werden« (Sensualmedics 2012).
Interessant ist dabei zunächst, wie hier FGCS generell als »rekonstruktiv« dargestellt wird: Ob misslungene Voroperationen, Geburten oder angeborene Variationen – alles sind plausible Gründe für einen intimchirurgischen Eingriff, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil sie Leiden verursachen. Denn Leidensdruck ist generell eines der zentralen Argumentationsmuster im FGCSDiskurs: »Die ästhetische Chirurgie legitimiert sich somit über das Menschliche, der ästhetische Chirurg über das Hilfsmotiv« (Meili 2008: 128). Im konkreten Fall wird die Verstümmelung nun mit anderen Gründen für rekonstruktive Eingriffe in einen gemeinsamen Kontext gesetzt und zugleich sprachlich
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fenzulegen und zu reflektieren. Und Sie als Leserin bzw. Leser werden vielleicht an sich beobachten, dass es Ihnen an manchen Stellen des Artikels ähnlich gehen wird. Und damit adressiere ich unweigerlich implizit die westlichen Leserinnen und Leser.
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davon abgegrenzt. Hier steht die traditionelle afrikanische Beschneidung neben der medizinisch notwendigen Intimchirurgie. Hier steht die Verstümmelung neben den Narben, Verwachsungen, Einschränkungen und der (häufigen!) Unzufriedenheit nach einer (Vor-)Operation. Auffallend ist dabei, wie an dieser Stelle nicht Natur vs. Kultur als prägender Antagonismus hervorgebracht wird, sondern vielmehr traditionelle Praktiken und natürliche Defizite bzw. Erkrankungen als verstümmelnd und entstellend und damit ähnlich drastisch beschrieben werden. Diesen problematischen Voraussetzungen wird – wie es in den Ursprüngen des Deutungsmusters bereits angelegt ist – die Medizin gegenübergestellt. Die antagonistisch gedachten Dimensionen Natur/Tradition vs. Medizin sind dabei eng verschränkt mit den ebenfalls antagonistisch gedachten Dimensionen von Heteronomie und Autonomie. Doch während die ›westliche‹ Frau gegen die Fremdbestimmung durch ihre Natur kämpft, kämpft die ›afrikanische‹ Frau gegen die Fremdbestimmung durch ihre Tradition. Dies wird auch in der Pressemitteilung »Mythos Intimchirurgie« der Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie Deutschland (GÄCD) deutlich (2011), in der »die Frau« als potentielle Patientin beinahe jenseits der Kultur positioniert ist. Ein Idealbild existiert dort nicht mehr oder vielmehr: es ist so weit individualisiert, dass es nur noch als »persönliches Schönheitsideal«, als »eigenes Idealbild« beschreibbar ist (vgl. ebd.). Hauptgrund für kosmetische Eingriffe an Vulva und Vagina ist also das persönliche Leiden an der defizitären Natur, die nicht den individuellen ästhetisch-funktionalen Vorstellungen von bzw. Anforderungen an Normalität entspricht und physische und/oder psychische Probleme verursacht. Die Genitalästhetik ist dann eben kein ästhetisches Problem mehr, sondern immer auch ein funktionales und damit vor allem eins: ein medizinisches. Ob körperliche Beschwerden oder ästhetisches Unwohlsein, stets erfolgt – ganz im Sinne von Conrads Medikalisierungsthese (2007) – eine Beschreibung in medizinischen Kategorien, die zugleich eine medizinische Lösung propagiert. Dem gegenüber steht die »Beschneidung« als Zwang – ohne individuelle Beweggründe und ohne medizinische Notwendigkeit, stattdessen normierend und domestizierend. Beispielhaft tritt hier die ›menschliche Komponente‹ der Intimchirurgie als Selbstermächtigung im besten aufklärerischen Sinne und fast in Überwindung des cartesianischen Dualismus der Viktimisierung des ›Anderen‹ gegenüber. Dieser Kontrast von Zwang und Selbstermächtigung wird noch deutlicher auf der Homepage der Fachgesellschaft für Intimchirurgie und Genitalästhetik (DGintim):
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»Ganz deutlich grenzt sich die Intimchirurgie von der Genitalverstümmelung ab. Ziel der Genitalverstümmelung ist es, der Frau die Lust an der Sexualität zu nehmen. Bei der Genitalverstümmelung werden mit brachialen Methoden die Klitoris entfernt oder die Scheide zugenäht. Die Intimchirurgie hat aber gerade das Gegenteil zum Ziel: nämlich die Förderung oder Wiederherstellung des sexuellen Wohlbefindens der Frau« (DGintim 2012).
Die Verstümmelung ist Gewalt, die darauf ausgerichtet ist, der Frau etwas zu nehmen, sie im Wortsinne in ihrer Selbstbestimmung, ihrer Lust und ihren Möglichkeiten zu »beschneiden«. Im Kontrast dazu ist die Intimchirurgie als gebend, unterstützend und wiederherstellend beschrieben. »Die Gesellschaft [DGintim; Anm. d. Verf.] ist dabei selbstlos tätig und verfolgt keine eigenwirtschaftlichen Zwecke. Sicherheit und Zufriedenheit für Patienten [sic!] […] ist unser zentrales Anliegen« (DGintim 2012). FGCS steht im Dienste der Frau, die über sich und den Eingriff ebenso bestimmt wie über die Chirurginnen oder die Chirurgen, die ihr dienend zur Seite stehen.
S ELBSTBESTIMMUNG
UND AUSGELAGERTER
Z WANG
»Die Selbstbestimmung, die in der ästhetischen Chirurgie zum Ausdruck kommt, ist ein durch und durch modernes Konzept« (Gilman 2005: 64). Bereits die Idee der Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant 1784: 481) ist eine Idee der Konstitution des Selbst als autonomes Subjekt (Foucault 1984: 43), welches sich »in seinem Streben nach Glückseligkeit neu erschaffen könne« (Gilman 2005: 63). All jene Rhetoriken der Selbstbestimmung, der Eigenverantwortung und der Selbstverwirklichung finden sich nun in den Beschreibungen von FGCS wieder, unauflöslich verknüpft mit dem Phänomen der Medikalisierung (vgl. Conrad 2007). Die Selbstermächtigung ist notwendig, weil uns der ›natürliche‹ Körper als defizitärer ›Gewebehaufen‹ Restriktionen auferlegt, derer wir uns nun mithilfe der Medizin entledigen können (und zunehmend auch müssen). Doch offenbar entsteht bei aller Autonomie insbesondere dann ein Unbehagen an der »Rohstoffisierung« (Villa 2008: 254), wenn Hand und Skalpell an Vulva und Vagina angelegt werden. Auf jenes Unbehagen antwortet nun das Deutungsmuster der ›Genitalverstümmelung‹. Wie eingangs zu sehen war, ist das Deutungsmuster dem FGCS-Diskurs vorgängig und uns in seiner Form längst
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unter die Haut gegangen. Darin angelegt ist die wirkmächtige Prägung »durch Kolonialismus, Dekolonisierung und neokolonialistische Tendenzen« (Reuter/Villa 2009: 17) mit ihren Unterscheidungen und der Konstruktion eines ›vormodernen‹, ›unzivilisierten Anderen‹, welches unserem unhinterfragt ›Eigenen‹ gegenübersteht und dieses in Abgrenzung formt. In jener Kontrastierung treffen verschiedene – eng miteinander verwobene – Prozesse mitsamt ihrer hegemonialen Diskurse und Deutungen aufeinander, die sich bündeln in der »rhethoric of choice« (Braun 2009). Nicht zufällig entsteht im Vokabular der FGCS-Beschreibungen wiederholt die Anmutung an Rhetoriken der zweiten Frauenbewegung. Doch jene kollektiven Forderungen haben sich der Reflektion des kulturellen Rahmens entledigt und sich in ein individualisiertes Narrativ gekleidet. Dieses verschleiert jedoch nicht nur den kulturellen Kontext und die geschlechtsspezifischen Strukturen, die dem Phänomen der Intimchirurgie inhärent sind, es verschleiert auch die hegemoniale Position der Selbstbeschreibung. Und so stabilisiert sich die Vorstellung einer aufgeklärten, selbstbestimmten und freiwillig entscheidenden/handeln–den Patientin, die aus jeglichem sozialen und kulturellen Kontext herausgelöst ist und deren Beweggründe in ihrem tiefsten Inneren verwurzelt sind (Braun 2009: 239). In der Abgrenzung zum unzivilisierten, unterworfenen, passiven, entscheidungsunfähigen ›Anderen‹, dem Opfer von ›Verstümmelungspraktiken‹, kann sich das moderne weibliche Subjekt entwerfen, das so individualisiert gedacht wird, dass es keinerlei Abdruck der Kultur mehr trägt. Dafür hat es nun umso mehr mit den individualisierten Entscheidungszwängen aufgrund seiner defizitären Natur zu kämpfen. Die beinahe zum soziologischen Allgemeinplatz gewordene Beschreibung der (Selbst-)Regierung als »Weise des Sich-Verhaltens in einem mehr oder weniger offenen Feld von Möglichkeiten« (Foucault 1987: 255) bestätigt sich hier ein weiteres Mal. Es wird beobachtbar, wie im Falle der FGCS Herrschaftstechniken und Selbsttechniken ineinandergreifen und dabei die postulierte Freiheit des Liberalismus Teil von Machtprozessen wird. Die oder der Einzelne sieht sich nicht nur »gezielten und planvollen Zurichtungsanstrengungen ausgesetzt« (Bröckling 2007: 32), sie oder er richtet »sich zugleich gezielt und planvoll selbst« zu (ebd.). Doch genau jene Selbstführung wird zunehmend invisibilisiert und der Zwang als ›ganz anderes‹ ausgelagert in das Deutungsmuster der ›Genitalverstümmelung‹.
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Versklavung, Schwarze Feministische Kritik und die Epistemologie der Gender Studies1 S ABINE B ROECK
Die viel beschworene zunehmende Verwischung der Grenzen und der Wanderungen zwischen Literatur, Theorie, Philosophie und Kritik der Wissensproduktion ist seit den Interventionen von Angela Davis, Alice Walker, Toni Cade Bambara, Audre Lorde, June Jordan, Sylvia Wynter, bell hooks, Toni Morrison oder Maxine Williams zu einem Merkmal der Kulturproduktion schwarzer Frauen geworden. Der »womanism«, wie Alice Walker ihn bezeichnet, brachte Autorinnen/Kritikerinnen hervor, die kreative und kritische Beiträge zur gegenwärtigen Theoriebildung innerhalb der Cultural Studies geschaffen haben. Sie haben die Kulturproduktionen schwarzer Frauen über das Feld der Literatur im engeren Sinne hinausgetragen, und ihre Arbeit hätte eigentlich in weitaus höherem Maße über die disziplinären Grenzen der Literaturkritik hinaus rezipiert werden müssen (wie Barbara Christian in The Race for Theory bereits 1987 forderte), als dies bisher geschehen ist. Das noch immer augenfällige Erbe des transatlantischen Sklavenhandels und der Sklaverei in der Neuen Welt wurde zunehmend zum wesentlichen Anliegen schwarzer Frauen, je mehr sie sich in ihrer Kritik mit der Verwobenheit von Rassismus und Sexismus beschäftigten und die längst überfällige kritische Untersuchung dieses Konnexes sowohl durch die schwarze Befreiungsbewe1
Eine frühere Version dieses Beitrags ist erschienen als »Enslavement as Regime of Western Modernity: Re-reading Gender Studies Epistemology Through Black Feminist Critique«, in: Gender Forum 22 (2008). Übersetzung und Adaption Annika McPherson.
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gung als auch den weißen Feminismus forderten. In diesem Kontext müssen die Publikation von Toni Morrisons Beloved (1987), die Verleihung des Nobelpreises 1993 an sie und der nachfolgende kommerzielle Erfolg des Romans als Wendepunkt gelten, der die Sklaverei sowie die daraus resultierende unterdrückte und marginalisierte gesellschaftliche Position schwarzer Frauen in einem völlig neuen Ausmaß an die Öffentlichkeit brachte. Der Einfluss des Romans auf die US-amerikanische Literaturgeschichte, auf kulturwissenschaftliche Diskurse in Bezug auf die Betrachtung der Sklaverei als eines der unauslöschlichen Traumata der Vereinigten Staaten sowie auf die Diskussion der kulturellen Erinnerung und die Anerkennung der langfristigen Auswirkungen der Versklavung auf das öffentliche Leben wurde in der BelovedForschung der letzten 20 Jahre weitreichend dokumentiert (siehe Broeck 2006). Als Morrison Beloved veröffentlichte, schuf sie damit nicht nur die seither am häufigsten publizierte, übersetzte, rezipierte und kritisierte literarische Repräsentation der Sklaverei und ihrer Auswirkungen neben Harriett Beecher Stowes Uncle Tom’s Cabin von 1852 (zu welcher der Roman offensichtliche revisionistische intertextuelle Bezüge aufweist), sondern kreierte auch zielstrebig ein Verlangen nach mehr Wissen über die Sklaverei. In ihrem Roman wird die sogenannte Middle Passage, die Geschichte der durch die terroristischen Praktiken der Sklavenhandelsmaschinerie und der Verschiffung versklavter Afrikanerinnen und Afrikaner als Eigentum, als Dinge, selbst zum literarischen Moment einer sinnhaften narrativen Leerstelle. Die Passagen in Beloved, die direkt auf das Trauma des Sklavenhandels eingehen, bleiben Sprachfragmente, die eher einem betäubten und bereits in sich zusammenfallenden Sprechchor ähneln als der kunstvollen narrativen Logik, die den Roman ansonsten charakterisiert. An dem Punkt, an dem die Leserin eine erzählende Rückerinnerung an die Middle Passage erwartet, ist die Syntax in sich zusammengebrochen. Jeglicher klare Anhaltspunkt für eine Erzählperspektive ist verschwunden und einer Litanei von stolpernden Passagen gewichen, deren Ursprünge den Leserinnen und Lesern verborgen bleiben; das Wortregister ist reduziert auf verzweifelte Wiederholung. Beloved verbietet sich jegliche Narration der Middle Passage; stattdessen fordert der Text die Leserinnen und Leser durch seine Lücken und Ambivalenzen heraus, den verheerenden Verlust an menschlichem Leben gerade in der Entgleisung und im Verlust von Erzählbarkeit zu imaginieren (Broeck 1999). Die narrative Leerstelle in Beloved verweist auf die ethische und sprachliche Unmöglichkeit der Repräsentation.
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Diese Leerstelle wurde im Jahr der Erstveröffentlichung von Beloved auch von Hortense Spillers in ihrem Essay »Mama’s Baby, Papa’s Maybe: An American Grammar Book« wahrgenommen, in welchem sie das Skelett eines Theorierahmens skizziert, um die dubiose Rolle von Gender als modernem westlichem Paradigma aus der Perspektive der Versklavten neu zu überdenken. Spillers’ wegweisender Essay korrespondiert mit Morrisons Roman in komplexer Weise: Beide beschäftigen sich mit der speziellen Position von schwarzen Frauen während und nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei und ihrer Auswirkungen und beide fokussieren die Gewalt gegen und den Missbrauch von schwarzem menschlichen »Fleisch«. Spillers’ direkte Verwendung dieses Wortes entspricht dabei der Bildlichkeit von Morrisons geschundenen und gebrandmarkten Protagonistinnen, ihren geschändeten Mündern und Genitalien, ihrer gestohlenen Milch, sowie von Baby Suggs’ trauervollem Angedenken des »schwarzen Fleisches«. Der Begriff des »Fleisches« (im Gegensatz zu »Geschlecht«) stellt die polemische Frage, ob Gender und die damit verbundenen Ideen von Selbst-Definitionen die epistemische AbjektPosition schwarzer Menschen (Männer und Frauen) in der modernen Welt dadurch unterstützen, dass ihnen eine gegenderte Subjektivität verwehrt wird. »Abjekt« meint hier den Ausschluss der Versklavten vom System menschlicher Binarisierung und erfüllte die Funktion, Menschen afrikanischen Ursprungs als nicht-menschliches Ding, als ›Fleisch‹ zu positionieren, während weiße euro-amerikanische Menschen dadurch die Eigenschaft vergeschlechtlichter Subjektpositionen behaupten konnten: »To that extent, the captive female body locates precisely a moment of converging political and social vectors that mark the flesh as a prime commodity of exchange. While this proposition is open to further exploration, suffice it to say now that this open exchange of female bodies in the raw offers a kind of Ur-text to the dynamics of signification and representation that the gendered female would unravel« (Spillers 2003: 220).
Die Konfrontation dieser provokanten Einsicht von Spillers mit dem historischen Kontinuum des weißen feministischen Claims »Wir wollen keine Sklaven sein!«, der von Wollstonecraft bis in die Frauenbewegung des späteren 20. Jahrhunderts trug, zeigt, dass weiße Frauen bis heute Gender als ein Privileg ihrer freien Subjektivität und Sexualität diskutieren, mit der sie sich vom Versklavtsein und damit auch von Sklavinnen rhetorisch abgrenzen. Spillers hat den Aspekt der Verhinderung von geschlechtlicher Subjektivität von schwar-
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zen Frauen – für die Erfahrung der Versklavung kein rhetorisches Konstrukt war –, bereits 1987 ins Spiel gebracht und seine Implikationen für diese Argumentation der weißen Gender Studies deutlich gemacht: »Indeed, we would go so far as to entertain the very real possibility that sexuality, as a term of implied relatedness, is dubiously appropriate, manageable or accurate to any of the familial arrangements under a system of enslavement, from the master’s family to the captive enclave. Under these circumstances, the customary aspects of sexuality, including ›reproduction‹, ›motherhood‹, ›pleasure‹, and ›desire‹ are all thrown in crisis« (ebd.: 221).
In einer Reihe von romanartigen und essayistischen Texten haben Autorinnen seither versucht, diese Leerstelle imaginativ zu füllen, dem repressiven Schweigen der Geschichtsschreibung entgegenzuwirken. Kulturkritikerinnen wie Spillers und Saidiya Hartman insistieren mit ihren Arbeiten darauf, dass die Geschichte der frühmodernen Versklavung eine Berücksichtigung, ein Echo in postmoderner Theorie – einschließlich der Gender Studies – finden muss. Solche Insistenz lenkt aus schwarzer feministischer Perspektive die kritische Aufmerksamkeit darauf, dass die Genealogien moderner westlicher Gesellschaften im transatlantischen System der Verdinglichung und der extremsten Kommodifizierung menschlichen Lebens liegen. Besondere Beachtung muss in diesem Kontext der Arbeit Hartmans geschenkt werden. Eines ihrer überzeugendsten Argumente in ihrem ersten Buch Scenes of Subjection (1997) war das Aufdecken der triebhaften, emotionalen, kulturellen und rechtlichen Beteiligungen der weißen US-amerikanischen Gesellschaft an der Versklavung und späteren rassistischen Unterdrückung schwarzer Menschen: »Although assertions of free will, singularity, autonomy and consent necessarily obscure relations of power and domination, the genealogy of freedom, to the contrary, discloses the intimacy of liberty, domination, and subjection. This intimacy is discerned in the inequality enshrined in property rights, the conquest and captivity that established ›we the people‹, and the identity of race as property, whether evidenced in the corporeal inscriptions of slavery and its badges or in the bounded bodily integrity of whiteness secured by the abjection of others« (Hartman 1997: 123).
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In gewisser Weise überträgt Hartman dieses Argument auf ihren neueren Text Lose Your Mother durch den Fokus auf die Unmenschlichkeit von 300 Jahren Handel mit versklavten Afrikanerinnen und Afrikanern durch afrikanische, arabische, europäische und amerikanische Akteure in dem Ausmaß, dass die gesamte transatlantische Welt von diesem triangulären Regime durchdrungen ist. In diesem Text, auf den ich zurückkommen werde, stehen ebenfalls die weißen Praktiken der Entsubjektivierung schwarzer Existenz im Mittelpunkt der Kritik, wobei sie vor allem auf die Maschinerien der Gewaltanwendung und Vergewaltigung während des Handels und der Verschiffung rekurriert. Autorinnen wie Hartman haben es sich demnach zur Aufgabe gemacht, den Schleier der weißen proto-abolitionistischen Erinnerung der Archive wie der westlichen öffentlichen Erinnerung zu lüften. Sie haben wiederholt die Frage gestellt, was es für das kritische Denken heute genau bedeutet, wenn die Sklaverei einen modernen »behavioral vortex of money, property, consumption and the flesh« (Young 2005: 4) hervorgebracht hat. In ihrer Aufsuchung des Sklavenhandels auf eine ebenso fast körperlich spürbare wie schwer mental fassbare Weise verfolgt Hartmans symptomatische Lesart des »toten Buches« bzw. »Buches der Toten« (das englische Wortspiel umfasst beide Bedeutungen), wie sie das unermessliche aber gleichsam wirkungslose Archiv der Sklaverei nennt, eine bestimmte textuelle Strategie. Mit dieser Strategie wird die textuelle Spur der Versklavung – Spur hier als ein notorischer dekonstruktiver Begriff im Arsenal der différance – mit referentiellem Wert aufgeladen, der über einen für weiße kritische Theorien typischen metaphorischen Gebrauch des Wortes »Sklaverei« weit hinaus weist. Ein besonders treffendes Beispiel hierfür ist die Beschreibung ihres Besuchs der Kerker in Ghanas Sklavenfestung Elmina: »Human waste covered the floor of the dungeon. To the naked eye it looked like soot. After the last group of captives had been deported, the holding cells were closed but never cleaned out. For a century and a half after the abolition of the slave trade, the waste remained. To control the stench and the pestilence, the floor had been covered with sand and lime. In 1972, a team of archeologists excavated the dungeon and cleaned away 18 inches of dirt and waste. They identified the topmost layer of the floor of the compressed remains of captives – feces, blood, and exfoliated skin« (Hartman 2007: 115).
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Diese Strategie der Re-Referenzialisierung ist der entscheidende politische Hebel für Hartmans Text, um die Beziehungen der Sklaverei zu unseren westlichen Gesellschaften neu zu beleuchten. In paradigmatischer Weise fordert Lose Your Mother, die Aufmerksamkeit auf die weißen, westlichen, mentalen und materiellen Investitionen in das effektive System der Versklavung zu lenken. Die schiere Masse an Details, die der Text aufruft, um die in Archiven passiv vorhandenen, aber neutralisierten Transgressionen der Handelsmaschine zu dokumentieren, zwingt die weiße Leserschaft, ihre Beteiligung an und die kurz- und mittelfristigen Profite der Diskurse und Praktiken der Sklaverei für moderne weiße europäische Gesellschaften zu überdenken. So muss dieser Text als ein entscheidender Beitrag zur Theoretisierung der transatlantischen Moderne gelesen werden, die von der technologischen Maschinerie, der Ökonomie und Epistemologie der Versklavung angetrieben ist. Als eine Art Anrufung enthält der Text eine energische Kritik an der weißen Moderne: »Impossible to fathom was that all this death [die Millionen Toten der Middle Passage, Anm. d. Verf.] had been incidental to the acquisition of profit and to the rise of capitalism. Today we might describe it as collateral damage. The unavoidable losses created in the pursuit of the greater objective. Death wasn’t a goal of its own but just a by-product of commerce, which has had the lasting effect of making negligible all the millions of lives lost. Incidental death occurs when life has no normative value, when no humans are involved, when the population is, in effect, seen as already dead. Unlike the concentration camp, the gulag, and the killing field, which had as their intended end the extermination of a population, the African trade created millions of corpses, but as a corollary to the making of commodities. To my eyes this lack of intention didn’t diminish the crime of slavery but from the vantage of judges, juries, and insurers exonerated the culpable agents. In effect, it made it easier for a trader to countenance yet another dead black body or for a captain to dump a shipload of captives into the sea in order to collect the insurance, since it wasn’t possible to kill cargo or to murder a thing already denied life. Death was simply a part of the workings of the trade« (ebd.: 31).
Wie in Spillers’ »Mama’s Baby« stellt diese Kritik eine Herausforderung an die Gender Studies dar, die über den »add-on race approach«, der die sogenannten multikulturellen Gender Studies der 1990er Jahre (Wiegmann 2002) und der frühen Jahre des 21. Jahrhunderts dominierte, hinausreicht. Sie liefert auch einen überaus kritischen Blick auf den neueren Diskurs der Intersektionalität, der sich mit über zehnjähriger Verzögerung auch in Deutschland etabliert
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hat (siehe Walgenbach u.a. 2007). Es scheint der schwarzen weiblichen epistemischen Position anheimgefallen zu sein, die radikalste kulturelle Erinnerung an die transatlantische Moderne und die systematische Entmenschlichung im Zentrum der gegenwärtigen westlichen Gesellschaften zu artikulieren, welche die Gender Studies in den Blick nehmen müssen, weil Gender, so wie wir den Begriff kennen, auf diese Konfiguration von Gewalt zurückgeführt werden muss. Das Aufzeigen dieses Zusammenhangs richtet sich gegen das seit Langem beklagte, aber andauernde Phänomen in den weißen feministischen Studien und Theorien der Genderstudien, schwarze Frauen als ethnografische Zeuginnen ihrer unterdrückten Lage sowohl direkt als auch indirekt zu instrumentalisieren und dennoch die Relevanz ihrer theoretischen und kritischen Beiträge für die Gender Studies allgemein fortwährend zu ignorieren oder zu verleugnen. Damit stellt sich die Frage, wie genau eine Lesart des Sklavenhandels die Theoriebildung der Gender Studies beeinflusst. Hartmans Kapitel »The Dead Book« und der dazugehörige Artikel »Venus in Two Acts« von 2008 richten ihre Aufmerksamkeit auf die doppelte Verletzung der schwarzen Frau: Zunächst zum bloßen Ding gemacht, abjekt in ihrer opaken menschlichen Subjektivität, deren Begründung die Maschine der Versklavung in ihren eigenen Begriffen verwehrt und die daher nicht existiert. Die weiße Verweigerung/ Leugnung einer menschlichen Subjektivität der schwarzen versklavten Menschen verhindert jegliche Anerkenntnis menschlicher Differenzierung anhand von Kriterien wie Alter, Region, Herkunft, Sprache oder den zu dieser Zeit gültigen Merkmalen für Geschlechtsunterschiede – mit zwei entscheidenden Ausnahmen: Auf den mit menschlichen Körpern überladenen Versklavungsschiffen hatten Frauen noch weniger Platz als Männer, und sie waren dem Terror, sexueller Gewalt ausgesetzt, die – so die weiße Rechtfertigung – keinen Menschen verletzte, sondern eine weibliche Anatomie wie ein Tier gebrauchte. Wie Hartman aufgrund ihrer Recherche in den Archiven der Versklavung – Dokumente der Sklavenschiffskapitäne, Versicherungsgesellschaften, abolitionistische Pamphlete, Ärzte und Rechtsinstitutionen – schreibt: »There are hundreds of thousands of other girls who share her circumstances and these circumstances have generated few stories. And the stories that exist are not about them, but rather about the violence, excess, mendacity and reason that seized hold of their lives, transformed them into commodities and corpses, and identified them with names tossed off as insults and crass jokes. The archive is, in this case, a death sentence, a
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tomb, the display of the violated body, and inventory of property, a medical treatise on gonorrhea, a few lines about a whore’s life, an asterisk in the grand narrative history« (Hartman 2008: 2).
Zwei entscheidende zusammenhängende Fragen hinsichtlich Inhalt und Form resultieren hieraus: »How does one rewrite the chronicle of a death foretold and anticipated, as a collective biography of dead subjects, as a counter-history of the human, as the practice of freedom?« (ebd.: 3) und, vorrangig für Hartman und viele andere schwarze Autorinnen und Autoren: »What are the kinds of stories to be told by those and about those who live in such an intimate relationship with death? Romances? Tragedies? Shrieks that find their way into speech and song? What are the protocols and limits that shape the narratives as counterhistory, and aspiration that isn’t a prophylactic against the risks posed by reiterating violent speech and depicting the grammar of violence? […] Do the possibilities outweigh the dangers of looking (again)?« (ebd.: 4).
Die Gefahren des voyeuristischen Blicks und der damit einhergehenden Schaffung eines Panoptikums dessen, was Hortense Spillers als »pornotroping« (Spillers 2003: 206) der Geschichte der Versklavten bezeichnet hat, verfolgen Hartmans Text; die einzige Strategie, um mit dieser zweideutigen Herausforderung umzugehen, ist die fortwährende Selbstreflexion, die Hartmans Text fast exzessiv durchzieht, denn »Scandal and excess inundate the archive: the raw numbers of the mortality account, the strategic evasion and indirection of the captain’s log, the florid and sentimental letters dispatched from slave ports by homesick merchants, the incantatory stories of shocking […] violence penned by abolitionists, the fascinated eyewitness reports of mercenary soldiers eager to divulge ›what decency forbids (them) to disclose‹, and the rituals of torture, the beatings, hangings and amputations enshrined as law. The libidinal investment in violence is everywhere apparent in the documents, statements and institutions that decide our knowledge of the past. What has been said and what can be said about Venus take for granted the traffic between fact, fantasy, desire and violence« (ebd.: 5).
Mit seinen exzessiven, sich wiederholenden fragenden Gesten, die auf die Bilder der Toten verweisen, stellt Hartmans Text eine Totenwache für die namenlosen, um ihr Leben gebrachten Millionen Menschen der Middle Passage dar.
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Lose Your Mother spricht vom »precarious domicile of words that allowed the enslaved to be murdered« (Hartman 2007: 250), gegen welches lediglich wiederum nur ein fragiles Gebäude von Worten als immaterielle Kompensation stehen kann. In ihrer Arbeit mit dem Archivmaterial, das die Historiografie des Sklavenhandels in letzter Zeit in großen Mengen zutage gefördert hat, rekonstruiert sie die Szenen der Folter, des Missbrauchs und der Auslöschung, welche die Kontenbücher des Sklavenhandels und der abolitionistischen Quellen als bloße Zahlen, Ziffern der Gier, des Verlustes oder sicher verschiffter Fracht füllen. In aggressiver Weise verwehrt sich ihr Text dem Prozess einer historiografischen Familiarisierung, der die Leichen einer zweiten Tötung aussetzt. Ihr Ziel ist genau das Gegenteil, nämlich die Entfremdung der weißen Leserinnen und Leser von ihrem Routine-Wissen über die Versklavung, durch ein Beharren auf Details. Dadurch gelingt es ihr, die Formulierungen anderer Autoren umzuarbeiten, deren Worte trotz bester Intentionen ihrer Meinung nach die Litanei der Normalität fortschreiben: »Outrages of that nature were so common on board the slave ships that they were looked upon with as much indifference as any trifling occurrence; their frequency had rendered them familiar« (ebd.: 143). Hartman versucht akribisch, ihren Leserinnen und Lesern das Ausmaß zu verdeutlichen, zu welchem die der Geschichtsschreibung zur Verfügung stehenden Annalen ein umfassendes Totenbuch bilden, eine Pornografie des Leids, die in der Historiografie des Sklavenhandels bereinigt wurde und daher heutige Leser nur durch eine ethische selbstreflexive und dekonstruktivistische Rekonstruktion der Details heimzusuchen vermag. Vorbei an allen gegenwärtigen offiziellen moralischen Debatten um Entschädigungszahlungen (ebd.: 167169) zielt sie auf ein weißes Publikum, das sich die längste Zeit für historisch unbeteiligt gehalten hat. Weiße Europäer/-innen und Amerikaner/-innen auch kritischer Provenienz haben sich, was die Relevanz der Sklaverei für das weiße Euro-Amerika betrifft, die längste Zeit damit selbst getäuscht, dass – wie auch James Baldwin schon erzürnt bemerkte –, »die Autoren der Verheerung« sich als »unschuldig« einschätzen konnten; die Sklavenhalter waren immer die anderen (ebd.: 169). Die Relevanz ihres Textes liegt demgegenüber in der Erkenntnisvermittlung darüber, wie früh und auf welch grundlegende Weisen die moderne euroamerikanische Welt auf der gezielten Schaffung menschlicher Dinglichkeit, menschlichen Besitzes außerhalb jeglicher menschlichen Subjektivität beruhte.
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Diesem »Totenbuch«, so führt Hartman aus, ist keine einzige autobiografische Erzählung einer weiblichen Überlebenden der Middle Passage-Versklavung gegenüberzustellen (ebd.: 3). Dementsprechend expliziert sie die Herausforderung, die abwesenden menschlichen Schreie, die Morrisons Beloved implizit heimsuchen, zu repräsentieren. In einer selbstreflexiven Wendung nach der anderen ringt sie mit der Unmöglichkeit der Erzählung, welche die Gegengeschichte der Versklavten er-schreiben muss, die aber niemals auf dem soliden Fundament einer menschlichen Stimme aufbauen kann, sondern nur durch den paradoxen Modus des erfundenen Zeugnisses ausgeführt werden kann (Broeck 1999). Ihre Bezeugung ist aber notwendigerweise immer bereits gescheitert, sodass sie auf eine seltsame und beunruhigende Weise Exzess reproduziert, um sich selbst und ihre Leserinnen und Lesern immer wieder zur »acuity of regard« (Scarry in Hartman 2008: 4) zu ermahnen. So re-artikuliert sie ihr Projekt wieder und wieder und fordert die Geduld der Leserinnen und Leser ein: »The archive of slavery rests upon a founding violence. This violence determines, regulates and organizes the kinds of statements that can be made about slavery and as well it creates subjects and objects of power. The archive yields no exhaustive account of the girl’s life, but catalogues the statements that licensed her death. All the rest is a kind of fiction: sprightly maiden, sulky bitch, Venus, girl. The economy of theft and the power over life, which defined the slave trade, fabricated commodities and corpses. But cargo, inert masses, and things don’t lend themselves to representation, at least not easily? […] Is it possible to exceed or negotiate the constitutive limits of the archive? By advancing a series of speculative arguments and exploiting the capacities of the subjunctive (a grammatical mood that expresses doubts, wishes and possibilities), in fashioning a narrative, which is based upon archival research, and by that I mean a critical reading of the archive that mimes the figurative dimensions of history, I intended both to tell an impossible story and to amplify the impossibility of its telling. The conditional temporality of ›what could have been‹, according to Lisa Lowe, ›symbolizes aptly the space of a different kind of thinking, a space of productive attention to the scene of loss, a thinking with twofold attention that seeks to encompass at once the positive objects and methods of history and social science and the matters absent, entangled and unavailable by its methods« (Hartman 2008: 11).
Ihre Anrede oszilliert von Trauer zu Meditation, zu Nachdenken und zu radikaler Revision: »The dream is to liberate them from the obscene depictions
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that first introduced them to us, it is too easy to hate a man like Thistlewood; what is more difficult is to acknowledge as our inheritance the brutal Latin phrases spilling onto the pages of his journals« (ebd.: 6). Thistlewood, der britische Sklavenhalter, der einen umfassenden Bericht seiner maßlosen Herrschaftspraktiken als frühneuzeitlicher Besitzer von Menschen auf seiner jamaikanischen Plantage verfasste, steht bei Hartman allegorisch für das Herrenregime der Sklaverei der Neuen Welt in seiner untrennbaren Verbindung mit den frühneuzeitlichen Investitionen in die weiße westliche Zivilisation. Als prototypisches Beispiel stellt Thistlewoods Erinnerung – obgleich von kritischen Intellektuellen leicht zu verachten – eine Herausforderung für eine weiße Leserschaft dar. Aus einer epistemisch-kritischen statt ethnografischen oder historisierenden Leseperspektive fordert dieser Text von weißen Leserinnen und Lesern eine tiefgreifende De-Identifikation mit den in der modernen Aufklärung verwurzelten Prämissen der Entwicklung der Geisteswissenschaften. Denn Thistlewoods Freiheit des Übergriffs gegen Menschen steht nicht gegen, sondern entspricht den modernen Auffassungen der Souveränität des Subjekts. Wie Hartman argumentiert, müssen die Sklavenbaracken und Thistlewood also nicht als abschreckend grausame singuläre Momente, die der Aufklärung widersprechen, angesehen werden, sondern als emblematisch für das moderne Freiheitsrecht des Subjekts, sich zum Maß aller Dinge zu machen. Diese Privilegierung des weißen Subjekts kontrollierte auch die Praktiken der Historiografie und die kollektive weiße Erinnerung und schuf so eine »sekundäre Ordnung der Gewalt«, die weit über die Abschaffung des Sklavenhandels und das Verbot der Sklaverei hinaus wirksam geblieben ist (Hartman 2007: 5). Hartman, Spillers und Morrison fordern mit diesen Überlegungen die Gender Studies eindringlich auf, ihr benevolentes Denken über ›Rasse‹, wie in der angesagten Addition von ›Rasse‹ zu postmodernen feministischen Diskursen der Subjektivität, zu revidieren. Stattdessen gehe es darum, das moderne gegenderte Subjekt in einen Konnex von möglichem Besitz einerseits (aufseiten der weißen humanen Subjekte) und der Verweigerung, der erzwungenen Abwesenheit von Souveränität (aufseiten der schwarzen Versklavten, in die Abjektion Gedrängten) andererseits – wie er durch die Sklaverei erzeugt wurde –, zu stellen. Diese Abjektion stellte Versklavte und ihre Nachfahren außerhalb aller definierenden Kategorien der Moderne wie Subjekt, Freiheit und Besitz von Rechten. Eine Anerkennung dieser aktiven weißen Rolle in der Produktion von Nicht-Souveränität, von Nicht-Subjektivität von Versklavten, ermöglicht, die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart so neu zu skiz-
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zieren, dass die Beziehung zwischen heutiger kapitalistischer Herrschaft und Sklaverei als Dilemma der Gegenwart zu denken ist (Hartman 2006: 12). In diesem Sinne ist die grundlegende Differenz der frühneuzeitlichen euroamerikanischen Gesellschaften die Trennung des Subjekts vom Abjekt, die Abspaltung des (weißen) souveränen Selbst gegen das nicht-souveräne, dinggemachte, zu besitzende und versklavte Stück Ware. Gender als moderne Kategorie beginnt dann, innerhalb dieser Ökonomie und Epistemologie eine Rolle zu spielen, und zwar präzise als eine Verhandlungskategorie für weiße europäische und US-amerikanische Frauen, um sich den menschlichen Status der Souveränität, Subjektivität und der Besitzrechte erkämpfen zu können. Vergeschlechtlichung und der daraus resultierende Protest und Kampf um Rechte werden zum Momentum menschlicher Souveränität, werden genau zu dem Hebel, den die weißen Feministinnen benutzen konnten, um sich in Abgrenzung zur Versklavung als Menschen und damit als Bürgerinnen zu behaupten. Der entscheidende Punkt in dieser Hinsicht ist nicht, dass afrikanische Gesellschaften sich nicht um unterschiedliche kulturelle, soziale und wirtschaftliche Interpellationen für Männer und Frauen herum organisierten, noch dass in der Sklaverei der Neuen Welt und in kolonialen Gesellschaften weibliche Wesen nicht besonderen Politiken und Praktiken wie der Vergewaltigung und dem Diebstahl von Mutterschaft unterworfen waren. Jedoch galten, wie bereits Spillers argumentiert hat und wie Hartmans Texte ausführen, versklavte weibliche Wesen afrikanischen Ursprungs in der euro-amerikanischen modernen Welt aufgrund ihres Nicht-Menschseins in dieser Logik nie als Frauen und wurden daher nicht angerufen, an der andauernden sozialen Konstruktion und wie immer kontroversen Verhandlung von Gender teilzunehmen. Der entscheidende Punkt ist, dass Gender – eine Kategorie, die einen schwarzen weiblichen Anspruch auf soziale Aushandlungen ermöglicht hätte –, nicht auf ›Dinge‹, auf das, was als menschliches Fleisch konstruiert und behandelt wurde, anwendbar war. Die Kategorie Gender in der westlichen transatlantischen Rhetorik kam im Kontext der Schaffung eines Raums für weiße Frauen auf, die sich dagegen wehrten, wie Sklaven, wie Dinge, behandelt zu werden. Der moderne Begriff von Gender konstituierte sich mit dem frühneuzeitlichen Feminismus diskursiv genau im Übergang des 18. Jahrhunderts von der weiblichen abolitionistischen christlichen Empathie mit den Versklavten zur paradigmatischen Trennung der Frauen von Sklaven – ein Prozess, der sich in den amerikanischen Verhandlungen des späten 19. Jahrhunderts zwischen Abolitionismus und Wahlrecht wiederholte.
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Die Tatsache, dass schwarze Frauen in ihrer langen Geschichte in der westlichen transatlantischen Welt konsequent um den Zugang zur Kategorie Gender gekämpft haben, um einen Raum der Artikulation überhaupt einnehmen zu können, wird am deutlichsten durch Sojourner Truths wütenden subversiven Ausruf »Am I not a woman and a sister?« markiert. Dies ändert aber nichts an der strukturellen Komplizenschaft von Gender als Kategorie mit der Formierung des souveränen, modernen, weißen Selbst. Die Freiheit, weibliches Geschlecht anzunehmen, es kritisieren und seine Zwänge ablehnen zu können, und damit bestimmte Rechte und Behandlungen beanspruchen zu können und zu verdienen, erlaubte weißen Frauen seit dem 18. Jahrhundert, ein Anrecht auf vollwertige menschliche Subjektivität statt ›Dingheit‹ einzufordern. Die beharrliche Verwendung der Analogie von Frauen und Sklaven (Broeck 1999) bot weißen Frauen einen Hebel, um ihren eigenen Katalog an Forderungen zur Anerkennung ihrer modernen, freien Subjektivität im Gegensatz zur Versklavung zu theoretisieren. Als diskursives Konstrukt erfüllte Gender demnach den Zweck, Mensch und Besitz, Subjekt und »Fleisch« voneinander zu unterscheiden. Der weiße Feminismus und die Gendertheorie haben daher aktiv an der Konstitution moderner Gesellschaften, wie wir sie kennen, mitgewirkt. Diese These zu akzeptieren würde ein weitreichendes Maß an Reflexion über die Erwartungen an und Verhandlungen von Genderanalysen sogar in kritischen Ansätzen erfordern, denen bezeichnenderweise ebenfalls oft die Wahrnehmung der epistemischen Agenz schwarzer Intellektualität fehlt. Die Korruption, die der Geschichte der Moderne innewohnt, erfordert zunächst eine Einklammerung der Kategorie Gender. Dies könnte die Gender Studies darin unterstützen, die epistemisch irreführende vergleichende Parallelisierung von Rasse und Geschlecht als Analysekategorien zu überschreiten, die als eine Art Neuauflage der »woman as slave«- Analogie für Gender Studies mit einem antirassistischen Anspruch unhaltbar ist. (Weiße) Genderstudien könnten sich für eine kritische Reflexion ihrer eigenen Einbettung in die Mythologisierung des aufklärerischen Subjektes und seiner Freiheit entscheiden – einer Freiheit, die bestimmte Gruppen von Menschen, nämlich versklavte Menschen afrikanischen Ursprungs, strategisch von der grundlegenden Freiheit des Selbst-Besitzes und dadurch von jeglichem Zugang zur Subjektivität abtrennte, was eine Abtrennung schwarzer Frauen von der Kategorie Gender zur Folge hatte. Wenn das Wissen um den Sklavenhandel und die Sklaverei eine Re-Lektüre der Aufklärung, der Moderne und der Postmoderne bewirkt, ermöglicht dies einen revidierten Zugang zu einer
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von den Gender Studies angestrebten Epistemologie der Emanzipation. Gender Studies leben ebenfalls »in der Zeit der Sklaverei« und in der Zukunft, die diese hervorgebracht hat (Hartman 2007: 133). Es ist das ökonomische, kulturelle und epistemische Regime der Umwandlung von Menschen in Waren, der transgressive Konnex von Gewalt, Begehren und Besitz, der zuerst den Horizont der euro-amerikanischen Moderne formte, den US-amerikanische und europäische Intellektuelle – einschließlich der Gender Studies – für sich beanspruchen. Der Ansatz der Aufklärung zu menschlicher Subjektivität und zu Rechten, der in die Welt, die der Sklavenhandel und die Sklaverei geschaffen haben, eingeschrieben ist (Blackburn 1997), hat eine vertikale Struktur des Zugangs zur Selbstrepräsentation und gesellschaftlichen Teilhabe geschaffen, von der Menschen afrikanischen Ursprungs als vererbbare Waren apriorisch ausgenommen waren. Auf der Grundlage dieser Abjektion nahmen die Kategorien Frau und Geschlecht als Bezugssysteme die Funktion ein, die gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Position weißer europäischer und amerikanischer Frauen zu verhandeln. Zu akzeptieren, dass gerade die Konstitution von Geschlecht als Begriff in der Moderne des frühneuzeitlichen Europa in ein gesellschaftliches, kulturelles und politisches System eingebunden war, das strategisch verworfenes schwarzes Leben produzierte, führt zu einer grundsätzlichen Hinterfragung gegenwärtiger Auffassungen von gegenderter Subjektivität. Hartmans und Spillers’ Arbeiten können daher als ebenso axiomatisch wie diejenigen Baumans, Butlers oder Agambens angesehen werden, was die postmodernen globalen Herausforderungen an die kritische Theorie betrifft. Um eine aktive antirassistische Rolle im Projekt der Dekolonialisierung (post-)moderner kritischer Theorie spielen zu können, müssen Gender Studies die schwarzen feministischen Interventionen über reine Additionsverfahren hinaus anerkennen und sich damit vertieft auseinandersetzen. Solche Anerkenntnis könnte eine epistemische Wende weg vom solipsistischen quasi-universalistischen Präsentismus gegenwärtiger Theorien ermöglichen und ihnen helfen, sich ihrer eigenen Verortung innerhalb der frühneuzeitlichen Geschichte Europas und der Neuen Welt gegenüber zu verantworten. Die Texte von Hartman, Spillers und Morrison dienen dabei als eine Art dekonstruktivistische Anleitungen, da sie uns dazu anhalten, aus der Perspektive schwarzer Frauen zu sehen und zu hören; sie verhindern eine einfache Aneignung des Leidens und einen flüchtigen Hass auf die Thistlewoods (Hartman 2007: 61). Die hier untersuchten Texte üben eine Art bewusstes Parasitentum aus, das die Leserinnen und Leser
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zur Komplizenschaft zwingt, aber sie tun dies nicht auf unschuldige Weise, erlauben keine gutwillige Mildtätigkeit im Umgang mit der Sklaverei. Sie lehren die Leserinnen und Leser vielmehr, dass die Grenzen des Archivs nicht willkürlich und ohne Konsequenzen überschritten werden können, und sie lehren uns auch, das zu respektieren, was Hartman mit Fred Moten als »black noise« (Hartman 2008: 12) bezeichnet. »Auch wir leben in der Zeit der Sklaverei« – in der Zeit, die von Sklaverei gemacht wurde, wie Hartman es ausdrückt. Diese Dringlichkeit der modernen Vergangenheit als postmoderne Gegenwart kann genutzt werden, um die allzu gedankenlose Verwendung von Agambens, Baumans oder Butlers Begriffen von »prekärem Leben« zu unterbrechen – Begriffe, die wieder mit ihrer ganzen modernen Geschichte aufgeladen werden müssen. Die (weiße) kritische Gendertheorie, so sehr sie auch eine radikal-kritische Position in der Verhandlung von patriarchalischer Macht darstellt, hat ebenfalls Teil gehabt an der Gewalt der diskursiven Formationen, welche die disponiblen Leben des »schwarzen Fleisches« hervorgebracht haben. Schwarze weibliche Autorinnen wie Hartman, Spillers oder Morrison fordern angesichts der postmodernen Indifferenz oder Unbekümmertheit die Herstellung oder Aufrechterhaltung einer Beziehung zu dem durch die Versklavung planmäßig hergestellten menschlichen Verlust. Ihre Arbeiten, am klarsten formuliert von Hartman, fordern ein Projekt, das weiße Leserinnen und Leser (in diesem Artikel eine in Gender Studies geschulte Leserschaft) herausfordert, über die Grenzen von Gender hinaus zu denken. Hartman und Best haben eine Reihe an Fragen für ein solches Redress Project herausgearbeitet, darunter: » • What is the violence particular to slavery? […] What is the essential feature of slavery: (1) property in human beings, (2) physical compulsion and corporal correction of the laborer, (3) involuntary servitude, (4) restrictions on mobility or opportunity or personal liberty, (5) restrictions of liberty of contract, (6) the expropriation of material fruits of the slave’s labor, (7) absence of collective self-governance or non-citizenship, (8) dishonor and social death, (9) racism? We understand the particular character of slavery’s violence to be ongoing and constitutive of the unfinished project of freedom. • What is the slave – property, commodity, or disposable life? • What is the time of slavery? Is it the time of the present, as Hortense Spillers suggests,
a death sentence reenacted and transmitted across generations?« (Best/Hartman 2005: 5).
