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German Pages 324 Year 2015
Celia Spoden Über den Tod verfügen
Alter(n)skulturen Herausgegeben von Peter Angerer, Ute Bayen, Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch, Christoph Kann, Ulrich Rosar, Christian Schwens, Shingo Shimada, Stefanie Ritz-Timme und Jörg Vögele | Band 5
Celia Spoden (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Modernes Japan der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Sie forscht zu bioethischen Fragestellungen, Identitäts- und Selbstkonzepten.
Celia Spoden
Über den Tod verfügen Individuelle Bedeutungen und gesellschaftliche Wirklichkeiten von Patientenverfügungen in Japan
D61
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Inhalt
Hinweise | 9 1 Einleitung | 11
1.1 Problem- und Fragestellung: Subjektive Deutungen und gesellschaftliche Wirklichkeiten von Patientenverfügungen | 11 1.2 Forschungsstand: Empirische Forschung zu Patientenverfügungen in Japan | 13 1.3 Theoretischer Hintergrund und methodisches Vorgehen | 18 1.3.1 Feldforschung und Feldzugang | 20 1.3.2 Vom Interview zum Text | 25 1.3.3 Hindernisse bei der Anwendung des Verfahrens und Grenzen der Methode | 28 1.4 Der Aufbau | 30 2 Neues Problembewusstsein: Wie das Lebensende zur selbstgestaltbaren Phase des Lebens wurde | 33
2.1 Sterben im Spannungsverhältnis zwischen Tabuisierung, Medikalisierung und neuen Bedeutungszuschreibungen | 35 2.1.1 Das Krankenhaus als Ort des Sterbens | 38 2.1.2 Fallbeispiel: Der Sieg im Kampf gegen Krebs ohne eigens erlebte Krankengeschichte | 47 2.1.3 Fallbeispiel: Von den Ärzten auferlegtes Schweigen | 54 2.2 Wissen-Wollen als neue Umgangsform und Widerstände | 60 2.2.1 Neue Medizintechnik, die Anfänge der Bioethik und das Prinzip des informed consent | 62 2.2.2 Das Recht auf Wissen und informed consent | 70 2.2.3 Informed consent jenseits von Kultur? | 74 2.3 Sterbehilfe: Von einer möglichen Rechtfertigung durch Mitleid zur Betonung der Selbstbestimmung | 83 2.3.1 Anrakushi, songenshi und die Terminologie der Sterbehilfe | 83 2.3.2 Überblick zur rechtlichen Lage der Sterbehilfe in Japan | 93 2.4 Zwischenfazit: Zur Entwicklung des Problembewusstseins und der Bioethik in Japan | 103
3 Patientenverfügungen in der japanischen Diskussion und aus Sicht ihrer Verfasser | 109 3.1 Die Patientenverfügungsdebatte | 111
3.1.1 Das Recht auf Sterben und die Japan Society for Dying with Dignity | 115 3.1.2 Das Recht auf Leben und die Kritik an einer gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen | 129 3.1.3 Zwischen würdevollem Tod und selbstständigem Leben | 149 3.2 Bedeutungen von Patientenverfügungen in der Alltagswirklichkeit | 155 3.2.1 Problembewusstsein und Wissen über Patientenverfügungen | 161 3.2.2 Zugeschriebene Bedeutungen und die Funktionen der Patientenverfügung | 181 3.2.3 Patientenverfügungen zwischen paternalistischen und aufklärerischen Werten? | 198 4 Lebenszeit und Timing | 203
4.1 Lebenszeit als gestaltbare individuelle Zeit | 204 4.1.1 Lebenszeit und standardisierte Lebensläufe in Japan | 207 4.1.2 Zeit für die Bewältigung der Diagnose und Umgestaltung der verbleibenden Lebenszeit | 211 4.1.3 Fallbeispiel: In einem Jahr ein Jahrzehnt leben | 213 4.1.4 Fallbeispiel: Über den guten Tod zur guten Lebensweise | 219 4.1.5 Soziale Rollen und ihre Bedeutung für die Interpretation der eigenen Lebenszeit | 224 4.2 Timing, Lebenserwartungen und die Risiken des Alterns | 225 4.2.1 Lang genug gelebt und länger als gedacht | 232 4.2.2 Pokkuri: Der plötzliche, schnelle Tod | 238 4.2.3 Zeit zur Vorbereitung auf den Tod | 239 4.2.4 Timing und die Anwesenheit der Angehörigen am Bett des Sterbenden | 241 4.2.5 Lebenszeit und Zeitlosigkeit | 243 4.3 Zwischenfazit: Die Bedeutung von Lebenszeit und Timing für Entscheidungsfindungen | 253
5 Konstruktion von Selbstbildern als Spiegel der Entscheidungsfindung: Jibunrashisa, Selbstständigkeit und Verantwortung | 257
5.1 Die Bedeutung sozialer Rollen für die Konstitution des Selbst durch Erfahrungen in sozialer Interaktion | 257 5.2 Verlust des Selbst | 266 5.2.1 Verlust des (Selbst-)Bewusstseins | 266 5.2.2 Verlust der Mitteilungsfähigkeit als Auflösung des Selbst | 270 5.3 Jibunrashisa – Ideal und Vorbildfunktion | 277 5.3.1 Jibunrashisa hängt von den individuellen Wünsche ab | 278 5.3.2 Auf der Suche nach einer dem Selbst entsprechenden Entscheidung | 280 5.4 Selbstständigkeit und Abhängigkeit | 282 5.4.1 Durch eigene Entscheidungen das Leben selbst gestalten | 283 5.4.2 Vorbereitungen für eine Loslösung aus dem Leben: Abgabe von sozialen Rollen und von Verantwortung | 287 5.5 Zwischenfazit: Selbstbilder als Spiegel der Entscheidungsfindung | 291 6 Schlussbemerkungen | 297 7 Danksagung | 305 8 Interviewübersicht | 307 9 Literaturverzeichnis | 309
Hinweise
Japanische Namen werden in der in Japan üblichen Reihenfolge wiedergegeben: zuerst der Familienname und dann der persönliche Name, zum Beispiel Tateiwa Shinya. Bei japanischen Autoren, die hauptsächlich im deutsch- oder englischsprachigen Raum veröffentlichen, wird die Schreibweise in Vorname gefolgt vom Nachnamen beibehalten, beispielsweise Shingo Shimada. Japanische Begriffe, die in der deutschen Sprache nicht lexikalisiert sind, werden klein und kursiv nach der modifizierten Hepburn-Schreibweise in romanisierter Schrift (romaji) wiedergegeben, ausgenommen sind Personennamen, Ortsbezeichnungen und Eigennamen von Organisationen, die groß und nicht kursiv geschrieben werden (Nihon Songenshi Kyôkai). Lange Vokale werden mit ^ gekennzeichnet. Ausnahmen sind Namen von Autoren, die in ihren englischen oder deutschen Veröffentlichungen selbst eine andere Schreibweise verwenden – hier wird die vom Autor verwendete Schreibweise übernommen, zum Beispiel Atoh statt Atô. Sofern japanische Begriffe in den deutschen Sprachgebrauch aufgenommen wurden und im Duden verzeichnet sind, wird die dort angegebene Schreibweise verwendet. Es sei denn, diese weicht erheblich von der Hepburn-Transkription ab und es gibt im Englischen eine standardisierte Schreibweise, die der verwendeten Umschrift eher entspricht wie im Beispiel Tokyo (Duden: Tokio; Hepburn: Tôkyô). Alle Interviews wurden von mir auf Japanisch geführt und Interviewzitate von mir übersetzt. Alle weiteren eigenen Übersetzungen sind als solche gekennzeichnet.
1 Einleitung
1.1 P ROBLEM - UND F RAGESTELLUNG : S UBJEKTIVE D EUTUNGEN UND GESELLSCHAFTLICHE W IRKLICHKEITEN VON P ATIENTENVERFÜGUNGEN Patientenverfügungen werden unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert. Sie berühren die Thematik der Sterbehilfe, aber auch der Pflege und sozialen Sicherung. Im Kontext des Arzt-Patienten-Verhältnisses werfen sie Fragen auf, die sich vor allem auf das Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmung und (Eigen-)Verantwortung des Patienten auf der einen Seite und Fürsorgepflicht und Verantwortung des Arztes auf der anderen Seite beziehen. In der Alltagswirklichkeit sind Entscheidungen zum Lebensende durch Ambivalenzen gekennzeichnet. Konkrete Entscheidungssituationen sind nicht ausschließlich eine Problematik des Verhältnisses und der Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Speziell bei der Vorausverfügung des eigenen Willens durch Patientenverfügungen sind neben der Selbstbestimmung des Patienten noch weitere Aspekte von Bedeutung: Persönliche Erfahrungen, soziale Interaktionsbeziehungen, Vorstellungen vom Tod oder mit dem Sterben verbundene Ängste, Wünsche und Bedürfnisse nehmen einen entscheidenden Einfluss (vgl. Long 2001a: 64). Des Weiteren kommt den äußeren Rahmenbedingungen, wie den zur Verfügung stehenden medizinischen und finanziellen Möglichkeiten oder auch der institutionellen Absicherung und Beratung, eine bedeutende Rolle zu. Die Fähigkeit zu entscheiden oder zu handeln ergibt sich letztendlich erst aus der situativen Interaktion aller beteiligten Akteure (Patient, Angehörige, Ärzte und medizinisches Personal, Sozialversicherungen etc.) sowie den bestehenden Infrastrukturen, Richtlinien und medizintechnischen Möglichkeiten (vgl. Knecht 2008: 179). Nicht zuletzt haben individuelle Werte, gesellschaftliche Normen und Erwartungen eine bedeutende Orientierungsfunktion, wenn die Entscheidungsträger verschiedene Möglichkeiten abwägen und ihre Wahl begründen.
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Jedoch gibt es nur vereinzelte empirische Studien zu dieser Thematik, sodass die Komplexität der Entscheidungsproblematik in der Alltagswirklichkeit der Betroffenen nicht adäquat erfasst werden kann. Durch die fehlende empirische Perspektive verengt sich die Diskussion auf einzelne, abstrakte Prinzipien und fokussiert sich auf reduzierte Interaktionszusammenhänge. Um einen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke zu leisten, liegt der Fokus meiner Studie auf der subjektiven Perspektive von Menschen, die eine Patientenverfügung verfasst haben. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie in der Alltagswirklichkeit eine Entscheidung für eine Patientenverfügung getroffen wird, welche Einflüsse die Verfasser als wichtig bezeichnen und wie sie ihre Patientenverfügung deuten. Die erhobenen qualitativen Interviews wurden hinsichtlich ihrer Schlüsselkonzepte analysiert und auf unterschiedliche Erzählmuster untersucht. Dadurch wird ein komplexes Bild der Problematik gezeichnet und die Ambivalenzen von Entscheidungsfindungen aufgezeigt. Patientenverfügungen werden als Ausdruck einer Entscheidungsfindung bezüglich des eigenen Lebensendes und der Sterbephase verstanden. Sie unterscheiden sich jedoch von direkten (unmittelbaren) Entscheidungsfindungen am Lebensende. Während Entscheidungen in der Sterbephase durch die konkrete Situation beeinflusst sind, werden durch Patientenverfügungen Entscheidungen im Voraus getroffen und die Situationen, in denen sie zum Einsatz kommen sollen, im Vorhinein antizipiert. In den meisten Fallbeispielen formulieren die Interviewten jedoch konkrete Anlässe für ihre Patientenverfügungen. In diesem Sinne sind die Patientenverfügungen auch als Ausdruck einer Entscheidung für erlebte Situationen in der Gegenwart oder Vergangenheit zu sehen. Es ergibt sich somit eine doppelte Zeitachse in der Bedeutung der Patientenverfügung: Sie wird in Bezug auf die Situation oder Lebensphase gedeutet, in der sie abgefasst wurde, und ihr werden Bedeutungen für zukünftige Situationen zugeschrieben, in denen sie relevant werden und die Entscheidung umgesetzt werden könnte. Zudem überdauert das Schriftstück Patientenverfügung die Situation, die als Anlass der Entscheidungsfindung bezeichnet wird und in der ein konkret empfundener Handlungsbedarf wahrgenommen wurde. Nicht selten findet ein Bedeutungswandel hinter dem oftmals unveränderten Schriftstück statt. Dieser Bedeutungswandel ist anhand der Erzählungen im Interview festzustellen. Dieser Aspekt ist eine Besonderheit von Patientenverfügungen und eher ungewöhnlich für Entscheidungen oder Handeln im alltäglichen Leben.
E INLEITUNG | 13
1.2 F ORSCHUNGSSTAND : E MPIRISCHE F ORSCHUNG ZU P ATIENTENVERFÜGUNGEN IN J APAN Patientenverfügungen in Japan sind in der empirischen Forschungsliteratur bisher kaum behandelt worden. Seit dem Ende der 1980er-Jahre steigt zwar das Interesse der Bevölkerung an Patientenverfügungen, jedoch werden sie in der wissenschaftlichen Literatur eher am Rande und im Zusammenhang mit Thematiken wie Sterbehilfe, Patientenaufklärung und neuen Richtlinien zum Umgang mit Patienten in der Sterbephase thematisiert. Die 1990er-Jahre können als Wendepunkt in der Debatte um das Verhältnis zwischen Arzt und Patient in Japan bezeichnet werden. Dies spiegelt sich darin wider, dass quantitative Studien ihren Fokus auf die Einstellungen von Ärzten zur Patientenaufklärung legen (vgl. Hattori et al. 1991; Kai et al. 1993) oder auf den Einsatz von wiederbelebenden oder lebenserhaltenden Maßnahmen (vgl. Asai et al. 1999; Fukaura et al. 1995). Die Praxis in Japan wird in diesen Studien meist durch einen Vergleich mit europäischen oder amerikanischen Daten kritisiert. Gegenstand der Kritik sind eine als unzureichend dargestellte Kommunikation zwischen Ärzten und ihren Patienten, das hierauf zurückzuführende mangelnde Wissen der Ärzte darüber, welche Behandlungen ihre Patienten wünschen, die fehlende Einbeziehung des Patienten in medizinische Entscheidungen, die verbreitete Praxis, vor allem bei Krebs-Erkrankungen den Patienten nicht über die Diagnose und Prognose aufzuklären, sowie ein international vergleichsweise exzessiver Einsatz lebenserhaltender Maßnahmen bei Patienten in der Sterbephase. Asai et al. behandeln in ihrer Studie Ende der 1990er-Jahre die Einstellungen von Ärzten zu lebenserhaltenden Maßnahmen bei Komapatienten. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit nicht gewillt ist, grundlegende Maßnahmen zum Lebenserhalt (Ernährung und Flüssigkeitszufuhr) bei dauerhaft bewusstlosen Patienten einzustellen, auch wenn dies dem Willen des Patienten entspräche und die Familie diesen Wunsch äußert. In diesem Zusammenhang erwähnen die Autoren jedoch, dass 91 Prozent der Ärzte angaben, eine Patientenverfügung könnte ihre Entscheidung beeinflussen. Doch konnte die Mehrheit der Ärzte (82 Prozent) bis zum Zeitpunkt der Befragung auf keine Erfahrungen mit Patientenverfügungen zurückgreifen. Nur 3 Prozent der Ärzte gaben an, zwischen zehn und hundert Patienten mit Patientenverfügungen behandelt zu haben und nur 15 Prozent der Ärzte hatten zu zehn oder weniger Patienten mit Patientenverfügung Kontakt gehabt (vgl. Asai et al. 1999: 305 f.). Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen auch Fetters und Danis in einer qualitativen Studie zu Do-Not-Resuscitate-Anordnungen (DNR-Anordnungen) in
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US-amerikanischen und japanischen Krankenhäusern Anfang der 1990er-Jahre. Sie stellen fest, dass in Japan Behandlungswünsche von Patienten nur in den seltensten Fällen bekannt und Patientenverfügungen kaum verbreitet sind. Sie merken jedoch an, dass das Interesse an Patientenverfügungen steigt und eine Problematisierung von Entscheidungsfindungen zum Lebensende begonnen hat (vgl. Fetters/Danis 2002: 147). In einer explorativen Studie mit Internisten stellen Asai et al. fest, dass die von ihnen interviewten Ärzte durchaus bereit seien, Behandlungen ohne Aussicht auf Erfolg zu unterlassen und Patientenverfügungen als Instrument zu betrachten, durch das der Behandlungsrahmen abgesteckt werden kann. Die Autoren schlussfolgern, dass häufig durch die Interaktion zwischen Ärzten und Angehörigen die Beachtung des Patientenwillens gehemmt werde (vgl. Asai et al. 1997: 325 f.). Neben weiteren Studien zur Einstellung von Ärzten zu Behandlungen in der Sterbephase betonen die Autoren die Notwendigkeit, die Einstellungen von Patienten und ihren Angehörigen in die Forschung mit einzubeziehen (vgl. ebd.: 327). Die genannten Studien lassen die Problemlage erkennen, wie sie insbesondere während der 1990er-Jahre diskutiert wurde. Wenn in ihnen von Patientenverfügungen die Rede ist, dann verweisen die Autoren vor allem auf die geringe Verbreitung oder auf die Möglichkeiten, die durch Patientenverfügungen für eine verbesserte Einbeziehung des Patienten in medizinische Entscheidungsfindungen gegeben wären. Das hier skizierte Problembewusstsein wird im folgenden Kapitel ausführlich thematisiert und in den breiteren Kontext bioethischer Debatten eingeordnet. Es ist vor allem für das Verständnis der Fallstudien hilfreich, da sich die Erzählungen meiner Interviewpartner zu ihren Erfahrungen mit Krankheit und Sterben im Krankenhaus auf die 1990er-Jahre beziehen. Obwohl die oben genannten Studien von einer geringen Verbreitung von Patientenverfügungen sprechen, stieg das Interesse an Patientenverfügungen seit 1989 exponentiell an. Die ›Japan Society for Dying with Dignity‹ (kurz JSDD) vertreibt seit 1976 (damals unter dem Namen ›Japan Society for Euthanasia‹, kurz JSE) ein Formular für Patientenverfügungen und setzt sich aktiv für eine rechtliche Regelung der (passiven) Sterbehilfe ein. Da die Patientenverfügung der JSDD an eine Mitgliedschaft geknüpft ist, ist es möglich die Nachfrage nach Patientenverfügungen seit ihrer Einführung zu verfolgen. Betrachtet man die Mitgliederzahlen der JSDD so wird deutlich, dass Patientenverfügungen über einen längeren Zeitraum nur von einem sehr geringen Anteil der japanischen Bevölkerung verfasst wurden. Zum Ende ihres Gründungsjahres hatte die JSE 212 Mitglieder. Im Jahr 1979 wurde die Tausendergrenze überschritten und von 1980 bis 1987 verzeichnete die Organisation jährlich etwa
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100-200 neue Mitglieder. Im Jahr 1988 stiegen die Neuzugänge erstmals sprunghaft auf über 2000 Personen im Jahr an und die JSDD bezeichnet das Jahr 1989 – in dem die Mitgliederzahlen um mehr als 2500 Neuanmeldungen anstiegen – als das Jahr des Durchbruchs (vgl. Igata 2006: 83). Seitdem sind die Mitgliederzahlen stetig gestiegen und belaufen sich nach Angaben der JSDD im Jahr 2013 auf etwa 125.000 Personen (vgl. Igata 2013: 11). Zur Einstellung der Bevölkerung zu medizinischen Behandlungen in der Sterbephase werden vom japanischen Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt (›Ministry of Health, Labour and Welfare‹, kurz MHLW) seit 1987 regelmäßig etwa alle fünf Jahre Umfragen durchgeführt. Die Ergebnisse werden von den großen Tageszeitungen veröffentlicht, die teilweise auch selbst Befragungen durchführen. Mit der zunehmenden Verbreitung von Patientenverfügungen sind auch die Einstellungen der Bevölkerung zu Patientenverfügungen Gegenstand der Erhebung geworden. Die überregionale Tageszeitung Yomiuri Shinbun veröffentlichte 2009 eine Übersicht zur Entwicklung der Akzeptanz von Patientenverfügungen von 1998 bis 2008. Demzufolge stieg die Zustimmung in der Bevölkerung von 47,6 Prozent im Jahr 1998 auf 61,9 Prozent und unter Ärzten um etwa 10 Prozent auf 79,9 Prozent im Jahr 2008 (vgl. MHLW 2008 in Yomiuri Shinbun 2009). Es wurden auch vereinzelt Umfragen durchgeführt mit dem Ziel, genauere Daten zu den Einstellungen und Präferenzen der Bevölkerung hinsichtlich Patientenverfügungen zu erheben. Diese Studien sehen sich jedoch mit dem Problem konfrontiert, dass trotz einer hohen festgestellten Akzeptanz von Patientenverfügungen unter den Befragten (mehr als 60 Prozent), nur ein sehr geringer Prozentsatz von ihnen (weniger als 10 Prozent) eine Patientenverfügung verfasst hat (vgl. Miyata/Shiraishi/Kai 2006 und Akabayashi/Slingsby/Kai 2003). Masuda et al. führten Mitte der 1990er-Jahre aufgrund der steigenden Akzeptanz von Patientenverfügungen eine Umfrage unter Ärzten zu der Fragestellung durch, welchen Einfluss Patientenverfügungen auf medizinische Entscheidungen in der Sterbephase nehmen. Sie betonen in ihrem Artikel, dass bisher kaum empirische Arbeiten zu den Auswirkungen von Patientenverfügungen in Japan durchgeführt worden seien (vgl. Masuda et al. 2003: 248) und bezeichnen ihre Studie als erste großangelegte Untersuchung (vgl. ebd.: 252). Das Forscherteam nutzte Kontaktdaten der JSDD, die regelmäßig die Hinterbliebenen von verstorbenen Mitgliedern zum Einsatz der Patientenverfügung in der Sterbephase befragt. Von den auf diesem Weg ausgewählten 301 Ärzten, gaben 105 an, keine Patientenverfügung gesehen zu haben, trotz gegensätzlicher Aussage der Hinterbliebenen. Von den verbleibenden 196 Ärzten äußerten 144, sie hätten die Patientenverfügung befolgt: 103 gaben an, sie zum Anlass für Ge-
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spräche mit dem Patienten und/oder seinen Angehörigen genommen zu haben und 38 Ärzte äußerten, die Patientenverfügung habe einen Einfluss auf die Behandlung gehabt (vgl. ebd.: 250). Des Weiteren machten die Ärzte Angaben sowohl zu positiven als auch zu negativen Aspekten von Patientenverfügungen. Als positiv wurde gewertet, dass Überlegungen der Patienten in die Behandlungsentscheidung mit einbezogen werden können. Jedoch wurden auch Zweifel geäußert, ob der vorausverfügte Wille den aktuellen Wünschen des Sterbenden entspricht. Unter Umständen sei auch das Wissen der Patienten nicht ausreichend, um selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Einerseits hoben die Ärzte positiv hervor, dass sie sich durch die Patientenverfügung darin bestärkt sahen, palliative Maßnahmen einzuleiten; andererseits wurde in diesem Zusammenhang aber auch kritisch angemerkt, dass die Palliativmedizin in Japan nicht flächendeckend ausgebaut sei und die ärztliche Ausbildung zum Umgang mit sterbenden Patienten verbessert werden müsse. In Bezug auf die Interaktion mit der Familie wurde der Patientenverfügung eine positive Funktion als Kommunikationsinstrument zugeschrieben. Bemängelt wurde, die Angehörigen würden sich teilweise dermaßen darauf konzentrieren, die Wünsche des Patienten zur Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen durchzusetzen, dass sie einer angemessenen Pflege in der Sterbephase zu wenig Aufmerksamkeit zukommen ließen. Als zusätzliches Problem wurden Angehörige genannt, die der Patientenverfügung nicht zustimmten. Weitere Bedenken betrafen die Schwierigkeit, die Patientenverfügung zu interpretieren, um sie auf die konkrete Situation und die individuellen Umstände des Patienten zu beziehen. Unsicherheiten bestanden auch bezüglich der Feststellung, ob die Krankheit in die terminale Phase übergegangen ist. Zudem wurde die Sorge geäußert, Patientenverfügungen könnten auch für Zustände eingesetzt werden, in denen noch Aussichten auf Heilung bestehen (vgl. ebd.: 250 f.). Die geringe Anzahl empirischer Studien zu Patientenverfügungen in Japan ist keine Besonderheit, sondern entspricht der niedrigen Aufmerksamkeit, welche die Alltagswirklichkeit von Patientenverfügungen bisher weltweit erfahren hat. Die Ethnologin Michi Knecht nennt für Japan zwei Autorinnen, die sich mit Sterben in Krankenhäusern, Hospizen und Pflegeheimen auseinandergesetzt haben (vgl. Knecht 2008: 175): Margaret Lock (2002), die sich intensiv aus kulturanthropologischer Perspektive mit Hirntod und Organtransplantationen in Japan beschäftigte und Susan O. Long, die während mehrerer Feldforschungsaufenthalte in japanischen Krankenhäusern zum Umgang mit Krebsdiagnosen (zusammen mit Bruce D. Long 1982) und zu Entscheidungsfindungen in der Sterbephase (Long 2000, 2001a, 2001b, 2002, 2004, 2005) forschte. Besonders die
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Veröffentlichungen, die auf Longs Feldforschung Mitte der 1990er-Jahre basieren, sind für diese Arbeit sehr aufschlussreich. Long erwähnt Patientenverfügungen unter dem Aspekt ›neue Arten des Sterbens‹ und nimmt Bezug auf die Entstehungsgeschichte der JSE/JSDD, sowie ihren Einfluss auf die Verbreitung des Terminus songenshi (Sterben in Würde). Jedoch befinden sich unter den von ihr untersuchten Fallbeispielen keine Verfasser von Patientenverfügungen, was unter Umständen an der Verbreitung von Patientenverfügungen zum Zeitraum ihrer Feldforschung liegen mag. Long verweist in ihren Veröffentlichungen stets auf die Notwendigkeit, die Perspektive der Patienten durch qualitative Studien mehr in die Forschung einzubeziehen (vgl. Long 2000: 236 f.; 2001a: 63; 2001b: 271 f; 2002: 311 f.). Die regelmäßigen Umfragen der Ministerien zur Einstellung der Bevölkerung gäben zwar Aufschluss über den Grad der Akzeptanz, jedoch liefern sie keine Erklärungen und sagen wenig darüber aus, wie in konkreten Situationen entschieden wird. Den herkömmlichen demografischen Kategorien, nach denen die Studien aufgebaut sind, schreibt Long nur eine geringe Bedeutung für den Umgang mit Krankheit und Tod in akuten Situationen zu. Vielmehr sei das Handeln der Betroffenen durch ihre Erfahrungen mit Krankheit und Sterbenden geprägt (vgl. Long 2002: 311 f.). Auch im deutschsprachigen Raum wurden bisher nur wenige Studien durchgeführt, die Patientenverfügungen aus der subjektiven Perspektive der Verfasser thematisieren (vgl. Roy et al. 2002: 72). Von besonderem Interesse sind die Veröffentlichungen einer österreichischen Forschergruppe, die nach der Verabschiedung des österreichischen Patientenverfügungsgesetzes an obligatorischen Beratungsgesprächen zwischen Ärzten und Patienten sowie Anwälten und Patienten beobachtend teilnahm (vgl. Inthorn 2008 und 2009). Diese Studie wird im Kapitel zu den Deutungen der Patientenverfügung durch meine Interviewpartner näher vorgestellt und Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet. Neben den empirischen Arbeiten sind auch der wissenschaftliche und öffentliche Diskurs zu Patientenverfügungen eine wichtige Quelle. Insbesondere da seit Sommer 2012 im japanischen Parlament zwei Gesetzentwürfe zur Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen und Patientenverfügungen diskutiert werden.
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1.3 T HEORETISCHER H INTERGRUND UND METHODISCHES V ORGEHEN Um die subjektiven Bedeutungszuschreibungen von Personen zu analysieren, die Patientenverfügungen verfasst haben, eignet sich der Symbolische Interaktionismus als handlungstheoretischer Hintergrund. Soziale Welt(en) werden im Symbolischen Interaktionismus als Zusammensetzungen aus physikalischen, sozialen und abstrakten Objekten verstanden. Diese Objekte werden durch ihre Bedeutungen bestimmt, die in sozialen Interaktionen gebildet werden (vgl. Blumer 2013: 75). Gemäß den Grundannahmen des Symbolischen Interaktionismus handelt der Mensch aufgrund der Bedeutungen, welche die Objekte seiner Wahrnehmung1 für ihn haben. Handeln ist demnach nicht primär von äußeren Faktoren verursacht oder auf psychische Reize und Zustände zurückzuführen (vgl. ebd. 64 ff.). Bedeutungen entstehen in sozialer Interaktion dadurch, wie die einzelnen Personen einem Wahrnehmungsobjekt gegenüber handeln. Sie sind demnach »soziale Produkte« (ebd.: 67), veränderlich und wandelbar und können je nach sozialem Kontext variieren. Wenn Personen handeln, bedienen sie sich der Bedeutungen, jedoch wenden sie bestehende Bedeutungen nicht automatisiert an, sondern beziehen sich in einem Interpretationsprozess auf die Bedeutungen. Laut Blumer geschieht dies in zwei Schritten. Zunächst zeige sich das Individuum in einem internalisierten Prozess das Wahrnehmungsobjekt und seine Bedeutung an. Es findet mit anderen Worten eine Interaktion mit sich selbst statt, in der das Objekt des Handelns in seiner Bedeutung wahrgenommen wird. Durch den Kommunikationsprozess mit sich selbst, stelle der Handelnde im zweiten Schritt einen Zusammenhang zwischen der Bedeutung des wahrgenommenen Objektes, der interpretierten Situation und der beabsichtigten Richtung seines Handelns her (vgl. ebd.: 68): »Accordingly, interpretation should not be regarded as a mere automatic application of established meanings but as a formative process in which meanings are used and revised as instruments for the guidance and formation of action. It is necessary to see that meanings play their part in action through a process of self-interaction.« (Blumer 2001: 103)
1
Darunter können physische Gegenstände, Menschen oder Kategorien von Menschen, Institutionen, Werte und Normen, Handlungen anderer Personen und Situationen fallen (vgl. Blumer 2013: 64).
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Dem Begriff der Interaktion kommt eine Schlüsselfunktion sowohl für die Formung von Bedeutungen und dem Aufbau von Handlungen als auch für die Bildung des Selbst zu. Nach George Herbert Mead unterscheidet Blumer in zwei Formen oder Ebenen der Interaktion: In die Konversation durch Gesten und den Gebrauch signifikanter Symbole. Die erste Ebene bezeichnet Blumer auch als »nichtsymbolische Interaktion« (Blumer 2013: 72). Hierunter versteht er die unmittelbare Reaktion eines Individuums auf die Handlung eines anderen, ohne dass eine Interpretation der Handlung oder der Situation stattgefunden hat. Die zweite Ebene der Interaktion stellt die symbolische Interaktion dar. Sie wird vermittelt durch signifikante Symbole oder Gesten. Gesten werden als Zeichen verstanden, die anzeigen, was jemand zu tun beabsichtigt. Während in der ersten Form der Interaktion das Individuum die Geste nicht interpretiert und sie nicht als Symbol deutet, sondern schlicht reagiert, wird die Geste auf der Interaktion zweiter Ebene als Symbol für eine Handlungsintention gedeutet. Die Geste vermittelt somit auf der einen Seite die Bedeutungszuschreibung desjenigen der handelt und wird andererseits vom Interaktionspartner interpretiert. Stimmen die Bedeutungen, die beide Interagierenden mit der Geste verbinden, überein, kann es zu einer gemeinsamen Handlung kommen. Ist der symbolische Gehalt der Geste für beide nicht der gleiche, kommt es zu Missverständnissen. In der symbolischen Interaktion wird demnach stets versucht, die Bedeutungen der Handlung in der spezifischen Situation zu erfassen (vgl. ebd.: 72 f.). Der theoretische Ansatz des Symbolischen Interaktionismus ermöglicht es, menschliches Handeln nicht allein als Ausdruck der individuellen Persönlichkeit zu begreifen, sondern stets als soziales Handeln zu verstehen. Da durch die Betrachtung des Selbst aus der Perspektive des generalisierten Anderen im Sozialisationsprozess gesellschaftliche Erwartungen, Regeln und Normen internalisiert und zu einem Teil des Selbst werden (vgl. Mead 2013: 193 ff.; Blumer 2013: 74, 77 f. und s. Kapitel 5.1), kann davon ausgegangen werden, dass anhand der Analyse von Bedeutungszuschreibungen auch Aussagen über gesellschaftliche Konventionen getroffen werden können. Allein durch die Sprache und Erzählkonventionen ist der Einzelne an bestimmte narrative Muster gebunden, mittels derer eigene Entscheidungen und Handeln sowie das Verständnis des Selbst inszeniert werden. Gängige Argumentationsformen und gesellschaftliche Erwartungen dienen der Orientierung, um die eigene Entscheidung zu erzählen und mit der Lebensführung im Einklang darzustellen. Narrationsmuster, soziale Normen und Erwartungen determinieren jedoch keinesfalls die Entscheidungen, sondern werden in kreativen (Erzähl-)Akten herangezogen, um die Entscheidung zu begründen, sie werden umgedeutet, neu kombiniert oder auch zurückgewiesen.
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Um die Bedeutungszuschreibungen der Verfasser von Patientenverfügungen analysieren zu können, muss demnach eine Methode gewählt werden, die den Interviewten einen möglichst großen Spielraum lässt, ihre eigenen Deutungen und die für sie relevanten Objekte zu benennen und darzustellen. Da es um die Rekonstruktion der Bedeutungskategorien geht, die für die Verfasser relevant sind, sollte das Auswertungsverfahren Konzepte generieren, die in den empirischen Daten begründet sind. Im Folgenden werden zunächst der Feldzugang und die Auswahl der Interviewpartner sowie die Wahl der Erhebungsmethode dargelegt, um sodann das methodische Vorgehen bei der Auswertung der Interviews und die Entstehung dieses Textes zu erläutern. Ziel ist es, das Vorgehen offenzulegen und die eigene Forscherrolle im Feld zu reflektieren, um sodann auf die Grenzen des methodischen Vorgehens zu verweisen. Dadurch soll auch der Weg, der zu den präsentierten Erkenntnissen führte, nachvollziehbar und die Ergebnisse auf einer theoretischen Ebene überprüfbar werden. 1.3.1 Feldforschung und Feldzugang Die Feldforschungsphase erstreckte sich von Anfang August bis Ende September 2009. Für den Feldzugang wählte ich mehrere Wege, für die verschiedene Kontaktpersonen in Japan bedeutsam waren. Die Auswahl der Interviewpartner erfolgte über das sogenannte Schneeball-Prinzip. Als Kriterium für die Auswahl galt, dass die Personen eine Patientenverfügung verfasst haben. Aufgrund der zeitlichen Begrenzung der Feldforschungsphase auf zwei Monate fanden die ersten Kontaktaufnahmen bereits per E-Mail vor dem Aufenthalt in Japan statt. Um Personen zu finden, die eine Patientenverfügung verfasst haben, bot sich eine Kontaktaufnahme zur JSDD an. Ein Mitarbeiter der Organisation (Herr Watanabe2) erklärte sich selbst für ein Interview bereit, stellte mir eine weitere Interviewpartnerin (Frau Chibana) vor und vermittelte einen Kontakt zum Vorsitzenden der JSDD Süd-Japan. Dieser organisierte ein Gruppeninterview (Ehepaar Fukui), an dem er selbst auch teilnahm. Meine anfänglichen Bedenken, durch die JSDD vermittelte Interviewpartner könnten die offizielle Position der Organisation vertreten oder zu sehr in die Aktivitäten der JSDD involviert sein, haben sich nicht bestätigt. Als weiteren Feldzugang wählte ich ein Hospiz, in dem ich mich für mehrere Tage zur teilnehmenden Beobachtung aufhielt. Von besonderem Interesse waren die Aufnahmegespräche mit Bewerbern für einen Hospizplatz und die Teambesprechungen. Dort konnte ich einen Einblick in die Aufnahmeprozedur gewin-
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Alle Interviews wurden anonymisiert und fiktive Namen gewählt.
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nen und sehen, wie die offiziellen Aufnahmebedingungen an die individuellen Umstände der Patienten angepasst werden.3 Teil des offiziellen Fragenkatalogs während der Aufnahmegespräche war auch die Frage, ob eine Patientenverfügung existiert. Während des zweimonatigen Zeitraums hatte keiner der Patienten eine Patientenverfügung. Jedoch konnte ich eine der Krankenschwestern (Frau Kondo), die eine Patientenverfügung verfasst hat, für ein Interview gewinnen. Sie vermittelte mir ihren Ehemann (Herrn Kondo) als weiteren Interviewpartner. Als Vermittler für Interviewpartner spielten auch Professoren japanischer Universitäten (Soziologen und Philosophen) eine wichtige Rolle. Auf diesem Weg wurde mir Frau Ono vorgestellt. Ein weiterer wichtiger Kontakt war eine Masterstudentin (Frau Tanaka), die ihre Abschlussarbeit über Entscheidungsfindungen bei Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) schrieb. Sie wurde mir von ihrem Betreuer (Herrn Yamamoto) vorgestellt und vermittelte mir drei Interviewtermine. ALS ist eine Erkrankung des motorischen Nervensystems, bei der die Betroffenen mit fortschreitendem Krankheitsverlauf zunehmend an Lähmungserscheinungen und Krämpfen leiden. Ursachen der Krankheit sowie wirksame Heilmethoden sind nicht bekannt. Da auch die Atemmuskulatur von Lähmungserscheinungen betroffen ist, steht für die Patienten ab einem bestimmten Zeitpunkt im Krankheitsverlauf die Entscheidung an, ob sie sich dauerhaft invasiv beatmen lassen. Durch die künstliche Beatmung kann die Lebenszeit um mehrere Jahrzehnte verlängert werden, jedoch schreitet die Degeneration des motorischen Nervensystems weiter voran, sodass die meisten Patienten fast vollständig gelähmt sind, jedoch bei vollem Bewusstsein, da die kognitiven Fähigkeiten meist nicht betroffen sind (vgl. JALSA zitiert in Tateiwa 2005b: 10; Borasio/Gelinas/Yanagisawa 1998: S7; Smyth et al. 1997: S93). Während der Planungsphase des Forschungsaufenthalts schienen bei der Sichtung der in Deutschland zugänglichen Literatur die Krankheitsbilder Krebs, irreversibles Koma und Demenz im Mittelpunkt der Diskussionen zu stehen.
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Obwohl die Kosten für den Hospizaufenthalt von der gesetzlichen Krankenkasse nur für Krebs- und AIDS-Patienten übernommen werden, hat das von mir besuchte Hospiz ein bis zwei Betten für Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) reserviert. Während meines Aufenthalts lebte eine ALS-Patientin in diesem Hospiz. Bei einem der ersten Aufnahmegespräche, das ich beobachten konnte, bewarb sich eine weitere ALS-Patientin für einen Platz, die zum Ende meines Aufenthalts im Hospiz aufgenommen wurde. Weitere Anpassungen der Aufnahmebedingungen betrafen die Voraussetzung, dass der Patient über die Diagnose und Prognose seiner Krankheit aufgeklärt ist.
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Doch schon zu Beginn der Feldforschung kam ich immer wieder mit ALSPatienten in Kontakt. Einerseits über das besuchte Hospiz, in dem ich auf zwei ALS-Patienten traf, die sich gegen die invasive Beatmung entschieden hatten, sowie durch die Kontaktaufnahme zu einem Netzwerk, das sich gegen eine rechtliche Regelung von Patientenverfügungen einsetzt und in dem ALSPatientengruppen sehr aktiv sind.4 Durch den Kontakt zu Frau Tanaka bot sich sodann die Möglichkeit, Interviews mit ALS-Patienten zu führen. Frau Tanaka organisierte für mich ein Interview mit einer ALS-Patientin, die sich gegen die invasive Beatmung entschieden hat (Frau Minami), einem Interviewpartner, der sich für die Beatmung entschieden hat (Herr Ida)5, sowie einem ALS-Patienten, der sich nicht entscheiden kann
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Bei der Suche nach Gegnern einer rechtlichen Regelung zu Patientenverfügungen wurden mir Tateiwa Shinya, Kawaguchi Yumiko und Hashimoto Misao als Unterstützer der ›Vereinigung, die eine Gesetzgebung zur Euthanasie und zum Sterben mit Würde verhindert‹ (Anrakushi Songenshi Hôseika wo Soshi Suru Kai, kurz Soshi Suru Kai) vorgestellt. Der Soziologe Tateiwa (Ritsumeikan Universität) ist durch seine Publikationen zur japanischen Behindertenbewegung, ALS und durch seine Gegenposition zum Recht auf Sterben bekannt. Kawaguchi schrieb unter anderem eine Monografie über die langjährige Pflege ihrer an ALS erkrankten Mutter und ist in verschiedenen ALS-Unterstützernetzwerken aktiv. Nach meinem Forschungsaufenthalt war sie im Jahr 2012 eine der Initiatorinnen bei der Umgestaltung des Soshi Suru Kai zur ›Vereinigung von Bürgern, die eine Gesetzgebung zum Sterben mit Würde nicht billigen‹ (Songenshi no Hôseika wo Mitomenai Shimin no Kai). Die in der Öffentlichkeit durch Fernsehreportagen und ihre Biografie (Yamazaki 2006) bekannte ALS-Patientin Hashimoto lebt seit etwa 20 Jahren mit einem invasiven Beatmungsgerät und setzt sich dafür ein, dass sich mehr ALS-Patienten gegen den Tod und für die invasive Beatmung entscheiden. Ihr Beispiel diente meinen an ALS erkrankten Interviewpartnern als Kontrastfolie zur Darstellung ihrer eigenen Position. Viele Informationen zur künstlichen Beatmung, zum alltäglichen Umgang mit dem Heimbeatmungsgerät und auch zur Kommunikation über Augenbewegungen oder mithilfe einer Silbentabelle habe ich durch meine Besuche bei Hashimoto und durch Gespräche mit Kawaguchi erfahren. Die Interviews mit ihnen ebenso wie mit neun weiteren Experten (vier Ärzte, ein medical social worker, ein Philosoph, ein Historiker und zwei Leiter einer Pflegeeinrichtung für Demenzkranke) wurden nicht ausgewertet, sondern dienten mir zum Einstieg und zur weiteren Orientierung im Forschungsfeld.
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Aufgrund des fortgeschrittenen Krankheitsstadiums bei Herrn Ida war seine Atmung bereits eingeschränkt, sodass er trotz Sprechhilfe im Interview nur schwer zu verste-
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(Herr Jômon). Durch die interviewten ALS-Patienten wurde das Untersuchungsfeld erweitert und die Perspektive von Menschen mit einbezogen, die nicht für eine mögliche Krankheit Entscheidungen im Voraus treffen, sondern sich aufgrund einer chronischen Erkrankung mit einer konkreten Entscheidungssituation konfrontiert sehen. Durch die subjektiv geäußerte Entscheidungsunfähigkeit von Herrn Jômon ergab sich des Weiteren ein interessanter Fall zur Kontrastierung. Er ist der einzige Interviewtpartner ohne Patientenverfügung. Das Alter der zehn Interviewten liegt zum Zeitpunkt der Interviews (August und September 2009) zwischen Mitte 40 und 88 Jahren. Sechs Interviewpartner sind über 70 Jahre alt (Frau Chibana, das Ehepaar Fukui, Frau Ono, Herr Watanabe und der Vorsitzende der JSDD Süd-Japan) und vier sind zwischen Mitte 40 und 53 Jahren alt (Herr Jômon, das Ehepaar Kondo und Frau Minami). Da das Alter kein Auswahlkriterium war, hat sich diese Altersverteilung unbeabsichtigt ergeben, ebenso die Geschlechterverteilung von 50:50.6 Obwohl der Kontakt zu etwa der Hälfte der Interviewpartner nicht über die JSDD zustande kam, ist Frau Ono die Einzige, die nicht Mitglied in der JSDD ist. Die anderen haben eine Patientenverfügung der JSDD, die bei Frau und Herrn Kondo durch eine handschriftliche Patientenverfügung ergänzt wird. Frau Minami hat eine Kopie ihrer Mitgliedskarte mit Konkretisierungen versehen und zusätzlich eine Notfallkarte für Patienten mit schweren neuronalen Erkrankungen. Die Interviewten leb(t)en in Großstädten, die jeweils in unterschiedlichen Regionen Japans liegen: Fünf der Interviewten wohn(t)en in Kantô (Herr Watanabe, Frau Chibana, das Ehepaar Kondo und Frau Ono) und die ALS-Patienten in Chûbu (Frau Minami und Herr Jômon), beides Regionen auf der japanischen Hauptinsel. Das Gruppeninterview (der Vorsitzende der JSDD Süd-Japan und das Ehepaar Fukui) fand in Süd-Japan auf der Insel Kyûshû statt. Da die Forschungsfrage auf die Deutung der Patientenverfügung aus der Perspektive der Verfasser abzielte, habe ich die Methode des narrativen Interviews (nach Schütze 1983) gewählt, um den Interviewten einen möglichst großen Freiraum zu bieten, ihre subjektiven Bedeutungszuschreibungen im Interview zu
hen war und die Audioaufnahme nicht transkribiert werden konnte. Aus diesem Grund konnte das Interview leider nicht berücksichtigt werden. 6
Nach Angaben der JSDD sind über zwei Drittel der Mitglieder Frauen und 80 Prozent der Mitglieder 65 Jahre alt oder älter. Da Herr Jômon keine Patientenverfügung hat, müsste er aus meinem Sample herausgenommen werden, doch auch dann liegen die unter 65-Jährigen noch bei einem Drittel der Interviewpartner und der Männeranteil bei fast der Hälfte. Somit sind die jüngeren und männlichen Befragten in größerer Zahl vertreten als ihr Anteil in der JSDD beträgt.
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entwickeln.7 Die Befragten können durch diese Form der Datenerhebung selbst sinnhafte Zusammenhänge zwischen Erfahrungen und eigenen Wertvorstellungen herstellen sowie weitere Aspekte zur Sprache bringen, denen sie Bedeutung für ihre Entscheidungsfindung zuschreiben, zum Beispiel ihr soziales Umfeld, Vorstellungen zu Leben und Tod, aber auch Einstellungen zur modernen Medizintechnik und eventuelle Wünsche, Ängste oder Verunsicherungen. Zunächst wurde den Interviewpartnern erklärt, dass mein Interesse ihrer persönlichen Geschichte gilt und dass ich ihnen hauptsächlich zuhören und nicht viele Fragen stellen werde. Da aufgrund der Fragestellung nur ein bestimmter Ausschnitt der Lebensgeschichte im Fokus des Untersuchungsinteresses stand, wurden die Interviewten nicht aufgefordert, ihre gesamte Lebensgeschichte zu erzählen, sondern wie es dazu kam, dass sie eine Patientenverfügung verfasst haben, oder bei den ALS-Patienten, wie es zu ihrer Entscheidung zur Beatmungsfrage gekommen ist. Die Interviewten konnten selbst wählen, wo sie mit ihrer Erzählung einsetzen und wie sie die Erzählung zur Patientenverfügung in den größeren Kontext ihrer Lebensgeschichte einordnen oder ob sie es bei einer Erzählung zu ihrer Patientenverfügung belassen. An die erste Stegreiferzählung schloss ein Nachfrageteil an, in dem durch erzählgenerierende Anschlussfragen einzelne Aspekte vertieft oder zusätzliche Erzählungen angestoßen wurden. Teilweise wurden zum Ende des Interviews auch Fragen zur verwendeten Terminologie gestellt wie der Bedeutung von ›würdevollem Sterben‹ (songenshi) oder ›lebensverlängernden Maßnahmen‹ (enmei sochi). Durch meinen Status als ›Forscherin aus dem Ausland‹ erklärten mir einige Interviewpartner während des Interviews verschiedene Redewendungen oder spezielle Begriffe. Diese zusätzlichen Präzisierungen führten auch zu weiteren Erläuterungen in Bezug auf kulturelle Aspekte – zum Beispiel zu Beerdigungen oder buddhistischen Totennamen –, von denen sie annahmen, dass mir diese
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Einige der Interviews weichen von der klassischen Methode des narrativen Interviews ab. Dabei handelt es sich vor allem um Interviews, die nicht in einer 1:1-Situation stattfanden, da meine Kontaktpersonen teilnahmen (das Interview mit dem Ehepaar Fukui sowie die Interviews mit den ALS-Patienten Frau Minami und Herr Jômon). Die Anwesenheit bekannter Personen schien zu einer vertrauten und entspannten Atmosphäre beizutragen. Teilweise haben diese Interviews nach einer ersten Stegreiferzählung eher episodischen Charakter und die situativ hergestellten Bedeutungszuschreibungen beziehen nicht nur meine Person als Forscherin mit ein, sondern berücksichtigen auch die Positionen der anderen Anwesenden. Besonders interessant für die Auswertung waren auch Aushandlungen von Bedeutungen, die in der Interviewsituation zwischen den einzelnen Personen stattfanden.
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Praktiken unbekannt sind. Manche Interviewpartner verglichen auch die Situation in Japan mit ihren Vorstellungen von Deutschland oder dem ›Westen‹. In diesem Kontext bezogen sie sich auf religiöse Vorstellungen, stellten Japan in Bezug auf die Aufklärung und Einbeziehung des Patienten in medizinische Entscheidungsfindungen als ›rückständig‹ dar oder äußerten ihr Interesse an der Situation in Deutschland und fragten nach. Teilweise thematisierten sie auch persönliche Bezüge zu Deutschland oder dem Ausland. Auf diese Weise ergänzten die Interviewten ihre Erzählungen um eine vergleichende Perspektive zwischen Japan und Deutschland oder dem ›Westen‹ und brachten ihre Vorannahmen zu meiner Person zum Ausdruck. In Bezug auf Interviews in Japan ist in der Forschungsliteratur geäußert worden, dass es zur Schaffung eines Vertrauensverhältnisses wichtig sei, von einer Kontaktperson vorgestellt zu werden und sich vor dem Interview ein oder zwei Mal zum Kennenlernen zu treffen (vgl. Gabbani-Hedman 2006: 121 f.). Aus organisatorischen Gründen war es mir häufig nicht möglich, mich mehrere Male mit meinen Interviewpartnern zu treffen. Das Interview fand in den meisten Fällen nach einer kurzen Vorstellung meiner Person und meines Forschungsprojektes beim ersten Treffen statt. Vor allem bei den ALS-Patienten war es von Vorteil, dass meine Kontaktperson Frau Tanaka ein sehr vertrautes Verhältnis zu den Interviewpartnern aufgebaut hatte und sie und ihr Mann während des Interviews ebenfalls anwesend waren. Auch Verweise darauf, wen ich schon zuvor kennengerlernt hatte, schienen die Vertrauensbasis zu fördern und boten Anknüpfungspunkte für Vergleiche der eigenen Position. 1.3.2 Vom Interview zum Text: methodisches Vorgehen nach der Grounded Theory Die Audioaufnahmen der Interviews wurden transkribiert und anonymisiert. Da bei der Auswertung die gesellschaftlichen Wirklichkeiten von Patientenverfügungen im Vordergrund standen, wurden sie hinsichtlich der im Interview vorgenommenen subjektiven Deutungen in Anlehnung an das Verfahren der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967; hier in der Ausgabe von 2009a) kodiert. Der Kodier-Prozess steht im Mittelpunkt des Verfahrens der Grounded Theory. Ihm liegt die Idee zugrunde, Konzepte zu generieren, die fest in den Daten verankert sind. Das Ziel des Forschungsprozesses ist es, aus den Daten theoretische Erklärungen zu gewinnen, die in den empirischen Daten verwurzelt sind (vgl. Strübing 2008: 20). Um das Kodieren als analytischen Prozess zu systema-
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tisieren wird er von Strauss8 in drei Arbeitsstufen unterteilt: offenes Kodieren, axiales Kodieren und selektives Kodieren. Durch das offene Kodieren sollen die Daten zunächst aufgebrochen werden. Aus dem empirischen Material werden in einem analytischen Prozess über Indikatoren (vorläufige) Konzepte herausgearbeitet, die dann in einem nächsten Arbeitsschritt zu Kategorien verdichtet werden. Als Indikatoren werden dabei in den empirischen Daten vorhandene Verhaltensmuster oder Ereignisse (empirische Phänomene) bezeichnet. Diese werden miteinander verglichen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet, um sie zu Klassen oder Bündeln von Indikatoren zusammenzufassen. Ein solches Bündel von Indikatoren verweist auf ein Konzept (vgl. Strauss 1998: 54 f.). Die Kodierung ist breit angelegt: Es werden zunächst alle möglichen Konzepte generiert, die in dieser Phase noch ungeordnet und ohne Zusammenhänge zu einander stehen (vgl. Strübing 2008: 20 f.). Dadurch soll vermieden werden, dass die Daten unter ›fremde‹ Konzepte subsumiert werden. Es soll gewährleistet werden, dass die Konzepte tatsächlich aus den Daten generiert werden (vgl. Strübing 2008: 21). Ziel ist es »Konzepte zu entwickeln, die den Daten angemessen erscheinen« (Strauss 1998: 58). Alles auf dieser ersten Stufe Generierte ist provisorisch. Die Reflexion über die entstehenden Konzepte soll neue Fragen und vorläufige Antworten aufwerfen, die den Forscher durch den Forschungsprozess leiten. Strauss betont, dass der phantasievolle Umgang mit den Daten in diesem ersten Schritt wichtig sei. In diesem Arbeitsschritt komme es weniger darauf an, ›richtige‹ Interpretationen zu finden, als die Daten für die nächsten Schritte aufzubereiten, in denen berichtigt wird und Unstimmigkeiten bereinigt werden. Strauss betont hier auch die Bedeutung des Kontextwissens und die Kenntnis der Fachliteratur, die seiner Meinung nach mit in den Kodier-Prozess einbezogen werden sollten und wichtig für die Entwicklung der Konzepte seien (vgl. Strauss 1998: 58). Im zweiten Arbeitsschritt werden die Beziehungen zwischen den einzelnen Konzepten herausgearbeitet und durch Vergleiche überprüft, um durch Abstraktionen Kategorien zu bilden. Kategorien sind den Konzepten übergeordnet und
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In der ursprünglichen Fassung der Grounded Theory bei Glaser und Strauss (1967) waren noch keine Arbeitsschritte oder -stufen vorgesehen. Sie wurden erst im Laufe der Zeit – auch zur besseren Lehrbarkeit des Verfahrens – eingeführt. Dabei schieden sich die Wege von Glaser und Strauss. Neben kleineren und größeren Abweichungen voneinander teilte Glaser den Kodier-Prozess in zwei und Strauss in drei Stufen ein (vgl. Strübing 2008: 19). Die folgenden Darstellungen beziehen sich auf die Weiterentwicklung nach Strauss.
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sozusagen abstraktere, theoretische Konzepte (vgl. Strübing 2008: 21, Fußnote 11). Beim axialen Kodieren werden demnach um die Achse einer Kategorie herum die Beziehungen zu anderen Konzepten und Kategorien herausgearbeitet. Auf diesem Weg bilden sich langsam zentrale Kategorien heraus, die als Kandidaten für die Schlüsselkategorie in Frage kommen (vgl. Strauss 1998: 101 f.). Im dritten Kodier-Schritt werden die bisher gewonnenen Konzepte selektiv in Beziehung zu den entstandenen Kandidaten für die Schlüsselkategorie gesetzt und gegebenenfalls neu kodiert. Ziel ist es, die Schlüsselkategorie zu identifizieren und alle anderen Kategorien zu ihr in Bezug zu setzen (vgl. Strübing 2008: 20). Die bisherigen Kategorien werden überarbeitet, die Bezüge der einzelnen Subkategorien zur Schlüsselkategorie systematisch herausgearbeitet und ihre Bedeutung für die Gesamtfragestellung überprüft (vgl. Strübing 2008: 21). Die Analyse soll nun mehr Konsistenz in die Beantwortung der Forschungsfrage bringen. Da bisher relativ frei kodiert wurde, spiegeln die entstandenen Konzepte unterschiedliche Perspektiven wieder, die durch den Bezug auf eine Schlüsselkategorie in eine einheitliche Perspektive zusammengebracht werden. Ergeben sich mehrere Schlüsselkategorien, dann seien sie zumeist Antworten auf Variationen der Fragestellung (vgl. Strübing 2008: 22). Im konkreten Arbeitsverlauf dieser Studie bedeutete dies, dass zunächst einzelne Transkriptionen kodiert und sodann weitere Interviews hinzugezogen wurden, um neue Konzepte zu generieren oder bestehende auszuarbeiten. Standen zunächst einzelne Konzepte mehr oder weniger geordnet nebeneinander, war es im Verlauf der Arbeit zunehmend möglich Konzepte zueinander in Bezug zu setzen und übergeordnete Kategorien zu erarbeiten. Die Befragten antworteten auf die Einstiegsfrage mit Erzählungen, wie sie von der Möglichkeit einer Patientenverfügung erfahren haben (von wem, wann, zu welcher Gelegenheit oder wodurch), ob oder wann und wodurch sie dieser Möglichkeit für die eigene Lebensführung Relevanz zugeschrieben haben und welche Erfahrungen in ihrer Erinnerung ausschlaggebend waren. Sie problematisierten auf der Grundlage ihrer Erfahrungen mit medizinischen Entscheidungsfindungen bestimmte Umgangsweisen mit Kranken und Sterbenden und sprachen über Konflikte mit Ärzten und Angehörigen oder auch über innere Konflikte mit ihrer stellvertretenden Entscheidungsfindung für einen sterbenden Angehörigen. Sie äußerten sich zu Verunsicherungen, die sich bei ihnen einstellten, und ein Gefühl der Sicherheit, das durch die Patientenverfügung wieder hergestellt wurde. In den Anlasserzählungen kristallisierte sich schon bald die Kategorie ›Problembewusstsein‹ heraus. Diese Kategorie wurde weiter verfeinert und in die Dimensionen direkte oder indirekte Betroffenheit, konkretes und generelles Problembewusstsein und konkrete und generelle Erfahrungen differenziert. Zu-
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dem wurden verschiedene Bedeutungszuschreibungen der Patientenverfügung herausgearbeitet, die sich auf die Erfahrungen der Interviewten bezogen. Durch eine Systematisierung der Bedeutungen konnte in verschiedene Funktionen der Patientenverfügung unterschieden werden. Es gab weitere Kodes, die sich zwar unter ›Problembewusstsein‹ integrieren ließen, die jedoch auf Kategorien verweisen, die über die Patientenverfügung hinaus Relevanz haben. Es handelt sich um Konzepte, welche unter die abstrakteren Kategorien ›Lebenszeit‹9 und ›Selbstbilder‹10 subsumiert wurden. Durch Bezüge auf diese abstrakteren Kategorien deuteten die Interviewten die Patientenverfügung und wiesen ihr Relevanz für ihr Leben zu, erklärten ihre Entscheidung und betteten sie in ihre Lebensgeschichte ein. 1.3.3 Hindernisse bei der Anwendung des Verfahrens und die Grenzen der Methode Das Ziel von Glaser und Strauss war es, ein Verfahren zu beschreiben, mit dem substanzielle oder formale Theorien entwickelt werden können, die in den empirischen Daten begründet sind (vgl. Glaser/Strauss 2009a: 79 ff.). Auch wenn bestimmte Arbeitsschritte erst nach anderen erfolgen können, weisen sie stets darauf hin, dass der Forschungsprozess als ständiges Wechselspiel zwischen Datenerhebung, Kodieren und dem Schreiben von (theoretischen) Memos sei (vgl. Glaser/Strauss 2009a: 101-113). Schon während der Datenerhebung sollte mit dem Kodieren und der Entwicklung vorläufige Hypothesen begonnen werden. Die vorläufigen Hypothesen sollen den Forscher bei der Auswahl leiten, welche Daten als nächstes erhoben werden, um die Hypothesen zu überprüfen und die Theoretisierung voranzutreiben (vgl. Strauss 1998: 70 f.).
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Bei der Kategorie ›Lebenszeit‹ handelt es sich um Äußerungen zum Alter, Erwartungen zur eigenen Lebenszeit, Vorstellungen zur sinnvollen Gestaltung der Lebenszeit, zum guten Timing des Todes, Äußerungen, ab welchem Zeitpunkt ein Weiterleben nicht mehr als erstrebenswert erachtet wird oder auch ob die eigene Existenz mit dem Tod endet.
10 Unter die Kategorie ›Selbstbilder‹ wird das Verständnis der sozialen Einbettung, der sozialen und familiären Rollen sowie den damit verbundenen Erwartungen und Verpflichtungen gefasst. Des Weiteren werden hier Selbstinszenierungen als selbstständig, selbstbestimmt oder verantwortungsbewusst thematisiert und die Suche nach einer Entscheidung, die der eigenen Person entspricht oder einer Sterbephase, die mit dem Selbstbild in Einklang steht.
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Dieses ›theoretical sampling‹ genannte Vorgehen setzt voraus, dass das Forschungsfeld jederzeit zugänglich ist oder zumindest mehrmals längere Phasen im Feld verbracht werden können. Aufgrund zeitlicher sowie finanzieller Möglichkeiten wurde die Feldforschungsphase meiner Studie auf einen einmaligen Aufenthalt beschränkt. Die Auswertung der empirischen Daten fand hauptsächlich nach dem Aufenthalt in Japan statt. Bei vielen Fragen, die sich aus der Kodierung eines Interviews ergaben, war es möglich, durch Vergleiche und Kontrastierungen mit anderen Fallbeispielen Hinweise oder Antworten zu finden. Dies waren die produktiven Momente während des axialen oder auch selektiven Kodierens, wenn sich einzelne Kodes oder Kategorien zueinander in Bezug setzen ließen und sich auf diese Weise immer mehr zu einem Ganzen fügten. Teilweise ergaben sich jedoch auch Fragen – die im Sinne von Glaser und Strauss als ›vorläufige Hypothesen‹ verstanden werden können –, die nicht anhand des erhobenen Materials weiterverfolgt werden konnten. Da die Suche nach einer Erklärung im Feld durch die Erhebung neuer Daten nicht möglich war, sind diese Fragen offen geblieben. Sie stellen lohnenswerte Anknüpfungspunkte für folgende Untersuchungen oder Weiterführungen dieser Studie dar. Ferner ist es wichtig zu berücksichtigen, dass durch das methodische Vorgehen Momentaufnahmen und situativ hergestellte Bedeutungszuschreibungen eines recht kleinen Personenkreises festgehalten wurden. Es werden hier somit keine repräsentativen Ergebnisse vorgestellt, sondern es geht darum, ein neues Forschungsfeld zu eröffnen, relevante Bedeutungsstrukturen zu rekonstruieren und komplexe Zusammenhänge des untersuchten Forschungsfeldes darzustellen. Durch die Annahmen des Symbolischen Interaktionismus, dass Bedeutungen stets in Interaktion sozial konstruiert werden, erlangen die Darstellungen über die subjektiven Bedeutungszuschreibungen hinaus an Relevanz. Jedoch gehören Patientenverfügungen auch zu einem Problemfeld, das sich stark wandelt. Vor allem in den letzten Jahren finden im Zusammenhang mit einem Wandel des Verhältnisses zwischen Arzt, Patient und Angehörigen und einer Gesetzesinitiative zu Patientenverfügungen – um nur zwei Rahmenbedingungen zu nennen – vielfältige Veränderungen statt. Diese Veränderungen wirken sich wiederum auf die Erfahrungen und die subjektive Perspektive der Verfasser von Patientenverfügungen aus. Eine substanzielle Theorie ist durch die Kodierung der InterviewTranskriptionen und Bezüge zum Diskurs nicht entstanden. Vielmehr handelt es sich um eine Rekonstruktion, welche Konzepte für die Entscheidungsfindung ›Patientenverfügung‹ und die subjektiven Deutungen der Patientenverfügung Relevanz haben.
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1.4 D ER AUFBAU Der Aufbau orientiert sich an der Schlüsselkategorie und ihren Unterkategorien. Ich stelle zunächst die konkreteren Konzepte vor und schreite dann zu den abstrakteren weiter vor. Da Patientenverfügungen und vor allem ihre zunehmende Akzeptanz ein relativ neues Phänomen sind, wird im folgenden Kapitel zunächst dargestellt, seit wann und in welchen Kontexten Sterben und insbesondere der Umgang mit Sterbenden im Krankenhaus problematisiert wurde. Es werden verschiedene Diskurse skizziert, in denen das Verhältnis zwischen Arzt, Patient und Angehörigen sowie medizintechnische Entwicklungen thematisiert werden. Dabei verfolge ich die Fragestellung, wie das Lebensende als eine Phase im Lebenslauf konstruiert wird, die selbst gestaltet werden kann. Des Weiteren wird anhand des Diskurses zur Sterbehilfe die Entstehung der heutigen Terminologie zurückverfolgt, es werden die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Sterbehilfe erläutert und ein Wandel in der Rechtsprechung zur aktiven Sterbehilfe vorgestellt – von der Rechtfertigung einer möglichen Straffreiheit durch Mitleid hin zur Betonung der Selbstbestimmung des Patienten. Vor diesem Hintergrund wird im Kapitel zur Patientenverfügungsdebatte das Angebot der JSDD vorgestellt sowie ihr Ziel, eine rechtliche Absicherung von Patientenverfügungen zu erwirken. Den Argumentationen der JSDD werden sodann ausgewählte Positionen von Gegnern eines Gesetzes zur Sterbehilfe und zu Patientenverfügungen gegenübergestellt. Anschließend an die Patientenverfügungsdebatte, werden das subjektive Problembewusstsein der Verfasser von Patientenverfügungen und ihre Deutungen der Patientenverfügung vorgestellt sowie verschiedene Funktionen der Patientenverfügung, die aus den Deutungen abgeleitet werden können. Das Kapitel zu den Kategorien ›Lebenszeit und Timing‹ beginnt mit theoretischen Überlegungen zum Konzept der ›Lebenszeit‹. Es wird in einem kurzen historischen Rückblick dargestellt, wie sich moderne, westliche Zeitkonzepte durch einen Übersetzungsprozess in Japan verbreiteten. Durch eine Institutionalisierung und Standardisierung der Lebensläufe wurde die Grundlage gelegt, die eigene Lebenszeit als selbstgestaltbare Zeit aufzufassen und somit auch die letzte Phase des Sterbens durch Entscheidungen zu gestalten. Anhand von zwei Fallbeispielen wird verdeutlicht, wie Krankheitsdiagnosen als Bruch im Lebenslauf aufgefasst werden und zu einer Neuausrichtung der Biografie führen, in der das Verständnis der verbleibenden Lebenszeit und ihrer Gestaltung eine bedeutende Rolle spielt. Im zweiten Teil dieses Kapitels geht es unter dem Konzept ›Timing‹ um die Erwartungen zur eigenen Lebenszeit und Reflexionen über die Risiken des Alterns. In diesem Zusammenhang werden auch verschiedene Ideal-
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vorstellungen des guten Todes besprochen. Den Abschluss bilden Vorstellungen darüber, ob die Existenz mit dem Tod endet oder die Verstorbenen nach dem Tod in einer anderen Welt weiter existieren. Im Kapitel zur Kategorie des Selbst werden die Selbstbilder der Interviewten in Bezug auf ihre Entscheidungsfindungen thematisiert. Nach einer kurzen Darstellung zum Verständnis der sozialen Rolle und dem Konzept des Selbst nach G.H. Mead werden die Selbstdarstellungen der Interviewten hinsichtlich ihrer sozialen und familiären Rollen sowie ihren Vorstellungen zu Verantwortung, Selbstständigkeit und Abhängigkeit vorgestellt. Ein wichtiges Motiv stellt hierbei die Suche nach einer dem Selbstbild entsprechenden Entscheidungsfindung dar oder die Vorstellung, im Einklang mit dem eigenen Selbstverständnis sterben zu wollen. Abschließend werden die Ergebnisse meiner empirischen Studie vor dem Hintergrund der soziokulturellen Entwicklungen seit der Einführung von Patientenverfügungen diskutiert. Hier wird erläutert, inwiefern die Patientenverfügung als Ausdruck einer Individualisierung des Sterbens gesehen werden kann und welche Rahmenbedingungen verwirklicht sein müssen, damit das Instrument der Patientenverfügung als Stärkung der Patientenautonomie und als freie Willensbekundung des Individuums verstanden werden kann.
2 Neues Problembewusstsein: Wie das Lebensende zur selbstgestaltbaren Phase des Lebens wurde In recent decades, how to die has been added to the realm of what we can choose. Death has been medicalized and technologized; our options appear to be expanded by new technology and new institutional structures. [...] An individual may choose to reject food and water, while our society decides whether to make physicianassisted suicide a legal option. Since both decisions are based on values concerning suicide and autonomy, individual choice and societal choice are in fact interdependent. LONG 2005: 5-6
Der Gedanke selbst zu entscheiden, wie wir sterben wollen – welche Behandlungsmöglichkeiten wir zum Lebensende in Anspruch nehmen oder nicht bzw. unter welchen Umständen weiterleben für uns erstrebenswert erscheint –, ist jüngeren Datums und setzt spezifische Prozesse der Wissenskommunikation und rationalen Begründung voraus. Die Sterblichkeit des Körpers und das Wissen um die eigene Endlichkeit beschäftigen seit jeher menschliche Gemeinschaften und Individuen und führten zu zahlreichen Bestrebungen, einen kohärenten Sinnzusammenhang zwischen Leben und Sterben zu schaffen, um der Bedrohung zu begegnen, die vom Tod für den Einzelnen und die Gemeinschaft ausgeht (vgl. u.a. Hahn 1968: 2-20; Seale 1998: 50-71). Doch erlangte der eigene Tod als gestaltbare Wahlmöglichkeit erst mit den Debatten zu Sterbehilfe und Patientenverfügungen breitere öffentliche Aufmerksamkeit. Zahlreiche Veränderungen in der medizinischen Versorgung, demografischen Entwicklung, wohl-
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fahrtsstaatlichen Absicherung und im Wandel des Verhältnisses zwischen Arzt und Patient sowie der Rolle der Angehörigen führten dazu, dass das Lebensende als Bereich aufgefasst wird, den der Einzelne durch seine Entscheidungen gestalten kann oder soll. In den Diskussionen drückt sich ein neues Problembewusstsein aus, das begründet wird durch einen Wandel des Sterbens und neue gesellschaftliche Sinngebungen des Todes. Seinen Anfang nahm die Thematisierung vom Wandel des Sterbens in Europa mit der Postulierung des Todes als Tabu (Gorer 1955) und der Rede von der Medikalisierung des Sterbens. Durch die Hospitalisierung Sterbender und die Professionalisierung des Todes hätten traditionelle Umgangsformen mit Tod und Trauer keine Verbindlichkeit mehr (Ariès 1977; hier 2005: 741). Auch die Experten im Umgang mit dem Tod wie Geistliche, Ärzte und Lehrer scheinen ihre Funktion als Berater und »gute-Gründe-Lieferanten« (Nassehi 2010) im Modernisierungsprozess verloren zu haben. Die These von der Individualisierung des Todes prägt in den letzten Jahren den Diskurs und begründet neue Institutionalisierungen im Umgang mit Sterbenden wie Hospize und Patientenverfügungen. Das neue Problembewusstsein und der Wandel von Bedeutungszuschreibungen sind selbst zum Diskursthema geworden. Die Gegenwart wird als eine Situation wahrgenommen, in der neue Formen des Umgangs mit einer Pluralisierung von Handlungsmöglichkeiten und Einstellungen gefunden werden müssen. In vielen Darstellungen wird die Neuartigkeit der momentanen Situation durch einen Verweis auf die rasante Entwicklung der heutigen Problemlage verdeutlicht. Die vergangenen Umgangsformen mit dem Tod werden in diesem Zuge als einheitliches und verbindliches, gesellschaftlich geteiltes Wissen dargestellt, denen gegenüber die gegenwärtige Lage als komplex und ambivalent erscheint (vgl. Ariès 2005). Im Folgenden wird skizziert, wie dieses neue Problembewusstsein diskursiv entstanden ist und in Japan seinen Ausdruck findet. Ziel ist es zu zeigen, wie der Tod in den Bereich des Selbst-Entscheidbaren rückte. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie das Wissen um den (eigenen) Tod und seine Kommunizierbarkeit thematisiert werden. Ein weiterer Fokus liegt auf der Rationalisierung dieses Wissens und der Frage, welche Werte zur Begründung von Entscheidungen zum Lebensende herangezogen werden. Anhand von Fallbeispielen wird verdeutlicht, wie das neue Problembewusstsein in der Alltagswirklichkeit der Betroffenen zur Sprache kommt. Die Fallbeispiele eröffnen die Möglichkeit, den Wertewandel, der dem neuen Problembewusstsein zugrunde liegt, nachzuzeichnen und neue Formen der Institutionalisierung im Umgang mit Sterben/den aufzuzeigen.
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2.1 S TERBEN IM S PANNUNGSVERHÄLTNIS ZWISCHEN T ABUISIERUNG , M EDIKALISIERUNG UND NEUEN B EDEUTUNGSZUSCHREIBUNGEN In den ausgehenden 1950er und vor allem in den 1960er-Jahren rückte der gesellschaftliche Umgang mit Tod und Sterben als Problemfeld in das sozial- und geschichtswissenschaftliche Interesse. Andrew Bernstein schreibt zum Wandel von Begräbnissen in Japan, dass viele Untersuchungen geprägt seien durch einen »discourse of the vanishing« (Bernstein 2006: 9), in dem das Verschwinden überlieferter Bräuche und die Verbannung des Todes aus der Öffentlichkeit beklagt werden. Auf der anderen Seite richteten reformorientierte Gruppierungen ihren Blick kritisch auf die Entwicklungen und forderten neue Umgangsweisen. Unter anderem geriet die Kommerzialisierung des Todes durch die Bestattungsbranche in den Fokus der Kritik. Im Jahr 1968 veröffentlichte die Sôshiki Kaikaku Suru Kai (Vereinigung zur Reformierung von Bestattungen) ihr Buch Sôshiki muyôron (On the uselessness of funerals; Bernstein 2006: 9). Die Vereinigung wurde von dem Gynäkologen Ôta Tenrei mit dem Ziel gegründet, Bestattungen zu vereinfachen und zu rationalisieren. In diesem Kontext fanden auch Diskussionen zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod sowie aus aktuellen Anlässen zur Sterbehilfe statt, sodass die Sôshiki Kaikaku Suru Kai zur Vorbereitungsgruppe für die Gründung der Nihon Anrakushi Kyôkai (Japan Society for Euthanasia, kurz JSE)1 wurde (vgl. Igata 2006: 7 f.), die bis heute ein einflussreicher Akteur in der Debatte um Sterbehilfe und Patientenverfügungen ist. Als einer der Ersten vertrat der englische Sozialwissenschaftler Geoffrey Gorer 1955 die provokante These der »Pornography of Death«. Aufgrund eigener Erfahrungen und Beobachtungen schloss Gorer, der Tod habe als neues gesellschaftliches Tabu das alte viktorianische Tabu der Sexualität abgelöst. 2 Seine
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Die JSE benannte sich 1983 in Nihon Songenshi Kyôkai (Japan Society for Dying with Dignity, kurz JSDD) um.
2
Gorer setzt in seinem Essay bei der Beobachtung an, dass die junge Generation der 1950er-Jahre im Gegensatz zu seiner Generation häufig nicht auf persönliche Erfahrungen mit dem Tod zurückgreifen kann. Diese Entwicklung führt er auf eine verbesserte medizinische Versorgung und die Verlagerung des Todes ins Krankenhaus zurück sowie eine Tabuisierung des Todes innerhalb der Familie. Die Mysterien ›Sex‹ und ›Tod‹ weisen seiner Meinung nach große Parallelen auf, da typische Emotionen wie Liebe oder Trauer in den Darstellungen keinen oder kaum Platz hätten und sie nicht in ihrer ›natürlichen‹ Form thematisiert würden, sondern als Extreme mit dem
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These vom Tabu des Todes wurde von dem französischen Historiker Philippe Ariès aufgegriffen. Ariès macht neben Industrialisierung und Urbanisierung die Technisierung der Gesellschaft und speziell die Medikalisierung für den Wandel des Sterbens verantwortlich. Die fortschreitende Medikalisierung des Todes seit dem späten 19. Jahrhundert habe zur Verdrängung des Todes aus der Öffentlichkeit in die Privatheit geführt. Zugespitzt wurde die Tabuisierung durch die Hospitalisierung der Sterbenden, die einer Verbannung des Todes in die Isolation des Krankenhauses gleichkomme. Bis ins 19. Jahrhundert sei der öffentliche Tod das Ideal in Europa gewesen und durch Traditionen ermöglicht worden, die ihre Verbindlichkeit im Zuge der fortschreitenden Modernisierung verloren haben. Für den Tod im Europa der Nachkriegszeit prägte Ariès den Ausdruck »der ins Gegenteil verkehrte Tod« (Ariès 2005: 716), da dieser im Verborgenen stattfinde. Als Folge der Medikalisierung des Todes fand eine Professionalisierung statt: Sterben und vor allem die Definition des Todes wurden auf messbare, physiologische Daten reduziert, für deren Deutung der Arzt der wissenschaftlich ausgebildete Experte ist. Er deutet nicht nur die Symptome, sondern kontrolliert auch das Wissen über den Zustand des Erkrankten und die möglichen Behandlungen. Das Krankenhaus wurde zum neuen Ort des Sterbens, wo in Form von Fachwissen und medizinischen Apparaturen die Expertise zur Hinauszögerung und zum Kampf gegen den Tod zur Verfügung steht. Ariès Geschichte des Todes (1977/2005) wurde weltweit rezipiert und erlangte großen Einfluss. Ende der 1990er-Jahre nahm der Jurist und Bioethiker Kimura Rihito in einem Artikel zu Tod, Sterben und Patientenverfügungen in Japan die These der Tabuisierung des Todes auf und wendete sich kritisch der Medikalisierung des Todes zu. Er bemängelt, dass traditionelle, soziokulturelle Elemente des Sterbens immer mehr in Vergessenheit geraten. Die kulturelle Deutung des Todes als Teil des natürlichen Sterbeprozesses – wie sie beispielsweise in der zen-buddhistischen Auffassung von Leben und Tod als zwei Seiten desselben Phänomens zum Ausdruck komme – verliere immer mehr an Bedeutung und werde durch ein neues, medizintechnologisches Todeskriterium ersetzt, das den Sterbeprozess auf einen Todeszeitpunkt reduziert (vgl. Kimura 1998: 187).
Ziel die Sinnesreize zu steigern (vgl. Gorer 1955: 51). Gorer bezieht sich bei seinem Vergleich auf die Literatur der 1950er-Jahre, in welcher der Tod meist als gewaltsam dargestellt werde. Einen ästhetischen Wert der Darstellungen verneint er und kritisiert den Charakter der Ersatzbefriedigung. Er plädiert für einen offenen und öffentlichen Umgang mit Tod und Trauer (vgl. ebd.: 52).
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Kimura sieht vor allem in der Bewertung des Todes als negativem Ereignis ein Charakteristikum der Tabuisierung. In der japanischen Vergangenheit sei es durchaus möglich gewesen, Sterben als positives Ereignis zu interpretieren. Er verweist auf historische Persönlichkeiten, die im Angesicht des nahenden Todes Gedichte, sogenannte jisei, schrieben, oder auf die positive Bewertung des Selbstmordes, wenn das eigene Leben geopfert wurde für Ideale, deren Wert höher eingestuft wurde als das biologische Leben. Heutzutage unterscheide sich die Sterbesituation in Japan durch die Dominanz der biomedizinischen Perspektive auf den Tod und den Einsatz medizintechnischer Apparate zu seiner Bekämpfung im Krankenhaus kaum noch von der Situation in anderen postindustriellen Gesellschaften (vgl. Kimura 1998: 187 f.). Kimura wendet sich Ende der 1990er-Jahre einem Wandel der Sichtweise von Tod und Sterben zu, den er im Sinne der These vom Tod als Tabu interpretiert. In seinem Artikel erfüllt diese Passage die Funktion, einem internationalen Publikum das soziokulturelle Hintergrundwissen zur Sichtweise von Tod und Sterben in Japan zu vermitteln, um über ausgewählte Sterbehilfefälle und die Verbreitung von Patientenverfügungen zu sprechen. Die Tabuisierung und Medikalisierung des Todes dienen ihm als Anknüpfungspunkte für die Gemeinsamkeiten der Entwicklungen in Japan, den USA und Europa, von denen er die ›verlorenen kulturellen Traditionen‹ als spezifisch japanische Charakteristika absetzt. Gemeinsamkeiten erscheinen durch diese Darstellung als Resultate von Modernisierung und Technisierung. Unterschiede im Umgang mit Patientenverfügungen oder im Verhältnis zwischen Arzt und Patient versucht Kimura durch Überreste kultureller Traditionen zu erklären. ›Kultur‹ und ›Tradition‹ werden somit hauptsächlich in der Vergangenheit verortet. Sie sind zum einen Elemente, deren ›Verschwinden‹ bedauert wird. Andererseits liefern ihm die weiterhin vorhandenen Elemente Erklärungsansätze für Differenzen und Japans (scheinbares) Verweilen in paternalistischen Strukturen. Dass eine Erklärung der Differenzen allein durch Kultur und Traditionen zu kurz gegriffen ist, wird im Laufe dieses Kapitels verdeutlicht. Diese Art der Darstellung ist jedoch keine Seltenheit und vor allem in den Veröffentlichungen über das Arzt-Patienten-Verhältnis in Bezug auf Japan weit verbreitet. Seit den 1990er-Jahren wird die These vom Tabu des Todes in Japan aber auch vermehrt aufgrund ihrer begrenzten Erklärungskraft in Frage gestellt (vgl. Bernstein 2006: 10). So kritisiert beispielsweise der Sozialwissenschaftler Tateiwa Shinya, dass häufig durch die Rede von der Tabuisierung des Todes die Vergangenheit idealisiert und neue Entwicklungen nicht thematisiert werden. Es sei nicht zu leugnen, dass sich die Bedeutung des Todes und der gesellschaftliche Umgang mit Sterbenden verändert habe, jedoch seien nicht nur alte Riten verschwunden und der
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Tod aus dem Alltag verdrängt worden, sondern es hätten sich auch neue Umgangsweisen entwickelt. Durch die demografische Entwicklung in modernen Gesellschaften sei zwar die Sterblichkeit gesunken, jedoch die Sterbephase im Vergleich zur Vergangenheit auch länger geworden. Zudem begünstige der Einsatz technischer Apparate in der Medizin, dass die Familie rechtzeitig vor dem Eintritt des Todes am Sterbebett erscheinen kann – aus diesen Gründen müsste vielmehr davon die Rede sein, dass der Tod in der gegenwärtigen Gesellschaft im Erleben der Angehörigen näher gerückt ist (vgl. Tateiwa 2008: 62-64). Die 1990er-Jahre können in Japan als Höhepunkt der Problematisierung des gesellschaftlichen Umgangs mit Krankheit und Tod bezeichnet werden, doch liegt der Beginn der Debatte zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahrzehnte zurück. Wann genau und in welchem Kontext sich dieses Problembewusstsein entwickelte, ist schwer festzumachen. Es gibt weder ein bestimmtes Ereignis das als Anfangspunkt der Entwicklung bezeichnet werden könnte noch einen speziellen Diskurs. Vielmehr sind es mehrere Ereignisse, Entwicklungen und auch verschiedene Diskurse, die zur Entstehung eines Problembewusstseins führen, das sich in den 1980er- und 1990er-Jahren verdichtet und breitere öffentliche Aufmerksamkeit erlangt. 2.1.1 Das Krankenhaus als Ort des Sterbens: Interaktionen und Bewusstheitskontexte Betrachtet man die Entwicklungen in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg, spiegeln die Zahlen zum Sterbeort die Hospitalisierung der Sterbenden wider: Während in der Nachkriegszeit noch 80 Prozent der Bevölkerung zu Hause starben und ihre Zahl bis in die 1970er-Jahre nicht unter 50 Prozent fiel, kam es in den 1980er- und 1990er-Jahren zu einer zunehmenden Hospitalisierung der Sterbenden, sodass im Jahre 2002 die Zahl der Sterbefälle im Krankenhaus bei 78,6 Prozent lag (vgl. Long 2005: 34). Doch sagen diese Werte wenig über den gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod im Krankenhaus aus. Die Gründe für die Hospitalisierung sterbender Menschen sind vielfältig. Auch die Bedeutungszuschreibungen zum Krankenhaus als Ort des Sterbens haben sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Häufig wird Elisabeth KüblerRoss’ On Death and Dying (1969/2012) als eine der ersten und bedeutendsten Studien weltweit genannt, die Sterbende und ihre individuellen Erfahrungen in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen rückte. Die Psychologin stellt in ihrem Buch ein Fünf-Stufenmodell vor, wie Sterbende mit ihrer Diagnose und Prognose umgehen und welche Bewältigungsstrategien sie entwickeln. Ihre Studie wird heute rückblickend als wichtiger Beitrag gesehen, der in den USA die
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gedankliche Grundlage für die Übernahme der Hospiz-Idee der britischen Ärztin Cicely Saunders legte (vgl. den einleitenden Essay des Palliativmediziners Christoph Student in Kübler-Ross 2012: 14). Wenige Jahre vor Kübler-Ross’ Veröffentlichung stellten die amerikanischen Soziologen Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss ein neues Problembewusstsein der Öffentlichkeit und der Wissenschaft bezüglich Sterben und Medizintechnik fest, das sie im demografischen Wandel der amerikanischen Gesellschaft begründet sahen. Die Autoren schreiben Mitte der 1960er-Jahre, der rapide ansteigende Anteil alter Menschen in der amerikanischen Gesellschaft werfe neue Fragen auf persönlicher sowie gesellschaftlicher Ebene hinsichtlich der Folgen der neu gewonnenen Langlebigkeit auf. Unter anderem stelle sich die Frage nach dem Umgang der alternden Generation mit der immer höher werdenden Lebenserwartung und dem Wissen, dass mit steigendem Alter das Risiko für chronische Krankheiten zunimmt. Zudem sei die Einstellung zum Tod in das Forschungsinteresse der Geriatristen gerückt. Vor allem die in der amerikanischen Öffentlichkeit laut gewordene Kritik an vermeintlich sinnlosen lebensverlängernden Maßnahmen in Krankenhäusern habe Fragen zu Tod und Sterben in der amerikanischen Gesellschaft geweckt (Glaser/Strauss 2009b: vii). Glaser und Strauss sehen ihre eigene Studie Awareness of Dying (1965/2009b) als Teil dieses neuen Problembewusstseins, grenzen ihr Forschungsinteresse jedoch von den bisherigen Studien ab. Da das Krankenhaus zum Hauptsterbeort geworden ist, untersuchen sie, wie hier mit dem Tod umgegangen wird. Ihr Fokus liegt auf den Interaktionen zwischen sterbenden Patienten, Ärzten und pflegendem Personal (Glaser/Strauss 2009b: viii). Entstanden ist eine Studie darüber, wie Interaktionskontexte geschaffen werden abhängig davon, wer über welches Wissen vom nahenden Tod verfügt oder vorgibt zu wissen bzw. nicht zu wissen. Die theoretische Fassung in vier Bewusstheits-Zusammenhänge (awareness contexts) – closed awareness, suspicious awareness, mutual pretense und open awareness – spiegelt eine differenzierte Sicht auf das aufkommende kritische Problembewusstsein ihrer Zeit und die viel diskutierte Frage, ob Sterbende über ihren nahenden Tod aufgeklärt werden sollten oder nicht. Im Jahr 1982 veröffentlichten die amerikanische Kulturanthropologin Susan O. Long und der Arzt Bruce D. Long die Ergebnisse ihrer Feldforschung zu Interaktionen zwischen Krankenhauspersonal, Krebspatienten und ihren Angehörigen in japanischen Krankenhäusern. Anhand ihrer Vergleiche zwischen dem Umgang mit Krebsdiagnosen in den USA und Japan wird den Autoren bewusst, welchen enormen Wandel der Umgang mit Sterbenden in den USA seit der Studie von Glaser und Strauss vollzogen hat.
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Krebs hat in Japan zum Untersuchungszeitpunkt von Long und Long nach zerebrovaskulären Erkrankungen als zweithäufigste Todesursache die alten Infektionskrankheiten wie Tuberkulose abgelöst und nimmt eine besondere Stellung unter den chronischen Krankheiten in Japan ein. Die Autoren erklären, dass im Gegensatz zu anderen, ebenso lebensbedrohlichen Krankheiten wie kongestive Herzinsuffizienz oder Zirrhosen, die zwischen Arzt und Patient offen diskutiert werden, Krebsdiagnosen nur selten den Patienten mitgeteilt würden: »Japanese patients having terminal cancer are generally not told their true diagnosis. Japanese physicians deem it unethical to reveal a ›death sentence‹ and the patient’s family provides support by reassuring the patient that he will recover.« (Long/Long 1982: 2101)
Die Interpretation einer Krebsdiagnose als gleichbedeutend mit einem Todesurteil sei in der japanischen Bevölkerung weit verbreitet (s. auch OhnukiTierney 1984: 61). Unter den Ärzten herrsche weitestgehend Einvernehmen darüber, dem Patienten die Diagnose nur mitzuteilen, wenn der Krebs heilbar ist. Wenn sich der Krebs hingegen in einem fortgeschrittenen oder bereits im Endstadium befindet, würden die meisten Ärzte ihre Patienten nicht informieren (vgl. Long/Long 1982: 2102). Statt den Patienten über seinen Krankheitszustand aufzuklären, beobachteten Long und Long, dass die Ärzte – wenn sie überhaupt von den Patienten auf die Diagnose angesprochen wurden – häufig von einer ›Lungenentzündung‹ sprachen, wenn es sich um Lungenkrebs handelte, von einem ›gutartigen Tumor‹ bei Magenkrebs oder schlicht und einfach von ›Entzündungen‹. Nebenwirkungen der Chemotherapie würden als Folge von ›starken Medikamenten‹ erklärt (vgl. ebd.: 2103). Bei chirurgischen Eingriffen sei es nicht immer möglich die Diagnose zu verschweigen, vor allem bei Krebsarten wie Brustkrebs wenn im Nachhinein sichtbare körperliche Veränderungen zurückbleiben: »In cases where the patient will be disfigured by the surgery, as in breast cancer, the patient may also be aware of the diagnosis, at least post-operatively. After the operation, the patient is told that all of the cancer was removed. Some patients, however, still need ›strong drugs‹ for ›inflammation‹.« (Long/Long 1982: 2104)
Selbst wenn der Patient im Nachhinein die wahre Diagnose erahne, werde ihm selten die ganz Wahrheit mitgeteilt, sondern der Zustand beschönigt. Die Autoren erklären das Verhalten der Ärzte damit, dass die Erhaltung und Wahrung des Patientenlebens den Ärzten als oberste Pflicht gelte und als ein fester Bestandteil der medizinischen Ethik jungen Ärzten während ihrer Ausbildung vermittelt
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werde. Von den Ärzten werde erwartet, dass sie bis zuletzt um das Leben ihres Patienten kämpfen, auch wenn sie es nur um Sekunden verlängern können. Komplementär zur Rolle des Arztes wird die Rolle des Patienten bestimmt. Von ihm werde erwartet, dass er sein Bestes gibt, um zu leben. Das Verschweigen der Diagnose wird in diesem Sinne erklärt: Dem Patienten solle nicht die Hoffnung genommen werden, damit er ebenfalls bis zum Ende kämpft und sein Leben nicht aufgibt. Obwohl die von Long und Long interviewten Ärzte keine konkreten Fälle als Anhaltspunkte nennen konnten, befürchteten viele unter ihnen, dass eine Aufklärung über den tatsächlichen Krankheitszustand den Patienten veranlassen könnte sich umzubringen. Sich selbst aufzugeben werde von ihnen ebenso als passiver Selbstmord interpretiert. Die Hoffnungen des Patienten auf Besserung zu erhalten und ihn davor zu schützen den Lebensmut zu verlieren, werde von den Ärzten als moralisch höheres Gut bewertet, als ihm die Wahrheit zu sagen – auch auf die Gefahr hin, dass er von seinem tatsächlichen Krankheitszustand erfährt und sein Vertrauen in den Arzt verliert (vgl. Long/Long 1982: 2103). Die Angehörigen hingegen würden in der Regel von den Ärzten über Diagnose und Prognose aufgeklärt. Meistens werde der Ehepartner oder bei älteren Menschen eines oder mehrere Kinder, vorzugsweise der älteste Sohn, informiert. Ihre Rolle bestimmen Long und Long als Vermittler zwischen Arzt, medizinischem Personal und Patient. In den meisten Fällen würden die Ärzte die Angehörigen nicht explizit bitten, dem Patienten die Wahrheit zu verschweigen, das sei selbstverständlich im Sinne einer stillschweigenden Übereinkunft, die von den Autoren als kulturelle Regel bezeichnet wird. Diese nonverbale Verständigung wird auch häufig als ishin denshin bezeichnet (vgl. Leflar 1996: 17). In der Rolle des Vermittlers werde von den Angehörigen erwartet, dass sie den Patienten zur Kooperation im Kampf gegen die Krankheit ermutigen, Stillschweigen bewahren und während des Krankenhausaufenthaltes Aufgaben in der Pflege übernehmen. Zu dieser äußerst schwierigen und belastenden Situation kommt erschwerend hinzu, dass sich durch die Krankheit des Patienten und seine Hospitalisierung die Verantwortlichkeiten in der Familie verschieben und die intrafamiliären Rollen und Aufgaben neu verteilt werden müssen. Zusätzlich sehen sich die Angehörigen mit der Aufgabe konfrontiert, mit ihren eigenen Emotionen und Ängste umzugehen und sie nach außen zu kontrollieren. Um das Schweigen nicht zu brechen und die Rollenerwartungen zu erfüllen, müssen sie ein hohes Maß an Selbstkontrolle aufbringen. Statt einem Nachlassen der Bemühungen, wenn sich der Patient immer weiter seinem Tod nähert, beobachten Long und Long eine Intensivierung des Kampfes um das Leben des Erkrankten (vgl. Long/Long 1982: 2104).
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Die Rolle des Patienten beschreiben die Autoren aus der Beobachterperspektive als emotional und physisch abhängig – sowohl vom Arzt als auch von den Angehörigen. Eine Charakterisierung der Patientenrolle aus Sicht des Patienten stößt an das praktische Problem, dass die Forscher nicht offen mit den Patienten über ihr eigenes Rollenverständnis und ihre Erwartungen an die Ärzte und Angehörigen sprechen können. Ob die Patienten ihre Diagnose erahnen, ist für die Forscher schwer zu beurteilen. In einigen Fällen seien die Angehörigen der festen Überzeugung, dass der Patient Bescheid weiß, ohne aufgeklärt worden zu sein oder dass er zumindest vermutet, wie es um ihn steht. Für Zweifel gebe es viele Anlässe: Von der Beobachtung der sich stetig verschlechternden körperlichen Verfassung über Veränderungen im Verhalten der Angehörigen oder Ärzte bis hin zu Ähnlichkeiten zwischen den eigenen Symptomen und anderen Patienten oder Beschreibungen von Krebs-Symptomen und speziellen Behandlungen (vgl. Long/Long 1982: 2105). Zu einer offenen Situation der Konfrontation oder einem Nachforschen und Austesten durch den Patienten – im Sinne von Glasers und Strauss’ suspicious awareness – komme es jedoch selten. Die Patienten wissen entweder nicht um ihren Zustand (closed awareness) oder sie geben trotz Vermutungen vor, nichts zu wissen (pretense). Long und Long zufolge entspricht das Mitspielen der erwarteten Komplementärrolle: »If the proper role for family members is to show concern and optimism, the proper response for the patient is to reassure them that they are being successful, that he is still fighting. He plays down the need for their concern. […] It seems that the more worried the family appears, the harder the patient must work at convincing them he is alright.« (Long/Long 1982: 2105)
Einige der Angehörigen gaben an, dass der Kranke nonverbal zu verstehen gab, er wolle nicht aufgeklärt werden, selbst wenn und obwohl die Angehörigen den Eindruck hatten, er vermute, wie es um ihn steht. Würde der Patient nachfragen und den Arzt mit seinen Vermutungen konfrontieren, dann würde er laut Long und Long die Rolle des Arztes infrage stellen. Einen anderen Beweggrund, nicht nach der Wahrheit über den eigenen Zustand zu fragen, bezeichnen die Autoren als Selbstschutz: Die Patienten würden es vermeiden, dass ihre schlimmsten Vermutungen bestätigt werden und die Gewissheit einer ›Wahrheit‹ erlangen (vgl. ebd.: 2106). Long und Long deuten das beobachtete Rollenverhalten als interaktiv ausgehandelte symbolische Bedeutungen im Umgang mit Krebsdiagnosen im Krankenhaus. In diesem Sinne stellen die Interpretationen der Rollen, durch die sich
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spezifische Handlungen, Abhängigkeitsverhältnisse und Formen nonverbaler Kommunikation ergeben, eine neue Umgangsweise mit Sterben und Tod im Krankenhaus dar, deren Bedeutungen über die konkreten Handlungen hinaus sinnstiftend sind. Durch die Institutionalisierung spezifischer Rollen und erwarteter Handlungen entstehen kulturelle Handlungsregeln, an denen sich die Betroffenen orientieren. Diese Regeln determinieren jedoch keinesfalls das Handeln. Die Verbindlichkeit der erwarteten Handlungen entsteht vielmehr erst durch Wiederholungen und Reproduktion. Gleichermaßen können Erwartungen und Handlungsregeln durch abweichendes Rollenverhalten neu ausgehandelt werden. Die Autoren vermuten 1982, dass sich der Umgang mit Krebs-Patienten in den folgenden Jahren ändern werde. Als ein Indiz nennen sie ihre Beobachtung, dass einige wenige Ärzte den Angehörigen die Entscheidung überließen, ob der Kranke über Diagnose und Prognose aufgeklärt werden soll (vgl. Long/Long 1982: 2104). Ein weiteres Anzeichen sehen die Autoren in einem Bedeutungswandel des Krankheitsbildes ›Krebs‹ durch die zunehmende Aufklärung der Bevölkerung: »As the Japanese public becomes increasingly sophisticated in their knowledge of cancer symptoms and treatments, and as medical science finds ways to relieve the physical and visible suffering, fear of cancer as ›dying poorly‹ will diminish.« (Long/Long 1982: 2107) Long und Long sollten mit ihrer Vorhersage Recht behalten. Schon in den folgenden Jahren wird die von den Forschern beschriebene Praxis immer mehr zum Gegenstand der Kritik. In den 1980er-Jahren rückte die Alterung der Gesellschaft vermehrt in das öffentliche Problembewusstsein und neben einer Problematisierung der Pflegesituation wurde auch der Umgang mit Sterbenden zum Thema der Gesundheits- und Sozialpolitik. Betonte die Sozialpolitik der 1970er-Jahre unter dem Slogan ›Japanese style welfare society‹ die Rolle der Familie bei der Pflege der Angehörigen, wurde seit den 1980er-Jahren vermehrt die Überlastung der Familie infolge der Pflegeaufgaben diskutiert und in den 1990er-Jahren die ›Erschöpfung durch Pflege‹ (kaigo tsukare) offiziell als Krankheit anerkannt (vgl. Shimada/Tagsold 2006: 103). Die steigende Lebenserwartung wurde als Risiko vermehrter Pflegebedürftigkeit und längerer Pflegephasen gedeutet und die Pflege konnte aufgrund des strukturellen Wandels der Familie nicht mehr allein von den Angehörigen geleistet werden. Die Sozialpolitik reagierte mit Maßnahmen wie dem Gold Plan von 1989 und dem New Gold Plan von 1994, mit denen das Ministerium für Ge-
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sundheit und Wohlfahrt (Kôseishô)3 beabsichtigte, das Angebot zur Unterstützung der familiären Pflege sowie Altenheimplätze auszubauen. Als letzte strukturelle Maßnahme, um der Pflegeproblematik zu begegnen, ist die Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 2000 zu erwähnen, die vor allem auf die Stärkung der familiären Pflege durch Sachleistungen zielte und die Krankenkassen entlastete (vgl. Shimada/Tagsold 2006: 104 ff.). Gleichzeitig veröffentlichte das Ministerium für Gesundheit und Wohlfahrt zusammen mit der japanischen Ärztekammer 1989 einen Leitfaden für Sterbebegleitung und Entscheidungsfindungen am Lebensende. Die Ärzte werden in diesen Leitlinien aufgefordert, den Einsatz lebensverlängernder Maßnahmen zugunsten der Würde des Patienten und in Anbetracht der psychologischen Belastung für die Familie zu überdenken. Vor allem mit dem Hinweis auf verlängertes Leiden durch lebensverlängernde Maßnahmen in der Sterbephase wird von den Ärzten gefordert, den Patientenwillen und sein Recht auf Selbstbestimmung zu respektieren (vgl. Akabayashi 2002: 519). In den folgenden Jahren wurden vermehrt Berichte und Handreichungen publiziert. Unter anderen veröffentlichte der Bioethikrat der Ärztekammer 1992 Empfehlungen für Ärzte zur Sterbebegleitung und erkannte Patientenverfügungen als zu respektierenden Wunsch des Patienten an (vgl. ebd.). Untersuchungen zeigten jedoch, dass in der klinischen Praxis Widerstand gegen neue Prinzipien wie Patientenaufklärung und Einbeziehung der Patienten in medizinische Entscheidungsfindung bestand. Der Widerstand in der Ärzteschaft wird in der Literatur durch Befürchtung vor einem Autoritäts- und Statusverlust sowie Regressansprüchen begründet. Asai et al. (1997) verweisen zudem auf Hindernisse, die im Zusammenspiel von Ärzten, Angehörigen und Patienten in der klinischen Praxis begründet liegen. Sie beziehen sich auf die Ergebnisse von statistischen Vergleichen zwischen den USA und Japan, die eine Tendenz japanischer Ärzte zeigen, aggressivere Behandlungsmethoden als ihre amerikanischen Kollegen bei Patienten im terminalen Stadium einer Krankheit einzusetzen. Um einen Einblick in mögliche Begründungen zu erhalten, führten die Forscher eine explorative Studie mit sieben Internisten (alle männlich zwischen 3141 Jahren) aus sechs japanischen Krankenhäusern durch (vgl. Asai et al. 1997: 323 f.).
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Das ›Ministerium für Gesundheit und Wohlfahrt‹ (Kôseishô, im Englischen ›Ministry of Health and Welfare‹, kurz MHW) wurde 2001 im Zuge einer Verwaltungsreform mit dem ›Ministerium für Arbeit‹ (Rôdôshô) zusammengelegt und seitdem als ›Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt‹ (Kôseirôdôshô, im Englischen ›Ministry of Health, Labour and Welfare‹, kurz MHLW) bezeichnet.
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Asai et al. kommen zu dem Ergebnis, dass alle befragten Ärzte die Haltung vertreten, die Sterbephase sollte nicht unnötig verlängert werden. Die Internisten begrüßten Patientenverfügungen prinzipiell als Richtlinie für ihre Behandlungen. Trotz dieser Einstellung bewerteten sie jedoch den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen als Aufgeben des Patientenlebens oder sogar als Tötung. Sie befürchteten zudem, die Angehörigen könnten sie des Mordes bezichtigen (vgl. ebd.: 326). Die Grenze zwischen Sterbenlassen und Tötung wurde als schwer bestimmbar aufgefasst. Auch wenn der Patient den Abbruch von lebenserhaltenden Maßnahmen wünscht, würde dieser nicht durchgeführt (vgl. ebd.: 326). Ein Arzt berichtete jedoch, dass es durchaus die Möglichkeit gebe, lebensverlängernde Maßnahmen langsam herunterzufahren, zum Beispiel den Sauerstoffgehalt der künstlichen Beatmung nach und nach zu verringern, um dem Patienten einen schnelleren Tod zu ermöglichen (vgl. ebd.: 325). Entscheidungen über Behandlungen am Lebensende werden laut dieser Studie von den behandelnden Ärzten in Absprache mit der Familie des Patienten getroffen. Die Angehörigen entscheiden auch darüber, ob der Patient über seine Diagnose und Prognose aufgeklärt wird (vgl. ebd.: 324). Die Äußerungen der Ärzte legen nahe, dass die Wünsche der Familie eine entscheidende Barriere für die Befolgung des Patientenwillens und von Patientenverfügungen darstellen (vgl. ebd.: 325 f.). Besonderes Gewicht wird dem Wunsch vieler Angehöriger beigemessen, beim Eintritt des Todes am Krankenhausbett anwesend zu sein – eine Idealvorstellung des Sterbens, die sich in der japanischen Redewendung shini me ni au (wörtlich: den sterbenden Augen begegnen) ausdrückt. Die Ärzte äußerten, dass sie eher wiederbeleben oder lebenserhaltende Maßnahmen ergreifen, wenn die Familie abwesend ist, damit die Angehörigen verständigt und vor Eintritt des Todes am Sterbebett eintreffen können. Oder sie folgten der Bitte der Familie, das Leben des Patienten so lange aufrecht zu erhalten, bis alle Familienmitglieder anwesend waren. In solchen Fällen würde dann auch noch kurz vor dem Tod künstliche Beatmung eingeleitet. Teilweise würden die Familien am Sterbebett auch wiederbelebende Maßnahmen verlangen, um die Sicherheit zu haben, nichts unversucht gelassen zu haben (vgl. ebd.: 325). Von ihren Erfahrungen mit Konflikten zwischen den Angehörigen hinsichtlich der Behandlungsfrage berichten die Internisten, dass häufiger die pflegenden Angehörigen gewillter sind, den Patienten sterben zu lassen und auf medizinische Maßnahmen zu verzichten, während die weiter entfernt lebenden Angehörigen alles in den Möglichkeiten der Ärzte Stehende fordern, um das Leben aufrechtzuerhalten (vgl. ebd.: 326). Asai et al. bewerten abschließend die Problematik folgendermaßen:
46 | ÜBER DEN T OD VERFÜGEN »Decisions made jointly by well-meaning physicians and family members biased by a sense of guilt and fear would inevitably result in aggressive and endless life-prolongation. In the current decision-making process concerning care in Japan at the end of life, what is lacking is a way of knowing and following the patient’s explicit wishes.« (Asai et al. 1997: 326)
Demnach resultiere das Zusammenspiel der Ärzte und Angehörigen – bis zuletzt um das Leben des Patienten zu kämpfen – in einer von Leiden gekennzeichneten Sterbephase. Die Annahme von Long und Long Anfang der 1980er-Jahre, dass zukünftig die Ärzte die Angehörigen entscheiden lassen, ob ein Patient aufgeklärt wird, scheint nach den Angaben der von Asai et al. interviewten Ärzte Mitte der 1990er-Jahre zur gängigen Praxis geworden zu sein. Dies wird auch in der Kritik des Juristen Higuchi Norio deutlich, die Ärzte würden häufig den Ermessenspielraum den Angehörigen überlassen und ihre Verantwortung abgeben (vgl. Higuchi 1991-1992: 468). Ein weiterer Wandel zeigt sich in der Bewertung des Einsatzes von lebenserhaltenden Maßnahmen. Die von Asai et al. interviewten Internisten befinden sich in dem Dilemma, keine klaren Bewertungsmaßstäbe zu haben, ab wann es gerechtfertigt ist, keine Behandlungen mehr einzuleiten oder Behandlungen zurückzufahren. Der Leitsatz, das Leben des Patienten nicht aufzugeben, scheint zwar weiter fortzubestehen, doch für den Einsatz von medizinischen Apparaten in der terminalen Phase seine Verbindlichkeit zu verlieren. Es ist jedoch noch keine verbindliche Deutung gefunden, wann und unter welchen Bedingungen das Aufgeben des Patientenlebens legitim ist. Den Wünschen und Erwartungen der Angehörigen zu folgen, wird von den Ärzten in diesem Kontext als Konfliktvermeidungsstrategie dargestellt (vgl. Asai et al. 1997: 326). Hier lässt sich zum einen die erwähnte Furcht vor Regressansprüchen der Angehörigen vermuten, zum anderen aber auch die von Higuchi angesprochene Abgabe von Verantwortung. Die Kritik von Asai et al., in Japan fehle eine Einbeziehung des Patienten in den Prozess der Entscheidungsfindung, ist kennzeichnend für die 1990er-Jahre. Die von den Autoren interviewten Internisten begrüßen zwar Patientenverfügungen als Instrument, um den Behandlungsrahmen abzustecken, sehen aber keinen ausreichenden juristischen Schutz gegen mögliche Strafverfolgung gegeben (vgl. Asai et al. 1997: 326). Steineck verweist in diesem Zusammenhang auf weitere strukturelle Gründe, die eine Einbeziehung des Patienten in die Entscheidungsfindung erschweren. Die hohe Anzahl von Patientenkontakten mache es dem Arzt fast unmöglich,
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sich Zeit für Gespräche mit einzelnen Patienten zu nehmen. Zudem sehe das Honorarsystem der japanischen Krankenkassen keine Vergütung für Beratungsgespräche vor, allenfalls zu Beginn und zum Ende eines stationären Aufenthalts (vgl. Steineck 2008a: 11, 16). Ein weiterer Kritikpunkt hinsichtlich der Sterbebegleitung in japanischen Krankenhäusern ist der geringe Einsatz palliativmedizinischer Maßnahmen und psychologischer Betreuung der Patienten (vgl. Hayashi/Kitamura 2002: 564-569). Die 1990er-Jahre sind eine Phase des Umbruchs, in der unterschiedliche Werte und Vorstellungen von einem guten Umgang mit Kranken und Sterbenden miteinander in Konflikt geraten. Dies drückt sich auch in den folgenden Fallbeispielen aus, in denen Erfahrungen mit der paternalistischen Praxis in die Narrationen zum Anlass für eine Patientenverfügung eingebettet werden. 2.1.2 Fallbeispiel: Der Sieg im Kampf gegen Krebs ohne eigens erlebte Krankengeschichte Die 81-jährige Frau Fukui übernimmt im Interview – bei dem auch ihr Ehemann und der Vorsitzende der JSDD Süd-Japan anwesend sind – den Part, die gemeinsame Geschichte zu erzählen, wie es dazu kam, dass sie und ihr Mann Anfang der 1990er-Jahre eine Patientenverfügung der JSDD unterzeichneten. Zum ersten Mal sei sie während eines Ehemaligen-Treffens ihres Studienjahrgangs auf die JSDD und Patientenverfügungen angesprochen worden. Damals habe sie nicht verstanden, warum sie Mitglied in der JSDD werden sollte. Sie habe einen starken Widerstand verspürt, den sie rückblickend damit erklärt, dass sie und ihr Mann nie ernsthaft krank gewesen sind. Als Schlüsselerlebnis für den Wandel ihrer Einstellung erzählt sie von der Krebserkrankung ihres Mannes. Ihr Ehemann hört vorwiegend zu, lächelt, und wirft hin und wieder einzelne Begriffe wie ›stationäre Untersuchung‹ (kensa nyûin) oder den genauen Namen des Krankenhauses ein und präzisiert die Erzählungen seiner Frau. Doch zu keinem Zeitpunkt während der anfänglichen Stegreiferzählung macht er Anstalten, den Erzählpart zu übernehmen – dieses Verhalten steht in einem gewissen Gegensatz zum späteren Verlauf des Interviews, in dem Frau Fukui oft unterbrochen wird und teilweise ihren Redeanteil gegen ihren Mann und den Vorsitzenden der JSDD Süd-Japans durchsetzen muss. Warum Frau Fukui die Krankengeschichte ihres Mannes erzählt, wird schon bald deutlich. Herr Fukui kann die Geschichte nicht erzählen. Er wurde nicht über die Krebsdiagnose aufgeklärt und erfuhr erst nach dem chirurgischen Ein-
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griff von seiner ›geheilten‹ Krankheit. Herr Fukui hat somit die Krankheitsphase nicht bewusst selbst erlebt. Frau Fukui erzählt zunächst, dass ihr Mann wie gewöhnlich zu einer betrieblichen Routine-Vorsorgeuntersuchung ging und sie wie sonst auch den Arzt aufsuchte, um sich nach den Ergebnissen zu erkundigen: »Ich ging zum Krankenhaus um nachzufragen. Der Arzt redete und redete und als ich sagte, ›Meine Güte Herr Doktor, ist es etwa Krebs?‹, da antwortete er, ›Ja, es ist Krebs‹. Als ich das hörte – damals wenn man Krebs hörte, dann hat man das mit dem Tod in Verbindung gebracht – dachte ich, er wird sterben, einen anderen Ausgang gibt es nicht. Ich bin nicht direkt nach Hause gegangen, sondern in der Nachbarschaft immer wieder im Kreis umhergelaufen. Damit habe ich mich beruhigt und bin nach Hause gegangen. Mein Mann hat immer mit aller Kraft gearbeitet. Als ich nach Hause kam, fragte er: ›Wie war es? Es ist bestimmt nichts, oder?‹ Deswegen habe ich ihn angeschwindelt, ›Ja, es ist nichts. Aber mir wurde gesagt, dass du am besten einmal für kurze Zeit ins Krankenhaus gehen solltest‹ und er wurde ins Krankenhaus eingewiesen.«
Hier ergänzt Herr Fukui, dass er wegen »stationärer Untersuchungen« ins Krankenhaus ging und nennt den Namen des Krankenhauses. Beide Ehepartner versuchen zu einem späteren Zeitpunkt zu rekonstruieren, wie lange die Ereignisse zurückliegen, können sich jedoch nicht einigen. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um die frühen 1990er-Jahre. Herr Fukui war Mitte 60 als er erkrankte. Frau Fukui führt die Erzählung fort. Ihr Hausarzt habe ihr damals einen Arzt empfohlen, der ihren Mann am Magen operierte. Nach dem Eingriff versicherte er ihr, es sei nun alles in Ordnung und sie müsse sich keine Sorgen mehr machen: »Weil der Arzt mir nach der Operation versicherte ›Es ist jetzt alles in Ordnung. Sie müssen sich keine Sorgen mehr machen‹, sagte ich zum ersten Mal zu meinem Mann ›In Wahrheit hattest du Magenkrebs‹.« Hier meldet sich Herr Fukui wieder zu Wort und bestätigt lachend, zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal erfahren zu haben, dass er Krebs hatte. Aus heutiger Sicht, die durch das Prinzip der Patientenaufklärung geprägt ist, erscheint die Darstellung von Frau Fukui irritierend. Meine Verwirrung äußerte sich in der folgenden Sequenz durch die ungläubige Nachfrage, dass es aber doch kein Krebs gewesen sei. Dieses Missverständnis wird sofort von allen drei Anwesenden aufgeklärt. Es sei Magenkrebs gewesen und Herr Fukui präzisiert, ihm wurden zwei Drittel des Magens entfernt. Frau Fukui fährt unbeirrt mit ihrer Erzählung fort. Sie hätten damals dem Urteil des Arztes vertraut, der Krebs sei überwunden. Nach eineinhalb Jahren wurde jedoch erneut festgestellt, dass »Krebs zurückgeblieben ist« (gan ga no-
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kotte iru), wie Frau Fukui sich ausdrückt. Ihr Mann präzisiert ihre Formulierung und erklärt, in dem Drittel des Magens, das bei der ersten Operation zurückgelassen wurde, habe der Krebs Metastasen gebildet (teni shita). Frau Fukui berichtet, dass sie zuerst befürchtete, ihr Mann müsse wieder zurück in das Krankenhaus, wo er eineinhalb Jahren zuvor operiert wurde. Sie drückt hier ihren Vertrauensverlust gegenüber dem ersten Arzt aus, dessen Versicherung, ihr Mann sei geheilt, sich nicht bestätigt hatte. Der Vertrauensverlust beschränkt sich auf die Person des ersten Arztes und das Krankenhaus, in dem er arbeitet. Dem neuen Arzt und Krankenhaus gegenüber brachten sie erneut Vertrauen entgegen. Hier übernimmt Herr Fukui das Wort und berichtet vom Ergebnis des zweiten chirurgischen Eingriffs und seinem gegenwärtigen körperlichen Zustand. Ihm wurde der komplette Magen entfernt, der Darm nach oben gezogen und direkt mit der Speiseröhre verbunden. Frau Fukui fährt fort, dass sie nach der zweiten Operation zum ersten Mal wieder an das Ehemaligen-Treffen dachte und die JSDD und Patientenverfügungen durch die Krankengeschichte ihres Mannes neu bewertete. Wenn man selbst nie wirklich krank war, erklärt sie, dann denke man nicht, dass es einen selbst auch treffen kann. Gemeinsam eine Patientenverfügung abzuschließen, stellt sie als ihren Wunsch dar. Ihr Mann habe sich zunächst gesträubt. Heute gehe sie nirgendwo mehr hin ohne ihre Patientenverfügung. Sie trägt die Mitgliedskarte der JSDD, die bei Ärzten als Zeichen für die standardisierten Formulare der JSDD bekannt ist, im Portemonnaie mit sich und ihr Hausarzt hat einen Vermerk in ihre Krankenakte gemacht. Falls ihr Leben gerettet werden kann, dann möchte sie, dass alles Nötige getan wird. Sollte es jedoch keine Aussichten auf Genesung mehr geben, dann sollen alle Maßnahmen eingestellt werden. In ihrem Freundeskreis habe sie einiges miterlebt und sich gefragt, ob das erstrebenswerte Zustände seien, fährt sie fort ohne genau darauf einzugehen, worauf sie sich bezieht. Nachdem Frau Fukui erzählt hat, wie sie und ihr Mann Mitglieder in der JSDD wurden, ist die Einstiegsfrage beantwortet und die erste Stegreiferzählung beendet. Die anderen Interviewteilnehmer beanspruchen jetzt das Rederecht für sich. Die Gespräche drehen sich um das verbreitete Ideal, von einem Augenblick auf den anderen zu sterben (pinpin korori) ohne zu einer Last durch Pflege für die Angehörigen zu werden. Es geht um Gedanken zur Verbindlichkeit der Patientenverfügung. Frau Fukui spricht über ihr tägliches Gefühl der Dankbarkeit, dass sie gesund ist und lebt und Herr Fukui berichtet über seine Bemühungen, im Bekanntenkreis für die JSDD und Patientenverfügungen zu werben.