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Für die noch immer hauptsächlich weißen akademischen Gender Studies in Europa bedeutet die Übernahme des Redress-Projektes eine Standortverlagerung in die Zeit der Sklaverei hinein, in ein genealogisches Kontinuum von der frühen Neuzeit bis in die Postmoderne. Die ›Einklammerung‹ von Gender könnte eine Ausweitung der dringend nötigen Allianzen bedeuten, damit die Gender Studies eine Position einnehmen können, aus der sie nicht nur an der postkolonialen Melancholie, sondern auch an der transkulturellen Konvivialität, wie Paul Gilroy sie bezeichnet hat, teilnehmen können. Diese Konvivialität erfordert es, dass weiße Kritikerinnen und Kritiker schwarze weibliche Autorinnen nicht länger als Ethnografinnen ihrer eigenen Lage lesen, sondern als Lektionen der Dekolonialisierung. Die modernen euro-amerikanischen Gesellschaften schufen das Paradox der dehumanisierten und gleichzeitig rassifizierten und hyper-sexualisierten Gruppe von etwa zwölf Millionen Menschen zur willkürlichen Verwendung unter weißem Besitz. Über die Unschuld von Gender als in einer Narration universeller Freiheit verankerte Kategorie hinaus müssen die Gender Studies ihren politischen Anspruch auf die Protokollierung ihrer eigenen Geschichte sowie auf die Geschichte der Realisierung der Subjektivität als eine der Abjektion und fundamentalen Veräußerlichbarkeit schwarzer Menschen lenken.
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Transformationen durch Wanderungsprozesse
Zwischen Ausbeutung und Empowerment? Genderspezifische Handlungsmacht von Maquiladora-Arbeiterinnen in Nordmexiko M IRIAM T RZECIAK /E LISABETH T UIDER
»Jetzt ist es sogar noch schlimmer, noch schwieriger, weil sie [die Personalabteilung] die Auswahl des Personals mit diskriminierenden Elementen versehen. Jetzt gibt es nicht mehr nur die Schwangerschaftstests, sondern auch, ob sie [die Maquila-Arbei-terinnen] einen Partner haben oder in einer Gewerkschaft gewesen sind. […] Sie fragen sie nicht nur nach der Schwangerschaft, wann sie ihre letzte Menstruation hatten und […] ob sie ein aktives Sexualleben haben etc., sondern auch, ob sie einen Familienangehörigen haben, der Rechtsanwalt oder in einer Gewerkschaft ist. Auch die jungen Männer fragen sie das alles, außer der Sache mit der Menstruation natürlich. Bei den jugendlichen Männern untersuchen sie den Körper, um zu sehen, ob sie keine Tätowierungen haben« (Interview mit Milisa Villaescusa, MUTUAC, México D.F., 07.03.2008).
In dieser Interviewpassage fasst Milisa Villaescusa,1 Mitarbeiterin der Frauenund Arbeitsrechts-NGO Mujeres Trabajadoras Unidas A.C. in Mexiko-Stadt, das Einstellungsprozedere in den nordmexikanischen Niedriglohnfabriken, den Maquiladoras,2 zusammen. Zu den Arbeitsbedingungen in der Maquila zählen 1
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In den Interviewausschnitten der biographischen Interviews sind alle angegebenen Namen der Interviewpartnerinnen anonymisiert worden. Die Namen der interviewten NGO Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind nicht anonymisiert worden. Als Maquiladoras werden exportorientierte Industrien bezeichnet, die im Kontext einer globalisierten Arbeitsteilung arbeitsintensive Teilfertigungsprozesse in der Textil-, Auto- und Elektroindustrie an externen Standorten durchführen. Das Wort Maquila leitet sich aus dem spanischen Wort für »Mahlgeld« ab, das in der Kolonialzeit für die Vergütung des Müllers für einen (Teil-)Prozess des Mahlens stand.
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die im Zitat erwähnten Körperchecks mittels Schwangerschaftstest, aber auch die Eruierung (politischer) Aktivitäten, zu denen schon der Rechtanwalt in der Familie gezählt wird. Die feministische und die internationale Solidaritätsliteratur haben diese »diskriminierenden« (Álvarez) und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der globalen Weltmarktökonomie kontinuierlich angeklagt. Im Zentrum der Kritik stehen dabei die monotonen Arbeitsabläufe und die Einschränkungen, körperlichen Bedürfnissen während der Arbeit nachzukommen sowie die Kontrolle von Beziehungen, von Sexualität und der Fruchtbarkeit. Seitdem transnationale Unternehmen in den 1960er Jahren einzelne Produktionsschritte in die externen Teilfertigungsfabriken des globalen Südens verlagerten, wurden die Regionen der Maquila-Industrie zu einem Wanderungsmagneten für Migrationen aus anderen Teilen Mexikos oder verschiedenen Ländern Lateinamerikas.3 Die Unternehmen profitieren – je nach Standort – von den niedrigen Löhnen der Arbeitnehmerschaft, den Steuervergünstigungen und den kaum bis nicht vorhandenen Umweltbestimmungen. Auch die Border-Region im Norden Mexikos stand und steht ob ihrer geopolitischen Lage seit den 1960ern im Fokus der internationalen Arbeitsteilung, als die Grenzindustrialisierungsprogramme und Freihandelsabkommen zwischen ›Nord und Süd‹ dort etabliert wurden. Zu den Zentren der mexikanischen Maquila-Industrie zählt Ciudad Juárez, in der sich ca. 400 internationale Konzerne mit ca. 700.000 bis einer Million Arbeiterinnen und Arbeitern angesiedelt haben (vgl. Berndt 2004). Während wenige Forschungen (vgl. Amastae/Fernández 2009) den Reichtum der Maquila-Städte hervorheben, ist die mexikanische Nordgrenze, insbesondere Ciudad Juárez, seit Mitte der 1990er Jahre für das weitestgehend straflos gebliebene Agieren der Drogenkartelle, den Waffenhandel und die Zahl der Feminizide4 bekannt geworden. Die »subalterne Frau« (Spivak 2008), d.h. die nach
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Unter den Bezeichnungen »Freie Export(produktions)zonen« (FEZ), »Sonderwirtschaftszonen«, »Freie Produktionsstätten« oder »Weltmarktfabriken« sind Teilfertigungsindustrien weltweit in den sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländern vorzufinden. In der Regel handelt es sich dabei um einen geografisch und rechtlich »klar begrenzte[n] Industriebereich, der im Zoll- und Handelssystem eines Landes eine Freihandelsenklave darstellt, in dem ausländische Industrieunternehmen eine Reihe von steuerlichen und finanziellen Anreizen genießen.« (Romero, Ana Teresa 1995, zit.n.: Wick 1998: 236). Mit feminicidio werden die systematischen und in der Regel straflos ausgehenden Morde an Frauen im öffentlichen Raum zum Teil unweit der Maquiladoras und in den Arbeiterinnen- und Arbeiterwohnvierteln bezeichnet (vgl. Monárrez Fragoso 2007).
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Ciudad Juárez migrierte Maquiladora-Arbeiterin, erscheint in diesen Berichten als mehrfach Ausgebeutete, aber nicht als handlungsmächtiges Subjekt.5 Im vorliegenden Beitrag fragen wir entgegen dieser Lesart nach den Handlungsmöglichkeiten, die sich im vermachteten Raum der Maquila-Arbeit in der BorderRegion Mexikos ergeben können.6 Denn in Interviews mit Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, feministischen sowie Frauenrechtsorganisationen und den Maquila-Arbeiterinnen wurden nicht nur die Arbeitsbedingungen und strukturen in den Weltmarktfabriken beschrieben, sondern es wurden auch – insbesondere von den Maquila-Arbeiterinnen – die Erfahrung von Empowerment durch die Arbeit in den Maquilas benannt. Die so nicht erwarteten Empowerment-Erzählungen nehmen wir in unserem Beitrag abschließend zum Anlass, um konzeptionelle Überlegungen hinsichtlich Handlungsmacht anzustellen und sie in den Kontext des Border-Feminismus einzufügen.
W ANDERUNGSMAGNET : M AQUILA Die Grundsteine für die ersten Maquiladoras wurden 1965 im Rahmen des Programa de Industrialización Fronteriza (PIF) an der nordmexikanischen Nordgrenze gelegt, der auf eine Belebung der als ›wirtschaftsschwach‹ identi-
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Der vorliegende Beitrag bleibt sowohl in seiner Begrifflichkeit als auch in der Analyse einer Zweigeschlechtlichkeit verhaftet. Dies liegt zum einen darin begründet, dass in der Maquiladora-Literatur kaum auf trans*-Personen und trans*-Geschlechtlichkeiten referiert wird (eine seltene Ausnahme in Hinblick auf ›schwule‹ Maquila-Arbeiter bietet Thiel 2009). Zum anderen konnten wir auch während unserer eigenen Feldforschungen – trotz hypothetischer Annahme – keine Geschlechterdiversität in der Thematisierung, in den Narrationen und Befragungen vorfinden. Die Geschlechterkategorie ›Frau‹ verstehen wir in unserem Beitrag als Konglomerat von strukturellen Bedingungen und diskursiven Zuschreibungen, die für vergeschlechtlichende Zugehörigkeitsordnungen kennzeichnend sind. ›Frau‹ (und auch ›Migrantin‹) ist demnach weder eine biologische Tatsache noch nur kulturelles Konstrukt, sondern vielmehr Fremd- und Selbstpositionierungen im Raster der Intelligibilität (vgl. Butler 2004). Unser Beitrag ist in verschiedenen empirischen Forschungen fundiert, die wir ausgehend vom Lehrforschungsprojekt Arbeit-Migration und Geschlecht (vgl. Tuider/ Wienold/Bewernitz 2009) im Frühjahr 2008 in Kooperation mit den Universitäten Münster und Hildesheim realisiert haben. In diesem Kontext wurden teilstrukturierte Interviews mit NGOs, feministischen und Frauenrechtsorganisationen in Mexiko-Stadt, Guadalajara, Matamoros, Piedras Negras und Ciudad Juárez sowie neun biografisch-narrative Interviews mit in den Norden migrierten Maquiladora-Arbeiterinnen geführt.
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fizierten Grenzregion zielte.7 Mit der Industrialisierung der Nordregion setzt ein enormes urbanes und industrielles Wachstum ein. Sogenannte twin plants in den twin cities Ciudad Juárez/El Paso, Tijuana/San Diego oder Matamoros/ Brownsville verrichten jeweils auf US-amerikanischer und mexikanischer Seite die arbeitsteiligen Prozesse der Zulieferung bzw. Montage in der Textil-, Auto- und Elektroindustrie. Als twin town zur US-amerikanischen Stadt El Paso war Ciudad Juárez seit mehr als 400 Jahren als ein Durchgangsort in den Norden bekannt.8 Trotz der Verstärkung und dem Ausbau der Kontroll- und Sicherungspraktiken der Grenze nach ›9/11‹ und dem staatlichen »Krieg gegen die Drogen« ab 2006 nehmen nach wie vor hunderttausende Menschen aus ökonomischen bzw. sozioökonomischen Gründen und/oder Zwängen die gefährliche Reise »Al Norte« (Azzellini/Kanzleiter 1999) auf. Sei es aus der Perspektive der ›Abwanderung‹, der ›Zuwanderung‹ oder des ›Transites‹ – die Wanderungsbewegungen in, aus und durch Mexiko zählen derzeit zu den größten weltweit (vgl. Massey/Durand 2010). Jährlich wird von rund 650.000 mexikanischen Staatsbürgerinnen und -bürgern sowie 140.000 Migrierenden aus Zentralamerika ausgegangen, die die Grenze zu den USA legal überqueren (vgl. Maihold 2011; Rubio 2009). Die boomende Maquila-Industrie hatte seit ihren Anfängen große Attraktivität für Migrantinnen. Frauen aus verschiedenen Regionen Mexikos und anderen Ländern Lateinamerikas kamen auf der Suche nach Arbeit oder für einen Zwischenstopp auf dem Weg in die USA nach Ciudad Juárez (vgl. Zamorano Villareal 2009, Barros Nock 2009). Vor allem in der Anfangszeit der Freien-Export-Ökonomien galten Frauen als ›ideale Arbeitskräfte‹ der Fließbandarbeit (vgl. De la O 2007). Zuschreibungen durch die internationalen Konzerne wie die nimble fingers, ihre Unterwürfigkeit sowie ökonomische Ausbeutbarkeit entlang einer patriarchalen Logik, die für Frauen als vermeintliche Hinzuverdienerinnen wesentlich geringere Lohnzahlungen vorsah, stilisierten diese entlang geschlechtsspezifischer Muster zum bevorzugten Arbeitnehmertypus in der Maquila. 7
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Auf internationaler Ebene propagierten entwicklungspolitische Institutionen wie die Weltbank, United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) oder United Nations Industrial Development Organization (UNIDO) den Aufbau von Freien Exportzonen als Förderungsmaßnahmen für die Ökonomien der ›Entwicklungsländer‹ (vgl. dazu kritisch Fernández-Kelly 1980; Preuß 1985). Von 1980 bis 2005 stieg die Bevölkerung von Ciudad Juárez weit über das Doppelte auf 1.313.000 Personen an.
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M IGRATION UND G ENDER IM B LICK DER F ORSCHUNG In der Migrationsforschung wurden Wanderungen lange Zeit mit der Schablone eindimensionaler Push-Pull-Modelle betrachtet. Migration war darin vor allem ein männliches Phänomen, das aus rational-ökonomischen Handlungsmotiven realisiert wurde. Die Wanderungen von Frauen, ihre spezifischen Motivationsgründe und -wege wurden hingegen bis in die 1990er Jahre kaum beachtet. Wenn überhaupt, dann traten Frauen als abhängige Migrierende in Erscheinung, die zum Zwecke der Familienzusammenführung oder ›im Schlepptau‹ männlicher Familienangehöriger mit- bzw. nachwanderten (vgl. Han 2003). Erst im Kontext der Debatten zur »Feminisierung der Migration« (Lutz 2007) trat die Genderspezifik von Migrationskontexten in den Forschungsfokus. Im Zuge des »transnational turn« (Kron 2010) wurde schließlich nicht nur der methodologische Nationalismus (Glick-Schiller/Wimmer 2002) der Migrationsforschung infrage gestellt. Durch die Erweiterung des Raumbegriffes und der Perspektive auf die Pendelbewegungen der Migrierenden zwischen verschiedenen transnationalen und translokalen geografischen, sozialen und kulturellen Regionen und damit einhergehenden Netzwerken gelangten auch die Perspektiven der Migrierenden stärker in den Fokus der Forschung (vgl. Pries 2010; Faist 2000). Seitdem erfolgt die Analyse von »transnationalen Biographien« (Apitzsch/Siouti 2008), von »transnationaler Mutterschaft« (Tuider/ Gualotuña 2009) und »transnationalen Familien« (Bryceson/Vuorela 2002). Nicht nur in der Regulierung von (internationaler) Migration haben die Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit eine zentrale Bedeutung. Die Konstruktionsmodi von Geschlecht beeinflussen auch die Formen und Wege der Migration, den rechtlichen und sozialen Status und die Arbeitsbereiche im Ankunftsland sowie die Bedeutung von Netzwerken und Unterstützungsregimen während und nach der Migration (vgl. für Letzteres Woo Morales 2009). Zudem ergeben sich für die Migration von Frauen spezifische Wanderungsgründe. Die Geschlechtsspezifik von Migrationen liegt gerade darin, als Frau (und zum Teil als Mutter) für das Überleben der Familie verantwortlich zu sein. In diesem Sinne mobilisieren »die leeren Kochtöpfe« und die »knurrenden Mägen« Frauen zur Migration.9 Eine weitere Geschlechtsspezifik
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Mit Blick auf die sozialen Bewegungen in Lateinamerika hat Sonia Alvarez die eben genannten Gründe als Motor für die politische Mobilisierung von Frauen aus-
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in der Migrationsmotivation liegt darin, durch die Migration gewalttätigen Eheverhältnissen zu entkommen sowie patriarchalen familiären oder sozialen Strukturen zu entrinnen, mithin in der Erringung von Selbstbestimmung und Handlungsmacht.
D IE M AQUILADORA: ARBEIT UND E MPOWERMENT
ZWISCHEN
AUSBEUTUNG
In der Frage nach genderspezifischen ›Empowerment‹-Möglichkeiten durch die Migration und die Arbeit in einer Maquila ist sich die Literatur uneinig. Während verschiedene internationale Publikationen auch mögliche positive Aspekte von Arbeitsmigration hervorheben (vgl. etwa Kabeer 2004), werden in der deutschsprachigen Rezeption vor allem die geschlechtsspezifisch ausbeuterischen Umstände der Beschäftigung von Frauen in den Freien Exportzonen thematisiert (vgl. z.B. Azzellini/Kanzleiter 1999, Preuß 1985, Wick 1998). Einerseits bedeutete die Feminisierung der Fabrikarbeit in der machistisch geprägten postrevolutionären Gesellschaft Mexikos ein historisches Novum: Frauen konnten und können so dem informellen Sektor sowie patriarchalen Zuschreibungen und reproduktiven Anforderungen entgehen. Denn die auf den Export spezialisierte Teilfertigungsbranche bietet den Zugang zu einer Anstellung im formellen Sektor sowie damit einhergehend Ansprüche auf Sozialleistungen. Andererseits bedeutet – wie das Eingangszitat von Villaescusa nahelegt – der Eintritt in die Arbeitswelt der Maquiladora die Fortschreibung von Herrschaftsstrukturen im Kontext des postfordistischen, internationalen Arbeits-regimes. Eine 12- bis 14-stündige Arbeitszeit, mangelnde Schutzbestimmungen und Standards bis hin zu genderspezifischen Formen der Gewalt und Diskriminierung führen zu nachhaltigen Folgen für den Körper und das Wohlbefinden der Beschäftigten. Inwieweit ein Empowerment-Prozess durch eine Anstellung in der Maquiladora und die Wanderungen in die Border-Region angestoßen werden kann, ist aufgrund der Heterogenität von Akteurinnen, Institutionen sowie regionalen Besonderheiten nicht generalisierend zu beantworten. Auf einer strukturellen Ebene können persistente Rahmenbedingungen in Gesellschaft und Arbeit gemacht und unter dem Stichwort der »Politisierung von Mutterschaft« diskutiert (vgl. Alvarez 1999).
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ausgemacht werden, die die Erlangung neuer Handlungsmöglichkeiten tendenziell erschweren. Denn wie die Expertinneninterviews in der mexikanisch-USamerikanischen Border-Region gezeigt haben, hat sich die Arbeitsstruktur in den Maquiladoras für Frauen seit den 1970er Jahre wenig verändert.10 Weiterhin handelt es sich um ein an Profitmaximierung orientiertes Arbeitsverhältnis. Instabile, geschlechtsspezifisch ungleiche Arbeitsbedingungen, geringe finanzielle Entlohnung sowie mangelnde berufliche Perspektiven begrenzen die Möglichkeit, geschlechtsspezifische Zuschreibungen und Positionen zu verändern. Die weibliche Arbeitskraft, die nicht gewerkschaftlich organisiert ist, bildet mehr denn je die »Hauptstütze für den gegenwärtigen Welthandel« (Castro Varela/Dhawan 2010: 318). Zudem werden die Arbeiterinnen in den Debatten westlicher Feministinnen und der Solidaritätsbewegung nicht selten als »arm, ausgebeutet und passiv« universalisiert (vgl. z.B. Zimmering 2006). Im Gegensatz dazu beschreiben aber die von uns befragten Arbeiterinnen ihre Arbeit in der Maquiladora als angenehm bzw. zufriedenstellend und in ihren Narrationen kam eine Perspektive des Empowerments zum Vorschein. Die folgenden Aussagen von zwei Maquila-Arbeiterinnen verdeutlichen, dass das eigene Einkommen und insbesondere, Entscheidungen über den eigenen Lohn treffen zu können, einen gewissen Grad an Ansehen und Handlungsmacht bedeuten. So hebt die in der Grenzstadt Matamoros tätige Arbeiterin Rocío die Möglichkeiten zu arbeiten und die Bewertung dieser Arbeit aus ihrer Sicht und der anderer hervor: »Meine Arbeit gefällt mir sehr, ich habe immer gedacht, dass die Arbeit die Menschen an Größe gewinnen lässt und ihnen Würde verleiht. Hier in Matamoros arbeitet nur der nicht, der nicht will oder dem es nicht gefällt« (Rocío zit.n. Quintero/Dragustinovis 2006: 47, Übers. M.T.).
Rocío benutzt im Interviewausschnitt das Wort »Würde« (dignidad), die sie im Rahmen des Arbeitsverhältnisses erlangt hat. Dignidad hat im Kontext Lateinamerikas eine besondere Konnotation, da es diskursiv von der Zapatistischen Bewegung und auch von anderen indigenen Bewegungen Lateinameri-
10 Obwohl im Kontext der Thematisierung der feminicidios auch Veränderungen der internationalen Konzerne beobachtbar sind (beispielsweise werden Fabrikarbeiterinnen aus den jeweiligen Wohnvierteln mit Fabrikbussen abgeholt und direkt hinter die Tore der jeweiligen Maquila auf Firmenkosten transportiert, um so die Sicherheit zu erhöhen), ist der strukturelle Rahmen der Maquila-Arbeit unverändert.
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kas eingesetzt wurde, um auf die Ausrottung und Unsichtbarmachung im Zuge der Kolonialisierung und des nation-buildings, aber auch auf die derzeitig andauernde Marginalisierung der pueblos originarios im postrevolutionären, sich als multikulturelle Nation skizzierenden Mexiko aufmerksam zu machen. Dignidad in Zusammenhang mit Migration und Maquila-Arbeit verweist also auf anhaltende postkoloniale Ausbeutungsverhältnisse im nationalstaatlichen Rahmen und in der Border-Region einerseits und auf die Selbstaneignung und die Versuche der Durchbrechung dieser Marginalisierung andererseits. Rocío skizziert sich dabei als handelnde Akteurin, die sich (bewusst) für diese Arbeit entschieden hat. Auch die aus einer der traditionellen Migrationsregionen, aus Durango, stammende und nach Ciudad Juárez migrierte Sonia verweist in ihrer biografischen Erzählung auf die Entscheidung zur Migration und die Wertschätzung der Maquila-Arbeit. In einer Interviewpassage vergleicht sie ihre bisherige Arbeit in Durango mit der Maquiladora-Arbeit in Ciudad Juárez und resümiert Letztere als zufriedenstellend, denn sie erhalte damit etwas mehr »Freiheit« (libertad). »Sozusagen, alle Vorteile, die sie dir hier [in Ciudad Juárez] in der Maquila geben, geben sie dir dort [in Durango] nicht. Dann […] Ich musste zwei Jobs übernehmen, um zurechtzukommen. Ich arbeitete von Montag bis Montag, alle Tage der Woche. Und, also, am Ende merkte ich, dass ich damit dasselbe verdiente wie hier. Hier arbeite ich von Montag bis Freitag. Das gibt mir drei Tage und ich verdiene, was ich dort in einer Woche verdient habe. Und, aber ich habe Ersparnisse, ich habe ein Auto, Spezialschicht, zwei Essen, all das, was es dort nicht gab. Dann, also, nein, das Geld macht dich freier, ein bisschen freier als dort« (Sonia, biografisches Interview im März 2008, Ciudad Juárez).
Durch die Migration und die Maquila-Arbeit konnte Sonia ihre eigenen und auch die Lebensbedingungen ihrer Kinder verändern. Sie verfügt nicht nur über ein Einkommen, über das sie entscheidet, sondern sie kann nun auch in die Bildung ihrer Kinder ›investieren‹ und ein Auto sowie ein Grundstück in der Nachbarschaft ihrer ebenfalls in Ciudad Juárez arbeitenden Schwestern kaufen. In den Erzählungen der Maquila-Arbeiterinnen wird auch das regelmäßige Essen hervorgehoben, das sie in der Maquila erhalten, und sie berichten davon, dass sie sich nun am wöchentlichen Secondhand-Straßenverkauf Kleidung
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kaufen können. Wenige haben auch Urlaubsanspruch, Krankenversicherung und bei vorhandener Schulbildung die Möglichkeit des beruflichen Aufstiegs in der Maquila oder Zugang zum Internet im Arbeitskontext. Die Erzählungen der Maquila-Arbeiterinnen geben Anlass dazu, darauf zu schließen, dass die Arbeit in einer Maquila von den befragten Frauen trotz schwieriger, zum Teil sexistischer Arbeitsbedingungen in der globalen Weltmarktökonomie wertgeschätzt wird.
T RAVELLING C ONCEPT : E MPOWERMENT AUF W ANDERSCHAFT Der Begriff ›Empowerment‹ hat seit seinem Aufkommen 1985 bei der UNWeltfrauenkonferenz in Nairobi eine kontextuell unterschiedliche Verbreitung erfahren. Ursprünglich verband das Südfrauen-Netzwerk DAWN (Development Alternatives with Women for a New Era) damit eine breite Vision von weltweiter Gleichberechtigung, Entwicklung und Frieden, in der Ungleichheiten, Armut und Gewalt bezogen auf die Kategorien class, gender und race beseitigt werden sollten (vgl. Kerner 2000: 10). Empowerment als self-empowerment stellte eine Strategie marginalisierter Gruppen zur strukturellen Transformation ökonomischer, politischer sowie kultureller Herrschaftsformen dar. Mit der Weigerung, sich in existente Gesellschaftsformen zu integrieren, die auf sozialer Ungleichheit beruhen, wandte sich der Ansatz damit explizit gegen normativ geprägte westliche Entwicklungskonzepte. Explizit als kritisches Konzept angelegt, fand der Begriff zügig eine Verbreitung im entwicklungspolitischen Mainstream – dies allerdings auf Kosten seiner emanzipatorischen Ansprüche. Unter ›Empowerment‹ wird in den entwicklungspolitischen Programmen z.B. des BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit) und der Weltbank seitdem oftmals ein eindimensionales Konzept verstanden, das Frauen aus den ökonomisch armen ländlichen Gegenden mittels zumeist ›westlich‹ geprägter entwicklungspolitischer Strategien den Weg zu einem selbstermächtigten Leben ebnen soll. Im Zuge der UNO-Weltbevölkerungskonferenz fanden diese Interpretationen von Empowerment-Konzepten und daran anknüpfende Förderungsmaßnahmen Verbreitung in der Arbeit mit marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Auch in Mexiko, das weltweit eine der größten NGO-Landschaften aufweist, erfreut
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sich die Begrifflichkeit in den unterschiedlichen frauenpolitischen und feministischen staatlichen wie nicht-staatlichen Organisationen großer Popularität. In den so begründeten Projekten und Programmen findet aber, wie Chandra Talpade Mohanty seit Ende der 1980er kritisiert, eine Homogenisierung und Stereotypisierung der ›Dritte-Welt-Frauen‹ statt, die nicht als aktiv handelnde Subjekte, sondern als kohärente Gruppe mit identischen Interessen repräsentiert werden (vgl. Mohanty 2003: 21f.). Dieser Stereotypisierung von ›DritteǦWeltǦFrauen‹ liegen epistemische Gewaltverhältnisse zugrunde (Mohanty 1988; Spivak 2008). Vor dem Hintergrund dieser Kritiken fragt die Ökonomin Naila Kabeer, inwieweit Empowerment benutzt werden kann, ohne darin eurozentristische Universalisierungen zu (re-)produzieren (1999). Kabeer vertritt die Ansicht, dass alle Menschen über bestimmte Grundbedürfnisse verfügen, wie Nahrung, Wohnraum, Wasser etc., und legt hier das Fundament für ein postkoloniales und feministisches Empowerment-Konzept. Kabeer definiert sodann Empowerment als einen Prozess, substantielle HandlungsǦ bzw. Wahlmöglichkeiten zu erlangen (»the ability to make choices«).11 Damit löst sich Kabeer von der Annahme, dass eine bestimmte Errungenschaft, wie z.B. Lohnarbeit, zwingend ein genderspezifisches Empowerment impliziert. Vielmehr müssen jegliche Faktoren, persönliche wie soziale, politische und kulturelle, in die Analyse einbezogen werden. Das heißt, dass eine Person nicht automatisch über mehr Handlungsmacht verfügt, wenn sie in der Maquiladora Geld verdient, sondern es ist zu untersuchen, wie das Geld benutzt wird bzw. wofür es benutzt werden kann (vgl. Täubert 2004: 29).12
11 Um eine differenzierte Analyse zu ermöglichen, unterscheidet Kabeer (2004: 17 ff.) drei Dimensionen zur Erlangung von Wahlmöglichkeiten. Übertragen auf den Kontext ›Nordmexiko‹ können folgende Indikatoren zugeordnet werden: (1.) Der Zugang zu Ressourcen (Zugang zu Lohnarbeit, mögliche Aufstiegschancen, Arbeitszufriedenheit, Kontrolle über eigenen Lohn, politische Teilnahme, Mutterschutz sowie Zugang zu Kindergärten), (2.) Handlungsspielräume/Agency (Arbeitsklima, Einfluss nehmende Aspekte wie sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz) und (3.) Errungenschaften/Achievements (Höhe und Gebrauch des Einkommens, Urlaubsanspruch, Altersvorsorge). 12 So betrachtet ist Empowerment nicht ausschließlich auf patriarchale Geschlechterverhältnisse zu reduzieren, sondern auf sämtliche Herrschaftsstrukturen zu beziehen, die Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten einschränken. Neben der Untersuchung von Empowerment-Chancen liegt ein weiterer Fokus somit in der Offenlegung von Herrschaftsstrukturen, die Einfluss auf die Entscheidungsmöglichkeiten der Akteurinnen nehmen.
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Kabeers Empowerment-Verständnis ist für die Reflexion der MaquilaArbeit in der mexikanischen Border-Region hilfreich, denn damit kann die Perspektive der NGO-Mitarbeitenden mit den Narrationen der MaquilaArbeiterinnen zusammengebracht werden. Während die NGO-Mitarbeiten– den bei der Frage nach der Ausformung und Aneignung von Handlungsmöglichkeiten die Herrschaftsstrukturen (wie z.B. die fehlende gewerkschaftliche Organisierung, die nachhaltigen Kosten für körperliche und mentale Gesundheit) im Blick haben und diese als prekär, diskriminierend und sexistisch interpretieren, heben die migrierten Arbeiterinnen die sich in der perspektivlosen Umgebung der Borderlands ergebenden Arbeits- und Entscheidungsmöglichkeiten hervor. Auch wenn »the ability to make choices« im Falle der Maquila-Arbeit ›nur‹ bedeutet, einen Beitrag zur ökonomischen Grundversorgung und Überlebenssicherung für sich und die Familie zu erhalten, so ist diese Wahl mit einem Zugewinn an »Würde« und »Freiheit« für die Arbeiterinnen verbunden. Abhängig von der je spezifischen Lebenssituation der einzelnen Maquila-Arbeiterin können der Eintritt in die Arbeitsumgebung und ein eigenes Gehalt auch gewisse Freiheiten und Mobilitäten, z.B. in Bezug auf die Freizeitgestaltung, bedeuten (vgl. dazu auch Trzeciak 2009). In anderen Fällen sind gegenteilige Tendenzen zu beobachten, z.B. wenn sich die Lebenssituation von alleinerziehenden Müttern verschlechtert, wenn ökonomische und soziale Abhängigkeitsstrukturen geschaffen werden und die Verfügung über das Einkommen eingeschränkt ist.
F AZIT : B ORDER -F EMINISMUS
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H ANDLUNGSMACHT
»Das Borderland ist ein unbestimmter Ort, geschaffen durch die emotionalen Rückstände unnatürlicher Grenzziehungen. Es ist ein permanenter Zustand des Übergangs. Das Untersagte und Verbotene sind seine Bewohner_innen« (Anzaldúa 1995: 3, übers. MT/ET).
Die Chicana-Feministin Gloria Anzaldúa beschreibt in ihrem essayistischen Werk La Frontera Strategien und Handlungskonzepte der Bewohnerinnen und Bewohner des Borderlands im Spannungsfeld von multiplen Grenzen. Das Borderland ist ein durch die Rückstände unnatürlicher Grenzziehungen zwischen races, genders, Sexualitäten, Kulturen, Sprachen und akademischen Disziplinen geschaffener ›Ort‹. Die Grenze wird dabei bestimmt durch die
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vielfältigen Konstruktionen des Ein- bzw. Ausschlusses. Die Figur der mestiza erfasst im Border-Feminismus (vgl. Moraga 1981; Anzaldúa 1995) die mehrfach ambigue Subjektposition ebenso wie eine Richtungs- und Ortlosigkeit. Die mestiza verweist auch auf die mehrfache Begrenzung der Existenz durch die diskursive Anrufung und Auslöschung ›der Anderen‹, d.h. der indigenen Frau im nationalstaatlichen Diskurs Mexikos, ferner durch die aktuellen Grenz- und Migrationsregime auf beiden Seiten der Grenze, durch die Verweigerung von Anerkennung sowie durch die Exklusion und Gewalt, die die Erfahrung von Subjektivitäten von Grenzgängerinnen prägen (vgl. dazu Gutiérrez Rodríguez 2004). Durch die Bewegungen und Verhandlungen sind die Bewohnerinnen und Bewohner des Borderlands in der Lage, diese Spannungen und Settings zu modifizieren und mit ihnen umzugehen (vgl. dazu Kron 2010: 124; Sandoval 1998). Hierbei formen sich Subjektivitäten, Erfahrungen und Strategien, die einerseits von Ausschlüssen und Gewalt geprägt sind, die aber andererseits auch eine Erlangung von Handlungsmacht, mithin das Potential für eine »radikale politische Subjektivität« (Anzaldúa 1995: 25) implizieren können. Der Border-Feminismus beinhaltet Anregungen für eine Methodologie, die die Simultanität verschiedener, sich überlappender subjektiver Erfahrungen und diskursiver Zuschreibungen erfasst – und kann insofern die Migrations- und Geschlechterforschung bereichern. Denn im BorderFeminismus können sowohl die Simultanität von neuen, transnationalen Ausbeutungsverhältnissen in der Maquila als auch die Erzählungen von Ermächtigung und Wahl eingebracht werden. Aufgrund des mangelnden Angebots auf dem Arbeitsmarkt stellen Maquiladoras eine der wenigen Lohnarbeitsmöglichkeiten für migrierte Frauen dar. Die Arbeiterinnen begründen die Wahl dieses aus europäischer Perspektive ›prekären‹ und ›instabilen‹ Arbeitsplatzes in der Maquiladora damit, dass er eine besser bezahlte Einkommensquelle darstelle als andere lokale Aktivitäten (vgl. Quintero 2007: 68). Die Partizipation auf dem Arbeitsmarkt bedeutet jedoch nicht nur eine relative Unabhängigkeit hinsichtlich ökonomischer Aspekte, sondern damit einhergehen kann zudem eine Erweiterung von Handlungsspielräumen. Durch die Erlangung einer »anderen Perspektive« (Interview mit Quintero, El Colegio de la Frontera Norte (COLEF), Matamoros, 24.03.2008), von »autoestima« (Interview mit Villaescusa, MUTUAC, México D.F., 07.03.2008) oder einer »neuen Identität« (Interview mit González, FriedrichEbert-Stiftung (FES), México D.F., 04.04.2008) wird ein Prozess angestoßen, der sich auch auf die Sphäre außerhalb des Arbeitsverhältnisses auswirkt. Das
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Spannungsverhältnis von Ausbeutung und Empowerment ist ein unauflösliches, da die Arbeit in der Maquiladora als Zugang zu formeller Lohnarbeit zu einem Zugewinn von Handlungsmacht führen kann. Die Erringung von Handlungsmacht bleibt dabei aber mit der spezifischen Situiertheit der jeweiligen Frau verwoben. »Als Einkommensquelle bleibt die MI eine Einkommensalternative. […] Es ist nicht die beste Arbeit, sie ist nicht emanzipatorisch, in keiner Weise. Aber ich sage, dass du davon auf Kosten deiner Gesundheit, auf Kosten deines Lebens essen kannst. […] Von daher ist es für die Frauen in der Maquiladora […] wie eine Wohltat« (Interview mit Álvarez, MUTUAC, México D.F., 07.03.2008).
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Mobilität und Geschlecht in der Prähistorischen Archäologie – oder: Wer ist am Kulturkontakt beteiligt? J ULIA K ATHARINA K OCH
Wanderungen, Migrationen, räumliche Mobilität sind keine neuen Phänomene der letzten beiden Jahrhunderte, sondern Bestandteil kultureller Entwicklungen seit der Altsteinzeit – auch nachdem der größte Teil der Menschheit seit der Jungsteinzeit sesshaft wurde. Die Wechselbeziehungen zwischen Mobilität, kultureller Entwicklung, Technologietransfer und Veränderung sozialer Strukturen führen zu einem der spannendsten Fragekomplexe in den archäologischen Fächern, die unter dem Oberbegriff »Kulturkontakt« gebündelt werden können. Für alle Perioden und Regionen stellen sich die Fragen nach dem Anteil der Kulturkontakte an einem kulturellen Wandel, der Art des Wandels und der zugrunde liegenden Motive. Die Quellen der schriftlosen Kulturen – und auf diese bezieht sich die vorliegende Studie – können jedoch nur lückenhafte Antworten geben (vgl. Eggert 2006: 189ff.). In dem Beitrag werden zu Beginn die Definitionen der wichtigsten Begriffe vorgestellt. Es folgt ein Überblick zu aktuellen Methoden zur Rekonstruktion von Mobilität in schriftlosen Kulturen, um dann in einem Beispiel aus dem BMBF-Verbundprojekt Lebenslaufrekonstruktion mobiler Individuen in sesshaften Gesellschaften der Metallzeiten Mitteleuropas das Potential dieser Methoden zu zeigen.1 Ziel des Beitrages ist es, einen Einblick zu geben, wie in 1
Das diesem Beitrag zugrunde liegende Teilvorhaben »Integration fremder Individuen in bronze- und eisenzeitlichen Gesellschaften Süddeutschlands. Eine archäologische Analyse« wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) aus dem Förderschwerpunkt »Wechselwirkungen zwischen Geis-
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der Prähistorischen Archäologie eine Annäherung an den Themenkomplex Kulturkontakte und Mobilität erfolgt, und wie durch die Perspektive der Geschlechterforschung alte Modelle zur Vorgeschichte Europas modifiziert werden können.
D EFINITIONEN Zuerst zur Definition des Geschlechts in der archäologischen Geschlechterforschung: Aufgrund der personenbezogenen Quellen, in der Regel Gräber (Eggert 2005: 57ff.), wird unterschieden zwischen dem sozialen Geschlecht, das im Grabinventar mit Trachtelementen und Geräteausstattung sowie in den Bestattungssitten manifestiert worden sein kann, und dem paläoanthropologischen Geschlecht, bestimmt anhand der Knochenmerkmale.2 Durch Einflüsse aus der außerarchäologischen Geschlechterforschung hat sich auch in den archäologischen Fächern die Erkenntnis durchgesetzt, soziales Geschlecht und Geschlechterzugehörigkeit nicht als Eigenschaft von Personen zu verstehen, sondern als Ergebnis komplexer sozialer Prozesse, in denen Geschlecht als soziale Kategorie (re)produziert wird (Gildemeister 2004: 132). Für sozioarchäologische Studien bedeutet dies, die Kategorie Geschlecht nicht mehr isoliert zu analysieren, sondern nur eingebunden in ein Netzwerk weiterer sozialer Kategorien wie Alter und Status und unter Beachtung der zeitlichen Dimension (Sofaer Derevenski 1997). Da wir als Forschende die geschlechtertypischen Merkmale innerhalb der für die Forschungsvorhaben ausgewählten prähistorischen Gesellschaften nicht tatsächlich kennen können, ist in der archäologischen Praxis eine stufenweise Bestimmung zur Gender-Klassifikation angemessen.3 Das soziale Geschlecht
2
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tes- und Naturwissenschaften« unter dem Förderkennzeichen 01UA0811A in den Jahren 2008-2011 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Autorin. Zur Skizze des unter der Leitung von Sabine Rieckhoff, Universität Leipzig, und Michael P. Richards, MPI für evolutionäre Anthropologie Leipzig, durchgeführten Projektverbundes siehe Koch (2010). Zur archäologischen Geschlechterforschung: Kästner (1997); Hofmann (2009); im Druck; Koch, im Druck. – Zur paläoanthropologischen Geschlechterforschung: Lohrke (2004); Alt/Röder (2009). Traditionell werden in der prähistorischen Forschung Gräber mit Waffenausstattung den Männern zugeordnet und solche mit einer reichhaltigen Schmuckausstattung den Frauen; zur Diskussion in der feministischen Archäologie vgl. Kästner (1997).
M OBILITÄT
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GESCHLECHT
IN DER
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kann auf verschiedenen Ebenen sowohl im Material wie auch im Verhalten, im Falle der Gräberfelder also in den Bestattungssitten, manifestiert worden sein (Arnold 2007; Hofmann 2009: 151ff.). Erfassbar wird so, wie das soziale Geschlecht des bestatteten Individuums im Prozess der Beisetzung durch die bestattende Gemeinschaft in einer letzten Ausprägung dargestellt wurde. Auf der materiellen Ebene können neben Objektgattungen und Typen auch der Werkstoff, Verzierungen, Qualität wie Quantität der Objekte und eventuell auch das Alter der Artefakte betrachtet werden. Am gebräuchlichsten ist hier die Ausstattungsanalyse (An- und Abwesenheit von Typen). Auf der rituellen Ebene bietet sich eine Analyse der Mikrostratigrafie (Lage des Körpers und der Beifunde) sowie des Grabbaus an. Für beide Ebenen muss beachtet werden, dass die Merkmale letztendlich nicht von der bestatteten Person, sondern von der Bestattungsgemeinschaft ausgewählt wurden. Zudem sollte die Zuordnung auf diesen beiden Ebenen nicht vorschnell vermischt werden. Denn es wird sowohl geschlechtertypisches Material erfasst als auch geschlechtertypische Bestattungssitten, die im Idealfall übereinstimmen können, jedoch nicht müssen. Können mit der Mehrheit der Gräber zwei Merkmalsgruppen auf einer oder beiden Ebenen gebildet werden, werden diese entsprechend dem modernen bipolaren Geschlechterbild meistens den beiden Großgruppen »Frauen« und »Männer« zugeordnet. Allerdings darf man dabei Kategorien wie Alter und Status nicht außer Acht lassen. Liegt die Zuordnung der Gräber zu den archäologischen Merkmalsgruppen vor, erfolgt der Vergleich mit den paläoanthropologischen Daten zu Geschlecht und Alter. Das biologische Geschlecht in einer morphognostischen und metrischen Diagnose wird anhand definierter Merkmale am Schädel und an den Beckenknochen bestimmt, wobei eine Einordnung auf einer Skala zwischen –2 (hyperfeminin) über 0 (indifferent) bis +2 (hypermaskulin) mit fließenden Übergängen erfolgt.4 Können die zwei archäologischen Hauptgruppen mit dem biologischen Geschlecht mehrheitlich korreliert werden, ist eine Definition der Gender-Gruppen möglich. Die archäologische Praxis zeigt für die meisten europäischen Kulturgruppen bipolare Geschlechterstrukturen an; für eine beachtliche Menge an be-
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Zur Methode der physikalisch-anthropologischen Geschlechtsbestimmung siehe z.B. Herrmann (u.a. 1990: 73ff.); Lohrke (2004). Die zurzeit relativ teure molekularbiologische Geschlechtsbestimmung kann aufgrund der Kontaminationsgefahr ausschließlich an neu ausgegrabenem Material durchgeführt werden (Burger 2007: 279ff.).
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statteten Personen kann so mit hoher Wahrscheinlichkeit das soziale Geschlecht definiert werden. Dennoch gibt es soziale Gruppen, die in der traditionellen Archäologie weniger Beachtung finden als in der an Abweichungen von erkennbaren Geschlechternormen interessierten Gender-Archäo-logie. Ein zentraler Begriff in der Archäologie ist die Kultur bzw. Kulturgruppe (vgl. Wotzka 2000). Als archäologische »Kultur« wird die Gesamtheit der auf menschliche Aktivitäten zurückzuführenden materiellen und immateriellen Äußerungen einer räumlich und zeitlich definierten Gemeinschaft verstanden, die ohne primäre Wertung gegen andere Kulturen abgegrenzt werden kann. Die Probleme in der Praxis fangen bei der Abgrenzung der Kulturgruppen an. Der Kernbereich kann leicht über Merkmale im Siedlungswesen, in den Bestattungssitten, im materiellen Kulturgut definiert werden. Aber die wenigsten Gruppen weisen ein einheitliches Verbreitungsgebiet aller wesentlichen Merkmale auf. So stellt sich die Frage nach der Lokalisierung der Grenzen und Übergänge. Diese Problematik führt zu dem dritten Begriff, der räumlichen Mobilität, die in der Archäologie ganz unterschiedlich definiert wird (vgl. Prien 2005; Knipper/Koch, im Druck); einerseits als Überbegriff für alle Arten der geografischen Bewegungen von Menschen, Tieren und Objekten, andererseits auch sehr eingeschränkt für Wanderungen von Einzelpersonen. Im Rahmen des hier vorgestellten Projektes wird Mobilität als geografische Bewegung von Einzelpersonen und Kleingruppen angesehen, sofern diese dauerhaft die Grenzen archäologischer Kulturgruppen und/oder geochemische Grenzen überschritten haben. Räumliche Mobilität innerhalb dieser Grenzen genauso wie Mobilität verbunden mit einer Rückkehr sind durch archäologische Methoden nicht sicher zu fassen. Mobilität kann in der Archäologie nur aufgedeckt werden, wenn sie mit einer geografischen oder kulturellen Fremdheit einhergeht (Koch, in Vorbereitung).
M OBILITÄTSNACHWEISE IN ARCHÄOLOGISCHEN K ULTURGRUPPEN Mobilität war nicht allein mit Personen verbunden, was die Nachweisbarkeit erschwert, sondern auch Objekte konnten von einem Ort zum anderen transferiert werden, genauso wie Ideen und Wissen, und zwar durch mobile Individuen, die große Entfernungen überwunden haben, ebenso wie durch Weitergabe »down the line«, also quasi von Nachbar zu Nachbar (vgl. Steuer 1992).
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Archäologische Methoden Für die Analyse von Mobilität sind die unmittelbar personenbezogenen Befunde und Funde in den Gräbern interessant. Jedoch ist zu beachten, dass nicht die Bestatteten selbst die Zusammensetzung der Ausstattung und Beigaben sowie das Bestattungsritual bestimmten, sondern die bestattende Gemeinschaft (Hofmann 2008: 140ff.). Das heißt, ob die Objekte der oder dem Toten gehörten, kann selten mit Sicherheit nachgewiesen werden. Dennoch werden diese Inventare innerhalb eines Gräberfeldes hinsichtlich Regelmäßigkeiten in der Zusammensetzung analysiert. Weist ein gewisser Prozentsatz z.B. an adulten Frauen einen bestimmten Armschmuck auf, so können diese Ringe zur Ausstattung einer definierbaren sozialen Gruppe gehören. Interessant sind die Abweichungen von der Norm – wenn andere Verzierungen auf dem Schmuck auftauchen oder völlig andere Schmuckformen oder Geräte. Bei dieser Gruppe jenseits der Norm besteht ein Anfangsverdacht der Mobilität. Eine der wichtigsten Methoden der Archäologie ist der räumliche Vergleich, d.h. im Rahmen einer Gräberfeldanalyse werden möglichst für alle vorkommenden Objekttypen und relevanten Merkmale wie z.B. Verzierungsmuster an Gegenständen die Hauptverbreitungsgebiete ermittelt. Leider zeichnen sich nicht immer klare Verbreitungen ab: Während manche Typen nur kleinräumig vorkommen, sind andere über halb Europa verbreitet; Typen können im Ursprungsgebiet nur in wenigen Exemplaren belegt sein, während sie im Übernahmegebiet verstärkt vorkommen, oder sie tauchen gleichzeitig in verschiedenen Regionen auf. Dennoch können durch zahlreiche Kartierungen Verbreitungsschwerpunkte von Typen und Merkmalen eingegrenzt und so fremde Objekte im Gräberfeld identifiziert werden. Für eine Klärung der Frage nach echten Importstücken oder guten, lokalen Imitaten kann die geochemische Zusammensetzung anorganischer Materialien geprüft werden, um so Hinweise auf die Herkunft der Rohstoffe zu erlangen (Wagner 2007: 113ff.). Aber mit den fremden Objekten sind die fremden Personen leider nicht identifiziert. Ein heikler Aspekt in der Mobilitätsrekonstruktion liegt in der Verknüpfung der Objekt- und Personenmobilität (Knipper/Koch, im Druck). Bislang gibt es vonseiten der Prähistorischen Archäologie kaum methodische Standards zur Identifizierung mobiler Individuen. Konsens war nur, dass es dafür mehr als ein fremdes Objekt im Grab bedürfe. Importierte Prunkstücke und Waffen könnten z.B. auch ein Gastgeschenk sein oder in der Region häufiger
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vorkommende Stücke von guter Qualität Handelsware. Nur einfacher, eher funktionaler Trachtschmuck galt bisher als sicherer Indikator für fremde Personen. Im Rahmen des oben genannten BMBF-Forschungsprojektes wurde ein Analyseweg erprobt, um über die Quantität regionaler und fremder Objekte innerhalb jedes einzelnen Grabkomplexes eines Fundplatzes Aussagen über den Grad der Integration und kulturellen Fremdheit zu gewinnen (s.u.). Doch auch wenn das Inventar sich zu 50 oder gar zu 100 Prozent aus fremden Elementen zusammensetzt, ist letztendlich keine Sicherheit gegeben, ob die zugehörige bestattete Person auch aus der Fremde kam. Archäometrische Methoden Unmittelbar personenbezogene Informationen, die eine Relevanz für Mobilitätsstudien besitzen, sind ausschließlich über multiple Isotopenanalysen der Knochen und Zähne zu erhalten (z.B. Tütken 2010). Bei dieser Methode wird das Prinzip zunutze gemacht, dass einzelne Elemente in ihrer isotopischen Zusammensetzung variieren und so die verschiedenen Gesteinsarten unterschiedliche Isotopenwerte aufweisen. Die im geologischen Untergrund vorkommenden stabilen und radiogenen Isotope gelangen über die Nahrungskette in den menschlichen Körper. Dort werden sie in der Zeit des Zellwachstums in Knochen und Zähne unveränderlich eingelagert (ebd.: 34f., Abb. 2). Diese Messungen der für die Rekonstruktion der Mobilität wichtigen Strontium-, Sauerstoff- und Schwefel-Isotopien erschließen allerdings streng genommen nicht Mobilität, sondern einen räumlichen Unterschied zwischen den Wirtschaftsflächen, von denen die Nahrung während der Kindheit und später im Erwachsenenalter stammte (ebd.: 45). Der Vergleich der Signaturen aus den Zähnen mit geologischen Referenzdaten aus der unmittelbaren Umgebung ermöglicht, durch Übereinstimmungen und Abweichungen Lokalität oder Nicht-Lokalität einzelner Individuen herauszuarbeiten. Die tatsächliche Herkunft fremder Individuen kann hingegen nur schwer auf diesem Wege bestimmt werden, da Isotopenwerte aufgrund ihrer Abhängigkeit vom geologischen Untergrund in ganz Europa wiederholt vorkommen. Ein weiteres Interpretationsproblem entsteht dadurch, dass die Verbreitung der Isotopenwerte in keiner Weise deckungsgleich mit der räumlichen Ausdehnung prähistorischer Kulturgruppen ist. Kulturelle und geografische Fremdheit müssen nicht miteinander korrelieren.