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Durch die Nachfrage des Vorsitzenden, aus welchem Anlass Herr Fukui Mitglied in der JSDD geworden ist, kommt das Thema zurück zur Einstiegserzählung. Herr Fukui scherzt, seine Frau habe ihn dazu gezwungen und er sei ohne etwas zu wissen Mitglied geworden. Seine Frau greift ein und beteuert wie schon zuvor, wenn ihr Mann nicht erkrankt wäre, dann wären sie auch nicht der JSDD beigetreten. An dieser Stelle im Interview zeigt sich, dass der Vorsitzende der JSDD die Erzählung von Frau Fukui missverstanden hat. Er dachte, sie würde ihre eigene Krankengeschichte erzählen. Das Ehepaar klärt das Missverständnis auf. Frau Fukui sei nie krank gewesen, ihr Mann hingegen zweimal aufgrund von Magenkrebs operiert worden. Frau Fukui setzt erneut an, die damalige Situation zu schildern: »Ich habe die Operation verheimlicht. Er kam ins Krankenhaus und wurde operiert. Ungefähr ab dem zweiten Tag fing er an, im Krankenzimmer umherzulaufen. Da wurde er von einem anderen Patient gefragt: ›Herr Fukui, warum sind sie hier im Krankenhaus?‹ Und er sagte zu ihm: ›Ich weiß es nicht. Mir wurde von meiner Frau gesagt, dass ich für Untersuchungen ins Krankenhaus gehen soll.‹«
Erst nach der Operation erfuhr er, dass er Krebs hatte, versichert Herr Fukui erneut und beginnt von seinem Krankenhausaufenthalt zu erzählen: »Am Anfang war ich in einem Vierbettzimmer, in einem großen Zimmer. Nach der Operation kam ich in ein Einzelzimmer. Weil ich in ein Einzelzimmer kam, erklärte der Arzt mir: ›Krebs, es ist Krebs.‹« Meine erstaunte Frage, ob Herr Fukui sich operieren ließ ohne von der Krankheit gewusst zu haben, wird von ihm bejaht und führt zu einer Verortung der Ereignisse im historischen Kontext. Die Praxis Krebsdiagnosen zu verschweigen wird der Vergangenheit zugeordnet und es wird auf einen Wandel seither verwiesen. Krebsdiagnosen seien damals mit dem nahenden Tod gleichgesetzt worden und hätten Angst ausgelöst. Heute sei das Mitteilen von Krebsdiagnosen laut Herrn Fukui zur selbstverständlichen Praxis geworden und der Vorsitzende erläutert, Patienten würden heute häufig aufgeklärt. Durch die Beobachtung der Interaktion im Interview wird deutlich, dass die Erzählung von Frau Fukui – obwohl sie klar und deutlich die Ereignisse darstellt – im heutigen Interpretationsrahmen von Krankengeschichten nicht ohne Kontextualisierung verständlich ist und zu Irritationen oder Missverständnissen führt. Auf die Frage, wie Frau Fukui damit umgegangen ist, dass ihr die Diagnose mitgeteilt wurde und sie mit ihrem Mann nicht darüber sprechen konnte, knüpft sie an ihre vorherige Erzählung an und schildert detailliert, wie sie die Zeit nach der Diagnose erlebte. Sie spricht von ihrer Angst, dass ihr Mann an Krebs hätte
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sterben können, und von der Belastung, welche die Situation des Schweigens für sie darstellte: »Ich dachte er wird sterben. Wenn mein Mann, der immer so hart gearbeitet hat, einfach so stirbt, dann ist das grausam, dachte ich. Ich habe Nächte hindurch geweint und konnte nicht schlafen. Und dann eines Nachts, es klingt wie erfunden, aber diese Zähne hier, ich habe hier keine Zähne mehr, das sind keine echten Zähne. Mir sind diese Zähne hier ausgefallen, so einen Schock hatte ich.«
Frau Fukui musste allein mit ihrer Angst umgehen, dass ihr Mann an der Krankheit sterben könnte. Gleichzeitig musste sie ihm gegenüber ihre Emotionen kontrollieren, damit er keinen Verdacht schöpft. Warum sie so handelte und die Diagnose vor ihm verschwieg, erklärt sie nicht. Sie erwähnt nicht, ob sie dazu durch den Arzt aufgefordert wurde. Sie spricht auch nicht über ihre Motivation, ihm nichts mitzuteilen. Vielmehr stellt sie ihr Verschweigen der Krankheit als Selbstverständlichkeit dar und die Versicherung des Arztes, der Eingriff sei gut verlaufen, wird von ihr als Zeichen für das Ende des Schweigens interpretiert. In dem Moment wo die Gefahr und das Risiko zu sterben gebannt zu sein schienen, klärte sie ihren Mann über die Wahrheit auf. Im Verlauf des Interviews kommt die Sprache erneut auf die Aufklärung über die Krebsdiagnose zurück und Herr Fukui antwortet auf die Frage, was er damals dachte: »Nachdem es vorbei war [wurde es mir mitgeteilt]. Der Arzt sagte zu mir: ›Kochen sie roten Reis mit Bohnen und feiern sie‹4. Es war eine fröhliche Stimmung. Das war nach dem ersten Mal. Deswegen dachte ich eigentlich nichts. Mit dem Gefühl ›Ah, Glück gehabt‹ kehrte ich nach Hause zurück.«
Auf die Frage, wie das zweite Mal verlaufen ist und ob er über die Diagnose aufgeklärt wurde, antwortet Herr Fukui, er sei nicht aufgeklärt worden. Diese Aussage verwundert Frau Fukui. Sie ist der Meinung, dass er beim zweiten Mal die Diagnose im Krankenhaus mitgeteilt bekommen hätte. Doch Herr Fukui verneint, er sei nicht aufgeklärt worden. Die unterschiedlichen Auffassungen von Herrn und Frau Fukui könnten darauf beruhen, dass sie verschiedene Bedeutungen mit »Aufklärung« (kokuchi) verbinden. Herr Fukui bestreitet nicht, dass er vor dem zweiten chirurgischen Eingriff Bescheid wusste, dass er wieder Krebs
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›Roter Reis mit Bohnen‹ (sekihan) ist eine Speise, die zu besonderen Anlässen und Festlichkeiten gegessen wird.
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hatte. Jedoch sei er nicht durch die Ärzte aufgeklärt worden. Vermutlich versteht er unter Aufklärung mehr, als dass er von der Diagnose gehört hat, wie seine Frau sagt. Die genauen Umstände werden zwischen den Ehepartnern nicht geklärt und Herr Fukui lenkt das Thema auf seine rasche Genesung nach der zweiten Operation: »Und dann bin ich eine Woche nach der Operation schon wieder umhergelaufen, auf dem [Krankenhaus-]Dach. Sehr schnell, sehr schnell bin ich schon wieder munter auf dem Dach herumgelaufen. Mit mir zusammen lag ein Mann wegen seiner Leber, er war der Chef von Honda in Nagasaki. Er war noch jung, ungefähr 40 Jahre alt. Wir liefen manchmal ein bisschen zusammen umher und er sagte immer, wie schwer es ihm falle. Und ich bin schon wieder munter über das Dach gelaufen. So war das. Dieser Mann ist schon gestorben, vor mir.«
Herr Fukui kann durchaus von seiner Zeit im Krankenhaus erzählen, jedoch beschränken sich seine Berichte auf positive Darstellungen seiner Genesung oder der überwundenen Krankheit ohne vorausgehendes Erleben einer Phase des ›Krankseins‹. Diese Passage erfüllt die Funktion zu untermalen, wie schnell er sich von dem Eingriff erholte und im Gegensatz zu einem mindestens 20 Jahre jüngeren Mann mit Leichtigkeit in die Normalität zurückkehrte. Die Frage, ob er vor der zweiten Operation Angst verspürt habe, verneint Herr Fukui: »Nein, ich hatte keine Angst. Weil ich es auf lange Sicht betrachtet habe. Es kann nichts passieren außer das, was passiert. Es war ein Gefühl wie, ich vertraue es dem Professor an. Herr Doktor, bitte sehr, [tun sie was sie tun können,] auf diese Art. Angst hatte ich nicht.«
Herr Fukui drückt hier erstaunliche Gelassenheit aus sowie seine Erwartungen, dass er sein Leben dem Arzt anvertrauen kann und der Arzt das bestmögliche Ergebnis erzielen wird. Erstaunlich ist diese Darstellung von Herrn Fukui, da er und seine Frau kurz zuvor wiederholt zum Ausdruck gebracht hatten, dass sie nicht in das gleiche Krankenhaus wollten, in dem der erste Eingriff durchgeführt worden war. Trotz des Vertrauensverlustes gegenüber dem ersten Arzt und Krankenhaus stellt Herr Fukui seine Haltung als zuversichtlich und voller Vertrauen in das Können und die Bemühungen des neuen Arztes dar. Das Ergebnis bestätigt ihr erneutes Vertrauen und sie berichten, dass sie dem Arzt zu großer Dankbarkeit verpflichtet sind.
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Die Krankengeschichte von Herrn Fukui erreicht kurz nach dieser Episode ihren Höhepunkt. Der Vorsitzende der JSDD und Herr Fukui unterhalten sich über die Fortschritte in der Chirurgie und darüber, dass heutzutage durch endoskopische Verfahren keine großen Schnitte mehr nötig sind. Herr Fukui beschreibt, dass er einen 30 Zentimeter langen Schnitt bekam, und Frau Fukui bestätigt, es handle sich um eine prächtige Narbe, sodass letztendlich Herr Fukui aufsteht und allen Anwesenden seine Narbe präsentiert. Er hat nicht übertrieben, und der Vorsitzende der JSDD lässt es sich nicht nehmen, auch seine eigene Narbe zu zeigen. Drei winzige, kaum erkennbare Punkte hat der endoskopische Eingriff zur Entfernung seiner Gallensteine hinterlassen. Die Narbe des Vorsitzenden ist durch modernste Technik entstanden, jedoch besteht Herr Fukui beim Vergleich der Narben darauf, dass auch seine sehr schön sei – fast als wolle er sagen, seine Narbe sei eben noch echte Handwerkskunst. Die Selbstdarstellung von Herrn Fukui spitzt sich im Vorzeigen der Narbe zu. Er inszeniert sich als widerstandsfähig und voller Lebenskraft. Die Narbe symbolisiert die Bedrohung seines Lebens durch den Krebs. Sie zeichnet ihn, aber sie steht vor allem für seinen erfolgreichen Sieg über die Krankheit. Im Kampf gegen den Krebs verlor Herr Fukui zwar seinen Magen, aber seinen Appetit und körperlichen Zustand beschreibt er für einen Mann von 86 Jahren als überaus gesund. Herr Fukui handelte in Übereinstimmung mit der von ihm erwarteten Patientenrolle, wie sie von Long und Long dargestellt wird (s.o.). Er übergab die Verantwortung für seine Gesundheit in die Hände seiner Frau und des Arztes und hinterfragte nicht, warum er als ›Gesunder‹ ins Krankenhaus gehen und sich einer Vollnarkose oder Operation unterziehen sollte. Er vertraute darauf, dass seine Frau und der Arzt alles dafür tun, ihren Rollen gemäß zu handeln und für sein Wohlergehen kämpfen. Er selbst leistete seinen Anteil zum Gelingen, indem er ihre Erwartungen erfüllte. Er erfüllt auch 14 Jahre nach der zweiten Operation noch die Erwartungen an die Rolle des guten Patienten und präsentiert sich als lebensfreudigen Kämpfer, der sich ohne Angst, sondern mit vollem Optimismus und Vertrauen in die Abhängigkeitsverhältnisse begab und den Krebs besiegte. Dass Herr Fukui erst von seiner Frau überzeugt werden musste, eine Patientenverfügung abzuschließen, kann dahingehend gedeutet werden, dass es für ihn keinen Anlass gab – aus seiner Sicht ist alles gut verlaufen und er kann sich auf seine Frau als Stellvertreterin verlassen. Während Herr Fukui seine eigene Krankengeschichte die meiste Zeit über nicht bewusst als ›krank sein‹ erlebte, sondern erst im Nachhinein als ›überwundene Krankheit‹, stellt Frau Fukui die Erkrankung ihres Mannes als eigene Lebenskrise dar. Auch Frau Fukui handelte im Einklang mit der von ihr erwarteten
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Rolle als Ehefrau, wie sie von Long und Long dargestellt wird. Sie ging anstelle ihres Mannes ins Krankenhaus, um die Ergebnisse der Vorsorgeuntersuchung zu erfragen. Ebenso gehört ihr Verschweigen der Diagnose zum erwarteten Verhalten, das als Selbstverständlichkeit von ihr nicht weiter erläutert wird. Das Verschweigen der Diagnose kann so gedeutet werden, dass sie ihren Mann nicht belasten wollte. Sie teilte ihm erst die Wahrheit mit, als die Gefahr gebannt zu sein schien. Für Frau Fukui bedeutete die Diagnose ein Schockerlebnis, durch welches sie ihre Zähne verlor. Sie trug die Verantwortung für die Gesundheit ihres Mannes und überzeugte ihn, ins Krankenhaus zu gehen. Durch die von ihr erlebte Krankengeschichte ihres Mannes änderte sich ihre Einstellung zu Leben, Krankheit und Tod. Vor der Krankheit ihres Mannes hatte sie keine Erfahrungen mit schweren Krankheiten, und das Risiko zu erkranken habe sie nicht auf ihr eigenes Leben bezogen. Patientenverfügungen, deren Sinn und Zweck sich ihr zuvor nicht erschlossen hatten und gegen die sie sogar eine Abneigung verspürt hatte, bewertete sie durch die Erfahrungen neu. Die Erfahrungen resultierten für sie in einem Problembewusstsein; sie war verunsichert und sah in der Patientenverfügung ein Instrument, um wieder ein Gefühl der Sicherheit herzustellen. Sie ergriff die Initiative und ›überzeugte‹ ihren Mann zu einer Mitgliedschaft in der JSDD. Die Patientenverfügung empfindet sie heute als Beruhigung und Sicherheit. Ihr eigenes Leben bei guter Gesundheit und auch das gemeinsame Leben mit ihrem Ehemann sind für sie nach diesen Erfahrungen der Angst und Unsicherheit nicht mehr selbstverständlich. 2.1.3 Fallbeispiel: Von den Ärzten auferlegtes Schweigen Von einer ähnlichen ärztlichen Praxis berichtet Frau Chibana im Kontext der Krebserkrankung ihres verstorbenen Ehemannes. Obwohl sie das von ihr verlangte Verschweigen der Diagnose hinterfragte, konnte sie nicht durchsetzen, dass ihr Mann aufgeklärt wurde. Die Situation wird von ihr im Nachhinein im Sinne des von Glaser und Strauss beschriebenen Zustands der mutual pretense dargestellt. Frau Chibana erzählt über die langjährige Krankheit ihres Ehemannes im Zusammenhang mit ihrer Entscheidung eine Patientenverfügung abzuschließen. Die Krankheit ihres Mannes stellt sie dabei jedoch nicht wie Frau Fukui als Anlass für die Patientenverfügung dar, sondern sie verdeutlicht durch diese Erfahrungen, wie es dazu kam, dass sie ein Bewusstsein für die Problematik entwickelte und sich mit Sterben und Tod auseinandersetzte. Schon vor dem Tod ihres Mannes las sie Ratgeber zu Tod und Sterben und wurde Mitglied in der ›Japa-
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nese Association for Death Education and Grief Counseling‹ (Sei to Shi wo Kangaeru Kai). Die Veranstaltungen der Sei to Shi wo Kangaeru Kai spielten eine wichtige Rolle für Frau Chibana im Umgang mit der Krankheit ihres Mannes und später mit ihrer Trauer über seinen Tod. Zudem trugen die von Frau Chibana besuchten Vorträge dazu bei, ihr Problembewusstsein dafür zu stärken, dass Sterben im Krankenhaus nach den eigenen Vorstellungen nur schwer möglich ist. Die Organisation wurde 1982 durch den deutschen Jesuiten Alfons Deeken gegründet, der an der Sophia Universität in Tokyo lehrt. Ziel der Organisation ist es, durch Sterbeerziehung die Tabuisierung des Todes aufzubrechen (vgl. Sei to Shi wo Kangaeru Kai Tokyo 2009-2013). Die Vereinigung organisiert in diesem Rahmen regelmäßig Vorträge zur Trauerarbeit, Sterben im Hospiz und auch Patientenverfügungen. Durch einen dieser Vorträge erfuhr auch Frau Chibana von der Möglichkeit, eine Patientenverfügung zu verfassen. Der Ehemann von Frau Chibana litt seit etwa Anfang der 1980er-Jahre an einer chronischen Lebererkrankung und später an Leberkrebs. Über einen Zeitraum von 15 Jahren wurde er immer wieder ins Krankenhaus eingeliefert und behandelt, von Frau Chibana zu Hause gepflegt und starb letztendlich im Krankenhaus. In der letzten Lebensphase gab Frau Chibana den Ärzten zu verstehen, dass ihr Mann Mitglied in der JSDD ist und einen Living Will (ribingu uiru, Patientenverfügung) unterzeichnet hat. Die Ärzte stimmten zu, keinerlei lebensverlängernde Maßnahmen einzuleiten, ohne die Patientenverfügung sehen zu wollen. Als der Tod ihres Mannes eintrat, waren Frau Chibana und ihre beiden Töchter anwesend und nahmen von dem Toten Abschied, indem sie ihn unter Anleitung der Krankenschwester wuschen – ein Ritual, für das Frau Chibana und ihren Töchtern die Erfahrung fehlte und das sie ohne Hilfe der Krankenschwester nicht hätten durchführen können. Frau Chibana erzählt, ihr Mann habe von seinem chronischen Leberleiden gewusst, sei jedoch von den Ärzten nicht über die Krebsdiagnose aufgeklärt worden. Die Krebsdiagnose teilten die Ärzte nur Frau Chibana mit und wiesen sie an, nicht mit ihrem Mann darüber zu sprechen. Sie vermutet, dass ihr Mann etwas geahnt habe. Jedoch schwieg auch ihr Mann über seine Vermutungen. Sie erklärt sein Schweigen damit, er habe gespürt, dass über dieses Thema nicht gesprochen werden soll. Das gegenseitige Schweigen verhinderte ein offenes Gespräch. Frau Chibana stellt diese Situation als schmerzlich und belastend dar. Noch nach seinem Tod habe sie Jahre lang darunter gelitten, dass sie nicht mit ihm über die Krebsdiagnose sprechen konnte. Vor allem der Umstand, dass die Ärzte sie konsultierten, um sie über seinen Krankheitszustand und die Behandlung zu informieren, belastete sie durch die Verantwortung, die ihr übertragen
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wurde. Frau Chibana unternahm den Versuch, das Schweigen zu brechen und bat den jüngsten Arzt aus dem Team der behandelnden Ärzte, mit dem verantwortlichen Arzt zu sprechen, damit er ihren Mann über seinen Zustand aufklärt. Jedoch wurde diese Bitte mit einem Verweis auf die Reputation des hauptverantwortlichen Arztes und die Hierarchien unter den Ärzten abgelehnt. Frau Chibanas Schilderungen erinnern an die Erläuterungen Ariès zur Tabuisierung des Todes: Alle spielen Theater, um einander nicht zu beunruhigen (vgl. Ariès 2005: 718). Die Diagnose ›Krebs‹ wurde dem Patienten nicht genannt und das Schweigen mit seinen schwachen Nerven begründet. Dahinter stand die Vorstellung, die Wahrheit würde dem Patienten schaden. Es wurden jedoch Unterschiede zwischen den verschiedenen Krankheitsdiagnosen gemacht. ›Hepatitis‹ und ›Leberzirrhose‹ wären dem Patienten zugemutet worden. ›Krebs‹ hingegen schien ›Tod‹ zu implizieren und wurde verschwiegen. Glaser und Strauss bezeichnen das gegenseitige Schweigen über den nahenden Tod, obwohl alle Beteiligten Bescheid wissen oder es zumindest vermuten, als »The Ritual Drama of Mutual Pretense« (Glaser/Strauss 2009b: 64). Zwar sei dieses Interaktionsmuster im Umgang mit dem Wissen vom nahenden Tod weniger sichtbar als andere, da die Interaktionen subtiler sind. Jedoch beobachteten sie, dass mutual pretense zu Beginn der 1960er-Jahre in amerikanischen Krankenhäusern weit verbreitet war und in einigen Einrichtungen sogar die vorherrschende Umgangsweise darstellte (vgl. ebd.: 64). Sie vergleichen diesen Interaktionszusammenhang mit dem Kaufladenspiel eines Kindes: Die Beteiligten lassen sich auf ein Spiel ein und geben sich einer Illusion hin. Das Spiel funktioniert nur, wenn die Illusion aufrechterhalten wird und beide Seiten ihre Rollen spielen. Ebenso wie beim Kaufladenspiel müsse in der Interaktion zwischen Sterbenden und Krankenhauspersonal von einer Seite aus das ›So-tun-als-ob‹ symbolisiert und eingeleitet werden. Das gegenseitige Schweigen komme nur zustande, wenn es von der anderen Seite akzeptiert und von beiden Seiten ständig aufrechterhalten wird. Dabei gelte es aufzupassen, dass das Schweigen nicht von außen zerstört wird (vgl. ebd.: 65 f.). Im Fall von Frau Chibana diente die chronische Lebererkrankung ihres Mannes als Deckmantel zur Aufrechterhaltung der Illusion: Er war zwar krank und begab sich immer wieder zur Behandlung ins Krankenhaus, sein Leben schien jedoch nicht unmittelbar bedroht und das Lebensende noch nicht absehbar zu sein. Initiiert wurde das Drama der gegenseitigen Vortäuschung durch die Ärzte, auch wenn es eher ihre Absicht gewesen zu sein scheint, den Patienten in Unwissenheit zu lassen (closed awareness). Es ist anzunehmen, dass mindestens
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eine der strukturellen Voraussetzungen 5 der closed awareness nicht gegeben war; wahrscheinlich sind es die Erfahrungen, die der Ehemann von Frau Chibana durch seine chronische Krankheit und im Umgang mit den Ärzten sammelte, die ihn vermuten ließen, dass seine Krankheit ein neues Stadium erreicht hatte. Vielleicht ist er auch bei seinen zahlreichen Krankenhausaufenthalten mit Krebspatienten in Berührung gekommen und erkannte Parallelen zu seinen eigenen Symptomen. Die Ärzte brachten Frau Chibana auf einen anderen Wissensstand als ihren Mann und sie kooperierte ganz im Sinne der geläufigen Rollenerwartung an die Angehörigen eines Krebskranken, das ›Geheimnis‹ ihrem Mann gegenüber nicht zu lüften (vgl. Long/Long 1982: 2104). Frau Chibana akzeptierte die Erwartungen, welche die Ärzte an ihre Rolle stellten, jedoch nicht unhinterfragt. Sie unternahm den Versuch, die Rollen neu zu definieren. Wären die Ärzte ihrer Bitte nachgekommen, ihren Mann aufzuklären, hätten alle Beteiligten ihre Rollen vor dem Hintergrund eines open awareness Kontextes neu interpretieren können. Die Ärzte verweigerten jedoch das Aufbrechen des Schweigens und Frau Chibana spielte das Spiel mit. Dies geschah, obwohl sie ihren Mann so einschätzte, dass er durchaus bereit gewesen wäre, Informationen über seinen Zustand von Seiten der Ärzte zur Kenntnis zu nehmen. Sie ergriff jedoch nicht die Initiative und stellte sich nicht gegen die Erwartungen der Ärzte. Ihr Mann scheint die Zeichen des Schweigens um ihn herum verstanden zu haben und willigte in das gegenseitige Schweigen ein. Der Schein wurde vor allem aufrechterhalten durch die Fortsetzung der alltäglichen Gewohnheiten. Im Krankenhaus waren dies die täglichen Routinen im Umgang mit Kranken – und nicht die Sonderbehandlung die ein Sterbender be-
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Glaser und Strauss nennen fünf strukturelle Vorbedingungen für closed awareness: Zum einen darf der Patient nicht über Erfahrungswissen verfügen, das es ihm ermöglicht, die Anzeichen des Todes bei sich selbst festzustellen. Zweitens findet eine Aufklärung des Patienten durch den Arzt nicht statt und die Angehörigen verschweigen ebenfalls Diagnose und Prognose vor dem Patienten. Als vierte strukturelle Vorbedingung nennen sie die Organisation des Krankenhauses, die durch räumliche Anordnungen und das Verhalten des Personals medizinische Informationen vom Patienten fernhält: Die Krankenakten sind dem Patienten nicht zugänglich, die Krankenschwestern sind dazu aufgefordert, Informationen zurückzuhalten, das Personal spricht mit dem Patienten nur oberflächlich oder im medizinischen Fachjargon über die Krankheit. Als letzte Bedingung betonen die Autoren, dass es keine Verbündeten des Patienten gibt, die ihm helfen, mehr über den eigenen Zustand herauszufinden (Glaser/Strauss 2009b: 29-32).
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kommen hätte. Zwischen Frau Chibana und ihrem Mann war es der gewohnte Tagesablauf. Dies ist eine von mehreren Regeln, die nach Glaser und Strauss bewusst oder unbewusst befolgt werden, um die Illusion der Normalität aufrechtzuerhalten (vgl. Glaser/Strauss 2009b: 72 ff.). Die scheinbare Normalität wurde dadurch fortgesetzt, indem der Mann von Frau Chibana lange Zeit nach diversen Krankenhausaufenthalten wieder seinem Beruf nachging und ein vergleichsweise normales Leben führte, das anscheinend nicht durch seine Krankheit beeinträchtigt wurde. Frau Chibana macht dies deutlich an dem Umstand, dass ihr Mann bis zum Ende gerne gegessen habe. Eine weitere Regel zur Aufrechterhaltung des Schweigens sei es, heikle Themen zu vermeiden. Wenn über Themen wie das Lebensende oder die Zukunft gesprochen wird, dann haben beide Seiten einen Balanceakt zu vollführen, nicht in ihrem Spiel einzubrechen. Frau Chibana und ihr Mann scheinen den Umgang mit heiklen Themen und die Aufrechterhaltung der Illusion perfektioniert zu haben. Zahlreiche Episoden des Interviews handeln davon, wie sich einer von ihnen mit dem Tod auseinandersetzte – angefangen bei der Ratgeberliteratur die Frau Chibana las, ihren gemeinsamen Besuchen bei Vorträgen zum Thema Sterbebegleitung bis hin zu seinem Interesse für Religionen und die Entscheidung, sich christlich bestatten zu lassen. Beide Seiten scheinen in den Erzählungen von Frau Chibana auszutesten, wie weit die Bereitschaft reicht, die Illusion zu erhalten. Trotz vielfältiger Grenzgänge wurde das Schweigen nicht gebrochen. Augenfällig ist dies vor allem in der Erzählung von Frau Chibana, weshalb sie der JSDD beigetreten sind. Frau Chibana spricht im Interview zwar von der Krankheit ihres Mannes als Grund dafür, dass sie sich mit der Thematik Sterben und Tod beschäftigte. Als Anlass für ihre Patientenverfügung bezeichnet sie jedoch den jahrelangen komatösen Zustand ihrer Tante. Ihr Mann habe sich zunächst skeptisch ihrem Wunsch gegenüber geäußert, Mitglied in der JSDD zu werden. Sie überzeugte ihn jedoch und sie schlossen gemeinsam eine Patientenverfügung ab. Da seine Krankheit nicht als Begründung dienen konnte, war es der für Frau Chibana schockierende Zustand ihrer Tante, die, an medizinische Apparate angeschlossen, über Jahre bewusstlos im Krankenhaus lag. Weil viel auf dem Spiel steht, seien meist beide Seiten bereit, kleine ›Ausrutscher‹ des anderen zu ignorieren, um die Illusion aufrechtzuerhalten (vgl. Glaser/Strauss 2009b: 66). Im Fall von Frau Chibana ging dies soweit, dass ihr Mann kurz vor seinem Tod explizit zu verstehen gab, Bescheid zu wissen: »Er hat bis zuletzt ein vergleichsweise normales Leben geführt [...]. Wir sind, bis ein halbes Jahr, bevor er gestorben ist, auf Reisen gegangen. Bei der letzten Reise, mit ungefähr
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sechs weiteren Paaren, da hat er gesagt, ›ich habe Krebs‹, obwohl er die Menschen überhaupt nicht kannte. Ich war erschrocken. Wir haben nie über dieses Thema gesprochen, das wurde mir von den Ärzten gesagt. Mein Mann hat wohl an der Stimmung gespürt, dass über dieses Thema nicht gesprochen werden darf. Deswegen haben wir bis zum Ende nicht unverstellt reden können. Das war schmerzlich.«
Die weit verbreitete Rechtfertigung für das Verschweigen der Diagnose und Prognose, die Frau Chibana auch für den Fall ihres Mannes erwähnt, ist die Meinung, dem Patienten zu schaden, wenn er über seinen Zustand informiert wird. Dieses Erklärungsmuster erwähnen auch Glaser und Strauss als akzeptierte Rechtfertigung für die 1960er-Jahre in den USA, da sie mit den Normen und Routinen des Krankenhauses in Einklang stehe. Sie traf sicherlich auch für eine längere Periode auf die Umgangsweisen in japanischen Krankenhäusern zu. Jedoch zeigt das Handeln von Frau Chibana – die Ärzte um eine Aufklärung ihres Mannes zu bitten –, wie diese Norm in Frage gestellt wird. Für ihr eigenes Lebensende wünscht sich Frau Chibana entsprechend, dass sie informiert wird. Als Idealfall klingt bei ihr die Vorstellung an, Zeit zu haben, um sich aus dem Leben zu verabschieden: »Ich möchte es wissen [wenn ich sterben werde]. Ja, wenn man das so macht, dann kann man den Kindern sagen, was auf einen zukommt, man kann sich verabschieden und Danke sagen. Das ist das Wichtigste, Auf Wiedersehen und Danke zu sagen, während man noch bei Bewusstsein ist. Das konnte er nicht [mein Mann], das war das Schmerzlichste.«
Frau Chibana hegt trotz der Erfahrungen, die sie durch die Krankheit und den Tod ihres Mannes gemacht hat, keine großen Bedenken, dass es ihr möglich sein wird, nach ihren Wünschen zu sterben. Der Umgang mit Patienten habe sich seit damals verändert und das Mitteilen von Diagnose und Prognose sei geläufiger geworden, wenn der Patient zu verstehen gibt, dass er um seinen Zustand wissen möchte. Das Fallbeispiel zeigt durch den Konflikt zwischen Frau Chibana und den behandelnden Ärzten, dass die Werte, die das Schweigen als Verhaltensnorm rechtfertigen, bereits in den 1990er-Jahren nicht mehr unhinterfragt anerkannt werden und sich das Arzt-Patienten-Verhältnis, in dem der Arzt eine autoritäre, paternalistische Rolle inne hatte, im Wandel befindet und neu ausgehandelt wird. Dass sich ein Wertewandel zwischen den Generationen vollzogen hat, klingt in Frau Chibanas Erklärung an, der behandelnde Oberarzt sei damals schon sehr alt gewesen und ebenso seine Denkweise. Der Norm, den Patienten vor der Wahrheit zu schützen, um ihn nicht zu beunruhigen und seinen Lebens-
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mut zu beeinträchtigen, setzt Frau Chibana die Idealvorstellung einer bewussten Sterbephase entgegen. Sie möchte ihr Lebensende selbst gestalten und sie sieht das Wissen vom nahenden Tod als Möglichkeit, die verbleibende Lebenszeit zu nutzen, um die ihr wichtigen Dinge zu tun.
2.2 W ISSEN -W OLLEN UND W IDERSTÄNDE
ALS NEUE
U MGANGSFORM
Eine wichtige Voraussetzung, um Entscheidungen in der Sterbephase zu treffen, ist es, über Wissen zur eigenen Situation zu verfügen oder informiert werden zu wollen. Long und Long berichten 1982, dass fast alle ihrer Interviewpartner zu verstehen gaben, nicht über eine tödliche Krankheit oder den nahenden Tod informiert werden zu wollen. Sie befürchteten, diesen Informationen nicht gewachsen zu sein (vgl. Long/Long 1982: 2102 f.). Die Autoren vermuten, dass sich durch neue Therapieverfahren die Einstellungen ändern und das Krankheitsbild ›Krebs‹ seinen Schrecken verlieren könnte. Seit 1987 führt das Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt etwa alle fünf Jahre Umfragen zur Einstellung zu Behandlungen am Lebensende durch. Die Ergebnisse werden von den großen Tageszeitungen veröffentlicht, die teilweise selbst auch Befragungen durchführen. Einige Jahre später ist bereits ein derartiger Einstellungswandel festzustellen. Kimura verweist auf eine Umfrage der überregionalen Tageszeitung Yomiuri Shinbun aus dem Jahr 1991 und schreibt, 65 Prozent der Befragten gaben an, sie möchten über ihre Krankheit aufgeklärt werden (vgl. Kimura 1998: 188). Auch Leflar bezieht sich auf eine Umfrage zu Fragen der medizinischen Ethik des Prime Minister’s Office von 1990/91 und spricht von einem Einstellungswandel der Bevölkerung, der sich in einer Unzufriedenheit mit den paternalistischen Strukturen und dem Wunsch nach mehr Informationen ausdrücke. 63 Prozent der Befragten gaben in dieser Studie an, dass das Prinzip des informed consent notwendig sei und mehr in den Vordergrund gestellt werden sollte (vgl. Leflar 1996: 90 f.). Ebenso verzeichnet die JSDD für das Jahr 1989 einen einschneidenden Anstieg ihrer Mitgliederzahlen und somit der Nachfrage von Patientenverfügungen.6 Der enorme Mitgliederzuwachs wird von der JSDD auf ein neues öffentli-
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Zu Beginn des Jahres 1989 lagen die Mitgliederzahlen bei 4567 Personen und im Laufe des Jahres beantragten weit über 2000 Personen die Mitgliedschaft, sodass die Mitgliederzahlen zum Jahresende bei 7250 lagen (vgl. Igata 2006: 81, 86). Schon 1988 waren die Neuzugänge auf über 2000 Personen angestiegen (vgl. ebd.: 76, 81).
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ches Problembewusstsein zurückgeführt. Als konkreten Auslöser für die zahlreichen neuen Mitgliedschaften nennen sie die intensive Berichterstattung über die schwere und lange Krankheit des Shôwa Tennôs Hirohito, der am 7. Januar 1989 an Krebs verstarb. In den Medien wurde ausführlich über die Krankheit des Kaisers berichtet (vgl. Igata 2006: 79, 82, 83). Der Tennô wurde nicht über seine Krebsdiagnose aufgeklärt und ebenso hielten die Medien diese Information bis nach seinem Tod zurück. Wie schnell sich in den folgenden Jahren die Einstellungen zur Aufklärung über die Diagnose änderten, wird im Vergleich mit der Berichterstattung über den Speiseröhrenkrebs des Prinzen Tomohito 1992 deutlich. Nur drei Jahre nach dem Versterben des Kaisers berichtete die Presse ausführlich über die Krebsdiagnose und chirurgische Eingriffe, denen sich der Prinz Tomohito unterzog. Leflar wertet diesen Wandel in der medialen Berichterstattung als ein Zeichen dafür, dass das Tabu gebrochen wurde und seither öffentlich über Krebs gesprochen werden konnte (vgl. Leflar 1996: 92). Wie kam es zu diesem Wandel, der sich in den folgenden Jahren noch verstärken sollte? Es gibt vielfältige Faktoren, die zu diesem Wandel beitrugen. Die 1980erund 1990er-Jahre erscheinen als eine Periode, in der verschiedene parallel verlaufende Entwicklungen zusammenspielten und zu einem gesteigerten Problembewusstsein führten. Die Debatte um Hirntod und Organtransplantationen stellte die erste bioethische Debatte dar, die intensiv öffentlich geführt wurde und in deren Zuge Prinzipien wie informed consent diskutiert wurden. Die Medien berichteten ausführlich über Arzneimittelskandale und von Gerichtsverhandlungen, in denen Patienten oder Angehörige für das Recht auf Informationen stritten sowie Sterbehilfefälle aus dem In- und Ausland. Diese Debatten trugen entscheidend dazu bei, dass der Patient als Entscheidungsträger in den Fokus rückte. Der demografische Wandel und veränderte familiäre Strukturen führten zu sozialpolitischen Maßnahmen und auch in der Ärzteschaft fand ein Umdenken statt. Zudem entstanden Interessenverbände, die zu einem Wertewandel und gesteigerten öffentlichen Problembewusstsein beitrugen. Über 400 ›grass-root‹ Organisationen im medizinischen Sektor habe die Yomiuri Shinbun bei einer Umfrage 1991 gezählt (vgl. Leflar 1996: 87). Darunter fallen Selbsthilfe- und Patientengruppen, Zusammenschlüsse von Opfern ärztlichen Fehlverhaltens, Vereinigungen zur Aufklärung und Unterstützung von Patienten und ihren Angehörigen, Verbände, die sich für Reformen des Gesundheitswesens einsetzen, sowie Gesetzesinitiativen für mehr Patientenrechte. Einige dieser Debatten werden im Folgenden skizziert.
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2.2.1 Neue Medizintechnik, die Anfänge der Bioethik und das Prinzip des informed consent In der Yomiuri Shinbun erschien am 10. Juli 2008 ein Artikel über Sterbebegleitung und die Beurteilung lebensverlängernder Maßnahmen, in dem rückblickend die zweite Hälfte der 1960er-Jahre als Beginn der gesellschaftlichen Debatte bezeichnet wird. Als Auslöser wird die Verbreitung von medizintechnischen Apparaten zur künstlichen Beatmung bezeichnet. Diese Beatmungsmaschinen brachten neben ihren vielversprechenden Möglichkeiten zur Lebensrettung auch die Problematik mit sich, dass sie das Leben von Patienten ohne Bewusstsein aufrechterhalten, die keine Aussicht auf Genesung mehr haben (vgl. Yomiuri Shinbun 2008). Diese neue Situation warf Fragen danach auf, ob und wenn ja mit welcher Begründung der Abbruch der künstlichen Beatmung moralisch und juristisch zu rechtfertigen ist. Um diese Fragen zu beantworten, ist eine Verständigung über die Bedeutung von Leben und Tod notwendig. In den folgenden Jahrzehnten wurden diese Fragen in unterschiedlichen Kontexten diskutiert. Aufgrund verschiedener Interpretationen wurden alte Bedeutungen neu belebt, modifiziert und neue Bewertungen eingeführt. Besondere Aufmerksamkeit erlangte die Thematik durch die neuen Möglichkeiten zur Organtransplantation und die medizinische Unterscheidung zwischen ›Hirntod‹ und anderen Zuständen des Bewusstseinsverlusts. Spätestens mit der ersten Herztransplantation 1967 wurde die Definition des Todes zum weltweiten Diskursthema und entfachte auch in Japan eine lange und intensiv geführte Diskussion (vgl. u.a. Lock 2002; Morioka 1995; Steineck 2007). Der Jurist Bai Kôichi schrieb 1970 über eine neue Problematisierung der Rolle des Arztes, die sich durch medizintechnische Errungenschaften zur Aufrechterhaltung vitaler Funktionen ergab. Bisher sei die juristisch definierte ärztliche Aufgabe, den Tod festzustellen oder zu bescheinigen,7 nicht mit dem Heilauftrag des Arztes in Konflikt geraten: »The physician as such fights the disease which is bringing the patient towards death, and tries his best to prolong the patient’s life even for a minute or second. Apart from all this, determination of death is simply recognition of a natural fact, and in observing and judging the fact the physician is putting an end to his own work as a curer.« (Bai 1970: 41)
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Bai erklärt, dass streng genommen nur die Ausstellung des Totenscheins zu den rechtlichen Pflichten des Arztes zählt (vgl. Bai 1970: 37).
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Bai beschreibt den Kampf gegen die Krankheit des Patienten als die eigentliche Aufgabe des Arztes. Der Eintritt des Todes und seine Feststellung durch den Arzt stellen das Ende für den Heilauftrag des Arztes dar, man könnte auch sagen, er realisiert, dass er den Kampf um das Leben seines Patienten verloren hat. In der Vergangenheit seien der Heilauftrag und die Feststellung des Todes nicht als zwei voneinander getrennte Aufgaben des Arztes begriffen worden. Die Feststellung des Todes sei als untergeordnete Funktion gesehen worden. Aufgrund des ärztlichen Ethos und des Vertrauens auf Patientenseite habe es gewöhnlich kaum Grund für die Annahme eines Konfliktes zwischen diesen beiden Aufgaben des Arztes gegeben. Die Situation habe sich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts durch die neuen medizintechnischen Möglichkeiten geändert: »Then the question of how soon an artificial life-sustaining apparatus may be removed from a dying patient has begun to be discussed, and this has given considerable visibility to the conflict between the two functions. The new practice of removing a person’s kidney immediately after his death also has helped to bring into light the distinction between them. Now in the case of heart transplanting, the second act of pronouncing a patient dead directly leads to a third, that is, the act of removing his heart.« (Bai 1970: 42)
Bis zur Entwicklung und zum Einsatz von medizinischen Apparaten wie der künstlichen Beatmung hatte es keinen Grund gegeben, den Tod juristisch zu definieren. Die neuen Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung der Herz-Kreislauffunktionen bei Patienten mit irreparablen Hirnschädigungen und die neuen Techniken zur Transplantation von Organen stellten die Gesellschaft vor ein neuartiges Problem. Die Hirntod-Debatte ist der erste bioethische Diskurs, der in Japan jahrelang und intensiv geführt wurde. Nur drei Jahre nach der weltweit ersten und zwei Jahre nach der ersten japanischen Herztransplantation am Menschen schreibt Bai 1970, der Arzt könne nur als Experte für die Feststellung des Todes angesehen werden, die Definition des Todes sei jedoch keine rein medizinische Angelegenheit, sondern müsse von Juristen, Religionswissenschaftlern, Philosophen und der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden (vgl. Bai 1970: 41). Die Debatte wurde in Japan vergleichsweise lange geführt, mit enormem Widerstand aufgrund von wissenschaftlichen Zweifeln an der Gleichsetzung des Hirntods mit dem Tod des Menschen und kulturell oder religiös begründeten Vorstellungen (vgl. Lock 2002: 3 ff.; Morioka 1995: 87 ff.; Steineck 2006). Erst 1997 wurde mit dem japanischen Organtransplantationsgesetz eine rechtliche Regelung gefunden, die Bai 1970 schon als relativistisches Todeskri-
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terium kritisiert hatte (vgl. Bai 1970: 38 f.).8 Demnach gab es zwei parallel existierende Todesdefinitionen: den herkömmlichen Herzkreislauftod und den Hirntod. Der Hirntod wurde nur diagnostiziert, wenn der Patient im Besitz eines Organspenderausweises war und sich seine Familie mit der Organentnahme einverstanden erklärte. Andernfalls wurden die Vitalfunktionen maschinell aufrechterhalten, bis der Herzkreislauftod eintrat (vgl. Lock 2002: 180 ff.). Mit einer Revision des Gesetzes 2009/10 wurde diese doppelte Todesdefinition abgeschafft und der Hirntod zum juristischen Todeskriterium (vgl. Asai/Kadooka/ Aizawa 2010: 216). Selbstbestimmung und das Prinzip des informed consent spielen in der Debatte um Hirntod und Organtransplantationen eine wichtige Rolle. Dies zeigt sich vor allem in der ersten gesetzlichen Regelung, in der Organentnahmen nicht allein durch die Entscheidung der Angehörigen möglich waren, wenn keine Erklärung des Patienten vorlag. Leflar bezeichnet das Prinzip des informed consent als ›Waffe‹ der Akteure auf beiden Seiten: »On the brain death battlefield, all sides have seized upon ›informed consent‹ as a weapon of convenience« (Leflar 1996: 66). Er stellt fest, dass die häufige Verwendung, wenn auch mit unterschiedlichen inhaltlichen Vorstellungen verbunden, zu einer raschen Ausbreitung und einem hohen Bekanntheitsgrad des Prinzips unter Ärzten und in der Bevölkerung führte (vgl. ebd.: 67). Informed consent sei in der medialen Berichterstattung häufig als ein Weg zur Lösung der Problematik dargestellt worden und stehe im Einklang mit dem Schlagwort einer sozialen und politischen Bewegung der Zeit, die sich für mehr Transparenz (tômeisei) einsetzte (vgl. Leflar 1996: 62). Dass die Hirntod-Frage in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, stellt Leflar als Besonderheit der Debatte dar. Bis zu diesem Zeitpunkt seien Angelegenheiten, die im Interesse der Patienten standen, meist hinter verschlossenen Türen
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Bai reichte kurz nach der ersten Herztransplantation einen Vorschlag ein, wie mit der Definitionsfrage und Organtransplantationen umzugehen sei. Aufgrund seiner Überlegungen, dass jedes Todeskonzept eine menschliche Beurteilung über den Verlust des Lebens ist und ›Tod‹ kein festzustellender Zeitpunkt, sondern vielmehr ein linearer Prozess des Übergangs sei, konstruierte er eine ›Alpha Periode‹, die zwischen dem Tod des Gehirns und dem Versagen der Herzfunktion liege. Diese Periode sei sowohl durch Eigenschaften des Lebens als auch des Todes geprägt und eine Phase des Übergangs von dem einen in den anderen Zustand. Bais Vorschlag sah vor, für diese Alpha Periode strenge juristische Kriterien zu formulieren, unter denen die Organentnahme bei vorliegender Zustimmung des Patienten und seiner Familie vorgenommen werden kann (vgl. Bai 1970: 39 f.).
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des MHW zwischen dem Ministerium, der Ärztekammer und der Pharmaindustrie entschieden worden oder auch ad hoc in einzelnen Kliniken. In diesem Sinne bezeichnet Leflar die Hirntod-Debatte als »harbinger of a transformation in the relationship of medicine to society in Japan: a wedging open of a realm heretofore exclusively the domain of professional and bureaucratic élites« (Leflar 1996: 74). Ähnlich bezeichnet Morioka die Hirntod-Debatte als Modernisierungsfaktor im Feld der medizinischen Praxis. Er charakterisiert den Umgang der Ärzte mit Patienten als »closed-door medicine« (Morioka 1995: 88), die bis in die 1980er-Jahre weit verbreitet gewesen sei. Durch die Hirntod-Debatte, informed consent und Forderungen nach mehr Patientenrechten sei in den 1980er und 1990er-Jahren diese ›verschlossene Tür‹, die den Patienten den Weg zu ihren persönlichen medizinischen Informationen versperrte, geöffnet worden (vgl. Morioka 1995: 90). Zeitgleich mit den enormen Fortschritten in der Medizin und einer steigenden Bedeutung des Krankenhauses als Sterbeort setzte demzufolge ein Verlust der ärztlichen Autorität ein. Die erste Herz-Transplantation in Japan wurde nach anfänglichen Erfolgsmeldungen der Öffentlichkeit als Wada-Fall bekannt und zum Skandal. Der operierende Arzt Wada Jurô sah sich schon bald nach der Transplantation mit Vorwürfen konfrontiert, der Spender sei nach Kriterien des Hirntods noch nicht tot gewesen und der Empfänger, der nur kurze Zeit nach der Transplantation verstarb, hätte kein neues Herz gebraucht. In den jahrelangen Debatten wird der Wada-Fall zum Inbegriff des Misstrauens gegen Ärzte, die aus Eigeninteresse und Karriereorientiertheit ihre Fürsorgepflicht verletzen und am Menschen experimentieren (vgl. Lock 2002: 130 ff.). David J. Rothman untersuchte anhand der amerikanischen Medizingeschichte, wie der Arzt im 20. Jahrhundert immer mehr zum ›Fremden‹ (stranger) wird. Er unterscheidet zunächst in parallel verlaufende Entwicklungen und legt dar, wie in der Verwissenschaftlichung der Medizin und immer größer angelegten medizinischen Experimenten das Verhältnis zwischen Arzt und Patient anonymer wird. Das Ziel medizinischer Experimente sei spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr die Heilung und das Wohl des betroffenen Patienten gewesen, sondern es seien vermehrt nationale oder wissenschaftliche Interessen ausschlaggebend für die Forschung geworden (vgl. Rothman 1991: 30 ff.). In diesem Kontext verortet er die Entstehung der Forderung nach Patientenrechten und einer neuen medizinischen Ethik. Doch gelten die neuen medizinethischen Prinzipien wie informed consent zunächst nur für die Forschung. Für die klinische Praxis wird keine Notwendigkeit gesehen, neue medizinethische Standards zu entwickeln. Ähnlich wie in der Darstellung Bais wird der Arzt als Anwalt seiner Patienten gesehen, der sich für
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deren Wohlergehen einsetzt. Die medizinische Ethik beschreibt Rothman in diesem Kontext als rein von Ärzten dominierte Ethik. Es sei erstaunlich, wie lange religiöse Vertreter und Philosophen keinen Anspruch auf die Ethik der Medizin oder Gesundheit erhoben hätten (vgl. Rothman 1991: 101 f.). Doch auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient außerhalb der medizinischen Forschung stellt Rothman als Entfremdungsprozess dar. Er bezieht sich auf das Zurückgehen von Hausbesuchen und Hausärzten zugunsten technisch immer besser ausgestatteter Arztpraxen und Kliniken und beobachtet, wie die Distanz zwischen Ärzten und Krankenhäusern auf der einen Seite und der Gemeinde andererseits immer größer wird, bis die medizinische und die nichtmedizinische als zwei getrennte Welten wahrgenommen werden. Als eine Folge bezeichnet er eine verschwindende Vertrauensbasis: Aufgrund der Anonymität kann der Patient nicht mehr davon ausgehen, dass er und der Arzt die gleichen Werte teilen (vgl. ebd.: 133). Die Anonymisierung des Arzt-Patienten-Verhältnisses und Skandale um medizinische Experimente sieht Rothman als Beginn eines Diskurses über die medizinische Ethik und erste Bestrebungen, Prinzipen für das neue Verhältnis zwischen Arzt und Patient zu finden. Eine besondere Rolle für diese Entwicklungen schreibt er den Veränderungen zu, welche die Problematik der Organtransplantation und des Hirntods für die Rolle des Arztes brachte: »But however important these initial changes, they were only the opening forays. In the 1960s, medical procedures and technologies, especially in the area of organ transplantation, posed questions that appeared to some physicians – and to even more nonphysicians – to go beyond the fundamental principle of medical ethics or the expertise of the doctor and to require societal intervention. One advance after another framed questions that seemed to demand resolution in the public arena, not in the doctor’s office.« (Rothman 1991: 148)
Die Fragestellungen, die durch die Hirntod- und Organtransplantationsdebatte aufgeworfen wurden, stellt Rothman als entscheidenden Wendepunkt dar, nach dem die Ärzte ihre alleinige Autorität im Feld der medizinischen Ethik nicht mehr beanspruchen können. Dies sei auch gleichzeitig der Zeitpunkt, an dem die medizinische Entscheidungsfindung beginnt, nicht mehr allein eine Angelegenheit der Ärzte zu sein (vgl. ebd.). Auch in Japan wurden durch die Hirntod-Debatte neue, grundlegende Fragen aufgeworfen, die zu einer neuen Todesdefinition führten und die Rolle des Arztes zu einem öffentlichen Diskursthema werden ließen. Jedoch wurden in Japan lange Zeit im Bereich der medizinischen Forschung trotz internationaler Ab-
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kommen keine ethischen Standards verwirklicht. Vielmehr scheinen aufgrund struktureller Faktoren und fehlender Kontrollmechanismen wirtschaftliche Interessen oder Karriereorientiertheit die medizinische und vor allem pharmazeutische Forschung zu dominieren und ethische Fragestellungen zum Umgang mit Versuchspersonen oder mit Patienten ignoriert zu werden. Ein häufiger Kritikpunkt ist die Medikamentenordnung, die den Verkauf von Arzneien durch Ärzte und Krankenhäuser erlaubt. Der finanzielle Gewinn und die Praxis, die Patienten nicht über die Medikamente und eventuelle Nebenwirkungen aufzuklären und bis in die 1980er-Jahre nicht darüber zu informieren, wenn sich Medikamente noch in der Testphase befanden, hat zu vehementer Kritik und Forderung nach mehr Transparenz geführt (vgl. Leflar 1996: 27 ff.). Zudem gab es bis in die 1990er-Jahre keine gesetzliche Pflicht, in der pharmazeutischen Forschung Versuchspersonen über die Medikamente aufzuklären. Erst durch internationalen Druck – weil Pharmakonzerne in den USA japanische Produkte nicht mehr exportierten, da sie nicht den internationalen ethischen Standards genügten – lenkte die exportorientierte Pharmaindustrie ein und das MHW veröffentlichte 1990 die sogenannten Regeln guter klinischer Praxis, in denen informed consent eine Schlüsselfunktion spielt. Als weiteren Grund für die Einführung von informed consent in die medizinische Forschung nennt Leflar, dass renommierte medizinische Fachzeitschriften eine Veröffentlichung japanischer Artikel verweigern, wenn nicht nachgewiesen wird, dass sie internationalen ethischen Standards entsprechen (vgl. Leflar 1996: 30 ff.). Zu einem gesteigerten öffentlichen Problembewusstsein trugen neben Skandalen über ärztliches Fehlverhalten in der Forschung9 auch Medikamentenskandale bei. Contergan, Clioquinol (bekannt als Verursacher für Subakute MyeloOptico Neuropathie, kurz SMON) und HIV-infizierte Blutpräparate sind keine auf Japan beschränkten Vorfälle, doch begünstigten strukturelle Faktoren im japanischen Gesundheitswesen diese Skandale und wirkten einer schnellen Aufklärung entgegen. Roland Domenig verweist in diesem Kontext auf amakudari genannte Verstrickungen von wirtschaftlichen und politischen Interessen. Die Pharmaindustrie kontrolliere die Politik durch das Angebote von führenden Positionen in ihren Konzernen an Ministerialbeamte und lenke auf diese Weise auch die Berufung ihr wohlgesonnener Ärzte in leitende Positionen von Untersuchungsausschüssen (vgl. Domenig 1998: 316 f.).10
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Zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den japanischen Humanexperimenten während des Zweiten Weltkrieges s. Dickinson 2007.
10 Die Pharmaindustrie war in den Nachkriegsjahren in Japan kaum entwickelt und wurde erst durch die gezielte Förderung des MHW in den 1960er- und 1970er-Jahren zu
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Bis in Japan in der klinischen Praxis die Rolle des Arztes als (alleiniger) Entscheidungsträger zum öffentlichen Diskursthema wurde, das sich nicht nur auf einen kleinen Kreis von Akteuren beschränkte, verging jedoch einige Zeit. Schon zum Ende der 1970er-Jahre ist der Fortschritt in der Medizin und vor allem in der technischen Entwicklung der Medizin der Ausgangspunkt der JSE/JSDD für ihre Kritik am Einsatz lebensverlängernder Maßnahmen bei Menschen, die in der terminalen Phase einer Krankheit sind und keine Aussichten auf Besserung ihres Zustandes haben. Auch wenn in vielen Fällen die neue Medizintechnik Leben retten könne und ihr die Langlebigkeit der japanischen Gesellschaft als einer ihrer Erfolge zugeschrieben werde – so lautet die gängige Argumentation –, führe der Einsatz derselben medizinischen Apparaturen in der terminalen Phase zu einem leidvollen Sterben, das durch eine Ablehnung lebensverlängernder Maßnahmen des Patienten im Vorhinein verhindert werden könne (vgl. Igata 2006: 2). Die Kernaussage der JSDD hat sich über die Jahre kaum verändert, jedoch die Aufmerksamkeit und Akzeptanz, die ihren Ziele von der japanischen Gesellschaft entgegengebracht werden. Über ein Jahrzehnt konnten die JSE und später die JSDD kaum Gehör für ihre Anliegen finden. Auch im bioethischen Diskurs, der von der Hirntod- und Organtransplantationsdebatte dominiert wurde, erreichte die Problematik des Behandlungsabbruchs oder des Nicht-Einleitens medizinischer Maßnahmen nur einen kleinen Personenkreis. Die steigenden Mitgliederzahlen der JSDD ab den 1990er-Jahren, zahlreiche kritische Veröffentlichungen zur ärztlichen Praxis und Ratgeberliteratur, welche die Informationslücke durch fehlende ärztliche Beratung füllen, sprechen für ein sich ausbreitendes öffentliches Problembewusstsein. Die JSDD verweist auf die Deklaration von Lissabon11 – in der 1981 ›Sterben in Würde‹ als ein Menschenrecht festgeschrieben
einem der wichtigsten und profitabelsten japanischen Wirtschaftszweige (vgl. Long 2005: 45 f.). 11 Die ›Deklaration von Lissabon zu den Rechten des Patienten‹ wurde im September/Oktober 1981 vom Weltärztebund verabschiedet. In Folge der medizinischen Versuche am Menschen und ärztlichen Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges wurde 1947 der Weltärztebund (World Medical Association, kurz WMA) gegründet, um als internationale Organisation ethische Grundsätze für das ärztliche Handeln zu erarbeiten. Die WMA versteht sich als internationale Berufsvertretung der Ärzte und setzt sich hauptsächlich aus den nationalen Berufsverbänden zusammen, jedoch können auch einzelne Ärzte assoziierte Mitglieder werden. Die japanische Ärztekammer ist seit 1950 Mitglied (vgl. Japan Medical Association o. J.), die deutsche Bundesärztekammer ist seit 1951 vertreten (vgl. Bundesärztekammer 2013). Die Deklaration
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wurde (vgl. Long 2005: 113) –, als ein Schlüsselereignis für die japanische Ärztekammer, ihren Umgang mit Patienten in der terminalen Phase zu überdenken (vgl. Igata 2006: 41). Häufig werden in den Debatten um informed consent Begründungen angeführt, die auf eine kulturelle Unvereinbarkeit des ›westlichen‹ Prinzips mit ›japanischen‹ Werten verweisen. Steineck zufolge seien jedoch diese Annahmen über japanische Besonderheiten als kulturelle Barrieren empirisch widerlegt worden (vgl. Steineck 2008a: 8). Aus zahlreichen Umfragen sei ein hohes Interesse der Bevölkerung abzulesen, in den medizinischen Entscheidungsprozess einbezogen zu werden. Schon in den 1980er-Jahren habe eine Untersuchung der ersten Bioethik-Kommission keine Übereinstimmung zwischen den von Ärzten und Geistes- oder Sozialwissenschaftlern vertretenen kulturellen Traditionen, die der Patientenaufklärung entgegenstünden, zu den von der Bevölkerung vertretenen Werten feststellen können (vgl. ebd.: 9). Aus Umfragen zu Werten und Einstellungen könne heute eine liberale und individualistische Orientierung der Bevölkerung abgelesen werden. Jedoch weist Steineck auch auf Bedenken gegenüber informed consent hin, die er als sachhaltig bezeichnet. In den Handreichungen des japanischen Nationalen Krebs-Zentrums von 1996 sieht Steineck fruchtbare Ansätze, mit diesen Bedenken umzugehen. Dem Einwand vieler Ärzte, die Krebsdiagnose könne für den Patienten einen Schock bedeuten und seinen gesundheitlichen Zustand verschlimmern, werde entgegengehalten, dass viele Behandlungsmethoden ein Mitwirken des Patienten erfordern. Zudem würden sich Widersprüche zwischen der ›harmloseren‹ Diagnose und dem körperlichen Befinden ebenfalls negativ auf den Zustand des Patienten auswirken. Die Handreichungen des Nationalen Krebs-Zentrums machen die Aufklärung des Patienten zur Regel, jedoch wird eine allmähliche und individuell auf die Verfassung des Patienten abgestimmte Aufklärung vorgeschlagen, die ein Arzt-Patienten-Verhältnis fördert, in dem Vertrauen aufgebaut wird (vgl. Steineck 2008a: 20 f.).
von Lissabon widmet sich speziell der Frage nach den Rechten der Patienten vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels, durch den auch das Arzt-PatientenVerhältnis Veränderungen erfahren habe. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Selbstbestimmungsrecht und der Privatsphäre und in Artikel 10 auf der Würde des Patienten. Im ersten Absatz von Artikel 10 wird Respekt vor der Würde und Privatsphäre sowie kulturellen und gesellschaftlichen Werten des Patienten gefordert. Im zweiten Absatz wird Bezug genommen auf die Linderung der Leiden des Patienten nach neuesten medizinischen Erkenntnissen und im dritten Absatz auf das Recht auf menschenwürdige Sterbebegleitung (vgl. Bundesärztekammer 2008).