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G ESCHLECHTERROLLEN , M OBILITÄT UND KULTURELLE K ONTAKTE IN DER HALLSTATT ZEITLICHEN G EMEINSCHAFT VOM M AGDALENENBERG In knappen Zügen soll hier ein Fallbeispiel aus dem genannten BMBFForschungsprojekt vorgestellt werden: die Integrationsanalyse zum früheisenzeitlichen Grabhügel Magdalenenberg bei Villingen am östlichen Schwarzwaldrand (Koch, in Vorbereitung). Der in den 1970er Jahren vollständig freigelegte Grabhügel mit 127 Gräbern von 144 Individuen wird in die Zeit von 616 bis ca. 560 v. Chr. datiert (Spindler 2004: 135f.). Kulturell ist er der Westhallstattkultur, eines früheisenzeitlichen Komplexes mehrerer Regionalgruppen, zuzuordnen (Rieckhoff 2001: 40ff.). Im Süden Europas entwickeln sich zu dieser Zeit die griechischen, etruskischen und punischen Stadtstaaten zu wirtschaftlichen und militärischen Zentren, während die Kulturgruppen nördlich der Alpen vermutlich noch in Häuptlingssystemen organisiert waren. Bereits aus dem 7. Jahrhundert sind vereinzelt mediterrane Importgefäße in Prunkgräbern nördlich der Alpen überliefert. Seit den Jahrzehnten um 600 v. Chr. wächst die Menge der Importgüter an (vgl. Honeck 2009), die neben Bronzegefäßen vor allem auch Trachtelemente wie Fibeln (Gewandschließen) und Perlencolliers umfasst. Sehr rasch wurden einzelne Objekttypen aufgegriffen und im eigenen Formenschatz weiterentwickelt. Die Gemeinschaft, die den Magdalenenberg angelegt hatte, gehörte zu den Generationen, die den Beginn des verstärkten Kontaktes nach Süden miterlebten. Die Ausstattung kann in zwei große Gruppen unterteilt werden (zuletzt Burmeister 2000: 46ff.; Koch, in Vorbereitung). Sie umfasst bei einer Gruppe Haarnadeln, Ringschmuck an Hals und Armen, Perlenketten und -colliers, Fibelpaare verteilt auf beide Schultern, Gürtelhaken und -bleche aus Bronze sowie kleine Gefäße. Einer zweiten großen Gruppe wurden einzelne Gewandnadeln mitgegeben, Fibelpaare, parallel zueinander an einer Schulter, Gürtelbleche aus Eisen und Waffen, d.h. Dolche oder Lanzen, außerdem kleine Gefäße. Bemerkenswert ist eine Differenzierung bei den Fibeln nach der Länge (Burmeister 2000: 47): So kommen in beiden Gruppen zwar die gleichen Typen vor, aber zu der Waffengruppe gehören Exemplare von über 9 cm Länge und zu der Ringschmuckgruppe solche von unter 8 cm Länge. Der Vergleich der Ausstattungsmuster mit den paläoanthropologischen Daten belegt eine geschlechtertypische Verteilung. So kann die Ringschmuckgruppe Frauen zugeordnet werden und die an Beigaben ärmere Waffengruppe Männern.
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Die Zuordnung zu einer der beiden Hauptgeschlechtergruppe bleibt jedoch vereinzelt aus methodischen Gründen fraglich, wenn sie auf nur einem einzigen Merkmal beruht, auch wenn es – wie z.B. ein Rasiermesser – traditionell als eindeutiger Marker angesehen wird. Nach der vorgestellten Klassifikation gab es in der Bestattungsgemeinschaft des Magdalenenberges annähernd gleich viele Frauen und Männer unterschiedlichen Alters; eine kleine Gruppe mit 17 Gräbern wies keinerlei offensichtliche Geschlechtermerkmale auf.5 Eine noch kleinere Gruppe umfasst fünf Gräber mit Differenzen zwischen der archäologischen und paläoanthropologischen Bestimmung, so genannte »cross gender«-Gräber. Es zeichnen sich ungeachtet der geringen Zahl zwei Muster ab: Zwei Gräber werden anthropologisch jungen Frauen zugewiesen, ihre Ausstattung war jedoch eher »männlich« mit zwei Lanzenspitzen und zwei Schlangenfibeln.6 Drei Gräber mit anthropologischen Männern verschiedenen Alters weisen eine Mischung im Grabinventar auf mit eher weiblichen wie auch männlichen Elementen.7 Als Beispiel sei auf Grab 108 verwiesen mit einem Eisenrasiermesser, einer Bronzekropfnadel und dem einzigen tönernen Spinnwirtel8 vom Magdalenenberg. Die Zusammenstellung der Verbreitungskarten der im Magdalenenberg vertretenen Typen ließen eine deutliche Verankerung der Mehrheit der Funde in der unmittelbar umliegenden Region erkennen. Dennoch konnten sieben Kontaktregionen definiert werden (Abb. 1). Eine Kontaktregion wird durch den Verbreitungsschwerpunkt mindestens eines im Magdalenenberg vertretenen Merkmals des materiellen Kulturgutes definiert. Zur Westhallstattkultur gehören die Regionen A (Umfeld: Obere Donau, Neckartal), B (Schweizer
5
6 7 8
Diese soziale Gruppe ohne Geschlechtermerkmale ist durch Beigabenlosigkeit bzw. -armut im Grab begründet; für einzelne Individuen liegt aber dennoch die Zuordnung zu einem biologischen Geschlecht vor. Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass diese Gruppe zu Lebzeiten keinerlei Geschlechterzuweisung erfuhr. In der Regel umfasst diese beigabenarme und -lose Gruppe einen größeren Anteil an Gräbern einer Nekropole als am Magdalenenberg. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass der Grabhügel die Begräbnisstätte einer begüterten Mittel- und Oberschicht war (Müller 1994). Angehörige der zugehörigen Unterschicht müssen hier an anderer, noch nicht lokalisierter Stelle bestattet worden sein. Magdalenenberg Grab 19; 24: Spindler 1971: 99 Taf. 36; 37, 1-2. Magdalenenberg Grab 42; 108; 116: Spindler 1976: 58f. Taf. 45; 46, 1-4. Spinnwirtel sind die Schwungelemente einer Spindel, die massenhaft im Kulturgut prähistorischer Fundplätze vorkommen. Aufgrund ihrer Verbindung zum Textilhandwerk werden solche Wirtel in der traditionellen Archäologie als Leitform von Frauengräbern angesehen, obwohl sie zwar selten, aber durchaus wiederholt auch in Waffengräbern vorkommen.
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Mittelland), C (Schweizer Mittelland, Oberrhein), zu anderen Kulturgruppen die Regionen D (Comer Region; Golasecca-Gruppe), E (Norditalien; EsteKultur), F (Slowenien, Ostalpen; Osthallstattkreis) und G (Iberische Halbinsel). Von 128 auswertbaren Inventaren enthielten 31 Gräber identifizierte Fremdformen. Diese wurden für die weitere statistische Auswertung herangezogen (Koch, in Vorbereitung). Bereits in der tabellarischen Erfassung der Häufigkeiten der vertretenen Kontaktregionen pro Grab fällt auf, dass deutlich mehr Frauen als Männer und vor allem Erwachsene vorkommen. Auch in der weiteren quantitativen Auswertung mit Korrespondenz- und Clusteranalyse zeichnen sich zwei Gruppen ab: Die Frauen können aufgrund ihres Ringschmuckes mit den Kontaktregionen Oberrhein und Nordwestschweiz klar zusammengefasst werden; selten besaßen sie zudem Perlen aus anderen Regionen. Die Männer machten anfänglich einen heterogeneren Eindruck. Der kleinen abgrenzbaren Gruppe mit eisernen Fibeln der südalpinen Kontaktregion können jedoch andere Männerinventare zugeordnet werden. Sie enthielten ebenso importierte Fibeln, allerdings aus noch weiter entfernten Regionen in Norditalien und Slowenien. Somit wurden zwei Gruppen mit geschlechterdifferenzierter Verknüpfung zu unterschiedlichen Kontaktregionen herausgearbeitet, was in dieser Art ein neues, zuvor nicht belegtes Modell für die Vorgeschichte Mitteleuropas darstellt.9 Frauen sind hauptsächlich mit den Kontaktregionen Oberrhein und Schweizer Mittelland verbunden, die noch innerhalb der Westhallstattkultur liegen (Abb. 2); die anderen Regionen spielen bei ihnen eine untergeordnete Rolle. Bei Männern, sowie einer »cross gender«Person, sind gerade diese Nachbarregionen ausgeklammert, sie zeigen dagegen Bezüge zu den Regionen südlich und östlich der Alpen (Abb. 3). In dem archäometrischen Partnerprojekt wurden bei 90 Individuen die Isotopenverhältnisse der Elemente Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Schwefel und Strontium für die Rekonstruktion von Ernährung und Mobilität analysiert (Kupke 2011; Oelze u.a. 2012). Die Daten spiegeln besonders bei den Sauerstoff- und Strontiumisotopen die heterogene geologische Landschaft Südwestdeutschlands wider, wie das Streudiagramm von Vicky Oelze u.a. (2012: 10, Abb. 5) zeigt. Durch den Vergleich mit geologischen Referenzwerten gelangten Oelze u.a. (2012) zu einer Einteilung in drei Hauptgruppen entsprechend des süddeutschen Schichtstufenlandes. Vor allem durch abweichende Sauerstoffwerte können am Rand der Werteverteilung einzelne Individuen mit Korrelationen zu alpinen und 9
Bisher ist nur eine Parallele aus der Früheisenzeit im Nordkaukasus bekannt: Reinhold (2005).
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mediterranen Landschaften isoliert werden. Eine Gegenüberstellung der Isotopensignaturen und Fremdgüter zeigt aber ein differenziertes Bild: So waren die Individuen mit Isotopenwerten aus den Randbereichen bis auf eine Person nur mit Objekttypen aus dem Gebiet Obere Donau/Neckartal ausgestattet, also kulturell assimiliert. In den Gruppen mit eher regionalen Isotopenwerten finden sich mehrere Frauen mit Ringschmuck aus den direkt benachbarten Regionen, sowie Männer mit importierten Fibeln. Sie werden vermutlich alle ihre Kindheit nördlich der Alpen zwischen Neckartal, Schwarzwald, Oberem Donautal und Schweizer Mittelland verbracht haben, aber in späteren Lebensphasen entweder mobil gewesen sein oder mit mobilen Personen Kontakt gehabt haben. Das anfänglich so klare Bild der archäologischen Analyse erfährt durch die archäometrische Analyse also eine Differenzierung.
F AZIT Wer ist also in diesem Fallbeispiel am Kulturkontakt beteiligt? Eine einfache Antwort findet sich darauf nicht, denn die differenzierten Mobilitätsstrukturen lassen auch mehrere Arten des Kulturkontaktes in unterschiedlicher Intensität zu. Zu kulturellen Kontakten können zum einen die Männer und Frauen beigetragen haben, die abweichende Isotopensignaturen aus ihrer Kindheit zeigen, aber mit der Grabausstattung vollständig in der aufnehmenden Gesellschaft des Magdalenenberges aufgegangen sind. Immerhin befinden sich darunter auch Männer mit Dolchen, die gemeinhin der Oberschicht zugerechnet werden. Zum anderen ist dies auch für die Frauen und Männer denkbar, die mit der Ausstattung eine Affinität zu Nachbargruppen innerhalb des Westhallstattkreises bzw. zu den Kulturgruppen südlich der Alpen zeigen, aber nordalpine Isotopensignaturen tragen. Weiterführende Interpretationen können nur mit einem Rückgriff auf Analogien aus schriftführenden Kulturen aufgestellt werden (vgl. Koch 2007). Eine eindeutige Antwort kann bei dem derzeitigen Forschungsstand nicht gegeben werden. Denn das vorgestellte Verbundprojekt ist das erste, in dem die Fragen nach Mobilität und Kulturkontakten vorgeschichtlicher Gruppen in Mitteleuropa verknüpft wurden mit Fragen nach den Geschlechterrollen. Es zeigt, wie die Differenzierung des Materials nach sozialen Alters- und Geschlechtergruppen zu neuen spannenden Modellen und Interpretationen führen und vor einer Rückprojektion moderner Geschlechtervorstellungen bewahren kann.
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Abbildung 1: Die Kontaktregionen der Bestattungsgemeinschaft aus dem Grabhügel Magdalenenberg bei Villingen-Schwenningen (Fünfeck).
Quelle: Autorin.
Abbildung 2: Magdalenenberg, Schwarzwald-Baar-Kreis, Grab 122. Die Grabausstattung einer 20- bis 30-jährigen Frau mit der für den Magdalenenberg typischen Tracht mit Armschmuck, Kopfnadeln und Gürtelschließen. Die meisten Beigaben sind im Oberen Donautal und im Neckartal verbreitet, einige, wie die Armspiralen, stammen dagegen aus dem Schweizer Mittelland, Bogenfibeln und Korallenperlen sogar aus Norditalien.
Quelle: Spindler 1976, Taf. 66-69.
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Abbildung 3: Magdalenenberg, Schwarzwald-Baar-Kreis, Grab 81. Die Grabausstattung des 40- bis 60-jährigen Mannes umfasst typischerweise nur wenige Stücke. Die Dragofibel Typ Vace stammt vermutlich auch aus dem südöstlichen Alpenvorland.
Quelle: Spindler 1973 Taf. 49.
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Europäische Netzwerke, Gender und Kulturpolitik. Christina von Schweden als Förderin der Musikkultur in Rom K ATRIN L OSLEBEN
Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen verschiedene Netzwerke in der Frühen Neuzeit und sich in diesem Kontext ereignende Wanderungen von Menschen, Gegenständen und Musik durch Europa: An ihr Land gebunden, ›auf dem Thron sitzend‹, holte die regierende Königin Christina von Schweden (1626-1689) das kontinentale – andere – Kulturleben zu sich an den Hof; unmittelbar nach ihrer Abdankung begann ihre Reise durch Europa nach Rom, wo sie seit 1655 überwiegend lebte. Doch gerade in den Zeiten räumlicher Sesshaftigkeit entwickelte Christina von Schweden eine rege Patronagetätigkeit und initiierte damit musikkulturelle Wanderbewegungen sowohl nach Stockholm als auch nach Rom, wo ihr Hof zu einem künstlerisch-politischen Anziehungspunkt wurde. Sie verpflichtete die berühmtesten Sängerinnen und Sänger ihrer Zeit wie Maria Landini, Angela Maddalena Voglia, Paolo Pompeo Besci, Antonia Coresi u.v.m. für musikalische Ereignisse. Es ist faszinierend zu sehen, welche auch heute noch bekannten und im heutigen Konzertleben präsenten Kompositionen auf die Initiative der Christina von Schweden zurückzuführen sind: Zu ihrem Haushalt gehörten die berühmtesten römischen Musiker des 17. Jahrhunderts wie Giacomo Carissimi, der den Ehrentitel eines ›maestro di cappella del concerto di camera‹ trug; Carlo Ambrogio Lonati und Marco Marazzoli waren als Kammermusiker, Alessandro Stradella als ›servitore da camera‹, Bernardo Pasquini als ›principe della musica‹ und Giuseppe Maria Donati als ›musico primario della regina‹ an ihren dortigen Hof gebunden.
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Besonders faszinierend wird die Sicht auf die Patronagetätigkeit aber dann, wenn eine interdisziplinäre Herangehensweise das Blickfeld erweitern und Intentionen enthüllen kann, die das Verhalten der Königin offenbar sinnhaft erklären. Es sind soziologische und soziopolitische Grundlagen, die durch die vielschichtige Gemengelage führen und sich erst durch die geschlechterwissenschaftliche Perspektive vollends entfalten, wenn der Blick sich auf das ›doing gender‹ der Protagonistin richtet und ein gedankliches Verharren innerhalb der eng gesteckten Grenzen der jeweils wirksamen Geschlechterrollen bzw. normen verhindert. Die Musikgeschichtsschreibung einerseits hat bislang vermieden, der Patronage von Corellis Triosonaten opus 1, Stradellas Prolog Fermate ormai fermate oder Pasquinis Oper Alcasta eine Motivation jenseits von Repräsentation eines ehemals königlichen Status zuzuschreiben und die Musikpatronage der Christina von Schweden und ihres römischen Umfelds als konkret politisch motiviert zu sehen. Sie klammert politische Kontexte fast gänzlich aus. Andererseits bleibt in der politischen Geschichtsschreibung zur Königin die Musik eine Randerscheinung und höchstens das schmückende Attribut einer Königin als Musikliebhaberin; somit erfährt die frühneuzeitliche Musikkultur eine Marginalisierung, die ihrem Stellenwert im römischen Leben nicht entspricht. Denkt man Musik und Politik des 17. Jahrhunderts jedoch auf der Grundlage der Soziologien Pierre Bourdieus und Martina Löws zusammen, so enthüllt sich das wechselseitige Erklärungspotential der beiden Bereiche. Erst in der kulturwissenschaftlichen Annäherung an das Phänomen ›Musikpatronage‹ wird die Bedeutung von Musik im politischen Leben deutlich. Nach mehreren Fehl- und Totgeburten brachte Maria Eleonora von Brandenburg (1599-1655) im Dezember 1626 als einzig überlebendes Kind aus der Ehe mit Gustav II. Adolf die Thronfolgerin Christina von Schweden zur Welt. Als Gustav II. Adolf am 6. November 1632 in der Schlacht von Lützen fiel, wurde die Sechsjährige zur »Königin der Schweden, Goten und Vandalen, Großfürstin von Finnland, Herzogin von Estland und Karelien sowie Herrin von Ingermanland« ernannt; die Regierungsgeschäfte übernahm bis zu ihrem 18. Lebensjahr ein Regierungskonzil unter der Führung des Kanzlers Axel Oxenstierna, der ebenso für ihre Erziehung und Bildung verantwortlich war. Christina von Schweden sollte, so bestimmte es das Gesetz und hatte es ihr Vater testamentarisch bekräftigt, zur Thronfolgerin ausgebildet werden. Im betreffenden Abschnitt ihrer Autobiografie inszenierte die Königin ein Bild von ihrer Veranlagung und ihrer Ausbildung, das Rollenzuschreibungen aufgrund
E UROPÄISCHE N ETZWERKE, G ENDER
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ihres biologischen Geschlechts die Basis entziehen sollte: Körperliche Betätigung, Denken oder Lernen – sämtlich einem männlichen Tätigkeitsfeld zugeschrieben – fielen ihr demnach leicht; ihr Widerwillen gegenüber weiblich konnotierten Tätigkeiten wie z.B. Handarbeiten vereint sich in ihrer Darstellung mit einer Unfähigkeit, diese zu lernen. Sie konstruierte ihr Selbstbild entlang eines männlichen Geschlechtermodells und trug auf diese Weise zu einem Bild von sich als eines zur Machtausübung bestimmten »Prinzen« bei: 1 »Deine Gnade Herr, ließ mich nicht umsonst arbeiten. Binnen kurzem machte ich in meinen Studien und Übungen Fortschritte, die mein Alter und mein Geschlecht weit übertrafen. Der König hatte diesen Männern befohlen, mir eine ganz männliche Erziehung zu geben und mich alles zu lehren, was ein junger Prinz wissen muß, um würdig regieren zu können. Er hatte ausdrücklich erklärt, daß man mir, außer Ehrbarkeit und Schüchternheit, keine weibliche Denkungsart beibringen sollte. Im übrigen sollte ich wie ein junger Prinz gehalten und in allen Tugenden und Fertigkeiten eines Prinzen unterrichtet werden. Seltsamerweise unterstützten meine Neigungen seine Absichten, denn ich empfand einen unbezwinglichen Widerwillen gegen alles, was Frauen sagen und tun. Ich zeigte mich ganz unbegabt für alle weiblichen Handarbeiten und Beschäftigungen und wollte mich darin nicht bessern. Hingegen faßte ich den Unterricht in allen Wissenschaften, Sprachen und Leibesübungen erstaunlich leicht. Mit vierzehn Jahren beherrschte ich alle Sprachen, Wissenschaften und Leibesübungen, die man mich gelehrt hatte. […] Mit einem Wort: durch alle empfangene Unterweisung und alle meine Studien erwarb ich mir dank Dir, Herr, was ein Prinz wissen muß und eine Prinzessin rechtschaffen erlernen kann«.2
Christina von Schweden erhielt von früher Kindheit an Unterricht in Mathematik, Schwedisch, Französisch und Deutsch und wurde in den klassischen Sprachen, Geschichte und Religion vom ehemaligen Professor der Universitäten Uppsala und Stockholm, Johannes Matthiæ Gothus, sowie in Staatskunst von Reichskanzler Axel Oxenstierna unterrichtet (Rodén 2008: 56ff.). Als Achtjährige gab sie Audienzen (Sidén 1997: 228), 16-jährig nahm sie an Reichstagsversammlungen und anderen Staatsakten teil. Sie übernahm, als 18-
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Mehr zur Kohärenzbildung in (Auto-)Biografien siehe Bourdieu (1990: 76). Das Leben der Königinn Christina von Schweden, von ihr selbst beschrieben, mit einer Zuschrift an Gott, in: Arckenholtz (1760, Bd. 3).
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Jährige für mündig erklärt, 1644 die Regierungsgeschäfte, wobei ihr Axel Oxenstierna (wie auch schon ihrem Vater) einflussreich zur Seite stand. 3 Schwedens Stellung als europäische Großmacht verlangte einen Hofstaat, der diese angemessen widerspiegelte. Bereits die Hochzeit von Gustav Adolf und Maria Eleonora von Brandenburg hatte eine Reform der Hofkapelle bewirkt, wo nun mehr als 20 überwiegend deutsche Musiker und ein siebenköpfiges Hoftrompetenkorps das zeitgenössische italienische und deutsche Repertoire einführten. Hofkapellmeister war der Brandenburger Bartholomaeus Schultz-Praetorius, Hoforganist Andreas Düben aus Leipzig (Kjellberg 2001: 94). Christina von Schweden war kontinentaler höfischer Kultur gegenüber aufgeschlossen4 und investierte nach dem politischen Anschluss Schwedens an Frankreich und den finanziellen und territorialen Gewinnen im Westfälischen Friedensabschluss in neuen Dimensionen in die höfische Musikkultur, obwohl der Staatshaushalt belastet war. Sie vervielfachte die Ausgaben für ihre Kapellen, die sie mit Musikern aus Frankreich und Italien beständig vergrößerte. Die Musiker aus den Zeiten ihres Vaters arbeiteten gemeinsam mit den französischen Sängern, Streichern und Lautenisten, wovon ein Tabulaturband mit mehr als zweihundert Kompositionen u.a. von Pierre Verdier, Nicolas Picart, Andreas Düben und Gustav Düben zeugt (ebd.: 95). Auch aus Italien kamen durch den Herzog von Bracciano, Paolo Giordano II. Orsini, Informationen über die dortigen kulturellen Entwicklungen (de Bildt 1906). Parallel dazu holte die Regentin Vertreter der kontinentaleuropäischen Bildungselite wie Isaac Vossius, Gabriel Naudé5 und Nicolas Heinsius als Bibliothekare der 1648 durch die Eroberung und Plünderung der Kunstkammer Rudolfs II. in der Prager Burg aufgestockten Sammlung. René Descartes gehörte zu ihren Briefpartnern, bevor er 1649 an den Hof der schwedischen Königin reiste, wo er verstarb. Während Christina von Schweden kontinuierlich am Aufbau einer am kontinentalen Vorbild orientierten und der Stellung des Landes als angemessen erscheinenden Hofkultur arbeitete, reifte ihr Entschluss abzudanken. Über die Gründe hierfür wird seit Lebzeiten spekuliert: Wandte sie sich dem katholischen Glauben zu und dankte deshalb ab, oder war die Konversion die einzige Möglichkeit, sich nach einer Abdankung nicht einem weltlichen Herrscher
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Erst 1650 wurde sie zur Königin gekrönt. Mehr dazu siehe Elias (2002). Naudé arbeitete für Kardinal Guido di Bagno, Kardinal Antonio Barberini (bis 1642) und Kardinal Jules Mazarin (vgl. Braesel 2008: 70).
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unterwerfen zu müssen? Könnte eine Abdankung die einzige Möglichkeit gewesen sein, ledig und kinderlos zu bleiben? (Stolpe 1962: 126). Zog sie die italienische Kultur derart an, dass sie ein Leben in Rom dem in Schweden vorzog? (ebd.: 176ff.). War sie die Herrscherpflichten leid? Waren politische oder sexuelle Probleme der Grund? (Findeisen 1992: 153). Sowohl die politischhistorischen Wissenschaften als auch die Musikwissenschaft mit ihrer traditionellen Fokussierung auf werk- und stilästhetische Fragen sind an der Person Christina von Schweden interessiert, doch scheint erst ein interdisziplinärer Zugang Licht ins Dunkel zu bringen. Eine Kontextualisierung ihres musikkulturellen Handelns in den römischen mikropolitischen Netzwerken mit Beachtung der Kategorien gender und class können den Erkenntnisgewinn hier stark vergrößern. Zurück zur Abdankung, mit der Christina von Schweden Historikerinnen und Historikern Kopfzerbrechen bereitet: Ihr Cousin Karl Gustav wurde am 9. Oktober 1650 als ihr Thronfolger anerkannt, elf Tage später wurde Christina von Schweden zur Königin von Schweden gekrönt. Ein knappes Jahr nach der klug geregelten Erbfolge verkündete sie vor dem Reichsrat ihren Entschluss, abzudanken und scheiterte damit. Nun suchte Christina von Schweden die Nähe zu Spanien unter Philip IV., der Don Antonio Pimentel de Prada, einen überzeugten Katholiken, als Diplomaten nach Uppsala schickte, und auch der Besuch des Jesuiten Godfrid Francken in Stockholm wurde von spanischer Seite veranlasst (Rodén 2008: 116). In dieser schwedisch-spanischen Konstellation wurden Konversion und Abdankung vorbereitet, inklusive der Verschiffung von Kunst- und Münzsammlungen, Gobelins, Schmuck und der königlichen Bibliothek. Die Bibliothek Christina von Schwedens befindet sich heute zu weiten Teilen in der Biblioteca Apostolica Vaticana, nachdem sie Pietro Ottoboni nach dem Tod der Königin aufgekauft hatte. Spanien blieb wichtig für den Konversions- und Abdankungsprozess, wenn auch zwei römische Jesuiten, Francesco Malines und der Mathematikprofessor und Naturwissenschaftler des Collegio Romano, Paolo Casati, an den schwedischen Hof kamen und dort die Konversion lancierten (Stolpe 1959: 183f.). Im Februar 1654 wiederholte Christina von Schweden das Abdankungsgesuch erfolgreich. Der erste Paragraf des Abdankungsvertrags schrieb fest, dass Christina von Schweden ihren Status als Königin zeit ihres Lebens behalten würde, samt »jedem Recht, Freiheit und Unabhängigkeit, die uns von Natur aus zusteht«.6 6
»[…] rätt, frijheet och independence som oss effter naturen tillstår […]«, zit.n. Rodén (2008: 136).
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Schließlich dankte Christina von Schweden am 6. Juni 1654 im Schloss von Uppsala ab. Zeitgleich mit der Krönung ihres Cousins zum König Karl X. Gustav verließ sie das Land über den Sund nach Dänemark, Hamburg, Antwerpen, Brüssel, wo sie inoffiziell zum katholischen Glauben konvertierte, Köln, Frankfurt a.M., Augsburg, Innsbruck, wo sie am 3. November offiziell konvertierte, und zwanzig weiteren Städten im Kirchenstaat, bis sie schließlich kurz vor Weihnachten in Rom einzog. Rom, die zweite Heimat der Christina von Schweden, war die Stadt der Päpste. Das Verhältnis zwischen den Päpsten und den Kardinälen, den römischen Adligen, den kommunalen Behörden, den Vertretern der Generalkonzilien und Fürsten war am Ende des 15. Jahrhunderts ein Tauziehen um Machtansprüche (Reinhardt 1992: 18). Während die päpstliche Angst vor den Konzilien lange bestehen blieb, ist die »Geschichte der Kardinäle in der Renaissance […] die Geschichte einer schrittweisen Zähmung« (Reinhardt 1992: 57). An der Seite der Päpste, aber oft auch gegen sie, stand die Kurie als Gesamtheit der Behörden und Einrichtungen; Kardinäle und andere Würdenträger übernahmen darin in so genannten Konsistorien und Kongregationen verschiedene Funktionen; teils gehörten auch säkulare Beamte unterschiedlichster Ranghöhe ebenfalls zur Kurie. Neben den Kongregationen übernahm das Staatssekretariat die wichtigsten staatlichen Aufgaben, zu denen die politische und finanzpolitische Korrespondenz des Papstes gehörte. Da das Amt zum Vertraulichsten gehörte, wurde als Kardinalstaatssekretär in der Regel ein Neffe des Papstes ernannt. Mit dem Tod des Papstes erlosch der Anspruch des Nepoten auf dieses Amt. Einer Papstwahl folgte also in der Regel ein umfassender personeller Austausch in der Führungsschicht. Im Schnitt trat zwischen 1417 und 1799 alle achteinhalb Jahre ein Konklave zusammen, um den nächsten Nachfolger Petris zu wählen (Büchel 2003: 286). Der stete Wechsel von regierenden Familien führte »zu einem außergewöhnlich mobilen und dementsprechend hochkompetitiven Sozialklima« (Karsten 2003: 6), das von jenen, die am Regierungsspiel teilhaben wollten, Elitenangehörigen wie Parvenüs, erforderte, auf verschiedene Arten und Weisen politisch-gesellschaftliche Netzwerke zu knüpfen und beständig zu verdichten.
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C HRISTINA VON S CHWEDEN
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M USIKPATRONIN
»Ich wüsste gerne, ob es einen besseren Komponisten als Carissimi oder einen, der ihm vergleichbar wäre, gibt.«7 Mit dieser begeisterten Aussage zeigt sich Christina von Schweden im Mai 1652 als Kennerin der römischen Musikszene, zu einer Zeit also, da sie selbst noch in Stockholm regierte. Zielsicher wählte die Königin einen der besten Musiker der Stadt für ihren römischen Hof aus. Giacomo Carissimi, geboren 1605, besetzte seit 1629 eine Schlüsselposition des römischen Musiklebens. Er war Kapellmeister an der Kirche Sant’Apollinare des jesuitischen Collegio Germanico-Ungarico und blieb diesem Posten trotz interessanter Angebote aus Venedig oder Brüssel bis zu seinem Tod 1674 treu. Er schrieb etwa 18 Oratorien, von denen lediglich das Oratorio della Santissima Vergine (Libretto: Francesco Balducci) und Daniele Profeta in italienischer Sprache verfasst sind.8 Alle anderen waren – einige von ihnen als Historia, keines als Oratorio bezeichnet – in lateinischer Sprache und für die Fastenandachten im Oratorio del Santissimo Crocifisso, dem einzigen Ort lateinischer Oratorienpflege in Rom, komponiert.9 Bereits im Juli 1656 zeichnete die Königin den Komponisten mit dem Ehrentitel des ›maestro di cappella del concerto di camera‹ aus; für sie und andere Adlige Roms schrieb er vermutlich zahlreiche seiner weltlichen Kantaten, Duette und Trios, von denen Kopien in Teilen in den Familienarchiven der Chigi und Barberini aufbewahrt sind.
D AS O RATORIO
DI
D ANIELE P ROFETA
»Die Königin fuhr mit ihren virtuosen Gesellschaftsabenden fort und führte zur Fastenzeit als geistliche Übung ein frommes Oratorium jeden Mittwoch in ihren Räumen ein, unter der Leitung Pompeo Colonnas, Fürst von Gallicano: Man begann am zweiten
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Brief vom 16. Mai 1652 an Paolo Giordano Orsini, zit.n. Allsop (2009: 66). Die biografischen Informationen zu Carissimi sind dünn, vgl. Jones (2001: 135). Vgl. Massenkeil (2000: 213). Welche Werke davon aufgeführt wurden, ist nicht bekannt (ebd.: 205). Carissimi hinterließ ein umfangreiches Œuvre, allerdings wurden, als die Societas Jesu im 18. Jahrhundert verboten wurde, zum einen große Teile der Autografe als »Abfall« aus dem Bestand des Collegio Germanico verkauft (Jones 2001: 137), zum anderen ist die Authentizität der Werke gerade aufgrund seiner Berühmtheit in vielen Fällen anzuzweifeln. Mit großer Sicherheit allerdings stammt das Oratorium Daniele Profeta für Königin Christina aus seiner Feder.
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Mittwoch im März, und es wurde die Geschichte des Daniels in Musik gesetzt, die dem Werk des selben Fürsten würdig war, vorgetragen« (Priorato 1656: 314f.).
Fürst Pompeo Colonna leitete die Reihe von sechs Oratorien, die Christina von Schweden im Rahmen ihrer Akademie, einem Zusammentreffen von Kurienmitgliedern, Gelehrten, Adligen und Literaten in ihrem Logement, dem Palazzo Farnese, für die Fastenzeit geplant hatte. Am 8. März 1656 eröffnete er mit dem italienischsprachigen Oratorio di Daniele Profeta / à 6. / Del Sig. Iacomo Carissimi, dessen Libretto der Adlige selbst verfasst hatte. Auf den ersten Blick scheint im Libretto Pompeo Colonnas die mit posttridentinischer Kunst und Musik angestrebte ›gefühlsmäßige Angleichung‹ des Hörers behindert zu werden, da Colonna die Erzählung der Geschichte dort aufhören lässt, wo sie inhaltlich vermeintlich auf ihre Klimax zusteuert. Mit der Forderung der Satrapen und Eunuchen nach Daniels Tod endet das Werk. Es fehlen die für ein Oratorium typischen spannenden Momente in einem bewegten Handlungsverlauf, die kathartische Läuterung eines tragenden Charakters und die daraus resultierende peripetische Wendung. Den ersten Teil des Oratoriums dominieren die Satrapen, im zweiten Teil setzt Colonna den Schwerpunkt auf die Ausgestaltung des folgenden inneren Konflikts des Königs Darius (Smither 1977: 186). Damit erreicht Colonna eine andere, nicht minder spannende Wirkung, nämlich einen starken inhaltlichen Bezug zur Königin als Adressatin: Ein resignierender Herrscher wird von seinen Vertrauten, den Satrapen, schlecht beraten, was ihn in eine tiefe Krise stürzt. Der Chor der Satrapen steht für die ›fehlgeleiteten‹ protestantischen Räte am Stockholmer Hof, die gegen den katholischen Glauben agierten. Dass der ›wahre‹, der katholische Glaube jedoch im Fall der Christina von Schweden gewonnen hatte, verkörperte die Königin allein durch ihre körperliche Anwesenheit im Publikum. Unter Einbeziehung der politischen Umstände Roms eröffnet sich daher eine interessante Deutungsmöglichkeit des Oratoriums: Mit der Wahl des Librettisten Pompeo Colonna war eine Beziehung hergestellt zwischen der Initiatorin Christina von Schweden und dem Verfasser, die vom Publikum als solche wahrgenommen wurde. Pompeo Colonna gehörte nicht nur, wie die meisten der Librettisten des frühen römischen Oratoriums, dem dortigen Adel an (Speck 2003: 431), sondern war als ein Staatsfeind Spaniens politisch eine brisante Person. Interessant wird dies, weil Spanien die Konversion der Königin unterstützt, die Reise über Antwerpen und Brüssel nach Rom gestaltet und
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politische Bande geschmiedet hatte, während sie zu Beginn ihres Aufenthaltes in Rom bestrebt war, sich umgehend aus der spanischen Protektion zu lösen. Christina von Schweden hatte Pompeo Colonna, Principe di Gallicano, bereits auf ihrer Reise durch den Kirchenstaat getroffen und wurde von ihm nach Rom begleitet. Bei den Spaniern waren weder die gemeinsame Reise, noch der in Rom andauernde Kontakt der beiden erwünscht und man versuchte, diesen zu unterbinden (Weibull 1966: 135). Dennoch war er ein sehr häufiger Gast in ihrem Palazzo (ebd.: 149). Seine Einladung zur Akademie und offensichtliche Auszeichnung durch die Königin waren ein diplomatischer Affront gegen die spanischen Vertreter in Rom (Stolpe 1962: 257ff.). Dass sie dem unter spanischer Beobachtung stehenden Pompeo Colonna ihre Gunst schenkte, gipfelte, so die hier vertretene These, darin, dass er Librettist eines Oratoriums wurde, das von einem prominenten Musiker vertont und weit rezipiert werden würde: Ein Staatsfeind als Librettist und Organisator war eine wohlklingende und gleichzeitig explosive Meinungsäußerung. Colonna gehörte zu einer der vornehmsten Familien Roms und legte eine »frankophile Tendenz« gepaart mit einer »Kaltschnäuzigkeit gegenüber der spanischen Herrschaft« an den Tag.10 Dazu gehörte, dass er in seiner Residenz in L’Aquila begründet durch seine vizeköniglichen Rechte eigene Soldaten führte. Dies veranlasste den spanischen Statthalter Ferdinando Muñoz im Februar 1642 dazu, gegen Colonnas Wachen vorzugehen; am Abend des Angriffs ließ Colonna in seinem Palazzo Aminta von Torquato Tasso vor rund 500 geladenen Gästen geben. 1646 geriet Colonna dann in einen spanischen Hinterhalt und verbrachte in der Folge zweieinhalb Jahre im Gefängnis. Kaum entlassen, nahm Colonna seine literarisch-künstlerischen Tätigkeiten bei zentralen Ereignissen in Rom wieder auf. Seine Werke entstanden in einem engmaschigen Netz zur römischen politisch aktiven Gesellschaft. Unter der Oberfläche eines Konversionsszenarios verleiht das Oratorium Daniele profeta der Entscheidung der Königin Ausdruck, sich aus der spanischen Protektion zu lösen, die sie über die Jahre von Schweden bis Rom begleitet hatte. Indem sie einem anerkannten Kontrahenten der Spanier das Wort zur Musik in ihrem Palazzo überließ, ergriff sie eine Initiative, die sie aus ihrem Status als passive »Trophäe im Glau-
10 »[…] tendenza filofrancese«, »cauta freddezza […] verso le autorità spagnole« (Petrucci 1982: 414).
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benskampf«11 öffentlich und unmissverständlich im aktiven politischen Handlungsraum positionierte (ebd.: 266).
G ESCHLECHT VS . P OLITIK ? R EZEPTIONSFRAGEN UND AUSBLICK Die Kulturpolitik am Stockholmer Hof von Königin Christina steht unter dem Zeichen von kulturellem Austausch, der es ermöglicht, das Hofleben mit dem Wissen des Kontinents durch die Wanderungen von Musikern nach Norden zu bereichern und so die Machtstellung Schwedens nach dem Dreißigjährigen Krieg zu repräsentieren. Auf Rezeptionsebene zeigt die Jahrhunderte lange, aufeinander aufbauende Literatur über die Königin, dass drei Aspekte für Historikerinnen und Historiker im Vordergrund standen: ihre vermeintlich rätselhafte Abdankung in Zusammenhang mit ihrer ebenso rätselhaften Konversion und die Frage nach ihrem ›doing gender‹. Eine Königin, die nicht heiratet und damit ihre Aufgabe, einen Thronfolger zu stellen, nicht erfüllt, schafft weiten Raum für Spekulationen. Kaum ein zeitgenössischer Bericht versäumt es, ihr Aussehen und ihren Habitus zu thematisieren. Das reicht von der Kleidung, die sie mehr als Mann denn als Frau erscheinen lasse über eine männlich-tiefe Stimme, bis hin zu ihrer Bildung und ihrem Wissen, die einem Prinzen zur Ehre gereiche (u.a. Weibull 1966: 100ff.). In zahlreichen Biografien wird bis in das 20. Jahrhundert über sexuelle Orientierungen und mögliche Geschlechter der Königin spekuliert, von Homo- über Bisexualität zu Hermaphroditismus.12 Auch sie selbst äußert sich dazu in ihrer oben zitierten Autobiografie. Doch es erweist sich wieder einmal als zu kurz gegriffen, wenn das biologische Geschlecht allein ein soziales Verhalten – sei es die Abdankung oder ihr (kultur-)politisches Handeln in Rom – erklären soll. Insbesondere nach ihrer Wanderung durch halb Europa zeigt sich das soziale und kulturelle Handeln der Christina von Schweden bei gründlicher Einbettung in die römischen Kontexte als den Spielregeln der Wahlheimat durch und durch angepasst. Sie ist dann zu erkennen als eine Virtuosin in der Kunst des mikropolitischen Netzwerkens, in der die Förderung von Musikern, Sängerinnen und Sängern, 11 Köchli (2004), der den Landgraf Friedrich von Hessen-Darmstadt als eine solche bezeichnet. 12 Als positive Ausnahme sei vor allem Rodén (2008) genannt.
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Komponisten und Institutionen wie der öffentlichen Oper das Mittel der Wahl war. Dass sie dies im kurialen, also patriarchal strukturierten Rom tat, war zu ihren Lebzeiten wie in den Jahrhunderten danach Aufsehen erregend, ist aber einer Königin mit der Erziehung zum »Prinz«, der »würdig regieren« kann, nur angemessen.
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Die ›Wanderung‹ zwischen Migration und Spaziergang: Performanzen der EntKonturierung von ›Heimat‹ und ›Fremde‹ in Erzähltexten weiblicher Autoren der Gegenwartsliteratur M IRIAM K ANNE
Im Folgenden soll aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht der Topos des symbiotischen Verhältnisses von ›Heimat‹ und ›Weiblichkeit‹ am Sujet fußreisender Frauen hinterfragt und dabei anhand dreier Narrationen drei Tendenzen sichtbar gemacht werden, die aus einer Vielzahl von Erzähltexten weiblicher Autoren der Gegenwartsliteratur herauszulesen sind: Erstens, dass der Topos der weiblich imaginierten ›Heimat‹ nach 1945 zwar thematisch und allegorisch aufgegriffen, zugleich jedoch zerrbildartig inszeniert wird. Unter anderem geschieht dies, indem Frauenfiguren gezeichnet werden, die migrierend und fußreisend den ihnen (kultur- und literaturgeschichtlich) zugeschriebenen Status des durch und durch inaktiven und zudem mit ›Heimat‹ synthetisierten Gattungswesens teils unterwandern. Zweitens soll herausgestellt werden, dass im Zuge dieser Unterwanderungen der abstrakte Terminus ›Migration‹ vermehrt in Bilder konkret-leiblicher Raumbewegungen übersetzt, vom Kopfbegriff quasi auf eine Leiberfahrung hinuntergebrochen wird. Drittens ist zu erörtern, dass eben jene konkret leiblichen Geh- und Wanderperformanzen1 auch die Konzepte von ›Heimat‹ und 1
Ich verwende den Begriff des Performativen im weitesten Sinne als einen vor allem körperlich bewerkstelligten Handlungsvollzug, der auf Handlungen abzielt, »die selbstreferentiell sind und Wirklichkeit konstruieren« (Fischer-Lichte 2004: 34).
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›Fremde‹ unterlaufen. Denn fußreisend wird innerhalb der Literatur vielfach vorgeführt, inwiefern ›Heimat‹ und ›Fremde‹ weder als Bipolaritäten noch als in sich geschlossene Eindeutigkeiten noch als unmissverständlich gegeneinander abzuwägende Raumbefindlichkeiten und nicht einmal als Raumschemata an sich funktionieren: Konturen werden verlaufen, vermeintliche Gegensätze verflüssigt und damit Denkbilder gebrochen. Ausgehend von der These, dass in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur »[n]icht der Ort selbst […] von alleinigem Interesse« ist, »sondern die Bewegung, die vom einzelnen Menschen zwischen verschiedenen Orten vollzogen wird« (Weber 2009: 11), lauten die zentralen Fragestellungen: Wie verfahren Schriftstellerinnen der Gegenwartsliteratur mit ihren Romanfiguren in Hinblick auf die ihnen zugeschriebene Rollenidentität und Symbolfunktion der statischen Verkörperung von ›Heimat‹? Und: Ist die ›Migration‹ lediglich der Weg, auf dem der Topos der weiblichen ›Heimat‹ unterlaufen wird, oder scheint ›Migration‹ selbst schon als ein unterwanderter Topos auf?
›M IGRATION ‹ – ›H EIMAT ‹ – ›F REMDE ‹: I N B EWEGUNG GERATENDE K ONZEPTE In seinem Essayband Von der Freiheit des Migranten bekundet Vilém Flusser den »Zusammenbruch der Seßhaftigkeit« (Flusser 2007: 17) und erkennt gerade darin eine »Befreiung«, die darauf zielt, die traditionellen Konzepte von ›Heimat‹ zu hinterfragen, diese eben nicht als »ewige Werte, sondern als Funktionen« auszuleuchten und die Reden von territorialer, sozialer bzw. genealogischer und kultureller »Verwurzelung« als phantasmatisches Blendwerk einer »obskurantischen Verstrickung« (ebd.: 16ff.) zu entlarven, dem die Prognose einer »heranrückenden heimatlosen Zukunft« (ebd.: 29) entgegengesetzt ist: Ich verwende den Performanz-Begriff auch im Sinne Judith Butlers. Diese konstatiert, »daß das, was als Geschlechteridentität bezeichnet wird«, keine ontologische Anlage, sondern »eine performative Leistung ist, die durch gesellschaftliche Sanktionen und Tabus erzwungen« (Butler 2002: 302) und durch bestimmte »Akte, Gesten und Inszenierungen« erwirkt wird. Sowohl ›geschlechtspezifisches‹ Verhalten an sich als auch ›geschlechtsspezifisches‹ Verhalten als ›Heimat‹ konturierendes Element als auch ›Heimat‹ generell können so als Konstrukte verstanden werden, die über bestimmte (kulturell, besonders aber literarisch) ritualisierte und inszenierte Handlungen funktionieren, die es aber auch ermöglichen, eben diese Konstrukte als Konstrukte zu entlarven.
D IE ›W ANDERUNG ‹ ZWISCHEN M IGRATION
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»Während der weitaus größten Zeitspanne seines Daseins ist der Mensch ein zwar wohnendes, aber nicht ein beheimatetes Wesen gewesen. Jetzt, da die Anzeichen sich häufen, daß wir dabei sind, die zehntausend Jahre des seßhaften Neolithikums hinter uns zu lassen, ist die Überlegung, wie relativ kurz die seßhafte Zeitspanne war, belehrend. Die sogenannten Werte, die wir dabei sind, mit der Seßhaftigkeit aufzugeben, also etwa den Besitz, die Zweitrangigkeit der Frau, die Arbeitsteilung und die Heimat, erweisen sich dann nämlich nicht als ewige Werte, sondern als Funktionen des Ackerbaus und der Viehzucht. […] Wir, die ungezählten Millionen von Migranten (seien wir Fremdarbeiter, Vertriebene, Flüchtlinge oder von Kornseminar zu Kornseminar pendelnde Intellektuelle), erkennen uns dann nicht als Außenseiter, sondern als Vorposten der Zukunft« (ebd.: 16).