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In Bezug auf Kommunikationsprobleme, die sich häufig durch die Wissensasymmetrie zwischen Arzt und Patient sowie die wissenschaftliche Sprache der Mediziner ergeben, empfehlen die Handreichungen Fortbildungen für Ärzte sowie eine Einbeziehung des Pflegepersonals, das häufig dem Patienten näher stehe. Eine prozessuale Aufklärung, die dem Patienten Zeit lässt und ihm den Raum gibt, seine Emotionen zu äußern, wird ebenfalls in diesem Kontext als förderlich für das Wohlergehen des Patienten dargestellt (vgl. ebd.: 20). Die Einbeziehung der Familie wird zudem als bedeutsam für die emotionale Unterstützung des Patienten angesehen, insofern dies den Wünschen des Patienten entspricht. Im Gegensatz zu den Richtlinien der Japanischen Ärztekammer, die eine alleinige Aufklärung der Angehörigen als legitim beurteile, wenn der Patient den Anschein erweckt, emotional der Diagnose nicht gewachsen zu sein, verweise das Nationale Krebs-Zentrum auf Fälle, in denen sich die Angehörigen durch die Diagnose und Prognose der Krankheit überlastet fühlten (vgl. ebd.: 21). Häufig würden Vorwürfe geäußert, durch das Prinzip des informed consent entledige sich der Arzt seiner Verantwortung, indem er die Entscheidungsfindung dem Patienten überlasse. Durch die Forderung einer selbstbestimmten Behandlungswahl werde der Patient zudem überfordert. Steineck weist diesen Vorwurf zurück: Durch die prozessuale Aufklärung des Patienten unter Berücksichtigung seiner individuellen Verfassung und Wünsche – die eventuell auch den Wunsch nach Nichtwissen beinhalten können –, werde einer Überforderung entgegengewirkt (vgl. ebd.: 23). Jedoch wendet Steineck auch kritisch ein, dass strukturelle Barrieren – wie keinerlei Möglichkeiten der Ärztekammer, eine Fortbildungspflicht für Ärzte durchzusetzen, sowie zu wenig Zeit und mangelnde Vergütung für ärztliche Beratungsgespräche – der Umsetzung der Handreichungen weiterhin im Wege stehen (vgl. ebd.: 10). 2.2.2 Das Recht auf Wissen und informed consent Vor allem von juristischer Seite wird vermehrt Kritik am ärztlichen Paternalismus geübt. Während eine Bioethik-Kommission des MHWs sich erst ab Mitte der 1980er-Jahre mit der Einführung und Umsetzung des informed consent beschäftigte, wurde die Aufklärung und Einwilligung des Patienten in medizinische Behandlungen in juristischen Fachkreisen schon seit Mitte der 1960er-Jahre diskutiert. Steineck und Leflar verweisen hier vor allem auf das 1965 erschienene Werk Der Weg zum Medizinrecht (Ijigakuhô e no ayumi), in dem Bai die deutsche Praxis und Theorie des informed consent einer japanischen Leserschaft vorstellt (vgl. Leflar 1996: 47; Steineck 2007: 34).
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Während es vor den 1970er-Jahren kaum Klagen in Bezug auf das Prinzip des informed consent gegeben hatte, wird ein Urteil des Bezirksgerichts in Tokyo von 1971 als Wendepunkt genannt. Eine an Brustkrebs erkrankte Frau klagte, weil der behandelnde Arzt ihr nicht wie vereinbart nur die rechte Brust entfernte, sondern aufgrund eines Verdachts auch die linke. Die Richter urteilten, dass dieser gravierende Eingriff nicht ohne ärztliche Erklärung und Zustimmung der Patientin hätte durchgeführt werden dürfen. Der Arzt wurde für schuldig befunden, die körperliche Integrität der Patientin verletzt zu haben (vgl. Leflar 1996: 47). Bis 1998 folgten weitere 150 Klagen, die sich in Bezug auf das Recht zur Selbstbestimmung und seiner Verankerung in Artikel 13 Satz 2 der japanischen Verfassung beriefen (vgl. Steineck 2008a: 8).12 Higuchi hingegen spricht von mindestens einem Fall, in dem in Bezug auf das Recht auf Nichtwissen geklagt wurde (vgl. Higuchi 1991-1992: 456) und bezeichnet erst den Makino-Fall vor dem Obersten Gerichtshof in Nagoya von 1989 als ersten kleinen Schritt in Richtung einer höheren Bewertung der Patientenautonomie. 13 Auch Leflar erwähnt den Makino-Fall als bedeutsam, da der Oberste Gerichtshof von Nagoya in seinem Urteil zwar den angeklagten Arzt freisprach, weil er im Sinne der gängigen ärztlichen Praxis gehandelt hatte, als er die Patientin nicht über den Krebsverdacht informierte, jedoch explizit Stellung zu einem Einstellungswandel der Bevölkerung nahm, der in Zukunft zu berücksichtigen sei (vgl. Leflar 1996: 54). Zu einer stärkeren Betonung von Patientenrechten trug auch die Japanische Anwaltsvereinigung (Nihon Bengoshi Rengôkai) bei, die 1984 ihren Entwurf für
12 Zur rechtlichen Verankerung des Rechts auf Selbstbestimmung in Japan s. Sasakura 1997. 13 Im Makino-Fall klagten die Angehörigen einer verstorbenen GallenblasenkrebsPatientin aufgrund fehlender Aufklärung vor dem Bezirksgericht in Nagoya. Obwohl die Klage mit der Begründung, die Diagnostik sei noch nicht abgeschlossen gewesen, zurückgewiesen wurde, sieht Higuchi in diesem Urteil einen ersten kleinen Schritt zu einer höheren juristischen Gewichtung der Patientenautonomie. In allen vorhergegangenen Fällen, in denen aufgrund fehlender Patientenaufklärung geklagt worden war, hätten die Richter die Klagen mit Verweis auf das ärztliche Ermessen, ob und wie sie den Patienten aufklären, zurückgewiesen (vgl. Higuchi 1991-1992: 462). Die Richter des Bezirksgerichts von Nagoya erkannten jedoch das Selbstbestimmungsrecht der verstorbenen Patientin an und beschränkten in ihrem Urteil das Ermessen des Arztes, zu entscheiden, wen, wann und wie detailliert er über die Diagnose aufklärt, durch die Patientenautonomie, welche durch das Handeln des Arztes nicht verletzt werden dürfe.
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eine Deklaration der Patientenrechte veröffentlichte, in der unter anderem das Recht auf Wissen und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten definiert wurden (vgl. Steineck 2007: 14). Eine Wertverschiebung zugunsten der Selbstbestimmung des Patienten kann auch in der Rechtsprechung zur Sterbehilfe Mitte der 1990er-Jahre festgestellt werden, die das Mitleid der Angehörigen oder Ärzte nicht mehr als Rechtfertigungsgrund für die mögliche Straffreiheit von Sterbehilfe anerkannte (s. Kapitel 2.3). Trotz dieser Entwicklung wird in der Debatte zu informed consent immer wieder auf die hohe Bewertung von Harmonie, Konsens und Pietät oder auf kulturell verankerte hierarchische Rollenverhältnisse in der japanischen Gesellschaft zurückgegriffen, um eine vermeintliche Abneigung gegen das Konzept der ›Rechte‹ zu begründen. Akabayashi bezieht sich im Jahr 2002 auf ein 1976 verfasstes Standardwerk zur Einführung in das japanische Recht und zitiert die Aussagen des Rechtswissenschaftlers Noda Yoshiyuki zur doppelten Struktur der japanischen Gesellschaft. Einerseits verfüge die japanische Gesellschaft über ein modernes juristischen Systems, das in Anlehnung an das französische, englische und schließlich deutsch/preußische Modell zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickelt wurde. Auf der anderen Seite sei die Gesellschaft jedoch noch in feudalen Strukturen verhaftet, die mit der rasanten Modernisierung nicht Schritt halten konnten (vgl. Noda 1976: 8 zitiert in Akabayashi 2002: 521). Der rechtschaffende Bürger versuche sich vom Gesetz fernzuhalten, da das Gesetz ein Mittel des Staates sei, seinen Willen durchzusetzen. Recht und Gesetz werden im Verständnis des japanischen Bürgers mit Strafen assoziiert, und vor Gericht zu ziehen sei schambehaftet (vgl. Noda 1976: 159-160 zitiert in Akabayashi 2002: 521). Akabayashi erkennt zwar an, dass der von ihm zitierte Text Nodas aus dem Jahr 1976 die Verhältnisse von der Nachkriegszeit bis in die 1970er-Jahre beschreibt und dass seitdem die Bedeutung von Menschenrechten, vor allem im Kontext der Patientenaufklärung, eine immer wichtigere Rolle spielen. Doch relativiert er diesen Wandel, der sehr langsam vonstattengehe, und schreibt den Werken der juristischen Autoritäten eine fortwährend hohe Relevanz zu (vgl. Akabayashi 2002: 521). Eric A. Feldman hingegen verfolgt in seiner Studie zur Patientenrechtsbewegung in Japan den Rechtsgedanken bis in die Zeit vor der Modernisierung der japanischen Gesellschaft zurück und sieht beispielsweise in den Bauernaufständen der Edo-Zeit die ersten Vorläufer des modernen Rechtsgedankens (vgl. Feldman 2000: 22-37). Auch Feldman bezieht sich auf Noda und zitiert die glei-
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che Passage,14 um ein Beispiel für den dominanten Rechtsdiskurs in Japan seit der Nachkriegszeit zu geben. Nodas Argumentation in Rekurs auf Kultur und traditionelle soziale Strukturen stellt er die Aussagen John Haleys entgegen, der von einem »myth of the special reluctance of the Japanese to litigate« (Haley 1978: 389, zit. nach Feldman 2000: 110) spricht und die geringe Zahl an Klagen und Gerichtsverfahren auf strukturelle Gründe wie begrenzte Rechtsmittel oder eingeschränkter Rechtsschutz sowie wenige Anwälte und Richter zurückführt (vgl. Haley 1978 in Feldman 2000: 110). Ein weiterer häufig vorgebrachter Grund für die Beschwerlichkeit von Zivilklagen in Japan ist die lange Dauer der Verfahren. Leflar spricht von vier Jahren oder mehr, die häufig zwischen dem Einreichen der Klage und der Urteilsverkündung vergehen (vgl. Leflar 1996: 3, Fußnote 4). Eine weitere Erklärung wird auch in einem erfolgreichen Schlichtungssystem gesehen, das außergerichtliche Einigungen erzielt (vgl. Steineck 2008a: 8). Feldman bemängelt, seit der Nachkriegszeit sei viel über die Gründe für die geringe Anzahl von Gerichtsverfahren geschrieben worden. Dabei sei eine genauere Untersuchung der verhandelten Fälle sowie von Gesetzesinitiativen und Bestrebungen, legale und administrative Veränderungen herbeizuführen, vernachlässigt worden (vgl. Feldman 2000: 111). 15 Den Beginn der Patientenrechtsbewegung sieht Feldman in der Bürgerrechtsbewegung für neue Rechte der 1970er-Jahre. ›Neue Rechte‹ werden im Sinne von Rechten verstanden, die nicht explizit in der japanischen Verfassung festgeschrieben und nicht Bestandteile eines bestimmten Gebiets der Rechtsprechung sind (vgl. Feldman 2000: 39). Als bedeutende Bewegungen, die als Interessenvertretungen auftraten und Sammelklagen einreichten, nennt er die Saitô Hospital Victims’ Group, die seit den frühen 1970er-Jahren gegen ärztliche Kunstfehler klagt, oder die Kitakyûshû Citizens Medical Conference, die sich auf einer allgemeineren Basis für mehr Patientenrechte im Sinne von Bürgerechten einsetzt (vgl. ebd.: 46 f.).
14 Obwohl der Wortlaut in beiden Zitaten derselbe ist (Feldman zitiert einen kürzeren Ausschnitt) und sich beide Autoren auf die englische Übersetzung von 1976 beziehen, geben sie unterschiedliche Seitenzahlen an. Feldman zitiere nach eigenen Angaben die Seite 161, während Akabayashi auf die Seiten 159-160 verweist. 15 Feldman widmet sich in seiner Untersuchung dem Bluterskandal und HIV-Fällen, die vor Gericht verhandelt wurden, sowie der Problematik Hirntod und Organtransplantationen.
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2.2.3 Informed consent jenseits von Kultur? In der Literatur zur Entwicklung des informed consent Prinzips wird meist auf Experimente am Menschen in der medizinischen Forschung im späten 19. Jahrhundert als Anfangspunkt der Diskussion verwiesen. Zwar ließen sich auch schon im 18. Jahrhundert Tendenzen feststellen, Kants Forderung der Aufklärung und Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit auf die körperliche Gesundheit des Menschen zu beziehen, doch sei erst Ende des 19. Jahrhunderts ein Zusammenhang zwischen Aufklärung, Selbstbestimmung und Patientenrechten hergestellt worden (vgl. Winau 2007: 47). Auch Faden und Beauchamp verweisen darauf, dass sich im 18. und 19. Jahrhundert zwar Vorstellungen finden lassen, dass es für die Mitwirkung und Genesung des Patienten gut sei, wenn er über seinen Gesundheitszustand informiert ist, doch fehle das Bewusstsein für Patientenrechte (vgl. Faden/Beauchamp 1986: 56 f.). Vielmehr liege der Fokus der Diskussionen auf den Pflichten des Arztes und die Grundlage der medizinischen Ethik sei paternalistisch. Die Rolle des Arztes werde durch seine Autorität geprägt und der hippokratische Eid gelte als Prinzipienlehre des ärztlichen Handelns (vgl. Winau 2007: 47 f.). Lange Zeit dominierten die Prinzipien des Nicht-Schadens (nil nocere) und der Fürsorge (beneficence) die ärztliche Ethik. In der historischen Entwicklung des Konzepts wird zunächst die Informationspflicht des Arztes gegenüber den Teilnehmern medizinischer Experimente institutionalisiert und im Verlauf des beginnenden 20. Jahrhunderts zu der Pflicht ausgeweitet, die Einwilligung der Versuchsperson einzuholen. Internationale Verbreitung findet das Konzept des informed consent in Folge der Nürnberger Ärzteprozesse von 1947. Die Selbstverpflichtung der Ärzte wird 1964 vom Weltärztebund mit der Deklaration von Helsinki und 1981 mit der Deklaration von Lissabon ausgebaut. Mittlerweile ist informed consent zum Standard geworden, wird jedoch häufig aufgrund seiner Formalisierung kritisiert: Es stärke nicht die Interessen des Patienten, sondern die routinemäßige Aufklärung über Chancen und Risiken der Behandlung diene zuallererst der Absicherung des Arztes. Eine Alternative bieten Konzepte wie ›shared decisionmaking‹, die auf eine partnerschaftliche Gestaltung des Arzt-Patienten-Verhältnisses zielen (vgl. Stollberg 2008: 398 f.). In Japan wurde diese Entstehungsgeschichte des informed consent Prinzips rege rezipiert, shared decision-making ist jedoch bisher kaum diskutiert worden. Es scheint, als habe der Disput um die Übertragbarkeit des häufig als westlich empfundenen informed consent Prinzips eine Auseinandersetzung mit Alternativen gehemmt.
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Worin begründen sich jedoch die Vorbehalte, die einer Einführung des informed consent über lange Zeit entgegengebracht wurden? Die Kritik setzt häufig beim Ursprung des Prinzips an, den die Autoren in der europäischen Kulturgeschichte sehen. Der Diskurs ist geprägt durch eine dichotomische Gegenüberstellung von ›westlichen‹ Werten, deren Realisierung meist in den USA als am weitesten ausgeprägt gesehen wird, und ›japanischen‹ oder ›ostasiatischen‹ Werten, die in der Sichtweise der Autoren keinerlei Grundlage für die Übernahme westlicher Prinzipien bieten. Häufig dreht sich die Diskussion um ›Selbstbestimmung‹ die einem vermeintlichen japanischen Paternalismus gegenübergestellt wird, dessen Grundlage in konfuzianischen Werten verortet und durch einen Verweis auf die hohe Bewertung der Interessen der Gruppe (Gruppenorientierung oder Kollektivismus), die hierarchische Struktur der Gesellschaft sowie Harmonie und Vermeidung von Konflikten erklärt wird. Verfechter einer asiatischen Bioethik, wie Sakamoto Hyakudai – der 1988 zusammen mit Aoki Kiyoshi und Hoshino Kazumasa die Japanische Gesellschaft für Bioethik (Nihon Seimei Rinri Gakkai) gründete (vgl. Steineck 2007: 36) – bezeichnen Selbstbestimmung und informed consent in ihren Schriften als westliche Prinzipen, die nicht mit den Werten der japanischen Bevölkerung zu vereinbaren seien. Sakamoto bezieht sich auf seine Erfahrungen mit der Übernahme euroamerikanischer bioethischer Prinzipien, die seiner Meinung nach nicht zur moralischen Einstellung der japanischen Bevölkerung passen und strebt eine eigene, japanische oder asiatische Bioethik an, die auf konfuzianischen Werten und Rollenverständnissen aufbauen soll (vgl. Sakamoto 1995: 30). Hoshino bezieht sich auf seine Erfahrungen als Arzt in den USA und Japan und stellt in einem seiner Aufsätze einer englischen Leserschaft »the Japanese national sentiment« (Hoshino 1997: 19) vor. Auf der Grundlage seiner Erfahrungen in den USA charakterisiert er die japanischen Bevölkerung und drückt sein Befremden darüber aus, dass Selbstbestimmung und individuelle Rechte in Japan nicht wertgeschätzt würden (vgl. ebd.: 13 ff.). In diesem Zug verneint er die Existenz einer Patientenrechtsbewegung in Japan und spricht von einer Unterordnung unter die Meinung des Experten oder der Gruppe als ›Wesensmerkmal der Japaner‹. Er geht so weit, der japanischen Bevölkerung gar die Fähigkeit zur selbstbestimmten Entscheidungsfindung abzusprechen, da Selbstbestimmung keine kulturelle Verwurzlung habe. Zum Beleg dieser Thesen führt er keinesfalls empirische Untersuchungen an, sondern bezieht sich auf Redewendungen oder Situationen aus anderen sozialen Kontexten: Dass in japanischen Restaurants die Wahl des Salatdressings dem Koch als Experten überlassen werde, verdeutliche seiner Meinung nach, wie weit die Akzeptanz von Paternalismus in Japan gehe (vgl. ebd.: 15). Die japanische Gesellschaft beschreibt er als
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feudalistisch und gruppenorientiert und bezieht sich in seinen Darstellungen auf das ie-System, ein Familienkonzept, das seit der Nachkriegszeit der modernen Kern- und Kleinfamilie wich (vgl. ebd.: 17 ff.). Aufgrund der Beobachtung, dass die Familie häufig anstelle des Patienten aufgeklärt wird und ihr bei der Entscheidungsfindung eine wichtige Funktion zugeschrieben wird, wurde häufig ›family consent‹ als Alternative zu informed consent vorgeschlagen. Gedankliche Grundlage für dieses Konzept bildet die Dichotomie des individualistischen Westens und des kollektivistischen Japans. Begründet wird dieses Konzept durch verschiedenste kulturelle Traditionen, die als Basis für die medizinische Ethik in Japan gesehen werden: »The ethical basis for decision making in Japan has been attributed to the philosophical traditions of Confucianism, Buddhism, and cultural values of harmony, consensus, and deference to authority. While individualism has flourished in the West, the philosophical traditions of Shinto and Buddhism have not nurtured the development of individualism in Japan.« (Fetters 1998: 133)
Kritiker haben nicht selten angemerkt, dass die Dichotomie des ›individualistischen Westens‹ und des ›kollektivistischen Japans‹ reduktionistisch sei und die Sicht auf innersoziale Differenzierungen versperre (vgl. Steineck 2008a: 6). Weder in den USA sei Selbstbestimmung in dem Ausmaß realisiert und alleiniges Handlungsprinzip, wie häufig dargestellt, noch sei die japanische klinische Praxis rein paternalistisch geprägt oder Paternalismus unhinterfragt das angemessene Prinzip für das Verhältnis zwischen Arzt und Patient (vgl. Higuchi 19911992: 457 und 468 f.). Zudem entbehre die dichotomische Darstellung und der Bezug auf eigenkulturelle Werte, die in den Traditionen der Vergangenheit gesehen werden, jeglicher empirischer Überprüfung auf ihre soziale Verbindlichkeit und sie würden häufig eher die Interessen einzelner, einflussreicher Individuen oder Organisationen widerspiegeln (vgl. Lock 1995 und Steineck 2008a: 8 f., 13 f.). Hinzu komme eine häufig nur geringe Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung in Japan und mangelnde Kenntnis der japanischen Diskurse auch seitens japanischer Autoren. Steineck verweist in diesem Zusammenhang darauf, nur wenigen Kritikern des informed consent Prinzips sei bekannt, dass das japanische Grundlagenwerk zu den Rechten und Pflichten des Arztes auf den Juristen Ichimura Mitsue im Jahr 1906 zurückgeht. Auch wenn Ichimura keine umfassende Informationspflicht des Arztes formuliere und die Einwilligung des Patienten nur bei außergewöhnlichen Eingriffen vorsehe, sei hier der Beginn einer ersten Diskussion der ärztlichen Aufklärungspflicht zu sehen (vgl. Steineck
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2008a: 13). Als eine weitere, frühe Auseinandersetzung mit der ärztlichen Informationspflicht nennt Leflar den Aufsatz des Richters Maruyama Masaji aus dem Jahr 1934, der sich an der deutschen zivilrechtlichen Aufklärungspflicht orientiert (vgl. Leflar 1996: 46). Der Philosoph Hamano Kenzo setzt bei der häufig vertretenen These an, es gebe keine Grundlage für die Menschenrechte in der japanischen Bioethik. In Rückgriff auf die Schriften Nakane Chômins (1847-1901) und die ›Bewegung für Bürgerrechte und Freiheit‹ (jiyû minken undô) im ausgehenden 19. Jahrhundert plädiert er für eine eingehende Beschäftigung mit dieser frühen japanischen Demokratiebewegung in der japanischen Bioethik und sieht durchaus die Möglichkeit einer konfuzianischen Begründung der Menschenrechte (vgl. Hamano 1997: 328 ff. und 335). Hamanos Ausführungen zeigen ferner, dass eine historische Betrachtung der modernen Medizin in Japan die Rede von einem ›japanischen Paternalismus‹ obsolet und als äußerst bedenklich erscheinen lässt. Er diskutiert in einem Aufsatz verschiedene Gründe für den Paternalismus und bezieht sich auf die Schriften des Mediziners Matsuda Michio. Er stellt einen Zusammenhang zwischen der enorm schnellen Modernisierung Japans und der Übernahme der westlichen Medizin als Ursprung und begünstigenden Faktor für den Paternalismus fest. Die Einführung der westlichen Medizin war ein Regierungsprojekt im Zuge der Modernisierung. Japanische Ärzte, die im Ausland studierten oder von ausländischen Medizinern in Japan ausgebildet wurden, gehörten zur Elite der neu entstehenden kaiserlichen Universitäten. Auch die ersten Krankenhäuser hatten eine institutionelle Anbindung an die imperialen Universitäten. Hamano beschreibt die Kluft zwischen dem Status der Ärzte und Patienten als Grundstein der ärztlichen Autorität und des ärztlichen Paternalismus: »Hence, for ordinary folk, modern medicine seemed to be hermetic knowledge and techniques, which they had to receive with awe and gratitude. The doctors’ authority, reinforced by governmental policy and the huge gab between patients and doctors, provided an ideal ground for the creation and perpetuation of medical paternalism.« (Hamano 1997: 334)
Einen weiteren Erklärungsansatz sieht Hamano in den Schriften des Mediziners Nakagawa Yonezô. Die japanische Regierung habe bei der Übernahme der westlichen Medizin die deutsche oder preußische Militärmedizin zum Vorbild genommen und mit dem medizinischen Wissen gleichzeitig die militärische Disziplin und eine stark hierarchische Gliederung des medizinischen Systems übernommen (vgl. ebd.: 334). Konfuzianische Gedanken seien Hamano zufolge ge-
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nutzt worden, um den Paternalismus und die hierarchische Struktur zu festigen und unter den Ärzten und in der Bevölkerung zu verankern (vgl. ebd.: 335). Die militärische Disziplin habe eine Sicht auf den Patienten als reines Objekt oder Forschungsmaterial begünstigt, eine Sichtweise, die in den Menschenexperimenten der japanischen Militärärzte mit Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkrieges ihren Tiefpunkt fand. Hamano kritisiert, dass viele der Ärzte, die an den Experimenten beteiligt waren, nach dem Krieg nicht zur Verantwortung gezogen wurden und in der Nachkriegszeit wichtige Ämter medizinischer Organisationen – unter anderen den Vorsitz der Ärztekammer – bekleideten. Die alten Verstrickungen zeigen sich auch anhand der Verantwortlichen für medizinische Skandale. Seine Kritik am Paternalismus ist in diesem Sinne eine Kritik am Fortbestehen der militärisch geprägten Strukturen. Auch das Prinzip des family consent erscheint aufgrund der empirischen Studien kein alternatives Lösungskonzept darzustellen. Abgesehen von der Frage, ob eine Favorisierung des Wohlergehens der Familie zugunsten einer Fremdbestimmung des Patienten moralisch vertretbar ist, haben die oben erwähnte Studie von Asai et al. ebenso wie die beiden dargestellten Fallbeispiele deutlich auf die Komplexität sozialer Beziehungen in medizinischen Entscheidungssituationen verwiesen. Sie stellen die gesellschaftliche Akzeptanz für die Familie als Entscheidungsträger infrage. Die enorme Belastung, die ein Verschweigen der Diagnose für die Ehepartner in den Fallbeispielen darstellt, mag eine Zeit lang im Sinne familiärer Rollenverpflichtungen als verantwortliches Handeln interpretiert worden sein. Vor allem zeigt jedoch das Fallbeispiel von Frau Chibana, wie die fürsorgliche Grundlage dieses Handlungsmusters zugunsten eines bewussten Umgangs mit dem Tod infrage gestellt wird. Die Studie von Asai et al. sowie weitere Fallbeispiele (s. Kapitel 2.1.2, 2.1.3 und 3.2) verdeutlichen, dass medizinische Entscheidungsfindungen zwischen den Angehörigen sowie zwischen der Familie und den Ärzten keinesfalls konfliktfrei verlaufen und für die Angehörigen noch Jahre später Anlass für Zweifel sein können, ob sie im Sinne des Betroffenen die richtige Entscheidung getroffen haben. Auch Hayashi und Kitamura äußern sich kritisch gegenüber der medizinischen Praxis und dem Verhältnis zwischen Arzt, Patient und Angehörigen. Sie bemängeln, nur die Familie über die Diagnose und Prognose aufzuklären, bürde den Angehörigen eine viel zu hohe Verantwortung in Entscheidungssituationen auf. Die Autoren vermuten, dass ein Grund für das häufige Auftreten von Sterbehilfe-Fällen, in denen die Tötung von den Angehörigen durchgeführt wurde, in einer Überlastung der Familie gesehen werden kann (vgl. Hayashi/Kitamura 2002: 568).
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Nicht selten treten im Zuge einer Erklärung, die sich allein auf kulturelle Faktoren beschränkt, strukturelle Gründe zurück – wie die oben dargestellte hohe Anzahl an Patientenkontakten der Ärzte oder kaum vorhandene Möglichkeiten, Beratungsgespräche über die Gebührenordnung abzurechnen, und Verstrickungen zwischen Pharmaindustrie, Politik und Medizin – und verschleiern auf diese Weise entscheidende Hindernisse. Die Kritik an einer einseitigen und reduktionistischen Argumentation mithilfe des Kulturbegriffs, die sich gegen Neuerungen oder Patientenautonomie richtet, nimmt auch in anderen bioethischen Debatten zu.16 Im Jahr 2008 veröffentlichte die Kulturanthropologin Michi Knecht einen Artikel zum Umgang mit Patientenverfügungen in einem globalisierten medizinischen Kontext und schlug einen Weg ›jenseits von Kultur‹ vor. Lange Zeit sei in der Bioethik und Medizin die Frage nach einem professionellen Umgang mit einer steigenden Diversität von Lebensstilen und Werten ignoriert worden. Heute werde vermehrt auch die Sozial- und Kulturanthropologie mit einbezogen, wenn es um einen kultursensiblen Umgang mit bioethischen Problemfeldern gehe. Jedoch sehe sich die Sozial- und Kulturanthropologie mit dem Problem konfrontiert, dass nicht selten von ihr verlangt werde, eine Art Rezept-Wissen zur Verfügung zu stellen, wie mit Mitgliedern bestimmter Gruppen und Ethnien zu verfahren sei (vgl. Knecht 2008: 169 f.). Knecht führt die Problematik auf unterschiedliche Kulturbegriffe zurück und argumentiert für eine intensivere Auseinandersetzung mit einem Verständnis von Kultur, basierend auf einem methodischen Zugang und auf Reflexionstechniken, wie sie in der Sozial- und Kulturanthropologie heute verwendet werden (vgl. ebd.: 172). Zeitgleich veröffentlichte Steineck einen Artikel zu informed consent in Japan und verfolgte einen Ansatz ›jenseits des Kulturvergleichs‹. Er erklärt zu dieser Vorgehensweise, dass das Paradigma des Kulturvergleichs häufig sowohl auf der europäisch-amerikanischen als auch von japanischer Seite bemüht werde, wenn es um die japanische Bioethik gehe, diese Betrachtungsweise jedoch unzulänglich sei (vgl. Steineck 2008a: 6). Er legt dar, dass die internationale Bioethik-Debatte in Japan rege rezipiert werde, die japanischen Diskussionen in der internationalen Debatte jedoch kaum wahrgenommen werden. Zum einen könne dies auf eine Sprachbarriere zurückgeführt werden. Ausschlaggebender scheine
16 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der kulturrelativistischen Zurückweisung des informed consent und der Selbstbestimmung in der japanischen Debatte zum Schwangerschaftsabbruch s. Kato/Sleeboom-Faulkner 2011, zur Hirntoddebatte s. Morioka 1995 und Locks Kommentar zu Morioka 1995 sowie Lock 2002. Einen guten Überblick zum Kulturbegriff in der japanischen Bioethik gibt Steineck 2006.
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jedoch zu sein, dass durch das Paradigma des Kulturvergleichs japanische Beiträge von vornherein als fremdkulturell außen vor bleiben: »Strukturell ordnet dieses Modell [der Kulturvergleich] japanische Beiträge als Repräsentanten der japanischen Kultur ein. Ihre Wahrnehmung kann dann außerhalb Japans [...] bestenfalls noch dazu dienen, die Generalisierbarkeit allfälliger Aussagen und Werturteile aus der von der japanischen abgegrenzten ›eigenen Kultur‹ abzuschätzen. Dazu genügt die Rezeption eines undifferenzierten Gesamtbildes; auf die Auseinandersetzung mit einzelnen Positionen und ihren Begründungen kann verzichtet werden. Entsprechend wird auch darauf verzichtet. Umgekehrt sind Argumente, die einer fremden Kultur zugeordnet wurden, theoretisch gleichsam entschärft und haben wenig Chancen darauf, hinsichtlich ihrer Valenz erwogen zu werden. Sie können damit auch nicht mehr kritisch produktiv wirken.« (Steineck 2008a: 6)
Durch die strukturelle Einordnung der japanischen Beiträge als fremdkulturell findet kein gleichberechtigter Austausch statt. Wie an vielen Beiträgen gesehen werden kann, wird die vermeintliche Praxis in Europa und den USA als Standard dargestellt. Japan erscheint häufig als ›hinterher‹ und die durchaus auch für die internationale Debatte interessanten Modifikationen des informed consent Prinzips als kontinuierlicher Prozess unter Einbeziehung des Pflegepersonals und der Angehörigen werden nicht als Alternativen diskutiert – ein Lernen aus der japanischen Debatte und Praxis scheint somit von vornherein ausgeschlossen zu sein. Ein symmetrisches Forschungsdesign, wie es beispielsweise Knecht in ihrem Artikel auch für die Bioethik oder Forschungen zur medizinischen Praxis fordert, schreibe die kulturelle Differenz nicht einseitig zu, sondern sehe sie als Zuschreibungsakt, der erst in Interaktion entstehe. Aus diesem Grund ist ein reflexiver Umgang mit der kulturhistorischen Entstehung des ›Eigenen‹ ebenso Teil der Forschung und mache auch nicht vor der modernen Biomedizin, Bioethik oder der Wissenschaft und ihren Konzepten halt (vgl. Knecht 2008: 174). Beide Autoren sehen die Problematik begründet in einem deterministischen oder essentialistischen Kulturbegriff, der von getrennten Kulturräumen ausgeht, die mit nationalstaatlichen Grenzen oder Ethnien, Religion (vgl. Steineck 2008a: 6), Sprache oder kulturellen Identitäten und Werten gleichgesetzt werden (vgl. Knecht 2008: 172). Der deterministische Kulturbegriff blende »wesentliche kulturprägende Faktoren wie Naturwissenschaft, Technik oder Ökonomie, deren bestimmende Parameter nicht national oder religiös sind« (Steineck 2008a: 6) aus, während der essentialistische Kulturbegriff sie zwar nicht leugne, jedoch auch nicht als bestimmende Faktoren begreife. Als problematisch bezeichnet Steineck, dass bereits vorausgesetzt wird, was erst zu zeigen wäre:
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»Denn es ist im Einzelfall erst zu zeigen, ob und in welchem Maße eine Abweichung von einer wie auch immer gesetzten Vergleichsnorm auf nationalen oder religiösen Traditionen beruht. In jedem Fall eignet solchen Kulturdiskursen die Tendenz, die kulturelle Binnendifferenzierung von Gesellschaften zu unterschätzen und auszublenden, wenn nicht gar normativ zu beschränken.« (Steineck 2008a: 6)
Ebenso bezeichnet Knecht ein deterministisches und statisches Kulturkonzept als zu simples und obsoletes Modell, um die kulturellen Dynamiken und Verflechtungen gegenwärtiger Gesellschaften zu erklären (vgl. Knecht 2008: 173). Auch die Vorstellung von Kultur als Eigenschaften oder Merkmale, die während der Sozialisation erworben werden, Gemeinsamkeiten mit der sozialen Gruppe darstellen und individuelles Handeln prägen, verwirft Knecht als zu statisch und deterministisch. Sie schlägt einen Kulturbegriff vor, der prozessual und dynamisch ist, der Kultur vielmehr als Ressource und Wissensform versteht, derer sich die Individuen aktiv und reflexiv bedienen: »Kultur gilt als Ressource oder Wissensform, die individuelles Handeln nicht kausal bestimmt, sondern die von Akteuren stets aktiv und reflexiv angeeignet wird. Als Serie von Kommunikations-, Interaktions- und Distinktionsakten stellt sie ein relationales und unabgeschlossenes Phänomen dar, ist gleichermaßen Produkt wie Modus von Begegnungen. Kultur ist in ihrem Kern und nicht nur an ihren Peripherien heterogen, konfliktreich und umstritten, und als Ergebnis von Austauschprozessen, Beziehungen und Verflechtungen immer hybride, niemals rein.« (Knecht 2008: 173)
Knecht schlägt vor, den Kulturbegriff zugunsten des Begriffs der Wissenspraktiken oder Wissenswege aufzugeben, um die Interaktionen in spezifischen Situationen mehr in der Vordergrund stellen zu können, in denen Kultur nicht von primärer Bedeutung ist (vgl. Knecht 2008: 170 und 179). Es gehe darum zu analysieren, wie Handlungsfähigkeit und Bedeutungszuschreibungen in Interaktionen mit unterschiedlichen Akteuren entstehen. Zu diesen zählt sie neben medizinischem Personal, Patienten und deren Angehörigen auch Krankenkassen, Selbsthilfegruppen, Gesundheitspolitik, Infrastrukturen, Technik und verschiedenste Regularien. Ein Verständnis von Handlungsfähigkeit, die erst situativ in Interaktion entsteht, ermögliche es darüber hinaus, festgefahrene Dichotomien zwischen individueller und relationaler Autonomie – oder in Bezug auf die japanische Diskussion zwischen Individualismus und Kollektivismus – zu überwinden (vgl. Knecht 2008: 179). In diesem Sinne begreife ich auch meine Studie als Kritik an einem häufig bemühten essentialistisch oder deterministischen und statischen Kulturbegriff.
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Die Perspektive des Kulturvergleichs, die in den Debatten häufig zur Abgrenzung des Eigenen vom Fremden bemüht wird, ist eine etablierte Argumentationsstrategie, die kritisch zu betrachten ist. Erklärungen durch ›Kultur‹ sind zu einem gängigen Muster geworden, durch das der ›Verlust des Eigenen‹ beklagt wird oder ›eigene kultureller Traditionen‹ bewahrt und eine Übernahme von Prinzipen wie informed consent abgewehrt werden sollen. Bei genauerer Betrachtung der Argumentationen fällt die Nähe zu den Diskursen über das ›Wesen der Japaner‹ und die nationale Identität Japans (nihonjinron) auf. 17 Die stark hemmende Wirkung dieser argumentativen Strategien kann durch ihre Einbettung in eben diese weit verbreiteten Narrationen und Stereotype erklärt werden, derer sich gelegentlich auch meine Interviewpartner bedienten. Als fest verankerter Teil der Diskurse können diese Argumentationen – selbst wenn sie häufig reduktionistisch sind und keiner empirischen Prüfung standhalten, wie Steinecks detaillierte Untersuchungen zum Kulturbegriff in der japanischen Bioethik zeigen (vgl. Steineck 2006) – nicht ignoriert werden. Doch sollten sie in den historischen Entwicklungsprozess der Diskussionen eingebettet werden und in Relation zu anderen Erklärungsansätzen gesetzt und auf ihre Plausibilität hin überprüft werden. Andererseits ist der vergleichende Blick auf die Geschehnisse und Entwicklungen in Europa und den USA nicht nur Teil der abwehrenden Argumentationen von Traditionalisten, sondern auch fester Bestandteil der um Reformen bemühten Kritiker. Durch die Rezeption der internationalen Debatten wird keinesfalls stillschweigend aus dem Ausland die eine oder andere Problemlösung importiert. Vielmehr sind Informationen über die Praktiken anderer Länder stets Teil der innergesellschaftlichen Diskussionen und Reflexionen. Im Folgenden wird ein Überblick über die Sterbehilfe-Debatte und die japanischen Begrifflichkeiten gegeben und in diesem Zuge verdeutlicht, wie eng die Entwicklungen in Japan mit denen anderer (post-)industrieller Staaten verknüpft sind.
17 Für eine ausführliche Darstellung der Entwicklung und der verschiedenen Phasen der Japaner-Diskurse (nihonjinron) s. Aoki 1996. Zu einer Analyse wie in den Diskursen die Konzepte Kultur, Ethnie und Nation gleichgesetzt werden, s. Sugimoto 1999.
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2.3 S TERBEHILFE : V ON EINER MÖGLICHEN R ECHTFERTIGUNG DURCH M ITLEID ZUR B ETONUNG DER S ELBSTBESTIMMUNG Die Sterbehilfe-Debatte in Japan verläuft parallel zu den bisher dargestellten Diskussionen und ist eng mit den oben beschriebenen Entwicklungen verknüpft. Die erwähnten Richtlinien und Handreichungen für Ärzte zur Aufklärung des Patienten enthalten ab dem Ende der 1980er-Jahre auch Empfehlungen oder Stellungnahmen des Ministeriums und der Ärzteschaft zum Umgang mit Sterbenden und dem Nicht-Einleiten oder dem Abbruch von medizinischen Maßnahmen sowie Unterscheidungen zwischen moralisch und juristisch legitimen Formen der Sterbehilfe. Diese Orientierungshilfen für Ärzte und die neuen Deutungen zum Umgang mit lebenserhaltenden Maßnahmen spiegeln stets auch die internationalen Diskussionen wider. Eine Betrachtung der Terminologie sowie der Rechtsprechung zur Sterbehilfe verdeutlicht diese Beziehung zum internationalen Diskurs. Auch hier kann festgestellt werden, dass das Individuum als Entscheidungsträger in der Sterbephase erst im Laufe der Debatte, insbesondere ab den 1990er-Jahren, immer mehr durch die positive Hervorhebung und Anerkennung der Selbstbestimmung des Patienten oder Sterbenden in den Vordergrund rückt – eine Entwicklung, die sowohl auf innergesellschaftliche Veränderungen als auch auf die Rezeption ähnlicher Entwicklungen in Europa und den USA zurückgeführt werden kann. 2.3.1 Anrakushi, songenshi und die Terminologie der Sterbehilfe In der öffentlichen Debatte werden verschiedene Begriffe verwendet, um die unterschiedlichen Arten der Sterbehilfe zu umschreiben. Als einer der ältesten Ausdrücke kann die Bezeichnung anrakushi (Euthanasie; schöner oder friedlicher Tod) gesehen werden. Laut Otani Izumi gab es schon vor dem Zweiten Weltkrieg unter japanischen Strafrechtlern erste Diskussionen zu anrakushi, jedoch erlangte der Ausdruck erst durch einen Fall, der 1949 in Tokyo vor Gericht kam, und durch den Yamanouchi-Fall von 1962 in Nagoya (s. Kapitel 2.3.2) öffentliche Bekanntheit (vgl. Otani 2010: 50 f.). Ôta Tenrei hingegen verortet die ersten Diskussionen zur Sterbehilfe unter der Verwendung von anrakushi in der Nachkriegszeit. Euthanasie sei unter dieser Bezeichnung zum ersten Mal als Übersetzungsbegriff in der Zeitschrift Readers Digest verwendet worden und dann vor allem 1949 im Tokioter Bezirksgerichtsverfahren, das auch Otani durch die mediale Berichterstattung als bedeutsam für die Verwendung über ju-
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ristische Fachkreise hinaus bezeichnet. Die Anwälte argumentierten sowohl 1949 als auch 1962, es handle sich um anrakushi und plädierten auf unschuldig. In beiden Fällen wurden die Angeklagten jedoch der Beihilfe zum Suizid bzw. der Tötung auf Verlangen an ihren Eltern für schuldig befunden (vgl. Otani 2010: 50 f.).18 Vor dem Zweiten Weltkrieg sei Ôta zufolge die Problematik der Sterbehilfe zwar unter Strafrechtlern diskutiert worden, jedoch unter der Bezeichnung anshijutsu (Methode/Technik zum friedlichen Sterben) sowie anderen Begriffen, die alle die Art und Weise der Schmerzlinderung oder Lebensverkürzung zum Gegenstand haben (vgl. Ôta 1972: 15). Anrakushi setzt sich aus den Schriftzeichen für ›friedlich‹ oder ›sanft‹ (yasuraka oder in der sino-japanischen Lesung an), ›behaglich‹ (raku)19 und Tod (shi) zusammen 20 und bedeutet wörtlich übersetzt ›friedlicher‹ oder ›sanfter Tod‹, ähnlich der altgriechischen Bedeutung von Euthanasie (vgl. Long 2005: 195). Hayashi und Kitamura sprechen davon, dass anrakushi im Japanischen häufig in seiner ursprünglichen oder ›reinen‹ Bedeutung verwendet werde (vgl. Hayashi/Kitamura 2002: 559) und erklären, es bedeute in diesem Kontext vielmehr Schmerzen zu lindern, um einen friedvollen Tod zu ermöglichen, ohne das Leben des Betroffenen zu verkürzen, und komme dem Englischen »palliative care«21 (ebd.) nahe. Aus diesem Grund werde anrakushi auch nicht so eindeutig mit ›Tötung‹ in Verbindung gebracht. Der Sterbehilfe-Befürworter und Gründer der JSE, Ôta Tenrei, widmet dem Begriff in seiner Monografie Anrakushi von 1972 das erste Kapitel (vgl. Ôta 1972: 9-16) und trennt in seinen begriffsgeschichtlichen Erläuterungen zwischen
18 Zur Verurteilung nach Paragraf 202 des japanischen Strafgesetzes zur Beihilfe zum Suizid s. Hayashi und Kitamura (2002: 564). Sie berichten auch von den beiden Fällen, jedoch führen sie für den ersten Fall vor dem Tokioter Bezirksgericht das Jahr 1950 an und für den Yamanouchi-Fall konsequent 1972 statt 1962 (vgl. Hayashi/Kitamura 2002: 560, 564). 19 Long führt als Übersetzung für an in diesem Kontext »lacking danger to the body« (Long 2005: 195) an und für raku »lacking anxiety in the mind« (Long 2005: 195 f.). 20 Ôta übersetzt und erklärt das griechische ›eu‹ mit utsukushii (schön, edel), raku na (behaglich, einfach) und yoi (gut, schön, angenehm) sowie ›thanatos‹ mit shi (Tod) (vgl. Ôta 1972: 10). 21 Für Palliativmedizin oder -pflege ist in Japan durchaus eine eigenständige Bezeichnung bekannt: kanwa kea – eine Übersetzung für das Englische palliative care, die mit der steigenden Anzahl an Hospizen und Palliativstationen in Krankenhäusern auch immer mehr Verbreitung findet.
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den verschiedenen historischen Bedeutungskontexten. Er unterscheidet klar zwischen ursprünglichen und neueren Bedeutungen und erklärt, ursprünglich habe sich Euthanasie/anrakushi auf keine besondere Todesform bezogen, sondern schlicht und ergreifend auf das erlöschende Leben, den schmerzfreien und guten Tod, beispielsweise auf das friedliche ›Einschlafen‹ eines alten Menschen. Hier sieht er eine Parallele zur altgriechischen Bedeutung von Euthanasie, die er sowohl als Ursprung für die europäischen Begriffe und den japanischen Terminus angibt. Der japanische Begriff habe jedoch noch eine weitere Herkunft und leite sich aus den Verwendungen von anraku in Kombination mit -jôdo (Abkürzung für die buddhistische Schule des reinen Landes) oder -sekai (Welt) für das ›reine Land‹ oder buddhistische ›Paradies‹ sowie von anraku-hômon für die buddhistische Lehre aus der chinesischen und japanischen buddhistischen Terminologie ab. Auch in der konfuzianischen Lehre des Menzius findet Ôta Verwendungen von anraku (vgl. ebd.: 10). Auch Long erwähnt die buddhistischen Bedeutungen und nennt die Verwendung in anraku-koku, dem ›reinen Land‹ oder auch ›Paradies‹ (vgl. Long 2005: 195; Long 2001a: 65). Sie verweist in diesem Kontext auf die Bedeutungsvielfallt und die ausgeprägte symbolische und emotionale Komponente, die dem Begriff seine Ambiguität verleihen, und betont ebenso wie Hayashi und Kitamura in Unterscheidung zum englischen Begriff, dass anrakushi weniger eindeutig mit Tötung verknüpft werde als im englischen Sprachgebrauch (vgl. Long 2005: 195). In Bezug auf die neueren Verwendungen von anrakushi geht Ôta auf die europäische Begriffsgeschichte ein, trennt jedoch nicht zwischen der Bedeutung im europäischen und im japanischen Kontext, sodass der Eindruck entsteht, anrakushi habe als Übersetzungsbegriff in der Nachkriegszeit im Japanischen eben diese Bedeutungen der europäischen Euthanasie-Begriffe übernommen. Ôta unterscheidet im Folgenden drei Bedeutungen voneinander, wobei sich die erste und zweite durch ihre Reichweite unterscheiden und die dritte hinsichtlich der Vorgehensweise (vgl. Ôta 1972: 13 f.). In der ersten Bedeutung ist der Begriff am weitesten gefasst: Anrakushi »bedeutet eine Handlung, die Leben vor dem natürlichen Tod beendet, Leben, das seinen gesellschaftlichen Nutzen verloren hat, oder Leben, das keine Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung hat« (Ôta 1972: 10; eigene Übersetzung). Eine Parallele zu vormodernen Praktiken22 weist Ôta zurück. Es handle sich bei anra-
22 Häufig wird in der Literatur als frühe Form von anrakushi auf die Legende des obasuteyama Bezug genommen. Laut dieser Legende wurden in vormodernen Gemeinschaften in der nördlichen Bergregion der japanischen Hauptinsel Honshû alte Frauen,
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kushi um einen Gedanken der Neuzeit, den er auf die europäischen philosophischen Werke wie Thomas Morus Utopia von 1516 oder Francis Bacons Novum Organum von 1620 zurückführt. Problematisiert worden sei der EuthanasieBegriff erst im 19. Jahrhundert, als die ersten Versuche, Sterbekliniken zu errichten oder gesetzliche Grundlagen zu erwirken, in Europa scheiterten (vgl. ebd. 11-12). Schließlich sei der Gedanke der Tötung als Maßnahme zur Befreiung von Leiden und Qual von den Nationalsozialisten im Dritten Reich auf »befremdliche« (iyô) (ebd.: 12) Weise ausgeweitet worden und unter der Formulierung »Vernichtung lebensunwerten Lebens« (seizon no kachi naki seimei no mekkyaku) (ebd.) praktiziert worden. Diese Verwendung bilde bis heute die Grundlage für Missverständnisse und Diskreditierungen des Begriffs (vgl. Ôta 1972: 12). Die zweite Bedeutung schränke die Reichweite insofern ein, als erstens nur Kranke mit schweren körperlichen Leiden Objekt der Sterbehilfe werden sollen und zweitens ›Krankheit‹ als Kriterium weiter eingeschränkt wird auf Erkrankungen, für die nach den neuesten Erkenntnissen der Medizin keine Heilmethoden zur Verfügung stehen. Diese zweite Definition sei auch die zu Beginn der 1970er-Jahre am weitesten verbreitete (vgl. ebd.: 13). Als dritte Bedeutung bezieht sich Ôta auf den Rechtsbegriff. In der strafrechtlichen Diskussion müsse der Begriff genauestens analysiert und von den Definitionen für Mord, Tötung auf Verlangen oder fahrlässige Tötung abgegrenzt werden. Er unterscheide sich demnach »qualitativ« (shitsuteki) (ebd.: 14) von den vorherigen beiden Bedeutungen. Dabei seien neben den Unterscheidungen zwischen demjenigen, der die Sterbehilfe durchführt, und dem, der sie empfängt, auch weitere Differenzierungen zum Vorsatz und den Umständen der Handlung wichtig. Bisher seien diese Differenzierungen kaum vorgenommen worden, schreibt Ôta 1972 und regt zu einer Klärung an (vgl. ebd.: 13-14). Long verzeichnet für die 1990er-Jahre erste Bestrebungen unter japanischen Rechtswissenschaftlern, eine begriffliche Klärung vorzunehmen. Dazu habe man sich an den nordamerikanischen und europäischen Debatten orientiert und Übersetzungsbegriffe geschaffen. Die juristische Fachsprache unterscheidet demnach in sekkyokuteki anrakushi (»active euthanasia«, auch im Sinne von direkter akti-
die keinen Beitrag mehr zur Gemeinschaft beitrugen, in den Bergen ausgesetzt. Otani (2010: 53 f.) äußerst sich kritisch zum historischen Gehalt und gegenwärtigen Argumentationen in Bezug auf obasuteyama. Seine Kritik legt nahe, dass es sich um einen Mythos handelt, der vor allem in der Nachkriegszeit und später von der Sterbehilfebewegung als ›traditionelles‹ japanisches Verhältnis zu Leben und Tod dargestellt wird, um Sterbehilfe als vermeintlich kulturell verwurzelt zu legitimieren.
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ver Sterbehilfe) und shôkyokuteki anrakushi (»passive euthanasia«) und spricht bei indirekter Sterbehilfe von kansetsuteki anrakushi (Long 2005: 194). Jedoch lassen sich – wie die begriffsgeschichtlichen Ausführungen von Ôta zu Beginn der 1970er-Jahre zeigen – in der japanischen Literatur zur Sterbehilfe schon früher terminologische Reflexionen finden, die auch Unterscheidungen in passive und aktive Formen enthalten. So schreibt Igata 2006 rückblickend auf die Gründungszeiten der JSE, dass es schon im Vorlauf der Gründung in der Sôshiki Kaikaku Suru Kai Diskussionen zu aktiver und passiver Sterbehilfe (sekkyokuteki und shôkyokuteki anrakushi bei Igata 2006: 8) gab und sich die Gründungsmitglieder einig waren, nur die passive Sterbehilfe könne gesellschaftliche Akzeptanz finden (vgl. auch Ôta 1982: 58). Auch in anderen Schriften zu Beginn der 1970er-Jahre findet sich schon eine differenziertere Verwendung (vgl. Kôsei Jânaru 1973; Ôta 1972). Hiermit sei nicht gesagt, dass die Unterscheidung in diesen Werken zum ersten Mal getroffen wurde, sondern lediglich dass sie schon vor den 1990er-Jahren vereinzelt in Gebrauch war.23 Die Diskussionen waren auf einen kleinen Kreis von erklärten Befürwortern und Gegnern beschränkt und, wie Ôta erwähnt (s.o.), hatte die begriffliche Klärung unter Strafrechtlern gerade erst begonnen. Die 1990er-Jahre stellen insofern eine besondere Phase dar, als in dieser Zeit durch ein gesteigertes Problembewusstsein in Hinblick auf die Alterung der japanischen Gesellschaft, im Kontext von Pflege und medizinischer Versorgung für Alte und Sterbende, das Thema Sterbehilfe immer mehr ins öffentliche Bewusstsein rückte (vgl. Hayashi/Kitamura 2002: 563). Vor allem durch das Urteil des Bezirksgerichts von Yokohama 1995 im Tôkai Universitätsklinik-Fall (s. Kapitel 2.3.2) wurde die Problematik vermehrt in den Medien diskutiert und die neu aufgestellten Kriterien zur Straffreiheit von Sterbehilfe entfachten eine neue juristische Debatte zu einer Klärung der Begrifflichkeiten. In den 1990er-Jahren habe sich die fachsprachliche Differenzierung von anrakushi weitestgehend auf Juristenkreise beschränkt, selbst Ärzte seien nicht unbedingt mit der Unterscheidung vertraut gewesen (vgl. Long 2005: 194). Dies trifft heute wohl eher nicht mehr zu, jedoch bleibt für Ärzte die Problematik der
23 In der Japan National Diet Library ist als frühestes Werk zum Stichwort anrakushi ein zweiseitiger Artikel aus der buddhistischen Zeitschrift Jôdo (Reines Land) von Satô Mitsuo mit dem Titel »Anrakushi no mondai« (»Das Problem der Euthanasie«) aus dem Jahr 1949 verzeichnet. Hinzu kommen 40 weitere Veröffentlichungen bis zum Ende der 1960er-Jahre, die meisten Aufsätze. Erst ab den 1970er-Jahren erscheinen vermehrt Monografien zum Thema (s. Online Katalog der Japan National Diet Library).
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Rechtsunsicherheit bestehen, vor allem hinsichtlich der Frage, ob der Abbruch von lebenserhaltenden Maßnahmen zur passiven oder aktiven Sterbehilfe zu zählen sei – selbst in Expertenkreisen herrschen hierüber verschiedene Einschätzungen. Ueda definiert passive Sterbehilfe als »das natürliche Sterbenlassen durch das Nichteinleiten oder den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen [...] bei Sterbenden und irreversibel bewusstlosen Patienten« (Ueda 2004: 305). Er unterscheidet weiter in »Hilfe im Sterben« (ebd.) als straflos und »Hilfe zum Sterben« (ebd.), die in den meisten Fällen bei vorliegendem Willen des Patienten auch als straflos gewertet werde. Über die Rechtsfigur des ›Unterlassens durch Tun‹24, durch die in der deutschen Debatte der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen unter die passive Sterbehilfe subsumiert wurde, äußert sich Ueda kritisch und spricht von einem »terminologische[n] Trick« (ebd.: 312), der eher verschleiere als für die nötige Transparenz zu sorgen (vgl. ebd.: 312-313).25 Hayashi und Kitamura hingegen bestimmen passive Sterbehilfe als »the withdrawal of life-sustaining treatment from terminally ill patients« (Hayashi/ Kitamura 2002: 559) und schreiben über die Zulässigkeit »›[p]assive euthanasia‹ may be regarded as permissible, even though not a medical treatment, provided the patient refuses life-sustaining therapy, because physicians have no duty to continue useless treatment of patients with no hope of recovery« (Hayashi/ Kitamura 2002: 560). Auch Akabayashi kommt nach einer Zusammenfassung von verschiedenen Richtlinien und Empfehlungen26 zu dem Schluss »the cessa-
24 In der deutschen Rechtsprechung ist der Abbruch von lebenserhaltenden Maßnahmen durch die Rechtsfigur des ›Unterlassens durch Tun‹ zur passiven Sterbehilfe gezählt worden. Bei der künstlichen Beatmung oder Ernährung werden die Apparaturen als verlängerter Arm des Arztes begriffen, der unerlässlich handelt, um das Leben des Patienten aufrechtzuerhalten. Wird die Beatmung oder Ernährung abgebrochen, wird dies nicht als aktive Handlung mit Todesfolge interpretiert, sondern als Unterlassung der vorhergehenden Handlung ›Beatmung‹ bzw. ›Ernährung‹ (vgl. Ueda 2004: 312). 25 Ueda vergleicht die deutsche und japanische juristische Debatte zur Sterbehilfe und kritisiert den euphemistischen Charakter von anrakushi oder Euthanasie. Er knüpft an die Ablehnung des Begriffs aufgrund der nationalsozialistischen Praktiken zur Eliminierung ›lebensunwerten Lebens‹ an und schlägt vor, die japanische Terminologie an den deutschen Begriff ›Sterbehilfe‹ anzulehnen (rinshi kaijo), um sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit des Begriffs zu distanzieren (vgl. Ueda 2004: 304). Jedoch hat Uedas neu vorgeschlagene Terminologie bisher keine Verbreitung gefunden. 26 Akabayashi stellt in seinem Artikel das ›Manuel of Terminal Care‹ von 1989 vor, das in Zusammenarbeit des MHW mit der japanischen Ärztekammer herausgegeben wur-
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tion of life support is permitted by government, the health care professions and other organizations as long as it fulfills certain conditions. There appears to be a tendency for each hospital to formulate its own policy« (Akabayashi 2002: 520). Doch betont Akabayashi auch, dass die rechtliche Lage trotz des Einstellungswandels zugunsten der passiven Sterbehilfe auf Seiten des Ministeriums, der Ärztekammer, des Wissenschaftsrates und verschiedener Ethikkomitees keinesfalls eindeutig ist: »There are reasons, however, why it may be legally problematic to withdraw life-sustaining treatment« (Akabayashi 2002: 522). Er verweist auf den Artikel 202 des japanischen Strafrechts, der die Beihilfe zum Suizid unter Strafe stellt. Auch bestehe die Gefahr für den Arzt, sich einer Straftat durch Unterlassung schuldig zu machen: »[w]ithholding or withdrawing lifesustaining treatment even with the patient’s request may fulfill the criteria for a criminal act of omission« (Akabayashi 2002: 522). Durch die Wahl von anrakushi für den Organisationsnamen der Japan Society for Euthanasia (Nihon Anrakushi Kyôkai) und ihr Ziel, das Recht zu Sterben rechtlich zu verankern, wurde eine Verknüpfung mit der Bedeutung ›Sterbehilfe‹ verstärkt. Unterstützt wird diese Bedeutungskomponente zudem dadurch, dass sich in medizinischen Kontexten vor allem für die passiven und indirekten Formen der Sterbehilfe neue Begriffe verbreitet haben.27 Anrakushi ist und bleibt jedoch ein abstrakter Begriff, der in der Alltagssprache selten Verwendung findet. Er weist allerdings durch sein erstes Schriftzeichen Verbindungen zur alltagssprachlichen Redewendung yasuraka ni shinu (friedlich oder sanft sterben) auf, die im Kontext des schmerzfreien und friedlichen Todes verwendet wird. Auch das zweite Schriftzeichen wird in der Redewendung raku ni shite kudasai (wörtlich: Bitte machen Sie es leicht/behaglich) als Wunsch oder Aufforderung
de, den 1992 erschienenen Bericht des Bioethics Council of the Japan Medical Association und den Bericht des Wissenschaftsrates von 1994. Des Weiteren führt Akabayashi die Stellungnahmen verschiedener Ethikkomitees aus Krankenhäusern an (vgl. Akabayashi 2002: 519-521). 27 Long verweist auf eine breit angelegte Bevölkerungsumfrage des MHW in den frühen 1990er-Jahren, in der ambivalente Begriffe vermieden wurden und stattdessen Fragen zu bestimmten Krankheitszuständen und medizinischer Behandlung gestellt wurden. Obwohl der Abbruch von ineffizienten medizinischen Maßnahmen bei tödlichen und schmerzvollen Krankheitszuständen von etwa 75 Prozent befürwortet wurde, würden nur ca. 10 Prozent der Bevölkerung aktiven Maßnahmen zur Lebensverkürzung zustimmen. Die Schlussfolgerung der Studie lautete demnach, dass aktive Sterbehilfe kaum Akzeptanz in Japan genießt und dass unbedingt zwischen aktiven und passiven Formen der Sterbehilfe zu unterscheiden sei (vgl. Long 2002: 310 f.).
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in medizinischen Kontexten erwähnt, wenn der Patient oder seine Angehörigen den Arzt um Schmerzlinderung bitten. Somit besteht einerseits eine Verknüpfung zwischen anrakushi und Schmerzlinderung im Sinne der Schmerzlinderung ohne Lebensverkürzung, aber auch zur indirekten aktiven Sterbehilfe, bei der die Lebensverkürzung nicht beabsichtigt ist, aber als Folge der Medikation zur Schmerzlinderung in Kauf genommen wird.28 In der Form raku ni shite kudasai besteht sogar die Möglichkeit, den Wunsch nach physischer Erleichterung und Schmerzlinderung als Aufforderung zu interpretieren, das Leben des Leidenden zu beenden, um ihn von seinen Schmerzen zu befreien (vgl. Long 2005: 196; Long 2001a: 65). Die Grenzen zur aktiven Sterbehilfe, zu ärztlich assistiertem Selbstmord oder zur Tötung aus Mitleid sind demnach fließend. Akteure, die für mehr Akzeptanz der indirekten und passiven Formen der Sterbehilfe werben, verwenden alternative Ausdrücke, um sich vom Gedanken der aktiven Sterbehilfe zu distanzieren. Die enge Verknüpfung von anrakushi mit aktiver Sterbehilfe ist auch ein Grund für die Umbenennung der Japan Society for Euthanasia in ›Japan Society for Dying with Dignity‹ im Jahr 1983. Ôta Tenrei wird häufig von Sterbehilfegegnern für seine Äußerungen kritisiert, er schließe Behinderte und alte Menschen als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft aus und bezeichne sie als soziale Bürde (vgl. Otani 2010: 51 f.). Ôta verstarb 1985,29 doch distanzierte sich die JSE schon zu seinen Lebzeiten und seit Beginn der 1980er-Jahre immer mehr von der aktiven Sterbehilfe und stellte den Gedanken der passiven Sterbehilfe in den Vordergrund ihrer Aktivitäten. Ôta habe offiziell seine Einstellung zur aktiven Sterbehilfe aufgrund einer besseren Palliativversorgung geändert, da die effizientere Schmerzbehandlung die Tö-
28 Die indirekte aktive Sterbehilfe ist in Japan straffrei und wird teilweise mit dem Paragrafen 34 oder 37 des japanischen Strafrechts aufgrund von Notstand gerechtfertigt. Die indirekte Sterbehilfe ohne Lebensverkürzung – also Maßnahmen zur Schmerzmerzlinderung – ist aus standesrechtlicher und -ethischer Sicht sogar geboten, und unterlassene Schmerzlinderung kann als Körperverletzung geahndet werden (vgl. Ueda 2004: 304 f.). 29 Ôta Tenrei starb am 5. Dezember 1985 im Alter von 85 Jahren. Die JSDD würdigt in ihrer Chronik 2006 das Lebenswerk Ôtas, der sein Leben lang als »Systemgegner« (shôgai hantaisei) für Menschenrechte, Freiheit und humanitäre Werte gekämpft habe, auch wenn er während der letzten Jahre seines Lebens körperlich gezeichnet war und bei öffentlichen Auftritten am Gehstock und im Rollstuhl zu sehen war (vgl. Igata 2006: 64 zum Todestag von Ôta sowie Bild und Text auf Seite 58 zur Teilnahme Ôtas an einem Treffen der World Federation of Right to Die Societies 1984 in Frankreich, wo er im Rollstuhl sitzend dem Publikum für seinen Applaus dankt).
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tung auf Verlangen in den meisten Fällen obsolet mache (vgl. Ôta 1982: 61). Seine Gegner überzeugte er nicht mit seinem Gesinnungswandel und auch Long vermutet, dass hinter dem Kurswechsel rein strategische und politisch motivierte Gründe standen, um höhere Mitgliederzahlen zu verzeichnen und den Forderungen der JSE/JSDD nach einer gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen mehr Nachdruck zu verleihen (vgl. Long 2005: 197). Die Umbenennung der Vereinigung erfolgte zudem im Einklang mit einem internationalen Trend, beim Abbruch oder der Ablehnung von lebensverlängernden Maßnahmen von einem ›würdevollen Tod‹ (songenshi) zu sprechen. Erste Erwähnung fand der Begriff songenshi als Übersetzung für die englische Formulierung ›dying with dignity‹ in japanischen Tageszeitungen, die seit Mitte der 1970er-Jahre ausführlich über den Fall der Amerikanerin Karen Ann Quinlan berichteten (vgl. Igata 2006: 13; Otani 2010: 51). Die 21-jährige Karen Ann Quinlan verlor im April 1975 wahrscheinlich aufgrund von Drogen- und Alkoholkonsum das Bewusstsein. Durch Sauerstoffmangel erlitt sie schwere Hirnschädigungen, fiel in ein dauerhaftes Koma und wurde durch künstliche Beatmung am Leben erhalten (vgl. Asahi Shinbun 1976a). Ihre Eltern erwirkten 1976 vor dem Obersten Gericht von New Jersey, dass die Beatmung abgeschaltet wurde. 30 Die Asahi Shinbun berichtet am 1. April unter der Schlagzeile »Das Gerichtsverfahren zum würdevollen Sterben von Karen. Der Oberste Gerichtshof eines amerikanischen Bundesstaates erkennt im weltweit ersten Urteil das Recht auf Sterben an« (Asahi Shinbun 1976b); dies ist das erste Mal, dass songenshi als Übersetzungsbegriff verwendet wurde (vgl. Igata 2006: 13; Otani 2010: 51). Die Yomiuri Shinbun berichtete am selben Tag von dem Urteil und spricht von anrakushi: »Karen, die ›Patientin im vegetativen Zustand‹ aus den USA: Das Urteil erkennt Euthanasie an (anrakushi mitomeru hanketsu)« (Yomiuri Shinbun 1976a). Doch schon bald griff auch die Yomiuri Shinbun die begriffliche Neuschöpfung auf. Die Schlagzeilen beider
30 Trotz Abbruch der Beatmung verstarb Karen Ann Quinlan erst 1985 an einer Lungenentzündung. Sie lag bis zu ihrem Tod im Koma. Die Yomiuri Shinbun berichtete am 25. Mai 1976, dass Karen Ann Quinlan auch nach dem Abschalten der Beatmung weiter lebte und stellte in der Überschrift die Frage, ob das Urteil nun revidiert würde (Yomiuri Shinbun 1976b). Von den Tageszeitungen wird die Thematik bis zum Tod von Karen Ann Quinlan immer wieder aufgegriffen. So berichtet die Asahi Shinbun am 29. März 1981 zum 27. Geburtstag von Karen Ann Quinlan unter der Überschrift »6 Jahre... Sie schläft weiter« (Asahi Shinbun 1981) und die Yomiuri Shinbun titelt ein Jahr später am 30. März 1982: »Karens 28-Jähriger [Geburtstag] aus eigener Kraft« (Yomiuri Shinbun 1982).
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Zeitungen lassen erkennen, dass songenshi und anrakushi noch keine klare begriffliche Trennung oder festgelegte Verwendungsweise erfahren haben. Die Berichterstattung über den Fall der Karen Ann Quinlan trug sowohl international als auch in Japan dazu bei, das Schreckensbild ›Apparatemedizin‹ zu verbreiten, das im Japanischen aufgrund der vielen Schläuche in der Bezeichnung ›Spaghetti-Zustand‹ (supagetti jôtai) sowie ›menschliches Gemüse‹ (shokubutsu ningen) oder ›Pflanzen-Zustand‹ (shokubutsu jôtai) für Menschen in einem dauerhaften Koma seinen Ausdruck fand. Der an Maschinen angeschlossene Mensch wurde zum Sinnbild des künstlich aufrechterhaltenen Lebens, dem nicht gestattet wird, auf natürlichem Weg zu sterben. Die JSE bedient sich häufig dieses Bildes und des Fallbeispiels, um ihren Forderungen durch den Gerichtsbeschluss von New Jersey Nachdruck zu verleihen und die Notwendigkeit von Patientenverfügungen und einer juristischen Regelung zu verdeutlichen. Obwohl die Terminologie schon in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre verwendet wurde, dauerte es einige Jahre, bis sie eine gewisse Verbreitung gefunden hatte. Die ›World Federation of Right to Die Societies‹ – zu deren Gründungsmitgliedern die JSE gehört – verwendete schon in ihrer Tokyo Deklaration von 1976 Formulierungen wie »right to die with dignity« (The World Federation of Right to Die Societies 2013). Doch scheint damals die Verwendung in der JSE auf Widerstand gestoßen zu sein. Ôta habe noch bei der Umbenennung 1983 gesagt, er wolle diese Bezeichnung lieber vermeiden, da die JSE eine Menschenrechtsbewegung auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Humanismus sei und ›dying with dignity‹ eine christliche Konnotation habe (vgl. Otani 2010: 52). Es dauerte etwa sieben Jahre, bis die JSE die Formulierung selbst in ihren japanischen Schriften aufgriff. Der Weltärztebund nahm 1981 Sterben in Würde als ein grundlegendes Menschenrecht in die Deklaration von Lissabon zu den Rechten des Patienten auf. Auf dieses Ereignis verweist die JSDD in ihrer Chronik als Anlass für die damalige JSE sich umzubenennen und ihren Fokus mehr auf die passive Sterbehilfe zu legen, die in Klammern mit ›würdevollem Sterben‹ erklärt wird (vgl. Igata 2006: 41). Seither verwendet die JSDD songenshi anstelle von anrakushi und trägt entscheidend zur Prägung des Begriffs bei. Neben Living Will (ribingu uiru) als Bezeichnung für ihre Patientenverfügungen führte die JSDD songenshi sengensho (›Proklamation zum Sterben in Würde‹) als weiteren Begriff ein. Jedoch ist songenshi immer noch nicht selbsterklärend und wird häufig von der JSDD durch den alltagssprachlichen Begriff shizenshi (natürlicher Tod) erklärt. Zum einen wird durch shizenshi impliziert, dass keine ›künstlichen‹, medizintechnischen Maßnahmen ergriffen werden, um den Tod hinauszögern. Durch den Gegensatz von ›künstlicher‹ Lebensverlängerung und ›natürlichem‹ Sterben
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erhält der Begriff die Konnotation von ›sterben lassen‹. In diesem Sinne wird die Bedeutung auch ausgeweitet auf den Abbruch von lebensverlängernden Maßnahmen. Nicht in der Bedeutung von shizenshi enthalten ist hingegen die aktive Tötung. Zwei weitere Begriffe, die häufig in der Verbindung mit Patientenverfügungen genannt werden, sind ningenrashii shi (menschlicher Tod) und jibunrashii shi (dem Selbst entsprechender Tod) (s. Kapitel 3.2.2). 2.3.2 Überblick zur rechtlichen Lage der Sterbehilfe in Japan Obwohl Schätzungen zufolge in japanischen Krankenhäusern verschiedene Formen der Sterbehilfe stetig praktiziert werden, kommt es äußerst selten vor, dass Anklage aufgrund von Sterbehilfe erhoben wird. Häufig werden Sterbehilfefälle nur bekannt, weil einer der Beteiligten aus dem Krankenhausteam oder der Angehörigen nicht mit der Entscheidung übereinstimmt, dass beispielsweise die lebenserhaltende Beatmung abgestellt wird (vgl. Long 2005: 199; Ueda 2004: 301). Die vergleichbar geringe Zahl an Gerichtsverhandlungen erklärt Ueda mit dem japanischen Opportunitätsprinzip: Die Staatsanwaltschaft könne laut Paragraf 248 der japanischen Strafprozessordnung aufgrund des Charakters, Alters oder der Lebensumstände des Angeklagten sowie unter Berücksichtigung der Tatumstände und des Verhaltens nach der Tat von einer Anklage absehen (vgl. Ueda 2004: 301). Zudem klage die Staatsanwaltschaft nur sehr selten Ärzte an. Meist kämen nur die Fälle vor Gericht, die durch Medienberichte öffentliche Aufmerksamkeit erlangt haben. In den Fällen, in denen von der Staatsanwaltschaft Anklage erhoben wird, käme es dann in 99,5 Prozent der Fälle auch zu einer Verurteilung (vgl. ebd.). Da es bisher in Japan keine gesetzliche Regelung zur Sterbehilfe gibt, findet vor allem der Strafrechtsparagraf 199 wegen Mord oder Totschlag Anwendung, wenn die Einwilligung des Betreffenden nicht vorliegt, oder der Paragraf 202 wegen Beihilfe zum Suizid oder Tötung auf Verlangen, wenn der Patient einwilligt oder um seinen Tod bittet (vgl. Ueda 2004: 300; Hayashi/Kitamura 2002: 559 f.; Kimura 1998: 192 f.).31 Zudem gibt es zwei Urteile, in denen Kriterien für die Straffreiheit bei Sterbehilfe formuliert wurden.
31 Ueda verweist hier explizit auf Unterschiede des japanischen und deutschen Strafrechts: Da in Deutschland nur die Tötung auf Verlangen nach Paragraf 216 strafbar ist, stünde die Rechtsprechung vor dem schwierigen dogmatischen Problem, die straflose Beihilfe zum Suizid und die strafbare Tötung auf Verlangen voneinander zu unterscheiden. In Japan hingegen werden durch den Paragrafen 202 sowohl die Bei-
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In den 1990er-Jahren wurde der erste Fall ärztlicher Sterbehilfe verhandelt. In allen Fällen davor handelte es sich bei den Angeklagten, die wegen Sterbehilfe vor Gericht standen, um Familienmitglieder, die ihre Angehörigen von ihren Leiden befreien wollten. Die Richter zeigten sich grundsätzlich bereit, unter bestimmten Umständen Straffreiheit zu gewähren. Zum ersten Mal wurden 1962 im Yamanouchi-Fall vom Obersten Gerichtshof in Nagoya Kriterien für die Straffreiheit der Sterbehilfe aufgestellt. Diese Kriterien wurden in den folgenden Jahren zur Grundlage für Gerichtsentscheide, bis sie 1995 durch das Urteil im Tôkai Universitätskrankenhaus-Fall von neuen Kriterien des Landesgerichts von Yokohama abgelöst wurden. Die teilweise in der Fachliteratur vertretene Sichtweise, dass Sterbehilfe durch die aufgestellten Kriterien in Japan faktisch legal sei, weist Akabayashi zurück. Zwar hätten bestehende Urteile eine gewisse bindende Kraft für nachfolgende, jedoch spiegeln sie nicht unbedingt die allgemeine juristische Auffassung zur Legalität wider. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Verurteilung kommt, wenn alle Kriterien erfüllt sind, sei äußerst gering. Die Erfüllung der 1962 aufgestellten Kriterien werde in einem Bericht des Bioethics Council of the Japan Medical Association von 1992 jedoch als in der Praxis schwer erfüllbar angesehen (vgl. Akabayashi 2002: 519). Akabayashi verweist darauf, dass die Kriterien für Straffreiheit bisher in keinem einzigen Fall vollzählig erfüllt wurden (vgl. ebd.: 522). Zwar wurden diese ersten Kriterien 1995 von den Kriterien des Landesgerichts Yokohama abgelöst, jedoch gibt es auch hier bisher keinen Fall, in dem die Richter die Kriterien als erfüllt erachteten. Im Folgenden werden die Kriterien von 1962 und 1995 vorgestellt und in den historischen Kontext eingeordnet. Zuvor sei erwähnt, dass die Angeklagten in den meisten Fällen bisher auf der Grundlage von Paragraf 202 des japanischen Strafrechts für Beihilfe zum Suizid oder Tötung auf Verlangen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurden. Ein Urteil des Obersten Gerichtshofes steht bislang aus. Im Nagoyer Urteil zum Yamanouchi-Fall32 wurden 1962 sechs Kriterien für die Straffreiheit festgelegt: (1) Die Situation des Erkrankten muss nach den neuesten Erkenntnissen der Medizin aussichtslos sein, das heißt, es gibt keine Aussicht auf Heilung und der Tod steht unmittelbar bevor. (2) Der Patient leidet an
hilfe zum Suizid als auch die Tötung auf Verlangen unter Strafe gestellt (vgl. Ueda 2004: 300). 32 Der Yamanouchi-Fall wurde nach dem Angeklagten benannt, der seinem Vater, auf dessen Bitte hin ihn zu töten, ein Gemisch aus Insektiziden verabreichte. Der Vater litt aufgrund von Hirnblutungen unter unerträglichen Schmerzen und verstarb durch den Gifttrank (vgl. Long 2005: 198; Ueda 2004: 301 f.).
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unerträglichen Schmerzen und die Angehörigen können sein Leiden nicht mit ansehen. (3) Die Tötung verfolgt allein das Ziel, den Patienten von seinen Schmerzen zu befreien. (4) Der Kranke hat, sofern er bei Bewusstsein und im Besitz seiner uneingeschränkten Urteilsfähigkeit ist, um die Tötung gebeten oder zugestimmt. (5) Die Sterbehilfe wird von einem Arzt oder im Beisein eines Arztes durchgeführt – es sei denn, es gibt hinreichende Gründe dafür, dass sie von jemand anderem ausgeführt wird – und (6) die Tötungsmethode sollte laut vorherrschenden gesellschaftlichen Moralvorstellungen angemessen sein (vgl. Long 2005: 198; Ueda 2004: 301 f.; Hayashi/Kitamura 2002: 560 f.33; Kimura 1998: 196; Ozaki 1997: 24).34 Dieses Urteil ist nicht das erste in einem Sterbehilfe-Fall. Schon 1949 verurteilte das Tokioter Bezirksgericht einen Mann, der seine halbseitig gelähmte Mutter mit Gift getötet hatte (vgl. Otani 2010: 51; Hayashi/Kitamura 2002: 560).35 Der Fall entfachte die ersten Diskussionen in der Nachkriegszeit. Laut Ozaki 36 veröffentlichte 1950 der Jurist Ono Seiichiro einen Kommentar unter dem Titel »Das Problem der Sterbehilfe« (»Anrakushi no Mondai«) in der Fachzeitschrift Hôritsu Jihô und arbeitete Vorschläge aus, auf deren Grundlage Straf-
33 Hayashi und Kitamura datieren das Urteil konsequent auf das Jahr 1972, es besteht jedoch kein Zweifel, dass sie sich auf das gleiche Urteil beziehen, das alle anderen mit 1962 angeben. 34 Vor allem die letzten beiden Kriterien sah der Oberste Gerichtshof von Nagoya im Yamanouchi-Fall als nicht erfüllt an: Der Sohn hatte seinen Vater eigenhändig getötet, ohne einen Arzt um Hilfe zu bitten. Die Verabreichung eines Tranks aus Insektiziden wurde als nicht adäquate und nicht mit den gesellschaftlichen Moralvorstellungen zu vereinbarende Tötungsmethode angesehen. Weil der Vater seinen Sohn ausdrücklich darum gebeten hatte, ihn zu töten, und der Sohn nach Einschätzung des Gerichts aus guter Absicht und kindlicher Pietät gehandelt hatte, wurde die Minimalstrafe verhängt (vgl. Long 2005: 198; Ueda 2004: 302). 35 Otani datiert diesen Fall auf 1949, während Hayashi und Kitamura von 1950 sprechen. 36 Der Philosoph Ozaki Kyoichi beschäftigt sich insbesondere mit dem Themengebiet Medizinethik. Die vorliegende Schrift entstand im Zuge eines Gastaufenthaltes an der Charité in Berlin in den Jahren 1996/97. In den Erläuterungen Ozakis zu den Kriterien zur Straffreiheit bei Sterbehilfe sind sehr interessante Informationen zu finden, jedoch verfällt Ozaki immer wieder in einen Duktus, dem deutschen Leser ›die Japaner‹ und vor allem die ›Essenz der japanischen Mentalität‹ zu erklären. Von Zeit zu Zeit führen ihn seine pauschalen, übergeneralisierten Ausführungen zu recht obskuren kulturrelativistischen Argumentationen.
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freiheit zu gewähren sei (vgl. Ozaki 1997: 23). Die von Ono formulierten wesentlichen Voraussetzungen für die Straffreiheit sind laut Ozaki die Grundlage für das Urteil der Richter aus Nagoya: (1) Die Handlung müsse berechtigt sein, ein Grundsatz der durch die Bedingung der Unheilbarkeit der Krankheit und dem unmittelbaren Bevorstehen des Todes von den Richtern im ersten Kriterium festgelegt wird, (2) für den Patienten gilt die Rechtsfigur des Notstandes, die das Gericht durch heftige Schmerzen gegeben sieht, und (3) die Handlung ist moralisch vertretbar. Ozaki erklärt, dass die Richter von Nagoya das Recht auf Leben zu jedem Zeitpunkt als gegeben erachteten. Durch den Umstand, dass der Arzt seinen Patienten nicht heilen oder sein Leben retten kann, werde er lediglich von seiner Behandlungspflicht enthoben, was ihn zum Behandlungsabbruch oder passiver Sterbehilfe berechtigt, nicht jedoch zur Tötung des Patienten (vgl. Ozaki 1997: 24). Erst durch die Definition der Situation des Patienten als Notstand durch heftige Schmerzen, komme ein zweites Rechtsgut ins Spiel, das eine Abwägung ermöglicht. Laut Ozaki ist das Urteil von Nagoya demnach als eine Abwägung zwischen den Rechtsgütern ›Recht auf Leben‹ und ›Notstand‹ zu verstehen und es müsse erwogen werden, ob der Tod oder die Schmerzen als schlimmer zu erachten sind (vgl. Ozaki 1997: 25). Laut Ozaki bewerte Ono das Recht auf Leben höher als den Willen oder das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, weswegen nicht das subjektive Empfinden allein geeignet sei, eine Abwägung zwischen Leben und Schmerzen zu treffen. Vielmehr sei es das ›Mitleid‹ als moralisches Vermögen des Menschen, erläutert Ozaki, das im zweiten Kriterium von Nagoya mit eingeführt wird. Das Urteil lege, Ozaki zufolge, die Bewertung nicht in die Entscheidungsgewalt des Leidenden, da das 4. Kriterium nur eine Willensbekundung des Patienten fordert, sofern dieser noch bei Bewusstsein ist, sondern das Urteil überlasse die Abwägung den mitleidenden Angehörigen (vgl. ebd.: 25 f.). Besonders für den Fall, dass der Patient nicht mehr bei Bewusstsein ist, rechtfertige Mitleid die Handlung. Mitleid sieht Ozaki auch gleichzeitig als geeignet zur Bewertung für die moralische Angemessenheit der Handlung (6. Kriterium). Aus diesem Grund sei das Urteil von Nagoya auch häufig als Wegbereiter für Tötungen aus Mitleid kritisiert worden. Die Kriterien von Nagoya lösten eine Debatte aus, die auch der Anlass für Ôta Tenrei gewesen zu sein scheint, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Er veröffentlichte ein Jahr später in der Fachzeitschrift Shisô no kagaku (AugustAusgabe 1963) einen Artikel mit dem Titel »Zu einer neuen Auslegung und Legalisierung der Sterbehilfe« (»Anrakushi e no atarashii kaishaku to gôhôka«). Im Jahr 1972 folgte sein erstes Buch zum Thema Sterbehilfe/Euthanasie (Anrakushi) und 1975 führten die Diskussionen in der Sôshiki Kaikaku Suru Kai (Ver-
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einigung zur Reformierung von Bestattungen) zu einem ersten Vorbereitungstreffen, das in der Gründung der JSE resultierte (vgl. Igata 2006: 7). In der ersten Phase der Rechtsprechung zur Sterbehilfe wurde die Tötung in allen Fällen von einem Familienmitglied durchgeführt, sodass das fünfte Kriterium – die ärztliche Durchführung der Sterbehilfe – nicht erfüllt wurde. Als Rechtfertigungsgrund für die Legitimität standen Schmerzen und das Mitleid der Angehörigen im Mittelpunkt der Debatte. Dieser Schwerpunkt verlagerte sich in den 1990er-Jahren zur Betonung des Rechts auf Selbstbestimmung und der Achtung des Patientenwillens. Das Landesgericht von Yokohama verhandelte in den 1990er-Jahren zum ersten Mal einen Fall, in dem ein Arzt der Angeklagte war. Hayashi und Kitamura beziehen sich auf die breite öffentliche Debatte, die dieser Fall auslöste, und schreiben: »Against a changing social background, with Japan becoming a highly aged society and with growing public interest in the problems of treatment and care of the terminally ill, the court was expected to explicitly delineate the legal criteria for allowing euthanasia.« (Hayashi/Kitamura 2002: 563)
Die Richter aus Yokohama stellten in ihrem Urteil 1995 zum Tôkai Universitätskrankenhaus-Fall37 vier neue Kriterien auf, mit denen sie die medizinische und soziale Entwicklung berücksichtigten und die Nagoya-Kriterien ablösten. Die ersten beiden Kriterien legen den Zustand des Patienten fest, für den Sterbehilfe als zulässig erachtet wird: (1) Der Patient leidet an unerträglichen, körperlichen Schmerzen und (2) der Tod steht unausweichlich und kurz bevor (vgl. Hayashi/Kitamura 2002: 563). Beide Punkte finden sich dem Inhalt nach auch in den ersten beiden Kriterien des Nagoya-Urteils wieder und bestimmen die Situation des Patienten. Jedoch wird nicht mehr darauf Bezug genommen, dass der Patient an einer nach neuesten medizinischen Erkenntnissen unheilbaren Krankheit leidet und dass der Anblick seines Leidens für die Angehörigen unerträglich ist. Im dritten und vierten Kriterium aus Yokohama kommt die Neubewertung für die Umstände der Straffreiheit deutlich zum Ausdruck. Hayashi und Kitamura schreiben (3) »[a]ll possible palliative treatment and care to ease the patient’s
37 Im Tôkai Universitätskrankenhaus verabreichte 1991 ein Arzt auf Bitten der Angehörigen einem komatösen Patienten mit multiplen Knochenmarktumoren eine Spritze mit einer Kaliumchlorid-Lösung, die zum Tod des Patienten führte. Der Fall gelangte an die Öffentlichkeit, weil das Pflegpersonal mit der Tötung nicht einverstanden war und den Arzt anzeigte (vgl. Long 2005: 198; Ueda 2004: 302; Hayashi/Kitamura 2002: 563).
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physical pain and suffering have been provided and no other alternatives are available« (Hayashi/Kitamura 2002: 563) und (4) »[t]he patient has expressed a clear and voluntary desire to have his or her life shortened« (ebd.).38 Das fünfte Kriterium aus Nagoya, die Sterbehilfe sollte von einem Arzt ausgeführt werden, wurde nicht mehr aufgenommen, ebenso nicht das sechste Kriterium, dass die Art und Weise der Ausführung ethischen Ansprüchen genügen müsse. Die Richter sahen in diesem Fall nur das zweite Kriterium – der Tod ist unabwendbar und steht unmittelbar bevor – als erfüllt an. Vor allem das erste und das vierte Kriterium wurden als unerfüllt angesehen, da der Patient sich im Koma befand und so weder Schmerzen litt noch seinen Willen äußern konnte. Da keine Willensäußerung vorlag, verurteilte das Gericht den angeklagten Arzt nach Paragraf 199 wegen Mord zu zwei Jahren Haft auf Bewährung (vgl. Long 2005: 198; Ueda 2004: 302; Hayashi/Kitamura 2002: 563 f.). Die palliativen Möglichkeiten der Schmerzlinderung haben mittlerweile einen Stand erreicht, dass nur noch in seltenen Fällen unerträgliche körperliche Schmerzen nicht gelindert werden können. Hayashi und Kitamura beziehen sich auf eine Studie der Weltgesundheitsorganisation, die schon 1986 verlauten ließ, dass in 90 Prozent aller Fälle Schmerzen durch angemessene palliative Behandlung gelindert werden können (vgl. Hayashi/Kitamura 2002: 564). Die Richter berücksichtigen diese medizinische Entwicklung durch das dritte Kriterium und erachten Schmerzen in Ausnahmefällen zwar noch als verständlichen Grund für den Patientenwunsch den Tod zu beschleunigen, jedoch nehmen sie explizit Bezug darauf, dass alle palliativen Möglichkeiten ausgeschöpft sein müssen. Sterbehilfe mit der Absicht Schmerzen lindern zu wollen, hat zunehmend ihre Legitimation verloren und wird durch das Urteil von Yokohama nicht mehr abgedeckt. Das Mitleid der Angehörigen spielt keine Rolle mehr, stattdessen wird im vierten Kriterium der freiwillig und klar geäußerte Wunsch des Patienten in den Vordergrund gestellt. Ozaki bezeichnet das Urteil als theoretisch bedeutsam, da eine Verschiebung von ›Mitleid‹ zu ›Selbstbestimmung‹ stattfinde (vgl. Ozaki 1997: 27). Die Richter sahen weiterhin das Recht auf Sterben als nicht gegeben an, sondern rechtfertigten durch den Notstand des Patienten und
38 Zu den vier Kriterien im Urteil von Yokohama s. auch Long (2005: 198) und Akabayashi (2002: 526); Ueda übersetzt das erste Kriterium mit »Der Patient muss an heftigen und unheilbaren körperlichen Schmerzen leiden« (Ueda 2004: 302, eigene Hervorhebung), während ›unheilbar‹ von den anderen Autoren nicht mehr als Kriterium angeführt wird. Und Ozaki spricht beim dritten Kriterium nicht explizit von palliativ: »Die Linderung seiner Schmerzen ist nur mit einer Behandlung möglich, durch die der Tod vorzeitig eintritt.« (Ozaki 1997: 28)
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sein Recht auf Selbstbestimmung lediglich die Entscheidung darüber, wann der unausweichlich bevorstehende Tod eintreten soll. Der Patient hat die Wahl zwischen Schmerzen und Lebensverkürzung unter engen Bedingungen und es wird zwischen den Rechtsgütern ›Linderung von Schmerzen‹ und ›Erhaltung des Lebens‹ abgewogen (vgl. Ozaki 1997: 28). Der Arzt ist durch das terminale Stadium der Krankheit von seiner Verpflichtung entbunden, das Patientenleben aufrechtzuerhalten. Durch die Palliativmedizin sehen die Richter ihn jedoch in der Pflicht, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Schmerzen des Patienten zu lindern. Der Wille des Patienten entbindet den Arzt sozusagen bei der palliativen Versorgung vom Grundsatz des Nicht-Schadens und nimmt ihn in die moralische Pflicht, für das Wohlergehen des Patienten zu sorgen – auch wenn dies die Beschleunigung des Sterbeprozesses bedeutet. Der moralischen oder standesethischen Verpflichtung, für das individuelle Patientenwohl zu sorgen, wird höchste Priorität eingeräumt. In diesem Sinne könnte vermutlich der Paragraf 36 des japanischen Strafrechts angewendet werden, demzufolge eine Handlung unter Straffreiheit gestellt wird, »wenn sie den Gesetzen oder Regeln eines Berufes entspricht« (Ueda 2004: 300). Während die ersten Kriterien aus dem Urteil von Nagoya 1962 noch als Kriterien für ›Mitleidstötungen‹ gesehen werden können, wird diese Legitimation durch die Kriterien von Yokohama 1995 ausgeschlossen. Ueda vermutet, die Richter hätten das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in ihrem Urteil höher bewertet, in Anlehnung an die internationale Rechtsprechung zu der Zeit, namentlich der deutschen und niederländischen (vgl. Ueda 2004: 302). Ein Jahr nach dem Yokohama Urteil ereignete sich ein weiterer SterbehilfeFall im Keihoku Krankenhaus39 in der Nähe von Kyoto. Dieser Fall erfuhr ebenfalls große öffentliche Aufmerksamkeit und die Presse diskutierte in ihren Berichterstattungen, inwieweit die vom Landesgericht Yokohama aufgestellten Kriterien erfüllt wurden. Die Yomiuri Shinbun erläutert die 1995 im Tôkai-Fall aufgestellten Kriterien zur Straffreiheit der Sterbehilfe und diskutiert die einzelnen Punkte in Bezug auf die Ermittlungen der Polizei. Im Mittelpunkt der Untersuchungen steht die Frage, ob die Zustimmung des Patienten oder seiner Familie vorgelegen habe. Die Tageszeitung kritisiert, dass im Vergleich zu anderen Ländern der Umgang mit der Aufklärung von Krebspatienten in Japan immer noch
39 Ein Arzt hatte einem befreundeten Patienten, der an Krebs erkrankt war, eine tödliche Dosis eines Muskelrelaxans verabreicht, nachdem die schmerzlindernden Maßnahmen erfolglos geblieben waren. Es kam zu keiner strafrechtlichen Verfolgung des Falls, da der Tod des Patienten eintrat, bevor die Medikation ihre vollständige Wirkung entfaltet hatte (vgl. Akabayashi 2002: 524 f. und 526; Hayashi/Kitamura 2002: 564).
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›rückständig‹ sei, und stellt infrage, ob unter diesen Voraussetzungen jemals die Kriterien zur Straffreiheit von Sterbehilfe erfüllt werden könnten. Es werden kritische Stimmen erwähnt, die bezweifeln, ob ein schwer erkrankter Patient prinzipiell dazu in der Lage sei, seinen Willen zu äußern. Diesen Zweifeln stellt die Yomiuri Shinbun die Erläuterungen des Strafrechtlers Morimoto Masuyuki gegenüber, der vor Fremdbestimmung durch den Arzt und die Familie warnt. Er bezieht sich auf die Bestrebungen deutscher humanistischer Rechtsgelehrter, die in den 1920er-Jahren eine gesetzliche Grundlage für die Mitleidstötung an hoffnungslos Schwerkranken und Behinderten schaffen wollten. Er verweist auf das Missbrauchspotenzial dieser Gedanken und bezieht sich darauf, dass die Nationalsozialisten diese Gedanken missbrauchten und zur ›Auslöschung lebensunwerten Lebens‹ instrumentalisierten. Aus diesem Grund und wegen einer selbstkritischen Haltung sei nach dem Zweiten Weltkrieg der Selbstbestimmung über das eigene Leben höchste Priorität eingeräumt worden. Des Weiteren wird in diesem Artikel auf den Strafrechtler Ôya Minoru verwiesen, dem zufolge der Fall auf die Problematik des würdevollen Sterbens (songenshi mondai) verweise und zeige, dass Patientenverfügungen immer wichtiger werden. Es nahe ein Zeitalter, in dem jeder selbst über die Art und Weise entscheide, wie er oder sie sterben möchte (vgl. Yomiuri Shinbun 1996a). Kimura kommentierte 1996 die unterschiedlichen Positionen zu aktuellen Sterbehilfe-Fällen folgendermaßen: »There is a widening gap between the positions of medical professionals and the lay public on issues in terminal care. The general public is more supportive of the actions of the accused physician at Tokai University and of a more recent case of active euthanasia at Kyoto Keihoku Town Hospital in April 1996. In contrast, the medical profession has a very negative view of such actions even in the case of terminally ill patients.« (Kimura 1996: 377)
Die zustimmende Position der Bevölkerung äußert sich unter anderem auch in den Reaktionen der Yomiuri Shinbun Leser, über welche die Zeitung in einem späteren Artikel berichtet. Vornehmlich ältere Menschen antworten auf die Berichterstattung und äußern ihre Sorgen darüber, in der letzten Lebensphase zu leiden oder den Angehörigen zur Last zu fallen. Es wird eine 63-jährige Frau zitiert, die sich Vorwürfe macht, um lebensverlängernde Maßnahmen für ihre Mutter gebeten zu haben, die bis zu ihrem Tod, angeschlossen an Maschinen, unter Schmerzen litt. Für sich selbst wünscht sich diese Leserin: »Wenn für mich der Zeitpunkt gekommen ist, dann möchte ich menschlich (ningenrashiku) sterben« (Yomiuri Shinbun 1996b; eigene Übersetzung). Mit dieser Bitte sei sie
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Mitglied in der JSDD geworden. Ein anderer Leser im Alter von 75 Jahren schreibt: »Wenn man so alt wird wie ich, dann ist die größte Sorge, der Familie zur Last zu fallen. Ich möchte schon jetzt nicht mehr zur Last werden. Dieser Krankenhausdirektor hat das sicherlich verstanden und seine Entscheidung gefällt. Ich denke, dass seine Entscheidung richtig war. Ich wünsche mir auch Sterbehilfe (anrakushi).« (Yomiuri Shinbun 1996b; eigene Übersetzung) Das gesteigerte öffentliche Bewusstsein für die Problematik bescherte der JSDD einen enormen Anstieg ihrer Mitgliederzahlen. Für das Jahr 1989 verzeichnet sie den ersten einschneidenden Anstieg, den sie als »Verlassen des dunklen Tunnels« (Igata 2006: 83; eigene Übersetzung)40 bezeichnet. Die Organisation erklärt diesen ersten Zuwachs mit einem gesteigerten Problembewusstsein. In ihrer Übersicht zur Entwicklung der Mitgliederzahlen gibt die JSDD auch den Tôkai Universitätskrankenhaus-Fall als ein bedeutendes Ereignis an. Weitere wichtige Ereignisse, denen die JSDD einen Einfluss auf die Zunahme ihrer Mitgliederzahlen zuschreibt, sind eine positive Stellungnahme der japanischen Ärztekammer zum Sterben in Würde von 1992 sowie des japanischen Wissenschaftsrates von 1994. Zudem erlangte 2006 ein weiterer SterbehilfeVorfall öffentliches Interesse: Die Medien berichteten, dass im Imizu Gemeindekrankenhaus seit 2001 ein Arzt bei sieben Patienten die Beatmungsgeräte abgeschaltet hatte (vgl. Igata 2006: 241). Zusammen mit einem Sterbehilfe-Fall aus der Präfektur Kanagawa von 200541 rückte in diesem Zusammenhang die Problematik des Beatmungsabbruchs bei Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS)42 in den Fokus der Diskussionen.
40 Ende des Jahres 1988 lagen die Mitgliederzahlen bei 4567 Personen (vgl. Igata 2006: 81) und zum Jahresende 1989 bei 7250 (vgl. ebd.: 86). Obwohl schon 1988 die Neuzugänge erstmals auf über 2000 Personen angestiegen waren (vgl. ebd.: 76 und 81), bezeichnet Igata das Jahr 1989 als Durchbruch (vgl. ebd.: 86). 41 Eine 60-jährige Frau wurde vom Gerichtshof in Yokohama für Tötung auf Verlangen an ihrem 40-jährigen Sohn schuldig gesprochen. Der an ALS erkrankte Sohn hatte seine Mutter gebeten, die Beatmung abzuschalten. Die Richter erkannten den Konflikt der pflegenden Mutter an, verurteilten sie jedoch zu einer Bewährungsstrafe. Die JSDD berichtet über diesen Fall in ihrer Chronik und resümiert, dass im Verlauf der Verhandlungen die unzulängliche Unterstützung für ALS-Patienten und ihre pflegenden Angehörigen deutlich wurde und die Problematik eines würdevollen Todes durch die mediale Berichterstattung zum Diskussionsthema machte (vgl. Igata 2006: 226 f.). 42 Zum Krankheitsbild ALS, zur Beatmungsfrage bei ALS-Patienten und zur Ablehnung einer rechtlichen Regelung von Patientenverfügungen aus der Sicht eines ALS-
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Auffällig ist, dass vor allem die Zahl der weiblichen JSDD-Mitglieder rasant anstieg. Hier kann möglicherweise ein Zusammenhang mit der Pflegeerfahrung vieler Frauen gesehen werden, die auch Asai et al. als begünstigenden Faktor für eine Ablehnung von lebenserhaltenden Maßnahmen erwähnen. Des Weiteren sind Angaben der JSDD zufolge über 80 Prozent der Mitglieder 65 Jahre oder älter. Die Thematik rückt seither immer mehr in die öffentliche Diskussion und die positive Bewertung von Behandlungsverzicht und Abbruch nimmt stetig zu – sowohl in der Bevölkerung als auch unter Ärzten. Im Jahr 2009 veröffentlichte die Yomiuri Shinbun die neuesten Ergebnisse einer Umfrage des MHLW von 2008. Demnach stieg seit 1998 die Akzeptanz von Patientenverfügungen in der Bevölkerung von 47,6 Prozent auf 61,9 im Jahr 2008 an. Dabei verringerte sich der Anteil der Befragten, die zwar der Meinung sind, die Beachtung des Patientenwillens sei wichtig, bedürfe aber keiner schriftlichen Form, von 34,8 Prozent auf 21,8. Fast unverändert blieb hingegen die Zahl derjenigen, die Patientenverfügungen ablehnen (2,9 Prozent im Jahr 1998 und 2,4 Prozent im Jahr 2008), und der Befragten, die keine Meinung zur Patientenverfügung abgaben oder nichts über diese Möglichkeit wissen (14,7 Prozent im Jahr 1998 und 14 Prozent im Jahr 2008). Über die Hälfte der Bevölkerung (62,4 Prozent) sah im Jahr 2008 keine Notwendigkeit für eine rechtliche Regelung von Patientenverfügungen. Hingegen sprachen sich etwas mehr als die Hälfte der Ärzte (54,1 Prozent) für eine rechtliche Absicherung aus. Im Jahr 2008 befürworteten 79,9 Prozent der Ärzte Patientenverfügungen. Dies stellt einen Anstieg von 10,4 Prozent seit 1998 dar (MHLW 2008 in Yomiuri Shinbun 2009). Auch die JSDD führt regelmäßig Umfragen unter den Angehörigen ihrer verstorbenen Mitglieder durch, um zu erfragen, ob die Patientenverfügung zum Einsatz kam und von den Ärzten beachtet wurde. Für das Jahr 2012 verzeichnet die JSDD, dass in 92 Prozent der Fälle, in denen den behandelnden Ärzten eine Patientenverfügung vorgelegt wurde, diese auch befolgt wurde, und nur für 3 Prozent der Fälle, dass sie ignoriert wurde. Mittlerweile ist die JSDD nicht mehr die einzige Organisation, die Patientenverfügungen anbietet. Kleinere lokale Verbände wie die ›Vereinigung für zufriedenes Sterben‹ (Manzoku Shi no Kai) und die ›Bürgergruppe für das Nachdenken über das Lebensende‹ (Shûmakki wo Kangaeru Shimin no Kai) (vgl. Ni-
Unterstützernetzwerkes s. Kapitel 3.1.2. Zu den Fallbeispielen der ALS-Patienten Frau Minami und Herr Jômon s. insbesondere Kapitel 4.1.2 bis 4.1.5.
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hon Keizai Shinbun 2008) 43 bieten für ihre Mitglieder weitaus detailliertere Formulare als die JSDD an und auch Ärzte haben ihre eigenen Formulare. In den letzten Jahren finden sich in Buchhandlungen neben zahlreichen Büchern zum würdevollen Sterben und Patientenverfügungen auch vorgefertigte Notizbücher, in denen Angaben zu den eigenen Finanzen, familiären Angelegenheiten, Beerdigung usw., aber auch zum Umgang mit Krankheitsdiagnosen und Wünschen bezüglich lebensverlängernder Maßnahmen und Organspenden gemacht werden können.44
2.4 Z WISCHENFAZIT : Z UR E NTWICKLUNG DES P ROBLEMBEWUSSTSEINS UND DER B IOETHIK IN J APAN Ausgangspunkt dieses Kapitels war es zu rekonstruieren, welche Entwicklungen dazu beitrugen, dass die Sterbephase als selbst gestaltbarere letzte Phase des Lebens in das Bewusstsein der Bevölkerung rückte. Dabei konnte gezeigt werden, dass eine wichtige Voraussetzung für die eigene Gestaltung der letzten Lebensphase, das Wissen oder das Wissen-Wollen um den eigenen Zustand, erst während der letzten Jahrzehnte zum Diskursthema wurde. Die Thematik der Patien-
43 In der Nihon Keizai Shinbun (2008) werden in einer Übersicht die verschiedenen Möglichkeiten dargestellt, Patientenverfügungen abzuschließen. Die oben genannten Vereinigungen werden hier hinsichtlich ihrer Mitgliederzahlen, Inhalte und Mitgliedsbeiträge verglichen. Die JSDD ist eindeutig die größte der drei Vereinigungen mit ca. 120.000 Mitgliedern, gefolgt vom Manzoku Shi no Kai mit rund 1500 Mitgliedern und dem Shûmakki wo Kangaeru Shimin no Kai mit etwa 600 Mitgliedern. Am günstigsten ist die Mitgliedschaft im Manzoku Shi no Kai mit 3000 Yen pro Jahr oder 10.000 Yen für eine lebenslange Mitgliedschaft. In den beiden anderen Vereinigungen kostet die Jahresmitgliedschaft 2000 Yen, wobei die JSDD einen ermäßigten Mitgliedsbeitrag für Ehepaare anbietet, der im Jahr 3000 Yen beträgt. Die lebenslange Mitgliedschaft in der JSDD kostet für Einzelpersonen 70.000 Yen und für Ehepaare 100.000 Yen. Des Weiteren werden noch notarielle Möglichkeiten aufgeführt und auf die Option verwiesen, mit ärztlicher Beratung eine Patientenverfügung zu verfassen (vgl. Nihon Keizai Shinbun 2008). 44 Die japanische Bürobedarf-Firma Kokuyo S&T vertreibt beispielsweise ein Living and Ending Notebook und wirbt auf der Banderole damit, dass dieses Heft im Notfall wichtig sein könnte. Der Käufer solle klein beginnen und sich Notizen zu den Dingen machen, die ihn im Moment beschäftigen.
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tenaufklärung ist dabei eng verknüpft mit einer Problematisierung des Sterbens im Krankenhaus und des Einsatzes von medizintechnischen Apparaten zum Lebenserhalt. Eine wichtige Rolle in diesem Kontext spielt auch das Verhältnis und die Kommunikation zwischen Arzt, Patient und Angehörigen sowie den damit verbundenen Umdeutungen der Rollenverhältnisse. Der Kritik verschiedener Autoren an einer Romantisierung oder Idealisierung der vergangenen Umgangsformen mit dem Tod und den Sterbenden durch die These von der Tabuisierung des Todes ist berechtigt. Ebenso wie der Einwand, dass durch eine Haltung, die das Verschwinden alter Bräuche und Umgangsweisen betrauert, neue Entwicklungen und Interaktionszusammenhänge aus dem Blickfeld geraten und nicht adäquat dargestellt werden. Jedoch wird durch die Beobachtungen von Glaser und Strauss für die 1960er-Jahre in den USA und von Long und Long für die 1970er-Jahre in Japan auch deutlich, dass der Krankenhausalltag in den untersuchten Zeiträumen durch das Verschweigen von Krebsdiagnosen und dem nahenden Lebensende geprägt war. In gewissem Sinn kann in diesem Kontext gewiss von einer Tabuisierung des Todes gesprochen werden. Doch zeigen die Autoren auch, dass sich durch die Hospitalisierung neue und komplexe Interaktionszusammenhänge entwickelt haben. Die beschriebenen Rollenverständnisse variieren bei Glaser und Strauss je nach Bewusstheitskontext – also je nach Wissen und Kommunikation über den Zustand des Erkrankten – und auch Long und Long stellen dar, dass die unterschiedlichen Rollen und Bedeutungszuschreibungen stets interaktiv neu ausgehandelt werden. Sie sind eingebettet in einen gesellschaftlichen Verständigungsprozess und in Wertvorstellungen bezüglich des Umgangs mit schweren Krankheiten und Tod. Die dargestellten Fallbeispiele verdeutlichen ebenfalls, dass die Interaktionen zwischen Patient, Angehörigen und Ärzten von Ambivalenzen und Konflikten hinsichtlich des Umgangs mit Krebsdiagnosen und dem drohenden Tod gekennzeichnet sind. Anhand der Fallbeispiele wird ersichtlich, dass die Praxis des Verschweigens der Diagnose der Vergangenheit zugeordnet wird und wie neue Bewertungen zur Aufklärung des Patienten mit den Prinzipien der Ärzte in Konflikt geraten. Die Rede von der Tabuisierung des Todes – ungeachtet ihrer empirischen oder historischen Haltbarkeit – spielt im Diskurs eine bedeutende Rolle, denn durch sie wird das Sterben in Institutionen in das Problembewusstsein gerückt. Vor allem seit den 1980er- und den 1990er-Jahren kann eine immer wichtiger werdende Bewertung des aufgeklärten und selbstbestimmten Individuums beobachtet werden. Diese Beobachtung gilt sowohl für die Problematisierung der klinischen Praxis als auch für die Rechtsprechung bei zivilrechtlichen Klagen zu
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ärztlichem Fehlverhalten sowie bei der strafrechtlichen Bewertung zur Rechtfertigung der Sterbehilfe. Das Einsetzen dieses neuen Problembewusstseins lässt sich weiter zurückverfolgen und es können wichtige Einflüsse aus anderen Debatten festgestellt werden, die eine enge Verzahnung der einzelnen Diskussionen zeigen. Betrachtet man die unterschiedlichen Diskurse, so wird deutlich, dass vor allem die Thematik der Rechte und Pflichten des Arztes gegenüber Versuchspersonen und Patienten sowie die Zulässigkeit der Sterbehilfe als Fachdiskurse bis in die Vorkriegszeit und sogar bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückverfolgt werden können. Waren diese ersten Diskussionen juristische oder medizinische Fachdiskurse, kann seit der Debatte über Hirntod und Organtransplantationen ein interdisziplinäres Aufbrechen der Debatten beobachtet werden und ein Einbezug der Öffentlichkeit, bei dem die mediale Berichterstattung und verschiedene Bürgerbewegungen eine entscheidende Rolle spielen. Die interdisziplinäre Reflexion über ethische Bewertungen zum Umgang mit (menschlichem) Leben werden seit den 1970er-Jahren als ›Bioethik‹ bezeichnet. Die Geburtsstunde der Bioethik wird dabei häufig auf die frühen 1970er-Jahre in den USA datiert. Die Chronisten sehen in der Entstehung der Bioethik eine Reaktion auf die von der amerikanischen Patientenrechtsbewegung aufgeworfenen Fragen und Forderungen in den 1960er-Jahren. Ausgehend von den USA habe sich die Bioethik in den 1980er-Jahren über die Industrieländer ausgebreitet. Während häufig davon ausgegangen wird, dass auch in Japan der Beginn der Bioethik in den 1980er-Jahren zu finden ist und somit wie in den übrigen Staaten zehn Jahre später als in den USA, sieht Morioka die Anfänge der japanischen Bioethik in den frühen 1970er-Jahren (vgl. Morioka 2002: 94).45 Die zeitlichen Abweichungen sind schnell geklärt: Während sich die späteren Datierungen auf die Bioethik als wissenschaftliche Disziplin und ihre Benennung als solche (im Japanischen seimei rinri gaku oder als Lehnwort baioeshikkusu) beziehen, hat Morioka ein bestimmtes Problemdenken im Sinn, welches er in verschiedenen sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre in Japan wiederzufinden meint, ohne dass es damals als solches benannt oder auch unter den verschiedenen Gruppierungen als Gemeinsamkeit erkannt wurde. Er bezieht sich hier namentlich auf die Frauen- und die Behindertenbewegung, die aus unter-
45 In einem Aufsatz von 1995 schreibt Morioka, dass die Bioethik in Japan in den 1980er-Jahren, in Anlehnung an die amerikanische akademische Beschäftigung, ihren Anfang nahm. In späteren Schriften vertritt Morioka jedoch die These von eigenen japanischen Wurzeln der Bioethik, die er in der Frauen- und Behindertenbewegung sieht.
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schiedlichen Gründen 1972 gegen eine Änderung des Eugenischen Schutzgesetzes (yûseihogohô) protestierten und sich in Folge kritisch mit dem Gedanken der Eugenik und qualitativer Geburtenkontrolle respektive ›Wert des Lebens‹ auseinandersetzten: »It should be noted that ›minorities‹ in our society, that is, women and disabled people, founded Japanese bioethics. In this sense, it started as ›feminist bioethics‹ and ›disabled people bioethics‹. This made Japanese bioethics somewhat different from ›American‹ bioethics. Feminists and disabled people were mainly grass-root activists; they did not write academic papers or books. Instead they wrote a great deal of leaflets and handwritten documents. […] Japanese ›academic‹ bioethics began in 1988 when Japanese Association for Bioethics was founded.« (Morioka 2002: 94)
Bemerkenswert erscheint hier an Moriokas Ausführungen, dass er einerseits für Japan beansprucht, in der Entwicklung eines bestimmten Problembewusstseins – welches er an anderer Stelle als Gegenstand einer ›Philosophy of Life‹ 46 bezeichnet (Morioka 2002: 94) – zeitgleich mit den USA gewesen zu sein, andererseits jedoch die Wurzeln der japanische Entwicklung von denen der USA absetzt. Das Ziel der Patientenrechtsbewegung, die er als politische Bewegung sieht, sei gewesen, »[…] to change the feudalistic medical community into a modern civil society where all people are politically equal and every rational individual has basic human rights« (Morioka 1995: 88). Auch Steineck verweist darauf, dass sich die Bioethik als akademisches Fach erst etwa zehn Jahre nach ihren Anfängen in den USA in Japan etablierte,47 die
46 Morioka plädiert auf dieser Grundlage für die von ihm sogenannten ›Life Studies‹. Er bezieht sich auf den amerikanischen Biochemiker Van Rensselaer Potter, der den Begriff der Bioethik mitprägte und in dessen Vorstellung das Feld der Bioethik Umweltfragen miteinschloss und weit über die Medizinethik hinausging. Morioka entwirft eine Disziplin, die sich interdisziplinär, interkulturell und fern von paternalistischen Strukturen mit den Fragen des Lebens beschäftigt, die in der heutigen Zeit durch den Fortschritt der Technik, Forschung und Umweltverschmutzung für die Gesellschaft eine Herausforderung darstellen (vgl. Morioka 2002: 94; 1994: 293). Für eine Kritik an Morioka und eine Diskussion der Frage, inwiefern er zum Umfeld des ›New Age‹ gezählt werden kann und inwieweit die von dem japanischen Religionswissenschaftler Shimazono Susumo geprägte Bezeichnung ›spiritueller Intellektueller‹ auf Morioka zutrifft, s. Wöhr 2001. 47 Steineck erwähnt schon für die 1970er-Jahre Bemühungen der Sophia Universität in Tokyo, in Zusammenarbeit mit dem Kennedy Institut der George Town Universität in
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Beschäftigung mit zentralen Fragen der Bioethik in Japan jedoch schon in den 1960er-Jahren begann. Er bezieht sich einerseits wie Morioka auf die Debatte zur Revision des Eugenische Schutzgesetz, jedoch verfolgt er die bioethischen Fragestellungen anhand der juristischen Diskussion zur Sterbehilfe und informed consent noch weiter zurück. Auch die von Feldman genannte Patientenrechtsbewegung kann in diesem Kontext als Beginn dieses Problemdenkens gesehen werden. Die institutionelle Etablierung der Bioethik wird von den Autoren auf die 1980er-Jahre datiert (vgl. Steineck 2007: 36; Morioka 1995: 88). Unter der Bezeichnung seimei rinri (Leben/Bio + Ethik) verstünde man seitdem einen festen Katalog von moralischen Regeln und in ihrer akademischen Form der seimei rinri gaku eine interdisziplinäre Fachdiskussion zwischen Juristen, Medizinern, Biowissenschaftlern, Soziologen und Philosophen. Während die verschiedenen Debatten bis zur Etablierung der Bioethik als akademischer Disziplin nicht problemzentriert waren, wurden sie seit der wissenschaftlichen Institutionalisierung unter dem Oberbegriff seimei rinri zueinander in Beziehung gesetzt (vgl. Steineck 2007: 34). Mit der Etablierung der Bioethik als Forschungsbereich setzt in den 1980erJahre auch eine systematische Übersetzung und intensive Rezeption der amerikanischen Bioethik ein; Einführungen in die Bioethik wurden auf Japanisch veröffentlicht und englischsprachige Werke ins Japanische übersetzt. Im Mittelpunkt der Fachdiskussion stand die Frage, ob die amerikanischen Prinzipien48 und Konzepte auf Japan übertragbar seien (vgl. Steineck 2007: 36). Bis zum Ende der 1990er-Jahre dominierte die Problematik Hirntod und Organtransplantation die bioethische Diskussion. Sie entfachte als erste Debatte
Washington Bioethik als Fach mit in den Lehrplan der Biowissenschaften aufzunehmen. Der erste Versuch scheiterte Mitte der 1970er-Jahre mit der Begründung der zuständigen Behörde, für die Benennung eines Faches sei ein in Katakana geschriebenes Lehnwort (baioesshikusu) nicht angemessen. Im Jahr 1978 wurde Bioethik dann jedoch als Unterrichtsfach unter der Bezeichnung seimei rinri genehmigt (vgl. Steineck 2007: 35). 48 Als Prinzipien der Bioethik wurden häufig die vier von Beauchamp und Childress am Kennedy Institute der Georgetown Universität in Washington entwickelten Prinzipien zweiter Stufe diskutiert: ›autonomy‹, ›beneficence‹, ›justice‹ und ›non-maleficence‹. Der Hintergrund der Einführung dieser vier Prinzipien war der Versuch, Prinzipien für einen globalen Umgang mit bioethischen Fragen zu finden, die interkulturell akzeptierbar sind. In der japanischen Diskussion zeichneten sich jedoch schon bald Positionen ab, die sich kritisch von diesen Prinzipien absetzten (vgl. Steineck 2007: 36).