Dieser Prognose, die den Heimatlosen als »Vorbote[n] der Zukunft« (ebd.: 30) apostrophiert, opponiert mit ›Heimat‹ nicht nur ein diskursives Konstrukt, das die Sesshaftigkeit als konstitutives Kriterium intendiert. Damit kontrastiert auch ein – in zahlreichen deutschsprachigen Regionen bis in das späte 19. Jahrhundert hinein geltendes – juristisches Konzept, das grundlegend für das Inklusions- und Exklusionsprinzip des ›Heimat‹-Begriffs ist. Jenes deklariert eine größere Wanderungsbewegung als ›Unter-Wanderung‹ und Aberkennungsgrund des sogenannten Heimatrechts.2 Hierin zeigt sich u.a., dass ›Heimat‹ sowohl als traditionelles Denkbild als auch als institutionalisiertes Kulturelement eine »Reduzierung […] auf die räumliche Kategorie« (Bastian 1995: 37) erfährt, die auf einer scharfen bis aggressiven Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdraum basiert. Wenngleich diese Ineinssetzung von ›Heimat‹ und ›(Eigen-)Raum‹ bis heute gepflegt und in den entsprechenden Diskursen als eine Art Gegengift gegen (die mitunter wenig ausdifferenzierten und zu Befindlichkeiten stilisierten Begriffe) ›Globalisierung‹, ›Modernismus‹ und ›Raumzerfall‹ lanciert wird,3 stellt sich die Frage, ob Konzepte wie ›Heimat‹ oder ›Fremde‹ als die Eindeutigkeiten, als die sie deklariert werden, 2 3
Vgl. hierzu: Bastian (1995: 101-106), Bausinger (1990: 77-79), Greverus (1972: 28). Die Rede ist dann etwa von einem (universalistisch und anthropologisierend gefassten) »Unbehagen an der Moderne als Folge einer Pluralisierung sozialer Lebenswelten« (Cremer/Klein 1990: 44), dem »Heimat als […] Chiffre für den Anspruch auf eine vertraute Welt« (ebd.: 44) kompensierend entgegengesetzt wird. Beklagt wird in den entsprechenden Diskursen auch »ein zunehmender Heimatschwund […] mit einer Tendenz zur Nivellierung. Der Unterschied von Vertrautem und Fremdem, ohne den so etwas wie Heimat nicht zu denken ist, wird mehr und mehr eingeebnet« (Waldenfels 1990: 116).
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überhaupt (er-)leb- bzw. erfahrbar und als polare Schemata aufrechtzuerhalten sind oder ob beide Konzepte nicht längst schon eine Art »tektonische Verschiebung« (Adelson 2006: 36) erfahren haben. Ein mögliches Modell einer solchen ›Verschiebung‹ erläutert Zafer ùenocak, wenn er im Rahmen der gegenwärtigen Migrations- und Integrationsdebatten konstatiert, dass »[z]wischen Weggehen und Ankommen […] eine individuelle Wegstrecke [liege], die in keinem Atlas verzeichnet ist. Diese Strecke ist heute keine Einbahnstraße mehr, sondern ein ständiges und stetiges Pendeln zwischen Hier und Dort, ein Hin und Her, das herkömmliche, eindeutig definierte Grenzbegriffe aufhebt. Man ist nicht mehr Teil einer Luft, eines Lichts, einer Sprache, einer Landschaft. Heimat und Fremde durchdringen einander, heimatliche und fremde Luft, Sprache und Landschaft tauchen ineinander« (ùenocak 2011: 108).
Doch inwiefern mutet der Gedanke an gegenseitig sich durchdringende Heimaten und Fremden als eine Verschiebung ›tektonischen‹ Ausmaßes an? Oder anders gefragt: Wie wurden ›Heimat‹ und ›Fremde‹ zu zwei solch klar voneinander unterschiedenen Gegensätzen, dass die Verwischung ihrer Grenzen einen Bruch markiert?
›H EIMAT ‹ UND DAS ›A NDERE ‹ (G ESCHLECHT ): T RADIERTE P OLARITÄTSMUSTER Mehr noch als der juristische ›Heimat‹-Begriff des 19. Jahrhunderts ist die klassische Heimatschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts norm- und motivgebend für das Polaritätsgefüge, auf dem das gesamte Konstrukt ›Heimat‹ aufbaut:4 Die ›Heimat‹ – dies intendieren die entsprechenden Erzähltexte – benötigt immer eine ›Fremde‹ bzw. etwas ›Fremdes‹, um als ›Heimat‹ kon4
Zur klassischen oder traditionellen Heimatschreibung, die im Folgenden auch als ›Tradierung‹ bezeichnet wird, lassen sich diejenigen Erzähltexte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zählen, die sich im Zuge der sogenannten Heimatkunstbewegung und/oder durch eine Setzung bestimmter Motive und Topoi (das sind: eine StadtLand-Dichotomie bei Prävalenz der ländlichen Szenerie und der Natur, das Bauerntum, die Folklore, eine zyklisch ablaufende, ahistorische Zeit sowie bestimmte Rollen- und Geschlechtsstereotype) etablieren. Als Beispieltexte lassen sich etwa die Romane Hermann Löns’, Ludwig Ganghofers, Gustav Frenssens, Clara Viebigs, Wilhelm von Polenz’, Lulu von Strauß und Torneys oder Berthold Auerbachs nennen.
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turiert werden zu können. In diesem Sinn entwirft die klassische Heimatschreibung ein ganzes Arsenal polarer Schemata: Es kontrastieren Heimatund Fremdräume, Einheimischer und Eindringling, Landmann und Lebemann, Stadt und Land, das Echte, Einfache und das Moderne, die zyklische und die historische Zeit, männliche und weibliche Rollenidentität. Gerade an letztgenanntem Gegensatzpaar verfestigt die Tradierung das Polaritätskonzept von ›Heimat‹ und ›Fremde‹, indem sie es in einem starren Mann-Frau-Dualismus spiegelt. Dies spezifiziert Gisela Ecker, wenn sie erörtert, dass die ›Heimat‹ in der klassischen Heimatschreibung »vorwiegend von Frauen bevölkert [ist], die deren Konstanz garantieren, dort arbeiten und warten, während männliche Figuren ausziehen und heimkehren, im Krieg kämpfen, sich nach der Heimat sehnen.« (Ecker 1997a: 13) Damit komme »[w]eiblichen Figuren […] sehr viel mehr die Repräsentationsfunktion zu: Sie müssen die ›Heimat‹ repräsentieren oder gar verkörpern und bleiben damit eher statisch an diesem Ort, während männliche Figuren ›Heimat‹ begehren, sich von ihr entfernen und wieder auf sie zubewegen können« (Ecker 1997b: 130). Dieses gleichermaßen soziale wie räumliche Rollendiktat, das das männliche Geschlecht mit Aktivität und Dynamik, das weibliche Geschlecht hingegen mit Passivität und Statik assoziiert, spiegelt sich auch in kulturellen Bewegungsmustern und literarischen Raumtopoi wider: kulturgeschichtlich insofern, als das Reisen zunächst keine ausgewiesene Disziplin des als »Frauenzimmer« (Pelz 1991: 175) und »Hausfrau« (ebd.) hypostasierten weiblichen Geschlechts ist – literaturgeschichtlich insofern, als insbesondere in der klassischen Heimatschreibung die weiblichen Figuren phantasmatisch mit dem konkreten Ort der ›Heimat‹ zusammengedacht werden, in den die männlichen Figuren wie in den Schoß der Mutter heimkehren können. In beiden Fällen deutet sich ex negativo an, dass das gesamte Bewegungsmuster ›Heimkehr‹ per se auf das männliche Geschlecht festgeschrieben ist – ein Umstand, der sich besonders stark in den Narrationen der Tradierung offenbart. Dort heißt es etwa über eine der weiblichen Figuren aus Gustav Frenssens 1901 erschienenem Heimatkunstroman Jörn Uhl, dass sie »in ihrem Leben noch nichts anderes gesehen und gehört, […] sich auch um andere Dinge nicht gekümmert« hat, als um das, »was innerhalb des Dorfes geschah«. (Frenssen 1958: 288) Eine räumliche und geistige Beschränkung auf die ›Heimat‹ äußert sich zwar auch an Frenssens männlichem Titelheld Jörn Uhl. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Figuren ist jedoch, dass Jörn Uhl als Kriegs-
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veteran sehr wohl die Erfahrung mit einem Außerhalb gemacht hat, während der Handlungs- und Bewegungsraum der weiblichen Figur(en) wie selbstverständlich auf Küche, Hof und Dorf beschränkt bleibt. Jörn Uhls Verneinung des Außerhalb ist folglich anders gelagert: Sie speist sich aus dem Erlebnis eines Anderswo, welches so sehr abgelehnt wird, dass die Abrede einer bewussten Verdrängung nahekommt und den Akt »aggressiver Grenzziehung« (Ecker 1997a: 17) mitimpliziert. Die gedankliche und räumliche Beschränktheit der weiblichen Erzählfigur hingegen scheint im Zeichen einer unreflektierten Immanenz auf, die zugleich das gesamte geistige Repertoire der Protagonistin und ›der Frau‹ der Tradierung an sich mitabbildet: Ihr Dasein, die ihr zugewiesene Funktion, ihr alltägliches Handeln und ihr Aktionsfeld bedürfen keiner Hinterfragung und werden von keinem Wunsch nach Horizonterweiterung oder Eigenbestimmung berührt; Ehe und Mutterschaft sind ihr erklärtes Ziel. Ecker spricht in diesen Zusammenhängen von der weiblichen Figur der Tradierung als von der »Figur des zufriedenen Opfers« (Ecker 1997b: 131). Innerhalb des ›Heimat‹-Raums folgen beide Geschlechtergruppen Bewegungsmustern, die einer Ökonomie der Arbeits- und Handlungsprozesse unterliegen: Sie arbeitet vornehmlich in der Küche und auf dem Hof, während er – einzelne Tätigkeits- und Raumstationen seiner ›Heimat‹ konzentrisch ablaufend – bis zur Peripherie gelangt und diese als Grenze markiert (Frenssen 1958: 316). Jörn Uhl befindet sich und bleibt dabei in einem räumlich, sozial und kulturell genauestens konturierten Innerhalb, das Karlheinz Rossbacher als »hermetische Welt« (Rossbacher 1975: 143) und Ina-Maria Greverus als »Satisfaktions- und Identitätsraum« paraphrasieren (vgl. Greverus 1972: 53); ein Raum, von dem – um mit Jean Améry zu sprechen – »nichts Ungefähres zu erwarten, nichts ganz und gar Fremdes zu fürchten ist. In der Heimat leben heißt, daß sich vor uns das schon Bekannte in geringfügigen Varianten wieder und wieder ereignet. Das kann zur Verödung und zum geistigen Verwelken im Provinzialismus führen, wenn man nur die Heimat kennt und sonst nichts. Hat man aber keine Heimat, verfällt man der Ordnungslosigkeit, Verstörung, Zerfahrenheit« (Améry 1977: 83). Um den Zustand der Heimatlosigkeit zu umschreiben, wählt Améry Begriffe, die sich zur Darstellung einer (auch) räumlichen Irritation eignen: einer diffusen Suchbewegung, die nach Orientierung verlangt, doch beständig das Gefühl der Haltlosigkeit zu forcieren scheint – und habe man es »auch gelernt, in der Fremde nicht mehr wie betrunken umherzutaumeln, sondern mit einiger
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Furchtlosigkeit den Fuß auf den Boden zu setzen« (ebd.: 84). Hier angesprochen ist die Situation des Exils, das der im Zuge des nationalsozialistischen Terrors flüchtende Améry als das Gegenteil von ›Heimat‹ versteht; und auch grundsätzlich scheint sich ›Heimat‹ nicht ohne einen Gegensatz konturieren zu können: Begriffe wie ›Fremde‹, ›Exil‹ und ›Migration‹ – die allesamt die Bewegung ›nach Außerhalb‹ voraussetzen – befördern Reden davon, dass »[e]rst die Fremde […] uns« lehre, »was wir an der Heimat besitzen« (Fontane 2005: 1) und suggerieren zugleich, dass ein Mensch, der einmal in Bewegung geraten ist, die ›Heimat‹ bereits von Außen beschaue und sie – und mit ihr sämtliche Modi des personalen Selbstverständnisses (wie ›Identität‹, Handlungssouveränität) – bereits verloren habe, sofern diese Bewegung keine ›Heimkehr‹ markiere.
Z ERLAUFENE P OLARITÄTSSCHEMATA: D IE B RÜCKE VOM G OLDENEN H ORN Dass die ›Heimkehr‹ jedoch auch in eine Fremde, statt in die ›Heimat‹ führen kann, zeigt sich an Emine Sevgi Özdamars 1998 erschienenem Roman Die Brücke vom Goldenen Horn – einem Erzähltext, der sich u.a. über das Thema der (Arbeits-)Migration für die Fragen nach ›Heimat‹ und Verwurzelung öffnet. Oder vielmehr: mit diesen Fragen am Erwartungshorizont des adressierten deutschsprachigen Lesepublikums spielt, indem die bekannten Topoi der klassischen Heimatschreibung aufgerufen, zugleich aber in ›befremdliche‹ Kontexte gerückt werden. Die Heimkehr, das Phantasma von ›Heimat‹ als mütterlicher Schoß, ferner das der territorialen Verwurzelung: all diese Motive sind ostentativ in Özdamars Erzähltext eingelassen und wirken wie ein Spiegel, in dem das deutschsprachige Konstrukt ›Heimat‹ aus Sicht einer türkischen Arbeitsmigrantin bzw. aus der einer Schriftstellerin mit mehreren Herkünften zerrbildartig reflektiert wird. Welches ›Heimat‹-Bild entsteht also, wenn klassische Motiv-Puzzlestücke – Heimkehr, weiblich imaginierte ›Heimat‹ als Ort der Verwurzelung und Sesshaftigkeit – unter den Prämissen von ›Migration‹ und doppelter Provenienz zusammengesetzt werden? Und: Wie verhandelt Özdamar das Thema ›Migration‹ – diesen nicht minder abstrakten Diskurs um eine Bewegung, die den Topoi von ›Heimat‹, Verwurzelung und Sesshaftigkeit gerade zuwiderzulaufen scheint?
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»Wo die Arbeit ist, da ist die Heimat« (Özdamar 1998: 46). Dieser Sentenz des »große[n] türkische[n] Dichter[s] Nazım Hikmet« (ebd.) verpflichtet sich Özdamars Protagonistin, als sie gegen Ende der 1960er Jahre im Rahmen des Gastarbeiterprogramms aus der Türkei nach Deutschland migriert und sich zugleich dem Gedanken zahlreicher sogenannter Integrationsdebatten annimmt: dass »[d]er größter ›Integrator‹ […] die Arbeit« (ùenocak 2011: 86) sei. In Berlin angekommen wirkt jedoch nicht die Arbeit in der hiesigen Radiolampenfabrik integrierend, sondern die an der Schauspielkarriere und an der eigenen sozialistischen Weltanschauung, so dass die Protagonistin in einem international gespannten Netzwerk aus Gleichgesinnten, statt territorial, im (türkischen) Arbeiterkollektiv der Radiolampenfabrik, in der deutschen Sprache oder gar im sogenannten deutschen Kulturkreis ›heimisch‹ wird: ›Heimat‹ im Sinne eines räumlichen Fixpunktes ist bei Özdamar obsolet und weicht einer Art ›Beheimatung‹, die in der Theaterkunst und der linken Szene ›verortet‹, damit mobil und in beliebige Kulturen und Sprachen verschiebbar ist. Ähnliche Konzept-Verlagerungen erfährt auch die Migrationsbewegung, die diesseits und jenseits der Brücke vom Goldenen Horn zu konkretleiblichen Bewegungen umgestaltet wird und dabei keinem räumlichen, sondern einem künstlerisch-ideologischen Ziel untergeordnet ist. Dementsprechend erschließt sich der Stadtraum Berlins über eine Kartografie, die – indem sie von dem »kommunistischen Heimleiter« (Özdamar 1998: 31) und seinem gleichdenkenden Freund diktiert wird – nach ideologisierten Vorgaben strukturiert ist, die Erzählerin in politische Milieus und damit auch in die sozialistische Geisteshaltung führt. Ohne zunächst eine eigene Raum- und Orientierungsautonomie ausbilden zu wollen, heißt es über die junge Frau und andere türkische Arbeiterinnen: »Wenn sie ausgingen, kamen wir […] aus unseren Zimmern und fragten, wie wir unsere Eltern früher gefragt hatten: ›Können wir auch mitkommen?‹ – ›Kommt‹, sagten sie, und so gingen wir hinter ihren Rücken her. Ihr Rücken war unser Berlin-Stadtplan. […] Wir schauten nicht auf die Namen der U-Bahnstationen, wir schauten auf ihre Rücken […]« (ebd.: 72).
Auch später, als die Erzählerin ihre Eltern in Istanbul besucht, bewegt sie sich – inzwischen selbstständig, weil ohne patriarchalisch konnotierte Stadtführer und nun mit eigenem politischen Bewusstsein – derart schematisch zwischen
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sozialistischen Treff- und Knotenpunkten und der Schauspielschule (ebd.: 221). In der Ähnlichkeit zwischen den in Deutschland und den in der Türkei per pedes anvisierten Raumzielen bildet sich mikrokosmisch das makrokosmische Migrationsschema der Protagonistin ab: Ein Migrationsschema, das insbesondere die Diskurse um raum- bzw. ›heimat‹-gebundene ›Identität‹ ad absurdum führt und stattdessen ein Rollenspiel in Gang setzt. Denn die Erzählerin strapaziert Reden von »Heimat als […] Ort, der Identität prägt und ermöglicht« (Bütfering 1990: 425) auf (schau-)spielerische Weise, indem sie eben keine territoriale oder nationale, sondern eine spezielle Art von Rollenidentität annimmt. Diese Rollenidentität sieht vor, dass die Protagonistin u.a. Schauspielerin, Arbeiterin, Sozialistin, Liebhaberin, Tochter, Schwangere, Reisende und politisch Interessierte ist, die sowohl die »Marx-« und »Engels-« als auch die »Hurensprache« (Özdamar 1998: 300) beherrscht und sich mit der Studentenund der Arbeiterbewegung Berlins und Istanbuls gleichermaßen identifiziert. Zugleich prägt diese Rollenchimäre auch das Bewegungsmuster ›Heimkehr‹ entscheidend mit, welches nun – allen Topoi der klassischen Heimatschreibung und dem Erwartungshorizont des adressierten Lesepublikums zutiefst trotzend – von einer sozialistischen, türkischen, schauspielernden Frau angetreten wird, die Deutschland verlässt, um ›heimzukehren‹. Als Tochter ihrer in der Türkei wohnhaften Eltern – die ihr, ohne damit ein Verbot zu formulieren, vorwerfen, »ein Mann geworden« zu sein: »Du hast aus Deutschland eine neue Mode gebracht. Du kommst in der Nacht nach Hause« (ebd.: 221) –, muss sie diesen verheimlichen, dass sie inzwischen ungewollt schwanger und Sozialistin geworden ist und bewegt sich daher zögerlich durch ›heimatlich‹ verstandene, weil sozialistisch regierte Gefilde in Richtung der traditionell so assoziierten ›Heimat‹, nämlich in Richtung des (hier türkischen) Elternhauses: »[W]ir woll[t]en über die Tschechoslowakei, Ungarn und Bulgarien fahren, um sozialistische Luft zu riechen. […] Von Bayern fuhren wir nach Ungarn. Ich hoffte, die holprigen Straßen würden mir helfen, das Kind zu verlieren« (ebd.: 170-171). Schließlich kehrt die auf diesen Umwegen anlangende Protagonistin in ihr türkisches Elternhaus nicht wie aus der ›Fremde‹ an den Ort ihrer eigenen Herkunft ›heim‹, sondern in »eine[…] fremde[…] Wohnung« (ebd.: 175) zurück und erkennt dort ihre Eltern, insbesondere ihre Mutter – die archetypische Repräsentationsinstanz von ›Heimat‹ – nicht wieder (ebd.: 175177). Derartige Umwertungen und Verflüssigungen bewirken, dass ›heimisch‹ und fremd, statt ›heimisch‹ oder fremd, im ›Heimischen‹ fremd und in der
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Fremde ›heimisch‹ als diejenigen Konstellationen zu nennen sind, die Özdamar zur Hybridisierung der konventionellen Lesarten von ›Heimat‹ und ›Fremde‹ entwirft und anhand derer sie die tradierten Denkbilder um ›Heimat‹ ad absurdum führt.
P LURALE H EIMATEN – AMBIVALENTE B EWEGUNGS PERFORMANZEN : E INE L IEBE AUS NICHTS Dass die Literatur derartige Entkonturierungen von ›Heimat‹ und ›Fremde‹ im Akt der leiblich vollzogenen Migrationsbewegung auf verschiedene Weise konzeptualisiert und dabei die Synchronführung von ›Heimat‹ und ›Weiblichkeit‹ ins Leere greifen lässt, sei des Weiteren an Barbara Honigmanns 1991 erschienener Narration Eine Liebe aus nichts sowie an Ingeborg Bachmanns Erzählung Drei Wege zum See aus dem Jahr 1972 aufgezeigt. Den Protagonistinnen beider Texte gemein ist, dass sie sich – u.a. im Zuge eines in beiden Fällen als irritierend markierten Kosmopolitismus – mit der Frage bzw. der Suche nach ›Heimat‹ auseinandersetzen, dies wörtlich gesprochen laufend tun und dabei in eine Migrationsbewegung geraten, die sich scheinbar nicht und nirgendwo anhalten lässt. So vollzieht etwa Barbara Honigmanns Erzählerin reisend die Lebensstationen ihres verstorbenen Vaters nach: einem Mann, der im Zuge des Nationalsozialismus nicht nur zu einem politischen »alien enemy« (Honigmann 1993: 63), sondern auch zu einem sich überall ›heimatlos‹ fühlenden Mann und einem Fremden für seine Tochter geworden war. Diese begibt sich, um die väterlichen Lebenswege rekonstruieren und sich selbst »einer Herkunft oder Heimat versichern« (ebd.: 69) zu können, von dem ihr »bis zum Überdruß vertraut« (ebd.: 40) gewordenen Ostberlin nach Wiesbaden, Frankfurt und Weimar, migriert schließlich nach Paris und folgt damit zugleich der Idee, »daß man immer wieder in ein neues Land, eine neue Heimat aufbrechen müsse […]. In der ganzen Stadt Berlin war doch von nichts anderem gesprochen worden als davon, daß man nicht ewig an einem Fleck bleiben könne, daß es sonst ein kindisches Leben sei, wie bei einem, der nie von zu Hause weggeht« (ebd.: 38).
›Heimat‹ wäre dieser Idee zufolge eine Pluralisierung von Orten des kurzfristigen Verweilens, der die Bewegungsmodi des Aufbruchs und der Wanderung
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stets mitdenkt, sie gar voraussetzt und unaufhörlich kontinuiert. Bezeichnenderweise wird hierin eben jenes Bewegungsmuster simuliert – und als kosmopolitischer ›Heimat‹- und Weltaneignungsgestus markiert –, dem sich der Vater der Erzählerin einst als Flüchtling hatte fügen müssen. Mit anderen Worten: Derselbe Bewegungsmodus ist unter verschiedenen Vorzeichen, zu unterschiedlichen Zeiten und für zwei ungleiche Personen in je anderen Situationen5 einmal als Erfahrungsbereicherung und ein andermal als (über-)lebensnotwendige Maßnahme, hier als Gewinn von Heimaten, dort als Verlust der ›Heimat‹ aufgerufen. Dennoch arriviert diese Art von Bewegungsmodus für Vater und Tochter gleichermaßen zu einem unerträglichen Zustand. Der Vater notiert zu Lebzeiten, sich »immer heimatlos gefühlt zu haben« (ebd.: 65), während die Protagonistin sinniert: »[I]ch war schon erschöpft von den Eindrücken der neuen Welt. Eigentlich hatte ich gar keine Kraft mehr, immer wieder loszugehen […], und oft dachte ich, […] daß ich diese dauernde Bewegung lieber anhalten wolle, weil ich schon außer Atem war« (ebd.). Zwar scheint sich diese einmal aufgenommene Migrationsbewegung für sie ebenso wenig anhalten zu lassen wie seinerzeit für ihren flüchtenden Vater. Doch gelingt es der Erzählerin, die Permanentbewegung zu systematisieren und in einem konkret leiblichen Akt der Raumerfahrung zu kanalisieren, so dass das schematisierte Gehen und Fahren zu einer Art arriviert, sich den Fremdraum Paris anzueignen, ohne dabei jedoch zu etwas wie ›Heimat‹ oder auf die Spuren des Vaters zu gelangen. Sie vermerkt: »Aus meiner Höhle im Souterrain bin ich […] jeden Tag auf Streifzüge längs und quer durch die Stadt gegangen, über Straßen, Boulevards und Alleen und winzig kleine und riesengroße Plätze und durch schattige Parks […], und habe die Linien der Metro abgefahren und ihre Gänge und Treppen und Tunnel kilometerlang durchlaufen, und manchmal bin ich auch in einen Vorortzug gestiegen und wieder hinaus aus der Stadt
5
Anzumerken ist, dass Vater und Tochter sich auch in zwei opponierenden ideologisch-politischen Systemen – dem Nationalsozialismus und dem Real-Sozialismus der DDR – befinden, von denen (realgeschichtlich) das nationalsozialistische eine Flucht- und Vertreibungswelle ohnegleichen heraufbeschwor, während das deutsch-sozialistische gerade das Prinzip der räumlichen Festsetzung im Sinne der Arretierung anwandte: Beide dieser räumlichen Nötigungen wurden im Zeichen des (je ideologiespezifisch ausgedeuteten) ›Heimat‹-Begriffs forciert. Honigmanns vorliegende Erzählung jedoch betont die Flucht des Vaters vor den Nationalsozialisten ungleich stärker als die Lebenssituation der Tochter im sozialistischen Ostberlin; dass sie im sozialistischen System lebt, wird kaum thematisiert bzw. nur in Implikationen aufgerufen.
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gefahren und in das flache Land hineingelaufen, mit einer Art Elan, der wie eine Wut war, als ob ich das Land überrennen und es mir unterwerfen könnte« (ebd.: 13-14).
Es gelingt ihr nicht. Stattdessen wird ›Heimat‹ zu einer Bewegung, die ihr Ziel verfehlt, sich nicht einmal selbst einholen kann und nurmehr ein ständiges Hinterherlaufen simuliert.
U NERREICHBAR PRÄSENTE H EIMAT -F REMDEN : D REI W EGE ZUM S EE Ingeborg Bachmanns Narration Drei Wege zum See knüpft über die Themen der räumlichen und lebensweltlichen Dezentralisierung und eines damit einhergehenden Sinnverlusts an die Diskurse um ›Heimat‹ an. Ähnlich der Erzählerin Honigmanns nutzt auch Bachmanns Protagonistin Elisabeth Matrei die Schematisierung von Raum; auch die bewusst als Kosmopolitin und vom Kosmopolitismus gezeichnete Frau bedient sich dazu der Transformation einer abstrakten Migrationsbewegung in eine konkrete Leibesbewegung – oder genauer gesagt: sie versucht es. Denn so, wie keiner der titelgebenden drei Wege Elisabeth zum See führt, führt keine Reise, die sie als international arbeitende und lebende Fotojournalistin antritt und keine ›Heimkehr‹, die sie in das Klagenfurter Elternhaus unternimmt, in eine ›Heimat‹ oder eine ›Fremde‹. Vielmehr zerfließen beide Begriffe zu der Befindlichkeit, überall gleichermaßen ›heimisch‹ und ›fremd‹ zu sein, so dass Elisabeth einerseits »kein Heimweh kannte und es nie Heimweh war, das sie nachhause kommen ließ, […] sie kam zurück, ihres Vaters wegen und das war eine Selbstverständlichkeit für sie« (Bachmann 1978: 411-421), wobei es aber andererseits auch »überhaupt keine Orte mehr« (ebd.: 405) gab, die ihr »nicht wehtaten« (ebd.); weltweit also Orte aufwarten, die allesamt eine individuelle Bedeutung und Geschichte für Elisabeth verräumlicht halten. ›Heimat‹ beschreiben all diese Orte dennoch nicht. Vielmehr deuten sie unablässig auf einen Fluchtpunkt, der in Raum und Zeit entlegen ist, existiert etwas wie ›Heimat‹ für Elisabeth Matrei doch überhaupt nur im nicht mehr und nicht wieder zu habenden Modus der längst vergangenen k.u.k.-Monarchie: einer Staatsform, die Elisabeth selbst nie miterlebt hat und die ihr im eigentlichen Sinn fremd ist. ›Heimat‹ wäre damit eine lediglich durch die Erzählungen des Vaters vermittelte ›Fremde‹, ein mythisch anmutender Zeit-Raum oder eine Raum-Zeit, gleichermaßen eine Heterotopie und
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eine Heterochronie (Foucault 2006: 320-325), nicht aber etwas Konkretes, tatsächlich Erfahrbares oder (wieder) zu Erreichendes. Dies manifestiert sich einerseits in Elisabeths Selbstwahrnehmung, ein »Mensch, der abfuhr, reiste und immer weiter reiste« (Bachmann 1978: 473) und eine grundsätzlich und überall »Exilierte« (ebd.: 415) zu sein, und offenbart sich andererseits konkret räumlich in ihren Versuchen, wandernd zum See zu gelangen: ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, das nurmehr den »Akt der visuellen Landnahme« (Koschorke 1990: 145) als einen Raum und Zeit gleichermaßen ordnenden und irritierenden und stets zur Reminiszenz einladenden Ersatz für das Unerreichbare anbietet. In diesem Sinn heißt es: »Elisabeth […] ging seitwärts hinüber […], zu den Bänken, aufgestellt für müde, rastsuchende Wanderer, die nie mehr kamen. Sie schaute über den See, der diesig unten lag, und über die Karawanken hinüber, wo gradewegs in der Verlängerung einmal Sipolje gewesen sein mußte […]. Auf dem Höhenweg 1 kam sie wieder zur Zillhöhe […], schaute kurz auf den See hinunter, aber dann hinüber zu den Karawanken und weit darüber hinaus, nach Krain, Slawonien, Kroatien, Bosnien, sie suchte wieder eine nicht mehr existierende Welt […], dort drüben hätte sie gerne gelebt« (Bachmann 1978: 422444).
G RENZVERWISCHUNGEN UND E NT -K ONTURIERUNGEN : F AZIT Sei es Özdamars zelebrierte Freiheit des Migranten, Honigmanns erprobte Pluralisierung von ›Heimat‹ oder Bachmanns Absage an eine konkret erfahrund lebbare ›Heimat‹: Alle hier vorgestellten Erzählfiguren vollziehen räumliche, kulturelle und die traditionellen Geschlechterzuschreibungen hinterfragende Grenzgänge; sie suchen Grenzüberschreitungen und führen Begriffe wie ›Heimat‹ und ›Fremde‹, ferner die Termini der ›Migration‹ und der ›Heimkehr‹ mitsamt ihren diskursiven Bedeutungsfeldern ad absurdum – insofern, als sich in allen der hier andiskutierten Erzähltexten fortwährend die Frage stellt, ob die Konzepte von ›Heimat‹ und ›Fremde‹ als die in sich geschlossenen und bipolar gegeneinander abgegrenzten Eindeutigkeiten, als die sie von der klassischen Heimatschreibung deklariert und von den Diskursen um ›Migration‹, Sesshaftigkeit und Verwurzelung kontinuiert werden, überhaupt (er)leb- und erfahrbar sind. Vielmehr werden die Begriffe ›Heimat‹, ›Fremde‹
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und ›Migration‹ in den hier diskutierten Romanen und Erzählungen als rein abstrakte Denkschablonen freigelegt: Migration – als Kopfbegriff für eine Bewegung zwischen zwei Fluchtpunkten – markiert dabei keinen Schwellenoder Übergangsstatus, sondern einen reziproken Prozess der Aneignung und Loslösung und wird als solcher in Bilder konkret räumlich-leiblicher Körperdynamik übersetzt; ›Heimat‹ und ›Fremde‹ werden im performativ-leiblichen Akt des Gehens umgestaltet zu Prozessen der Raumaneignung oder der Raumverwirrung – mit dem Ergebnis, dass Heimaten als pluralisierbar und unspezifisch, Fremden als ubiquitär und vertraut erscheinen; dass ›Migration‹ nicht zwangsläufig aus der Identitätsversicherung in eine Haltlosigkeit führen muss. Und schließlich: Dass keine der hier vorgestellten bzw. verworfenen Heimaten weiblich assoziiert ist, sondern vielmehr als bloße kulturelle Konstrukte aufscheinen, die über einen Bruch mit traditionellen Denkmustern als solche entlarvt werden. Um diesen Bruch vorzubereiten und ihn zu intensivieren, rufen alle drei Erzähltexte sowohl stereotype Motive und Topoi der klassischen Heimatschreibung als auch kulturgeschichtliche Rollen- und Geschlechterbilder zunächst affirmativ auf – nur, um diese schließlich umzugestalten oder gar zu verkehren. Wenn etwa die Gänge ins Außerhalb einer so erwarteten oder so assoziierten ›Heimat‹ – der Türkei bei Özdamar, Ostberlin bei Honigmann, das Klagenfurter Elternhaus bei Bachmann –, von männlichen ›Vorbildern‹ initiiert werden oder von ihnen abhängen – wenn etwa Özdamars Heldin sich (auch) räumlich am »kommunistischen Heimleiter« orientiert; wenn Honigmanns Tochterfigur auf den Spuren ihres Vaters reist und wenn für Elisabeth Matrei die Räume der Reminiszenz mit der Person des Vaters enggeführt werden –, so ist in dieser patriarchalischen Basierung von Raum und Bewegung diejenige kultur- und literaturgeschichtliche Zuschreibung explizit angesprochen, die die Frau als Wesen der privaten Domäne hypostasiert, den Mann hingegen als Mitglied der öffentlichen Sphäre deklariert. Indem die weiblichen Figuren sich jedoch selbst auf den Weg machen – und dies ausgerechnet im Zeichen eines patriarchalischen Vorbilds tun –, eignen sie sich einerseits den männlich konnotierten Gestus und Außenraum an und widmen beides andererseits zu einer eigenen Lebensart-Kartografie um. Dass dabei auch die klassischen Denkbilder um ›Heimat‹ auf der Strecke bleiben, ist Teil des Bruchs, denn mit dem performativ herbeigeführten Verlaufen kultur- und literaturgeschichtlich gesetzter (Raum-, Kultur- und Geschlechter-) Grenzen verliert ›Heimat‹ ihren angestammten Platz.
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Geschlecht und globaler Bildraum: Virtuelle Wanderungen und Wandlungen im Werk von Miao Xiaochun I SABEL S ELIGER
R ÄUME ÖFFNEN , DURCH B ILDER WANDERN Seit dem Jahr 2006 durchwandert und belebt der 1964 in Wuxi, Jiangsu (China) geborene Medienkünstler Miao Xiaochun als digitaler Avatar seine in aufwendigen Arbeitsprozessen hergestellten virtuellen Reproduktionen berühmter Gemälde der europäischen Kunstgeschichte. Mittels Techniken der digitalen Selbstverkörperung, der Malerei, Skulptur, Fotografie und des Films, die ihm in seiner 3-D-Computersoftware durch verschiedene virtuelle Werkzeuge zur Verfügung stehen, thematisiert Miao Xiaochun zum einen die sich in einer globalisierenden Kunstwelt auflösenden Grenzen von nationaler Kunstproduktion, und zum anderen eine von transkulturellen Strömungen und Vernetzungen geprägte Kunst- und Mediengeschichte. Miaos Überschreiten von geografischen, kulturellen und epochalen Abgrenzungen, und der damit verbundene Verlust eines monokausalen und linearen Raum-Zeit-Gefüges, stellen dabei nicht nur herkömmliche Auffassungen von der Welt und ihren Bildräumen infrage, sondern auch die von Körper und Subjekt, deren geschlechtliche und ethnische Zugehörigkeiten er durch zunehmend fluide Variationen neu entwirft. Im Folgenden zeige ich auf, wie Miao Xiaochuns 3-D-Produktionen eine virtuelle Lebenswelt erschaffen, in welcher Kunstgeschichte, Bild und Körper als offen, begehbar und wandelbar konzipiert werden. Zu diesem Zweck führe ich zunächst die wichtigsten Positionen in der Rezeption der Werke Miao
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Xiaochuns auf, die zeigen, dass Miaos grenzüberschreitende Strategien, d.h. seine transkulturellen Vernetzungen und geschlechtlich-ethnischen Transformationen, bislang nicht explizit thematisiert wurden. Es sind aber – wie ich argumentieren werde – genau die geografischen, technologischen, kulturellen und kunsthistorischen Schnittstellen sowie ihre ineinandergreifenden, hybridisierenden Dynamiken, die die besondere Struktur in Miaos 3-D-Welten ausmachen, und welche das Motiv der Wanderung und Wandlung sichtbar werden lassen. Nach einem kurzen Überblick über die frühen Werke Miao Xiaochuns, in denen die Thematik von Reise, kultureller Identität und Verkörperungsstrategien ihren Anfang nimmt, zeige ich dann, wie Miaos virtuelle Reproduktionen ambivalente Geschlechterkonstellationen in den globalen Bildraum überführen. Abschließend untersuche ich das Motiv von Wanderung und Wandlung am Beispiel traditioneller ostasiatischer Geschlechterkonstruktionen, um dann zusammenfassend die Bedeutung Miao Xiaochuns ästhetischer Aushandlungen kultureller und geschlechtlicher Differenz in virtuellen Migrations- und Globalisierungsprozessen aus geschlechterwissenschaftlicher Perspektive näher zu bestimmen und kritisch zu bewerten.
K REUZUNGEN
IM VIRTUELLEN
R AUM
Mit der Umstellung seiner Arbeitspraxis von analoger und digitaler Fotografie zu der simulierten Dimensionalität des 3-D-Bereichs rückt Miao Xiaochun die Gestaltung neuer räumlicher Umgebungen durch technologischen Fortschritt in den Vordergrund der zeitgenössischen Kunstproduktion. Miao selbst beschreibt Virtualität als ein Phänomen, bei dem es weder Grenzen noch Zeit gebe (Miao 2011), was den Rückschluss nahelegt, dass im kybernetischen Raum, oder Cyberspace, Barrieren physikalischer, nationaler und geografischer Art an Bedeutung verlieren, und demgegenüber das grenzüberschreitende Imaginieren und Navigieren von räumlichen und chronologischen Systemen an Bedeutung gewinnen. Miao Xiaochuns neuartige künstlerische Praxis außerhalb der physikalischen Welt wirft aus diesem Grund die Frage nach der kulturellen Verortung seiner Kunstproduktion sowie seiner symbolischen Konfiguration als Künstler auf – eine Herausforderung auch für traditionelle kunsthistorische Methoden,
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deren geografisch segmentierte Diskurse sich in der Rezeption von Miaos Arbeiten exemplarisch ablesen lassen. So versteht der Kunsthistoriker Wu Hung Miaos Erstlingswerk im 3-DBereich, The Last Judgment in Cyberspace (2006), als einen Ausläufer ästhetischer Strategien aus der frühen chinesischen Malerei und Poetik, bei welchem chinesisches Wissen auf digitale Technologie übertragen werde (Wu 2006: 9). Gleichzeitig sieht er aber auch einen zeitgenössischen Bezug zu einer »transnationalen Sub-Kategorie neuer Medienkunst« (ebd.), bei der Gemälde aus verschiedenen nationalen Traditionen performativ umgesetzt werden. Nichtsdestotrotz positioniert Wu Miaos Herangehensweise primär als ein chinesisches Kunst- und Kulturphänomen, dessen wesentlicher Beitrag in der Übersetzung visueller Prozesse und der zeitgenössischen Verhandlung von Kunstgeschichte liege (ebd.: 10). Anders dagegen argumentiert der Medientheoretiker Siegfried Zielinski, der Miaos 3-D-Arbeiten als eine Reflexion eines zentralen Moments in der Geschichte der Medien versteht, nämlich dem der Transformation von Bild und Subjekt in eine elektronische, nicht-dimensionale Visualität (Zielinski 2010: 62-67). In diesem Zusammenhang integriert Zielinski Miaos ephemere Bilder und Subjekte in einen europäischen Mediendiskurs, den der Autor jedoch gleichzeitig auch für sein Auslassen nicht-westlicher medientechnologischer Phänomene kritisiert. Ungeachtet der transvisuellen Leistung, die Zielinski in Miaos Werken erkennt, versteht er ihn als eine künstlerische Persönlichkeit, die »trotz aller ihrer Bezüge zum Europäischen« dem tiefenzeitlichen Bewusstsein der chinesischen Kultur angehöre (ebd.: 69). Beide Erklärungsmodelle weisen auf ein implizites Verlangen hin, Kunst und Künstler mittels ihrer nationalen und kulturellen Zugehörigkeit zu verstehen, und sie in kunst- bzw. mediengeschichtliche Narrative einzubetten, die wiederum von einem Verständnis von Kunst als nationaler Bildtradition und -sprache ausgehen. Die bei diesen Interpretationsansätzen wahrgenommenen fundamentalen Unterschiede zu der jeweiligen Referenzkultur lassen jedoch – wie die Analysen beider Wissenschaftler selbst ergeben – keine kulturmonolithische Einordnung zu, was in beiden Fällen zu einer binären Konfigurierung »östlicher« und »westlicher« Kulturmerkmale in Miaos Werk führt. Zwischen diesen konträr gelagerten kulturellen und theoretischen Ausgangspunkten verweisen die Herausgeber Uta Grosenick und Alexander Ochs auf die unbestimmte geografische und ethnische Verortung Miao Xiaochuns, den sie als »Chinese, Künstler, gelb & weiß« beschreiben, und dessen Werk
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sie in chronologisch umgekehrter Reihenfolge präsentieren (Grosenick/Ochs 2010: 8). Der Kurator Huang Du wiederum erweitert diesen transnationalen und diachronen Bogen durch »die wechselseitige Spiegelung, die gegenseitige Verbindung, Überschneidung und Ersetzung von historischen Bildern und realen Bildern, westlicher Ästhetik und chinesischer Ästhetik, klassischer Malerei und neuer Medienkunst« (Huang 2010: 59), die er in Miaos Werk erkennt. Im Unterschied zu den ersten wird bei den letzten beiden Rezeptionsansätzen, die keinem nationalen oder disziplinären Rahmen folgen, ein Vermischen von Kulturerfahrung in Miaos Werken diagnostiziert, wie auch das Relativieren von Zeit- und Raumbegriffen, was zu einer produktiven Auflösung klassischer Merkmale kultureller und epochaler Zugehörigkeit führt, jedoch eine genauere Annäherung an die Materie weiterhin ausstehen lässt. Bei allen vier Rezeptionsansätzen wird deutlich, dass traditionelle Konzepte von Kultur und Nation – wie alle Formen des Wissens unter globalen Bedingungen am Anfang des 21. Jahrhunderts – durch ihre zunehmende Verflechtung mit anderen Signifikationssystemen eine Re-Konfiguration notwendig machen. Hier scheint eine dezidiert transkulturelle bzw. globale Kontextualisierung von Miaos Arbeiten sinnvoll, wie auch ein Fokus auf Dynamiken, die die Beschaffenheit von Kultur – besonders unter den globalen Bedingungen von Migration, Grenzüberwindung und Hybridisierung – in gegenseitiger Abhängigkeit maßgeblich mitbestimmen, nämlich die von Geschlecht und Ethnie (Mae/Saal 2007: 9-12). Genau diese bisher verdeckt gebliebenen Aspekte von Miaos Arbeiten gilt es im Folgenden genauer herauszuarbeiten und zu verstehen.
B ESUCHER
AUS DER
V ERGANGENHEIT
Miao Xiaochuns grenzüberschreitende Strategien, die u.a. seine transnationalen Bewegungen zwischen China und Europa widerspiegeln, werden während seines Studienaufenthalts an der Kunsthochschule Kassel in einer Serie klassischer Schwarz-Weiß-Fotografien zum ersten Mal thematisiert (Jansen 2010: 132-133). Auf diesen Bildern ist durchgehend eine statueske, scheinbar erstarrte Gestalt zu sehen, die das Aussehen eines konfuzianischen Gelehrten aus den frühen Dynastien hat, und welche, in traditionelles chinesisches Kostüm gekleidet, passiv den Fortlauf der Zeit und den der gesellschaftlichen Entwicklung zu beobachten scheint. In der Form eines Alter Ego bindet Miao diese Fi-
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gur unter dem Titel A Visitor from the Past in ein dualistisches Spannungsfeld zwischen einer über zweitausend Jahre währenden Tradition chinesischen Wissens und einer modernen europäischen bzw. westlichen Welt ein. Abbildung 1: Miao Xiaochun, As a Guest of a German Family, 1999, (Schwarz-Weiß-Fotografie).
Quelle: ©Miao Xiaochun, courtesy of ALEXANDER OCHS GALLERIES BERLIN | BEIJING, Berlin, Deutschland und Beijing, China.
So wird in Miaos Fotografie As a Guest of a German Family (Abb. 1) der unbewegliche Gesichtsausdruck des Gelehrten und die sich zu- wie auch abwendenden Blicke der Familienmitglieder zu einem aktiven Geflecht von Hinsehen und Wegsehen, von Einladen und Ausgrenzen verdichtet. Das subtile Drama der Begegnung der Kulturen wird durch das Einbringen weiterer ostasiatischer Motive nochmals zugespitzt. So hängen an den Wänden des Esszimmers vier sorgsam gerahmte Holzschnitte japanischer Kabuki-Schauspieler, deren Mimik des »Einfrierens« als der dramatische Höhepunkt einer Kabuki-Vorführung die Unbeweglichkeit des konfuzianischen Gelehrten ironisch variiert, sie gleichzeitig aber auch auf die Ebene von ritueller Performanz in traditionellen asiatischen Theaterformen erhöht. Miao wendet eine ähnliche visuelle Strategie nach seiner Rückkehr nach China an, wo er nunmehr das antithetische Verhältnis von chinesischer Tradition zu dem »Hochgeschwindigkeitsurbanismus« der Großstädte und den globalen Einflüssen der Gegenwart innerhalb Chinas inszeniert (ebd.). In diesem Zusammenhang spiegelt der Besuch des konfuzianischen Gelehrten bei einem westlichen Herrenausstatter (Abb. 2) die Szene bei der deutschen Familie wi-
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der, wobei er diesmal auf die Aufmerksamkeit der chinesischen Verkäuferin hofft, während er indirekt mit den dortigen Abbildungen männlicher kaukasischer Fotomodelle, d.h. den ästhetischen Vorbildern westlicher Männlichkeit, konkurriert. Abbildung 2: Miao Xiaochun, Image, 2001,(Schwarz-WeißFotografie).
Quelle: ©Miao Xiaochun, courtesy of ALEXANDER OCHS GALLERIES BERLIN | BEIJING, Berlin, Deutschland und Beijing, China.
In dieser Konfliktsituation arbeitet Miao eine globale Infrastruktur maskuliner Referenzbilder heraus, die nicht nur selten beachtete kulturelle Signifikationen und deren Bezugslinien sichtbar macht, sondern auch den Zusammenhang zwischen kultureller Identität und der Wahrnehmung von Geschlecht und Ethnie. Der Einsatz des sperrigen Alter Ego in einer Umgebung von konkurrierenden Bildtraditionen ermöglicht somit sowohl Sichtbarwerdung als auch Schutz vor Vereinnahmung und Exotisierung, womit Miao allerdings die impliziten Botschaften der ihm gegenübertretenden dominanten Kulturen nicht zu verhandeln, und dementsprechend nicht aus dem tradierten Ost-WestParadigma und seinen binären kulturellen Zuweisungen herauszutreten vermag. Genau diese Thematik der Verkörperung paradoxer lokaler und globaler Subjektpositionen in transkulturellen Kontaktzonen, und die Überwindung kontinentaler und zivilisatorischer Rahmen wird in Miaos darauffolgenden 3-D-Werken maßgeblich weiterentwickelt.
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E UROPÄISCHE K UNSTGESCHICHTE VIRTUELLES S CHWELLENGEBIET
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ALS
Im Jahr 2006 verlagert Miao Xiaochun einen Teil seiner künstlerischen Praxis in den 3-D-Bereich, wo er zentrale Motive der europäischen Kunstgeschichte detailgenau nachbaut, sie visuell manipuliert und abschließend als digitale Fotografien und Videoanimationen druckt bzw. projiziert. Miaos Produktionsmodell folgt dabei jeweils derselben Strategie, die aus der Reproduktion des Originalgemäldes und dem Ersetzen seiner Figuren durch die den Künstler personifizierenden digitalen Avatare besteht. Den Auftakt dieser 3-D-Werke bildet die Serie The Last Judgment in Cyberspace, in welcher Miao mittels einer solchen virtuellen Replika das als Meisterwerk der späten Renaissance geltende Fresko Michelangelos, Das jüngste Gericht (ausgeführt 1533-1541), neu visualisiert (Seliger 2011). In kurzer Nachfolge entsteht dann die Serie H2O, darunter die Arbeiten H2O – Landscape with Diogenes (2007), eine virtuelle Nachschöpfung von Nicolas Poussins Gemälde Landschaft mit Diogenes (1647), und H2O – Fountain of Youth (2007), eine komplexe Re-Inszenierung von Lucas Cranach des Älteren Der Jungbrunnen (1546). Auf diesen Zyklus folgt die Serie Microcosm (2008), welche auf einer elektronischen Replika von Hieronymus Boschs Der Garten der Lüste (1503-1504) basiert. Dieses Produktionsmodell erfährt eine Aktualisierung mit der von 2008 bis 2010 produzierten Videoanimation RESTART, in welcher zum ersten Mal kein singuläres Gemälde den Ausgangspunkt von Miaos Arbeitspraxis bildet, sondern nunmehr verschiedene europäische Kunstwerke in Abfolge in einem übergeordneten Bildkosmos in Erscheinung treten und von Avataren durchwandert, belebt oder auch zerstört werden. Als Vorlage dienten hier u.a. Pieter Bruegels Triumph des Todes (1562-1563), Raffaels Parnass (ca. 1510) und Schule von Athen (1510-1511) sowie Caspar David Friedrichs Kreidefelsen auf Rügen (1818). Durch die Integration der ursprünglich voneinander unabhängigen Gemälde in ein sich reziprok durchwirkendes piktorales Feld entwickelt Miao hier ein Schwellengebiet von Kunsthistoriografie und transkultureller Visualität.