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das öffentliche Interesse und wurde über Jahre hinweg breit geführt, ebbte dann aber mit der Verabschiedung des Organtransplantationsgesetzes 1997 ab (vgl. Morioka 1995: 88) und lebt seit der Revision des Gesetzes 2009 wieder neu auf. Zwischenzeitlich, durch das Nachlassen des Interesses am Hirntod Ende der 1990er und die Nachricht vom Klonschaf Dolly, rückte die Genforschung in den Fokus der bioethischen Diskussionen (vgl. Steineck 2007: 38). Und auch die Debatte um Sterbehilfe und Patientenverfügungen gewann seit den 1990erJahren immer mehr an Aufmerksamkeit. Diese Entwicklungen zeigen, dass bioethische Diskussionen in Reaktion auf bestimmte medizinische oder biologische Entwicklungen aufflammen oder durch die Initiative zivilgesellschaftlicher Gruppierungen ins öffentliche Interesse rücken. Biotechnische Innovationen führen demnach häufig neben neuen Möglichkeiten auch zu einem neuen Problembewusstsein und es werden Fragen nach einem angemessenen gesellschaftlichen und juristischen Umgang aufgeworfen. Nicht nur die einzelnen Debatten sind eng miteinander verknüpft und beeinflussen sich gegenseitig, auch auf der Ebene der Akteure lassen sich interessante Knotenpunkte feststellen. Am Beispiel des Gynäkologen Ôta Tenrei zeigen sich nicht nur Verbindungen zwischen der Debatte zu neuen Umgangsformen mit der Thematik Sterben und Tod hinsichtlich der Reformierung von Bestattungen und der Problematik der Sterbehilfe, sondern Ôta ist auch durch seine Aktivitäten in der Debatte um Geburtenkontrollen bekannt. Seine Positionen und sein Mitwirken am Eugenischen Schutzgesetz haben zu vehementer Kritik seitens der Behindertenbewegung geführt, die sich fortsetzt und auch in der Debatte zu Sterbehilfe und Patientenverfügungen eine wichtige Rolle für die Gegenposition spielt. Das hier thematisierte gesellschaftliche Problembewusstsein war die Voraussetzung dafür, dass das Individuum als Entscheidungsträger in der Sterbephase in den Mittelpunkt rücken konnte. Erst durch diese Entwicklungen wurden Patientenverfügungen von einem immer größer werdenden Teil der Bevölkerung als Option für die Selbstgestaltung der letzten Lebensphase wahrgenommen. Während in diesem Kapitel ein Einblick in die Komplexität der Thematik gegeben und skizziert wurde, wie die einzelnen Debatten miteinander verwoben sind, werden im folgenden Kapitel die Diskussionen um Patientenverfügungen und Entscheidungsfindungen zum Lebensende untersucht.
3 Patientenverfügungen in der japanischen Diskussion und aus Sicht ihrer Verfasser
Im Sommer 2012 legte eine parteiübergreifende Arbeitsgruppe von Abgeordneten nach sieben Jahren Diskussion zwei Versionen eines ›Gesetzentwurfs zur Wertschätzung des Patientenwillens bei ärztlichen Behandlungen am Lebensende‹ (shûmakki no iryô ni okeru kanja no ishi no sonchô ni kansuru hôristuan) dem japanischen Parlament vor. Sie verfolgt das Ziel, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu stärken und eine rechtliche Absicherung für Ärzte zu schaffen, die den niedergeschriebenen Wunsch eines Patienten im terminalen Stadium berücksichtigen und lebenserhaltende oder -verlängernde Behandlungen nicht einleiten oder abbrechen. Bisher existieren lediglich Richtlinien und Empfehlungen, die Ärzten das Nicht-Einleiten und Einstellen medizinischer Maßnahmen gestatten, wenn dadurch der Wille des Patienten geachtet wird. Diese Richtlinien bieten jedoch keine rechtliche Absicherung für den behandelnden Arzt. Dieser muss sich im Ernstfall, sollte es einen Kläger geben, vor Gericht verantworten. Die beiden Versionen des Gesetzentwurfes unterscheiden sich insofern, als der eine Entwurf Ärzten erlaubt, medizinische Maßnahmen zu unterlassen, die zur Aufrechterhaltung des Lebens eines Patienten nötig wären. Der zweite Gesetzentwurf geht darüber hinaus und gestattet zusätzlich den Abbruch von medizinischen Maßnahmen, durch die der Patient am Leben erhalten wird. Beide Versionen schränken die Reichweite auf Patienten ein, deren Wille schriftlich vorliegt und die sich in einem terminalen Zustand befinden, der von zwei Ärzten unabhängig voneinander festgestellt werden muss (vgl. Fukue 2012; Songenshi no Hôseika wo Mitomenai Shimin no Kai 2012). Die aktuellen Gesetzentwürfe sind nicht der erste Vorstoß, ein Gesetz zur Stärkung des Patientenwillens und zur rechtlichen Absicherung des Arztes zur Abstimmung ins Parlament zu bringen. Ende der 1970er und Anfang der 1980erJahre unternahm die 1976 gegründete ›Japan Society for Euthanasia‹ (Nihon Anrakushi Kyôkai, im Folgenden kurz JSE) ihren ersten Versuch, eine gesetzliche
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Regelung in die Wege zu leiten. Schon damals stieß ihr Vorhaben auf öffentlichen Widerstand von Patientengruppen und Behindertenverbänden, die sich in Abgrenzung zur JSE unter der Bezeichnung ›Vereinigung, die eine Gesetzgebung zur Euthanasie verhindert‹ (Anrakushi Hôseika wo Soshi Suru Kai) zusammenschlossen (vgl. Tateiwa 2005a: 24). Bis heute engagiert sich die JSE – die sich 1983 in ›Japan Society for Dying with Dignity‹ (Nihon Songenshi Kyôkai, kurz JSDD 1 ) umbenannte – für die Verbreitung von Patientenverfügungen (Living Will oder songenshi sengensho). Sie verfolgen nach wie vor ihr Ziel, einen Erlass eines Gesetzes zur rechtlichen Absicherung von Patientenverfügungen zu erwirken. Nach den ersten gescheiterten Versuchen schlug die JSDD einen neuen Weg ein, sammelte bis 2004 über 140.000 Unterschriften und erreichte, dass das eingangs erwähnte ›Abgeordnetenbündnis für ein Gesetz zum Sterben mit Würde‹ (Songenshi Hôseika wo Kangaeru Renmei) gegründet wurde (vgl. Igata 2006: 3; JSDD 2013a). Jedes Mal, wenn die JSDD versucht, ein Gesetz durchs Parlament zu bringen, organisieren sich ihre Gegner neu. Aus der ›Vereinigung, die ein Gesetz zur Euthanasie verhindert‹ wurde in Anpassung an die Umbenennung der JSDD 1983 die ›Vereinigung, die eine Gesetzgebung zur Euthanasie und zum Sterben mit Würde verhindert‹ (Anrakushi Songenshi Hôseika wo Soshi Suru Kai, im Folgenden kurz Soshi Suru Kai). Auch als die beiden Versionen des derzeitigen Gesetzentwurfes im Parlament vorgelegt wurden, formierte sich der Widerstand unter neuem Namen erneut: ›Vereinigung von Bürgern, die eine Gesetzgebung zum Sterben mit Würde nicht billigen‹ (Songenshi no Hôseika wo Mitomenai Shimin no Kai, im Folgenden kurz Mitomenai Shimin no Kai). Die Akteure sind zum Großteil die gleichen, ihre Vorgehensweise wird offensiver, aber auch die Akzeptanz und die Verbreitung von Patientenverfügungen nehmen zu. In diesem Kapitel werden zunächst die Patientenverfügungsdebatte und die Pro- und Contra-Argumente für eine gesetzliche Regelung dargestellt. In diesem Zusammenhang werden die Aktivitäten, Ziele und Absichten der JSDD hinsichtlich einer gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen sowie zur Verbreitung von Patientenverfügungen erläutert. Sodann werden die Argumente der JSDD vorgestellt. Dem von der JSDD geforderten Recht zu sterben werden in den folgenden Kapiteln die Argumentationen der Gegenseite anhand ausgesuchter Autoren und Organisationen gegenübergestellt.
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JSDD ist auch die offizielle Abkürzung, die von der Organisation in internationalen Kontexten verwendet wird (vgl. The World Federation of Right to Die Societies 2013).
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Der zweite Teil des Kapitels beschäftigt sich mit der Fragestellung, welche Bedeutungen Patientenverfügungen aus Sicht ihrer Verfasser zugeschrieben werden. Es wird diskutiert, inwiefern sich die öffentliche Debatte in den Narrationen der Interviewten widerspiegelt, doch liegt der Schwerpunkt auf den Deutungen, welche die Betroffenen in den Interviews vornehmen. Zunächst geht es um das Problembewusstsein, das die Interviewten in ihren Anlassnarrationen zur Sprache bringen. Sodann werden die Bedeutungen thematisiert, welche die Verfasser ihren Patientenverfügungen zuschreiben. Abschließend werden die Funktionen behandelt, die aus den Bedeutungszuschreibungen abgeleitet werden können.
3.1 D IE P ATIENTENVERFÜGUNGSDEBATTE Die Diskussionen des bioethischen Diskurses in Japan drehen sich – wie in Europa und Nordamerika – um den Beginn und das Ende sowie Vorstellungen von der Schutzwürdigkeit des Lebens und die Bedeutung der Medizin und Biowissenschaften für die Gesellschaft (vgl. Long 2005: 194). Der Philosoph Katô Hisatake verweist darauf, dass sowohl in der internationalen Debatte als auch in Japan das Konzept der Selbstbestimmung häufig vorgebracht werde, um die gegnerische Seite mundtot zu machen. Katô bezeichnet diese Argumentationsstrategie als Reduktionismus, der die Bioethik seit ihrem Beginn in Form des Slogans »Vom Paternalismus zur Selbstbestimmung« (Katô 2005: 2; eigene Übersetzung) begleite. Zweifelsohne seien viele Probleme durch Selbstbestimmung im Sinne von Eigenverantwortung gelöst worden. Das Recht auf Selbstbestimmung werde dabei als ein persönliches Besitzrecht aufgefasst und bezüglich dieses eigenen Besitzes (jiko no mono) werde ein Ermessenspielraum konstatiert. Dem liege die Idee zugrunde, Selbstbestimmung sei die Entscheidung eines erwachsenen, urteilsfähigen Menschen über seinen Besitz, mithin über seinen Körper und sein Leben. Dies lasse sich sowohl in der Debatte um Schwangerschaftsabbruch als auch in der Debatte um Sterbehilfe (anrakushi) verfolgen, in der das Recht auf Selbstbestimmung den Wunsch des Patienten nach Sterbehilfe legitimieren soll, wenn keine Mittel zur Schmerzbehandlung mehr zur Verfügung stehen (vgl. Katô 2005: 2). Der Fokus auf Selbstbestimmung habe sich im Laufe der Zeit hin zum Begriff der Menschenwürde verschoben, charakterisiert Katô die Entwicklung der bioethischen Debatten. Er skizziert, zu welchen neuen argumentativen Problemen der Menschenwürdebegriff und seine enge Verknüpfung mit dem Personenbegriff führte und bezeichnet den Ansatz der ›Würde des Lebens‹ (seimei no
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songen) als einen Versuch, den Würdebegriff in der Embryonendebatte für den Schutz des Embryos fruchtbar zu machen. Wie später gezeigt werden wird, formuliert der Philosoph Komatsu Yoshihiko (2007) in Kritik an einem Selbstbestimmungsbegriff, der den Körper und das Leben als Eigentum des Individuums begreift, ein Konzept der Würde des Körpers, durch das er sowohl Eingriffe in den Körper zu Beginn des menschlichen Lebens als auch zum Ende des Lebens einschränkt. Die Diskurse unterscheiden sich demnach nicht dadurch, was, sondern wie es diskutiert wird. Die am Patientenverfügungs-Diskurs beteiligten Akteure stimmen größtenteils mit denen in den europäischen und nordamerikanischen Ländern überein. Einer der auffälligsten Unterschiede ist jedoch, dass die Kirchen, Vertreter des Buddhismus und Schintoismus in bioethischen Debatten in Japan generell und auch in den Debatten um Sterbehilfe und Patientenverfügungen keine große Rolle spielen (vgl. Tanida 2000: 340; Steineck 2008b: 12, 42). In parlamentarischen und administrativen Gremien sind keine Vertreter der Religionen beteiligt, da der Artikel 20 Absatz 3 der japanischen Verfassung eine strenge Trennung zwischen Staat und Religion vorschreibt. Zudem würden viele religiöse Organisationen keine offizielle Meinung zu gesellschaftlichen Fragen vertreten wollen und häufig keine Verhaltensnormen zu säkularen Fragen für ihre Mitglieder aufstellen (vgl. Steineck 2008b: 42). Tanida Noritoshi nahm das auffällige Schweigen der religiösen Gruppierungen während der öffentlichen Diskussionen Mitte der 1990er-Jahre zu den Sterbehilfe-Fällen im Tôkai Universitätskrankenhaus und im Keihoku Gemeindekrankenhaus zum Anlass und führte 1998 eine Befragung unter religiösen Organisationen zu ihrer Haltung zur Sterbehilfe und medizinischen Behandlungen von Patienten im Endstadium durch. Seine Ergebnisse zeigen, dass etwa 70 Prozent2 der befragten religiösen Organisationen passive und indirekte Sterbehilfe befürworten, während aktive Sterbehilfe nur den Zuspruch von etwa 20 Prozent
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Tanida verschickte seinen Fragebogen an insgesamt 388 religiöse Gruppierungen. Diese Zahl entspricht den religiösen Organisationen, die beim Bildungsministerium als »›inclusive religious corporations‹« (Tanida 2000: 341) registriert sind, was bedeutet, dass sie über die Präfektur-Grenzen hinaus aktiv sind. Laut Ministerium repräsentieren sie 80 Prozent der Gläubigen in Japan. Von den 388 Gruppierungen waren 143 schintoistisch, 157 buddhistisch, 58 christlich und 30 fielen unter Sonstige (vgl. Tanida 2000: 341). 73 Prozent der Organisationen schickten den Fragebogen zurück und von ihnen antworteten 43 Prozent auf die Fragen (vgl. ebd.: 343). Tanida errechnet, dass seine Umfrage etwa 55 Prozent der überregional tätigen Organisationen und 63 Prozent der eingetragenen Gläubigen in Japan repräsentiert (vgl. ebd.: 345).
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der Befragten erfährt. Dabei stellt der Autor eine geringfügig positivere Beurteilung der aktiven Sterbehilfe bei schintoistischen Organisationen fest. Im Vergleich zwischen den religiösen Gruppierungen sind es die christlichen, deren Zustimmung für Sterbehilfe am geringsten ausfällt (vgl. Tanida 2000: 351). Sowohl Christen als auch Buddhisten und Schintoisten bezogen sich auf Auffassungen von der ›Heiligkeit des Lebens‹ (vgl. Tanida 2000: 351). Die buddhistischen und schintoistischen Gruppierungen betonen zudem die bedeutende Rolle der ›Natürlichkeit‹ bei Behandlungen in der terminalen Phase (vgl. Tanida 2000: 339). Von einigen schintoistischen Vertretern sei angemerkt worden, dass Sterbehilfe durchaus als ›natürlich‹ betrachtet werden könne. Medizin wurde in dieser Begründung als ein göttliches Geschenk gesehen, jedoch die Verlängerung des Lebens durch künstliche Maßnahmen als »a disgraceful act against life« (Tanida 2000: 349) bezeichnet. Andere Vertreter wiederum merkten an, der Patient solle sich auf den Arzt verlassen und aus schintoistischer Sicht würde jedes Vorgehen akzeptiert, ungeachtet der Intention oder Gründe, die dahinter stünden (vgl. ebd.). Zur Sicht der buddhistischen Schulen erklärt der Autor, die Bedeutung medizinischer Behandlungen zur Heilung von Krankheiten sei betont worden, der Einsatz von medizinischen Maßnahmen zur bloßen Lebensverlängerung hingegen sei als nicht angemessen bezeichnet worden (vgl. ebd.). Neben den Vertretern religiöser Gruppierungen kommt auch der japanischen Ärztekammer eine andere Funktion zu als beispielsweise der deutschen. Die Bundesärztekammer in Deutschland ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und versteht sich als Organ der Selbstverwaltung der Ärzte. Sie ist unter anderem um die verbindliche Klärung ethischer Fragen innerhalb der Ärzteschaft bemüht und verfügt über Maßregelungen wie den Entzug der Approbation (vgl. Bundesärztekammer 2009). Die japanische Ärztekammer ist hingegen ein privater Berufsverband mit freiwilliger Mitgliedschaft, wodurch landesweit selbst auferlegte, ethische Regelungen eine geringere Verbindlichkeit erlangen (vgl. Akabayashi 2002: 519; Steineck 2008a: 16). Eine besondere Bedeutung kommt Behindertenverbänden, Interessenvertretungen von Patientengruppen sowie Selbsthilfegruppen zu, die im Patientenverfügungsdiskurs überwiegend als Gegner einer gesetzlichen Regelung auftreten. Schon in den Debatten um Hirntod und Organtransplantationen und den Diskussionen um Abtreibung und Pränatal-Diagnostik fanden diese Gruppen Gehör. Ihr Widerstand führte in der Vergangenheit zu Zugeständnissen in der Gesetzgebung. 3 Im Patientenverfügungsdiskurs schlossen sich die Akteure Ende der
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Zur Hirntod-Debatte s. die Stellungnahmen verschiedener Behinderten- und Patientenverbände auf der Seite der Forschergruppe ›Ars Vivendi‹ der Ritsumeikan Univer-
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1970er-Jahre als Gegenbewegung zur Gesetzesinitiative der JSE/JSDD, als Soshi Suru Kai bzw. seit 2012 als Mitomenai Shimin no Kai zusammen. Innerhalb des Diskurses kann eine Polarisierung beobachtet werden: Auf der einen Seite argumentieren die Befürworter von Patientenverfügungen explizit in Bezug auf ›internationale‹ und ›moderne‹ Konzepte zur Durchsetzung von Selbstbestimmung als Menschenrecht am Lebensende. Auf der anderen Seite wird Selbstbestimmung aufgrund des europäischen Ursprungs oder einer Überbetonung des Individuums kritisiert. Dennoch ist eine Zweiteilung in ›Internationalisten‹ und ›Kultur-Relativisten‹ zu kurz gegriffen. Denn auch auf der Seite der Gegner von Patientenverfügungen wird Bezug genommen auf aufklärerische Werte und grundlegende Rechte des Menschen. Während die JSE/JSDD – basierend auf dem Recht auf Selbstbestimmung – die gesetzliche Anerkennung eines Rechts auf Sterben fordert, beziehen sich die Gegner auf ein Recht zur wohlfahrtsstaatlichen Unterstützung einer selbstständigen Lebensführung und einer Garantie des Rechts auf Leben für alte Menschen, Kranke und Menschen mit Behinderungen. Im Folgenden werden zunächst die Aktivitäten der JSDD und ihre Argumentation für eine gesetzliche Regelung des Rechts auf Sterben und Patientenverfügungen dargestellt. Im Anschluss werden die Argumente der Gegenseite vorgestellt. Da die Skizze des Diskurses vor allem als Hintergrund für die folgenden Fallbeispiele dienen soll, reichen die untersuchten Materialien von wissenschaftlichen über populärwissenschaftliche Veröffentlichungen bis hin zu Stellungnahmen der Gruppierungen im Internet und Zeitungsartikeln. Eine klare Trennung in den wissenschaftlichen Fachdiskurs und populärwissenschaftlichen Diskurs oder die öffentliche Debatte ist zudem häufig nur schwer zu treffen. Aoki Tamotsu hat in Bezug auf die Diskurse um die nationale oder kulturelle Identität Japans (nihonjinrôn oder nihonbunkarôn) darauf verwiesen, dass in Japan die Grenze zwischen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationsorganen zwar klar gezogen werden kann, die Ausrichtung der Zeitschriften jedoch nicht unbedingt Rückschlüsse auf den Inhalt der Artikel zulasse, da durchaus namhafte Wissenschaftler einflussreiche Artikel in eher populärwissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlichen (vgl. Aoki 1996: 22). Hinzu kommt, dass aufgrund der Aktualität der Thematik und der derzeitigen Parlamentsdebatte die Akteure des Diskurses zu Patientenverfügungen ihre Argumente möglichst öffentlichkeitswirksam vortragen. Dies wird besonders deut-
sität in Kyoto (Ars Vivendi 2009), zur Diskussion um die Revision des Abtreibungsgesetzes vgl. Morioka 2002 und zur Pränatal-Diagnostik Kato/Sleebom-Faulkner 2011.
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lich, betrachtet man die Veröffentlichungen des Sozialwissenschaftlers Tateiwa Shinya, der seit einigen Jahren ein erklärter Gegner eines Gesetzes zu Patientenverfügungen und des Rechts auf Sterben ist. Als die parlamentarische Abgeordnetengruppe im Sommer 2012 ihre Gesetzentwürfe im Parlament vorstellte, veröffentlichte Tateiwa zusammen mit dem Philosophen Arima Hitoshi nur wenige Monate später, im Oktober 2012, das erste Buch einer geplanten Serie zu diesem Thema. Die beiden Wissenschaftler wenden sich sowohl an ein Fachpublikum als auch an die interessierte Öffentlichkeit. Auch die JSDD nahm die öffentliche Debatte um die beiden Gesetzentwürfe zum Anlass und gab im April 2013 einen Sammelband heraus, in dem verschiedene Experten für unterschiedliche Krankheiten die Kritik aufnahmen, die Schlüsselbegriffe zur Beschränkung der Reichweite von Patientenverfügungen – Unheilbarkeit der Krankheit und terminales Stadium – seien nicht eindeutig festlegbar. Die Erklärungen der Mediziner zur Bestimmung von Unheilbarkeit und terminalem Stadium für die jeweiligen Krankheitsbilder richten sich explizit an die interessierte Öffentlichkeit. Dabei versuchen sie die Argumente der Gegner zu entkräften. 3.1.1 Das Recht auf Sterben und die Japan Society for Dying with Dignity Für den Fall, dass den gegenwärtigen medizinischen Erkenntnissen zufolge keine Aussicht auf Heilung der Krankheit besteht und der Tod unausweichlich bevorsteht, sollte die Gesellschaft das Recht des Einzelnen anerkennen, nach seinen eigenen Vorstellungen und Wünschen zu sterben – dieses Anliegen nennt die heutige JSDD als Grund für die Gründungsmitglieder, sich 1976 unter dem Namen ›Japan Society for Euthanasia‹ zusammenzuschließen. Die Vereinigung wurde von Ärzten, Juristen, Intellektuellen und Politikern gegründet und beruft sich auf das Recht jedes Menschen, die Art seines Todes selbst zu entscheiden. Die Gründung der JSE wird in der Selbstdarstellung der Organisation gleichzeitig als Beginn der Sterbehilfebewegung in Japan bezeichnet (vgl. JSDD 2013b; Igata 2006: 10 ff.). Seit Beginn ihrer Gründung legt die Organisation großen Wert darauf, sich als Teil einer internationalen Menschenrechtsbewegung für die Anerkennung des Rechts auf Sterben zu inszenieren. Eine bedeutende Rolle spielt in diesem Kontext die Gründungsfigur, der Gynäkologe Ôta Tenrei, der schon kurz nach der Gründung der JSE 1976 Vertreter aus Australien, Großbritannien, den Niederlanden und den USA zur ersten internationalen Konferenz der Right to Die Societies nach Tokyo einlud. Zusammen arbeiteten sie die ›Tokyo Declaration‹ aus, in der sie ihre gemeinsamen Ziele für eine ›World Federation of Right to
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Die Societies‹ niederschrieben. Ôta wird noch heute auf der Homepage der World Federation of Right to Die Societies als Initiator für die 1980 im englischen Oxford gegründete Vereinigung genannt (vgl. The World Federation of Right to Die Societies 2013). Das erklärte Ziel der JSDD ist es, die Verabschiedung eines Gesetzes zur (passiven) Sterbehilfe und zur rechtlichen Absicherung von Patientenverfügungen zu erwirken. Schon 1978 richtete sie ihre erste Studiengruppe ein, in der die verschiedenen Einzelinitiativen von Mitgliedern koordiniert und ein gemeinsamer Gesetzentwurf erarbeitet wurde. Ihr erster Entwurf für ein ›Gesetz für besondere Maßnahmen für ärztliche Behandlungen am Lebensende‹ (shûmakki iryô no tokubetsu sochi hô) wurde 1983 jedoch vom Parlament zurückgewiesen. Seit Beginn der 2000er-Jahre versucht die JSDD erneut eine gesetzliche Regelung zu erwirken (vgl. JSDD 2013a; Tateiwa 2005a: 24). Ein weiteres Mittel zur Erreichung ihrer Ziele ist das Angebot von Patientenverfügungen für die Mitglieder der Vereinigung. In Anlehnung an die englische Bezeichnung ›Living Will‹4, veröffentlichte die JSE im Mai 1976 in ihrer zweiten Ausgabe der Organisationszeitschrift Anrakushi Kaihô (Mitteilungen der Vereinigung zu Anrakushi/Euthanasie) ihr erstes Formular für Patientenverfügungen seisha no ishi. Da es sich um eine Übersetzung der englischen Bezeichnung ›Living Will‹ handelte und Patientenverfügungen bis dato in Japan keine Verbreitung gefunden hatten, gab es eine begleitende Erklärung sowohl zum Übersetzungsbegriff seisha no ishi als auch zur Funktion der Patientenverfügung. Gleichzeitig mit der japanischen Übersetzung seisha no ishi wird Living Will auf Englisch und in Klammern in einer Katakana-Silben-Variante als Lehnwort ribingu uiru wiedergegeben – eine Bezeichnung, die sich im Laufe der Zeit gegenüber der japanisierten Neuschöpfung seisha no ishi durchsetzte. Erklärt wird der Ausdruck als letzter Wille oder Testament (isho) in Bezug auf das Leben bzw. das Recht, den eigenen Tod zu wählen. Da es sich bei diesem letzten Willen nicht wie bei einem herkömmlichen Testament um einen Willen handelt, der sich auf die Angelegenheiten nach Eintritt des Todes bezieht, sondern auf die letzte Phase des Lebens, sei nicht isho als Übersetzung für ›will‹ gewählt worden, sondern ishi (意志 Wille).
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Die amerikanischen Entwicklungen rund um den Living Will wurden in Japan rege rezipiert. In den USA gilt der ›California Natural Death Act‹ als erste Standardisierung des Living Wills. Der Natural Death Act wurde 1976 verabschiedet und im Jahr 2000 vom ›California’s New Health Care Decision Law‹ abgelöst (vgl. Encyclopedia of Aging and Public Health 2013; Igata 2013: 11).
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Der Living Will beginnt mit einer kurzen Erklärung, dass der Verfasser das Formular im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten unterzeichnet hat. Der Living Will ist an den Arzt gerichtet, der darum gebeten wird, dieses Schriftstück als Willensäußerung anzuerkennen und den Willen des Patienten zu respektieren, falls der Verfasser sein Bewusstsein verliert, dement oder geistig verwirrt wird (atama ga boyakete) (Igata 2006: 14) und über sein eigenes Schicksal (unmei) (ebd.) nicht mehr selbst entscheiden kann. Die Reichweite des Living Will ist auf Zustände beschränkt, in denen eine schwere körperliche Krankheit oder Verletzungen vorliegen, die aus medizinischer Sicht unheilbar sind. Erst zwei Jahre später, im Juli 1978, wurde die Reichweite auf die terminale Phase einer Krankheit beschränkt. Die Darlegung des im Voraus verfügten Willens erfolgt standardisiert in zwei Punkten ohne Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Optionen. Erstens wird für einen Zustand schwerer Krankheit mit heftigen Schmerzen – als Beispiel werden Tumorerkrankungen genannt – gefordert, dass Maßnahmen zur Linderung der Schmerzen ergriffen werden, ungeachtet der Nebenwirkungen, die auftreten können. Mit anderen Worten wird die indirekte Sterbehilfe in Kauf genommen, bei der die Schmerzlinderung beabsichtigt, aber lebensverkürzende Folgen durch die Gabe oder Dosierung von Medikamenten als Nebeneffekte hingenommen werden. Als zweiter Punkt werden drei Zustände aufgezählt, für die gefordert wird, dass medizinische Maßnahmen eingestellt werden (chûshi) (Igata 2006: 14), die lediglich der Lebensverlängerung dienen: Der Abbruch der Maßnahmen soll (1) bei einem dauerhaften, irreversiblen Bewusstseinsverlust erfolgen, (2) bei einer länger als sechs Monate andauernden Bewusstlosigkeit und (3) in Zuständen, in denen die geistigen Fähigkeiten unwiderruflich verloren gegangen sind (ebd.). In der begleitenden Erklärung wird auch die Metapher des ›vegetativen Menschen‹ (shokubutsu ningen) für Zustände verwendet, in denen kein Bewusstsein vorhanden ist und Maßnahmen zur Lebensverlängerung nicht gewünscht werden (ebd.). Das Formular endet mit der Feststellung, dass diese schriftliche Willensäußerung keinerlei rechtliche Verbindlichkeit besitzt, der Verfasser jedoch auf die Loyalität (seijitsusa) (ebd.) der Familie und des Arztes vertraue, dass sie in seinem Sinne Verständnis aufbringen. Die Wirksamkeit des Dokuments wird auf unbestimmte Zeit festgelegt: Ein Widerruf ist jederzeit möglich und der Living Will gilt, solange er nicht widerrufen wird (vgl. Igata 2006: 14). Der seisha no ishi wurde im Verlauf der Jahre insgesamt vier Mal verändert 5 und 1983 im
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Das Formular hatte zu Beginn die Maße 33x24 cm, wurde vertikal von rechts nach links und auf japanisches Papier (washi) gedruckt. Einige Monate später gab es schon
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Rahmen der Umbenennung der Organisation durch die ›Erklärung zum würdevollen Sterben‹ (songenshi sengensho) ersetzt (vgl. Igata 2006: 52 f.). In den letzten Jahren ist die Akzeptanz für den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen sowohl in der Bevölkerung als auch unter Ärzten und Pflegepersonal gestiegen. Mehrere Richtlinien6 empfehlen, den Patientenwillen und Patientenverfügungen zu respektieren. Jedoch gibt es keinerlei juristische Regelung von Patientenverfügungen oder Gerichtsurteile zu Fällen, in denen der Arzt nach den Wünschen des Patienten und seiner Patientenverfügung gehandelt oder diese ignoriert hat (vgl. Akabayashi 2002: 518 ff.; Masuda et al. 2003: 248; Ueda 2004: 301). In der Literatur ist lediglich von einer Feststellungsklage die Rede, die Tobita Jintoku, Vorstandmitglied der JSE 1980 beim Bezirksgericht in Tokyo einreichte, um die Verbindlichkeit der Patientenverfügung prüfen zu lassen (vgl. Igata 2006: 34 und 45; Kimura 1998: 195). Tobita beziehe sich in seiner Klage auf das in Artikel 13 der japanischen Verfassung garantierte Streben
die ersten formalen Änderungen: Der Living Will wurde seit September 1976 auf DIN-A4 gedruckt (vgl. Igata 2006: 21). Ende Juli 1978 wurde er in seisha no ishi tôroku môshikomisho (Schriftlicher Antrag zur Registrierung des Living Will) umbenannt und fortan mit horizontaler Schrift gedruckt. Zudem wurde der Inhalt präzisiert und der Living Will sollte fortan auf Situationen beschränkt sein, in denen der Betreffende an einer unheilbaren Krankheit mit heftigen Schmerzen leidet und das Lebensende kurz bevorsteht (vgl. Igata 2006: 25). 6
Seit 2007 verweisen die folgenden Richtlinien auf Patientenverfügungen als wichtiges Instrument zur Feststellung des Patientenwillens: die Richtlinie vom MHLW »Guideline für Entscheidungsprozesse bei ärztlichen Behandlungen am Lebensende« (shûmakki iryô no kettei purosesu ni kansuru gaidorain) vom Mai 2007, gefolgt vom »Vorschlag zu medizinischen Behandlungen am Lebensende in der Notfallmedizin« (kyûkyû iryô ni okeru shûmakki iryô ni kansuru teigen) der Japanischen Vereinigung für Notfallmedizin (Nihon Kyûkyû Iryô Kai) im November 2007. Die japanische Ärztekammer gab im Februar 2008 ihre »Guideline zur ärztlichen Behandlung am Lebensende« (shûmakki iryô ni kansuru gaidorain) heraus. Ebenfalls im Februar 2008 erschien die Richtlinie des Japanischen Wissenschaftsrats (Nihon Gakujutsu Kaigi) »Über das Leitbild medizinischer Behandlungen am Lebensende – über Formen des subakuten Lebensendes« (shûmakki iryô no arikata ni tsuite – akyûseigata no shûmakki ni tsuite). Im Mai 2009 veröffentlichte die Vereinigung der japanischen Krankenhäuser (Zen Nihon Byôin Kyôkai) eine weitere Richtlinie: die »Guideline zur ärztlichen Behandlung am Lebensende – um ein bestmögliches Lebensende zu erreichen« (shûmakki iryô ni kansuru gaidorain – yoriyoi shûmakki wo mukaeru tame ni) (vgl. MHLW 2012: 5 f.).
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nach Glück und das Recht auf Selbstbestimmung als grundlegende Menschenrechte. Die Klage wurde jedoch nach ihrer Prüfung 1982 als nicht konkret und gegenstandslos zurückgewiesen (vgl. Igata 2006: 45; Kimura 1998: 195). Eine richterliche Entscheidung steht weiterhin aus. Eine wichtige Änderung des standardisierten Formulars in den 1990erJahren ist der Verzicht auf Regelungen für demenzielle Erkrankungen. Obwohl im Kontext der alternden Gesellschaft Demenz als Altersrisiko große öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr und eine Umfrage unter den Mitgliedern der JSDD ergab, dass sich viele eine besondere Erwähnung von Demenz in Bezug auf die Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen in der Patientenverfügung wünschten, entschied sich die JSDD 1996 gegen einen speziellen Passus. Der Neurologe und ehemalige Vorsitzende sowie heutige Ehrenpräsident der JSDD, Igata Akihiro erklärt, es sei keine Notwenigkeit gesehen worden, Demenz gesondert aufzuführen (vgl. Igata 2013: 20). Er bezieht sich auf die Kriterien der Unheilbarkeit und der Todesnähe als Reichweitenbeschränkung der Patientenverfügung, von denen nur die Unheilbarkeit als Besonderheit von Demenz gesehen wird. Da bei demenziellen Erkrankungen keine unmittelbare Todesnähe gegeben ist, kann vermutet werden, dass auf die Erwähnung von Demenz verzichtet wurde, um Kritik an der Aufweichung der Kriterien zur Reichweitenbeschränkung zu vermeiden. In ihrer neuesten Veröffentlichung von 2013 nimmt die JSDD Demenz jedoch zumindest als Diskussionsthema wieder auf. Igata verweist auf die Relevanz der Thematik, die sich in der Sorge der Bevölkerung ausdrücke, und betont, dass der Tod zumindest als Nebenfolge der Krankheit und somit terminale Stadien von Demenzkranken in der Diskussion zu berücksichtigen seien (vgl. ebd.: 21). Demenz ist aktuell vor allem im Kontext von künstlicher Ernährung in Pflegeeinrichtungen als Diskussionsthema in die öffentliche Berichterstattung gerückt und auch der Gerontologe Miura Hisayuki geht in seinen Erklärungen zu Demenz im JSDD-Sammelband auf die 2012 herausgegebenen Richtlinien der Japanischen Gesellschaft für Geriatrie ein und hebt besonders die SondenErnährung als medizinische Maßnahme hervor, zu denen weitere Debatten und eventuell gesetzliche Regelungen nötig wären (vgl. Miura 2013: 81 f.). In der Version von 2005 ist der Living Will an die Familie, Freunde und die ärztlichen Betreuer gerichtet. Die Patientenverfügung ist für eine Situation gedacht, in welcher der Verfasser an einer unheilbaren Krankheit im Endstadium erkrankt ist. Es wird nicht mehr wie in den ersten Versionen darauf verweisen, dass die Patientenverfügung den Willen des Patienten für den Fall im Voraus festhält, dass er nicht mehr bei Bewusstsein ist oder geistig verwirrt sein sollte.
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Es folgt eine Versicherung, dass die Verfügung unter dem Vollbesitz der geistigen Fähigkeiten des Verfassers unterzeichnet wurde und uneingeschränkt gelten soll. Es sei denn, sie wird schriftlich vom Verfasser zurückgezogen. Die Patientenverfügung ist in drei standardisierte Punkte gegliedert. Als erster Wunsch wird auf den Verzicht medizintechnischer Maßnahmen zur künstlichen Lebensverlängerung verwiesen, wenn nach neuestem medizinischem Stand eine unheilbare Krankheit vorliegt und der Tod kurz bevorsteht. Dieser erste Punkt war in dieser allgemeinen Formulierung in den älteren Fassungen nicht enthalten. Der zweite Punkt stimmt inhaltlich mit dem ersten Punkt der älteren Ausgabe überein: Es wird um umfassende Schmerzlinderung gebeten und Lebensverkürzung durch die Medikation in Kauf genommen. Der dritte Punkt bezieht sich auf den sogenannten »persistent vegetative state« (JSDD 2005: 81) im Japanischen »shokubutsu jôtai« (JSDD 2005: 80). Zusätzlich wird der Abbruch aller lebenserhaltenden Maßnahmen gefordert, sollte dieser Zustand über mehrere Monate andauern. Auch hier gibt es Übereinstimmungen mit der vormals zweiten Forderung, doch sind die Formulierungen präzisiert worden. Die Patientenverfügung endet mit dem Dank an alle Beteiligten, die es ermöglichen, dass diese Wünsche erfüllt werden. Es wird hervorgehoben, dass die Verantwortung für Handlungen, die in Übereinstimmung mit der Patientenverfügung vorgenommen werden, allein beim Verfasser liegt. Das Formular wird mit der Adresse, dem Namen und der Unterschrift (Stempel) des Verfassers sowie dem aktuellen Datum versehen (vgl. JSDD 2005: 80/81)7. Aufgrund von Kritik seitens praktizierender Ärzte und der japanischen Ärztekammer sei das Formular 2011 erneut überarbeitet worden, um es an die neuesten medizinischen Entwicklungen anzupassen. Insbesondere sei die Entwicklung in der Palliativmedizin berücksichtigt worden und neue Erkenntnisse zur Ermittlung von Beeinträchtigungen des Bewusstseins (vgl. Suzuki 2013: 26 ff.). Während einige Ärzte mittlerweile ihren Patienten detaillierte Formulare zur Verfügung stellen, in denen für unterschiedliche Krankheitsbilder und Situationen verschiedene Behandlungsmöglichkeiten zur Wahl stehen, und der Patient individuell mittels Ankreuzen einzelne Optionen auswählen kann, bleibt die JSDD auch nach der Überarbeitung von 2011 bei einem standardisierten, stark vereinfachten Formular. Jeder, der ein Patientenverfügungsformular der JSDD anfordert, bestellt im selben Zug die Beitrittsunterlagen. Mit der Unterschrift bzw. dem Setzen des persönlichen Stempels unter die Patientenverfügung wird gleichzeitig der Beitritt zur JSDD unterzeichnet. Für das neue Mitglied bedeutet
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Die inhaltlichen Punkte von 2005 entsprechen dem Formular, das meine Interviewpartner verwendet haben.
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dies einen jährlichen Beitrag zu bezahlen8 und im Gegenzug zwei Kopien des unterzeichneten Dokuments und eine Mitgliedskarte in Checkkartengröße für das Portemonnaie zu bekommen, die im Ernstfall dem Arzt als Zeichen für die standardisierten Punkte der JSDD-Patientenverfügung vorgelegt werden kann. Die Patientenverfügung ist über die Mitgliedsnummer registriert und könnte bei Verlust jederzeit angefordert werden. Zudem erhalten die Mitglieder regelmäßig die vierteljährlich erscheinenden Informationshefte der JSDD, in denen über aktuelle Ereignisse oder auch persönliche Erfahrungen mit Patientenverfügungen berichtet wird. Auch die Ergebnisse der JSDD-internen Umfragen zum Umgang mit Patientenverfügungen in akuten Situationen werden hier publiziert. Des Weiteren steht ihnen das JSDD Informationssystem zur Verfügung, über welches die Mitglieder erfahren können, welche Ärzte und Krankenhäuser Patientenverfügungen positiv gegenüberstehen und an wen sie sich im Zweifelsfall wenden können, sollte es Probleme bei der Anerkennung der Patientenverfügung geben. Die JSDD ist ein politischer Akteur, dessen Hauptziel in der Beeinflussung der Legislative liegt, um die juristische Anerkennung der Sterbehilfe rechtlich zu verankern. Aus diesem Grund ist die Anzahl ihrer Mitglieder von entscheidender Bedeutung, um ihren Gesetzesforderungen durch das Interesse der Bevölkerung Nachdruck zu verleihen. Durch ihre politischen Aktivitäten unterscheidet sie sich dabei entscheidend von anderen Anbietern von Patientenverfügungen, die meist nur auf lokaler Ebene und in kleinem Rahmen Formulare für Patientenverfügungen und Informationsveranstaltungen anbieten, jedoch nicht organisiert und systematisch legislative Aktivitäten vorantreiben. Die Äußerungen meiner Interviewpartner lassen vermuten, dass den meisten der politische Charakter der Organisation nicht bewusst ist. Sie hegen kein besonderes Interesse an einer gesetzlichen Regelung und sind nur in den seltensten Fällen selbst aktiv in der JSDD tätig.
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Die JSDD unterscheidet in eine jährlich zu erneuernde Mitgliedschaft und eine lebenslange Mitgliedschaft sowie Beiträge für Einzelpersonen und Ehepaare. Der jährliche Beitrag für eine Person beträgt 2.000 Yen (etwa 15 Euro) und für ein Ehepaar 3.000 Yen (etwa 22 Euro). Die lebenslange Mitgliedschaft für Einzelpersonen kostet 70.000 Yen (etwa 520 Euro) und für Ehepaare 100.000 Yen (etwa 745 Euro) (vgl. JSDD 2013; Nihon Keizai Shinbun 2008).
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Das Recht auf Selbstbestimmung als Grundlage für das Recht auf Sterben und einen würdevollen Tod Ausgangspunkt für die Argumentationen der JSDD ist eine Problematisierung der Sterbephase unter Bedingungen der modernen Biomedizin. Einerseits werden die positiven Errungenschaften des medizintechnischen Fortschritts anerkannt, allerdings wird stets hervorgehoben, dass – ungeachtet aller weiteren Entwicklungen und Fortschritte in der Medizin – der Mensch weder ewig jung bleibe noch unsterblich werde (vgl. Iwao 2012). Wie sehr die Medizin auch voranschreite, sei es das Schicksal jedes Menschen, früher oder später zu sterben (vgl. Igata 2013: 13). In der Medizin werde es immer Krankheiten oder Krankheitsstadien geben, für die es keine Heilmethoden gibt, und für jeden Menschen werde irgendwann die Phase kommen, in der ihm der Tod unweigerlich bevorsteht. Durch den Einsatz von medizintechnischen Maßnahmen in der Sterbephase könne zwar der Tod hinausgezögert werden, jedoch stellen ebendiese Maßnahmen, die in anderen Zusammenhängen Leben retten können, eine Bedrohung für ein würdevolles Leben und somit ein würdevolles Lebensende dar: »In der heutigen Zeit ist durch den Fortschritt in der Medizin und der ärztlichen Behandlung die langlebige Gesellschaft zur Realität geworden. Jedoch tritt der Mensch irgendwann ohne Zweifel seinem Tod entgegen. Die Medizin mag sich noch so sehr fortentwickeln, Unheilbarkeit und terminale Phase werden immer existieren. Man kann hingegen heute häufig Situationen sehen, in denen die Würde des Lebens verletzt wird, da in solchen Zuständen durch fortschrittliche lebensverlängernde Maßnahmen Leiden beim Patienten verursacht werden.« (Igata 2009; eigene Übersetzung)
Die Problematik ergebe sich daraus, dass zum einen lebensverlängernde Maßnahmen zur Verfügung stehen, zum anderen aus dem Gedanken der ärztlichen Pflicht zur Lebenserhaltung und dadurch, dass es keine verbindlichen Regeln zum Umgang mit Patienten in der terminalen Phase gibt (vgl. JSDD 2013e). Würdevolles Sterben werde häufig durch den Einsatz von moderner Medizintechnik verhindert. In diesem Zusammenhang wird von sinnlosen lebensverlängernden Maßnahmen (muda na oder muimi na enmei sochi) gesprochen. In der Argumentationslogik der JSDD sind damit alle medizinischen Maßnahmen gemeint, die am Lebensende eingesetzt werden, um das Leben zu erhalten oder zu verlängern. Als ›sinnlos‹ werden sie bezeichnet, weil sie in Situationen eingesetzt werden, in denen eine unheilbare Krankheit vorliegt und aus medizinischer Sicht nichts mehr für den Patienten getan werden kann, da die Sterbephase bereits eingesetzt hat und die Maßnahmen keine Verbesserung bewirken, sondern lediglich den Todeszeitpunkt hinauszögern.
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Würdevolles Sterben (songenshi) ist Igata zufolge gleichbedeutend mit würdevollem Leben (vgl. Igata 2013: 14). Er erklärt, würdevolles Sterben bedeute, dass der Einzelne selbstbestimmt über die eigene Art des Sterbens entscheide und einen natürlichen Tod fordern kann, wenn es keine Aussichten auf Heilung mehr gibt und ein terminales Stadium erreicht ist. Unter dem Terminus ›natürliches Sterben‹ – das Igata an anderer Stelle mit würdevollem Sterben gleichsetzt (vgl. Igata 2009) – versteht er, dass keine lebensverlängernden Maßnahmen eingeleitet oder entsprechende Maßnahmen eingestellt werden (vgl. Igata 2013: 13). Auch Iwao Sôichiro, ebenfalls Arzt und derzeit Vorsitzender der JSDD, sieht im Einsatz von lebenserhaltenden Maßnahmen in der terminalen Phase einen Angriff auf die Würde des Lebens9, da sie beim Patienten Schmerzen verursachen: »Wenn der Tod unvermeidlich ist, besteht die Notwendigkeit, das Ziel der ärztlichen Behandlungen am Lebensende umzustellen, von lebensverlängernden ärztlichen Behandlungen, die dem Patienten Schmerzen bereiten und die Würde seines Lebens verletzen, zu ärztlichen Behandlungen, die auf die Qualität des Lebens des betroffenen Patienten Wert legen.« (Iwao 2012; eigene Übersetzung)
Einerseits wird demnach ein Umdenken in der ärztlichen Praxis gefordert, die Lebensqualität des Patienten in den Fokus der Behandlung zu rücken und sich von dem Gedanken der Lebenserhaltung um jeden Preis zu verabschieden. Dazu ist es laut Argumentation der JSDD notwendig, den Arzt durch eine gesetzliche Regelung von Patientenverfügungen aus seiner Verantwortung zu befreien, wenn er den Willen seines Patienten achtet. Andererseits ist es notwendig, dass der Patient seinen Willen dem Arzt mitteilt und diesen Willen in einer Patientenverfügung im Voraus darlegt, für den Fall, dass er nicht mehr dazu in der Lage sein sollte, sich zu äußern (vgl. Iwao 2012). Igata verweist ferner auf den Slogan, unter dem die JSDD ihre Patientenverfügungen verbreitet – »Um das Recht gesund zu leben und friedlich zu sterben, selbst zu (be-)schützen« (Igata 2013: 14; eigene Übersetzung) – und erklärt, um friedlich sterben zu können (yasuraka ni shinu), bedürfe es einer gesetzlichen Garantie des Rechts auf Sterben. Der Patient hat demnach nicht nur das Recht, Entscheidungen über seine Sterbephase selbstbestimmt zu treffen, sondern es liegt auch in seiner Verantwortung dies zu tun.
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Iwao nennt das zufriedene Sterben (manzoku shi) als weiteres Synonym für würdevolles Sterben (Iwao 2012).
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Selbstbestimmung und Eigenverantwortung prägen Igatas Verständnis von der Lebensweise des Menschen: Von Geburt an würde der Mensch sein alltägliches Leben und seinen Lebensstil in Übereinstimmung mit seinem Willen entscheiden. Nur in der letzten Phase des Lebens sei dies vielen Menschen nicht mehr möglich. Sie kämen ins Krankenhaus und dort werde ihnen die eigene Gestaltung ihres Lebens verwehrt, wenn Ärzte und Angehörige an ihrer Stelle Entscheidungen treffen. Es sei in dieser Situation nur selbstverständlich, selbst entscheiden zu wollen, wie man stirbt. Igata sieht in dem Wunsch, auch in der Sterbephase selbst zu entscheiden, ein Bedürfnis, das von allen Menschen geteilt wird (vgl. Igata 2013: 12). Das Lebensende selbst zu bestimmen stellt er als Vollendung der eigenen Lebensweise dar (yûshû no mi wo kazaru) (Igata 2013: 13). Selbstbestimmung sei die notwendige Voraussetzung, um in Würde sterben zu können. Die Stärkung des Rechts auf Selbstbestimmung in terminalen Krankheitsphasen sei aus diesem Grund das Hauptanliegen der JSDD durch Patientenverfügungen und ihre gesetzliche Verankerung. Die juristische Grundlage für ein selbstbestimmtes Lebensende und das Recht auf Sterben sieht Igata im Recht auf das Streben nach Glück im Artikel 13 der japanischen Verfassung garantiert (vgl. Igata 2013: 13). In vielen europäischen Ländern und in Nordamerika sei auf der Grundlage der Menschenrechte ein Sterben in Würde sozial verankert. Es gebe keinen Grund dafür, erklärt Igata, dass nur in Japan Sterben in Würde abgelehnt wird (Igata 2013: 14). Zugespitzt formuliert hat der Fortschritt in der Medizin dazu geführt, dass die ärztliche Praxis heute vor neuen, vielfältigen Problemen steht, die nicht durch medizinisches Fachwissen zu lösen sind, sondern durch die subjektiven Präferenzen des Patienten. Die zur Verfügung stehenden medizintechnischen Möglichkeiten in Kombination mit der Norm, das Leben, so lange es geht, aufrechtzuerhalten, bedrohen laut JSDD das würdevolle Leben des Patienten in der Sterbephase bzw. verhindern, dass Patienten würdevoll sterben können. Der Patientenwille und das Recht auf Selbstbestimmung sind in der Argumentation der ausschlaggebende Faktor, um die Würde des Patientenlebens auch im Sterben zu wahren: Der Wille des Patienten entbindet den Arzt von seiner Pflicht, das Leben aufrechtzuerhalten. Die Achtung des Patientenwillens und von Patientenverfügungen bedarf einer gesetzlichen Regelung, um den Arzt rechtlich abzusichern und ihn zur Beachtung des Patientenwillens zu verpflichten. Gleichzeitig wird die Verantwortung für einen würdevollen Tod dem Patienten zugeschrieben, in dessen Eigenverantwortung es liegt, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, um würdevoll zu sterben.
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In den Forderungen der JSDD wird demnach mit aufklärerischen Werten argumentiert. Durch eine Stärkung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten wird der freie Wille des Individuums in den Mittelpunkt der ärztlichen Behandlung gerückt. Der ärztlichen Fürsorgepflicht und Verantwortung wird die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung des Patienten entgegengesetzt. Es wird nicht mehr die Lebenserhaltung um jeden Preis als Pflicht des Arztes erachtet. Die Pflicht besteht vielmehr darin, das subjektive Wohlergehen und die Lebensqualität des Patienten zu achten. Reichweite, Verbindlichkeit und passive Sterbehilfe Die Reichweite der JSE/JSDD Patientenverfügung ist seit 1976 auf unheilbare Krankheiten und unheilbare oder irreversible Krankheitsstadien beschränkt und seit 1978 auch auf die terminale Phase. In den ersten Formulierungen des standardisierten Formulars wurde außerdem explizit auf Schmerzen und Maßnahmen zur Schmerzlinderung Bezug genommen. Diese Punkte stimmen mit der Rechtsprechung zur Sterbehilfe überein. Mittels der neueren Überarbeitungen des Formulars wird zudem versucht, die juristischen Entwicklungen zu berücksichtigen. Igata bezieht sich in seinen Erklärungen zum würdevollen Sterben auf einen Kommentar des Bezirksgerichts von Yokohama zum Tôkai Universitätskrankenhaus Sterbehilfe-Fall von 1995, in dem neben den neuen Kriterien für die Straffreiheit von Sterbehilfe auch Überlegungen zum ›würdevollen Sterben‹ dargelegt werden. Laut Verständnis der Richter bestehe würdevolles Sterben in der Einstellung der ärztlichen Behandlung (sogenshi wa chiryôkôi no chûshi). Als Grundlage für das Einstellen der Behandlung bezogen sich die Richter auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Als notwendige Voraussetzungen formulierte der Gerichtshof, dass (1) Unheilbarkeit und terminales Stadium vorliegen, (2) dass das Einstellen der Behandlung dem Willen des Patienten entspricht und diese Willensbekundung ausdrücklich erfolgt ist und dass (3) ärztliche Behandlungen wie die Gabe von Medikamenten, Chemotherapie, Dialyse, künstliche Beatmung, künstliche Ernährung, Flüssigkeitszufuhr und Bluttransfusionen eingestellt werden (vgl. Igata 2013: 14; Kai 2009: 5; Yamashita 2010: 15710). Für den Fall, dass keine Willensäußerung möglich ist, sei der mutmaßliche Wille zu ermitteln und in diesem Kontext komme der Patientenverfügung große Bedeutung zu (vgl. Igata 2013: 14).
10 Während nach Igata unter diesen drei Voraussetzungen »würdevolles Sterben« (songenshi) gebilligt werde, spricht Yamashita von »passiver Sterbehilfe« (shôkyokuteki anrakushi).
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Auch in den Richtlinien, die seit einigen Jahren von den unterschiedlichsten Organen herausgegeben werden, wird das Nicht-Einleiten und Einstellen von medizinischen Maßnahmen zur Lebenserhaltung befürwortet, wenn dadurch der Wille des Patienten geachtet wird, die Krankheit sich in einem unheilbaren Stadium befindet und die terminale Phase begonnen hat. Jedoch besteht auf der Seite der praktizierenden Ärzte weiterhin Unsicherheit über die rechtlichen Konsequenzen ihres Handelns, wenn sie dem Patientenwunsch nach Nicht-Einleiten und vor allem Einstellen der Behandlung nachkommen. Dies drückt sich auch in Meinungsumfragen aus, in denen ein Großteil der Ärzte eine gesetzliche Regelung von Patientenverfügungen und würdevollem Sterben wünscht (vgl. MHLW 2008 in Yomiuri Shinbun 2009). Die Unsicherheit wird durch die unklare Verwendung verschiedener Begrifflichkeiten verstärkt. Es scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass aktive Sterbehilfe in der Debatte zu Patientenverfügungen nicht zum Gegenstand der Diskussion gehört, sondern allein die passive Sterbehilfe. Jedoch besteht Uneinigkeit über die begriffliche Trennung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe. Zum einen wird passive Sterbehilfe auf das Nicht-Einleiten lebenserhaltender Maßnahmen und ›Sterben-lassen‹ beschränkt, während von anderen Akteuren das Einstellen von Behandlungen unter die passive Sterbehilfe subsumiert wird. Verstärkt wird die begriffliche Unschärfe durch die teilweise synonyme Verwendung von passiver Sterbehilfe (shôkyokuteki anrakushi) und würdevollem Sterben (songenshi). Die JSDD ist seit ihrer Umbenennung 1983 darum bemüht, sich von der aktiven Sterbehilfe zu distanzieren und zu betonen, dass sie sich mit ihren Gesetzesinitiativen und Patientenverfügungen für passive Sterbehilfe einsetzt (vgl. Igata 2013: 11). Laut JSDD beinhaltet die passive Sterbehilfe auch den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen; dabei werden würdevolles Sterben und passive Sterbehilfe synonym verwendet. Igata argumentiert vom Standpunkt des Patientenwillens und vertritt die Ansicht, die Intention des Patienten sowohl beim Nicht-Einleiten als auch beim Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen sei dieselbe. Der Patient lehne lebensverlängernde Behandlungen in einem terminalen Stadium ab, in dem es keine Aussicht auf Heilung oder Verbesserung seines Zustandes gibt. Maßnahmen wie die künstliche Beatmung oder Ernährung seien in einer Situation, in der es Aussichten auf eine Besserung des Zustandes gibt, ein ärztliches Mittel zur Heilung. Die gleichen Maßnahmen würden jedoch ihre Bedeutung verändern, wenn sich der Patient in einem aussichtslosen Zustand befindet und die Sterbephase eingesetzt hat: Die Intention des Arztes sei nicht mehr die Heilung des Patienten, sondern die Verlängerung seines Lebens (vgl. Igata 2013: 18 f.). Den Patienten-
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willen zum Abbruch der Behandlung nicht nachzukommen, sollte seine Krankheit in ein aussichtsloses Stadium eingetreten sein und die Sterbephase begonnen haben, hieße, ihm einen würdevollen Tod zu verwehren. Das Verweigern des würdevollen Sterbens im Sinne des Patientenwillens bezeichnet Igata als ein Menschenrechtsproblem (vgl. Igata 2013: 19). Igata beurteilt den Abbruch von medizinischen Maßnahmen demnach aufgrund der Intention des Patienten und der Absicht des Arztes. Es soll vermieden werden, dass die Sterbephase verlängert oder der Tod hinausgezögert wird. Igata geht davon aus, dass es möglich ist, einen Wendepunkt im Krankheitsverlauf festzustellen, ab dem es keine Chance auf Heilung oder Besserung mehr gibt und der Prozess des Sterbens eingesetzt hat. Durch die Annahme dieses Wendepunktes im Krankheitsverlauf wird es möglich, von einem Bedeutungswandel der medizinischen Behandlungen auszugehen, der sich auch in der ärztlichen Absicht zum Einsatz der Maßnahmen widerspiegelt, indem aus der Absicht zu heilen die Absicht zur Lebensverlängerung wird. Während Maßnahmen zur Heilung aus dem Geltungsbereich der Patientenverfügung (und der passiven Sterbehilfe) ausgeschlossen werden, versteht Igata die Ablehnung in Form von NichtEinleiten und Abbrechen von Behandlungen als Menschenrecht auf ein Sterben in Würde. An dieser Argumentation ist kritisiert worden, dass sich Unheilbarkeit und terminales Stadium nicht als Kriterien zur Beurteilung von zulässigem Behandlungsabbruch eignen, da sie aufgrund von Unterschieden zwischen Krankheiten nicht eindeutig definiert und festgelegt werden können. Igata geht auf diese Kritik ein und stimmt zu, dass es aufgrund von diversen Krankheiten und individuellen Krankheitsverläufen nicht möglich sei, eine Definition von Unheilbarkeit und terminaler Phase in ein Gesetz aufzunehmen. Es sei jedoch sehr wohl möglich, im konkreten Fall festzustellen, ob es noch Aussichten auf Heilung gebe und ob die Sterbephase bereits begonnen habe. Aus diesem Grund orientieren sich die Gesetzentwürfe an der Praxis in anderen Ländern, für die Feststellung die Meinung von zwei Experten zur Voraussetzung zu machen (vgl. Igata 2013: 16). Die Reichweite von Patientenverfügungen stellte zusammen mit der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen einen wichtigen Diskussionspunkt in der deutschen Bundestagsdebatte dar. Im Vergleich mit der Patientenverfügungsdebatte in Deutschland kann festgestellt werden, dass das beabsichtigte Geltungsspektrum für Patientenverfügungen in Japan engen Reichweitenbegrenzungen
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unterliegt. Durch das bundesdeutsche Patientenverfügungsgesetz von 2009 11 wurde ein Gesetzentwurf umgesetzt, der die liberalste der vorgeschlagenen Regelungen enthielt und die Geltung von Patientenverfügungen auch für Fälle anerkennt, in denen Unheilbarkeit und terminales Stadium nicht gegeben sind. Dem durch die Patientenverfügung im Voraus verfügten Willen wird die gleiche Verbindlichkeit zugeschrieben wie dem Willen des äußerungsfähigen Patienten (vgl. Stünker et al. 2008). Die Geltung der Patientenverfügung wird nicht durch medizinische Kriterien bestimmt, sondern über die Eindeutigkeit des vom Patienten selbst niedergelegten Willens. Je konkreter die Wünsche in der Patientenverfügung dargelegt sind und je weniger Interpretationsspielraum sie ermöglichen, desto verbindlicher ist der im Voraus verfügte Wille für die Behandlung durch den Arzt. Die Verbindlichkeit wurde im deutschen Bundestag vor allem hinsichtlich der Entscheidungskompetenz des Patienten und einer möglichen Willensänderung diskutiert. Es wurde vorgeschlagen, eine Beratungspflicht einzuführen, um sicherzustellen, dass die Entscheidung auf der Grundlage hinreichender medizinischer Informationen getroffen wurde. Zudem gab es die Absicht, eine Erneuerungspflicht für die Patientenverfügung einzuführen. Zum einen sollte sichergestellt werden, dass die Patientenverfügung dem aktuellen Willen des Verfassers entspricht, und zum anderen, dass die Patientenverfügung vor dem Hintergrund der neuesten medizinischen Möglichkeiten verfasst wurde. Diese Überlegungen konnten sich jedoch nicht durchsetzen und werden durch das Gesetz nicht abgedeckt. In der japanischen Debatte wird bisher nicht ausdrücklich über die Verbindlichkeit der Patientenverfügung diskutiert. Die JSDD ist zwar im Zuge der Debatte kritisiert worden, dass ihre standardisierten Formulare nicht dem aktuellen Stand der Palliativmedizin entsprechen und neue Erkenntnisse und Messungsmethoden zur Feststellung eines dauerhaften Bewusstseinsverlusts nicht berücksichtigen. Die starke Standardisierung und allgemein gehaltenen Formulierungen des Formulars sind jedoch bisher nicht zu einem entscheidenden Kritikpunkt in
11 Die genaue Bezeichnung lautet »Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts«. Es ist am 1. September 2009 in Kraft getreten. Für eine Diskussion einzelner Punkte, die durch das Gesetz geregelt wurden oder offen geblieben sind s. Salomon 2010; zu einer Kritik der nicht eingeführten Beratungspflicht s. Taupitz 2010 und zu einer Begründung der nicht eingeführten Reichweitenbegrenzung auf irreversible Grunderkrankungen mit tödlichem Verlauf sowie weiterhin bestehenden strafrechtlichen Unsicherheiten s. Kutzer 2010.