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D ISPOSITIVE
VON
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Miao Xiaochun hat in seinen 3-D-basierten Werken zunächst einen dezidiert maskulin konnotierten Raum von Autorenschaft und Visualität geschaffen. Dies zeigt sich an dem technologischen Eingriff in das jeweilige Originalmotiv und dem Austausch seiner Figuren gegen die der Avatare, was einer großangelegten Invasion bzw. Revision der Originalgemälde gleichkommt – beides zerstörerisch anmutende Gesten, die die Objekte und Ideale europäischer Kunst und Kunstgeschichte entkoppeln bzw. sie einer neuen künstlerischen Vision unterordnen. Miaos autoritäre Anwendung der 3-D-Computersoftware, deren optisches Wissen und technische Instrumente das Produkt einer männlich assoziierten Wissenschaftskultur von visuellen Technologien sind, erfährt eine weitere Steigerung durch die konsequente Ausrichtung seiner Arbeit an den Werken männlicher – männlich-europäischer – Künstlergenies. Miaos breit gefächertes Repertoire künstlerischer, wissenschaftlicher und technologischer Kompetenzen erinnert dabei ebenfalls an die Elitekultur des konfuzianischen Universalgelehrten, der historisch die Kontinuität der traditionellen chinesischen Künste und den höchsten Grad an Selbstkultivierung repräsentierte. Kunst, Hochkultur, Medien und Geniekult beschreiben hier ein männliches Monopol von Bildern, in dessen asymmetrisches Netzwerk sich Miao durch Bewunderung und Ablehnung doppelschichtig einreiht. In dieser androzentrischen Konfiguration von der Ordnung und Macht der Bilder ist jedoch auch eine Gegenorientierung zu erkennen. Auf bildlicher Ebene wird dies durch das Fehlen der Augäpfel der Avatare symbolisch vorweggenommen, was als Verlust des männlichen Blicks bzw. seiner Teilnahme an patriarchalen Systemen der Repräsentation gedeutet werden kann. Darüber hinaus wird Miaos bisher als männlich markierter Körper plötzlich mit schmaleren Schultern und verbreitertem Becken modelliert. Diese mit Weiblichkeit assoziierten Transformationen kommen besonders pointiert in Miaos Werk H2O – Fountain of Youth (F) (Abb. 3) zum Ausdruck, wo die Wanderung der Avatare durch den Jungbrunnen hindurch eine Bewegung von Alter zu Jugend sowie von dunkler zu heller Hautfarbe simuliert, was im ursprünglichen Bildkontext Heilung und Verjüngung symbolisiert, hier aber auch als ein kosmetischer Übergang von ethnisch chinesischem zu blassem europäischen Teint gelesen werden kann.
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Abbildung 3: Miao Xiaochun, H2O – Fountain of Youth (F), 2007, (C-Print).
Quelle: ©Miao Xiaochun, courtesy of ALEXANDER OCHS GALLERIES BERLIN | BEIJING, Berlin, Deutschland und Beijing, China.
Die mehrdeutige Inszenierung von Waschung und Wandlung erinnert dabei auch an das konfuzianische Diktum der rituellen Selbstreinigung, welches gleichzeitig die Chance zur täglichen Selbsterneuerung evoziert (Plaks 2003: 7, 64). Die Feminisierung der männlichen Avatarkörper mündet schließlich in die Gestaltwerdung eines mütterlich wirkenden Klons, welcher mit einem Baby in den Armen die ursprüngliche Venusfigur auf der im Wasser stehenden Säule ersetzt. Cranachs Gemälde wird durch die physiologischen Wandlungsund Ästhetisierungsprozesse der Avatare sowie die sich gegenseitig erweiternden symbolischen Bedeutungsinhalte somit geschlechtlich und kulturell interaktiv umorientiert. Diese stufenweise Entwicklung erfährt eine Intensivierung und Beschleunigung in der Videoanimation RESTART, in welcher Bilder, Körper und Objekte von anderen Bildelementen zunehmend durchdrungen und entgrenzt werden. Dabei wird, in Anlehnung an Motive von Mischwesen in den Originalgemälden, bei Miaos Klonen zunächst die Auflösung der Grenzen zwischen Mensch und Tier vollzogen, und danach die Durchkreuzung der tradierten Unterscheidung von Mann und Frau durch eine weibliche Version des bisher hauptsächlich als männlich markierten Klons (Abb. 4).
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Abbildung 4: Miao Xiaochun, RESTART, 2008-2010, (3-DComputeranimation).
Quelle: ©Miao Xiaochun, courtesy of Miao Xiaochun, Beijing, China.
Dadurch entsteht ein flexibler Zwischenraum zwischen den Geschlechtern, der noch erweitert wird durch einen schwebenden männlichen Avatar und seiner Ausformung eines schwangeren Leibs, der im Innern jedoch statt eines menschlichen Fötus eine pflanzliche Zell- oder Fruchtformation zu entwickeln scheint. Geschlecht hat hier einen von Leichtigkeit gekennzeichneten prozessualen Charakter, der nicht abgeschlossen bleibt und an verschiedenen Merkmalen von Geschlechtlichkeit gleichzeitig teilzuhaben scheint. Die in dieser Videoanimation zum ersten Mal auftretenden weiblichen Avatare, die allerdings die Gesichtszüge von Miaos ursprünglichem männlichen Avatar in unterschiedlicher Ausprägung übernommen haben und somit auf der Geschlechtermatrix hin und her changieren, zeigen sich nachfolgend in einer horizontalen Schwarmformation, welche sich schraubenartig im Zeitlupentempo dreht (Abb. 5). Diese »weibliche Doppelhelix-Girlande« (PanhansBühler 2010: 22), die sich wie ein »dreidimensionales Umfassungsauge, was alle Objekte gleichseitig von allen Seiten erfasst« (ebd.: 23), fortbewegt, stellt die konzeptionell und formal am weitesten gehende Ausarbeitung des Motivs der Wanderung und Wandlung dar.
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Abbildung 5: Miao Xiaochun, RESTART, 2008-2010, (3-DComputeranimation).
Quelle: ©Miao Xiaochun, courtesy of Miao Xiaochun, Beijing, China.
B EZÜGE ZU CHINESISCHEN K ONSTRUKTIONEN VON G ESCHLECHT Die transitiven Verkörperungsstrategien in Miao Xiaochuns 3-D-basiertem Werk wirft die Frage nach möglichen Bezügen zu chinesischen Geschlechterkonstruktionen auf. Hier lässt sich zunächst feststellen, dass bei Miao Formen, Bedeutungen und Wirkweisen von Geschlecht auf äußerst komplexe Weise artikuliert werden, was einen direkten Rückschluss auf bildliche oder ideologische Strategien nicht zulässt. Artikulationen und Auffassungen von Geschlecht in chinesischer Religion und Philosophie sind ebenfalls vielschichtig und widersprüchlich und beziehen sich, anders als in westlichen Kulturen, nicht auf stabile Einheiten von Geschlecht, d.h. dessen Form, Praxis oder Repräsentation. So beruht die Erklärung des Universums im Daoismus auf dem Konzept von yin und yang, den primordialen Prinzipien oder Kräften, deren polare Energien durch ihre Fluktuation und Interaktion die Entstehung der »zehntausend Dinge«, d.h. des Universums, bewirken (Pas 1998: 370-372). Yin und yang haben dabei zunächst keine geschlechtliche Konnotation, sondern bezeichnen den alternierenden Rhythmus von Trennung und gegenseitiger Durchdringung zweier entgegen-
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wirkender, jedoch in gegenseitiger Abhängigkeit stehender Aspekte wie hell/dunkel, kalt/warm, nördlich/südlich, oben/unten und nachfolgend auch männlich/weiblich. Im indischen Buddhismus hingegen, aus dem sich die chinesischen Schulen des Buddhismus gebildet haben, war Geschlecht an die biologischen Grundlagen des physiologischen Körpers gebunden. Dabei galt Geschlecht als grundsätzlich instabil, sodass Frauen sich in Männer und umgekehrt Männer sich in Frauen verwandeln konnten. Diese Thematik hatte eine besondere Relevanz in buddhistischen medizinischen Schriften wie auch in Debatten, die sich mit Fragen zur Geschlechtsverwandlung im Nachleben und bei Wiedergeburt beschäftigten (Young 2004: xxiv), wobei historisch der männliche Körper als die erstrebenswerte Norm angesehen wurde (ebd.: xxv). Im Konfuzianismus wiederum, dessen zentrale Ideen durch seinen Synkretismus mit daoistischem und buddhistischem Glauben mitgeformt wurden, stand trotz des Ideals des relationalen Charakters von Gesellschaft und Familie, wie auch des Einbezugs des yin-yang-Prinzips, das Gebot der Trennung der Geschlechter im Vordergrund, welches Frauen in politischen, religiösen und sozialen Praktiken ausgrenzte (Mann/Cheng 2001: 6), und zu ihrer bis in die Gegenwart anhaltenden institutionalisierten Marginalisierung und Unterdrückung führte. Miaos Geschlechterentwürfe erinnern zunächst an die Dynamik der yinyang-Struktur, da hier keine sich gegenseitig ausschließenden geschlechtlichen Unterschiede artikuliert werden, sondern das konsekutive Erscheinen und Ineinanderwirken geschlechtlich variabler Avatare sowie das Ausbleiben ihrer Hierarchisierung und Sexualisierung. Miaos Gestaltwerdungen ohne immanente Ursache und in neuer geschlechtlicher Zuordnung reflektieren dabei ebenso das buddhistische Motiv der Transmigration durch Wiedergeburt, wie auch das Konzept der Impermanenz, dessen ideologische Orientierung an einem Nicht-Selbst und einer Ablehnung von Dauerhaftigkeit den Essentialisierungen sowohl von Identität als auch von Geschlecht entgegenwirkt. Das Materialisieren des Selbst als Gruppe könnte hingegen als Hinweis auf ein konfuzianisches Verständnis von sozialer Gemeinschaft gewertet werden, da es ein sich durch relationale Beziehungen konstituierendes erweitertes Menschsein darstellt. Bezüglich der verschobenen Geschlechtsinsignien des weiblichen Avatars bestätigt Miao selbst den prozessualen Charakter seiner Entstehung, allerdings unter Berufung auf die biblische Szene von der Schaffung Evas aus Adams
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Körper, die er nach eigener Aussage bei der Herstellung des weiblichen Avatars nachvollzogen habe (Miao 2011). Diese gottgleiche Geste des allmächtigen Kreierens wird durch Miaos Analogie von computergesteuerten Generierungsprozessen und der Entstehung der »zehntausend Dinge« aus der ursprünglichen Einheit des Universums, d.h. dem als feminin verstandenen, aus sich selbst schöpfenden Dao, ausbalanciert (ebd.). Hier erfahren die bereits genannten, sich gegenseitig durchdringenden Bedeutungen in Miaos Werk eine weitere Synkretisierung durch die Kombination christlicher Geschlechtersymbolik mit daoistischem Schöpfungsmythos, was als ein Hinweis auf Miaos »interkulturelles Gedächtnis« (Panhans-Bühler 2010: 15) sowie seine durch sein »in der östlichen und westlichen Welt trainiertes Verständnis« bedingte »kunsthistorische Sonderstellung« (Jansen 2010: 132) gedeutet werden mag.
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Ausgangspunkt meiner Untersuchung war meine Hypothese, dass das Motiv der Wanderung und Wandlung – kulturell, kunstgeschichtlich und körperlich – in Miao Xiaochuns 3-D-basierten Arbeiten eine zentrale Rolle spielt, es aber bisher als solches noch nicht explizit thematisiert worden ist. Dies führte ich zum einen auf eine mangelnde transkulturelle Theoriebildung in der Kunstgeschichtsschreibung zurück, und zum anderen auf die Herausforderung, die Verfasstheit von Kultur nicht nur in Kombination mit der Kategorie von Geschlecht, sondern Geschlecht selbst als ein »kulturübergreifendes, transkulturelles Phänomen« zu denken, welches keine »abgeschlossene Einheit ist, sondern durch Austausch, Auseinandersetzung, Durchdringung etc. geprägt ist« (Mae/Saal 2007: 9f). Die Bedeutung von Miao Xiaochuns künstlerischer Praxis im Cyberspace liegt somit wesentlich in der Auflösung und Reorganisation von Bildgrenzen und der daraus resultierenden Aufweichung von Geschlechterformen und -ordnungen. Diese interaktiven Prozesse setzen kulturell und geschlechtlich nicht-eindeutige Geschlechteridentitäten frei, die sich zu variablen Geschlechterkonfigurationen gruppieren und stereotypische Geschlechterrepräsentationen durch multiple Selbsterneuerung, kinetische Gemeinschaftsmodelle und multiperspektivische Blickprozesse entkräften. Durch eine Vielzahl technologischer, medialer und kultureller Schnittstellen hindurch überwindet
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Miaos Avatar somit die Fraktur zwischen Ost und West, Vergangenheit und Zukunft und antizipiert als transkulturelles, mehrgeschlechtliches kybernetisches Subjekt die Diversifizierung, Zentrierung und Neuschreibung national gebundener Versionen von Kunst, Kultur und Geschlecht.
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Cyberspace: Mobile Räume für mobile Menschen? Epistemologische Überlegungen im Spannungsfeld von Geschlecht, Migration und ICT* W ALTRAUD E RNST »In these mobile spaces, hospitality has to be articulated by the active ethical agency of an embodied being rather than by one who is always already hospitable.« (IRINA ARISTARKHOVA 2004: 46)
Irina Aristarkhova zufolge gibt es für Frauen genug Grund, das (von patriarchaler Philosophie) zugewiesene Heim, in dem sie zwar Gastfreundschaft repräsentieren, aber allzu oft nicht selbst Gastgeberin sind, zu verlassen und in der Bewegung ein (mobiles) Zuhause in sich selbst zu finden. Der Cyberspace ist demnach – nicht nur auf der symbolischen Ebene – dafür prädestiniert, ein Ort zu sein, an dem Weiblichkeit nicht nur Gastfreundschaft repräsentiert und damit die Grundlage von Gemeinschaft (unter Männern) darstellt, sondern in dem endlich Frauen in ihren vielfältigen Realitäten vorkommen und als unabhängige ethische Subjekte handeln.1 In der Problematisierung der klassischen
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Dieser Beitrag ist eine Ausarbeitung des Textes »Migrantinnen im Cyberspace: Welche Mobilität zu welchem Preis?« auf www.migrazine.at, Ausgabe 2012/2. Den Begriff ›Cyberspace‹ verwende ich in diesem Text synonym zu ›Informationsund Kommunikationstechnologien‹ (ICT) (vgl. Wajcman 2006), um auf die Möglichkeiten hinzuweisen, welche die neuen Informations- und Kommunikationstech-
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Unterscheidung zwischen privat und öffentlich, mit welcher in der bürgerlichen Moderne Europas Frauen der Zugang zum öffentlichen Raum verwehrt oder zumindest erschwert wurde, sieht Aristarkhova eine Chance für ein gleichberechtigtes Miteinander von Personen unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlicher Herkunft: »Cyberspace and the net-communities that arise therein interestingly problematize the classical distinctions between private and public. As such, they could provide the basis for a radical re-thinking of the relationship between femininity and space» (Aristarkhova 2004: 46). Für feministische Politik und Wissenschaft ergeben sich daraus zwei provokante Fragen: Bietet der Cyberspace auf der symbolischen Ebene ebenso wie auf der Ebene sozialer Handlungspraxis die Chance, Weiblichkeit mobil, aktiv und unabhängig zu denken? Sind Migrantinnen, die als transnationale Subjekte nationale Grenzen überschreiten und damit mobile Weiblichkeit quasi verkörpern, also die eigentlichen Protagonistinnen des Cyberfeminismus, die Heldinnen der Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT)?2 Bezogen auf das Thema dieses Beitrags, Migration und Geschlecht im Zusammenhang der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) zu erörtern, bedeutet das, sowohl nach Begriffen und Methoden zu suchen, als auch nach Beispielen aus der Forschungspraxis, um bestehende Zuschreibungs-, Lebens- und Strukturierungspraxen im Zusammenhang von Migration, Geschlecht und ICT zu reflektieren. Es wird untersucht, welche Fragestellungen und Forschungsansätze in diesem Spannungsfeld nützlich sein können, wenn wir annehmen, dass Wissenschaft sich nicht in der Erläuterung oder Erklärung des Status Quo erschöpft, sondern diese in der Reflexion der Verwobenheit von Wissenschaft und Gesellschaft auch als Intervention in soziale Realität verstehen. Darüber hinaus bedeutet es, zu untersuchen, inwiefern diese Forschungspraxen zu einem radikalen Überdenken überkommener tradierter Vorstellungen von Weiblichkeit und Raum beitragen und inwiefern die ICT das Leben von Migrantinnen als mobilen, geschlechtlich definierten Personen »lebbarer« machen.3 Bietet der Cyberspace auf der alltagspraktischen Ebene mobilen Frauen die Möglichkeit, gemeinschaftlichen Raum und mehr oder weniger privaten Freiraum auch tatsächlich zu (er-)leben?
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nologien als utopischer Denkraum und erprobter Erfahrungsraum im Spannungsfeld von Geschlecht und Migration eröffnet haben. Zur Problematisierung der Heldinnenkonstruktion marginalisierter Frauen u.a. bei Donna Haraway vgl. Ernst 1999: 195-196. Zum Begriff des ›lebbaren Lebens‹ (»livable life«) vgl. Butler 2004.
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In einem Transfer der Auseinandersetzung um die Kategorie ›Geschlecht‹ als soziale Konstruktion und persönliche Interaktion, als ein »doing gender«, das geschlechtliche Identität performativ erst herstellt (Butler 1990; West/Zimmermann 1991; Lorber 1994), werde ich Migration im Folgenden weniger als Identitätsmerkmal, sondern als »doing migration«, als persönliche bzw. soziale Praxis untersuchen. Diese Praxis unterliegt mehrdeutigen Zuschreibungs-, Lebens- und Strukturierungsprozessen, deren inhärente Ordnungen selbst hinterfragt werden können. Auf diese Weise kann Migration ebenso wie Geschlecht als Gegenstand von sozialen Interpretations- und Aushandlungsprozessen untersucht werden, an deren Deutungen Personen permanent bewusst oder unbewusst teilnehmen (vgl. Ernst 2002). Das heißt, Migration stellt die Verwurzelung von Personen mit einem geografischen Ort oder einem Nationalstaat nicht infrage, sondern pluralisiert und verschiebt diese als Vielfalt von Verwurzelungen, eventuell über mehrere Generationen hinweg. Mit dieser Denkbewegung ist es möglich, die normative Bindung von Personen an ein einziges spezifisches Zeit-Raum-Geflecht zu trennen. Das heißt, Personen in Bewegung sind nicht notwendigerweise oder nicht entweder an dem Ort, an dem sie geboren sind oder an dem Ort, wo sie sich gerade aufhalten bzw. leben, verwurzelt. Vielmehr – um in der Metapher zu bleiben – schlagen Personen (wie Pflanzen) unterschiedlich starke Wurzeln, wurzeln tief oder flach und breit. Manche bleiben das ganze Leben an einem Ort, anderen gelingt es dagegen, sich immer wieder an neuen Stellen zu verwurzeln. In keinem Nationalstaat leben jedoch nur Personen, die oder deren Eltern dort geboren sind, sondern immer auch Personen, die oder deren Eltern aus vielfältigen persönlichen und historischen, politischen und ökonomischen Gründen Wanderungsbewegungen hinter sich haben, die den gesamten Erfahrungsraum eines Landes bereichern können. Diese Überlegungen stellen eine Kultur der Örtlichkeit in Frage, die, wie ich zeigen werde, Personen in der Migration, also mobile Menschen, auf ihrem Weg behindert. Welche Rolle der Cyberspace dabei spielt, ob die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien dazu dienen, Geschlechterhierarchien aufzubrechen oder zu zementieren, Geschlechteridentitäten zu festigen oder zu vervielfältigen, mobile Menschen auf ihrem Weg zu behindern oder sie dabei zu unterstützen, neue Wege zu gehen und dort zu bleiben, wo sie sich niederlassen möchten, wird anhand aktueller Forschung diskutiert.
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I N PERMANENTER V ERÄNDERUNG: ICT ENTWICKELN UND NUTZEN Die Entwicklung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien kann nur als komplexes wechselseitiges Verhältnis der Koproduktion von Technologie und Geschlecht verstanden werden. Dabei spielen vielfältige soziale Dimensionen eine Rolle. Die Pionierin der feministischen Technikforschung, Judy Wajcman, diskutiert in ihrer aktuellen Studie The Feminization of Work in the Information Age die Zunahme sogenannter flexibler oder atypischer Arbeit im späten 20. Jahrhundert. Insbesondere die Beschäftigung im Bereich der computerbasierten Servicearbeit stelle schlecht bezahlte Frauenarbeit dar, der die Annahme zugrunde liegt, dass Frauen natürlicherweise über notwendige kommunikative Fähigkeiten und Empathie verfügen. Im Gegensatz dazu seien die hochbezahlten Jobs in der ICT-Branche nach wie vor mit dem Klischee einer hegemonialen Männlichkeit verknüpft, so dass sie Frauen nur schwer zugänglich seien (vgl. Wajcman 2006: 85-87). Der Autorin zufolge ist diese »Arbeitsteilung« jedoch nicht nur vergeschlechtlicht, sondern folgt auch einer internationalen Arbeitsteilung, die nicht notwendigerweise an geografische Orte gebunden ist, sondern auch solche Personen in besonders schlecht bezahlte und versicherte Arbeit drängt, die aufgrund von Migration an einem bestimmten Ort hinsichtlich ihrer Qualifikation diskriminiert werden. Auf der politischen Ebene sieht Wajcman jedoch einen großen Gewinn durch die ICT: »Cyberspace makes it possible for even small and poorly resourced nongovernmental organizations to connect with each other and engage in global social efforts. These political activities are an enormous advance for women who were formerly isolated from larger public spheres and crossnational social initiatives« (ebd.: 94). Der Zugang zu ICT hat demzufolge gerade nicht, wie früher angenommen wurde, isolierende Wirkung, sondern wird, so Wajcman, ganz im Gegenteil zur Vernetzung und Kollektivierung vieler Menschen unabhängig vom Geschlecht eingesetzt, und ermöglicht so eine Verschiebung im Geschlechterverhältnis sowie im geopolitischen Missverhältnis bezüglich politischer Partizipation. Was die Nutzung und Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien betrifft, konstatiert feministische Technologieforschung auch für das 21. Jahrhundert ein geschlechterpolitisches Missverhältnis. Historisch ist dies überraschend, denn ein Blick in die Technikgeschichte weist in der Mitte des 20. Jahrhunderts Mathematikerinnen als die Programmiererinnen
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des ersten Computers aus.4 Dennoch zeigen aktuelle Untersuchungen einen gender gap in den ICT, eine deutliche Dominanz von Männern sowohl bei der Nutzung als auch bei der Entwicklung. In ihrer umfassenden Studie über Geschlechterungleichheit in den ICT Technologies of Inclusion. Gender in the Information Society untersuchten 23 Forscherinnen und Forscher aus Irland, Italien, den Niederlanden, Norwegen und Großbritannien zwischen 2003-2005 Strategien der technologischen Einbeziehung, die zum Ziel haben, Gleichberechtigung bei der Entwicklung und Nutzung von ICT herzustellen (Sørensen/Faulkner/Rommes 2011). Anstatt von allgemeinen Vorannahmen über alle Frauen und Männer auszugehen, untersuchten die Forschungsteams ›Geschlecht‹ als strukturelle soziale Kategorie, die verschiedene Geschlechternormen, -identitäten und -praktiken hervorbringt sowie daraus folgend vielfältige vergeschlechtlichte Ausschlüsse. Die Untersuchung von Websites speziell für Frauen zeigte, dass interaktive Features wie Foren sehr gut zum gemeinsamen Lernen und zur gegenseitigen Ermächtigung beigetragen haben, und zwar nicht nur zur Veränderung des Geschlechterverhältnisses im Internet. Es wurden dadurch auch Inhalt und Kultur der ICT selbst verändert, wie z.B. die Vervielfältigung der Themen oder die Einführung von Netiquette, also Empfehlungen und Regeln für die Kommunikation im Internet. Die Forschungsergebnisse machten deutlich, dass erfolgreiche Websites keineswegs mit Inhalten und Designs ausgestattet werden müssen, die sich an Weiblichkeitsstereotypen orientieren. Um für Frauen massenhaft attraktiv zu sein, ist vielmehr die Relevanz der Inhalte für spezielle Interessen (wie z.B. eine bestimmte Krankheit, Fähigkeit, Popmusik, Literatur oder Fernsehserie) ausschlaggebend. Insgesamt zeigten die Untersuchungen, dass Maßnahmen, die ausschließlich für Frauen waren oder Frauen als zentrale Adressatinnen hatten und zusätzlich auf ein spezielles inhaltliches Interesse ausgerichtet waren, der Geschlechterdiskrepanz bei der Entwicklung und Nutzung der ICT am erfolgreichsten entgegenwirkten (vgl. Ernst 2012). Diese Studien fragten allerdings nicht nach einer speziellen Positionierung von Migrantinnen bezüglich ICT bzw. nach dem Verhältnis von Migration und Geschlecht.5 4 5
Vgl. www.frauen-informatik-geschichte.de/ [10.08.2012]. Lisa Nakamura diskutiert unter dem Begriff »cybertyping« die Möglichkeit, durch flächendeckenden Zugang zum Internet der gesamten US-Bevölkerung den verbreiteten Rassismus und Sexismus im Internet zu überwinden. Sie kritisiert die Idee, dass es beim »digital divide« hauptsächlich um Nutzungszugang zum Internet geht und stellt dieser die Notwendigkeit, antirassistische und antisexistische Inhalte bzw. Bilder zu produzieren entgegen, die sie jedoch auch nicht unbedingt durch einen
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Die Darstellung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien als Werkzeug zum weiblichen (Über-)Leben in der Fremde ist nicht nur eine cyberfeministische Vision, sondern für viele Frauen soziale Realität. So weist Elisabeth Tuider in ihrer Studie »Feminisierung der Migration.« Migrantinnen zwischen Ausbeutung und Empowerment am Beispiel von Migrantinnen im Grenzland von Nordmexiko auf Möglichkeiten der Aufrechterhaltung familiärer Beziehungen durch die Nutzung von ICT hin: »Die technischen Errungenschaften von Telefon, Internet und webcams werden nun dazu eingesetzt, soziale Familienbeziehungen über weite Distanzen und Zeiträume aufrecht zu erhalten. Entscheidungen des Haushalts, Erziehungsfragen oder regelmäßige Abendessen werden unabhängig von geografischen Lokalisierungen gemeinsam gestaltet und so Verbindlichkeit und Verantwortung, Sorge und ›care‹ gelebt« (Tuider 2010: 76).6 Das heißt, Migrantinnen nutzen Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) in eigenständiger Weise, nicht nur um sich am neuen Ort zurechtzufinden, sondern auch – wenngleich technologisch vermittelt –, um in ihrem bestehenden sozialen Netzwerk weiterzuleben und persönliche Verbindungen zu pflegen. Tuider zeigt damit, dass sie die traditionelle patriarchale Raumordnung infrage stellen, in der Frauen – aufgrund von Betreuungspflichten auf ein materiell verortetes Heim verwiesen – in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Sie nutzen die öffentlich verfügbaren (bzw. erwerbbaren) Informations- und Kommunikationstechnologien, um ihre privaten Beziehungen zu leben. In der subversiven kreativen Kultur des Cyberfeminismus scheinen sich experimentelle Praktiken bei der Gestaltung und Nutzung neuer Informationsund Kommunikationstechnologien längst zu realisieren (Weber 2001; Reiche/ Kuni 2004). Aktuelle feministische Technologieforschung greift die theoretische und praktische Strategie der Verwischung von Identitätskategorien im Cyberspace auf. So vertritt die schwedische Technikphilosophin Catharina Landström in ihrem Aufsatz Queering Space for New Subjects die These, dass die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien statische Identitätskonzepte erschweren und neue Möglichkeiten der Subjektproduktion eröffnen. Die Schwierigkeit, Identitäten in Chatrooms, Mailing-Listen, OnlineDiskussionsforen oder Weblogs zu überprüfen, eröffne die Möglichkeit der zukunftsgerichteten Subjektkonstitution jenseits von Authentizität (»Ich logge
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repräsentativen professionellen Gestaltungszugang gewährleistet sieht (Nakamura 2006). Dank an Kristina Pia Hofer für diesen Literaturtipp. Siehe auch den Beitrag von Miriam Trzeciak und Elisabeth Tuider in diesem Band.
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mich als das ein, was ich werden will.«). Landström diskutiert die Implikationen dieser Möglichkeiten und Praktiken für emanzipatorische Politik: »The ›cybersubject‹ has not, and will not, replace the physical subject, but entails a multiplication of the sites of interpellation and enunciation, acts constitutive of a propelling subject production« (Landström 2007b: 12). Dieses Multiplizieren der Orte von Subjektproduktion könnte die Machtverhältnisse auf lange Sicht in einer Weise verändern, in der es unmöglich wird, vom sozialpolitischen Kontext abstrahierte Identitäten zu etablieren, um Handlungsmöglichkeiten festzulegen – wie beispielsweise der abstrakte Geschlechterdualismus. Denkbar wäre so z.B., dass Weiblichkeit gerade weil sie nicht (mehr) auf Authentizität überprüft werden kann, sondern prinzipiell für alle zugänglich ist, nicht mehr als Kategorie der Unterdrückung oder Abwertung in einer binären heteronormativen Ordnung funktionieren kann.7 Die Zuschreibung von ICTKompetenz wäre – auch in feministischer Technologieforschung – nicht mehr so eng an bisher verfügbare Zuschreibungen von mehr oder weniger hegemonialen Männlichkeiten oder Weiblichkeiten geknüpft, die immer noch viel zu sehr zwischen idealisierten Bildern potenter heterosexueller eurozentrischer Männlichkeit oder heterosexuell verfügbarer eurozentrischer Weiblichkeit changieren. Vielleicht gelingt es, statt der Erfordernis von Männlichkeit, um ein technologisch potentes Subjekt werden zu können, mittels Strategien der Verschiebung oder Verwischung geschlechtlicher, kultureller, sozialer und sexueller Identität, eine Vielfalt technologisch kompetenter, aktiver und kreativer Subjekte zu begründen. Inwieweit eine solche Strategie trägt, um Raum zu schaffen für mobile Menschen mit vielfältigen, wechselnden Identitäten, welche die Binarität einer sexualisierten, naturalisierten und nationalisierten Geschlechternorm transzendieren, wird zu überprüfen sein.
AUF DEM W EG : T RANSNATIONALITÄT
UND KULTURELLE
V ERORTUNG
Doch die Entwicklung und Nutzung von ICT kann nicht nur im Zusammenhang mit Befähigung und Ermächtigung von mehr oder weniger mobilen geschlechtlich definierten Menschen betrachtet werden. Die Informations- und 7
Zum Problem der Heteronormativität in der feministischen Technologieforschung vgl. Landström 2007a; zum Problem der Heteronormativität in der Migrationsforschung vgl. Castro Varela/Dhawan 2009; Kosnick 2010.
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Kommunikationstechnologien werden vielmehr auch zur Kontrolle, Regulierung und Verhinderung von Migration eingesetzt. Mit den ICT stehen umfangreiche Kontroll- und Überwachungstechniken zur Verfügung. Die EURichtlinie zur sechsmonatigen Vorratsdatenspeicherung und deren weitgehende Umsetzung in den EU-Mitgliedsstaaten wie z.B. Österreich zeigt das beispielhaft.8 Sie betrifft Telefon- und Internetverbindungsdaten, E-MailVerbindungen und Handystandortdaten. Im Auftrag der EU werden sogenannte Wanderungsbewegungen von Personen mit transnationalen Lebensprojekten mithilfe der ICT analysiert, um diese mit Konzepten des EU Migrationsmanagements – wie dem der »zirkulären Migration« – zu konfrontieren: »Die zirkuläre Migration wird zunehmend als wichtige Wanderungsform anerkannt, die gut gesteuert, Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften weltweit in Übereinstimmung bringen und dadurch zu einer effizienteren Verteilung der verfügbaren Ressourcen und zum Wirtschaftswachstum beitragen kann« (Kommission der Europäischen Union, 2007, zit.n. Hess 2012: 24). Ein großes Problem dieses Migrationsregimes besteht Sabine Hess zufolge darin, dass die Kombination aus Visasystem, Lager und Kontrollagenturen zu einer Generierung von Zonen außerhalb der europäischen Grenzen führt, in denen Personen in extrem ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen und mit prekären oder gänzlich fehlenden staatsbürgerlichen Rechten »in der Mobilität gefangen« gehalten werden (Hess 2012: 20; siehe dazu auch den Beitrag in diesem Band). Dennoch schaffen es Personen aus unterschiedlichen Ländern und Gründen, trotz drohender Illegalisierung nach Europa zu kommen und dort zu bleiben. Doch auch dieser Prozess wird erschwert. Migrantinnen und Migranten werden mit einer Vorstellung von Zusammenleben konfrontiert, die Diversität nicht auf egalitäre, pluralistisch-demokratische Weise beinhaltet. Es wird vielmehr eine Idee von europäischer Staatsbürgerinnen- und Staatsbürgerschaft propagiert, die nach wie vor androzentrischen Strukturierungspraxen unterliegt und eine Norm homogener europäischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger postuliert.9 Die politische Gleichheitsnorm der Aufklärung wird so immer noch missverstanden als kulturelle (und geschlechtliche) Homogenität und wirkt (nur) auf diese Weise normativ (vgl. Ernst 2010). Diese normative Idee europäischer Staatsbürgerinnnen- und Staatsbürgerschaft erzeugt ein
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Vgl. Orf: http://help.orf.at/stories/1682085/ [02.08.2012]. Z.B. die Koppelung sozialer Rechte an Erwerbseinkommen bei gleichzeitig immer größerem Auseinanderklaffen desselben zwischen den Geschlechtern (»Gehaltsschere«) (vgl. Michalitsch 2010).
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Regime von Integration, das statt eines Interesses am Austausch, eines Willkommensangebots oder einer Einladung, gemeinschaftlich ein neues Zuhause zu erleben, Integration als einseitige Anforderung an mobilere Menschen stellt. In unseren von Chancengleichheit der Geschlechter weit entfernten Gesellschaften benachteiligt dies insbesondere Migrantinnen (vgl. Caixeta 2010). In ihrer Studie Migration – Integration – Segregation. Untersuchungen zur sozio-kulturellen Lebenssituation und Integration türkischer Migrantinnen in Göttingen zeigen Kerstin Alhajsuleiman und Perdita Pohle, inwiefern Integration nur wechselseitig in der Interaktion zwischen Personen unterschiedlicher nationaler oder kultureller Herkunft gelingen kann. Demgegenüber beklagen Türkinnen in Deutschland oft die mangelnden intensiven Kontakte zu deutschen Nachbarinnen. Die soziale Distanz, so weisen die Forscherinnen nach, führt jedoch zu gegenseitigen Fehleinschätzungen, Stereotypenbildung und Segregation, was Migrantinnen daran hindert, Zugehörigkeitsgefühle an ihrem neuen Lebensort zu entwickeln (vgl. Alhajsuleiman/Pohle 2006). Es erscheint daher geradezu überlebensnotwendig, dass Migrantinnen und Migranten immer wieder neue Praktiken und Bedeutungen des Dazugehörens über Grenzen hinweg erfinden und damit diskriminierende Zuschreibungspraxen im Spannungsfeld von Migration und Geschlecht überwinden. Auf welche Weise sie das tun, untersucht Umut Erel in ihrem Buch Migrant Women Transforming Citizenship. Sie beschreibt anhand der Interpretation von zehn lebensgeschichtlichen Interviews, wie Migrantinnen der transnationalen Überwachungspraxis von Behörden ihre Forderung nach politischer und sozialer Teilnahme entgegensetzen und ihr eigenes Expertinnenwissen entwickeln (vgl. Erel 2009: 14-16). Die kritische intellektuelle Auseinandersetzung mit kulturellen Zuschreibungspraxen wird oft mit einer politischen Widerstandspraxis kombiniert; dies zeigt Encarnación Gutiérrez Rodríguez in ihrer Interviewstudie Intellektuelle Migrantinnen. Subjektivitäten im Zeitalter der Globalisierung (Rodríguez 1999a). Demnach verweisen Migrantinnen durch ihre Lebenspraxis nicht nur auf die Brüchigkeit jeglicher nationalen Zugehörigkeit, sondern wirken »Momenten der Entortung«, in denen sie immer wieder auf eine »ethnische Identität« zurückverwiesen werden, mit einer »Politik der Örtlichkeit« entgegen, einer »Praxis, die um ihre geographische und politische Verortung weiß« (Rodríguez 1999b: 69).
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M IGRANTINNEN : (V IRTUELLE ) R ÄUME FORSCHEND VERÄNDERN Aus dem Vorangegangenen wird deutlich, dass die Erforschung von Migration und Geschlecht im Zusammenhang von ICT in komplexen Macht- und Herrschaftsverhältnissen stattfindet, in denen sie nicht umhin kommt, sich zu positionieren. Prozesse der Migration, also ›doing migration‹, können nicht ohne Prozesse der Vergeschlechtlichung, also ›doing gender‹, im virtuellen wie im materiellen Raum verstanden werden und umgekehrt. Folglich müssen Forschungen nicht nur dazu beitragen, herauszufinden, welche Interessen und Bedürfnisse an die Informations- und Kommunikationstechnologien durch Personen in der Migration gestellt werden und wie, wo und wann die Kategorie ›Geschlecht‹ dabei eine Rolle spielt. Es ist ebenso von Interesse, herauszufinden, wie stereotype Zuschreibungspraxen überwunden werden können und wie die Forschung über ICT selbst dazu beitragen kann, das Leben von Migrantinnen ›lebbarer‹ zu machen. Beispielhaft wird hier das EU-Forschungsprojekt Self-defenceIT – Migrantinnen wehren sich gegen Gewalt in Neuen Medien vorgestellt, das vom Autonomen Zentrum von & für Migrantinnen (maiz) in Linz, Österreich, in Kooperation mit nationalen und internationalen Partnerinnen und Partnern entwickelt und durchgeführt wird.10 Self-defenceIT ist ein Aktionsforschungsprojekt von und für Migrantinnen, das die sozialen und technischen Bedürfnisse von Migrantinnen bei der Nutzung digitaler Medien zum Thema hat und die durch Rassismus und Gewalt bedingte Ausgrenzung von jugendlichen Migrantinnen und Migranten sowie ihren Eltern (insbesondere Frauen) verringern und ihre gesellschaftliche Teilhabe verbessern will. »Durch die Förderung eines selbstbewussten Zugangs und Umgangs mit modernen Medientechnologien, wie beispielsweise Handys, Computerspiele, Internetangebote etc. sollen Mütter und in der Bildungs- und Betreuungsarbeit tätige Migrantinnen bei der Begleitung von Kindern und Jugendlichen unterstützt werden« (maiz 2012). In vier Ländern (Österreich, Deutschland, Griechenland und Spanien) wurden Gruppendiskussionen durchgeführt, in denen Migrantinnen als Expertinnen ihres Lebensalltags nach ihren Erfahrungen und Bedürfnissen gefragt wurden, ebenso Jugendliche. In interdisziplinärer und internationaler Zusammenarbeit wurden, den nationalen Erhebungen entsprechend, Maßnahmen wie Beratung,
10 www.maiz.at [22.09.2012]; www.selfdefenseit.eu [22.09.2012].
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Workshops und Lernprogramme entwickelt und durchgeführt. Auf diese Weise können die gewonnenen Erkenntnisse umgehend in der Förderung der medienpädagogischen Kompetenzen und Kollektivierungsprozesse von Migrantinnen umgesetzt und das Selbstvertrauen gestärkt werden. Im Anschluss an die Pädagogik der Befreiung nach Paulo Freire und der darauf aufbauenden Idee des Forumtheaters Augusto Boals wird über szenisches Verstehen der Erkenntnisgewinn vergrößert: »Mit der Entwicklung von Phantasie und Kreativität wächst auch der Mut, sich in realen Situationen anders zu verhalten« (maiz 2012). Es zeigte sich, dass Migrantinnen viel über die Neuen Medien wissen und viel Wissen über die ICT generieren. Auf diese Weise können sie transnationale Kontakte mit Familienmitgliedern und Freundinnen auf der ganzen Welt aufrechterhalten. Sie unterstützen ihre Kinder beim Umgang mit den ICT, indem sie mit ihnen die Nutzungsdauer und die Inhalte vereinbaren. Obwohl die Neuen Medien im beruflichen Umfeld der Migrantinnen oft eine geringe Rolle spielen, hat der Zugang zu ICT die Machtverhältnisse in den Beziehungen der Frauen auf ganz unterschiedliche Weise bestätigt oder verändert (vgl. Gouma/Carrington/Hochholzer 2012). Genau auf diese offene Situation scheint das Projekt zugeschnitten zu sein. Denn es hat nicht nur die Generierung von Wissen über Migrantinnen und ICT zum Ziel, sondern Strategien der »SelbstErmächtigung im kritischen und selbstbewussten Auftreten gegen Rassismus, Sexismus und Homophobie« (ebd.: 18). Für den Sozialisierungsprozess der Jugendlichen bergen die ICT sowohl Gefahren, z.B. in der Konfrontation mit rassistischen, sexistischen, homophoben Web-Inhalten, als auch Chancen, wie die Forscherinnen aus den Interviews herausarbeiten konnten: »Die Jugendlichen haben über rassistische Berichterstattung über Migrantinnen in (alten) Medien gesprochen. […] Die ›Neuen Medien‹ werden nicht als Verbündete gegen die ›Alten Medien‹ gesehen. Sie werden nicht als Protestmedium oder als partizipative Chance wahrgenommen« (ebd.). Den ersten Projektergebnissen zufolge spielen die Medienkompetenzen für die Familiendynamik eine wichtige Rolle. Die Kompetenzen der Jugendlichen können ganz unterschiedlich zum Einsatz kommen. Sie nutzen diese zur Unterhaltung mit den jüngeren Geschwistern, aber zum Teil auch zur Unterstützung der Eltern, die oft nicht die Zeit haben, sich ausführlich mit den ICT auseinanderzusetzen: »Die Jugendlichen tragen wesentlich dazu bei, dass die Eltern, mit denen sie gemeinsam wohnen, die vorhandenen technischen Möglichkeiten nutzen können. Es
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findet also eine Ressourcenteilung statt, die von der Bereitschaft der Jugendlichen abhängig ist und Dynamik in der Familie reproduziert« (ebd.: 19). Dies ist ein wichtiges Ergebnis hinsichtlich eines weiteren Projektziels, den sogenannten »digital divide« zwischen den Generationen zu verringern, damit Migrantinnen die Kinder und Jugendlichen, die sie betreuen, im Hinblick auf kritische und kreative Mediennutzung unterstützen können. Hierzu und auch dazu, den Gewaltverhältnissen, denen Migrantinnen und Migranten ausgesetzt sind, kreativ zu begegnen, die teilweise auch in den ICT reproduziert werden, werden in den Workshops Strategien entwickelt: »Neben der technischen Begleitung der Migrantinnen, ist es die Aufgabe das vorhandene Wissen sichtbar zu machen, um darin kollektive Handlungsmöglichkeiten zu erkennen. Auch geht es um das Ausloten der partizipativen Möglichkeiten und die Entwicklung von Strategien und ›Guerilla-Taktiken‹ gegen rechtliche, rassistische und patriarchale Gewalten« (ebd.). Auf diese Weise sollen die etablierten Normen, die hinsichtlich Geschlecht und Migration Ausschlüsse produzieren, mit und durch die Nutzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien entlarvt und überwunden werden. Denn wenn es gerade stereotype Zuschreibungspraxen sind, die mobile Frauen im gesellschaftlichen Raum ihres neuen Wohnortes erneut und rigoros an der Teilnahme am öffentlichen Leben hindern und wenn stereotype Vorstellungen von weniger mobilen Personen Migrantinnen Positionen zuschreiben, die außerhalb örtlicher Normen weiblicher Existenz und homogen gedachter Nationalkultur liegen, dann ist es eine solche Kultur der Örtlichkeit, die ein gleichberechtigtes Miteinander behindert. Das EU-Aktionsforschungsprojekt Self-defenceIT scheint mit der Untersuchung der Auseinandersetzung von Migrantinnen mit ICT einer solchen Kultur der Örtlichkeit entgegenzutreten und ihr eine »Politik der Örtlichkeit« im Sinne Encarnación Gutiérrez Rodríguez’ (s.o.) entgegenzusetzen. Auf der Grundlage der vorliegenden Erörterung hat die kritische und kreative Aneignung des Cyberspace nicht nur bezüglich der Nutzung, sondern auch im Sinne einer Mitgestaltung der Inhalte und der Kultur der ICT durch die Migrantinnen, ausgehend von vier lokalen Projektpartnerschaften, das Potential, Positionierungen in Bezug auf Geschlecht und Migration zu verschieben – und das nicht nur im Cyberspace, sondern in der (europäischen) Gesellschaft insgesamt. Als aktive Gestalterinnen kultureller Räume können Migrantinnen darüber hinaus überkommene Vorstellungen von Weiblichkeit und Raum verändern.
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AUSBLICKE Es geht also nicht darum, Migrantinnen als besonders bedürftige oder diskriminierte Frauen bezüglich der Informations- und Kommunikationstechnologien zu positionieren und sie so erneut Prozessen des ›otherings‹ auszusetzen. Es scheint aber ebenso problematisch, Migrantinnen insgesamt als neue Heldinnen des Cyberspace zu küren, ohne die jeweiligen konkreten Verhältnisse zu berücksichtigen. Die Auseinandersetzung mit Migration und Geschlecht im Zusammenhang mit den ICT ermöglicht vielmehr, Mobilität in vielfältiger Weise als zentralen Aspekt personaler Existenz zu denken, zu erleben und zu erforschen. Würde Mobilität zwischen Nationalstaaten ebenso wie zwischen Geschlechteridentitäten nicht nur als staatsbürgerliches Recht, sondern auch als transnationales Menschenrecht endlich ernstgenommen, könnten manchen Positionierungen in diesem Spannungsfeld weniger leicht Privilegien und anderen Prekarität zugeschrieben bzw. zugemutet werden. Daher scheint es geboten, Migrantinnen nicht als homogene Gruppe, sondern in ihrer Vielfalt als gleichberechtigte Mitbürgerinnen anzuerkennen, sie mit ihren spezifischen Expertisen und Bedürfnissen zu Wort kommen zu lassen und wertzuschätzen. Das bedeutet, Migrantinnen müssen in alle Entscheidungen des öffentlichen Lebens, insbesondere auch hinsichtlich der ICT, der Forschung darüber sowie der Entwicklung von ICT, aktiv werden können. Darüber hinaus benötigen Migrantinnen, wie alle anderen mehr oder weniger mobilen Menschen, unkontrollierten ›privaten‹ Raum im Cyberspace11 genauso wie in der materiellen Realität, um in sich ein Zuhause zu finden, um Gemeinschaft zu erleben und Träume auszutesten.
L ITERATUR Alhajsuleiman, Kerstin/Pohle, Perdita (2006): »Migration–Integration– Segregation. Untersuchungen zur sozio-kulturellen Lebenssituation und Integration türkischer Migrantinnen in Göttingen«, in: Waltraud Ernst/ Ulrike Bohle (Hg.), Transformationen von Geschlechterordnungen in Wis11 Privater Raum erhält im Zusammenhang mit den Informations- und Kommunikationstechnologien eine etwas andere Bedeutung als im konventionellen Raum. Privatheit im Cyberspace zeichnet sich durch (die Illusion der?) mangelnden Zugriffsmöglichkeit durch Dritte auf persönliche Daten und Bewegungen aus.
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Politiken der Normalisierung
Keep it in the Closet? Flüchtlingsanerkennung wegen Homosexualität* N ORA M ARKARD /L AURA A DAMIETZ
Wer sich aus queer-feministischer Perspektive mit dem Recht beschäftigt, kommt um Wanderungsbewegungen nicht herum. Denn das Recht ist ambivalent: Es erhält einerseits gesellschaftliche Strukturen aufrecht, stellt aber auch gleichzeitig ein Mittel dar, gegen diese Strukturen zu kämpfen, insbesondere durch sein Gleichheitsversprechen (Hark 2000). Dabei finden Wanderungen von Konzepten aus der Praxis der Frauenbewegungen, der Lesben- und Schwulenbewegungen usw. in die Rechtswissenschaft und die Geschlechterstudien statt – aber, im Erfolgsfall eines Rechtskampfes, auch andersherum, aus der Rechtswissenschaft und den Geschlechterstudien in die Rechtspraxis von Behörden und Gerichten oder gar der Gesetzgebung; Bewegungen also zwischen Praxen und Theorien. Solche Rechtskämpfe sind zwar ubiquitär, aber sie sind oft spezifisch und situationsabhängig, denn in unterschiedlichen Kontexten mobilisieren Menschen oft unterschiedliche Rechte oder mobilisieren Rechte unterschiedlich. So ist zwar das Konzept der Menschenrechte sehr verbreitet, aber ihre Auslegung ist nicht immer einheitlich – auch wenn Projekte wie die Yogyakarta-Prinzipien1 an einer Universalisierung der Anerken-
* Dieser Beitrag basiert auf dem Aufsatz »Keep it in the Closet? Flüchtlingsanerken1
nung wegen Homosexualität auf dem Prüfstand« der Verfasserinnen aus der Kritischen Justiz 44/3 (2011), S. 294-302. Wir danken der Redaktion für die Erlaubnis. Yogyakarta Principles: Principles on the application of international human rights law in relation to sexual orientation and gender identity (2007), siehe www. yogyakartaprinciples.org [25.01.2013].