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der Debatte geworden – auch und obwohl einige Ärzte für ihre eigenen Patienten differenziertere Formulare zur Verfügung stellen. Das Informationssystem der JSDD zu Krankenhäusern und Ärzten, die Patientenverfügungen akzeptieren, legt nahe, dass die JSDD durchaus eine strenge Verbindlichkeit für Patientenverfügungen vorsieht. Der Beschluss der JSDD 1996, im Living Will Formular keine Äußerungen über demenzielle Erkrankungen aufzunehmen, kann auch als Strategie interpretiert werden, Diskussionen zur Verbindlichkeit der Patientenverfügung zu vermeiden. 3.1.2 Das Recht auf Leben und die Kritik an einer gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen Als Reaktion auf die erste Gesetzesinitiative der JSE 1978 schlossen sich verschiedene Interessenverbände zusammen und traten als Anrakushi Hôseika wo Soshi Suru Kai (›Vereinigung, die eine Gesetzgebung zur Euthanasie verhindert‹) gegen das ›Gesetz für besondere Maßnahmen für ärztliche Behandlungen am Lebensende‹ (shûmakki iryô no tokubetsu sochi hô) ein. Laut Vereinschronologie der JSDD äußerte sich die Soshi Suru Kai im November 1978 zum ersten Mal mit der Kritik, die japanische Gesellschaft sei nicht dazu bereit, Sterbehilfe zu legalisieren. Die Kritiker bezweifelten, dass es unter den gegebenen gesellschaftlichen Strukturen Ende der 1970er-Jahre möglich sei, den Willen oder Wunsch zu leben hinlänglich zu erfüllen. Für alte und kranke Menschen würde eine gesetzliche Anerkennung des Rechts auf Sterben den Druck erhöhen, der Familie oder Gesellschaft nicht zur Last zu fallen, und käme der Aufforderung ›stirb‹ (shine) gleich (vgl. Igata 2006: 26). Die JSE antwortete im Dezember desselben Jahres mit einer Pressemitteilung und entgegnete, die Befürchtungen der Sohisuru Kai würden auf einem Missverständnis beruhen und es gebe keinerlei rationale Begründung dafür. Es wird ausdrücklich eine emotionale Diskussion über den Respekt vor dem Leben zurückgewiesen, mit dem Verweis, dass es der JSE um ein Gesetz gehe, das die Rechte von Patienten am Lebensende im Sinne der allgemeinen Menschenrechtserklärung schützt (vgl. Igata 2006: 27). Als die JSDD Anfang der 2000er-Jahre mit der Vorbereitung der nächsten Gesetzesinitiative begann, formierte sich der Widerstand in der Soshi Suru Kai neu. Im Jahr 2005 gründeten sie die Anrakushi Songenshi Hôseika wo Soshi Suru Kai (›Vereinigung, die eine Gesetzgebung zur Euthanasie und zum Sterben mit Würde verhindert‹). Die neue Soshi Suru Kai verstand sich als loser Zusammenschluss von Einzelpersonen und Organisationen, deren Ziel es war, ein Gesetz zur Sterbehilfe zu verhindern, die aktuelle Situation von ärztlichen Be-
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handlungen und der wohlfahrtsstaatlichen Unterstützung in Japan zu untersuchen und zu einer Gesellschaft beizutragen, die das Leben respektiert (vgl. Anrakushi Songenshi Hôseika wo Soshi Suru Kai 2005a). Vorsitzender der Soshi Suru Kai war der Mediziner Harada Masazumi, der sich seit den 1960er-Jahren sowohl auf wissenschaftlicher Ebene als auch öffentlich für die Aufklärung des Minamata Umweltskandals in der Präfektur Kumamoto sowie die Anerkennung der Geschädigten und ihre Entschädigung als Opfer einsetzte (vgl. Harada 2005: 330). Eines seiner Anliegen war, dass Leben nicht hinsichtlich seiner Qualität bewertet wird. Er vertrat die Meinung, dass jedes Leben es wert sei, gelebt zu werden (vgl. Anrakushi Songenshi Hôseika wo Soshi Suru Kai 2005b). Nach Haradas Tod im Jahr 2012 und als Reaktion auf die Parlamentsdebatte zu den eingereichten Gesetzentwürfen schlossen sich die Gegner des Gesetzes neu als Songenshi no Hôseika wo Mitomenai Shimin no Kai (›Vereinigung von Bürgern, die eine gesetzliche Regelung des würdevollen Sterbens nicht billigen‹, im Folgenden kurz Mitomenai Shimin no Kai) zusammen. In dieser Vereinigung sind zum größten Teil die gleichen Patienten- und Selbsthilfe- oder Behindertengruppen vertreten wie im Soshi Suru Kai. Sie lehnen Patientenverfügungen nicht per se ab, jedoch eine gesetzliche Regelung. Die Befürchtungen, eine gesetzliche Regelung des Nicht-Aufnehmens oder Abbruchs von lebenserhaltenden Maßnahmen führe zu einem Ausschluss von alten, kranken und behinderten Menschen als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft, existiert bis in die aktuelle Debatte fort. Als Initiatoren legen Hirakawa Katsumi, Nakanishi Shôji und Kawaguchi Yumiko ihren je eigenen Standpunkt gegen eine Verabschiedung des Gesetzes auf der Homepage des Mitomenai Shimin no Kai dar. Gemeinsam ist ihren Erklärungen die Befürchtung, Sterben könne für alte, kranke und behinderte Menschen durch eine gesetzliche Regelung zur Pflicht werden (Kawaguchi und Nakanishi), oder aus dem freien Willen zur Wahl der eigenen Lebensweise und somit auch des eigenen Todes könne der ›Zwang zum Willen‹ (Hirakawa) werden. Kawaguchi kritisiert zudem die Vorgehensweise der Parlamentariergruppe als undemokratisch. Es sei weder eine ausführliche inhaltliche Diskussion über den würdevollen Tod geführt worden noch hätten die Abgeordneten genügend Zeit zum Nachdenken erhalten. Experten aus dem Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt seien nicht gehört worden und die Meinung von Rechtsexperten und Experten zu Fragen der Ethik seien nicht eingeholt worden. Die Befürchtungen von Behinderten- und Patientengruppen wurden zwar pflichtgemäß gehört, jedoch ohne dass ihre Argumente weiter beachtet worden wären. Einzig und allein die Argumente der JSDD seien mit Begeisterung aufgenommen worden. Kawaguchi fordert, dass eine breite öffentliche Debatte über das
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Thema geführt werden müsse, in der das Für und Wider einer gesetzlichen Regelung diskutiert wird und individuelle Überlegungen zum würdevollen Sterben gehört werden (vgl. Kawaguchi 2012). Selbstbestimmung und das Konzept der Würde Der Philosoph Komatsu Yoshihiko formuliert eine kritische Position zur Bedeutung der Konzepte ›Leben‹, ›Tod‹ und ›Körper‹, wie sie in der gegenwärtigen bioethischen Debatte verwendet werden und seiner Meinung nach im gesellschaftlichen Bewusstsein vorherrschend sind. Er spricht von einer »corporeal revolution« (Komatsu 2007: 180), in deren Zuge durch die Technisierung der Biomedizin der Körper zum Forschungsobjekt und zur Ware geworden sei (vgl. Komatsu 2007: 180-185). Komatsu geht von einem ›neuen Barbarismus‹ aus, in dem der Körper trivialisiert werde als Ressource für die Forschung sowie in Form von Organspenden für die klinische Praxis. Seine Absicht ist es, die soziale Komponente des Körpers sowie des Lebens und des Todes hervorzuheben, die er im Zuge einer voranschreitenden Medikalisierung oder Verdinglichung des Körpers als verloren glaubt. In Bezug auf die Embryonen-Debatte wendet er sich dem Beginn des menschlichen Lebens zu und erklärt die Versuche, Leben durch das Konzept der ›Würde des Lebens‹ (seimei no songen) zu schützen, als gescheitert. Durch neue biologisch geprägte Definitionen von Leben sei es möglich, die Grenze vom Beginn des Lebens zu verschieben, sodass frühe Embryonalstadien nicht mehr unter den Schutzbereich der Würde des Lebens fallen. Jedoch gibt er den Würdebegriff nicht gänzlich auf, sondern schlägt vor, von der ›Würde des Körpers‹ zu sprechen: »And it is a barbarism that, as noted above, we can scarcely curtail with arguments grounded in the ›dignity of life‹ and ›theories of personhood‹. Therefore, if we intend to protect the principle of ›dignity‹ at all, we need, I suggest a new concept – what I refer to as the ›dignity of the body‹, specifically the human body. Should this not be our principal concern in an age of corporeal revolution? By keeping our sights on this new concept, I suggest, we can inject a sense of reality back into our debates.« (Komatsu 2007: 183; Hervorhebungen im Original)
Komatsu führt nicht weiter aus, wie genau er sich diese ›Würde des Körpers‹ vorstellt; er bezieht weder eine klare Position dazu, wie mit Embryonen in der Forschung umzugehen sei noch wie mit der Problematik der Sterbehilfe – auf die er im Folgenden eingeht – zu verfahren sei. Seine Ausführungen sind viel-
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mehr als Problemanzeige zu verstehen. 12 Deutlich wird dennoch, dass er ein Umdenken zum Umgang mit menschlichen Körpern fordert und ein neues Verständnis von Leben und Tod als wichtig erachtet. Er richtet sich gegen eine medizinische Objektivierung des menschlichen Körpers und von Leben und Tod, und plädiert dafür, die soziale Dimension zu berücksichtigen. Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, spricht Komatsu von einem kulturhistorischen Wandel, welchem das Verständnis von Leben und Tod in modernen Gesellschaften durch die Entwicklung der Biotechnik unterworfen ist. Er bedient sich dabei der Debatte um ein Recht auf Sterben. Zunächst bezieht er sich jedoch auf das gegenwärtige Verständnis von Leben und Tod und beabsichtigt, die kulturhistorische Bedingtheit aufzuzeigen. Dabei beschränkt er seine Ausführungen nicht auf die japanische Geschichte, sondern setzt bei Ariès Ausführungen zum Tod im europäischen Mittelalter als Kontrast zur heutigen Sichtweise an. Die Auffassung, dass Leben und Tod als je eigenes Leben und eigener Tod allein das Individuum betreffen und sich in den Grenzen des jeweiligen Körpers ereignen, erscheine uns heute als Selbstverständlichkeit. Jedoch zeige ein Blick in die Vergangenheit, dass im europäischen Mittelalter der Tod die Gemeinschaft betraf und der Prozess des Sterbens erst als beendet angesehen wurde, wenn im Grab der Körper zerfiel (vgl. Komatsu 2007: 187). Erst durch die Ängste im 18. Jahrhundert, bei lebendigem Leib begraben zu werden, begann die Medizin nach Symptomen des Todes und Methoden zu ihrer Feststellung zu suchen. Es sollte eine klare Linie zwischen Leben und Tod gezogen werden. Durch diese Entwicklung und die immer präzisieren Methoden wurde der Tod zum biologischen Phänomen, das scheinbar objektiv im Körper des Betreffenden stattfindet und nur dieses Individuum betrifft. Die soziale Dimension des Todes sei aus dem Blickfeld geraten und der Tod wie auch das Leben in den individuellen Körper eingeschlossen worden (vgl. ebd.: 187 f.): »[...] we need to recognize that just by becoming engrossed in observing the biological signs that may be death’s symptoms, we can completely forget the societal dimension – that is, the multiple ways death reverberates outward into others. Our tendency to think what we first perceive with our eyes is somehow an objective phenomenon that is com-
12 Die Vorgehensweise Komatsus ist keine Seltenheit. Steineck schreibt über die Embryonen-Debatte, es gebe keine extremen Positionen, weder eine grundsätzliche Ablehnung der Verwendung von Embryonen zu Forschungszwecken noch eine äußerst liberale und forschungsfreundliche Haltung. Die von Steineck vorgestellten philosophischen Positionen sind wie Komatsus Beitrag häufig Problemanzeigen (vgl. Steineck 2008b).
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pletely independent of us leads us to treat death as an instantaneous biological phenomenon that happens only to the individual ›out there‹. In other words, equating such things as the absence of blistering, fully open pupils of the eyes, or lack of a heartbeat with death, we have trapped or sealed death within that individual.« (Komatsu 2007: 188)
Wie sehr der Gedanke, dass das Leben und der Tod ›eingeschlossen‹ oder ›abgekapselt‹ vom sozialen Umfeld sich allein im Körper des Individuums ereignen zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit geworden ist, zeige sich in den sprachlichen Konventionen mittels eines Possessivpronomens von ›meinem Leben‹ oder ›jemandes Tod‹ zu sprechen (vgl. ebd.: 186). Durch diese Sprachkonvention liege es nahe, das Leben oder den Tod als zum Individuum gehörig zu denken, als gehöre das Leben und der Tod zu seinem Besitz über den es verfügen kann. Diese Denkweise drücke sich deutlich in den Argumentationen für ein Recht auf Sterben aus, das auf dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen basiere (vgl. ebd.: 185 f.). Dieser Sichtweise des hermetisch im Körper abgeschlossenen Lebens und Todes – die Komatsu sowohl für das Alltagsverständnis als auch den bioethischen Diskurs als vorherrschend bezeichnet – stellt er sein Konzept des wiederhallenden Todes (»reverberating death« oder kyômei suru shi) entgegen (vgl. ebd.: 182 f.): »However, even though death certainly affects the dying individual in a special way, each death also radiates out, or reverberates, beyond that individual, penetrating the lives and feelings of the bereaved, triggering a range of emotions from joy to sorrow, from pain to relief. I suggest that ›death‹ reverberates.« (Komatsu 2007: 182)
Sowohl Leben als auch Tod sind als Ereignisse Teil der zwischenmenschlichen Beziehungen und können nicht als abgekapselt und nur das Individuum betreffend betrachtet werden. Aus diesem Grund eigne sich der Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht auch nicht, um ein Recht auf Sterben zu fordern: »If, however, death is a reverberating something that occurs along and within a set of human relationships, it is not a private possession. This being the case, any notion of ›selfdetermination of death‹ is a kind of illusion. No single individual has the right to die.« (Komatsu 2007: 189)
Da das Individuum nur über seinen eigenen Besitz entscheiden kann und weder Leben noch Tod als sein Eigentum, über das es verfügen kann, aufzufassen sind, steht dem Einzelnen nicht das Recht zu, alleine über das Leben und den Tod zu entscheiden. Komatsus Argument ist in sich schlüssig, doch ist zu bezweifeln,
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dass seine Prämisse – Leben und Tod seien nicht zu dem Bereich des persönlichen Besitzes zu zählen, über welchen das Individuum entscheiden kann – weitreichende Akzeptanz findet. Eingängiger und näher am Alltagsverständnis ist Igatas Aussage, der Einzelne gestalte durch seine Entscheidungen sein Leben selbst, deswegen sollte er konsequenterweise auch über sein Lebensende selbst entscheiden dürfen. Doch kritisiert Komatsu gerade dieses Verständnis von unabhängigen, individuellen Entscheidungsfindungen, die scheinbar losgelöst von äußeren Einflüssen zustande kommen: »In daily life, is there anything about which we make a decision purely on our own and not affecting others? Countless people and things are interwoven in a world of relationships, and when something comes about through mutual connection with others, just because that result comes close to our own intention, we tend to attribute it to selfdetermination. But even in selecting a book to read, we have already heard or read opinions about that book, and these influence us.« (Komatsu 2007: 196)
Komatsu hat vielmehr ein Modell der gemeinsamen Entscheidungsfindung vor Augen. Er verweist darauf, dass Selbstbestimmung ebenso wie andere Schlüsselkonzepte der Moderne als Dualismus gedacht werde, durch den die Entscheidungsmacht von einer Seite auf die andere übertragen werden soll – sprich, durch die Selbstbestimmung des Patienten als Gegenbegriff zum ärztlichen Paternalismus soll die Entscheidungsbefugnis des Arztes auf den Patienten übertragen werden. Durch das Recht auf Selbstbestimmung verbleibe die Debatte und auch die Praxis in dualistischen Strukturen gefangen und transferiere lediglich die Macht von einer zur anderen Seite, löse jedoch nicht die bestehenden Probleme (vgl. ebd.: 195). Des Weiteren kritisiert Komatsu die Verwendung des Konzeptes der Rechte für soziale Beziehungen. Durch Selbstbestimmung oder Tod als Recht werde das Individuum darin gestärkt, die Interventionen anderer abzuwehren. Für das nähere soziale Umfeld bedeute dies jedoch, dass die Angehörigen oder Freunde des Betreffenden durch die Pflicht zur Achtung dieses Rechts ihre Meinung und Emotionen hinsichtlich der Entscheidung für den Tod nicht mehr frei äußern können. Diejenigen, die durch das Widerhallen des Todes auch betroffen sind, fühlen sich demnach verpflichtet so zu tun, als seien sie nicht betroffen (vgl. ebd.: 192 f.). Den Zusammenhang zum vorgeschlagenen Konzept der ›Würde des Körpers‹ stellt Komatsu durch eine Einordnung der Sterbehilfeproblematik in den Kontext der Kommodifizierung des Körpers durch die Entwicklungen der biomedizinischen Technik her. Durch die Würde des Körpers versucht er, die Per-
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spektive des Sozialen gegenüber einer biologischen Reduktion von Leben und Tod hervorzuheben. Er führt dabei nicht aus, welche Rechte oder Pflichten aus seinem Konzept der Würde abzuleiten wären. Seine Erläuterungen sind eher als Problematisierung zu verstehen, da er auch keine konkreten Lösungsvorschläge für die von ihm angesprochenen Debatten unterbreitet. Ein weiteres Problem der gegenwärtigen Sterbehilfe-Debatte sieht Komatsu in einer Verzerrung der Gegebenheiten: Einer leiderfüllten Sterbephase werde der würdevolle Tod entgegengesetzt; das Gegenteil eines unwürdigen und mit Leiden erfüllten Lebens sei jedoch nicht der würdevolle Tod, sondern ein würdevolles und leidfreies Leben. Hinzu komme, dass Informationen über die Möglichkeiten zur Linderungen von Leiden, die Alternativen zur Sterbehilfe darstellen, häufig unterschlagen würden (vgl. Komatsu 2007: 189). Um Schmerzen zu lindern sei eine adäquate Palliativbehandlung zu fördern. Komatsu kritisiert hier, dass in Japan die technische Infrastruktur, um die benötigten Mengen an Morphium zur Verfügung zu stellen, nicht gegeben ist und aufgrund von Befürchtungen des Missbrauchs nicht ausgebaut werde (Komatsu 2007: 190). Die Ängste von Patienten, durch lebensverlängernde Maßnahmen am Leben erhalten zu werden, seien Komatsu zufolge nicht überzeugend. Es würden einzelne Apparate und Maßnahmen herausgegriffen und es sei nicht klar, warum ausgerechnet diese Behandlungen als ›bloße‹ Lebensverlängerungen abgelehnt werden sollten, wohingegen andere Maßnahmen wie Herzschrittmacher, Grippeimpfungen, Blinddarmoperationen oder Organtransplantationen auch eingesetzt werden, um das Leben zu verlängern (vgl. Komatsu 2007: 190). Die Einschränkung der Zulässigkeit von Sterbehilfe für Fälle, in denen keine Aussicht auf Heilung besteht, weist Komatsu zurück mit der Begründung, dass Prognosen über die Aussichtslosigkeit nicht mit Gewissheit getroffen werden können. Selbst bei angeblich irreversiblen, dauerhaft komatösen Zuständen sei in seltenen Fällen schon eine Genesung vorgekommen. Komatsus Zweifel an der Gewissheit der Diagnosen und Prognosen bezieht sich vor allem auf die adäquate Interpretation der Ergebnisse der diagnostischen Verfahren. Keine Reaktion auf Stimuli werde gleichgesetzt mit Bewusstlosigkeit, obwohl auch die Möglichkeit besteht, dass der Patient die Kommunikationsfähigkeit verloren hat und sich in einem bewussten Zustand mit einem ›total locked-in syndrome‹ befindet. Auch Messmethoden wie die Elektroenzephalografie (EEG) würden nur Hirnaktivitäten an der Oberfläche der Schädeldecke messen und könnten keine Ergebnisse darüber liefern, ob in den tieferen Schichten des Gehirns noch Aktivitäten vorliegen – trotzdem würden die Ergebnisse der Messungen an der Hirnoberfläche dargestellt, als würden sie die Gesamthirnfunktionen repräsentieren (vgl. Komatsu 2007: 190).
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Der Sozialwissenschaftler Tateiwa Shinya kritisiert ebenfalls den Begriff der Selbstbestimmung, setzt jedoch aus einer anderen Perspektive an. Tateiwa beschäftigt sich seit den 1990er-Jahren mit der japanischen Behindertenbewegung, insbesondere mit der Bewegung für ein selbstständiges Leben von Menschen mit Zerebralparese (vgl. Tateiwa 2008: 21). Er unterscheidet zwischen zwei Bedeutungen des Selbstbestimmungsbegriffs, die er unterschiedlich bewertet (vgl. Tateiwa 2008: 32). Die Bewegung für ein selbstständiges Leben von Menschen mit Behinderungen dient ihm dabei zur Verdeutlichung des seiner Meinung nach angemessenen Verständnisses von Selbstbestimmung. Die Bewegung für ein selbstständiges Leben von Menschen mit Behinderungen nahm in den 1970er-Jahren ihren Anfang in Tokyo. Sie setzte sich dafür ein, dass die wohlfahrtsstaatliche und kommunale Unterstützung für Menschen mit Behinderungen ausgebaut wurde, sodass es ihnen möglich wurde, ein Leben unabhängig von familiärer Pflege und Betreuung nach ihren Vorstellungen zu leben (vgl. ebd.: 21-27). Unter dem Slogan ›selbstständiges Leben‹ sei es – neben der Schaffung von Pflege- und Betreuungsstrukturen – um grundlegende Entscheidungen gegangen, wie selbst zu entscheiden, von wem man gepflegt wird oder wann man schlafen und aufstehen möchte. Dinge, die für Menschen ohne Behinderungen selbstverständlich sind. Aufgrund von Krankheit oder Behinderung sei es jedoch nicht für alle Menschen selbstverständlich, selbst über die grundlegenden Dinge ihrer Lebensweise zu entscheiden (vgl. ebd.: 27). Auch heute noch sei ein selbstbestimmtes Leben trotz der Erfolge der Bewegung nicht für alle Menschen realisiert. Für einige Menschen, beispielsweise ALS-Patienten, seien immer noch nicht die nötigen Voraussetzungen geschaffen, um sich für ein selbstbestimmtes Leben mit invasiver künstlicher Beatmung zu entscheiden (vgl. ebd.: 28 f.). Tateiwa fordert, dass Selbstbestimmung im Sinne des Rechts, die grundlegenden Dinge im Leben selbst zu entscheiden und ein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu leben, ausgeweitet und für alle Menschen ermöglicht wird (vgl. ebd.: 28). In diesem Sinne sei Selbstbestimmung wichtig. Jedoch sei Selbstbestimmung nur zur Hälfte die Lösung der Probleme und sollte nicht überstrapaziert werden (vgl. ebd.: 27, 29). In seiner ursprünglichen Bedeutung habe sich das Prinzip der Selbstbestimmung im Europa der Neuzeit entwickelt. Die Fähigkeit, selbst nach dem eigenen Willen die eigene Umgebung zu gestalten und soweit es möglich ist, äußere Umstände zu beeinflussen und zu kontrollieren, werde im Verständnis dieser zweiten Bedeutung des Selbstbestimmungsbegriffs hoch bewertet. Tateiwa zufolge führe der Glaube an die Unabhängigkeit und das Prinzip der Selbstbestimmung in diesem Verständnis nicht zu mehr Freiheiten und einer selbstständigeren Le-
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bensweise, sondern ganz im Gegenteil zu einer Verengung der Möglichkeiten für Menschen mit Krankheiten oder Behinderungen. Wenn die Gesellschaft einer unabhängigen Lebensweise großen Wert beimisst, in der das Individuum alle Angelegenheiten nach seinem eigenen Willen gestaltet und kontrolliert, dann wird der Verlust oder ein Nachlassen der Fähigkeiten zum menschlichen Versagen (ningen toshite no haiboku). Durch Krankheit oder Behinderung nicht mehr die Kontrolle über das eigene Leben zu haben, führe zur Verzweiflung. Tateiwa bezeichnet dieses Verständnis von Selbstbestimmung als Grund für den Wunsch nach Sterbehilfe. Anhand von Beispielen aus Ländern, in denen aktive Sterbehilfe möglich ist, könne man beobachten, dass es die Selbstbestimmung in dieser Bedeutung ist, welche die Menschen den Tod wählen lässt (vgl. ebd.: 30 f.). Eugenik Vorwurf und Kritik an der Bewertung der Qualität des Lebens In der Debatte wird immer wieder auf die Euthanasie-Praxis der Nationalsozialisten verwiesen. Während die einen hervorheben, dass der Gedanke der Selbstbestimmung aufgrund der historischen Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg betont wurde, um zu vermeiden, dass sich die Ereignisse wiederholen (s. Morimoto in der Yomiuri Shinbun 1996a), verweist Komatsu darauf, dass auch die Nationalsozialisten sich auf das Prinzip der Selbstbestimmung bezogen. Komatsu bezieht sich hier auf die nationalsozialistische Gesetzgebung zur Eugenik. Zunächst sei 1933 das ›Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses‹ erlassen worden, durch welches Zwangssterilisationen erlaubt wurden. Zwei Jahre später sei das Gesetz um Abtreibung aufgrund einer eugenischen Indikation erweitert worden und ebenfalls 1935 das Gesetz zum ›Schutz der genetischen Gesundheit des deutschen Volkes‹ erlassen worden, durch welches ›unerwünschte‹ Eheschließungen verhindert werden sollten. Als vierte Stufe der eugenischen Maßnahmen wurde 1939 ein Entwurf für ein Euthanasiegesetz vorgelegt, zu dessen Verabschiedung es aufgrund der Entwicklungen des Krieges jedoch nicht gekommen sei (vgl. Komatsu 2007: 194). Außer im Falle des Gesetzes zur Kontrolle der Eheschließungen seien die Formulierungen so getroffen worden, dass die Gesetze und der Gesetzentwurf mit dem Prinzip der Selbstbestimmung zu vereinbaren waren. Gegen den Willen des Betroffenen konnten die Gesetze nur durchgesetzt werden, wenn die Fähigkeiten zur Selbstbestimmung abgesprochen wurden – hierin besteht das Missbrauchspotential. Im Falle des Euthanasie-Gesetzes war beabsichtigt, dass der Staat oder die Ärzte entscheiden konnten, diejenigen zu töten, »who are incapable of exercising their own ›right to die‹« (Komatsu 2007: 194).
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Auch Tateiwa und Otani verweisen in ihrer Kritik am Gedanken des Rechts auf Sterben immer wieder auf Zusammenhänge zur Eugenik und Euthanasie. Tateiwa bezieht sich auf den Gründer der JSE, Ôta Tenrei, und erklärt, dass Ôta ein Unterstützer des ›Gesetzes zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses und zum Schutz der Mütter‹ (yûseihogohô – Eugenic Protection Law)13 war, um seine gedankliche Nähe zur Eugenik zu betonen. Otani verweist darauf, Ôta habe zwar Sterbehilfe im Sinne von einer Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen – basierend auf dem Willen der betroffenen Person – befürwortet, sich jedoch mit dieser Äußerung nur auf entscheidungsfähige Personen bezogen. In einer Anhörung Ôtas vor dem japanischen Parlament habe er jedoch nicht nur die passive Sterbehilfe, sondern auch aktive Formen befürwortet und Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen als soziale Last bezeichnet und als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft ausgeschlossen (vgl. Otani 2010: 51 f.). Tateiwa bezieht sich in diesem Zusammenhang auf einen häufig zitierten Zeitungsartikel aus der Mainichi Shinbun von 1974, in der Ôta sagte: »Ich bin kein Nazi, jedoch scheint es mir, dass es ›wertloses Leben‹ gibt. [...] Für mich liegt die Grenze darin, ob jemand Bewusstsein hat und seine Menschenrechte geltend machen kann. [...] Es sollte sicherlich keine Rücksicht mehr genommen werden, wenn jemand dadurch dass er lebt, zur Belastung für die Gesellschaft wird. Ich denke, dass man die ärztliche Behandlung bei Patienten einstellen sollte, die nicht mehr alleine Essen können und von der künstlichen Ernährung abhängig sind, die nicht ›leben‹, sondern ›lebend gemacht werden‹.« (Artikel aus der Mainichi Shinbun vom 15.3.1974; zitiert nach Shimizu 1998: 89 in Tateiwa 2005a: 24; eigene Übersetzung)
13 Das sogenannte ›Eugenische Schutzgesetz‹ (yûseihogohô, häufig auch als ›Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchs und zum Schutz der Mütter‹ übersetzt) wurde 1948 von der japanischen Regierung und den amerikanischen Besatzern erlassen, um der Überpopulation Japans nach dem Zweiten Weltkrieg entgegenzuwirken. Das Gesetz ist streng genommen eine Weiterführung des vormaligen Nationalen Eugenischen Schutzgesetzes, das 1940 erlassen wurde, um ›erbkranken Nachwuchs‹ durch Zwangsabtreibungen und -Sterilisationen zu verhindern. 1948 galten Abtreibungen als indiziert, wenn ›eugenische Gründe‹ vorlagen, die Schwangerschaft das Resultat einer Vergewaltigung war oder eine Bedrohung für die Gesundheit der Mutter darstellte; 1949 wurden wirtschaftliche Gründe zu den Bedingungen einer legalen Abtreibung hinzugefügt. Das Gesetz bestand in der Form von 1949 bis 1996 fort und wurde dann in ›Gesetz zum Schutze der Mütter‹ (botaihogohô) umbenannt, und alle Passagen zu Zwangsterilisation und Zwangsabtreibung wurden herausgestrichen (für eine ausführliche Darstellung s. Kato 2009, Morioka 2002 und Ogino 2007).
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Ôtas Stellungnahme, er sei kein Nazi, gehe jedoch davon aus, dass es ›wertloses Leben‹ gibt, zeigt, dass der Vorwurf der gedanklichen Nähe zum Nationalsozialismus keine Seltenheit in der Debatte darstellt, wenn es um die Bewertung der Qualität von Leben geht. Tateiwa kommentiert dieses Zitat nicht weiter. Durch Ôtas Abgrenzung von nationalsozialistischem Gedankengut scheint genügend Verbindung zur Eugenik und Euthanasie-Praxis hergestellt worden zu sein, sodass Tateiwa im Folgenden nur anmerkt, die JSDD habe sich nie von diesen Äußerungen Ôtas distanziert. Einige der heutigen Mitglieder wüssten sicherlich nichts Genaues über die Person Ôta Tenreis, er werde jedoch nicht verheimlicht. Vielmehr beziehe sich die JSDD stolz auf die Verdienste ihres Gründers und er werde immer wieder gemäß seiner Selbstdarstellung als Gesellschaftskritiker und Systemgegner dargestellt, der gegen die autoritären Strukturen in der Medizin kämpfte und den verborgenen Tod wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken wollte (vgl. Tateiwa 2005a: 26).14 In Tateiwas Darstellung klingt die Forderung an, die JSDD müsse kritisch mit ihrer Geschichte und ihrer Gründerfigur umgehen. Auch stimmt Tateiwa grundsätzlich der Auffassung zu, dass songenshi, anrakushi und Eugenik auf der gleichen gedanklichen Grundlage beruhen. Die Verbindung liege in der Bewertung von Leben als ›gutes Leben‹, das durch Eugenik vermehrt oder gesteigert werden soll, und einer Bewertung des guten Tods, der durch Euthanasie herbeigeführt wird. Der Mensch werde bezüglich seiner Vor- und Nachteile bzw. seiner Qualität bewertet, und in sein Leben werde interveniert (vgl. Tateiwa 2005a: 25). Otani wendet sich ebenfalls kritisch der Bewertung von Lebensqualität und Vorstellungen des ›guten‹ oder ›würdevollen Tods‹ zu. Bei der Konstruktion des ›würdevollen Tods‹ bleibe das in der aktiven Sterbehilfe mitschwingende ›Mitleid‹ ein wichtiger Aspekt, jedoch seien Selbstbestimmung und der eigene (freie) Wille als entscheidende Elemente hinzugekommen. Selbstbestimmung und der freie Wille rückten das betroffene Subjekt als Bewertungsinstanz in den Mittelpunkt. Indem der Betroffene die eigene Lebensqualität beurteilt, sollte die Ablösung vom negativen Image der Eugenik/Euthanasie ermöglicht werden. Die subjektive Beurteilung der Lebensqualität wurde jedoch zur Grundlage für das Mitleid der anderen: Es erscheint als unmenschlich, den Wunsch eines Menschen
14 Ôta habe sich gerne in seinen Veröffentlichungen darauf bezogen, dass er wegen eines Verstoßes gegen das ›Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit‹ (chianijihô) im Gefängnis saß. Tateiwa verweist in diesem Kontext auf einen Untertitel in Ôtas Biografie »Der rebellische Arzt Ôta Tenrei« (Hankotsu no ishi Ôta Tenrei) (Tateiwa 2005a: 26).
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nicht zu respektieren, wenn er sein eigenes Leben als qualvoll und nicht mehr lebenswert beurteilt und aus freiem Willen den Wunsch zu sterben äußert: »This collapse
15
transformed the concept of euthanasia to that of death with dignity,
which was cultivated and had scalability by attaining the new narrative with a slogan saying ›a death that is your own, humane, and with dignity‹. Finally, the concept of ›death with dignity‹ was suggested in which ›mercy‹ and ›autonomy‹ became intertwined and connected.« (Otani 2010: 52)
Otani bezeichnet die gegenwärtige Gesellschaft als »sustainable society«, in der Leben als soziale Ressource gesehen und hinsichtlich ihres Nutzens für die Gesellschaft bewertet wird: »Drawing a line concerning life is based on whether live (and living) can be utilized as a social resource. Life is recycled and utilized as a social resource. This is what we call a ›sustainable society‹.« (Otani 2010: 58) Menschen, die aufgrund von Krankheiten, Behinderungen oder Alter keinen eigenständigen Beitrag zum gesellschaftlichen Leben (mehr) leisten können oder auf die Hilfe der Familie bzw. sozialer Einrichtungen bei der Bewältigung ihres Alltags angewiesen sind, erscheinen in der Bewertung von Leben nach den Maßstäben der sustainable society als Belastung. Das Leben ist dem Tod vorzuziehen: Gesellschaftskritik und die Gefahr einer Pflicht zu sterben Tateiwa stimmt den Befürwortern von Patientenverfügungen zu, dass keine sinnlosen medizinischen Maßnahmen durchgeführt werden sollten, die Schmerzen verursachen oder die keinen positiven Nutzen für den Patienten haben. Jedoch wendet er ein, dass kein Gesetz nötig ist, um das Nicht-Einleiten von Maßnahmen wie unerwünschte Defibrillation in der Sterbephase abzusichern – diese Fälle seien bereits durch die bestehende Gesetzeslage abgesichert. Des Weiteren betont Tateiwa, es müsse unterschieden werden zwischen Zuständen, in denen keine Aussicht auf Heilung besteht, und Zuständen, in denen keine Aussicht auf Weiterleben besteht. Ein Verzicht auf medizinische Maßnahmen ist Tateiwa zufolge nur für Situationen akzeptabel, in denen es keine Aussicht auf Leben mehr gibt. Es gebe keinen Grund medizinische Maßnahmen abzulehnen, die das Weiterleben ermöglichen (vgl. Tateiwa 2008: 17). Auf Menschen mit Behinderun-
15 Hier bezieht sich Otani auf das Scheitern des Gesetzentwurfes der JSE Anfang der 1980er-Jahre zur Legalisierung der aktiven Sterbehilfe. Mangels Zustimmung änderte die Organisation ihren Kurs hin zur passiven Sterbehilfe, was sich auch in ihrem Namenswechsel niederschlug.
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gen oder chronische Krankheiten treffe Unheilbarkeit und keine Aussicht auf Besserung des Zustandes auch zu. Aus diesem Grund seien ›Unheilbarkeit‹ oder ›keine Aussicht auf Genesung‹ keine geeigneten Kriterien für die Legitimität von Sterbehilfe bzw. für das Nicht-Einleiten oder Abbrechen von medizinischen Maßnahmen. Eine legitime Rechtfertigung zur Beschleunigung des Todes gebe es nicht (vgl. Tateiwa 2005a: 23). Es gebe auch keine Rechtfertigung, dem Sterbewunsch von Patienten nachzukommen, die sich nicht in der terminalen Phase einer Krankheit befinden. Das Leben sei dem Tod vorzuziehen und wenn jemand noch ein Leben vor sich habe, dann solle man sich nicht beeilen, den Tod herbeizuführen. Menschen, die nicht sterben wollen, würden auch sterben, führt Tateiwa als Begründung an (vgl. Tateiwa 2005a: 23). Der Apparatemedizin werde in den Diskussionen eine negative Bedeutung zugeschrieben. Sie würde als ›unnatürlich‹ (fushizen) oder ›unmenschlich‹ (ningenrashikunai) dargestellt (vgl. ebd.: 16). Doch werde häufig vergessen, dass die einzelnen Maßnahmen wie Magensonden oder Beatmungsmaschinen lediglich Funktionen des Körpers unterstützen, die Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten verursachen. Tateiwa hält eine Beurteilung von Dritten, wie die entsprechenden Maßnahmen in der aktuellen Situation empfunden werden, für unmöglich. Wer nicht in der Situation ist, in der die Atmung Schwierigkeiten verursacht, der könne auch nicht bewerten, wie die Beatmungsmaschine empfunden wird, das sei nur aus der Sicht des Betroffenen möglich. Aus diesem Grund hält Tateiwa auch Vorausverfügungen des eigenen Willens für den Fall der Entscheidungsunfähigkeit nicht für möglich. Niemand könne in einem gesunden Zustand antizipieren, was er oder sie in einem konkreten Krankheitsfall wünschen wird (vgl. ebd.). Ebenso gebe es keine Gründe, das Leben eines bewusstlosen Menschen vorzeitig zu beenden. Dauerhaft komatöse Zustände seien sicherlich nicht positiv zu bewerten, jedoch stellen sie für den Betroffenen auch keinen leiderfüllten Zustand dar (vgl. Tateiwa 2008: 17). Wie Komatsu verweist er für Diagnosen des irreversiblen Bewusstseinsverlusts auf Fälle, in denen Menschen nach längerer Zeit das Bewusstsein zurückerlangten. Aber auch abgesehen von der Genauigkeit der Diagnose, gebe es keinen Grund, den Tod bei irreversiblem Bewusstseinsverlust zu beschleunigen. Menschen im Koma empfinden keine Schmerzen und haben selbst auch nicht den Wunsch zu sterben:
142 | Ü BER DEN TOD VERFÜGEN »Bei Menschen ohne Bewusstsein – wenn dieser Zustand lange andauert, sagt man auch 16
›vegetativer Zustand‹ (shokubutsu jôtai) , jedoch wäre ›anhaltende Bewusstseinsstörung‹ 17
(senensei ishiki shôgai)
die bessere Bezeichnung – hat der Betreffende selbst kein Be-
wusstsein sterben zu wollen, er hat kein Interesse am Tod und so gibt es auch die Begründung nicht mehr, er würde leiden. Außerdem gibt es auch Fälle, in denen Menschen aus diesem Zustand wieder genesen sind.« (Tateiwa 2005a: 23; eigene Übersetzung)
Es gebe weder für Menschen, die noch ein Leben vor sich haben, noch für Menschen in einem bewusstlosen Zustand Gründe, die ein vorzeitiges Lebensende rechtfertigen (vgl. Tateiwa 2005a: 23). Ein weiterer, häufig in der Debatte vorgebrachter Grund für den Wunsch zu sterben seien unerträgliche Schmerzen. Hier sieht Tateiwa ein Problem: Die Forderung eines würdevollen Todes für Menschen mit Schmerzen drehe die Reihenfolge der zu ergreifenden Maßnahmen um. Nicht der Tod sollte Menschen von ihren Schmerzen befreien, sondern eine gute palliative Versorgung. Die palliativmedizinische Versorgung in Japan bezeichnet Tateiwa jedoch ebenso wie Komatsu als nicht ausreichend (vgl. Tateiwa 2008: 16). Tateiwa bezieht sich zudem auf die häufig anzutreffende Begründung, für andere nicht zur Last werden zu wollen. Zunächst einmal würde er dem noblen Wunsch, für die Familie oder Gesellschaft nicht zu einer Bürde zu werden, Achtung entgegenbringen. Jedoch sollte das soziale Umfeld diesen Wunsch nicht anerkennen. Eine Anerkennung dieses Wunsches als gerechtfertigten Grund für den Tod wäre, als würde sich die Gesellschaft bei dieser Person dafür bedanken,
16 Die wörtliche Übersetzung für shokubustu lautet ›Pflanze‹. Der Ausdruck shokubutsu jôtai hat Ähnlichkeiten mit der englischen Bezeichnung ›persistent vegetative state‹. Die Metaphorik verweist darauf, dass der Betreffende sich in einem Zustand gleich einer Pflanze befindet und allein im biologischen Sinne lebt. Weiterhin impliziert diese Gleichsetzung mit dem Status einer Pflanze, dass eine Beendigung des biologischen Lebens moralisch nicht weiter verwerflich ist als das Töten einer Pflanze. 17 Senensei ishiki shôgai ist eine medizinische Fachbezeichnung und kann mit ›anhaltender Bewusstseinsstörung‹ übersetzt werden. Vor allem durch den enthaltenden Ausdruck shôgai (Störung oder Behinderung) wird eine semantische Nähe zu anderen Behinderungen hergestellt. Die Verbindung zwischen Menschen in einem dauerhaften Koma und Menschen mit Behinderungen kann als Argumentationsstrategie Tateiwas gesehen werden, der sich in seinen Forschungsprojekten intensiv mit der japanischen Behindertenbewegung beschäftigt und sich für mehr Rechte und Möglichkeiten zur selbstständigen Lebensführung von Behinderten einsetzt (vgl. u.a. Tateiwa 2008: 2033).
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dass sie den Tod wählt (vgl. Tateiwa 2008: 17). Weder finanzielle Gründe im Bereich der medizinischen Versorgung oder Pflege sollten zu einer Entscheidung für den Tod führen noch der Gedanke zu einer sozialen Last zu werden. Tateiwa sieht die strukturellen Voraussetzungen, dass alle Menschen, die leben möchten, auch die notwenigen sozialen und finanziellen Bedingungen dazu vorfinden, als nicht gegeben an (vgl. ebd.). Die Vertreter des Mitomenai Shimin no Kai beziehen eine ähnliche Position wie Tateiwa. Nakanishi argumentiert als Vorsitzender der Japan National Assembly of Disabled Peoples’ International (DPI) und des Center of Independent Living sowie als Präsident der Human Care Association. Kawaguchi vertritt als Vorsitzende das ALS/MND Support Center Sakura Kai sowie als Vorstandmitglied die Care Support Momo GmbH. Sie vertreten den Standpunkt, dass eine gesetzliche Regelung der Sterbehilfe oder von Patientenverfügungen durch die Institutionalisierung des Rechts auf Sterben eine Bedrohung für alte, kranke und behinderte Menschen darstellt und sie als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft ausschließt. Nakanishis Kritik setzt bei den Möglichkeiten an, frei zu entscheiden, die er in der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft für Menschen mit Behinderungen als nicht gegeben ansieht. Es gebe viele Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen in Japan, die mit künstlicher Ernährung oder Beatmung ein glückliches Leben führen. Das Unterstützungsangebot für Menschen mit Behinderungen sei jedoch trotz der UN-Konventionen von 2008 und einer entsprechenden Gesetzesänderung in Japan nicht ausreichend, weswegen viele Menschen mit Behinderungen von der Unterstützung ihrer Familien abhängig sind. Aus Rücksicht auf ihre Familien falle es vielen heute schon nicht leicht, sich im ersten Schritt für lebenserhaltene Maßnahmen zu entscheiden. Ein Gesetz, welches das Nicht-Einleiten und den Abbruch von lebenserhaltenden Maßnahmen institutionalisiert, würde sie in die Ecke drängen und ihnen keine Wahl lassen. Die Rücksicht vor der Familie würde sie moralisch verpflichten, sich für den Tod zu entscheiden (vgl. Nakanishi 2012). Nakanishi beschreibt eine Zwangssituation und bezweifelt, dass die Grundvoraussetzung für eine selbstbestimmte Entscheidung zwischen Weiterleben und Tod gegeben ist, da die strukturellen Voraussetzungen nicht realisiert sind, die ein unabhängiges Leben für Menschen mit Behinderungen ermöglichen würden. Aus diesen Gründen fordert Nakanishi einen Ausbau des Unterstützungsangebotes für Menschen mit Behinderungen und lehnt die Verabschiedung eines Gesetzes ab (vgl. Nakanishi 2012). Nakanishis Position ebenso wie die oben erwähnten Erläuterungen Tateiwas entsprechen der Stellungnahme der Soshi Suru Kai von 1978, die japanische Gesellschaft könne das Recht auf Leben nicht ausrei-
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chend garantieren und deswegen könne es keine gesetzliche Verankerung eines Rechts auf Sterben geben. Die vorgebrachte Entgegnung, dass durch die Reichweitenbegrenzung lediglich Menschen im terminalen Stadium einer unheilbaren Krankheit vom Recht auf Sterben Gebrauch machen könnten, die sich in der Sterbephase befinden, entkräftet den Gegnern zufolge nicht ihre Befürchtungen. Es wird argumentiert, dass eine Definition des terminalen Stadiums oder Lebensendes (shûmakki) nicht möglich sei. Am Beispiel der Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) zeigt Kawaguchi, dass die Definition nur dem Anschein nach eindeutig ist. Bei ALS handelt es sich um eine unheilbare Krankheit, die unweigerlich zum Tod führt. ALS ist eine Erkrankung des motorischen Nervensystems, die nach und nach durch die Degeneration der Motoneuronen zu einer Lähmung des gesamten Körpers führt. Durchschnittlich ist nach zwei bis drei Jahren auch die Atemmuskulatur von Lähmungserscheinungen betroffen. Da die Patienten durch eine Tracheotomie mit invasiver, künstlicher Beatmung weiterleben können, ist eine Entscheidung für oder gegen den Eingriff notwendig. Die Patienten sind zu dem Zeitpunkt, wenn die Beatmungsfrage relevant wird, meist vollständig gelähmt und auf 24-stündige Pflege angewiesen. Derzeit sind nach Kawaguchi in Japan etwa 8500 Menschen an ALS erkrankt und die Zahl derer, die sich gegen die künstliche Beatmung entscheiden, steige auf 85 Prozent18 an (vgl. Kawaguchi 2012). Einerseits weist Kawaguchi ebenso wie Nakanishi als Grund gegen die Beatmung auf die hohe Belastung hin, welche durch das Weiterleben der ALSPatienten für ihre Familien entsteht, da es kaum Einrichtungen gibt, in denen eine Unterbringung von ALS-Patienten möglich ist, und die meisten eine Betreuung zu Hause wünschen. Andererseits beobachte sie, dass viele behandelnde Ärzte einer langfristigen künstlichen Beatmung gegenüber negativ eingestellt sind und versuchen, die Entscheidung ihrer Patienten zu beeinflussen. Kawaguchi erläutert, dass die Beurteilung und der Umgang mit ALS-Patienten sehr unterschiedlich sei und häufig auch von der Einstellung zur dauerhaften künstlichen Beatmung des Arztes oder der Klinik abhänge. Obwohl viele Neurologen das Versagen der spontanen, eigenständigen Atmung als terminales Stadium einstufen, gebe es jedoch Krankenhäuser, in denen so gut wie jeder ALS-Patient an die künstliche Beatmung angeschlossen wird (vgl. Kawaguchi 2012). Durch die
18 Während meines Forschungsaufenthaltes war unter ALS-Patienten und Unterstützern von 70 Prozent der ALS-Patienten die Rede, die sich gegen den Eingriff entscheiden (s. auch die Erklärung von Frau Minami in Kapitel 3.2.1.). Ein Anstieg auf 85 Prozent in diesem kurzen Zeitraum wäre enorm.
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künstliche Beatmung ist den Patienten ein Weiterleben für mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte möglich und es kann nicht mehr von einem terminalen Stadium der Krankheit die Rede sein. Die vorgesehene Regelung, das Krankheitsstadium durch zwei unabhängige Ärzte beurteilen zu lassen, erscheint durch Kawaguchis Erklärung demnach nicht hinreichend geeignet zu sein, da grundsätzlich keine Eindeutigkeit vorliegt. Zudem gibt Kawaguchi zu bedenken, dass durch eine gesetzliche Verankerung des Rechts auf Sterben die Bereitschaft der Ärzte sinken könnte, lebenserhaltende Maßnahmen in Notfallsituationen zu ergreifen. Sowohl Kawaguchi als auch Nakanishi sind der Meinung, die ursprüngliche Aufgabe der Medizin sei es, Leben zu unterstützen und zu erhalten (inochi wo sasaeru tame no mono; Nakanishi 2012), die Ärzte würden jedoch durch beide Gesetzentwürfe von dieser Pflicht entbunden. Kawaguchi kritisiert, dass in Notfallsituationen eine Bewertung der Chancen auf Genesung nicht eindeutig getroffen werden kann. Eine Patientenverfügung könnte in einem Notfall dazu führen, dass der Arzt Maßnahmen zur Lebensrettung unterlässt. Oder aber eine gesetzliche Pflicht zur Beachtung von Patientenverfügungen könnte dazu führen, dass Ärzte, die trotz minimaler Aussichten alles in ihren Möglichkeiten Stehende unternehmen, am Ende vor Gericht stehen, weil zwar das Leben des Patienten gerettet wurde, aber eine schwere Behinderung zurückgeblieben ist. In beiden Fällen würde eine gesetzliche Regelung zu Patientenverfügungen die Bereitschaft der Ärzte herabsetzen, Leben zu retten. Außerdem würden die ohnehin gegenüber Menschen mit schweren Behinderungen bestehenden Vorurteile sich weiter verstärken: »Dieses Gesetz wird für alle Staatsbürger, die sich in einem terminalen Stadium befinden und Gefahr laufen, eine schwere Behinderung ›zurückzubehalten‹ (oder eine schwere Behinderung haben), sowie für alte Menschen, die pflegebedürftig geworden sind, die ›Pflicht zu sterben‹ vorantreiben.« (Kawaguchi 2012; eigene Übersetzung) Durch eine rechtliche Anerkennung des Rechts auf Sterben und die ausdrückliche juristische Legitimation einer Unterlassung oder des Einstellens von Behandlungen würde die negative Sichtweise dauerhafter Lebensunterstützung durch Apparatemedizin und die bestehenden Vorurteile gegenüber einem Leben in Abhängigkeit von dauerhafter Pflege noch verstärkt werden. Die bereits existierenden Begründungen für Patientenverfügungen, nicht durch Krankheit und benötigte Pflege zu einer Belastung für die Familie oder Gesellschaft werden zu wollen, würde durch eine Institutionalisierung des Nicht-Einleitens und Abbrechens von Behandlungen zur Norm werden und den sozialen Druck auf alte, kranke und behinderte Menschen erhöhen, sich für den Tod zu entscheiden. Es
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gehe bei der Thematik um die Zukunft Japans und um die Frage, in was für einer Gesellschaft jeder Einzelne leben möchte. Sie zeichnet zwei Extreme: »Auf was für eine nahe Zukunft werden wir durch ein Gesetz zum würdevollen Sterben blicken? Wünschen wir uns die Entstehung einer Gesellschaft, in der nur noch die selbstständigen Menschen zurückbleiben und lange leben, weil bei denjenigen, die durch Krankheit, Alter und Behinderungen ihre eigenen Angelegenheiten nicht mehr selbstständig bestreiten können (Menschen die nicht mehr essen oder atmen können), der Arzt das Lebensende feststellt, sich nach dem Gesetz richtet, medizinische Behandlungen zurückhält und sie sterben lässt? Oder wünschen wir uns eine Gesellschaft, in der alten Menschen, die sich nicht selbst behaupten können oder Behinderten, die jemanden brauchen, der sie pflegt, die nötigen Behandlungen zugesichert werden, sodass die Menschen, die noch leben können, [weiter-]leben?« (Kawaguchi 2012; eigene Übersetzung)
Während die bisher dargestellten Begründungen auf einer Kritik der unzureichenden gesellschaftlichen und medizinischen Strukturen zur Gewährleistung des Lebenswunsches oder der Schmerzlinderung basierten, kommt in dieser Formulierung Kawaguchis die Befürchtung eines Dammbruchs zur Sprache. Die im Parlament diskutierten Gesetzentwürfe sehen beide ausdrücklich eine schriftliche Willensäußerung des Patienten vor. Kawaguchi zeichnet jedoch eine gesellschaftliche Entwicklung vor, in der Ärzte durch ein Gesetz legitimiert werden, Behandlungen nicht einzuleiten und Patienten sterben zu lassen, unabhängig davon, ob dies dem Willen des Patienten entspricht oder nicht. Während sich Nakanishis Zweifel darauf beziehen, ob durch die Abhängigkeitsverhältnisse in denen sich Menschen mit Behinderungen befinden – und Gleiches könnte für alle Menschen gesagt werden, die auf Unterstützung im alltäglichen Leben angewiesen sind – überhaupt eine freie Willensäußerung möglich ist, entwirft Kawaguchi hier eine zukünftige Gesellschaft, in der es zur akzeptierten Norm geworden ist, das Leben aufzugeben, wenn eine selbstständige Lebensführung nicht mehr möglich ist – ungeachtet des Patientenwunsches. Diese Argumentation wird von dem oben erwähnten Gedanken gestützt, das Gesetz würde den Arzt von seiner Pflicht Leben zu erhalten, befreien. Und auch ihre Kritik an der Beeinflussung von ALS-Patienten zur Beatmungsfrage durch den Arzt ist Teil einer Argumentation, in der sie auf bestehende Missstände der Arzt-Patienten-Beziehung aufmerksam macht. Kawaguchi nimmt Bezug auf die Erklärung der parlamentarischen Befürworter des Gesetzes, die darauf verweisen, dass der Patientenwille in der medizinischen Praxis nicht hinreichend beachtet werde. Das Abgeordnetenbündnis argumentiere, es bedürfe einer gesetzlichen Regelung, da lebensverlängernde Maßnahmen in der ärztlichen Praxis oft eine
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Zwangsbehandlung darstellen würden (vgl. Kawaguchi 2012). Kawaguchi stimmt der Kritik der Parlamentarier zu, dass Ärzte häufig eigenmächtig entscheiden und den Willen des Patienten oder der Familie nicht berücksichtigen. Ihrer Meinung nach liege jedoch ein Kommunikations- und Vertrauensproblem vor, das nicht durch ein Gesetz gelöst werden kann, in dem die Verantwortung auf den Patienten übertragen wird. Vielmehr sei die Umsetzung der vom MHLW 2007 herausgegebenen ›Richtlinien für Entscheidungsprozesse bei ärztlicher Behandlung am Lebensende‹ (shûmakki iryô no kettei purosessu ni kansuru gaidorain) notwendig, die Empfehlungen für die Kommunikation zwischen Arzt, Patient und Angehörigen geben und auch den Behandlungsverzicht gestatten. Ob Maßnahmen abgebrochen werden können oder nicht, sei in jedem einzelnen Fall genau zu prüfen. Kawaguchi erkennt demnach das Recht auf selbstbestimmte, medizinische Entscheidungen an. Sie lehnt jedoch eine gesetzliche Regelung des NichtEinleitens und Abbrechens von lebenserhaltenen Maßnahmen ab, da ihrer Meinung nach das Gesetz einseitig die Eigenverantwortung des Patienten betone, jeder Fall jedoch individuell betrachtet und eine Entscheidung gemeinsam zwischen Arzt, Patient und Familie gefunden werden solle (vgl Kawaguchi 2012). Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Hirakawa. Er erklärt, dass Sterbehilfe (anrakushi) oder Palliativmedizin in ihren jeweiligen Kontexten ihre Berechtigung haben. Ihr Einsatz sollte die individuellen Umstände berücksichtigen und aus diesem Grund sei es unmöglich, eine allgemeingültige Regelung für den guten oder würdevollen Tod durch ein Gesetz festzuschreiben, da das Gute oder Würdevolle gerade in dem respektvollen Umgang mit dem Einzelnen und seiner spezifischen Situation liege. Hirakawa baut sein Argument wie folgt auf: Die Menschheit hat sich im Laufe ihrer Geschichte das grundlegende Recht erkämpft, die eigene Lebensweise frei zu wählen. Diese Freiheit zur Wahl sollte für niemanden eingeschränkt werden. Da der Tod ein Teil des Lebens ist, könne das Recht auf freie Wahl der Lebensweise auch auf den Tod übertragen werden. Weder die rechtliche Befreiung der Ärzte von ihrer Verantwortung noch Begründungen wie die Pflegebelastung für die Familie oder die finanziellen Belastungen für den Staat sollten die freie Wahl des Einzelnen einschränken. Eine gesetzliche Regelung würde jedoch eine ebensolche Einschränkung bedeuten, denn durch die gesetzliche Verankerung wäre die ›freie Wahl‹ keine freie Wahl mehr. Es bestünde der Zwang einen Willen hinsichtlich verschiedener Behandlungsoptionen auszubilden und die Freiheit keine Wahl zu treffen, würde eliminiert (Hirakawa 2012). Die Freiheit der Wahl liegt Hirakawa zufolge darin, keine Wahl zu treffen, nicht zwischen einzelnen Optionen bezüglich des eigenes Todes oder lebensver-
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längernder Maßnahmen zu entscheiden. Es stelle einen Unterschied dar, ob jemand nicht das Bedürfnis hat, sich Gedanken über sein Lebensende zu machen, oder ob Patientenverfügungen durch ein Gesetz zur ärztlichen Praxis gehören und zur gesellschaftlichen Norm geworden sind. Ist die Patientenverfügung erst einmal zur Normalität geworden, dann müsse jeder früher oder später eine Entscheidung für oder gegen bestimmte Behandlungen im Voraus festlegen bzw. sich irgendwann entscheiden, ob er eine Vorausverfügung seines Willens ablehnt. Keine Patientenverfügung zu haben, ist unter den derzeitigen Umständen keine Seltenheit und in den häufigsten Fällen nicht mit einer Entscheidung ›dagegen‹ verbunden. Wird die Patientenverfügung jedoch zur Norm dann wird auch aus keiner Wahl eine Wahl. Hirakawa vertritt die Auffassung von der Einmaligkeit und Unverfügbarkeit des Lebens. Leben und Tod seien natürlichen Ursprungs, der Mensch könne sein Leben nicht neu beginnen und der Tod sollte nicht manipuliert werden. Aufgrund der Einmaligkeit des Lebens und des Todes wisse der Mensch erst im Nachhinein, was für eine Wahl er getroffen hat. Über Leben und Tod im Vorhinein zu entscheiden sei nicht möglich. Leben und Tod sind seiner Ansicht nach individuell und gleichzeitig universell. Durch ein Gesetz eine weltliche und allgemeine Lösung für alle schaffen zu wollen, sei eine Anmaßung. Weil Leben und Tod individuell sind, sollte in der Praxis die Wahl der Pflege und ärztlichen Behandlung die individuellen Bedingungen berücksichtigen und die Entscheidungen von Arzt und Patient sollten gemeinsam getroffen werden. Ebenso wie Kawaguchi vertritt er die Position, dass es ein Trugschluss sei, bestehende Schwierigkeiten in der Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Patient durch ein Gesetz lösen zu können. Die Betroffenen müssen sich mit den Schwierigkeiten auseinandersetzen, und wenn man von ›würdevoll‹ sprechen möchte, dann sei es nicht der Tod, der würdevoll ist, sondern die Mühen der Betroffenen, die sich mit den Schwierigkeiten auseinandersetzen. Hirakawa schließt seine Stellungnahme mit der Einschätzung ab, das Gesetz sei nicht für die Betroffenen bestimmt, die dem Tod von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, sondern es sollen gesellschaftliche und staatliche Kosten vermieden sowie die ärztliche Verantwortung oder die familiären Verpflichtungen gemindert werden – Absichten, die er als Ausbeutung des Individuums durch den Staat bezeichnet.19
19 Vgl. auch den Titel seiner Stellungnahme »Die rechtliche Regelung des würdevollen Sterbens ist eine Ausbeutung des Individuums seitens des Staates« (Songenshi no hôseika wa, kokka ni yoru kojin no shi no shûdatsu dearu) (Hirakawa 2012).