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nung normabweichender Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen arbeiten. Andererseits können erfolgreiche Rechtskämpfe auch als Vorbild dienen, und so finden sich auch transregionale konzeptionelle Migrationen in der Rechtswissenschaft und der Rechtspraxis. Doch wenn Rechtskämpfe zu gefährlich sind, wenn das Recht also nicht zu den Menschen kommt, dann wandern oft die Menschen zu den Rechten. Dem widmet sich das Migrationsrecht, auch Ausländer- und Asylrecht genannt. Es regelt, wer als Migrantin oder Migrant einwandern darf (und wen sie oder er dabei mitnehmen darf) und wer aufgrund von Verfolgung als Flüchtling einwandern darf. Im Flüchtlingsrecht kommt noch eine weitere Wanderungsebene hinzu: die zwischen den Gerichten selbst. Maßgeblich ist die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK),2 die von inzwischen 147 Staaten angewendet wird, ohne dass es eine gemeinsame zentrale Auslegungsinstanz gäbe. Doch die Gerichte, vor allem im englischsprachigen Raum, rezipieren und kritisieren sich gegenseitig (Goodwin-Gill/Lambert 2010), und seit die Konvention 2004 in einer EURichtlinie (der sogenannten Qualifikationsrichtlinie, QRL)3 konkretisiert wurde, gibt es hier sogar eine gemeinsame Instanz: den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH).4 Wo Menschen vor homophober und sexistischer Gewalt fliehen, muss flüchtlingsrechtlich verhandelt werden, ob bestimmte Geschlechtszwänge im Herkunftsland aus Sicht des Aufnahmestaates als hinnehmbar gelten oder ihn zum Flüchtlingsschutz verpflichten, und wo die Grenze zwischen ›privat‹ und ›öffentlich‹ verläuft. Dabei geht es auch um das, was im Englischen bildhaft als the closet bezeichnet wird: Das Verbergen der Homosexualität im Privaten, sozusagen im Schrank (Sedgwick 1990).5 Dies möchten wir an einem Beispiel zeigen.
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Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (1951), 189 UNTS 150, in dieser Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (1967), 606 UNTS 267. Richtlinie 2004/83/EG regelt Mindeststandards für die Qualifikation als Flüchtling, die das Recht der EU-Mitgliedstaaten einhalten muss. Dabei konkretisiert sie die Rechtsbegriffe der internationalen Flüchtlingskonvention auf dem Stand der internationalen Rechtsprechung, die vor allem durch die englischsprachigen Staaten geprägt ist, darunter auch der EU-Mitgliedstaat Großbritannien. Der EuGH ist (unter anderem) dafür zuständig, die europäischen Richtlinien zu interpretieren. Seine Rechtsprechung bindet die Mitgliedstaaten der EU. »It is the way in which hundreds of thousands of gay men lived in England before the enactment of the Sexual Offences Act 1967«: HJ (Iran) and HT (Cameroon) v. SSHD, Rn. 92, per Lord Walker; in Deutschland dauerte es noch zwei Jahre länger.
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D IE P RIVATISIERUNG DER H OMOSEXUALITÄT IM R ECHT : S CHUTZ IM S CHRANK 2010 legte das Oberverwaltungsgericht Münster dem EuGH folgende Frage vor: »Kann der homosexuelle Mensch darauf verwiesen werden, seine sexuelle Ausrichtung im Heimatland im Verborgenen auszuleben und nach außen nicht bekannt werden zu lassen?«6 Mit dieser Frage stellte es indirekt eine bahnbrechende Entscheidung des britischen Supreme Court in Frage. Denn die britischen Lordrichter hatten gerade erst im Fall HJ (Iran) and HT (Cameroon) v SSHD7 befunden, dass ein Leben im Verborgenen entgegen der bisherigen Rechtsprechung unzumutbar ist. Dass Verfolgung wegen Homosexualität vom Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention erfasst ist, ist inzwischen anerkannt (UNHCR 2008; LaViolette 2010). So sieht es auch ausdrücklich die EU-Qualifikationsrichtlinie vor (Art. 10 I lit. d QRL). Voraussetzung der Flüchtlingsanerkennung nach der Flüchtlingskonvention und der Richtlinie ist eine Prognose, dass dem Flüchtling wegen dieses Merkmals bei seiner Rückkehr in sein Herkunftsland Verfolgung, also schwere Menschenrechtsverletzungen drohen würden (Löhr 2009: 76-156). Hier setzte die Vorlagefrage an – denn Verfolgung, so die Annahme, würde ja nur drohen, wenn man seine Homosexualität öffentlich werden lässt, nicht, wenn sie ›Privatsache‹ bleibt. Flüchtlingsrechtlicher Schutz von Homosexualität: »Innere Emigration« und das forum internum als »closet« Auch in der Vorinstanz zu HJ (Iran) war das Berufungsgericht noch davon ausgegangen, dass für beide Kläger, HJ und HT, keine Verfolgungsgefahr bestehe.8 HT hatte angegeben, er werde im Fall seiner Rückkehr nach Kamerun seine Homosexualität geheim halten, was wenig erstaunt; er war vor seiner Flucht von einem Mob angegriffen und von eingreifenden Polizisten krankenhausreif geschlagen worden, weil er in seinem Garten seinen Partner geküsst hatte.9 Das 6 7
8 9
OVG Münster, Beschl. v. 23.11.2010 – 13 A 1013/09.A, Asylmagazin 2011, 81; EuGH Rs. C-563/10, Kashayar Khavand/Bundesrepublik Deutschland. Supreme Court (ehem. House of Lords), HJ (Iran) and HT (Cameroon) v. SSHD, [2010] UKSC 31; im Folgenden: HJ (Iran). Frei zugänglich auf www.bailii.org [03.09.2012]. [2009] EWCA Civ 172. HJ (Iran), Rn. 41.
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Berufungsgericht befand, ein solches als »diskret« bezeichnetes Verhalten könne auch von dem Iraner HJ erwartet werden. Sei einem Flüchtling die »innere Emigration« zumutbar, bestehe kein Grund für eine Flucht über die Grenze.10 Das Berufungsgericht stand mit dieser Auffassung keineswegs allein; andere Gerichte hatten in ähnlichen Fällen die öffentliche Erkennbarkeit homosexueller Orientierung als »Zurschaustellung« oder sogar als Einladung zur Verfolgung bezeichnet (ausführliche Nachweise bei Millbank 2009: 393). Und auch das deutsche Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hatte im Fall eines Iraners schon 1988 festgestellt, die »Beschränkung« der sexuellen Betätigung durch die Gesetzeslage im Iran, die (tatbestandlich) derjenigen in Deutschland vor nur 20 Jahren entspreche, sei grundsätzlich hinzunehmen: »Das Asylrecht hat nicht die Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen«.11 Das BVerwG greift hier kulturrelativistische Argumentationsweisen auf, wendet sie aber zur Farce – denn hier geht es gerade nicht um die Durchsetzung von Standards im Iran, sondern um die Rechtsverwirklichung eines Iraners in Deutschland.12 Zudem drohten dem Kläger im Iran, anders als im Deutschland der 1960er Jahre, körperliche Züchtigung oder gar die Todesstrafe. Die Beschränkung auf den Kernbereich der Privatsphäre, das sogenannte forum internum, stammt aus der deutschen Asylrechtsprechung zur Religionsfreiheit. Danach soll ein Schutzanspruch nur bestehen, wenn das »religiöse Existenzminimum« im Kernbereich der Privatsphäre verletzt ist.13 Hieran knüpfte 2009, wiederum im Falle eines homosexuellen iranischen Klägers, das VG Düsseldorf an: Ein forum externum der öffentlichen homosexuellen Betätigung sei nicht geschützt.14 Daraufhin legte das OVG Münster dem EuGH die 10 Grundlegend zur Zumutbarkeit: Court of Appeal, J v SSHD, [2007] Imm AR 73, Rn. 16, per Maurice Kay LJ. HJs Prozessvertreter Husain QC sprach in Anlehnung an die sogenannte innerstaatliche Schutzalternative von »internal flight within the self«: HJ (Iran), Rn. 20. 11 BVerwG 79, 143 (149). 12 Ebenso VG Oldenburg, Urt. v. 13.11.2007 – 1 A 1824/07, Rn. 44f: Doppelstandards machen sich die Auffassung des Verfolgerstaats zu eigen. 13 Ob diese Rechtsprechung mit der EU-Richtlinie vereinbar ist, wird nun der EuGH entscheiden: BVerwG, Vorlagebeschl. v. 9.12.2010 – 10 C 19.09, 10 C 21.09, DVBls 2011, 512. Krit. der Generalanwalt des EuGH, Yves Bot, in seinen Schlussanträgen vom 19.4.2012 zur Rs. C-71/11 und C-99/11, Bundesrepublik/Y und Z. 14 VG Düsseldorf, Urt. v. 11.3.2009 – 5 K 1875/08.A; verfügbar auf asyl.net. Das Gericht stellte dem Kläger anheim, er könne ja auch Homosexuellentreffpunkte in öffentlichen Parks aufsuchen.
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zitierte Frage vor – die sich jedoch sogleich erledigte: Nachdem der EuGH auf seiner Website den vollen Namen des Klägers veröffentlichte, war es mit der Diskretion ohnehin vorbei.15 Nicht allen homosexuellen Flüchtlingen jedoch wird der closet zugemutet. So gewährte das BVerwG dem iranischen Kläger ausnahmsweise Asyl nach Art. 16 II 2 GG, weil das Berufungsgericht festgestellt hatte, dass »sich der Kläger einer homosexuellen Betätigung gar nicht enthalten kann«.16 Homosexualität, dies beweise die sexualwissenschaftliche, psychologische und psychoanalytische Forschung, sei vielfach eine irreversible Prägung.17 Auch beim Kläger handle es sich »nicht um eine bloße Neigung […], der nachzugeben mehr oder weniger im Belieben des Klägers stünde«; vielmehr sei »in dessen Person im Sinne einer irreversiblen Prägung eine unentrinnbare schicksalhafte Festlegung auf homosexuelles Verhalten gegeben […], die das Gefühlsleben des Klägers einschließlich seines sexuellen Verhaltens seit seinem 15. oder 16. Lebensjahr bestimmt«.18 Der Kläger werde daher trotz der Strafnormen »seinem unentrinnbaren Geschlechtstrieb auf absehbare Zeit mehr oder weniger zwangsläufig nachgeben«.19 Andersherum lehnte das VG Regensburg 1998 einen Asylantrag ab, da der Landgerichtsarzt festgestellt habe, Selbstbefriedigung reiche: Der Kläger sei nicht in einer krankhaften Weise homosexuell veranlagt. Jedermann, der nicht krankhaft veranlagt sei, sei in der Lage, seinen Sexualtrieb durch Selbstbefriedigung zu kompensieren oder generell zu unterdrücken. »Dies ist nachvollziehbar und überzeugend und entspricht dem, was jedermann aus eigener Erfahrung ohnehin weiß«.20 Das Gericht entwirft hier normative Vorstellungen »normaler« und pathologisierter Sexualität, an denen der Kläger gemessen wird; nur wer als quasi krankhaft triebhaft eingeordnet wird, kann in solcher Perspektive noch Schutz erlangen.
15 OVG Münster, Beschl. v. 15.2.2011 – 13 A 1013/09.A: Aufhebung des Vorlagebeschlusses wg. Klaglosstellung. 16 BVerwG 79, 143 (151); Herv. i. Orig. 17 Ebd., 147, m.w.N. 18 Ebd. 19 Ebd., 152. 20 VG Regensburg, Urt. v. 4.8.1998 – RN 11 K 97.31221 (unveröff.; Herv. d. Verf.). Der Anwalt des (zum Zeitpunkt des Gutachtens in Einzelhaft befindlichen) Klägers bestritt diese Behauptung und berief sich unter anderem auf sein eigenes Zeugnis. Das Gericht befand jedoch, es handle sich nicht um einen Beweisantrag.
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Menschenrechtlicher Schutz von Homosexualität: Devianz im Privaten Das Konzept der »Diskretion« betrifft die Frage, welcher Raum queerer Sexualität gesellschaftlich zugewiesen ist (Millbank 2009: 393) – auch über den Bereich Asyl hinaus. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)21 ist dies traditionell der Raum des Privaten: Danach beinhaltet der Schutz der Homosexualität vor allem das Recht auf ›Ausübung‹ der Homosexualität in den eigenen vier Wänden und das Recht auf Geheimhaltung der Homosexualität als »the most intimate aspect of private life«.22 Anknüpfungspunkt ist der Schutz des Privatlebens (Art. 8 EMRK).23 Zwar befand der EGMR die Strafbarkeit einverständlicher sexueller Handlungen zwischen Erwachsenen desselben Geschlechts als Menschenrechtsverletzung,24 betonte jedoch jeweils die räumliche Privatheit der sexuellen Aktivität und den Wunsch der Kläger nach Vermeidung von Öffentlichkeit.25 Auch als es um Befragungen zur Homosexualität in der Armee ging,26 beschränkte sich der EGMR auf die Verletzung des Privatlebens, hinter welcher eine Verletzung der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) durch den Zwang zur Geheimhaltung zurücktrete. Auch bei der Anerkennung einer Kriegsdienstverweigerung aufgrund homophober Gewalt in der Armee ging es letztlich um die Entziehung von der Gewaltbedrohung, nicht um die Gewaltbedrohung selbst.27
21 Der EGMR legt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) für ihre 47 Mitgliedstaaten aus, darunter sämtliche EU-Staaten. 22 EGMR, Dudgeon/Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nr. 7525/76 (1981), Rn. 52; ausführlich Johnson (2010). 23 Allgemein zu diesem Menschenrecht vgl. Prinzip 6 der Yogyakarta Principles (2007). 24 EGMR, Dudgeon (Fn. 22); L. und V./Österreich, 39392/98 (2003); Norris/Irland, 10581/83 (1988); darauf basierend US SC, Lawrence v Texas, 539 U.S. 558 (2003). Dies gilt auch für die selektive Strafbewehrung nur von Geschlechtsverkehr von männlichen Erwachsenen mit männlichen Jugendlichen: EGMR, S.L./Österreich, 45330/99 (2003); EKMR, Sutherland/Vereinigtes Königreich, Bericht Nr. 25186/94 (1997). 25 EGMR, Dudgeon (Fn. 22); Norris (Fn. 24); ADT/Vereinigtes Königreich, 35765/97 (2000), Rn. 25. Auch der US-Supreme Court (Fn. 24) stellt klar, es gehe nicht um öffentliches Verhalten. 26 EGMR, Smith and Grady/Vereinigtes Königreich, 33985/96 und 33986/96 (1999). 27 EGMR, Mangaros/Zypern, 12846/05 (2008). Genauer ging es um Rechtshilfe in einem Verfahren, dessen Grundlage die Anerkennung der Verweigerung war.
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Diesem Muster folgt auch die deutsche verfassungsrechtliche Rechtsprechung. Im Lebach-Urteil etwa schützte das BVerfG 1973 einen verurteilten (bisexuellen) Mörder vor der filmischen Veröffentlichung seiner homosexuellen Kontakte; der Film vermindere seine Chancen auf Resozialisierung, insbesondere seine Chancen, eine Frau zu finden.28 2005 schützte es eine lesbische Asylsuchende vor Ermittlungen in ihrem libanesischen Herkunftsort, die sie dort outen würden.29 Homosexuelle Orientierung fand damit bis 2009 – der Erklärung der Verfassungswidrigkeit von Benachteiligungen von Lebenspartnern gegenüber Eheleuten30 – in Karlsruhe nur Unterstützung in dem Bemühen, im Verborgen, Privaten zu verbleiben (Adamietz 2011: 263). Erst in den letzten Jahren weitet sich die EGMR-Rechtsprechung auf »öffentliche« Rechte aus, so die Demonstrationsfreiheit z.B. für Gay-Pride-Demonstrationen.31 Nachdem in mehreren Staaten die Lebenspartnerschaft eingeführt oder die Ehe ausgeweitet wurde, hat der EGMR zuletzt auch den Schutz des Familienlebens für homosexuelle Paare geöffnet,32 wohlgemerkt also auf solche, die das heteronormative Ideal der verbindlichen und exklusiven Zweierbeziehung (König 2008) anrufen. Sex und das Andere: Triebhaftigkeit und Passing Diese Rechtsprechungslinien – flüchtlingsrechtlich, menschenrechtlich – reduzieren tendenziell die (normabweichende) sexuelle Orientierung auf den Sex, der auf den privaten Raum beschränkt werden kann. Vor allem männliche Homosexuelle erscheinen als triebhafte Wesen, die ihrer Homosexualität und dem Drang zu ihrer sexuellen Realisierung entweder ausgeliefert sind33 oder lernen müssen, sich zu bändigen. Zum Teil verweisen Gerichte dabei darauf, dass im Herkunftsland des Flüchtlings auch heterosexuelle Sexualbeziehungen »diskret« gehandhabt würden.34 Dabei werden jedoch Lebensweisen, die über das Geschlechtsleben
28 29 30 31
BVerfG 35, 202 (242). BVerfGK 5, 60 = NVwZ 2005, 681. BVerfG 124, 199. EGMR, Bączkowski/Polen, 1543/06 (2007), Rn. 64. Viele weitere Fälle sind anhängig. 32 EGMR, Schalk und Kopf/Österreich, 30141/04 (2010). 33 So leider auch in HJ (Iran), Rn. 77, per Lord Rodger. 34 Vgl. VG München, Urt. v. 28.11.2007 – M 18 K 07.50325, Rn. 23; siehe auch BVerwG (Fn. 11), 152.
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hinausgehen, ausgeblendet, da sie bei Heterosexuellen zumeist »unsichtbar« sind, insofern sie gesellschaftlich akzeptiert sind und daher als »neutral« gelten. Denn Verhaltensweisen, an denen ein (vermeintlich eindeutiges) Geschlecht und eine vermeintlich(e) passende oder nicht-passende sexuelle Orientierung abgelesen wird, erfassen viele Lebensbereiche: Wie reagiert eine Person auf Frauen oder Männer, gibt sie sich dem anderen Geschlecht durch ihr Auftreten als grundsätzlich sexuell aufgeschlossen zu erkennen? Geht sie aufgrund ihres Aussehens, ihres Auftretens, ihres Ganges, ihrer Stimme, als feminine, an Männern interessierte Frau, als maskuliner, an Frauen interessierter Mann durch?35 Redet sie beim Geplänkel über Eroberungen und sexuelle Attraktion gegenüber dem »richtigen« Geschlecht mit? Lord Rodger macht in HJ (Iran) deutlich, dass es eben nicht nur um Sex geht, sondern auch um all die kleinen Flirts, »which are an enjoyable part of heterosexual life«, um die kleinen zärtlichen Gesten, die zwischen Männern und Frauen selbstverständlich seien, insgesamt die Möglichkeit, in einer sexuellen Beziehung glücklich zu sein.36 Gesetze, die gleichgeschlechtlich konnotierte sexuelle Handlungen unter Strafe stellen, dienen zudem der Aufrechterhaltung eines gesellschaftlichen Klimas, in dem Homosexuelle in der Familie und auf der Straße von Gewalt und Erpressung bedroht sind, die sich in Polizeistationen fortzusetzen droht;37 dies macht die Geschichte von HT in HJ (Iran) überaus plastisch. Damit geht es nicht nur um »diskreten« Sex, sondern um die Geheimhaltung einer gesamten Lebensweise, um citizenship im umfassenden Sinne (vgl. z.B. Richardson 2000: 71-115): »In short, what is protected is the applicant’s right to live freely and openly as a gay man«.38
35 Vgl. US SC, Price Waterhouse v Hopkins, 490 U.S. 228. 36 HJ (Iran), Rn. 77, per Lord Rodger. 37 UNHCR Guidance Note, Rn. 20-22; vgl. auch südafr. Const. Court, National Coalition for Gay and Lesbian Equality v Minister of Justice, 1999 (1) SA 6, Rn. 130 (per Sachs J). 38 HJ (Iran), Rn. 78, per Lord Rodger. So auch der austral. High Court, Appellant S395/2002, [2003] HCA 71, Rn. 81 (per Gummow and Hayne JJ.).
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R ECLAIMING THE P UBLIC : ANNE F RANK UND DIE Z UMUTBARKEIT – HJ (I RAN ) Die Law Lords befanden nun in der Sache HJ (Iran) and HT (Cameroon) unter Berufung auf internationale Rechtsprechung,39 dass ein Leben auf Dauer im closet – sei es, wie bei HJ, vom Gericht angeordnet oder, wie bei HT, aus Furcht vor Verfolgung selbst auferlegt – unzumutbar ist (UNHCR 2008: Rn. 12, 25f.). Die Flüchtlingskonvention gehe davon aus, dass Menschen frei von Furcht vor schweren Verletzungen »wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung« leben können sollten.40 Der Zwang, dies aus Furcht vor Verfolgung zu verbergen, beraubt den Flüchtling genau des Schutzes, den die Konvention ihm bieten soll.41 Lord Walker bezeichnet dies als das »Anne-FrankPrinzip«.42 Anne Frank habe der Verfolgung durch den Aufenthalt in ihrem Versteck – bis zu ihrem Verrat – entgehen können. Nach der DiskretionsRechtsprechung wäre sie kein Flüchtling gewesen, da sie ja das Versteck hatte. Die Frage sei daher nicht nur, ob der Flüchtling seine sexuelle Orientierung verbergen könne, sondern ob er sie aus Furcht vor Verfolgung verbergen müsse – oder nur aus Gründen gesellschaftlicher oder familiärer Erwartungen.43 Mit dieser neuen Rechtsprechung sind jedoch wiederum Stereotype verbunden, die sich teilweise auf die Flüchtlingsdefinition zurückführen lassen. Zum anderen verlagern sich die Probleme nun in den Nachweis der Homosexualität, in einer Verschiebung »from discretion to disbelief« (Millbank 2009).
39 Insb. Appellant S395/2002 (Fn. 38), Rn. 41, per McHugh und Kirby JJ; neuseel. RSAA, Refugee Appeal No. 74665/03, [2005] INLR 68; US-Court of Appeals 9th Cir., Karouni v. Gonzalez, 399 F.3d 1163 (2005); kanad. FC, Atta Fosu v Canada (MCI), [2008] FC 1135; Okoli v MCI, [2009] FC 332. 40 HJ (Iran), Rn. 52, per Lord Rodger. 41 Ebd., Rn. 110, per Lord Collins. Ebenso Sir John Dyson SCJ, Rn. 113. 42 Ebd., Rn. 96, per Lord Walker, unter Berufung auf J v SSHD (Fn. 10). Der Vergleich taucht auch in der australischen Rechtsprechung auf: Win v MIMA [2001] FCA 132. 43 HJ (Iran), Rn. 35, per Lord Hope, 82, per Lord Rodger. Zust. Lord Walker, Rn. 98.
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Kylie und Cocktails: Homosexualität als Identität und als Schicksal Flüchtlingsrechtlich ist die Homosexualität geschützt, weil sie entweder ein angeborenes, unveränderliches Merkmal darstellt, oder weil sie so zentral für die Identität des Flüchtlings ist, dass ein Verzicht nicht verlangt werden kann (allg. Hruschka/Löhr 2009; histor. McGhee 2001). So formuliert Lord Hope in HJ (Iran): »The group is defined by the immutable characteristic of its members’ sexual orientation or sexuality. […] [B]ecause it manifests itself in behaviour, it is less immediately visible than a person’s race. But, unlike a person’s religion or political opinion, it is incapable of being changed. To pretend that it does not exist, or that the behaviour by which it manifests itself can be suppressed, is to deny the members of this group their fundamental right to be what they are […]«.
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Homosexualität wird hier einerseits als Schicksal oder Natur konstruiert, als irreversibel. Johnson zeigt auf, wie das Konzept der »Persönlichkeit« in der EGMR-Rechtsprechung benutzt wurde, um Homosexualität als immanente Eigenschaft zu essentialisieren und dadurch ihren Ausdruck als Menschenrecht zu verteidigen: Was ein Mensch nicht ändern kann, das darf ihm nicht zum Nachteil gereichen (Johnson 2010: 74 und passim). Dabei fungierte die Argumentation der »Schicksalhaftigkeit« auch als Verteidigungslinie gegenüber Pathologisierungen von Homosexualität unter dem Vorzeichen der vermeintlichen »Heilbarkeit« (ebd.). Dies wird auch in der Argumentation des BVerwG erkennbar; nur weil die Homosexualität des Klägers »schicksalhaft« und »irreversibel« war, bekam er besonderen Schutz. Mit der Ausweitung der Betrachtung über den sexuellen Kontakt hinaus wird Homosexualität gleichzeitig von einer Aktivität zu einer Identität und damit tendenziell zu einer prägenden Eigenschaft; etwas, was man wesenshaft ist und nicht, was man tut (vgl. Halley 1993; Thomas 1993). Die dieser Betrachtungsweise innewohnende Tendenz wird an dem deutlich, was Lord Rodger selbst(ironisch) »trivial stereotypical examples from British society« nennt: »[J]ust as male heterosexuals are free to enjoy themselves playing rugby, drinking beer and talking about girls with their mates, so male homosexuals are to be
44 HJ (Iran), Rn. 11 (Herv. d. Verf.).
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free to enjoy themselves going to Kylie concerts, drinking exotically coloured cocktails and talking about boys with their straight female mates.« Schwule Männer müssten ebenso wie Heteros so leben können, wie es ihrer Natur entspreche.45 Diese klischeehafte Überzeichnung der »Natur« von (hier: männlichen) Homosexuellen verweist auf das gruppistische Element (Brubaker 2007; Baer 2008: 434, 444) des Identitätskonzepts. Das einzelne Individuum wird als zugehörig zu einer (sozialen) Gruppe konzipiert, die durch bestimmte Gemeinsamkeiten gekennzeichnet ist, an denen sie erkennbar wird. Das Individuelle verschwindet tendenziell hinter diesen (vermeintlichen) Gemeinsamkeiten. Glaubwürdige »gay performance«: Queere Stereotype als Beweisproblem Der Entwurf von Homosexualität als Identität und als Schicksal spiegelt sich in den Stereotypen wider, mit denen Flüchtlinge beim Kampf um Anerkennung konfrontiert sind. Dabei müssen sich Flüchtlinge einerseits in je regional vorherrschende, stereotype Bilder von homosexueller Seinsweise einpassen, andererseits ihre Homosexualität als ihre eigentliche, alternativlos einzige und endgültige Natur präsentieren. Hilfreich ist dabei ein lineares Narrativ der sexuellen Selbsterkenntnis, in dem heterosexuelle Erfahrungen allenfalls in einer Phase anfänglicher Verwirrung eine Rolle spielen (Berg/Millbank 2009), nicht dagegen bisexuelle oder wechselnde, fluide Orientierungen und Selbstidentifikationen. Rehaag bringt es auf dem Punkt: »Bisexuals need not apply« (Rehaag 2009).46 Millbank, Berg und Rehaag beschreiben, wie schwule Flüchtlinge nach Schwulenbars im Aufnahmeland befragt werden, um herauszufinden, ob sie dort die neugewonnene Freiheit nutzen (Millbank 2009: 400; Rehaag 2008: 72f.). In anderen Fällen zweifeln Behörden oder Gerichte an der Homosexualität von Flüchtlingen, wenn diese sich nicht ›tuntig‹ genug verhalten oder ihr Umgang mit ihrem Partner nicht pärchenhaft genug (Millbank 2009: 401) oder wenn eine lesbische Frau zu attraktiv und weiblich wirkt (Rehaag 2008: 71). Umgekehrt kann die Erfüllung klischeehafter Vorstellungen die asylrechtliche Anerkennung bedeuten, wie etwa vor dem VG Düsseldorf: 45 HJ (Iran), Rn. 78, per Lord Rodger. 46 Anders das BVerwG, Urt. v. 17.10.1989, NVwZ-RR 90, 375, wenn der Homosexuelle nicht ausschließlich auf Sexualkontakte mit Partnern seines Geschlechts festgelegt sei, es aber immer wieder auch dazu komme.
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»Nach dem Eindruck, den das Gericht gewonnen hat, kann der Kläger seine sexuelle Orientierung nämlich nicht verbergen. Sie kommt nicht etwa in aufdringlicher Aufmachung, wie es in der in diesem Verfahren eingeholten gutachterlichen Stellungnahme des Deutschen Orient-Instituts […] vermutet wird, zum Ausdruck, sondern in seiner ihn prägenden körperlichen Erscheinung und Körpersprache, die er nach dem Eindruck, den das Gericht in den Terminen zur mündlichen Verhandlung nachhaltig gewonnen hat, nicht verstellen kann«.
47
Solche Kriterien sind an westlichen Stereotypen und (vermeintlichen) Normalitäten schwuler Lebensweisen orientiert, die Menschen aus anderen kulturellen Zusammenhängen fremd sein mögen: »to speak of the ›gay reality‹ as being built around queer bookstores and discotheques demonstrates a serious lack of sensitivity to intersectional considerations such as gender, race, class, linguistic background, and immigration status« (Rehaag 2008: 73). Zudem werden Flüchtlinge oft detailliert nach intimen Begegnungen befragt. Für Flüchtlinge, die über Jahre ihr Intimleben geheim halten mussten, oft begleitet von Selbsthass und Schamgefühlen, und die möglicherweise auch generell offenes Sprechen über Sexualfragen nicht gewöhnt sind, sind diese Kriterien oft schwer erfüllbar (LaViolette 2007: 195f.). Klar menschenrechtswidrig sind Verfahren, wie sie in der tschechischen Republik eingesetzt werden. Dabei werden Flüchtlingen zur »Überprüfung« ihrer Homosexualität pornografische Aufnahmen gezeigt und ihre körperlichen Reaktionen mittels phallometrischer oder vaginal-plethysmografischer Instrumente auf pseudowissenschaftliche Weise gemessen (ausf. ORAM 2011). UNHCR hat diese Praxis als erniedrigende Behandlung verurteilt (UNHCR 2011).
R ISIKEN UND N EBENWIRKUNGEN VON ANERKENNUNGSPOLITIK An der beschriebenen Rechtsprechung erweisen sich erneut die Risiken und Nebenwirkungen, die Ambivalenzen von Anerkennungsstrategien. Die Einordnung in Gruppen weist Individuen tendenziell fixe Identitäten zu, in die sie sich einordnen müssen, um vom Gruppenschutz zu profitieren. Eine Anerkennungspolitik, die Essentialismus vermeiden will, sollte von der individuellen
47 VG Düsseldorf, Urt. v. 1.9.2004 – 5 K 1367/00.A (nicht veröffentlicht).
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Erfahrung ausgehen und offen für die verschiedenen Arten sein, in denen Flüchtlinge binäre und heteronormative Geschlechtermatrizes durchkreuzen (LaViolette 2007; Markard/Adamietz 2008: 259-261). Dies erfordert ein differenziertes Verständnis von Geschlechterverhältnissen in ihrer Vieldimensionalität. Die transdisziplinären Geschlechterstudien können dazu beitragen, dass dieses Verständnis auch in die Rechtspraxis wandert.48
L ITERATUR Adamietz, Laura (2011): Geschlecht als Erwartung, Baden-Baden: Nomos. Baer, Susanne (2008): »Ungleichheit der Gleichheiten? Zur Hierarchisierung von Diskriminierungsverboten«, in: Eckart Klein/Christoph Menke (Hg.), Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote, Berlin: BWV Berliner Wissenschaftsverlag, S. 421-450. Berg, Laurie/Millbank, Jenni (2009): »Constructing the Personal Narratives of Lesbian, Gay and Bisexual Asylum Claimants«, in: Journal of Refugee Studies 22/2, S. 195-223. Brubaker, Rogers (2007): Ethnizität ohne Gruppen, Hamburg: Hamburger Edition. Goodwin-Gill, Guy S./Lambert, Hélène (Hg.) (2010): The Limits of Transnational Law: Refugee Law, Policy Harmonization and Judicial Dialogue in the European Union, Cambridge: Cambridge University Press. Halley, Janet E. (1993): »Reasoning about Sodomy: Act and Identity in and after Bowers v. Hardwick«, in: Virginia Law Review 79/7, S. 1721-1780. Hark, Sabine (2000): »Durchquerung des Rechts. Paradoxien einer Politik der Rechte«, in: Sabine Hark (Hg.), Queering Demokratie: Sexuelle Politiken, Berlin: Querverlag, S. 28-44. Hruschka, Constantin/Löhr, Tillmann (2009): »Das Konventionsmerkmal ›Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe‹ und seine Anwendung in Deutschland«, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2009, S. 205-211. Johnson, Paul (2010): »›An Essentially Private Manifestation of Human Personality‹: Constructions of Homosexuality in the European Court of Human Rights«, in: Human Rights Law Review 10/1, S. 67-97. 48 Z.B. durch Richtlinien wie die von UNHCR. Dazu und zu Fällen wie Stigmatisierung und Orientalisierung vgl. Markard 2007.
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König, Julia (2008): »Beziehungsweisen jenseits der Zweisamkeits(ver)ordnung oder: Zur Produktion der Grenze: Wer mehr liebt, hat UnRecht«, in: Kritische Justiz 41/3, S. 271-278. LaViolette, Nicole (2007): »Gender-Related Refugee Claims: Expanding the Scope of the Canadian Guidelines«, in: International Journal of Refugee Law 19/2, S. 169-214. LaViolette, Nicole (2010): »UNHCR Guidance Note on Refugee Claims Relating to Sexual Orientation and Gender Identity: A Critical Commentary«, in: International Journal of Refugee Law 22/2, S. 173-208. Löhr, Tillmann (2009): Die kinderspezifische Auslegung des völkerrechtlichen Flüchtlingsbegriffs, Baden-Baden: Nomos. Markard, Nora (2007): »Fortschritte im Flüchtlingsrecht? Gender Guidelines und geschlechtsspezifische Verfolgung«, in: Kritische Justiz 40/4, S. 373390. Markard, Nora/Adamietz, Laura (2008): »Herausforderungen an eine zeitgenoሷssische feministische Menschenrechtspolitik am Beispiel sexualisierter Kriegsgewalt«, in: Kritische Justiz 41/3, S. 257-265. McGhee, Derek (2001): »Persecution and Social Group Status: Homosexual Refugees in the 1990s«, in: Journal of Refugee Studies 14/1, S. 20-42. Millbank, Jenni (2009): »From Discretion to Disbelief: Recent Trends in Refugee Determinations on the Basis of Sexual Orientation in Australia and the United Kingdom«, in: International Journal of Human Rights 13/2-3, S. 391-414. Organization for Refuge, Asylum & Migration (ORAM): »Testing Sexual Orientation: A Scientific and Legal Analysis of Plethysmography in Asylum & Refugee Status Proceedings«, Februar 2011, http://oraminter national.org/en/publications/152-testing-sexual-orientation [03.09.2012]. Rehaag, Sean (2008): »Patrolling the Borders of Sexual Orientation: Bisexual Refugee Claims in Canada«, in: McGill Law Journal 53/1, S. 59-102. Rehaag, Sean (2009): »Bisexuals Need not Apply: A Comparative Appraisal of Refugee Law and Policy in Canada, the United States, and Australia, in: International Journal of Human Rights 13/2, S. 415-436. Richardson, Diane (2000): Rethinking Sexuality, London/Thousand Oaks/ New Delhi: Sage. Sedgwick, Eve Kosofsky (1990): Epistemology of the Closet, Berkeley/Los Angeles: University of California Press.
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Europäische Migrationspolitik aus gendertheoretischer Perspektive: Eine ethnografische Analyse des Anti-Trafficking-Dispositivs S ABINE H ESS
U NGEWOHNTE ARBEITSBÜNDNISSE 1 Ich stehe vor einem Fünf-Sterne-Hotel am Rande Istanbuls, nur wenige Minuten vom Flughafen entfernt, und warte auf den Lift. Wieder einmal hatte ich diese Art zweitägiges Politikspektakel mit Vertreterinnen und Vertretern von Regierungen, Geheimdiensten, der Europäischen Union, internationalen und supranationalen Organisationen wie Europol, der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) oder der IOM (Internationale Organisation für Migration) und einigen nationalen bis lokalen Nichtregierungsorganisationen gut überstanden. Ich hatte nach einem halben Jahr begleitender ethnografischer Politikfeldforschung im Kontext des sogenannten Budapester Prozesses,2 einer seit 1991 laufenden Serie von Konferenzen und Workshops zur Implementierung EU-europäischer Migrations- und Grenzkontrollpolitik 1
2
Dieser Artikel erscheint in einer ausführlicheren Fassung auf Englisch in Ethnologia Europaea 2013 unter dem Titel »How Gendered is the European Migration Regime? A Feminist Analysis of the Anti-Trafficking Apparatus«. Ich erforschte als Kulturanthropologin 2007-2009 im Rahmen einer begleitenden, auf Feldforschung aufbauenden »Organisationsethnografie« das ICMPD (vgl. Georgi 2007), wobei ich mich hierbei vor allem auf die politische Praxis des Budapester Prozesses konzentrierte. In diesem Sinne wurde es eine mitgehende »Netzwerkforschung« zur Politik und den Diskursen der Europäischen Migrationspolitik (vgl. Hess 2009: 182f.)
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außerhalb ihres Hoheitsgebiets, die Rolle der ›unabhängigen Forscherin‹ inne, die als ›bunter Vogel‹ irgendwie am Ende des langen Tisches dazugehörte (vgl. Hess 2009, 2010). Der Budapester Prozess und das ICMPD, das International Center for Migration Policy Development mit Sitz in Wien, welches den Prozess als Sekretariat leitet, waren mir vor Jahren bereits als zentrale politische Institutionen aufgefallen (Transit-Migration-Forschungsgruppe 2007),3 mit deren Hilfe die EU und ihre Mitgliedsstaaten ihre Migrations- und Grenzkontrollpolitik den neuen Mitglieds- wie auch den Anrainerländern im wörtlichen Sinne »beibringt« (vgl. Düvell 2002; Hess 2009; Geiger/Pécoud 2010). So hatten zu der Konferenz in Istanbul im Oktober 2007 unter der Schirmherrschaft der Türkei unterschiedlichste Organisationen geladen, wie der Budapester Prozess, das ICMPD, die UNODC (das United Nation Drugs and Crime Office) und die BSEC (die Black Sea Economic Cooperation) – und zwar zum Thema Trafficking in the Black Sea Region (UN.GIFT 2007). Hierbei ist nicht nur erstaunlich, dass Anti-Trafficking den thematischen Formelkompromiss darstellte, unter dem die diversen Interessen der beteiligten Institutionen zusammenfanden und letztlich Gelder fließen konnten. Auch die beiden Schwerpunktsetzungen der Konferenz, auf die man sich nach einigen Aushandlungsrunden zwischen den beteiligten Akteuren einigen konnte, sind höchst interessant: So ging es erstens primär um die »transnational cooperation [Herv. d. Verf.] between law enforcement and NGOs for the referral of victims of trafficking«, und zweitens um »data collection and information management«. Die Konferenz wurde für mich im weiteren Verlauf meiner Forschung zu einem beeindruckenden Lehrstück hinsichtlich der weitreichenden Wirkweisen und Effekte des Anti-Trafficking-Diskurses, wie ihn die EU, die USA und zahlreiche internationale intergouvernementale Akteure, aber auch regionale und lokale NGOs seit Jahren re-produzieren. Vor allem offenbarte die Konferenz eine für diese politische Region bisher nicht für möglich gehaltene inter-
3
Ich beziehe mich in den folgenden Analysen zum einen auf Resultate des interdisziplinären Forschungsprojekts Transit Migration, in dessen Rahmen wir 2003-2005 an den europäischen Außengrenzen zur Europäisierung der Migrationspolitik forschten und in dessen Kontext wir die von uns so bezeichnete »ethnografische Grenzregimeanalyse« entwickelten (Transit-Migration-Forschungs–gruppe 2007), auf Forschungsergebnisse aus dem Kontext des Netzwerks der kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung (Hess/Kasparek 2010) sowie auf die Forschungsarbeit von Eva Bahl, Marina Ginal und mir zu den Effekten der Anti-TraffickingPolitik auf kommunaler Ebene (vgl. Bahl/Ginal/Hess 2010).
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agency-Kooperation. So saßen hier – zwar weiterhin fremdelnd, aber dennoch gemeinsam – der Chef der türkischen paramilitärisch organisierten Polizeieinheit, der Jandarma, mit den zwei im Land existierenden feministischen Frauenhäusern an einem Tisch und tauschten sich über die Grenzen und Schwierigkeiten ihrer sozialtherapeutischen Unterstützungsarbeit aus, wobei von allen NGO-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern die restriktive Migrationskontrollpolitik als maßgebliche Verursacherin der Misere immer wieder benannt wurde. Diese, wenn auch nur strategisch eingegangenen ›Arbeitsbündnisse‹, welchen ich während meiner Forschungen zur Europäischen Migrations- und Grenzpolitik vor allem im Kontext von Anti-Trafficking-Politiken auf kommunaler, regionaler und europäischer Ebene begegnen konnte, fesselten zunehmend mein gendertheoretisches Interesse, diese Art gouvernementalen Politikstils als auch die Rolle und Funktion der Anti-Trafficking-Politik für das EU-europäische Grenzregime analytisch besser zu verstehen. Dabei interessierte mich das internationale Politikfeld des Anti- oder auch Counter-Traffickings, des Kampfes gegen Menschen- und vor allem Frauenhandel, insbesondere auch aus dem Grund, da es ein migrationspolitisches Terrain darstellt, welches stark mit frauenrechtlichen und feministischen Diskurspositionen arbeitet. Es ist ein Feld, welches in den letzten 15 Jahren aus den politischen Nischen der internationalen Frauenbewegung herausgetreten ist und zu einem dominanten Dispositiv des europäischen und globalisierten Migrationsmanagements wurde. Es legitimiert nicht nur zentral den Diskurs der Verschärfung von Migrationskontrollen und verleiht ihm eine ungeheure Öffentlichkeitswirkung und Evidenz (MTV 2012; Jolie 2012). Der Diskurs hat in den letzten Jahren auch ungeheure Summen im internationalen Kampf gegen die organisierte Kriminalität freigesetzt und derartige neue Akteurskonstellationen hervorgebracht, wie ich sie hier kurz skizzierte, die in gouvernementaler Weise Zivilgesellschaft, feministische NGOs, internationale Organisationen und nationale wie supranationale Polizei- und Geheimdienstapparate um einen Tisch versammeln. Dabei fokussiert der Diskurs wie kaum ein anderes internationales Politikfeld den weiblichen Körper und die weibliche Sexualität insbesondere in der Figur des weiblichen, hilflosen ›Opfers‹. So werde ich im Folgenden mit der Analyse des »Anti-Trafficking-Dispositivs«4 zu zeigen ver-
4
Ich spreche in Anlehnung an Michel Foucault vom »Anti-Trafficking-Dispositiv«. Nach Reiner Keller führte Foucault im Anschluss an seine diskurstheoretischen Studien den Begriff des Dispositivs ein, um Untersuchungen des »Sagbaren« mit Untersuchungen des »Sichtbaren«, Materiellen, von Infrastrukturen und institutio-
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suchen, wie fest die Kategorie ›Gender‹ in den Prozeduren, Technologien, Artikulationen und Rationalitäten der neuen europäischen Migrationspolitik eingeschrieben ist. Bevor ich jedoch auf das Zusammenspiel zwischen der Europäisierung der Migrationspolitik und dem Frauenhandelsdiskurs eingehe, möchte ich zunächst die Genese des Anti-Trafficking-Dispositivs mit seinen unterschiedlichen ›disziplinären‹ Beiträgen wie auch mit seinen dominanten dichotomischen Diskursstrategien skizzieren, um daran anschließend Faktoren des Booms des Sektors herauszuarbeiten.
G ENESE
DES
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Es gibt nur noch wenige andere politische Diskurs und Praxisfelder, in denen der migrantische Frauen-Körper so explizit das zentrale Objekt einer ganzen Reihe von Diskursen und Befürchtungen, von Ausbeutungsverhältnissen und Gewalt, wie auch das Objekt eines ganzen Bündels äußerst widersprüchlicher Gegenmaßnahmen wurde. Er steht im Zentrum feministischer Anti-GewaltPolitiken und Schutzmaßnahmen, die seit Jahrzehnten das Thema der Zwangsprostitution und des Frauenhandels öffentlichkeitswirksam skandalisieren und konkrete Unterstützungs- und Betreuungspraktiken entwickelt haben. Dabei reicht das Praxisfeld von kirchlich-karitativen über radikalfeministische und antirassistische, von abolitionistischen bis hin zu unterstützenden Ansätzen (vgl. Andrijaševiü 2010: 2, 14f.; Karakayali 2008), die wesentlich entlang der Frage des zugeschriebenen Objekt- bzw. Subjektstatus der migrantischen Frauen zu unterscheiden sind.5 Dabei waren es feministische und Frauengruppen, die über Jahrzehnte der Kampagnenarbeit erreicht hatten, dass das Thema in den 1990er Jahren offiziell in der Politik angekommen und ernst genommen wurde. Als wesentliche Foren werden hierbei die UN-Menschenrechtskonferenz in Wien 1993 und die UN-Frauenkonferenz in Peking 1995 genannt (Schwenken 2006; Düvell 2002), die dem Kampf gegen den Frauen- und Menschenhandel sowie den damit aufs Engste diskursiv verknüpften Kampf gegen Zwangsprostitution auf die offizielle Agenda gesetzt haben. Im Kontext der EU verweist die Politik-
5
nellen Handlungsweisen zu verbinden (Keller 2008: 93ff.). Hierbei ist jedoch eine intersektionale Vorgehensweise (Rodríguez 2011) unerlässlich. Auf die historischen Konjunkturen des Anti-Trafficking-Diskurses kann ich hier aus Platzgründen nicht eingehen (siehe Karakayali 2008).
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wissenschaftlerin Helen Schwenken vor allem auf die Bedeutung des »samtenen Dreiecks« aus feministischen Bürokratinnen (den sogenannten Femokratinnen), Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen/Lobbyistinnen für die Etablierung des Diskurses in den 1990er Jahren (2006: 111). Denn die EUKommission habe sich, als sie mit dem Maastrichter (1992) und dem Amsterdamer Vertrag (1998) das Mandat bekam, auch im Bereich Inneres und Justiz zu handeln, vor allem auf die Zusammenarbeit mit NGOs und anderen Lobbygruppen stützen können und von deren Expertise und Wissen profitiert. Frauenpolitischen Netzwerken eröffneten die EU-Strukturen insbesondere in Gestalt des Frauenbüros, der späteren Equal Opportunities Unit, die Chance, ihre Positionen zu hegemonialisieren, vor allem wenn sie als ›Gender Equality‹Themen gerahmt waren. Von diesem window of opportunity profitierte auch das Frauenhandelsthema, welches zu dieser Zeit von feministischen Gruppen zunehmend auf die Agenda gesetzt wurde. Dabei macht Schwenken deutlich, dass nicht von vornherein feststand, dass sich der Diskurs in Richtung Versicherheitlichung bewegen würde. Sie konstatiert jedoch, dass mit der im Folgenden skizzierten zunehmenden Verkoppelung des Themas mit der Bekämpfung der irregulären Migration sich der Raum für feministische Positionen auch alsbald wieder geschlossen hatte. Die EU verabschiedete ihr erstes Aktionsprogramm gegen Frauen- und Menschenhandel unter dem Titel STOP im Jahr 1996 (Kommission der Europäischen Union 1996).6 Es war jedoch vor allem das EU-Aktionsprogramm DAPHNE 1 im Jahr 2000 (Kommission der Europäischen Union 2000), welches dazu beigetragen hat, den Diskurs und den Akteurskreis zu stärken. Wo es keine NGOs gab, wurden welche geschaffen bzw. die politische Ausrichtung der bereits bestehenden wurde mitgeprägt. Marion Böker vom Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt gegen Frauen im Migrationsprozess (KOK) kritisiert dann auch im Interview mit dem Berliner Antirassismusbüro (Böker 2009), dass diese Förderpolitik der EU massiv zur Spaltung des NGO-Feldes beigetragen habe; nämlich in solche Initiativen, die sich zur Mitarbeit an EU-Opferschutz-Maßnahmen und der Politik der Runden Tische bereit erklären und solche, die eine derartige Zusammenarbeit mit staatlichen law-enforcement-Organen ablehnen und hierdurch nicht in den Genuss von Fördermitteln kommen. Zwei Jahre später, im Jahr 2002, verabschie6
Eine nächste Mitteilung der Kommission folgte im Jahr 1998 (Kommission der Europäischen Union 1998), die bereits ein beredtes Zeugnis davon ablegte, welche unterschiedlichen Akteure und welche Regierungsweise der Diskurs aktivierte.
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dete der Ministerrat den EU-Rahmenbeschluss, der ein gemeinsames strafrechtliches Vorgehen aller EU-Mitgliedsstaaten forcierte (Rat der Europäischen Union 2002).
P OLITIKFELDER
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Konkret haben sich im Kontext der EU-Migrations- und Grenzpolitik folgende zwei politische Praxisfelder der Anti-Trafficking-Politik herausgeschält, die sich auch in anderen Weltregionen wiederfinden lassen (vgl. den sogenannten Bali-Prozess für den asiatischen Raum). So agiert die Anti-Trafficking-Politik im Bereich der öffentlichkeitswirksamen Repräsentationspolitik und etabliert ein spezifisches Blickregime auf den weiblichen migrantischen Körper. Die spezifischen repräsentationspolitischen Praktiken vor allem im Rahmen sogenannter Aufklärungskampagnen, die vor den Gefahren des Menschenhandels mit großformatigen Plakaten und anderen Werbematerialien in den Herkunftsländern warnen wollen, hinterlassen vor allem in den Herkunftsländern der Migrantinnen ihre negativen Spuren. Das hier massiv in Szene gesetzte ›Leid‹ und das meist halb nackte ›weibliche Opfer‹ stellen Frauenmigration gänzlich unter den moralischen Vorbehalt der Prostitution und stigmatisieren sie als nicht zu verantwortende Gefahr (siehe die Bildanalyse von Andrijaševiü 2005). Die globale Anti-Trafficking-Politik agiert neben diesen groß angelegten öffentlichen Kampagnen vor allem auf dem Terrain der Sicherheits- und Kontrollpolitik. So wird der Kampf gegen Frauenhandel und Zwangsprostitution vornehmlich als ein Kampf gegen die damit aufs Engste in Zusammenhang gebrachte organisierte Kriminalität ausagiert. Diese sogenannte Versicherheitlichung des Themas lässt sich auch gut an dem zentralen Dokument der AntiTrafficking-Politik, dem sogenannten Palermo-Protokoll zeigen, welches als Durchbruch des Themas in den Bereich der offiziellen europäischen und globalen Politik auch von feministischen Akteuren gefeiert wurde. Das PalermoProtokoll wurde von der UN-Crime Commission 2003 als Anhang zu der groß angelegten Konvention zur Bekämpfung der internationalen organisierten Kriminalität verabschiedet (UNODC 2003). Dabei unterscheidet das Protokoll zwischen trafficking (= Handel, Zwang) und smuggling (= Schmuggel, Freiwilligkeit), was einerseits einen Erfolg darstellt, in diesem Bereich differenziertere Lesarten einziehen zu lassen, denn nicht alle Transport- und Vermitt-
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lungsdienste sind gleich als Trafficking zu definieren. Andererseits verstärkt und formalisiert die Konvention damit die zentrale Dichotomie zwischen Freiwilligkeit und Zwang, die den Diskurs prägt. Gerade hier können jedoch biografisch orientierte Forschungsarbeiten zeigen, dass dies nicht als Gegensatz konzipiert werden kann, sondern in den Alltagen der Frauen sich Freiwilligkeit und direkter wie struktureller Zwang widersprüchlich überlagern, ineinander übergehen und unterschiedlich in den Selbstdeutungen und Handlungen bewertet und ausgehandelt werden (vgl. Lenz 2009; Andrijaševiü 2010). Dennoch ist dieser Gegensatz das wesentliche Definitionskriterium, um den Opferstatus ›gehandelte Frau‹ festzulegen.
M IGRATIONSPOLITIK ALS K ATALYSATOR VON S EX -T RAFFICKING Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass die Nachfrage nach spezifischen sexualisierten und rassifizierten Frauen-Körpern und emotionaler sexualisierter Arbeit in den letzten Jahren im Kontext von Globalisierung und ökonomischen Restrukturierungen in der Tat gestiegen ist (vgl. Andrijaševiü 2010: 5ff.; Hochschild 1983). Die Hintergründe werden u.a. im Feld der heteronormativen, patriarchalen, kapitalistischen und rassifizierten Weltordnung gesucht. Dabei wird der Handel mit Frauen und Kindern zum Zwecke sexueller Ausbeutung von internationalen Polizeien wie Europol als der schnellstwachsende kriminelle Sektor bezeichnet. Nach dem globalen Drogen- und Waffenhandel soll der Sex-Trafficking-Sektor der drittprofitabelste sein (vgl. u.a. Andrijaševiü 2010: 7). Angesichts der Problematik von Zahlen, die einerseits auf die Informalität des Phänomens zurückzuführen ist wie andererseits auch auf die unterschiedlichen Zählverfahren der verschiedenen Behörden, zitieren die Herausgeberinnen der Studie Menschenhandel in Deutschland Europol jedoch nur dahingehend: »Europol geht von ›Hunderttausenden‹ Opfern aus, die jährlich zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und der Arbeitsausbeutung in die Staaten der Europäischen Union gehandelt werden, und stellt in den letzten Jahren deutlich steigende Opferzahlen fest.« (Europol 2008: 1, zitiert nach Folmer/Rabe 2009: 20) Darüber hinaus zeigt Andrijaševiü aber auch, wie der Sektor und seine Virulenz in Zusammenhang zu stellen ist mit der allgemeinen Zunahme von billig entlohnter Arbeit in den westlichen und nördlichen Staaten. Dies wiederum
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hat der Nachfrage nach weiblicher migrantischer Arbeitskraft, die billig und flexibel einsetzbar ist, einen neuen Schwung verliehen, was u.a. zu der beobachtbaren Feminisierung der Migration aus vielen Ländern des Ostens und Südens beigetragen hat (vgl. u.a. Anthias/Lazaridis 2000; Hess 2005). Neben diesen Faktoren weisen die Studien noch auf einen genuin politischen, regulativen Faktor hin, der zu der Zunahme des Migrations-Trafficking-SexarbeitsNexus führt: nämlich auf die staatliche und europäische Migrations- und Einwanderungspolitik selbst. Ohne ihren regulativen Einfluss, der bis heute als höchst vergeschlechtlicht und restriktiv zu beschreiben ist, wäre das Phänomen des Sex-Traffickings nicht in diesen Dimensionen vorstellbar. So orientiert sich das Gros der äußerst begrenzten offiziellen Einwanderungsformate weiterhin an der männlichen Erwerbsarbeit und am Bild der Migration als männlichem Projekt (vgl. Hess 2005).7 Diese Zuwanderungs- und Arbeitsmarktpolitiken führen zu einer überdurchschnittlichen Prekarisierung und Informalisierung weiblicher Migration. Letztendlich kreiert diese Politik äußerst marginalisierte Gruppen von Migrantinnen und Migranten ohne nennenswerten Zugang zum formalen Arbeitsmarkt und einklagbaren Rechten. Um diese restriktive Einwanderungspolitik durchzusetzen, wurden in den letzten zwei Jahrzehnten die Grenzkontrollpolitiken auf europäischer Ebene harmonisiert und kontinuierlich durch weitere wissenspolitische, technologische und militärische Apparaturen und Praxen verschärft (Hess/Kasparek 2010; Mezzadra 2009). In diesem Sinne lässt sich als Zwischenresümee festhalten, dass es – wie es durchaus auf den europäischen Konferenzen selbst eingeräumt wird – die Zuwanderungs- und Grenzkontrollpolitiken der europäischen Staaten selbst sind, die das Phänomen des Sex-Trafficking stark gemacht haben: Um die hochgerüsteten Grenzsituationen zu überwinden, müssen nahezu alle Migrantinnen und Migranten die Dienste von Trafficking- und Schmugglerorganisationen in Anspruch nehmen, die über das Wissen und die Praktiken verfügen, dies zu tun. Haben Migrantinnen und Migranten die äußeren Grenzen überwunden, sind es die Zuwanderungspolitik und ein nationalisiertes, rassistisches Arbeitsregime gepaart und durchdrungen von heterosexuellen Genderpolitiken, welche die Frauen auf den informalisierten (Sex-)Arbeitssektor verweisen und Si-
7
So reproduzieren Politiken zur Familienzusammenführung oder Regularien zum eigenständigen Aufenthaltsrecht infolge einer Heirat – zwei von Frauen genutzte Einwanderungsformate – weiterhin heterosexuelle Beziehungsmuster und weibliche Abhängigkeit (Kofmann/Sales 1998; Andrijaševiü 2009: 394).
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tuationen von Abhängigkeit und Entrechtung produzieren (vgl. auch Andrijaševiü 2010: 3).
E UROPÄISCHES G RENZREGIME UND DER ANTI -T RAFFICKING -P OLITIK
DIE
R OLLE
Ein zentrales Charakteristikum der EU-europäisierten Migrations- und Grenzpolitik ist sowohl die Vorverlagerung der Grenzkontrollen weit über die gemeinsamen Außengrenzen der EU hinaus als auch ihre Hineinverlagerung ins Territorium, was flexibilisierte und fragmentierte Grenzräume produziert (Walters 2002; Tsianos 2008; Hess/Tsianos 2007). Diese Transformation des Grenzregimes findet auf der Ebene der Europäischen Kommission ihren diskursiven und operativen Ausdruck im »migration routes«-Ansatz (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaft 2007). In diesem Zusammenhang kommt dem Schmuggler- und Menschenhandelsdiskurs von Anfang an eine zentrale operative Funktion zu, die nicht nur im konkreten Aufdecken und Schließen von Schmuggler- und Menschenhandelsrouten aufgeht. Vielmehr gibt der Generalverdacht bzw. die Verknüpfung von Migration und Kriminalität den Kontrollorganen die Legitimation an die Hand, grundsätzlich alle Migrantinnen und Migranten festzusetzen und sie – auch unter Anwendung von Gewalt – nach ihren Routen zu befragen, wie es der Pro-Asyl-Bericht zur Situation in Griechenland zeigt (Pro Asyl 2008). Hierüber lassen sich eine Unmenge an Daten generieren und Lagebilder der Migration im Allgemeinen anfertigen.8 Dass die Europäisierung der Migrationskontrollpolitik trotz zahlreicher Rückschläge doch eine Eigendynamik entfaltet hat, ist vor allem auf das Entstehen und die Handlungsweisen unzähliger internationaler, regionaler und lokaler Akteure zurückzuführen, die die staatliche Politik unterstützen und flankieren. Diese Multiplizierung von Akteuren wird in den internationalen Border Studies als »Privatisierung« und als »remote control«-Politik bezeichnet: EUeuropäische Grenzpolitiken finden also zunehmend auch außerhalb staatlicher Institutionen und entfernt von nationalen Grenzen statt (vgl. Lahav/Guiraudon 2000). Im Rahmen von Transit Migration beschrieben wir den Vorgang als 8
Die sogenannte »i-Map«, eine von Europol, FRONTEX, dem UNHCR, der UNODC und dem ICMPD gemeinsam produzierte digitale Karte über die Routen der Migration in Afrika, zeigt dies bestens (vgl. i-Map 2012).
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»NGOisierung«, um kenntlich zu machen, dass diese gouvernementale Regierungsweise vor allem auch über und mit NGOs agierte (vgl. Hess/Karakayali 2007). Die beiden größten international tätigen intergouvernementalen Organisationen sind der UNHCR, der United Nation High Commissioner, dessen Existenz auf die Genfer Flüchtlingskonvention zurückzuführen ist (vgl. Ratfisch/Scheel 2010), sowie die bereits erwähnte IOM (Georgi 2010), die jedoch im Unterschied zum UNHCR keine internationale Rechtsgrundlage besitzt. Wie wir am Beispiel der Istanbuler Konferenz gesehen haben, kommen über den Anti-Trafficking-Diskurs noch weitere institutionalisierte Akteure zum Migrationsmanagement hinzu, bis hin zu kleinen NGOs auf lokaler Ebene (vgl. Migmap).
N EUES EUROPÄISCHES R EGIEREN – DIE V ERMENSCHENRECHTLICHUNG DES G RENZREGIMES Diese Multiplizierung von Akteuren und interagency-Kooperationen steht im direkten Zusammenhang mit einem veränderten Modus politischer Praxis im Rahmen der Europäischen Kommission, wie sie es selbst in ihrem Weißbuch unter dem Titel European Governance detailliert ausformuliert (Kommission der Europäischen Union 2001): Angesichts der globalen Herausforderungen, so die Kommission, sei Politik »dezentralisiert«, auf »multiplen Ebenen«, in »Netzwerken«, unter »strategischer Partizipation der Zivilgesellschaft« und der starken Einbeziehung von »Experten-Wissen« zu gestalten. Dabei haben die neuen Arbeitsbündnisse, wie ich sie mit der Istanbuler Konferenz vorgestellt habe, auf der Ebene des Diskurses ihre Entsprechung im Aufgreifen menschen- und frauenrechtlicher Diskurspositionen seitens des restriktiven Grenzregimes (vgl. Hess/Karakayali 2007). Der Europäisierungs- und Grenzforscher William Walters spricht in diesem Zusammenhang dann auch von »the Birth of the Humanitarian Border« (2010), wobei dies nicht gradlinig auch auf eine Zivilisierung der konkreten Praktiken hinausläuft. Doch zeigen auch hier lokalisierte ethnografische Forschungen, dass die law-enforcementSeite durchaus durch menschenrechtliche Interventionen und Akteure geblockt werden kann. Allerdings ist der Preis hierfür hoch, da die Akteure gezwungen sind, sich auf die Logiken des Menschenrechtsdiskurses einzulassen, die unter anderen darin zu bestehen scheinen, einen viktimisierenden Politikansatz wählen zu
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müssen und das migrantische Gegenüber zum »Opfer« zu erklären. So sprachen auch während der Istanbuler Konferenz alle wesentlichen Akteure vom »victim orientated approach«. Unter Opferschutz firmieren jedoch Maßnahmen, wie der Aufgriff und die Identifizierung gehandelter Frauen via Migrationskontrollen, ihre polizeiliche Gewahrsamnahme und Befragung nach Reiserouten, ihre Unterbringung in Frauenhäusern für den Opferschutz und den Zeugenstand sowie ihre Rückführung in die Herkunftsländer. Das ICMPD, welches diesen Diskurs stark forciert, hat in einer Studie, betitelt mit Listening to Victims (ICMPD 2007), Frauen nach ihren Erfahrungen befragt, die diese Prozeduren durchlaufen haben. Dabei zitiert das ICMPD nicht nur zahlreiche Interviewausschnitte, in denen die Frauen von unsachgemäß und schlecht ausgeführten Praktiken der Polizeien und von NGOs berichteten, die ihnen eher Angst machten, sie bedrohten, verhöhnten und sie in Unkenntnis über ihre Lage ließen. Vielmehr bringt das ICMPD auch zahlreiche Ausschnitte, in denen die Migrantinnen und Migranten deutlich zum Ausdruck bringen, dass die zu ihrem Schutz erkorenen Maßnahmen nicht in ihrem Sinne sind und dass sich der vermeintliche Opferschutz gegen sie wendet. So sind hier Passagen wie diese zu finden: »It happened for the first time when I heard that I could not have residence papers and must leave from the centre. I fainted and when I was awakened I started to scream […]. I did not want to leave the centre; I had no place to go.« (ebd.: 110). In diesem Zusammenhang wird die Arbeit von NGOs, Frauenhäusern und der Internationalen Organisation für Migration relevant und besonders pikant, da sie aufgegriffene Frauen durch das Verfahren hin zur Rückführung begleiten. Diese versuchen sie zwar sozial abzufedern, in dem sie den Frauen finanzielle Starthilfen gewähren oder auch Kontakte zu Frauenzentren in den Herkunftsländern arrangieren, doch ist dies oft nicht das, was die Migrantinnen wollen: Sie wollen in der Migration bleiben.
ANTI -T RAFFICKING ALS M OTOR EINES RESTRIKTIVEN G RENZREGIMES Unter dem Strich ist festzustellen, dass dieses als Opferschutz codierte Maßnahmenbündel den migrantischen Frauen-Körper zur zentralen Zielscheibe diverser hochtechnologisierter und vernetzter Wissenspraktiken des Migrationsund Grenzregimes bis hinunter zur lokal agierenden NGO macht. Die Opferschutzmaßnahmen verobjektivieren die migrantischen Körper, machen sie er-
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fass-, zähl-, kategorisier- und selektierbar. Vor allem verengen sie die Migrationsprojekte der Akteurinnen auf den Opferstatus. Opfer – das sind in der Imagination wehrlose, passive und auf ihre Körperlichkeit reduzierte Frauen, die für sich selbst nicht mehr sprechen können, die vor sich selbst beschützt werden müssen. Lassen wir die Aussagen Revue passieren, ergibt sich eine erstaunliche Konvergenz zwischen Anti-Trafficking-Politiken und Anti-Einwanderungspolitiken mit der Konsequenz, dass sich die Politiken, die als Opferschutz firmieren und hierzu angetreten sind, sich letztendlich gegen das Leben von Frauen in der europäischen Peripherie richten. Zusammenfassend besteht die zentrale diskursive Wirkung des Anti-Trafficking-Diskurses erstens darin, dass er schärfere Migrationskontrollen zum Schutze etwaiger Opfer fordert. Zweitens legitimiert er auf der praktischen Ebene die Einrichtung sogenannter Screening Centers, die entlang der Routen der Migration errichtet werden, um ›schutzbedürftige Trafficking-Opfer‹ und ›schutzbedürftige Flüchtlinge‹ aus der großen Masse der irregulären Arbeitsmigration herauszuselektieren; das heißt, der Anti-Trafficking-Diskurs fördert eine Selektionspolitik und eine damit einhergehende Kriminalisierung und Entrechtung des Gros der irregulären Migrantinnen. Im Endeffekt trägt die Anti-Trafficking-Politik damit zentral zur Durchsetzung dieses zentralen biopolitischen Hierarchisierungs- und Disziplinierungsmechanismus der migrantischen Bewegungen bei (vgl. Mezzadra 2009). Und drittens legitimiert der Anti-Trafficking-Diskurs die Aufgriff- und akribische Befragungspraxis der Polizeien, denen es vor allem um die Aufspürung von Routen und Trafficker-Netzwerken geht und die in zahlreiche Wissensprozeduren einmündet, wie sie die i-Map als Interface darstellt. In diesem Sinne kommt Rutvica Andrijaševiü zur Feststellung, dass »trafficking discourse and anti-trafficking policies sustain and normalise a differential regime of mobility through which the EU hierarchically organises access to its labour market and citizenship« (Andrijaševiü 2010: 4). So fragte dann auch die Wissenschaftlerin und Sexworker-Aktivistin Jo Doezema im Jahr 2002 auf einer Konferenz zum Thema Trafficking an der Universität von Gent: »As trafficking is increasingly being used by governments and even by NGOs as an excuse for repressive policies, NGOs are left wondering: where did we go wrong?« (2003: 1).
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Zur Bedeutungsverschiebung des Biologischen. Queere und feministische Kritik an der Normativität der ›neuen‹ Familie mit The Kids Are All Right (USA 2010) und First Person Plural (USA 2000) A NJA M ICHAELSEN
Die Feststellung, dass Familienbeziehungen nicht zwangsläufig mit biologisch definierten Beziehungen identisch sein müssen, ist heute aus einer liberalen Perspektive ein Gemeinplatz. Scheidungsraten, Sozialkonstruktivismus und neue Reproduktionstechnologien haben mit dazu beigetragen, eine Unterscheidung familiärer und verwandtschaftlicher Beziehungen in soziale und biologische zu etablieren. Empirisch und diskursiv ist nicht mehr von einer alleinigen Norm auszugehen, die biologisch bestimmte Beziehungen gegenüber ›nur‹ sozial bestimmten privilegiert. Ich möchte stattdessen im Folgenden einer anderen, sich als liberal verstehenden Normativität nachgehen. In dieser alternativen Normativität, so meine These, zeichnen sich Beziehungen, die traditionell biologisch definiert werden, durch eine spezifische Unsagbarkeit aus. Diese Unsagbarkeit des Biologischen hat mit den Machtverhältnissen zu tun, die die neue Normativität des Familiendiskurses bedingen. Mit Blick auf das, was in dieser nicht gesagt werden kann, können biologisch definierte Beziehungen Ausgangspunkt für Kritik sein. Darstellungen der im Folgenden als ›neue‹ Familie bezeichneten Adoptiv- und schwulen/lesbischen Familie, in denen mindestens ein Elternteil in keiner biologisch definierten Beziehung zu den Kindern steht, sind Beispiele, an denen sich diese neue Normativität des Nicht-Biologischen untersuchen lässt. Als diskursives Phänomen ist sie jedoch
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nicht auf diese Beispiele beschränkt, sie betrifft einen allgemeinen liberalen Familiendiskurs. Darstellungen, wie sie hier untersucht werden oder wie sie z.B. auch in der erfolgreichen US-amerikanischen Fernsehserie mit dem programmatischen Titel Modern Family zu finden sind, geben Aufschluss über einen derzeit allgemeingültigen, liberalen, (hetero- und homo-)normativen Diskurs. Ich schließe hier an Kritik an, die seit einiger Zeit aus machtkritischer Perspektive in Bezug auf schwule/lesbische Familien unter dem Stichwort der Homonormativität und in Bezug auf Adoption anhand der prekären Figur der biologischen Mutter formuliert wird. Ich möchte im Folgenden zwei ganz unterschiedliche filmische Beispiele – Lisa Cholodenkos Spielfilm The Kids Are All Right (USA 2010) und Deann Borshay Liems autobiografische Dokumentation First Person Plural (USA 2000) – auf die Bedeutung biologisch definierter Beziehungen in dieser Kritik an (homo-)normativen und Adoptivfamilien untersuchen. Wie ist die Bezugnahme auf Beziehungen zur biologischen Mutter oder zum biologischen Vater innerhalb eines liberalen Familiendiskurses zu verstehen, der das Biologische nicht nur für bedeutsame intime Beziehungen nicht mehr voraussetzt, sondern jegliche Bedeutsamkeit des Biologischen als nicht legitim zurückweist? Ich verstehe die Filmbeispiele hier mit Rey Chow als kulturelle Übersetzungen (Chow 1999) dieses liberalen Familiendiskurses und der neuen Normativität nicht-biologischer Beziehungen. In ihrer Deutung des Benjamin’schen Begriffs beschreibt Chow Übersetzung als Wiedergabe nicht einer inhaltlichen Wahrheit, sondern der Art und Weise, wie das Original selbst »zusammengefügt« sei (»put together«). Nicht nur sei das Original einer Übersetzung nicht als wahrhaftig oder authentisch vorauszusetzen, sondern selbst immer schon etwas Zusammengefügtes. Übersetzungen geben, so Chow, außerdem an ihrer medialen Oberfläche Aufschluss über die Bedingungen, d.h. die Gewalt, mittels derer das Original zusammengefügt sei (ebd.: 504). Chow veranschaulicht dies am Beispiel des zeitgenössischen, ›oberflächlichen‹, selbst-exotisierenden chinesischen Films: »By consciously exoticizing China and revealing China’s ›dirty secrets‹ to the outside world, contemporary Chinese directors are translators of the violence with which the Chinese culture is ›originally‹ put together.« (Ebd.: 515) Die kulturelle Bedeutung des Films liege, so Chow, nicht in einer zu interpretierenden Tiefe, sondern in seiner Oberflächlichkeit, d.h. in der Zusammenfügung der Bilder selbst (ebd.: 503). Im Anschluss an Chows Verständnis von Film als kulturelle Übersetzung möchte
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ich argumentieren, dass The Kids Are All Right und First Person Plural exemplarisch, in der Zusammenfügung ihrer Bilder und Narrationen, die Machtverhältnisse an die Oberfläche bringen, die die neue Normativität liberaler Familienkultur bedingen. Die diskursive Gewalt besteht, wie ich zeigen möchte, im Ausschluss dessen, wofür biologische Beziehungen stehen. Die Art und Weise, wie in den Filmbeispielen auf Beziehungen zum biologischen Vater bzw. zur biologischen Mutter Bezug genommen wird und wie diese aus dem Raum des Sagbaren ausgestrichen werden, kann Ausgangspunkt für Kritik an der neuen Familiennormativität sein. Eine spezifische Referenz auf biologisch definierte Beziehungen und eine machtkritische Position schließen sich hier nicht aus. Gegenüber einer liberalen Familiennormativität kritische Positionen, aus denen heraus versucht wird, eine Bedeutsamkeit biologisch definierter Beziehungen zu formulieren, sind, so meine These, nur zu verstehen, wenn ein Bedeutungswandel dessen, wofür das Biologische im Zusammenhang mit neuen Familien steht, berücksichtigt wird. ›Biologie‹ hat sich, wie ich anhand der beiden Filmbeispiele zeigen möchte, in Zusammenhang mit (nicht nur) schwulen/lesbischen Familien und Adoptivbeziehungen von einer traditionellen, der Natur ähnlichen Referenzgröße, die der Legitimation patriarchaler und nationalistischer Machtpositionen dient,1 zu einem diskursiven Platzhalter gewandelt, der für das steht, was die neue Familie an nicht artikulierten Ängsten, Bedrohungen und Machtverhältnissen ›geisterhaft‹ verfolgt. Im Verhältnis zu einer Normativität nicht biologisch begründeter Familienbeziehungen kehrt sich die Bedeutung des Biologischen um: statt als Legitimationsgröße für traditionelle Machtpositionen ist das Biologische in diesem spezifischen Diskurs als Platzhalter dafür zu verstehen, was innerhalb der Machtverhältnisse neuer Familien nicht sagbar ist. Ich verstehe das Biologische hier als ›leeren‹ Begriff, der auf potentiell kritische Weise neu gefüllt werden kann. Die zentrale Position des biologischen Vaters bzw. der biologischen Mutter in den Darstellungen liberaler Familiennormativität verstehe ich nicht als Re-Biologisierung von Familienbeziehungen, sondern als symptomatisch für die im Folgenden genauer zu betrachtende, nicht biologistische, verschobene Bedeutung des Biologischen. Es ist nicht meine Absicht, biologisch definierte Mutter- und Vaterschaft und eine traditionelle, patriarchale, heteronormative Verwandtschaftsordnung 1
Für einen Überblick über die Diskussion von ›Biologie‹ bzw. ›Natur‹ als patriarchalem Machtinstrument siehe Deuber-Mankowsky 2005.
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zu rehabilitieren. Mir geht es darum, wie dennoch eine Kritik an einer liberalen Familienordnung möglich ist, die ihrerseits auf Ausschlüssen basiert. Dafür ist zu berücksichtigen, dass gleichzeitig verschiedene, je nach diskursivem Kontext dominierende, normative Modelle von Familie existieren können. Die neue liberale Normativität nicht-biologischer Beziehungen ist eine prekäre. Judith Butler und andere haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Überzeugung, Elternschaft müsse nicht auf biologisch definierten, heterosexuellen Beziehungen basieren, weiterhin vielerorts reaktionären und homophoben Angriffen ausgesetzt sind (Butler 2004). Wo eine Kritik an nicht-biologisch definierter Normativität formuliert wird, besteht die Gefahr, mit reaktionären Positionen identifiziert zu werden. Diese unerwünschte mögliche Verwechslung führt, wie Drucilla Cornell feststellt, zu einem Zögern, feministische Kritik, etwa an Machtverhältnissen, in Bezug auf Adoption zu formulieren (Cornell 2005: 19). Auf die möglichen Konsequenzen für eine feministische und queere Kritik an der Normativität der neuen Familie komme ich am Schluss meiner Überlegungen zurück.
›Q UEERE B IOLOGIE ‹ IN T HE K IDS A RE A LL R IGHT Lisa Cholodenkos The Kids Are All Right ist ein aktuelles Beispiel für die Diskussion von Homonormativität. Lisa Duggan beschreibt mit dem Begriff der Homonormativität den Rückzug schwuler/lesbischer Politik ins Private, eine Politik, die sie als »Sexualpolitik des Neoliberalismus« (Duggan 2002: 177) bezeichnet: »[I]t is a politics that does not contest dominant heteronormative assumptions and institutions but upholds and sustains them while promising the possibility of a demobilized gay constituency and a privatized, depoliticized gay culture anchored in domesticity and consumption.« (Ebd.: 179) Ehe und Familie sind die zentralen umkämpften Topoi dieser Politik. The Kids Are All Right ist von liberalen Medien dafür begrüßt worden, ein »Bild von Normalität« lesbischer Beziehungen und Familien mit ihren alltäglichen Kämpfen, Missverständnissen und Frustrationen zu zeigen (siehe z.B. Scott 2010). Aus queerer Perspektive wurde diese Inszenierung von Normalität als Affirmation jener homonormativen Politik kritisiert, die Duggan beschreibt: als Drama um Schutz und Verteidigung der institutionalisierten Kernfamilie, die, unabhängig ob hetero- oder homonormativ, durch Besitzdenken, Rassismus und Nationalismus definiert sei (Duggan 2010; Halberstam 2010).
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Das Drama der Normalität wird in The Kids Are All Right ausgehend von der Figur des Eindringlings inszeniert. Nic (Annette Bening) und Jules (Julianne Moore), ein in Kalifornien lebendes lesbisches weißes Mittelschichtspaar, hat durch Einsatz anonymer Samenspende zwei Kinder gezeugt, Joni (Mia Wasikowska) und Laser (Josh Hutcherson). In der diegetischen Gegenwart kontaktieren die jetzt 18- und 16-jährigen Kinder den Samenspender Paul (Mark Ruffalo). Der Film kreist um dessen Beziehungen zu den verschiedenen Mitgliedern der Familie. Aus der Perspektive der dominanten Nic, »the griller of the family«, wie Paul beim ersten Zusammentreffen kommentiert, stellt dieser von Beginn an einen feindlichen Eindringling dar. Ihre Einschätzung scheint durch die Affäre, die Jules und Paul beginnen, bestätigt. Die dadurch ausgelöste Familienkrise wird durch die Vertreibung des Eindringlings aus dem privaten Schutzraum der Familie bewältigt. Narrativ (und ästhetisch) ist The Kids Are All Right konventionell und sentimental, der Stoff ist jedoch gesellschaftlich aktualisiert. Konventionell ist der Film insofern, als er vertraute Figuren – die zu schützende Kernfamilie und der fremde Eindringling – des Mainstream- und Hollywoodkinos zeigt. Gesellschaftliche Aktualisierung besteht in der Darstellung einer zu schützenden lesbischen Familie und eines Eindringlings, bei dem es sich um den Samenspender bzw. biologischen Vater der Kinder handelt. Der Eindringling ist hier eine Figur, die Fremdheit verkörpert, zu der jedoch aufgrund biologisch definierter Beziehungen eine schwer zu fassende Verbindung besteht. Die Normalität der neuen Familie ist in The Kids Are All Right nicht durch Homophobie bedroht, sondern durch die Figur des Samenspenders, »the man who made it all possible«, wie es auf einem Filmplakat heißt.2 Ich verstehe The Kids Are All Right als eine kulturelle, liberale Übersetzung des Umgangs mit diesem nicht definierten Status biologischer Beziehungen für die neue Familie. Wie wird mit der Figur des Eindringlings Paul verfahren? Für Jasbir Puar und Karen Tongson zeigt The Kids Are All Right die »hässlichen« Seiten der Normativität schwuler/lesbischer Familien, wie sie in einer launigen aber gut beobachteten Kritik schreiben (Puar/Tongson 2010). Durch seinen Ausschluss sei die Figur des Paul für die Herstellung von Normativität entscheidend: »In finalizing Paul’s status as an interloper, Cholodenko exposes the family for being what postcolonial and transnational feminist thinkers have described it as […]: a unit of national security, a formation of hierar-
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Siehe www.imdb.com/media/rm1615432960/tt0842926 [15.08.2012].
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chical unequals that naturalizes the exclusions and border patrolling of nationhood.« (Ebd.) Trotz der Erwartungen, die sich aufgrund Lisa Cholodenkos früherer Filme High Art (USA 1998) und Laurel Canyon (USA 2002) bei einem lesbischen Publikum einstellten, stehen in The Kids Are All Right keine queeren Figuren im Mittelpunkt, sondern eben ›ganz normale‹ Beziehungen. Queerness findet sich jedoch auf für einen ›Lesbenfilm‹ unerwartete Weise. Nur dann, so Puar und Tongson, wenn eine Durchlässigkeit zur Figur des Paul bestehe, werde die Normativität der Beziehungen unterlaufen: »The family […] is the most queer when it is porous to Paul’s presence, the lines of affiliation arising and dissipating – an assemblage of alliances uncertain and open to changes, unexpected, convivial encounters and sudden, random intimacies.« (Ebd.) Queer, d.h. hier nicht affirmativ zu Hetero- oder Homonormativität, sei The Kids Are All Right dann, wenn mit Paul Zugehörigkeit als uneindeutig und offen gedacht werden kann. Durch die nicht fixierbaren Beziehungen zu Paul entstehen Szenen »überraschender Intimitäten«, etwa in den ersten Begegnungen der Kinder mit Paul, nachdem die Samenbank den Kontakt vermittelt hat. Den unbeholfenen Versuchen, sich kennenzulernen, in einer Atmosphäre freundlicher Unbehaglichkeit, geht die Annahme voraus, dass eine in ihrer Bedeutung unbestimmte, zugleich materielle und beliebige Verbindung zwischen den sich fremden Subjekten besteht. Die Gleichzeitigkeit von Fremdheit und Intimität wird auf komische Weise vor dem ersten Treffen mit Paul in einem Dialog zwischen Joni und Laser artikuliert: Joni: I just don’t want you to have big expectations. […] Joni: I’m just saying. He might be weird. I mean, he donated sperm. That’s weird. Laser: Well, you know, if he hadn’t, we wouldn’t be here, so … respect.
Die Gleichzeitigkeit von Verbindung und Beliebigkeit ist aufgrund der historisch spezifischen Situation sich mitunter widersprechender, zugleich Gültigkeit beanspruchender Definitionen von Verwandtschaft als biologisch oder sozial zu verstehen. Je nach Definition befindet sich Paul innerhalb oder außerhalb der Familie. Die gleichzeitige symbolische Wirkmächtigkeit beider Verwandtschaftsdefinitionen ist nicht durch rechtliche Regelungen zu vereindeutigen. Hier besteht tatsächlich ein offener Raum, innerhalb dessen Bedeutungen und Beziehungen neu definiert werden könnten.
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K IDS ALRIGHT ?
Mit den Beziehungen zu Paul eröffnet sich ein queerer Raum, der sich dadurch auszeichnet, dass sich die Voraussetzungen intimer Beziehungen einer normativen Fixierung entziehen. Die Figur des Paul ist exemplarisch für die uneindeutigen Beziehungen, die durch den Einsatz von Reproduktionstechnologien und durch Adoption entstehen. Indem sich die Beziehungen zu Paul durch Instabilität und Uneindeutigkeit auszeichnen, stellen sie einen queeren Gegensatz zu den homonormativ gezeichneten Beziehungen innerhalb der lesbischen Kernfamilie dar. Ironischerweise fällt hier Queerness mit biologisch definierten Beziehungen zusammen. So »ist« Paul »Biologie«, wie Puar und Tongson in Bezug auf die Affäre Jules’ und Pauls formulieren: »She was, in the end, fucking him not because of some latent heterosexual desire or need to exit her relationship, but because of an awakened, reproductive narcissism: she sees her kids in Paul’s face, her family, her inner circle. He is biology, pure matter, as is his penis, the source of the sperm that fathered her children. He reflects back to her the possibilities and achievements deferred by her reproductive choices« (ebd.).
Die Beziehungen zu Paul, als Verkörperung von ›Biologie‹, stehen der Normativität der neuen Familie als undefinierbar und nicht institutionalisiert gegenüber. Anders formuliert: Homonormativität verhält sich hier zu Queerness wie normative Verwandtschaftsbeziehungen zu aus dieser neuen Normativität auszuschließender ›Biologie‹. Damit kehrt sich jedoch die traditionelle diskursive Identifizierung biologischer mit ›normalen‹ Familienbeziehungen um. Wofür aber steht das, was in The Kids Are All Right mit Paul als Verkörperung zugleich queerer als auch biologisch definierter Beziehungen ausgeschlossen wird? Betrachtet man mit Chow, welche Elemente auf der Oberfläche des Films nebeneinandergestellt werden, dann steht Biologie hier für Männlichkeit und (Hetero-)Sexualität: Wir sehen eingangs den 16-jährigen Laser sehnsüchtig einen Freund im ›männlichen‹ Ringkampf mit dessen Vater beobachten, die 18-jährige Joni sieht sich durch die Begegnung mit Paul mit ihrem eigenen (hetero-)sexuellen Begehren konfrontiert und am offensichtlichsten wird Pauls Verkörperung von (Hetero-)Sexualität in seiner Affäre mit Jules. Für alle drei Figuren ermöglicht Paul die Projektion eines vermeintlichen Mangels. Die Darstellung dieser Projektionen lenken jedoch von einer Bedrohung ab, die nicht in derselben Weise ausgestellt wird. Nachdem Jules
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und Nic von der Begegnung der Kinder mit Paul erfahren, reflektieren sie ihre Gefühle beim gemeinsamen Zähneputzen. Vom Surren der elektrischen Zahnbürste fast übertönt formulieren sie elterliche Ängste: Nic: I get it. It’s their biological father and all that crap … it still feels really shitty, like we’re not enough or something? You know? Jules: Of course I know … I don’t want to time-share our kids with anybody.
Dies ist die einzige Szene, in der die Bedrohung durch Paul nicht nur auf die Verkörperung von Männlichkeit oder (Hetero-)Sexualität zurückgeführt wird, sondern auf eine diffuse Autorität, die vom Status Pauls als biologischer Vater ausgeht und die hier zugleich bestätigt und verworfen wird. Dies geschieht in nur zwei (halben) Sätzen: Auf der einen Seite kann »all that crap« kaum beanspruchen, die Legitimität der neuen Familie infrage zu stellen. Auf der anderen Seite suggeriert Nics Behauptung »I get it. It’s their biological father« eine scheinbare Evidenz biologisch definierter Autorität. Impliziert ist, dass ›Biologie‹ keine Rolle für bedeutsame intime Familienbeziehungen spielt; dennoch droht durch eine zugleich bestehende ›Evidenz‹ des Biologischen ein Anspruch auf Elternschaft seitens Paul. Die Artikulation dieser Bedrohung geht nicht nur Zähne putzend unter, sie wird auch als ›bloße‹ Fantasie dargestellt. Die Bedrohung, die von Paul in The Kids Are All Right ausgeht, wird außer in dieser einen Szene konsequent auf keine Behauptung von Autorität als biologischer Vater zurückgeführt. Biologisch definierte Beziehungen führen Paul auf zufällige Weise in die Familie ein, das Biologische erscheint jedoch im Weiteren immer nur als Projektion auf Paul, wie im obigen Zitat von Puar und Tongson beschrieben. Paul repräsentiert keine traditionelle Ordnung, die sich auf biologische Beziehungen beruft, um Autorität und Legitimität zu beanspruchen. »I get it« und »all that crap« beziehen sich auf ›Biologie‹ als eine Größe, die schon längst keine Bedeutung mehr hat, von der aber zugleich eine geisterhafte, weiterhin diskursiv wirkmächtige Autorität auszugehen scheint. Worin diese besteht (worauf sich Paul berufen sollte, um einen Anspruch auf »time-sharing« plausibel zu machen) wird hier nicht formuliert und kann, so möchte ich behaupten, auch nicht ausformuliert werden. ›Biologie‹ hat in der neuen liberalen Normativität keine manifeste Bedeutung, bzw. ihr ›Inhalt‹ besteht in einer Bedrohung, die durch beliebige Projektionen gefüllt werden kann. Das, was in The Kids Are All Right auf queere Weise (Homo-)Normativität unterläuft, besteht in der Ungreifbarkeit dessen, worin die Autorität des
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Biologischen besteht, die die Legitimität der neuen Familie infrage zu stellen droht. Lauren Berlant hat vorgeschlagen, Populärkultur als Ort des »Managements« der Ambivalenzen zu verstehen, die sich in westlichen Konsumkulturen im Konflikt zwischen einem Begehren nach Zugehörigkeit und alltäglichen Erfahrungen sozialer Antagonismen einstellen (Berlant 2008: 5). The Kids Are All Right ist auf das Management der Ambivalenz des Biologischen – der Spannung zwischen »all that crap« und »I get it« – ausgerichtet. Hier besteht das Management darin, zu vereindeutigen, wofür das Biologische steht. Die queere, geisterhafte Bedrohung wird in eine handhabbare verwandelt, indem das sich einer Fixierung entziehende Begehren nach Paul als Verkörperung biologischer Beziehungen, in ein eindeutiges Begehren von Paul umgedeutet wird: Nachdem die Affäre auffliegt, will auch Paul eine – heteronormative – Familie mit Jules und den Kindern. Die Inszenierung dieser ›realen‹ Bedrohung ermöglicht es, die geisterhaften, unbestimmten Beziehungen auszublenden. Die potentielle Öffnung der Familie für überraschende Intimitäten, die unheimliche Vervielfältigung und Unberechenbarkeit von Beziehungen durch den Einsatz von Reproduktionstechnologien, wird auf die Gegenüberstellung von homo- oder heteronormativer Familie reduziert. Durch die Gegenüberstellung verschiedener Versionen von Konventionalität und Normativität wird ›queere Biologie‹ aus dem Bereich des Sagbaren ausgestrichen. Die Gewalt der Zusammenfügung des liberalen Familiendiskurses besteht hier in der Herstellung von Normalität und Normativität, indem eine vom Biologischen ausgehende, widersprüchliche und queere Bedrohung ausgeblendet und als konventionelle Narration von Ehebruch und Versöhnung reinszeniert wird.
B EGEHREN NACH BIOLOGISCH DEFINIERTEN B EZIEHUNGEN IN F IRST P ERSON P LURAL In The Kids Are All Right steht Biologie für eine überkommen geglaubte, weiterhin geisterhaft bestehende Autorität des Biologischen, die in Zusammenhang mit der neuen (homo-)normativen Familie zugleich Queerness verkörpert und auf die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Verwandtschaftsdefinitionen zurückführbar ist. Die Bedeutung des Biologischen verschiebt sich von der Legitimierung normativer Beziehungen zur Verkörperung sich fixierender Deutung entziehender Verbindungen. Auf für sentimentale Populärkultur typi-
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sche Weise führt The Kids Are All Right die im Titel angelegte Beschwörung vor, dass durch Ausschluss von Uneindeutigkeit, (nicht nur) die Kinder alright sind. Mein zweites Beispiel First Person Plural ist exemplarisch für die Übertragbarkeit dieser verschobenen Bedeutung des Biologischen im Zusammenhang einer Normativität des Nicht-Biologischen auf Adoptivbeziehungen. Auch in Zusammenhang mit Adoption ist die Zurückweisung biologischer Begründung intimer Familienbeziehungen heute liberaler Konsens. In Darstellungen von Adoption nimmt in der Regel die Figur der biologischen Mutter eine zentrale Position ein. Auch hier stellt sich die Frage, ob der Fokus auf die Beziehungen zur biologischen Mutter in den Darstellungen als ReBiologisierung zu verstehen ist, bzw. wofür das Biologische im Adoptionsdiskurs steht. Deann Borshay Liems autobiografischer Dokumentarfilm First Person Plural ist exemplarisch für die Problematisierung der Figur der biologischen Mutter in der Diskussion transnationaler Adoption. Hier steht, wie ich zeigen möchte, das Biologische nicht für ein Gespenst überkommener konzeptueller und normativer Autorität, sondern für die geisterhaft wiederkehrenden Machtbedingungen von Adoption im 20. und 21. Jahrhundert. First Person Plural erzählt von der Reise der Filmemacherin, die sie gemeinsam mit ihren Adoptiveltern in ihr Geburtsland Korea unternimmt, um Deanns biologische Mutter und Geschwister zu besuchen. Motiviert wird die Zusammenführung von biologischer und Adoptivfamilie durch ein Unvermögen Deanns, beide Familien und insbesondere beide Mütter zueinander in Beziehung zu setzen: Deann: For a long time I couldn’t talk to my American parents about my Korean family because I felt like I was somehow being disloyal to them. […] And I had a particular difficulty talking to my American mother about my Korean mother […]. Emotionally there wasn’t room in my mind for two mothers. […] I didn’t know how to talk to my mother about my mother … because she was my mother.
Deann beschreibt einen affektiv aufgeladenen Antagonismus zwischen biologischer und Adoptivmutter, bzw. biologischer und Adoptivfamilie, der, so Cornell, für den westlichen Adoptionsdiskurs charakteristisch sei. Cornell führt diesen Antagonismus auf die anhaltende Überzeugung zurück, es könne nur eine ›wahre‹ Mutter geben (Cornell 2005: 19). First Person Plural schwankt in der Darstellung zwischen der Problematisierung dieser Annahme
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der Einmaligkeit von Mutterschaft und deren Bestätigung. Ausgangspunkt des Films ist jedoch das Begehren, die Beziehung zur biologischen Mutter sagbar zu machen. Wofür stehen die biologischen Beziehungen in First Person Plural? Deanns Konflikt zwischen biologischer und Adoptivmutter rahmt die Darstellung verschiedener thematischer Stränge, die sich problematisierend auf die Machtbedingungen transnationaler Adoption aus Südkorea beziehen. Betrachtet man wiederum mit Chow die oberflächliche Zusammenfügung des Films, dann steht das Begehren danach, auf biologisch definierte Beziehungen Bezug zu nehmen, im Zusammenhang mit der individuellen und kollektiven Vorgeschichte von Adoption und den Bedingungen der Existenz der Adoptierten in Adoptivland und -familie. In unterschiedlichen Segmenten des Films verortet Deann ihre individuelle Biografie in einer kollektiven Adoptionsgeschichte. Sie bezieht sich auf eine Gegengeschichte zu einer offiziellen Darstellung transnationaler Adoption als philanthropische und humanitäre Hilfe, indem sie auf die ökonomischen Interessen der südkoreanischen Regierung hinweist, die für das Ausmaß und die bis heute anhaltende Praxis entscheidend gewesen seien.3 Deanns individuelle Adoptivgeschichte wird über die Figur der biologischen Mutter und deren ökonomische und soziale Situation im Moment der Abgabe des Kindes mit einer kollektiven Geschichte verbunden, in der sich soziale Benachteiligung und Adoption strukturell bedingen.4 Die Figur der biologischen Mutter ist in dieser Rekonstruktion individueller und kollektiver Adoptionsgeschichte so zentral, weil sie den Verbindungspunkt zwischen individuellen und politischen und ökonomischen Bedingungen darstellt. Die biologischen Beziehungen in First Person Plural verweisen nicht nur auf die kollektiven historischen Bedingungen transnationaler Adoption im Herkunftsland. In einem anderen Strang des Films wird eine rassistische Struktur im Adoptivland thematisiert, die von Deann nach ihrer Ankunft erfordert, einer unausgesprochenen weißen Norm zu entsprechen. Diese Norm wird als Teil des Prozesses der Amerikanisierung dargestellt, der von Deann Assimilation und von der Adoptivfamilie und -gemeinschaft »Farbenblind3
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Nach offiziellen Angaben sind bis heute zwischen 150.000 und 200.000 Kinder aus Korea in 32 verschiedene Länder adoptiert worden, etwa die Hälfte von ihnen in die USA, Frankreich, Skandinavien. Zwischen 1965-1996 wurden 2352 nach Deutschland adoptiert (siehe Hübinette 2006). Dieser Zusammenhang besteht nicht erst mit transnationaler Adoption und nicht nur in den Ländern des globalen Südens, sondern hat mit einer allgemeinen biopolitischen Funktion der Familie zu tun. Vgl. Jacques Donzelot 1980.
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heit« erfordert (Eng 2010: 95). »Farbenblindheit« bedeutet hier, dass Deanns Empfinden eines Scheiterns an einem weißen Ideal die Weigerung der Adoptivfamilie gegenübersteht, ›Rassen‹-Differenz und damit Rassismus als wirkmächtig wahrzunehmen. Dieser affektiv aufgeladene Konflikt Deanns, innerhalb der Adoptivfamilie eine Differenz nicht thematisieren zu können, die alltägliche Konfrontation mit Rassismus bedeutet, wird mit Bildern physischer Ähnlichkeit zur biologischen Familie kontrastiert, die Deann mit einem Gefühl von Nähe assoziiert. Bildern physischer Differenz zwischen Deann und ihrer Adoptivfamilie, deren fehlende Anerkennung bei gleichzeitig unausgesprochener weißer Norm als belastend dargestellt wird, stehen hier Bilder physischer Ähnlichkeit aufgrund biologischer Beziehungen gegenüber, die zumindest potentiell Erleichterung zu verschaffen versprechen. In der kontrastierenden Zusammenschau der Bilder von Rassismus und physischer Ähnlichkeit lässt sich das Begehren nach biologisch definierten Beziehungen als Stellvertreter für das Begehren nach von rassifizierter Differenz befreiten Beziehungen verstehen. Die Hinwendung zu biologisch definierten Beziehungen in First Person Plural bedeutet nicht Begehren nach einer Re-Biologisierung von Familienbeziehungen, sie macht die für Adoption im 20. und 21. Jahrhundert signifikanten Machtverhältnisse – Rassismus und soziale und ökonomische Bedingungen – erkennbar.
»R ECHT AUF M UTTERSCHAFT «/ F EMINISTISCHES Z ÖGERN Biologisch definierte Beziehungen verkörpern in First Person Plural keine Anrufung ›wahrer‹ Zugehörigkeit, sondern sie bringen Machtverhältnisse an die Oberfläche, die in der Normativität nicht-biologischer Beziehungen in Zusammenhang mit Adoption aus dem Blick geraten. Welche Konsequenzen ergeben sich für eine queere und feministische Kritik aus dieser verschobenen Bedeutung des Biologischen als Platzhalter für konzeptuelle Uneindeutigkeiten und nicht artikulierte Machtverhältnisse in der Zusammenfügung der neuen Familie? In Bezug auf Adoption fordert Cornell die Anerkennung und den Erhalt des symbolischen Status der biologischen Mutter als Mutter. Nicht nur reproduziere ein antagonistisches Denken von Adoptiv- und biologischer Mutter Klassen- und ›Rassen‹-Hierarchie, Cornell argumentiert gegen ein Denken von Einmaligkeit von Mutterschaft, weil die Trennung und der Verlust des
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mütterlichen Status traumatisch für Mutter und Kind seien. Cornell fordert daher, feministische Kritik müsse sich mit den biologischen Müttern solidarisieren und schlägt vor, zwischen (teilbarer) Mutterschaft und Sorgerecht zu unterscheiden und Adoptivkindern die, für nicht-adoptierte Kinder selbstverständlichen, Informationen über ihre biologische Herkunft zugänglich zu machen (Cornell 2005: 21). Cornell plädiert vor dem Hintergrund einer Normativität, in der bedeutsame Beziehungen zur biologischen Mutter zurückgewiesen werden, für ein Modell, das eine affektive und symbolische Präsenz der biologischen Mutter in der Biografie des Kindes aufrecht erhält. Noch radikaler in der Rehabilitierung der biologischen Mutter im Adoptionsdiskurs argumentiert seit einigen Jahren eine südkoreanische Koalition biologischer Mütter und Adoptierter selbst (siehe Kim 2010).5 Die Koalition von Müttern, Adoptierten und Unterstützerinnen/Unterstützern argumentiert gegen Adoption, zumindest transnational. Vorausgesetzt wird in dieser Kritik insbesondere die Schutzbedürftigkeit der biologischen Mutter.6 Die Kritik an den Praktiken und Bedingungen transnationaler Adoption führt im Beispiel Südkoreas dazu, eine nationale Familienpolitik zu vertreten, die das Recht von Müttern auf Mutterschaft zum vorrangigen Gegenstand der politischen Agenda hat. Dies hat eine Fokussierung auf biologische Mutterschaft und Verwandtschaft zur Konsequenz, die aus der Perspektive eines westlichen Biologismus-kritischen Feminismus zweifelhaft erscheinen muss (vgl. z.B. Butler 2004), auch wenn berücksichtigt wird, dass es sich bei dieser Politik um eine Reaktion auf die prekäre Position biologischer Mütter im bisherigen Adoptionsdiskurs handelt. Die nur zögerlich formulierte feministische und queere Kritik an Adoption oder auch an der Normativität der neuen Familie im Allgemeinen ist, so meine Schlussfolgerung, nicht vorrangig in der Überzeugung begründet, es könne nur eine wahre Mutter geben, wie Cornell vermutet, sondern darin, dass die Kritik an einer liberalen Normativität der Familie eine Rückwendung zu einem biologistischen Konzept von Mutterschaft und Verwandtschaft mit sich zu bringen scheint.
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Südkorea ist für diese Diskussion signifikant, da es sich um das Land mit der am längsten anhaltenden Geschichte transnationaler Adoption im 20. und 21. Jahrhundert handelt, in dem eine an Einfluss gewinnende adoptionskritische Politik verfolgt wird. Siehe für mehr Informationen über die Lobbyarbeit biologischer Mütter und koreanischer Adoptierter insbesondere die Internetseite von TRACK Truth and Reconciliation for the Adoption Community of Korea, http://justicespeaking.wordpress. com/ [30.07.2012].
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Kritik an den Ausschlüssen der Normativität nicht-biologischer Beziehungen scheint erneut biologisierendes Denken von Familienbeziehungen zu erfordern. Dies würde aber bedeuten, die verschobene Bedeutung biologisch definierter Beziehungen zu verkennen, die nicht darin besteht, sich auf biologische Beziehungen zu berufen, um Machtverhältnisse zu konsolidieren, sondern gerade im Gegenteil, um die komplexen Bedingungen und Ausschlüsse ins Bild zu rücken, die die ›Normalität‹ der neuen Familien hervorbringen. Ich verstehe das Zögern einer queeren und feministischen Kritik in Bezug auf die Normativität der neuen Familie als Ausdruck eines Unbehagens angesichts einer sich anscheinend zwingend stellenden Wahl zwischen zwei gleichermaßen konventionellen und normativen Konzepten von Familie und Verwandtschaft. Die Frage bleibt, welche Alternativen denkbar sind, die nicht vom Gespenst des Biologischen verfolgt werden.
L ITERATUR Berlant, Lauren (2008): The Female Complaint. The Unfinished Business of Sentimentality in American Culture, Durham/London: Duke University Press. Butler, Judith (2004): »Is Kinship Always Already Heterosexual?«, in: Dies., Undoing Gender, New York/London: Routledge, S. 102-130. Chow, Rey (1999): »Film as Ethnography; Or, Translation Between Cultures in the Postcolonial World« (i.O. 1995), in: Julian Wolfreys (Hg.), Literary Theories. A Reader and Guide, New York: New York University Press, S. 499-516. Cornell, Drucilla (2005): »Adoption and its Progeny. Rethinking Family Law, Gender, and Sexual Difference« (i.O. 1998), in: Sally Haslanger/Charlotte Witt (Hg.), Adoption Matters. Philosophical and Feminist Essays, Ithaca/London: Cornell University Press, S. 19-46. Deuber-Mankowsky, Astrid (2005): »Natur/Kultur«, in: Christina von Braun/ Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln/Weimar/Wien: Böhlau, S. 200-219. Donzelot, Jacques (1980): Die Ordnung der Familie (i.O. 1977), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Duggan, Lisa (2002): »The New Homonormativity. The Sexual Politics of Neoliberalism«, in: Russ Castronovo/Dana D. Nelson (Hg.), Materializing
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Die Kunst der Migrationen N ANNA H EIDENREICH
»Der Blick entscheidet darüber, ob und wie wir Migration sehen«, schrieben die Kuratorinnen und Kuratoren der Ausstellung des Projekts Migration Aytaç Eryılmaz, Marion von Osten, Martin Rapp, Kathrin Rhomberg und Regina Römhild und versuchten sich damit an einem grundlegenden Perspektivwechsel (Kölnischer Kunstverein 2005: 16). In dem fünfjährigen, von der Kulturstiftung des Bundes als Initiativprojekt geförderten, transdisziplinären Vorhaben ging es darum, Migration in einem Land, das sich über Jahrzehnte des Neologismus des ›Nichteinwanderungslandes‹ zur Selbstverständigung bediente, endlich als »zentrale Kraft gesellschaftlicher Veränderung« (ebd.) zu betrachten. Das Einnehmen einer ›Perspektive der Migration‹ ist nicht deckungsgleich mit den Sichtweisen der je einzelnen Migrantinnen und Migranten, sondern begreift vielmehr Migration als soziale Bewegung. Damit setzt das Projekt neue Maßstäbe für eine breitere Öffentlichkeit (was selbstverständlich nicht ohne die vorherige und darin involvierte aktivistische Arbeit denkbar gewesen wäre), auch hinsichtlich der Verbindung von künstlerischem, wissenschaftlichem, kuratorischem und aktivistischem Wissen und den jeweiligen Forschungspraktiken. Diese Verbindung, so das Argument des Politikwissenschaftlers Sandro Mezzadra in einem Beitrag im Ausstellungskatalog des Projekts Migration, ist in der Tat wesentlich, insofern Migration den Charakter eines fait social total hat, der es kaum erlaubt, Migrationsbewegungen entsprechend der kanonischen Aufteilung akademischer Fächer zu untersuchen. Auch noch so meisterliche wissenschaftliche Untersuchungen hinterlassen, sobald sie auf Fragen der Migrationen zu sprechen kommen, den Eindruck, dass etwas fehlt, dass es da eine Kluft gibt, die sich nur durch anspielungsreiche Worte, durch eine narrative und metaphorische Redeweise überbrücken
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lässt – oder eben durch Bilder, die auf vielerlei Arten betrachtet werden können (Mezzadra 2005: 794). Die Perspektive der Migration einzunehmen bedeutet in diesem Sinne nicht nur, die Bilder, die mit den Bewegungen der Migration zirkulieren, die sie begleiten, die sie zeigen, oder aber auch verbergen, in den Blick zu nehmen. Es bedeutet auch, das Nachdenken über Migration, die theoretische Reflexion, auch mithilfe von Bildern zu betreiben.
M IGRATION UND K UNST Ebendies scheint sich in den letzten Jahren verwirklicht zu haben. Hier sind neben einer langen Liste einzelner künstlerischer Arbeiten vor allem zahlreiche Ausstellungen zu nennen. Jüngste Beispiele allein aus Berlin sind Transient Spaces. The Tourist Syndrome (2010 in der NGBK und im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien), Nomadic Settlers – Settled Nomads (im Sommer 2011, ebenfalls im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien),1 This World Is Not My Home und Consciences and Frontiers sowie die von Eurozentrika organisierte Ausstellung Visuelle Migrationen – Bilder in Bewegung (09.-15.07.2011 im LEAP), eine Ausstellung, die wiederum in Verbindung mit der Publikation von Heft 51 der FKW zu Visuellen Migrationen stand. Hinzu kommt die Vielzahl an Ausstellungen in 2011 aus Anlass des 50-jährigen ›Jubiläums‹ des deutsch-türkischen Anwerbevertrags (oder der 50-jährigen »Scheinehe«, wie das Ballhaus Naunynstraße in Berlin seine Veranstaltungsreihe dazu untertitelt hat), u.a. die Container der Route der Migration, deren Geschichten in der Hauptsache von Studierenden der HU und der FU in Berlin erarbeitet wurden, denen es darum ging, Migration als geschichtsmächtige Bewegung gerade in Deutschland anzuerkennen und in lokaler Zuspitzung zu präsentieren – ein Anliegen, das 2009 auch das transdisziplinäre Projekt Crossing Munich verfolgt hat. Aber auch international ließen sich hier zahlreiche Beispiele nennen, wobei ich an dieser Stelle nur auf die Ausstellung 2move (Murcia, Enkhuizen, Oslo, Navan and Belfast 2007-2008) hinweise, da in diesem Projekt der hier wesentliche Begriff der migratory aesthetics geprägt wurde. Das Konzept von 2move war es, Videokunst und Migration nicht nur in einen thematischen Zu1
Dies war der dritte Teil einer Ausstellungsreihe, die Teile 1 und 2 fanden im Herbst 2008 und 2009 statt.
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sammenhang zu stellen (Videos über Migration) sondern Video und Migration konsequent zusammen zu denken. So wurde die konstitutive Gemeinsamkeit von Bewegung, von movement, für Video und Migration als Ausgangsthese formuliert. Das kuratorische und Rechercheprojekt von Mieke Bal und Miguel Ángel Hernández-Navarro umfasste neben der Ausstellung zunächst zwei Workshops, die 2004 und 2005 von der University of Amsterdam und der University of Leeds organisiert wurden, sowie die beiden Encuentro-Tagungen (Murcia und Amsterdam, 2007) sowie nicht zuletzt eine Reihe von Publikationen (Bal/Hernández-Navarro 2011, Durrant/Lord 2007). Migration ist also ein herausragendes Thema zeitgenössischer künstlerischer Praxis, das darüberhinaus auffallend häufig eine Schnittstelle von Kunst und Forschung darstellt. Ebenso auffällig ist, dass diese Anordnung oftmals die Verschiebung (oder Erweiterung) von aktivistischer Praxis (migrationspolitisch, antirassistisch) in den Artikulationsraum ›Kunst‹ nachvollzieht. Ergänzt wird diese ›Symptomatik‹ einer Liaison zwischen Kunst und Migration durch die Beobachtung, dass die ästhetisch-formale Diskussion um die ›Migration der Formen‹ nunmehr mit den ›tatsächlichen‹ Formen und Bewegungen der Migration adressiert wird. Polemisch zugespitzt könnte man sagen: Kunst- und Bildwissenschaften meinen jetzt tatsächlich Migration, wenn sie von Migration sprechen. Prominent ist hier W.J.T. Mitchell zu nennen, der anlässlich der Tagung Migrating Images im Haus der Kulturen der Welt (Berlin, 2004) und in seinem Buch What Do Pictures Want? (2005) forderte, Bilder wie Migrantinnen und Migranten zu betrachten: »as immigrants, as emigrants, as travellers, who arrive and depart, who circulate, pass through, thus appear and disappear, […] as coming from elsewhere and arriving either bidden or unbidden, the ›Gastarbeiter‹ perhaps on the one site, the illegal alien, the unwanted immigrant on the other« (Mitchell 2004: 14). 2009 wendete Mitchell anlässlich der Basler Tagung Images of Illegalized Immigration seine These und thematisierte nun die Bilder der Migration (deren Ontologie er jedoch weiterhin als migrantisch beschreibt). Aus dieser neuen Formatierung kritischer Migrationsforschung in kunstund bildwissenschaftlichen Kontexten ergeben sich neue Fragestellungen, die »die Schnittstelle von Migrations- und Bilddiskursen« (Brandes 2011) betreffen. Dazu gehören die systematische Untersuchung der Herstellung von Konzepten wie illegalisierter Migration durch Bilder, wie die Herausgeberinnen des Tagungsbands Images of Illegalized Immigration 2010 formulierten, bzw. die Idee, »dass sich Migration als gestaltete Wahrnehmung materialisiert«, so
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Marie-Hélène Gutberlets und Sissy Helffs Weiterführung von Mieke Bals »Ästhetik der Migration« in der Einleitung ihrer Publikation Die Kunst der Migration, eines weiteren Sammelbands aus dem Jahr 2011, der das mehrjährige kuratorische und Forschungsprojekt Migration & Media zusammenfasst (Gutberlet/Helff 2011: 13). Diese Aufmerksamkeit gegenüber Migration in bild- und kunstwissenschaftlicher Forschung markiert nun eine signifikante Verschiebung, sowohl innerhalb dieser Disziplinen als auch innerhalb der bislang sozial- und gesellschaftswissenschaftlich dominierten Migrationsforschung. Zu fragen wäre daher beispielsweise, ob wir hier, wie der Forschungszusammenschluss Labor Migration (unter der Federführung von Manuela Bojadžijev und Regina Römhild, HU Berlin) als eine Arbeitshypothese formuliert hat, die Migrantisierung weiterer Bereiche als nur jener spezifisch mit dem Signum ›Migration‹ versehenen beobachten können, vergleichbar mit dem queering von Forschung, Kunst und politischer Praxis? Ist es angebracht, von einer Querschnittskategorie zu sprechen, bzw. wäre gerade das zu fordern? Ist Migration also eine jener Kategorien, die in den Aufzählungskanon von ›Rasse, Klasse, Geschlecht‹ aufgenommen werden sollten? Ist sie eine Kategorie? Oder ist sie nicht vielmehr, wie die These von der Autonomie der Migration nahelegt, eine Methode, ein heuristisches Modell? Und eine soziale bzw. politische Bewegung? Hier wäre vielleicht auch die Frage einzufügen, was passiert, wenn die aktuellen Intersektionalitätsdebatten, die kritische Migrationsforschung und die Erbschaft der rassismuskritischen Arbeit Schwarzer, Weißer und migrantischer Feministinnen aus den 1980er und 90er Jahren zusammen gedacht werden? Ansätze finden sich dazu beispielsweise in dem aktuellen Sammelband Intersektionalität revisited (Hess/Langreiter/Timm 2011), insbesondere in dem Beitrag von Encarnación Gutiérrez Rodríguez, die u.a. an die Einführung der politischen Identität und des oppositionellen Standorts der ›Migrantin‹ durch die FeMigra-Gruppe erinnert, sowie dem Beitrag von Isabell Lorey, die auf den in der kritischen Migrationsforschung zentralen Begriff der Kämpfe eingeht. Und um das noch weiterzuführen: Wie wäre es, die luzide Diskursgeschichte des Feminismus von Sabine Hark (2005) um die Verbindungslinien von Feminismus und Antirassismus zu erweitern und insbesondere das ›Ankommen‹ von postkolonialer Theorie und Migrations- und Rassismusforschung in der Akademie, insbesondere in den Gender Studies (nicht selten in Form von Critical Whiteness) zu reflektieren, wozu auch ein gewisser Hype um migrantische
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Subjekte, nomadische Denkfiguren und andere metaphorische Entwendungen gehört, aber nicht unbedingt die Erinnerung an die produktiven (was nicht heißt: nicht umkämpften!) Verbindungen von Antirassismus und Feminismus? Dazu kommen die Grabenkämpfe, die sich in den Rassismusdebatten derzeit abspielen, sowie die Beobachtung, dass für nicht wenige, vor allem migrantische und schwarze, Protagonistinnen und Protagonisten das genannte akademische Ankommen nur anderswo – vor allem in England und den USA – möglich war. Und wie steht dies alles wiederum zur nordamerikanischen Konfliktlinie des Second-wave-Feminismus zwischen Rassismus und Sexismus, der Verschiebung von radikalem zu Opferfeminismus, wie sie Gabriele Dietze in ihrer Habilitation 2004 analysiert hat? Aber zurück zur eigentlichen Frage: Wie ist diese Konzentration von bzw. auf Migration in Kunst und künstlerischer Forschung zu beurteilen? Ist damit nur ein weiterer Schritt im ›Hybriditätshype‹ und ›Differenzkonsum‹ vollzogen? Wird hier Migration zu einem weiteren Topos in der Sehnsucht nach Transgression? Oder handelt es sich um eine Weiterentwicklung des Ethnic Marketing, wie Tirdad Zolghadr eines seiner Ausstellungs- und Rechercheprojekte betitelt hat (Zolghadr 2007)? Ist in dieser thematischen Fokussierung nicht einfach die gesellschaftliche Relevanz des Themas gespiegelt? Oder ist Kunst vielmehr eine Möglichkeit, wie Anita Moser in ihrer Dissertation Die Kunst der Grenzüberschreitung schreibt, »irritierende Gegendiskurse in Gang zu setzen«, und fungiert somit »selbst als zutiefst irritierender Diskurs«, um damit »ungewohnte Denk- und Handlungsräume zu eröffnen, Räume, die auf den ersten Blick unmöglich erscheinen« (Moser 2011: 11). Moser konstatiert im Übrigen auch, dass »postkolonial perspektivierte Forschungen zu künstlerischen Auseinandersetzungen mit Migration, Globalisierung, Transkulturalität oder Repräsentationen des ›Anderen‹« literaturwissenschaftlich dominiert sind – eine Beobachtung, die schon an anderer Stelle angemerkt wurde: bei der Verbindung von Kunst und queerer Theorie. So fragten 2005 die Herausgeberinnen der Ausgabe 45 der FKW mit dem Titel »Indem es sich weigert, eine feste Form anzunehmen« – Kunst, Sichtbarkeit, Queer Theory, warum bislang queere Debatten um »Identitätskonstruktionen, Sichtbarkeit und Repräsentation noch nicht mit bildwissenschaftlichen Theorien« verbunden wurden und beschrieben, dass »Entwicklungen im Bereich der Queer Theory bisher vorwiegend sozial- und literaturwissenschaftlich orientiert« waren (Brandes/ Adorf 2008):
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»Obgleich die repräsentationspolitische Frage der Sichtbarkeit ein zentraler Topos des queertheoretischen Diskurses ist, der sich mit den gegen die Normierung von Körper und Subjektivität gerichteten Problemstellungen verbinden lässt, wird sie selten dezidiert als eine Frage des visuellen Feldes behandelt. Eine zentrale Frage […] lautet daher: Was haben Queer Theory und (feministische) Kunst-, Bild- bzw. Medienwissenschaften einander zu bieten?« (Ebd.)
Wenn wir hier »Queer« durch »Migration« ersetzten, wie würde dann die Antwort lauten? Man könnte die Frage aber auch erweitern: Was haben kritische Migrationsforschung und queere und feministische Theorien einander zu bieten, wenn wir dieses Konglomerat als Ausgangspunkt nehmen? Damit wären wir unmittelbar beim altbekannten, umkämpften und viel diskutierten Stichwort der Repräsentation.
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Ich gehe an dieser Stelle nur kursorisch auf die Analysen von Repräsentationspolitik und -kritik ein.2 Sichtbarkeit, so schreiben Sigrid Schade und Silke Wenk in ihren Studien zur visuellen Kultur, ist als »produktive Macht des (scheinbar) Faktischen ein zentraler Faktor politischer Repräsentation« (Schade/Wenk 2011: 104). Auch Praktiken der Sichtbarmachung gehören damit zum Feld des Politischen. Repräsentationskritik wiederum reflektiert zum einen das Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit (Wer wird gesehen, wahrgenommen, dargestellt, repräsentiert?), zum anderen die Problematik der Idee, dass Sichtbarkeit eine notwendige Voraussetzung des Politischen, von Emanzipation und politischer Handlungsmacht ist. So war Repräsentationspolitik einerseits ein zentraler Aspekt feministischer, queerer und antirassistischer Bewegungen, also die Forderung nach »angemessene[r] Stellvertretung in der kulturellen wie in der politischen Öffentlichkeit« (ebd.). Andererseits muss der Zusammenschluss von »Anerkennung und Sichtbarkeit« wie u.a. Johanna Schaffer argumentiert hat, als höchst ambivalent betrachtet werden. Es gilt, so Schaffer, den vermeintlichen Kausalzusammenhang zwischen 2
Dabei ziehe ich – eine kleine Geste der Anerkennung gegenüber dem Kontext der Entstehung dieses Textes als Teil der Jahrestagung der FG Gender Studies an der Universität Oldenburg und damit auch gegenüber der Tradition der Oldenburger Gender Studies – vor allem jüngere Publikationen aus diesem Umfeld heran.
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Sichtbarkeit und politischer Macht zu hinterfragen. Schaffer tut dies, indem sie fragt, wer sieht, wer zu sehen gibt, in welchem Kontext und vor allem wie. Dabei sind es »gerade die feministischen, queeren, antirassistischen/ postkolonialen politischen Zusammenhänge, [die] […] mit der Affirmation von Sichtbarkeit als positivem Status Sichtbarkeit als politische Kategorie erzeugt« haben (Schaffer 2008: 12). Repräsentation, so haben María Do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan in dem wichtigen Sammelband Spricht die Subalterne deutsch? geschrieben, ist im postkolonialen Feminismus »eine Thematik von besonderer Bedeutung. Wer kann wen, wann und wie repräsentieren? Inwieweit ist Repräsentationspolitik eine gewaltvolle Praxis? Und inwieweit kann politische Praxis ohne Repräsentation funktionieren?« (Castro Varela/Dhawan 2003: 270). Und Kerstin Brandes und Sigrid Adorf kritisieren, dass »Bildbetrachtungen im Rahmen queerer (Theorie)Praktiken […] nicht selten auf die Frage von Affirmation oder Ablehnung beschränkt [bleiben], Bilder werden im Sinne eines auf Stellvertretung basierenden Repräsentationskonzepts gedeutet und allein als Für- oder GegensprecherInnen wahrgenommen« (Brandes/Adorf 2008). Sie führten weiter aus: »Aber nicht allein der kritische Diskurs zu den Bildern erscheint von zentraler Bedeutung für die weitere Ausarbeitung des queertheoretischen Begriffs von Sichtbarkeit. Ebenso ist zu fragen, welchen politischen Handlungsraum Bilder selbst bereitstellen, das heißt ob und wie sie als Agenten im Sinne eines Konzepts von agency gedacht werden müssen und können und in welcher Form sie (künstlerisch) nutzbar sind. Diese Frage baut auf einem Repräsentationsverständnis des feministischen Diskurses seit den 1970er Jahren auf, welches die Gesten öffentlichen Zu-Sehen-Gebens einerseits als disziplinierende, normalisierende Praktiken thematisiert und andererseits innerhalb der Wirkmächtigkeit der visuellen Kultur die Möglichkeit sieht, mit Bildern politisch zu handeln« (ebd.).
Um nun diese Beobachtungen migrationstheoretisch zu evaluieren, möchte ich ausgewählte Diskussionen der letzten Jahre aus der kritischen Migrationsforschung vorstellen. Zusammenfassen lassen sie sich mit der These: Migration fordert Repräsentation fundamental heraus. Die Bewegungen der Migration – als soziale Bewegung ernst genommen – stellen nationalstaatlich fundierte Konzepte, wie das der Staatsbürgerschaft, grundlegend infrage, und damit die Verfasstheit des ›politischen Körpers‹ als solchem. Die Herausforderung bezieht sich aber eben nicht nur auf Repräsen-
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tation im Sinne (politischer) Vertretung, sondern auch auf den zweiten Wortsinn von Repräsentation, also auf Darstellung. Die sogenannte illegalisierte Migration beispielsweise stellt Vorstellungen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zur Verhandlung. Sichtbarmachungsstrategien dienen in der Regel der Kontrolle und Begrenzung von Migration, wie besonders in den AntiTrafficking-Kampagnen deutlich wird, die unter dem Signum ›Vermeidung von Zwangsprostitution‹ der Migrationsbegrenzung bzw. -verhinderung dienlich sind.3 Vor allen Dingen aber ist Migration ein wesentlicher Faktor im Neu- oder Um-Denken von citizenship: »MigrantInnen ohne Papiere dürfen […] nicht nur als Objekte des Ausschlusses gedacht werden, sondern ihre Praktiken der Aneignung von Bürgerrechten sollten als Form verstanden werden, die Grenzen unseres Verständnisses von Bürgerschaft herauszufordern und neu zu definieren« (Bojadžijev 2009). Ich kann an dieser Stelle die Diskussionen um citizenship nicht weiter vertiefen und lasse hier nur Rutvica Andrijaševiæ zu Wort kommen, die wichtige Arbeiten zu Viktimisierungsdiskursen in IOM-Kampagnen und zu Migrationsstrategien osteuropäischer Frauen in Italien – zu denen auch Sexarbeit gehört – vorgelegt hat: »Statt einfach ein Objekt institutioneller rechtliche Rahmenbedingungen zu sein, tritt Migration als konstituierende Kraft der […] politischen Ordnung insofern in Erscheinung, als sie das Konzept der formalistisch von ›oben‹ definierten BürgerInnenschaft in Frage stellt und zeigt, dass diese ein Kampffeld ist, das sich durch eine fortwährende Interaktion zwischen migrantischen Praktiken von BürgerInnenschaft und ihrer institutionellen Kodifizierung konstituiert« (Andrijaševiæ 2009).
Migrantinnen/Migranten dabei als Akteurinnen/Akteure und Handelnde der Konstruktion der Europäischen Gemeinschaft statt als ihr konstituierendes ›Außen‹ zu sehen, stellt, so Andrijaševiæ, eine Herausforderung für »die das Feld des Politischen bestimmende Grenze dar« (ebd). Letztlich geht es also mit den Bewegungen der Migration um die Grenzen des Politischen, darum, die modernistischen Dichotomien, die nach wie vor die Definition und das Konzept staatlicher Souveränität sowie politischer Formen der Zugehörigkeit strukturieren, neu zu denken.
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Siehe auch den Beitrag von Sabine Hess in diesem Band.
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Diese Auslotung des ›Politischen‹ knüpft wiederum an das von queeren, postkolonialen, feministischen Denkerinnen und Denkern des letzten Jahrzehnts konstatierte ›Ende der Politik der Repräsentation‹ an, das auch Vassilis Tsianos und Dimitris Papadopoulos 2008 in ihren Escape Routes als Ausgangspunkt nehmen (Papadopoulos/Stephenson/Tsianos 2008a). Wie die beiden Autoren an anderer Stelle formulieren, bedeutet dieser »Niedergang der Repräsentation« zugleich »das Ende der Sichtbarkeitsstrategie« (Papadopoulos/Stephenson/Tsianos 2008b). Statt ›Sichtbarkeit‹ sagen sie »Unwahrnehmbarkeit«; jene Unwahrnehmbarkeit, die auch bei Johanna Schaffer figuriert, wofür sie u.a. Peggy Phelan heranzieht, die die reale Macht des Unmarkiertseins beschrieben hat, oder, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, die sich bei Teresa de Lauretis als »space-off« konzipiert findet, der wiederum in der bereits erwähnten FKW bei Renate Lorenz als »das nicht-zu-sehen-geben« erscheint (ebd.). Das Positive des Negativen – unter diesem Stichwort ließen sich eine ganze Reihe von repräsentationskritischen Analysen aus der politischen, feministischen, queeren und migrationstheoretischen Forschung zusammenfassen. Zu letzterer zählen beispielsweise das Konzept des Negativen Universalismus von Hito Steyerl (2000), des Quiet Encroachment von Asef Bayat, der auf die Politiken des Alltags von sogenannten ›Armen‹ abstellt und auch den Begriff der »nonmovements«, also der kollektiven Unternehmungen nichtkollektiver Akteurinnen und Akteure, entwickelt hat (vgl. ebd. 2010). Aber eben auch die bereits erwähnten Ideen von Unsichtbarkeit und Unwahrnehmbarkeit, der Bewegungen des Entgehens und Sich-Entziehens (vgl. Lorey 2011), sowie Flucht, exit, escape – also jene Aspekte der Autonomie der Migration, die auf Verweigerung beruhen: »when people refuse something there is a positivity«, wie Yann Moulier Boutang, von dem der Begriff der ›Autonomie der Migration‹ stammt, in einem Interview geäußert hat (Grelet 2001: 228).
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Auch hier schließt sich erneut eine Reihe von Fragen an: Welche Art von politischem Subjekt bringen Unwahrnehmbarkeit und ihre konzeptionell verwandten ›negativen‹ Schwestern hervor? Bringen sie überhaupt eine subjektbasierte Politik hervor? In welcher Weise ist Migration in das Auftauchen einer postrepräsentationalen Ära der Politik eingewoben? Angenommen, eine nicht auf
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dem national fundierten Zusammenschluss von Rechten und Repräsentation basierende ›Negativität‹ ist der Ansatz für eine neue Art, Politik zu denken, politisch zu sein, möglicherweise ein verbindendes Moment queerfeministischer und migrantischer Bewegungen und Theoretisierungen, was ist dann mit der offensichtlichen Hoffnung auf das politische Versprechen der Kunst? Gilt dies besonders unter eben dem Aspekt, dass sich mit Migration in der Kunst derzeit großes symbolisches Kapital generieren lässt? Ist mit dem shift des Aktivismus in die Ebene des symbolischen Widerstandes die Gefahr verbunden, dass der Aspekt der politischen Vertretung vernachlässigt wird? Ist mit den fortgesetzten slippages zwischen metaphorischer und ›wörtlicher‹ Migration wirklich die Gefahr eines Verlusts verbunden? Besteht, wie Sara Ahmed in Strange Encounters 2000 kritisch formuliert hat, die Gefahr, dass Migration zu einem generalisierten Begriff für das Denken selbst wird? Ist in dem metaphorischen Denken der Migration nicht auch eben jenes Potential einer Umordnung politischer und gesellschaftlicher Zementierungen enthalten? Wenn ja, wie lässt sich dennoch das Problem des Gehört- und Wahrgenommen-Werdens jener, die sich in den prekären Strukturen zeitgenössischer Migration bewegen, lösen? Schließlich: Was ist denn nun mit der Kunst der Migration? Geht es um die Überwindung der Differenz zwischen Figur und Fakt? Geht es um die Kompensation der Gewalt, die Illegalisierte zu solchen macht? Um den Versuch, damit das Un(ter)repräsentierte zu repräsentieren? Eher nicht, zumindest nicht so, wie es eine klassische Politik der Repräsentation imaginiert. Repräsentation kann es daher nicht sein, was die politische Hoffnung auf die Kunst (der Migration) speist. Entsprechendes belegen auch unterschiedlichste künstlerische Strategien, die unter ›Negativität‹ subsumiert werden könnten. So habe ich beispielsweise anhand der Kopftuchdebatten vom Nicht(s)-Zeigen gesprochen, was auch als Strategie der De-Thematisierung beschrieben werden kann: politisch Position beziehen, das Wesentliche ansprechen und dennoch das ikonografisch Zugestellte (wie eben in den Kopftuchdebatten, die eben nicht durch Fotoserien selbstbewusster Kopftuch tragender Frauen ausgehebelt werden können, sondern durch eine Umschichtung des Diskurses an sich) nicht über die gegebenen Schlagwörter oder ›Schlagbilder‹ (Aby Warburg) verhandeln, sondern indirekt, nebenbei, aus dem Augenwinkel, hors-champ. Das Problem – und die Lösung – sind daher nicht die einzelnen künstlerischen Arbeiten und Verfahrensweisen (von denen es zahlreiche im Sinne dieser Frage gelungene Beispiele gibt), und es sind auch nicht die kuratorischen
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Konzepte. Es geht vielmehr bei der Kunst der Migration, wenn wir diese über künstlerische Praktiken verhandeln, um die Herstellung eines Resonanzraumes, um die Schaffung eines Publikums. In diesem Sinne verwahrt sich Jacques Rancière, nachdem er das Politische der Kunst in ihrer Fähigkeit, Grenzen zu verwischen, angesiedelt hat, gegen die Verwechslung von Aktivismus und Kunst: »Das heißt natürlich nicht, dass die künstlerische Praxis zu einer politischen Praxis geworden ist, wie manche TheoretikerInnen meinen. Sie neigen dazu, künstlerisches Handeln als neuen politischen Aktivismus zu betrachten, und zwar aufgrund der Tatsache, dass wir in einem neuen Stadium des Kapitalismus leben, in dem materielle und immaterielle Produktion, Wissen, Kommunikation und künstlerisches Handeln in ein und demselben Prozess der Realwerdung einer kollektiven Intelligenz verschmelzen. Meiner Ansicht nach ist das eine zu simple Methode, um die Besonderheiten künstlerischer und politischer ›Dissensualität‹ auszulöschen und stattdessen die Avantgarde-Figur des Produzenten wiederzubeleben, der zugleich Arbeiter, Künstler und Erbauer einer neuen Welt ist. […] Es gibt viele Formen von kollektiver Intelligenz, genauso wie es viele Arten und Bühnen des Handelns beziehungsweise der Performance gibt« (Höller/Rancière 2007).
Hierin liegt meiner Ansicht nach das wesentliche Versprechen einer Kunst der Migration: Erst in der Herstellung einer (singulären) Kollektivität in der ästhetischen Rezeption, in der Sozialität des Ereignisses, in der Schaffung eines konkreten Resonanzraums ist jenes Moment zu finden, in dem sich queere, feministische, antirassistische und migrantische Repräsentationskritik auch in künstlerischer Produktion realisieren lassen. Notwendig ist die Herstellung einer »kollektiven Intelligenz«, in der es in der Tat um etwas geht, um Haltungen, um Kritik und Positionen (gemeint ist: Positionen zu beziehen, die es auszuhandeln gilt, die nicht unbedingt immer schon vorher gewusst sind und damit gerade nicht im Mantra des positionierungspolitischen Festschreibens aufgehen). Dies setzt voraus, dass es auch darum geht, sich in das Konkrete, das, worum es geht, zu involvieren, und zwar vor dem Horizont gemeinsamer Kämpfe und nicht vor dem Horizont angenommener Gemeinsamkeit.
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Autorinnen und Herausgeberinnen
AUTORINNEN Laura Adamietz lehrt und forscht am Zentrum für Europäische Rechtspolitik der Universität Bremen. Ihre von Susanne Baer betreute Dissertation vereint Rechtswissenschaft mit Geschlechterstudien: Geschlecht als Erwartung. Das Geschlechtsdiskriminierungsverbot als Recht gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität (Baden-Baden: Nomos, 2011). Kerstin Brandes ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst und visuelle Kultur der Universität Oldenburg. Als Lehrbeauftragte war sie in Hamburg, Oldenburg, Bremen, Paderborn, Wien und als Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin tätig. Sie ist Mitherausgeberin von FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur (Marburg). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Bildzirkulationen, kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien, Postcolonial und Queer Studies, Theorie und Geschichte der Fotografie. Ihre Dissertation verfasste sie zu Fotografie und »Identität« – Visuelle Repräsentationspolitiken in künstlerischen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre (Bielefeld: transcript, 2010). Sie arbeitet an einem Projekt zu visuellen Migrationen und der Figur der »Hottentotten-Venus« (s.a. Themenheft FKW 51, Juni 2011). Sabine Broeck ist Professorin für American Literatures and Cultures am Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Bremen. Sie ist Sprecherin des Instituts für Postkoloniale und Transkulturelle Studien der Universität Bremen sowie Präsidentin des internationalen Collegium for Afri-
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can American Research (CAAR). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gender, Race, Slavery and the Constitution of Transatlantic Modernity; The Black Diaspora in Transatlantic Contexts; The African-American Civil Rights Movement in/and Europe; Intersectionality; Subversive Americanization; Decolonizing the Humanities. Sie arbeitet an einer Publikation mit dem Arbeitstitel (Post)Slavery, Abjection and Gender as White Epistemology (Albany, NY: SUNY Press). Waltraud Ernst, Philosophin und Literaturwissenschaftlerin, ist seit Juli 2010 Universitätsassistentin am Institut für Frauen- und Geschlechterforschung der Johannes Kepler Universität Linz. Von 2004 bis 2010 war sie Leiterin des Zentrums für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterstudien der HAWK und der Universität Hildesheim und von 2001 bis 2003 Projektleiterin am Institut für Philosophie, Universität Wien (Hertha Firnberg-Forschungsstelle). Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Gender in Science and Technology; Feministische Wissenschafts- und Erkenntnistheorie; Gender Studies; Cultural Studies of Science; Ethik und Politik der Globalisierung. Nanna Heidenreich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in den Medienwissenschaften an der HBK Braunschweig sowie Ko-Kuratorin der Sektion »Forum Expanded« bei der Berlinale. Daneben verfolgt sie unabhängige kuratorische Projekte mit Film und Video, vor allem an den Kreuzungspunkten von Politik & Kino/Kunst. Bis 2009 wirkte sie an verschiedenen Performanceproduktionen und anderen Interventionen des antirassistischen Netzwerks Kanak Attak mit. Sabine Hess ist Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Transnationalisierungs- und Europäisierungsforschung, Migrations- und Grenzregimeforschung, politische Anthropologie und kulturanthropologische Geschlechterforschung. Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen zählen Intersektionalität revisisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen (Hg. mit Elisabeth Timm und Nicola Langreiter, Bielefeld: transcript 2011); Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa (Hg. mit Bernd Kasparek, Berlin: Assoziation a, 2010/2012) und No integration. Kulturwissenschaftliche Beiträge zu Fragen von Migration und Integration in Europa (Hg. mit Jana Binder und Johannes Moser, Bielefeld: transcript, 2009).
A UTORINNEN
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Miriam Kanne ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft. Dort verfasste sie ihre Dissertation mit dem Titel Andere Heimaten. Transformationen klassischer ›Heimat‹-Konzepte bei Autorinnen der Gegenwartsliteratur (Sulzbach/Taunus: Ulrike Helmer, 2011). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Theorien der Raumund Geschlechterforschung. Julia Katharina Koch ist Prähistorische Archäologin und wissenschaftliche Referentin an der Römisch-Germanischen Kommission Frankfurt/Main. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Metallzeiten in Mitteleuropa, archäologische Geschlechterforschung und Archäologinnen zwischen 1800 und 1950. Sie ist Mitbegründerin des FemArc-Netzwerkes archäologisch arbeitender Frauen e.V. und der Arbeitsgruppe Archaeology and Gender in Europe sowie Mitherausgeberin der Monographienreihe Frauen – Forschung – Archäologie. Katrin Losleben ist Chor- und Ensembleleiterin und seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Sängerinnen und Rollen. Geschlechtskonzeptionen in der Oper des 19. Jahrhunderts« am Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth. Von 2006 bis 2012 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, wo sie den Band History | Herstory. Alternative Musikgeschichten zusammen mit Annette Kreutziger-Herr (Köln: Böhlau, 2009) herausgab. 2010 hat sie ihre Promotion abgeschlossen mit dem Thema Musik–Macht–Patronage: Kulturförderung als politisches Handeln im Rom der Frühen Neuzeit am Beispiel der Christina von Schweden (1626–1689) (Köln: Dohr, 2011). Nora Markard ist Volljuristin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich Staatlichkeit im Wandel in einem völkerrechtlichen Forschungsprojekt an der Universität Bremen. Sie hat 2011 in Berlin bei Susanne Baer ihre Promotion zum Flüchtlingsschutz für Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten abgeschlossen. Sie ist Gründungsmitglied des Netzwerks Migrationsrecht und hat die Humboldt Law Clinic: Grund- und Menschenrechte mit aufgebaut. Derzeit forscht sie an der Columbia Law School im vergleichenden Verfassungsrecht zum Thema Kollektivität. Publikationen u.a.: »Die andere Frage stellen: Intersektionalität als Analysekategorie im Recht«, in: Kritische Justiz 4, 2009, S. 353-364 sowie Kriegsflüchtlinge, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012.
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Anna-Katharina Meßmer ist Diplom-Soziologin und Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie promoviert bei Prof. Dr. Paula-Irene Villa (München) über kosmetische Intimchirurgie und veröffentlichte u.a. »Der Kampf um die Vulva hat begonnen« (in: Dagmar Filter/Jana Reich (Hg.), »Bei mir bist Du schön...« Kritische Reflexionen von Schönheit und Körperlichkeit, Freiburg: Centaurus, 2012, S. 119-136). Anja Michaelsen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Promoviert wurde sie mit einer Arbeit zum Verhältnis von Sentimentalität und Adoptionsdiskurs im 20. und 21. Jahrhundert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sentimentalität, Affekt und Kritik, Gender, Race und Medien sowie Dispositive von Passing. Publikationen u.a.: »›I helped to bring them into this world‹. Geburt, Leihmutterschaft und Reproduktionsmedizin in Frozen Angels (2005)«, in: Paula-Irene Villa et al. (Hg.): Zwischen guter Hoffnung, Risiko und instrumentellem Projekt. Zur Soziologie der Geburt, Frankfurt a.M., 2011). Mit Astrid Deuber-Mankowsky gibt sie seit 2007 das onlinejournal kultur & geschlecht heraus. Isabel Seliger studierte Japanologie, Ostasienwissenschaften und freie Kunst in Berlin, Tokyo und Honolulu. Von 2002 bis 2004 war sie Andrew W. Mellon Postdoctoral Fellow an der Brandeis University in Waltham, MA, und Associate in Research am Reischauer Institute of Japanese Studies an der Harvard University, Cambridge, MA, USA. Parallel dazu bildete sie sich in Computer Arts an der School of the Museum of Fine Arts, Boston, MA, fort. Von 2005 bis 2009 nahm sie an technischen und theoretischen Kursen der cimdata Akademie für digitale Medien und der Universität der Künste Berlin teil. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen ostasiatische Literatur- und Kunsttheorie, frühmoderne transnationale Diskurse in Ostasien sowie Gender und Visual Culture Studies. Sie verfolgt ihre eigene künstlerische Arbeit mittels der Verbindung von Fotografie, kollaborativer Initiativen und Netzwerktheorie. Miriam Trzeciak ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet »Soziologie der Diversität unter besonderer Berücksichtigung der Dimension Gender« an der Universität Kassel. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind u.a.: Migration und Geschlecht, Queer Theory, Postcolonial Studies und Lateinamerikaforschung. Sie veröffentlichte u.a. »Zwischen Ausbeutung und Empowerment – Zur Situ-
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ation von Arbeiterinnen in der nordmexikanischen Maquiladora-Industrie«, in: Elisabeth Tuider et al. (Hg.), Dollares und Träume. Migration–Arbeit– Geschlecht in Mexiko zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Münster: Westfälisches Dampfboot, 2009, S. 154-170. Elisabeth Tuider ist Professorin für »Soziologie der Diversität unter besonderer Berücksichtung der Dimension Gender« an der Universität Kassel. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Gender- und Queer-Studies, Migrations- und Transmigrationsforschung, Cultural Studies und Postkolonial Studies, Qualitative Forschungsmethoden sowie Lateinamerikaforschung. Zuletzt hat sie mit Miriam Trzeciak ein Lehrforschungsprojekt an der mexikanischen Südgrenze realisiert. Eine ihrer aktuellen Veröffentlichungen ist »Transnational Biographies: The Delimitation of Motherhood«, in: Adrienne Chambon/Wolfgang Schröer/Cornelia Schweppe (Hg.): Transnational Social Support, New York/ London: Routledge, 2012, S. 149-163.
H ERAUSGEBERINNEN Annika McPherson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für anglophone Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Anglistik und Amerikanistik sowie Mitglied des Zentrums für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZFG) der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zu ihren Themenschwerpunkten gehören Postcolonial und Decolonial Studies, vergleichende Cultural Studies mit Fokus auf Inter-, Multi- und Transkulturalität in Kanada, Großbritannien, Australien, den USA und Südafrika. Ihr Habilitationsprojekt befasst sich mit der Thematisierung von Sklaverei und der damit verbundenen vergeschlechtlichten Diskursivierung des Menschen in der englischsprachigen Literatur der karibischen Diaspora seit den 1990er Jahren. Ihre Dissertation wurde unter dem Titel White–Female–Postcolonial? Towards a Trans-cultural Reading of Marina Warner’s Indigo and Barbara Kingsolver’s The Poisonwood Bible (Trier: WVT, 2011) veröffentlicht. Barbara Paul ist Professorin für Kunstgeschichte, mit dem Schwerpunkt Moderne und Geschlecht am Institut für Kunst und visuelle Kultur der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und stellvertretende Direktorin des Zentrums für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZFG). Ihre Arbeits-
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schwerpunkte sind u.a. Geschichte und Theorie der Kunstwissenschaft, kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien, Postcolonial und Queer Studies. Veröffentlichungen zuletzt u.a.: »FormatWechsel, Bilderzirkulation und visuelle queere Politiken. Iké Udé und das strukturelle Paradox des Cover Girls«, in: FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur 51, Visuelle Migrationen. Bild-Bewegungen zwischen Zeiten, Medien und Kulturen (Juni 2011), S. 60-72 sowie: Mehr(wert) queer. Visuelle Kultur, Kunst und GenderPolitiken / Queer Added (Value). Visual Culture, Art, and Gender Politics, Bielefeld: transcript, 2009 (Hg. mit Johanna Schaffer). Sylvia Pritsch, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, ist seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zenrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZFG) der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zwischen 2009 und 2011 war sie als Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung, Texttheorie (Rhetorik des Subjekts. Zur Konstruktion des textuellen Subjekts in feministischen und anderen postmodernen Diskursen, Bielefeld: transcript, 2008, Diss.); Mediale Formen von Gemeinschaft u.a. Sie arbeitet in ihrem aktuellen Forschungsprojekt zu »Differenzen in der Netz-Gemeinschaft. Zum Umgang mit Geschlecht und Ethnizität in (digitalen) Medien« (»Verletzbarkeit im Netz – Zur sexistischen Rhetorik des Trollens«, in: Feministische Studien 29, Nr. 2, 2011). Melanie Unseld ist seit 2008 Professorin für Kulturgeschichte der Musik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und seit 2009 Direktorin des Zentrums für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZFG). Sie studierte Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie und Angewandte Kulturwissenschaft in Karlsruhe und Hamburg. 1999 promovierte sie an der Universität Hamburg (»Man töte dieses Weib!« Tod und Weiblichkeit in der Musik der Jahrhundertwende, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2001). Von 2002 bis 2004 war sie Stipendiatin des Lise Meitner-Hochschulsonderprogramms, von 2005 bis 2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Theater Hannover und dort ab 2006 am Forschungszentrum für Musik und Gender tätig. Zusammen mit Annette Kreutziger-Herr gab sie 2010 das Lexikon Musik und Gender (Kassel/Stuttgart: Bärenreiter-Verlag/ JB Metzler) heraus.
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Silke Wenk ist Professorin für Kunstwissenschaft mit Schwerpunkt Geschlechterforschung am Institut für Kunst und visuelle Kultur sowie stellvertrende Direktorin des Zentrums für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZFG) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Publiziert hat sie u. a. zu Allegorien in der Moderne, Nationalsozialismus, Gedächtnis und Geschlecht und visuellen Vergangenheitspolitiken, darunter jüngst: Studien zur visuellen Kultur (mit S. Schade, Bielefeld: transcript, 2011); »Analysing the Migration of People and Images: Perspectives and Methods in the Field of Visual Culture« (mit Rebecca Krebs), in: Robin Cohen/Gunvor Jonsson (Hg.): Migration and Culture, Oxford: Edward Elgar, 2012.
Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung Jutta Jacob, Swantje Köbsell, Eske Wollrad (Hg.) Gendering Disability Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht 2010, 240 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1397-1
Jutta Jacob, Heino Stöver (Hg.) Männer im Rausch Konstruktionen und Krisen von Männlichkeiten im Kontext von Rausch und Sucht 2009, 192 Seiten, kart., zahlr. Abb., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-933-6
Constance Ohms Das Fremde in mir Gewaltdynamiken in Liebesbeziehungen zwischen Frauen. Soziologische Perspektiven auf ein Tabuthema 2008, 346 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-948-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung Lydia Potts, Jan Kühnemund (Hg.) Mann wird man Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam 2008, 234 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-992-3
J. Seipel Film und Multikulturalismus Repräsentation von Gender und Ethnizität im australischen Kino 2009, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1174-8
Gaby Temme, Christine Künzel (Hg.) Hat Strafrecht ein Geschlecht? Zur Deutung und Bedeutung der Kategorie Geschlecht in strafrechtlichen Diskursen vom 18. Jahrhundert bis heute 2010, 278 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1384-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de