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3.1.3 Zwischen würdevollem Tod und selbstständigem Leben In der Einleitung zur Patientenverfügungsdebatte wurde Katôs Feststellung erwähnt, in den Bioethik-Debatten habe eine Verschiebung der Verwendung vom Selbstbestimmungs- hin zum Menschenwürdebegriff stattgefunden. Katô verweist zudem darauf, dass in Deutschland Menschenwürde eine feste Verankerung in Artikel 1 des Grundgesetzes als übergeordnetes Prinzip habe, aus dem sich bestimmte Rechte ableiten lassen, zu deren Schutz der Staat verpflichtet ist. Er bemängelt, dass in Japan auf Verfassungsebene kein vergleichbares Prinzip zur Verfügung stehe, das sich zu einer Konsensbildung in bioethischen Debatten eigne (vgl. Katô 2005: 3). Katô ist sicherlich zuzustimmen, dass dem Konzept der Menschenwürde durch seine Verankerung im Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes eine bedeutende Funktion in bioethischen Debatten und auch in der Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland zukommt. Jedoch ist die Funktion, der Inhalt und damit auch die Auslegung des Würdebegriffs seit Bestehen des Grundgesetzes Gegenstand von Kontroversen unter Rechtsgelehrten. Auch in bioethischen Debatten hat der häufige Gebrauch des Würdebegriffs zu grundlegender Kritik geführt. Ebenso wie Katô der argumentativen Verwendung von Selbstbestimmung nachsagt, sie erfülle die Funktion, die Gegner mundtot zu machen, ist diese Kritik häufig am Begriff der Menschenwürde erhoben worden: »Das ›bedeutend Klingende‹ des Ausdrucks ›Menschenwürde‹ wirkt sich vor allem so aus, dass Verurteilungen einer bestimmten Praxis als menschenwürdewidrig oft nicht mehr auf ihre Gründe befragt werden. ›Menschenwürde‹ fungiert vielmehr als ›conversation stopper‹, der eine Frage ein für alle Mal entscheidet und keine weitere Diskussion duldet. Hierin besteht im präzisen Sinne des Wortes seine Tabuierungsfunktion.« (Birnbacher 2004: 249 f.)
Der Philosoph Dieter Birnbacher stellt zur deutschen Debatte fest, es bestehe Einigkeit über den bedeutsamen Klang der Menschenwürde, jedoch nicht über den semantischen Gehalt des Begriffs, sodass der Verdacht entstehe, jeder könne unter Menschenwürde subsumieren, was er als schützenswert empfindet. Die Verwendung des Menschenwürdebegriffs eigne sich besonders dann, wenn eine intuitive Ablehnung gegen etwas vorliegt, jedoch begründete Argumente fehlen (vgl. ebd.). Birnbacher geht in einem Artikel der Fragestellung nach, ob die häufig vorgebrachte Kritik berechtigt sei, es handle sich beim Menschenwürdebegriff um eine Leerformel. Um zu überprüfen, ob es einen festen Bedeutungskern des
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Menschenwürdebegriffs gibt, rekonstruiert er die Verwendung in den verschiedenen Debatten (vgl. Birnbacher 2004: 249 ff.). Er unterscheidet den Menschenwürdebegriff hinsichtlich verschiedener deskriptiver Anwendungsbereiche und des normativen Gehalts in drei Bedeutungen: (1) einen normativ starken Menschenwürdebegriff, der sich auf geborene und lebende Menschen bezieht und zwei normativ schwächere Begriffe, von denen sich der eine (2) auf Frühund Vorformen menschlichen Lebens (zum Beispiel in der Debatte um Embryonenforschung) oder Leichname bezieht und der andere (3) auf die Würde der menschlichen Gattung (bezüglich der Erzeugung von Chimären oder Hybriden in der Klonforschung) (vgl. ebd.: 254). Der Menschenwürdebegriff in seiner ersten Bedeutung entspricht dem in der Sterbehilfe- und Patientenverfügungsdebatte relevanten Begriff und wird von Birnbacher als der »starke Menschenwürdebegriff« (ebd.: 254) bezeichnet. Nur dieser erste Begriff bezieht sich auf lebende Individuen, die als reale Subjekte für moralische Rechte infrage kommen. Aus diesem Grund habe er eine starke normative Bedeutung, die ihn nahezu absolut und unabwägbar in Bezug auf andere Werte und Güter mache. Dieser starke Menschenwürdebegriff impliziere für andere negative Unterlassungspflichten und positive Handlungspflichten (vgl. ebd.: 254 und 257). Von einem ›nahezu absoluten‹ Vorrang spricht Birnbacher, da die einzelnen moralischen Rechte, die aus dem starken Menschenwürdebegriff ableitbar sind, untereinander in Konflikt geraten können (vgl. ebd.: 257). Birnbacher verweist hier auf die Parallele zwischen Unabwägbarkeit und der im Grundgesetz festgeschriebenen ›Unantastbarkeit‹ der Würde und erklärt, dass die Unabwägbarkeit nur gewährleistet werden kann, wenn es sich bei den abgeleiteten moralischen Rechten um minimalistische Rechte handelt (vgl. ebd.: 258). Birnbacher beobachtet ferner in den bioethischen Debatten eine Bedeutungsverschiebung des Menschenwürdebegriffs: Bei Kant sei Menschenwürde durch die Autonomie, die moralische Selbstgesetzgebung des Menschen begründet gewesen und Verletzungen der Würde hätten demnach in der Fremdbestimmung des Menschen und in seiner Verdinglichung und bloßen Instrumentalisierung zu fremden Zwecken gelegen. Während bei Kant aus der Würde kein moralisches Recht auf Leben folge, werde der Würdebegriff in den gegenwärtigen Debatten jedoch auch zum Lebensschutz eingesetzt (vgl. ebd.: 250 f.). Dies geschieht zum einen durch die Ausweitung des Würdebegriffs auf Embryonen und führt zu Verwirrungen, wenn nicht zwischen einem starken, unabwägbaren und einem schwächeren, abwägbaren Begriff unterschieden wird. Ein umfassendes moralisches Recht auf Leben folge jedoch auch nicht aus dem starken Menschenwürdebegriff. Unser Alltagsverständnis und die verschiedenen Rechtssysteme zeigten deutlich, dass das Recht auf Leben nicht als absoluter Wert gedacht werde;
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als Beispiele nennt Birnbacher Verteidigungskriege oder Notwehr, in deren Kontext das Recht, nicht getötet zu werden, zugunsten konfligierender Rechte abgewogen wird (vgl. ebd.: 258). Er verweist auf die Konsequenzen, die ein absolutes und unabwägbares Recht auf Leben mit sich bringen würde: Das Leben müsste unter allen Umständen aufrechterhalten und dürfte nicht aufgegeben werden und es müssten uneingeschränkt Ressourcen aufgewandt werden, um das Leben auch nur um wenige Minuten zu verlängern (vgl. ebd.: 259). Eine systematische Auseinandersetzung mit dem Würdebegriff ist in den untersuchten Beiträgen zur japanischen Debatte nicht festzustellen. Besonders für die Seite der Befürworter fällt auf, dass der Würdebegriff als ›bedeutend klingend‹ verwendet wird, eine nähere Erläuterung zu seiner Bedeutung jedoch ausbleibt. ›Würdevolles Sterben‹ wird mit ›würdevollem Leben‹ gleichgesetzt und teilweise synonym verwendet mit ›friedlichem Sterben‹, ›natürlichem Tod‹ oder auch ›zufriedenem Sterben‹. Als Basis für ›würdevolles Sterben‹ werden das Recht auf Selbstbestimmung und der Wille des Patienten gesehen. Ein weiteres Merkmal ist, dass die Begründungen in den Kontext der internationalen Sterberechtbewegung gestellt werden und ihnen durch einen Verweis auf die internationalen Menschenrechte Bedeutung verliehen wird. Eine weitere Auffälligkeit liegt in der Verwendung des Begriffs ›Würde des Lebens‹. Vor allem in den Diskussionen zur Embryonenforschung wurde der Ausdruck ›Würde des Lebens‹ zum Schutz des Lebens verwendet, wodurch nicht nur eine Annäherung zwischen Lebensschutz und Würde stattfand, sondern explizit die Verknüpfung beider Konzepte. Komatsu zufolge gelte jedoch auch für die Würde des Lebens der Speziezismus des Menschenwürdebegriffes und er werde als Würde des menschlichen Lebens gedacht, sodass er im Falle des Embryonenschutzes ungeeignet sei, da die Grenze, ab wann Leben als ›menschliches Leben‹ gesehen wird, den Begriff der Würde des Lebens obsolet für einen umfassenden Schutz des Embryos werden lasse. Ähnliches gelte für Hirntote, die aufgrund der Todesdefinition nicht mehr lebendig sind und somit weder unter die Menschenwürde noch unter die Würde des Lebens fielen. Die JSDD hingegen verwendet die Formulierung ›würdevolles Leben‹ um zu verdeutlichen, dass sich die Bezeichnung ›würdevolles Sterben/würdevoller Tod‹ (songenshi) nicht auf den Tod, sondern die Sterbephase beziehen soll. Zum anderen wird durch die Forderung an die Ärzte, Lebenserhaltung um jeden Preis aufzugeben und die Qualität des Lebens in den Fokus der Behandlung zu rücken, eine Verknüpfung von ›Würde‹ und ›Lebensqualität‹ hergestellt. Ein würdiges Leben und eine würdevolle Sterbephase sind somit abhängig von der jeweiligen Lebensqualität.
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Sowohl Iwao als auch Igata sehen in Schmerzen und Leiden eine Verletzung der Würde, insbesondere wenn sie durch den Einsatz von Medizintechnik verursacht werden, die das Leben in der Sterbephase verlängern. Die Missachtung des Patientenwillens wird nicht direkt als Würdeverletzung bezeichnet, jedoch angedeutet, dass sie eine Menschenrechtsverletzung darstellt. Wie die Lebensqualität des Patienten zu bewerten ist und ob sie allein durch die Abwesenheit von Schmerzen und Leid zu verstehen ist, wird von Iwao nicht näher erläutert. In den Erörterungen der Sterbehilfe- und Patientenverfügungsgegner wird der Würdebegriff größtenteils vermieden. Es ist auffällig, dass besonders die Gegner einer gesetzlichen Regelung davon sprechen, dass sie eine gesetzliche Regelung des ›würdevollen Sterbens‹ ablehnen. In dieser Verwendung kann eine Bedeutungsverschiebung festgestellt werden, da stellenweise ›würdevolles Sterben‹ synonym für die Ablehnung von lebenserhaltenden Maßnahmen und die von der JSDD vertriebenen Patientenverfügungen verwendet wird. Diese semantische Verknüpfung kann auch in den Interviews beobachtet werden. Komatsu schlägt zwar ein alternatives Würdekonzept vor, mit dem er einen umfassenderen Schutz des Körpers bzw. Lebens beabsichtigt, doch scheint dieses Konzept eher auf den Schutz von Embryonen abzuzielen, und er erläutert nicht, inwiefern es als Gegenargument zur Sterbehilfe und Patientenverfügungen einsetzbar wäre. Vor dem Hintergrund der Wortentstehung zu ›würdevollem Sterben‹ als Übersetzungsbegriff im Kontext der Rechtsprechung zum Quinlan-Fall und seiner Verbreitung, vor allem durch die Umbenennung der JSE und die Erwähnung durch die japanische Ärztekammer infolge der Deklaration von Lissabon (s. Kapitel 2.3.1), liegt es nahe die Verwendung des Würdebegriffs durch die JSDD als Anlehnung an die internationale Debatte zu begreifen. Eine weitere Funktion liegt in der Distanzierung von der Debatte um Euthanasie (anrakushi), Mitleidstötungen und aktive Sterbehilfe. Des Weiteren ist festzustellen, dass der Würdebegriff in der Debatte nicht die Funktion eines Argumentes entwickelt, das die Gegner zum Schweigen bringt. Vielmehr ist der Ausdruck ›würdevolles Sterben/würdevoller Tod‹ Gegenstand der Kritik. Es wird kritisch gefragt, worin die ›Würde‹ des würdevollen Sterbens bestehen soll20 und häufig ist zu beobachten, dass die Gegner darauf verweisen, ein würdevolles oder selbstständiges Leben sei wichtiger als der
20 Die Journalistin Nakajima Michi veröffentlichte 2007 ein Buch mit dem Titel »Songenshi« ni songen wa aru ka (Gibt es Würde im »würdevollen Tod«?) und untersucht kritisch anhand aktueller Sterbehilfevorfälle und der neu aufkommenden Forderung nach einem Gesetz zur Sterbehilfe, ob von Würde gesprochen werden kann.
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würdevolle Tod. Dieser Einwand könnte ein Anlass für die JSDD gewesen sein, in den letzten Jahren nicht mehr nur von ›würdevollem Sterben‹ zu sprechen, sondern durch das Konzept des ›würdevollen Lebens‹ in ihren Argumentationen den Schwerpunkt auf eine würdevolle Sterbephase zu verschieben. Hinsichtlich der Bezugnahmen auf Selbstbestimmung sind unterschiedliche Problemstellungen festzustellen, von denen die einzelnen Argumentationen ausgehen. Für die Befürworter von Patientenverfügungen und einem Recht auf Sterben stellen der Einsatz von Medizintechnik in der Sterbephase, die unzureichende Achtung des Patientenwillens und die rechtliche Unsicherheit für Ärzte ein Problem dar. Durch die Verfügbarkeit von medizintechnischen Apparaten zum Lebenserhalt im Zusammenspiel mit dem medizinethischen Prinzip der Lebenserhaltung und einer ungeklärten Rechtslage werde Leiden in der Sterbephase vermehrt und der Patientenwunsch zu sterben nicht beachtet. Durch eine Stärkung der Patientenautonomie soll zum einen einer paternalistischen Praxis entgegengewirkt werden und zum anderen die Verantwortung an den Patientenwillen gekoppelt werden: So wird der Arzt aus seiner Verantwortung für den Tod des Patienten befreit und die Entscheidung dem Patienten überlassen. Zudem wird ein Umdenken in der ärztlichen Ethik gefordert, nicht mehr dem Lebenserhalt um jeden Preis oberste Priorität einzuräumen, sondern nur solange für das Leben des Patienten zu kämpfen, wie es Aussichten auf Erfolg der Behandlung und Genesung gibt und neben dem Lebenserhalt auch die Lebensqualität in den Fokus der Behandlung zu rücken. Das Menschenbild, welches den JSDD-Argumentationen zugrunde liegt, kommt deutlich in Igatas Erklärungen zum Ausdruck. Er sieht den Willen des Menschen als das bedeutende Gestaltungsprinzip für das je eigene Leben: Der Mensch ist sich selbst und seinem eigenen Willen verpflichtet und gestaltet sein Leben unabhängig nach seinen Vorstellungen; er sollte daher nicht in der Sterbephase durch die Familie oder den Arzt fremdbestimmt werden. Auf der Seite der Gegner kommen unterschiedliche Problemstellungen als Ausgangspunkt für die Argumentationen zur Sprache. Gemeinsam ist ihnen, dass sie das Menschenbild und die Vorstellungen von Leben und Tod der JSDD nicht teilen. Otani und Komatsu gehen von einem ähnlichen Standpunkt aus, wenn sie das Leben als soziale Ressource oder den Körper und das Leben als Ware problematisieren. Otani spricht davon, dass Leben hinsichtlich seines sozialen Nutzens bewertet und das Aufgeben von Leben normativ als guter Tod konstruiert wird. Alte, kranke und behinderte Menschen würden so aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Komatsu hingen wendet sich dem Verständnis von Leben und Tod sowie Körper in der gegenwärtigen Gesellschaft zu. Bei Otani sind es die gesellschaftlichen Normen zum guten Tod, die alte, kranke und be-
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hinderte Menschen scheinbar selbstbestimmt den Tod wählen lassen, um nicht zu einer sozialen Last zu werden. Bei Komatsu ist es die aus dem Blick geratene soziale Dimension von Leben und Tod, die zu einer Vorstellung geführt habe, Leben und Tod ereignen sich innerhalb der Grenzen des Körpers als biologische Phänomene und betreffen in erster Linie das Individuum, welches selbst über sein Leben und seinen Tod entscheiden kann. Laut Otanis Verständnis täuscht die Rede von Selbstbestimmung darüber hinweg, dass eine soziale Exklusion stattfindet. Im Sinne Komatsus birgt vor allem das Recht auf Selbstbestimmung und die Vorstellung, über das eigene Leben wie einen Besitz verfügen zu können, die Gefahr der Vereinzelung. Parallelen zu Otanis Exklusionsthese sind in den Argumentationen von Tateiwa, Nakanishi und Kawaguchi zu finden. Sie argumentieren von dem Standpunkt aus, dass die gesellschaftlichen oder wohlfahrtsstaatlichen Strukturen nicht hinreichend sind, um Alten, Kranken und Behinderten ihr Recht auf Leben zu garantieren. Kawaguchi wendet sich vor allem gegen eine Fremdbestimmung von Patienten durch ihre Familien sowie Ärzte und Krankenhäuser. Nakanishi bezweifelt, dass Selbstbestimmung beruhend auf einem freien Willen durch die bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse überhaupt möglich ist. Hirakawa geht noch einen Schritt weiter und sieht in einer Institutionalisierung des Rechts auf Sterben die Möglichkeiten zur freien Wahl für alle Mitglieder der Gesellschaft schwinden. Während Komatsu das Recht auf Sterben mit der Begründung ablehnt, dass das Leben und der Tod zwischen den Mitgliedern eines sozialen Netzwerkes widerhallen und nicht zum Besitz des Individuums gehören, über den es entscheiden kann, bezieht sich Tateiwa auf die verschiedenen Situationen, für die ein Recht auf Sterben gefordert wird, und kommt zu dem Schluss, dass es für keinen einzelnen Fall Gründe gibt, den Tod dem Leben vorzuziehen. Ähnlich wie Otani und Komatsu problematisiert Tateiwa ein Konzept von Selbstbestimmung, welches das unabhängige Individuum zu sehr in den Vordergrund rückt und Selbstbestimmung als weitreichende Kontrolle über die eigenen Lebensumstände basierend auf dem eigenen Willen auffasst. Dieses – wie er sagt – ursprünglich europäische Verständnis von Selbstbestimmung entspricht dem Menschenbild und Selbstbestimmungskonzept Igatas. Es birgt laut Tateiwa die Gefahr, dass Menschen, welche die Fähigkeiten zu einer umfassenden Kontrolle ihrer Lebenssituation durch Krankheit, Alter oder Behinderung verlieren, ihr Leben aufgeben und den Tod wählen, obwohl sie noch die Möglichkeiten hätten weiterzuleben, weil sie einen Verlust oder Einschränkungen der Unabhängigkeit als Versagen auffassen.
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Alle vorgestellten Autoren teilen in unterschiedlichen Formulierungen die Kritik, das Recht auf Sterben führe zu einer Pflicht zu sterben. Teilweise klingt in ihren Erläuterungen jedoch nicht nur die Forderung einer besseren Garantie des Rechts auf Leben an, sondern auch eine (moralische) Pflicht zu leben, etwa wenn Tateiwa erklärt, für Menschen, die noch ein Leben vor sich haben, gibt es keine Begründung, den Tod zu wählen, weil auch Menschen sterben, die noch weiterleben möchten. Oder Komatsu, der argumentiert, das Leben gehöre nicht dem Individuum und deswegen könne keiner ein Recht haben zu sterben. Die meisten Positionen der Gegner verbindet die gemeinsame Absicht, Menschen, die auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind, als vollwertige Mitglieder in die Gesellschaft zu integrieren. Tateiwa unternimmt mit seiner Unterscheidung in zwei Bedeutungen von Selbstbestimmung den Versuch, ein minimales Recht auf die grundlegenden Möglichkeiten für ein selbstständiges Leben zu formulieren. Insbesondere Kawaguchi und Hirakawa verweisen auf die Notwendigkeit, die ärztliche Praxis und die Kommunikation zwischen Arzt, Patient und Angehörigen zu verbessern und die individuellen Umstände der Patienten zu berücksichtigen. Ein weiterer Kritikpunkt an Patientenverfügungen ist, dass es unmöglich sei, im gesunden Zustand Entscheidungen für eine mögliche Krankheit im Voraus zu verfügen oder zu antizipieren, ob die medizintechnischen Maßnahmen, die aus der Perspektive des Außenstehenden negativ wahrgenommen werden, im kranken Zustand nicht vielleicht als Erleichterung und Linderung empfunden werden. Hier wird implizit die Verbindlichkeit des in der Patientenverfügung festgelegten Willen angezweifelt und gleichzeitig davor gewarnt, sich ein Urteil über die Lebensqualität in nicht selbst erfahrenen Situationen zu erlauben. Die von den Gesetzesentwürfen vorgesehenen Reichweitenbeschränkungen werden entweder gar nicht thematisiert, weil Sterbehilfe und Patientenverfügungen grundsätzlich abgelehnt werden, oder sie werden als nicht geeignet kritisiert, da sie nicht klar definierbar seien und keine Einigkeit unter den Experten bestehe.
3.2 B EDEUTUNGEN VON P ATIENTENVERFÜGUNGEN IN DER ALLTAGSWIRKLICHKEIT Die Befürworter eines Gesetzes zu Patientenverfügungen treten ein für eine Gesellschaft, in der die individuellen Rechte einer selbstbestimmten Lebensführung in der Sterbephase gestärkt werden und das Recht auf Sterben realisiert wird. Auf der anderen Seite fordern die Gegner des Gesetzes eine Gesellschaft, die jedes Leben wertschätzt und wohlfahrtsstaatliche und soziale Strukturen fördert,
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um im Alter oder mit Behinderungen und Krankheiten ein selbstständiges Leben zu ermöglichen. Wie werden Patientenverfügungen von ihren Verfassern gedeutet? Und was bewegt sie dazu, eine Patientenverfügung abzufassen? Während in Japan seit dem Ende der 1980er-Jahre regelmäßig quantitative Erhebungen zur Akzeptanz von Sterbehilfe und seit den 1990er-Jahren auch zu Patientenverfügungen durchgeführt werden, gibt es bisher keine Studien zur Deutung von Patientenverfügungen aus Sicht der Verfasser. Auch international hat die Sicht der Verfasser von Patientenverfügungen in der Forschung bisher wenig Aufmerksamkeit erlangt (vgl. Knecht 2008: 175; Roy et al. 2002: 72). In ihren kulturanthropologischen Studien untersucht Long den Umgang mit Entscheidungsfindungen am Lebensende. Ihre Feldforschung basiert auf teilnehmender Beobachtung in japanischen und amerikanischen Krankenhäusern und Interviews mit Ärzten, Pflegepersonal, Patienten und deren Angehörigen. Anhand einzelner Fallbeispiele verdeutlicht sie, dass Entscheidungsfindungen am Lebensende komplexe, durch Ambivalenzen gekennzeichnete Situationen sind. Frühere Idealvorstellungen des guten Todes und Wünsche zur eigenen Sterbephase werden von ihren Interviewpartnern in der konkreten Sterbephase stetig neu interpretiert und an die Umstände angepasst (vgl. Long 2005: 2-13). Long erwähnt zwar die Möglichkeit von Patientenverfügungen unter dem Aspekt neue Arten des Sterbens (vgl. ebd.: 193-202), bezieht jedoch diese Form der Entscheidungsfindung nicht näher in ihre empirische Untersuchung mit ein. Anhand der Aussagen ihrer Interviewpartner untersucht sie jedoch Vorstellungen des guten Todes und Einstellungen zur Sterbehilfe. Sie verweist darauf, dass japanische Umfragen nach den herkömmlichen demografischen Kategorien aufgebaut sind, diese in ihrer Feldforschung jedoch eine eher untergeordnete Rolle spielen. Für die Kategorie ›Geschlecht‹ stellt sie keine grundlegenden Unterschiede hinsichtlich der Einstellung zur Sterbehilfe fest mit der Ausnahme, dass Frauen häufiger als Männer ablehnen, zur Last für ihre Familie zu werden (vgl. Long 2002: 311). Auch das Alter spiele bei der Einstellung zur Sterbehilfe keine Rolle mit der Einschränkung, dass der Tod bei alten Menschen eher akzeptiert werde als bei jungen (vgl. ebd.: 311 f.). Große Bedeutung für die Einstellungen zur Sterbehilfe schreibt Long hingegen den subjektiven Erfahrungen mit Krankheit und Tod zu. Oft seien diejenigen, die miterlebt haben wie Menschen aus ihrem sozialen Umfeld leiden, bevor sie sterben, Sterbehilfe gegenüber positiver eingestellt. Erfahrungen mit Krankheit und Sterben prägen den eigenen Umgang mit diesem Themenkomplex und durch sie sei eine Erklärung der Haltung gegenüber Sterbehilfe möglich. Quantitative Umfragen könnten zwar den Grad der Akzeptanz und die prozentuale Verteilung in der Bevölkerung feststellen, jedoch keine Erklärungen dafür bieten.
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Aus diesem Grunde sei eine eingehendere Untersuchung durch qualitative Forschung, welche die Erfahrungen der Menschen berücksichtigt, vielversprechend für das Verständnis der Problematik (vgl. ebd.). Welchen Erfahrungen, Erlebnissen oder Vorstellungen schreiben die Verfasser eine Bedeutung für ihre Patientenverfügung zu? Wer nimmt Einfluss auf ihre Entscheidungsfindung oder welche Rahmenbedingungen bedenken sie? Interessante Ergebnisse und Anregungen enthält eine Evaluationsstudie zum österreichischen Patientenverfügungsgesetz. Julia Inthorn stellt nach dem Verfahren der Grounded Theory gewonnene Kategorien vor, die aus Beobachtungsprotokollen zu Beratungsgesprächen zwischen Verfassern von Patientenverfügungen und Arzt sowie Verfasser und Anwalt kodiert wurden. 21 Sie unterscheidet bei der Deutung der Patientenverfügungen aus der Perspektive der Verfasser zwischen vier thematischen Dimensionen zur Sicht des Instruments Patientenverfügung und zu Annahmen über ihre Funktion. Anhand unterschiedlicher Gewichtungen der Dimensionen in den einzelnen Fällen erarbeitet sie drei verschiedene Deutungstypen. Die erste Dimension bezeichnet Inthorn als Annahmen über das ArztPatienten-Verhältnis aus der Perspektive der Verfasser, die zweite Dimension bezieht sich auf die Einschätzung der eigenen sozialen Situation und Annahmen über die Rolle der Angehörigen sowie die Kommunikationssituation zwischen Arzt und Angehörigen am Sterbebett (vgl. Inthorn 2008: 430 und ebd. 2009: 171). Die dritte Dimension ist eng mit der gesetzlichen Regelung zu Notfallsituationen verbunden und dreht sich um die Wünsche der Verfasser zur Geltung ihrer Patientenverfügung in Notsituationen. 22 Als vierte Dimension nennt Inthorn die individuellen Erfahrungen der Verfasser mit Krankheit und Tod (vgl. Inthorn 2008: 431 und ebd. 2009: 171).
21 Inthorn berichtet über die Ergebnisse eines Evaluationsprojekts zum Patientenverfügungsgesetz in Österreich. Das Patientenverfügungsgesetz trat 2006 in Kraft und das Institut für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien startete 2007 eine auf drei Jahre angelegte Studie (vgl. Inthorn 2009: 169). Das österreichische Gesetz schreibt für eine verbindliche Patientenverfügung eine Beratung mit einem Arzt und einem Anwalt vor; andernfalls sei die Patientenverfügung nicht verbindlich, sondern »beachtlich« (ebd.: 170). 22 Die dritte Dimension entsteht durch eine spezielle Regelung zu Notfallsituationen im österreichischen Gesetz. Die Ärzte sind laut Notfallregelung bei einem Unfall oder anderen Notfällen nicht verpflichtet, die Patientenverfügung zu suchen. Diskussionen über die Bedeutung dieser Regelung, auch speziell in der Sterbephase, sind laut Inthorn fester Bestandteil der Beratungsgespräche (vgl. Inthorn 2008: 430).
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Inthorn sieht in der Patientenverfügung eine Fortsetzung des bestehenden Arzt-Patienten-Verhältnisses, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht (vgl. ebd.: 180 f.). Die Verfasser von Patientenverfügungen antizipieren das ärztliche Handeln und Entscheidungsfindungen auf der Basis ihrer bisherigen Erfahrungen. Dominiert in der ersten Dimension eine Bewertung des Verhältnisses zwischen Arzt und Patient als gut bzw. partnerschaftlich und hegen die Patienten keine Befürchtungen, dass ihre Wünsche nicht beachtet werden, dann ordnet Inthorn sie dem Typ »Patientenverfügung als Absicherungsinstrument« (Inthorn 2008: 431 ff. und vgl. ebd. 2009: 172 f.) zu. Die Patientenverfügung sei ein formaler Schritt, Wünsche zu klären, Besprochenes zu dokumentieren und Entscheidungen schriftlich zu fixieren. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre Inthorn zufolge das Besprochene auch ohne Patientenverfügung zum Gesprächsthema zwischen Arzt und Patient geworden (vgl. Inthorn 2008: 432). Durch die Patientenverfügung solle die Entscheidung abgesichert und auch der Arzt oder die Angehörigen entlastet werden. Ebenso wie ein Testament oder der Kauf des Grabes gehöre die Patientenverfügung dieses Deutungstyps zu den Angelegenheiten, die vor dem Einsetzen der Sterbephase zu regeln sind. Die Verfasser sind es gewohnt, dass ihre Entscheidungen berücksichtigt werden und wollen auch für die Sterbephase selbstbestimmte Entscheidungen treffen; Inthorn spricht von einer hohen »Selbstwirksamkeitsannahme« (Inthorn 2008: 433). Die Dimension der sozialen Einbettung spiele in den Beratungsgesprächen eine untergeordnete Rolle und auch die Wünsche für akute Notfälle werden nicht unbedingt problematisiert (vgl. Inthorn 2008: 432)23. Herrschen negative Erfahrungen mit Ärzten vor oder versteht der Verfasser seine Werte als abweichend von der Norm – beispielsweise aufgrund der Favorisierung alternativer Heilmethoden oder der prinzipiellen Ablehnung von Bluttransfusionen bei den Zeugen Jehovas – wird die Patientenverfügung als »Abwehrinstrument« (Inthorn 2008: 433 ff. und ebd. 2009: 173 f.) gedeutet. Bei diesem Typ werde die Kommunikation mit Ärzten als gestört und sinnlos empfunden; die Patienten haben die Erfahrung gemacht, ihre Wünsche nicht durchsetzen zu können, auf Unverständnis zu stoßen und sich häufig rechtfertigen zu müssen. Die Rolle der sozialen Beziehungen könne recht unterschiedlich sein, erklärt Inthorn. In den meisten Fällen werde die Patientenverfügung als Überbringer des eigenen Willens gedacht und ersetze somit die Angehörigen als Stellvertreter. Zum einen liege dies in einer schlechten sozialen Einbettung be-
23 Auf die vierte Dimension, die Erfahrungen der Verfasser mit Krankheit und Tod, geht Inthorn in der Beschreibung des ersten Typs nicht ein.
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gründet oder aber es bestünden Konflikte bezüglich des Inhalts der Patientenverfügung mit den Angehörigen, wenn diese die Werte des Verfassers nicht teilen. Die Patientenverfügung werde von den Verfassern als Instrument gesehen, Zwangsbehandlungen zu verhindern und Sicherheit zu schaffen, nach den eigenen Wünschen behandelt zu werden. Doch verbleibe aufgrund der schlechten Erfahrungen und dem Misstrauen gegenüber den Ärzten meist eine Restunsicherheit. Die Notfallregelung werde bei diesem Deutungstyp abgelehnt und meist werde eine große Reichweite für die Patientenverfügung gefordert. Die vierte Dimension, die Erfahrungen mit Krankheit und Sterben, thematisiert Inthorn anhand der Vorstellungen von Leben und Tod. Diese würden als Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm wahrgenommen und als schwer durchsetzbar angesehen. Das eigene Leben selbst zu gestalten habe aus diesem Grund einen hohen Stellenwert und die Patientenverfügung werde als Mittel gesehen, um Fremdbestimmung abzuwehren. Besonders ältere Menschen, die an keiner spezifischen Krankheit leiden und ein neutrales oder positives Verhältnis zu ihrem Arzt haben, ihn als Experten für medizinische Fragen sehen, dem sie hinsichtlich von Behandlungsentscheidungen im Alltag vertrauen, verstehen die Patientenverfügung als ein Instrument zum schönen und würdevollen Sterben (vgl. ebd. 2009: 171, und 174 ff. sowie ebd. 2008: 435-438). In diesen Fällen gehen die Verfasser davon aus, dass der Arzt aufgrund des hippokratischen Eids zur Heilung und zum Lebenserhalt verpflichtet ist und sie ihn durch eine Patientenverfügung von dieser Pflicht entbinden müssen, um in Frieden zu sterben, ohne an Apparate angeschlossen zu werden. Die Vorstellungen von einem guten oder würdevollen Sterben seien stark gesellschaftlich normiert und einheitlich, teilweise auch romantisiert. Die Verfasser gingen davon aus, dass eine klare Trennlinie zwischen Leben und einsetzender Sterbephase existiere, die der Arzt bestimmen könne. Ist die Linie überschritten und hat die Sterbephase begonnen, würden lange Aufenthalte auf der Intensivstation oder im Krankenhaus sowie der Einsatz von Medizintechnik abgelehnt. Für den Fall, dass die Sterbephase noch nicht eingesetzt hat und es Aussicht auf Genesung gibt, würden jedoch genau diese Maßnahmen gewünscht. Als Hintergrund für ihre Vorstellungen vom guten Sterben bezögen sich die Personen dieses Deutungstyps häufig auf ihre Erfahrungen mit Sterbenden, deren Situation sie als leidvoll oder schmerzerfüllt wahrgenommen haben. Häufig werde diese Deutung der Patientenverfügung auch von Personen vorgenommen, die selbst im Gesundheitswesen oder in der Pflege tätig waren. Sie hätten genaue Vorstellungen von einem lebenswerten Leben, die durch soziale Teilhabe, Interaktion und Kommunikation geprägt sind. Die soziale Einbindung dieser Personengruppe sei meist gut und es werde darauf vertraut, dass die eigenen Wünsche
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durch die Patientenverfügung garantiert umgesetzt werden. Häufig komme es auch dazu, dass der Arzt im Beratungsgespräch die idealisierten Vorstellungen eines guten Todes in die Ablehnung spezifischer Maßnahmen übersetze. Da die Ablehnung medizinischer Maßnahmen nur für die Sterbephase gilt, bestünden aber keine Bedenken bezüglich der Notfallregelung. Inthorn kommt zu dem Schluss, dass Patientenverfügungen in der Deutung ihrer Verfasser weit mehr sind als ein Instrument zur Selbstbestimmung: »Vielmehr werden innerhalb des rechtlichen Rahmens Erfahrungen aus dem klinischen Alltag bearbeitet, um nicht nur für sich selbst, sondern auch für Angehörige und behandelnde Ärzte vorzusorgen, indem Entscheidungen vorweggenommen werden, die andere Personen belasten könnten.« (Inthorn 2009: 179) Die Patientenverfügung werde »in ein bestehendes soziales Beziehungsgeflecht eingeschrieben« (ebd.). Vor allem die Kommunikation am Krankenbett werde von den Verfassern vorgestellt als eine Situation, in der sie in Beziehung zu den Angehörigen und Ärzten stehen. Die Patientenverfügung versteht Inthorn als Instrument, um durch die Patientenautonomie die sozialen Beziehungen in der Sterbesituation zu gestalten (vgl. ebd.: 180). Zwischen den Fallbeispielen dieser Arbeit und Inthorns Deutungstypen von Patientenverfügungen gibt es viele Gemeinsamkeiten, doch lassen sich die Fallbeispiele nur bedingt in Inthorns Typen einordnen. Teilweise ergeben sich Abweichungen, Erweiterungen oder Mischtypen, deren nähere Betrachtung zu lohnenswerten Überlegungen führt. Begründet sind die Unterschiede zum einen durch die verschiedenen Forschungssettings und Arten der Datengewinnung: Das österreichische Forschungsprojekt beobachtete Beratungsgespräche zwischen Ärzten sowie Anwälten und Verfassern von Patientenverfügungen und stellte bei der Auswertung die Frage in den Vordergrund, welche Funktion oder Rolle der Patientenverfügung für ein zukünftiges Arzt-Patienten-Verhältnis zugeschrieben wird (vgl. Inthorn 2008: 430). Inthorns Dimension des ArztPatienten-Verhältnisses gewinnt dadurch insgesamt eine stärkere Gewichtung. Das erklärte Ziel der Beratungsgespräche ist es, eine verbindliche Patientenverfügung abzufassen. Es ist anzunehmen, dass das Setting der beobachteten Situation durch den Arzt oder Anwalt in ihrer Beratungsfunktion geprägt ist – nicht zu vergessen, dass die Beratung verpflichtend ist für eine verbindliche Patientenverfügung. Das österreichische Gesetz gibt durch seine Sonderregelung, dass in Notfällen nicht nach einer Patientenverfügung gesucht werden muss, Notfälle als Thema vor. Die Dimension der Wünsche für Notfallsituationen spielt in meinen Interviews kaum eine Rolle. Die Interviewten meiner Studie haben sich in den meisten Fällen nicht mit einem Arzt beraten. Im Interview wurden sie aufgefordert, ihre persönliche Ge-
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schichte zu erzählen, wie es dazu kam, dass sie eine Patientenverfügung verfasst haben. Die Fragestellung ist dementsprechend weiter gefasst und zielt darauf ab, Kategorien zu identifizieren, die für die Entscheidung eine Patientenverfügung zu verfassen von Bedeutung sind. Die meisten Interviewten besitzen schon seit längerer Zeit eine Patientenverfügung. Aufgrund der offenen Erzählaufforderung besteht für sie die Möglichkeit, ihre Entscheidung für eine Patientenverfügung in ihre individuelle Lebensgeschichte einzubetten. Inthorns dritte Dimension der Erfahrungen mit Krankheit und Sterben spielt in den Interviews eine hervorgehobene Rolle. Die persönliche Deutung der eigenen Lebenszeit und Vorstellungen zum Timing des Todes (s. Kapitel 4) sowie Inszenierungen des Selbst (s. Kapitel 5) durch die Entscheidungsfindung stellen weitere Kategorien dar, die in Bezug auf die Patientenverfügung thematisiert werden. 3.2.1 Problembewusstsein und Wissen über Patientenverfügungen Fast alle Befragten nennen einen konkreten Anlass für das Verfassen ihrer Patientenverfügung oder den Beitritt zur JSDD. In den meisten Fällen wird die Erzählung vom Anlass (kikkake) durch die erzählgenerierende Einstiegsfrage angestoßen. Die Interviewpartner wurden aufgefordert, ihre persönliche Geschichte zu erzählen, wie es dazu kam, dass sie Mitglied in der JSDD geworden sind24 oder eine Patientenverfügung verfasst haben.25 Die Anlässe variieren hinsichtlich der Betroffenheit der Interviewten, doch haben sie alle gemeinsam, dass bei ihnen durch mehr oder weniger konkrete Ereignisse eine Beunruhigung oder Verunsicherung ausgelöst wurde. Mit der Patientenverfügung soll wieder ein Gefühl der Sicherheit hergestellt werden. Die
24 Frau Ono ist als einzige Interviewpartnerin nicht Mitglied in der JSDD. 25 Eine Ausnahme stellen die Interviews mit ALS-Patienten dar. Hier stand nicht die Frage nach der Patientenverfügung/Mitgliedschaft in der JSDD im Vordergrund, sondern die Entscheidung für oder gegen die künstliche Beatmung. Herr Jômon hat keine Patientenverfügung und wird erst in den folgenden Kapiteln thematisiert. Frau Minami bringt nach wenigen Minuten im Interview von selbst ihre Patientenverfügung zur Sprache und zeigt sie zusammen mit anderen Vorkehrungen, die sie für den Notfall getroffen hat. Die Frage, wie es zu ihrer Mitgliedschaft in der JSDD kam, stand deswegen nicht am Anfang des Interviews, sondern ergab sich in der Anfangsphase. Interessanterweise antwortet sie nach dem gleichen Muster wie die anderen Interviewpartner, die Krankheit oder Tod eines nahestehenden Menschen als Anlass bezeichneten.
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Dimension der Erfahrungen besteht somit in den graduellen Abstufungen zwischen direkter und indirekter Betroffenheit. Unter den Interviewten stellt Frau Minami die Interviewpartnerin dar, die durch ihre ALS-Erkrankung am unmittelbarsten von einer anstehenden Entscheidung betroffen ist. Das andere Extrem wird durch Herrn Kondo vertreten, der keinen konkreten Anlass für seine Patientenverfügung nennt, sondern von einem generellen Bewusstsein für die Problematik spricht, das durch die Gespräche mit seiner Frau über ihre Arbeit im Hospiz zu seinem Alltag gehört. Ein Bewusstsein, das die Sterbephase unter bestimmten Umständen als problematisch erscheinen lässt und die Interviewten beunruhigte, wird in allen Anlassnarrationen thematisiert. Dieses Problembewusstsein ist eng mit der als Anlass markierten Situation oder Lebensphase verknüpft und führt überhaupt erst dazu, dass die Interviewten einen Handlungsbedarf sehen. Die Patientenverfügung ist in diesem Sinne die Lösung für eine als problematisch empfundene Situation und stellt Sicherheit her. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Anlassnarration ist der Aspekt des Wissens oder der Informationen über Patientenverfügungen. Die Interviewten beziehen sich in ihren Erzählungen darauf, wie sie zum ersten Mal mit dem Wissen über Patientenverfügungen oder die JSDD in Kontakt kamen und welche Relevanz sie diesen Informationen für ihr Leben zugesprochen haben. Dabei kann es sein, dass jemand schon länger von der Möglichkeit einer Patientenverfügung weiß (Frau Fukui, Frau Kondo, Frau Ono und Herr Watanabe), sie jedoch bis zu einem bestimmten Zeitpunkt oder Schlüsselerlebnis nicht für sich selbst in Betracht zieht. Wo jedoch zum Zeitpunkt des ersten Kontaktes mit Patientenverfügungen bereits ein gewisses Problembewusstsein vorhanden war, kann die Patientenverfügung auch direkt als die gesuchte Lösung interpretiert werden (Frau Chibana). Direkte Betroffenheit und konkrete Erfahrungen Die Anlassnarration des Ehepaars Fukui wurde bereits im Kontext der ärztlichen Praxis, dem Betroffenen gegenüber die Diagnose zu verschweigen und nur den Ehepartner aufzuklären, thematisiert (s. Kapitel 2.1.2). Frau Fukui erzählt die Krankengeschichte ihres Mannes und verdeutlicht durch die Belastungen, die das Wissen um seine Krankheit und das Verschweigen der Diagnose für sie darstellten, wie sich ein Problembewusstsein bei ihr einstellte. Erst durch die persönlichen Erfahrungen mit der Krankheit ihres Mannes und ihre direkte Betroffenheit durch die Angst um sein Leben zog sie eine Patientenverfügung als Möglichkeit in Erwägung. Sie wusste seit einem Treffen mit ihren ehemaligen Kommilitoninnen von Patientenverfügungen, doch erst die konkreten Erfahrun-
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gen veranlassten sie, der Patientenverfügung eine Relevanz für ihr Leben und das ihres Mannes zuzuschreiben. Auch die Verunsicherungen und Sorgen von Frau Chibana um das Leben ihres Mannes und ihre eigene Zukunft wurden bereits erwähnt (s. Kapitel 2.1.3). Frau Chibana erklärt sofort in den ersten Sätzen des Interviews, für sie sei ein Vortrag der Anlass gewesen, Mitglied in der JSDD zu werden. Dann holt sie weiter aus und erklärt, dass sie sich aufgrund der Lebererkrankung ihres Mannes mit der Thematik des Sterbens auseinandersetzte: »Ich dachte viel über die Zukunft nach, beispielsweise dass er mich wahrscheinlich alleine zurücklassen wird. Und dann fing meine Tochter an zu studieren. Sie besuchte eine Psychologie-Vorlesung bei Alfons Deeken. Alfons Deeken, kennen sie Alfons Deeken? Er ist Professor an der Sophia Universität und Priester.«
Frau Chibana erzählt, sie habe damals das Buch Gedanken über das Leben und den Tod (1984; Sei to shi wo kangaeru) von dem deutschen Jesuiten Alfons Deeken und der japanischen Schriftstellerin Sono Ayako gelesen. Ihre Tochter sah das Buch bei ihr und erzählte ihr von der Vorlesung, die sie bei Deeken besuchte und gab ihr die Vorlesungsmaterialien. Auf diesem Weg erfuhr Frau Chibana, dass es an der Sophia Universität eine Gruppe gibt, die sich mit Sterbeerziehung (death education) und Trauerarbeit beschäftigt, die Sei to Shi wo Kangaeru Kai26. Diese Gruppe wurde von Alfons Deeken 1982 in Tokyo gegründet. Frau Chibana gehört zu den ersten Mitgliedern und nahm regelmäßig an den Treffen teil.27
26 Die offizielle englische Übersetzung lautet ›Japanese Association for Death Education and Grief Counseling‹. Die japanische Formulierung ist alltagssprachlicher gehalten und bezeichnet eine Gruppe, die sich mit den Themen Leben und den Tod auseinandersetzt. Kimura verweist darauf, dass ›death education‹ mit der japanischen militaristischen Ideologie während des Zweiten Weltkriegs in Verbindung gebracht werde, das eigene Leben für die Nation zu opfern, und aus diesem Grund als Bezeichnung vermieden werde (vgl. Kimura 1998: 188). 27 Sie hebt besonders Vorträge von Ärzten hervor, die sich aufgrund ihrer Unzufriedenheit über den Umgang mit Sterbenden im Krankenhaus beruflich neu orientierten und Palliativstationen oder Hospize gründeten. Unter ihnen war auch der Arzt Yamazaki Fumio, der eines der ersten Hospize in Japan eröffnete. Vor der Eröffnung des 1989 gegründeten St. Johannes Hospiz (Sei Yohane Hosupisu, aufgrund seiner Angliederung an das Sakura Machi Krankenhaus auch Sakura Machi Hosupisu genannt, vgl.
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Im Gegensatz zu Frau Fukui stellt sich das Problembewusstsein bei Frau Chibana ein, bevor sie von der Möglichkeit erfährt, eine Patientenverfügung zu verfassen. Als ein Schlüsselerlebnis berichtet Frau Chibana von einem Vortrag, in dem davon die Rede war, dass es unter den damaligen Umständen im klinischen Alltag nicht möglich sei, im Einklang mit dem eigenen Willen zu sterben. Diesen Vortrag brachte Frau Chibana mit ihren eigenen Erfahrungen in Verbindung. Genau zu dieser Zeit sei ihre Tante in ein dauerhaftes Koma gefallen, aus dem sie nicht wieder aufwachte: »Zu dem Zeitpunkt, als ich einen Vortrag hörte, dass man nicht dem eigenen Willen gemäß sterben kann, da aß meine Tante einen mochi, einen japanischen Kuchen aus klebrigem Reis, der ihr im Hals stecken blieb. Sie kam ins Krankenhaus und ihr Leben wurde zwar gerettet, aber sie blieb in diesem Zustand. Sie mussten damals alles Mögliche tun, und obwohl sie alles Mögliche taten, erlangte sie ihr Bewusstsein nicht zurück und es kam die Frage auf, was zu tun sei. Mein Cousin und meine Cousine, also meine Cousine war der Meinung, ihre Mutter sei schon über 70 Jahre alt, deswegen sei es damit gut. Aber obwohl ihr Bruder weit weg wohnt, wollte er unbedingt, dass seine Mutter am Leben erhalten wird [...]. Damals war die Sterbebegleitung noch nicht so wie heute und letztendlich sagte der Arzt, sie würden sie am Leben erhalten. Meiner Cousine wurde gesagt, es käme einem Mord gleich, wenn sie nichts unternehmen würden.«
Sie beschreibt die Situation als einen Konflikt zwischen ihrer Cousine und ihrem Cousin, die unterschiedliche Einstellungen zum Einsatz lebenserhaltener Maßnahmen vertraten. Aufgrund des Alters und des wahrscheinlich irreversiblem Komas der Tante argumentierte die Cousine ihre Mutter sterben zu lassen. Ein Argument des Cousins für den Lebenserhalt seiner Mutter nennt Frau Chibana nicht. Sie betont lediglich, dass er die Position vertrat, alles in den Möglichkeiten Stehende zu unternehmen, obwohl er weit weg wohnte. Die räumliche Distanz des Wohnortes ist keine Begründung, sondern wird von Frau Chibana angeführt, um ihre eigene Stellungnahme vorzubereiten. Die Ärzte entschieden letztendlich den Konflikt zwischen Cousine und Cousin mit der Begründung, nichts zu tun und die Tante sterben zu lassen sei gleichbedeutend damit sie zu töten. Diese Haltung der Ärzte kommentiert Frau Chibana durch ihre Anspielung, die Sterbebegleitung in Japan sei damals noch nicht so weit gewesen, als rückständig. Ihre Tante sei aufgrund der Entscheidung des Cousins und der Ärzte zu
Sei Yohane Kai Sakura Machi 2012) stellte er sein Konzept im Sei to Shi wo Kangaeru Kai vor und die Gruppe besichtigte das Hospiz vor seiner Eröffnung.
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einem ›vegetativen Menschen‹ (shokubutsu ningen) geworden und lag für fünf Jahre im Koma, bevor sie starb. Frau Chibana besuchte ihre Tante einige Male im Krankenhaus und beschreibt ihren Anblick als Schock: »Als ich auch einige Male zum Besuch ins Krankenhaus ging, hatte sie eine gute Gesichtsfarbe und sah so aus, als würde sie leben. Aber es waren alle möglichen [Schläuche], Spaghetti Syndrom? In so einem Zustand war sie. Damals hat das einen enormen Schock bei mir verursacht.« Sie bewertet den Anblick der Tante – ihre gesunde Gesichtsfarbe – durch die Apparate, an die sie angeschlossen ist, nicht als Lebenszeichen oder lebendig, sondern als ›Anschein von Leben‹. Sie bedient sich in ihrer Darstellung der Bezeichnung ›vegetativer Mensch‹, die impliziert, dass sich der betroffene Mensch in einem pflanzenähnlichen Zustand befindet: Es ist kein Bewusstsein vorhanden, sondern lediglich Leben im biologischen Sinn. Die Metapher des vegetativen Menschen stuft den Lebensstatus herunter und setzt ihn mit dem Leben einer Pflanze gleich. Diese metaphorische Gleichsetzung fand spätestens mit dem Quinlan-Fall unter den Befürwortern des Abbruchs lebenserhaltender Maßnahmen Verbreitung (s. Kapitel 2.3.1). Es wird impliziert, dass ein Abschalten der Apparate bei einem Leben auf der Stufe einer Pflanze nicht als Tötung zu bewerten ist. Auch der Ausdruck ›Spaghetti Syndrom‹ wird häufig in diesem Kontext verwendet. Die Spaghetti stehen für die Schläuche und es wird ein Bild des Chaos evoziert, in dem der angeschlossene Mensch hilflos ist und sich nicht befreien kann. Frau Chibana positioniert sich durch die Verwendung von ›vegetativer Mensch‹ und ›Spaghetti-Syndrom‹ auf der Seite ihrer Cousine. Eine weitere Kritik am Verlauf der Ereignisse hat sie schon zu Beginn ihrer Erzählung vorbereitet: Der Cousin wohnte weit weg und ihre Cousine war es, die jeden zweiten Tag ins Krankenhaus ging und sich um ihre Mutter kümmerte. Sie kündigte sogar ihren Arbeitsplatz, während der Cousin, der für die Aufrechterhaltung des Lebens seiner Mutter eingetreten war, nur alle zwei oder drei Monate zu Besuch kam. Die Pflegeproblematik ist ein Motiv, das sich durch das gesamte Interview zieht. Frau Chibana hat selbst jahrelang ihren Mann und später ihre Mutter gepflegt. Aufgrund ihres eigenen Alters von 73 Jahren bezeichnet sie die Pflege ihrer Mutter als ›alter Mensch pflegt alten Menschen‹ (rôrô kaigo). Eine Situation, die heutzutage in Japan häufig vorkomme und die sie als problematisch ansieht, da die alt gewordenen Kinder den Belastungen durch die Pflege ihrer Eltern nicht mehr gewachsen seien. Ihre Mutter starb etwa zwei Jahre vor dem Interview und sie erwähnt, dass sie nach ihrem Tod einige Zeit brauchte, um sich
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körperlich und psychisch zu erholen. Seit Kurzem sei sie wieder bei Kräften und habe begonnen, sich in ihrem Stadtteil ehrenamtlich zu engagieren. Frau Chibana weiß aus eigener Erfahrung, wie körperlich und emotional schwierig die Pflege von Angehörigen sein kann, und äußert ihre Anteilnahme an der Situation ihrer Cousine. Im Nachhinein bewertet sie die Position ihrer Cousine als realistischer als die ihres Cousins. Sie bezieht die Situation auf ihr eigenes Leben und überlegt, was sie sich wünschen würde, wenn sie an der Stelle ihrer Tante wäre. Genau zu diesem Zeitpunkt habe ein Mitglied der JSDD den oben erwähnten Vortrag im Sei to Shi wo Kangaeru Kai gehalten. Diesen Vortrag bezeichnet sie als Anlass, eine Patientenverfügung abzuschließen. Sie nahm eine Informationsbroschüre mit nach Hause und zeigte sie ihrem Mann, der zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr mit zu den Treffen gehen konnte. Ihr Mann habe zu Beginn nicht recht verstanden, erzählt Frau Chibana, aber dann seien sie gemeinsam der JSDD beigetreten. Während Frau Fukui und Frau Chibana durch die Krankheiten von Angehörigen Erfahrungen im Umgang mit Krankheit und Tod machen, ist Frau Minami durch die Krankheitsdiagnose ALS mit einer in der nahen Zukunft anstehenden Entscheidung über ihr Leben oder ihren Tod konfrontiert. Sie muss entscheiden, ob sie eine Tracheotomie vornehmen und sich dauerhaft invasiv beatmen lässt, wenn die Krankheit die Atemmuskulatur lähmt und sie nicht mehr selbstständig atmen kann, oder ob sie sich gegen die künstliche Beatmung entscheidet und stirbt. Wegen der ungeklärten rechtlichen Lage wird der Abbruch der einmal eingeleiteten künstlichen Beatmung als aktive Sterbehilfe gewertet. Mit Beatmung ist ein Weiterleben von zehn oder auch zwanzig Jahren möglich, weswegen der Beatmungsabbruch bei ALS-Patienten in der Regel nicht unter die Kriterien für Straffreiheit der aktiven Sterbehilfe fällt, da sich die Patienten nicht in der Sterbephase befinden (s. Kapitel 2.3.2). Somit muss Frau Minami zwischen zwei Optionen eine klare Wahl treffen, wenn sie selbst entscheiden will. Die Option, das Leben mit Beatmung auszuprobieren und sich später für den Abbruch zu entscheiden, steht nicht zur Wahl. Zum Zeitpunkt des Interviews hat Frau Minami ihre Entscheidung bereits getroffen. Sie beginnt das Interview mit einer Erklärung, wie viel Prozent der ALS-Patienten in Japan sich für oder gegen die künstliche Beatmung entscheiden und zu welchem Prozentsatz sie sich selbst zählt: »Ungefähr 70 Prozent entscheiden sich gegen einen Anschluss an die künstliche Beatmung. 30 Prozent lassen sich anschließen. Ich habe mich für das Nicht-Anschließen entschieden, zu 99 Prozent. Für das übrige 1 Prozent fällt es mir schwer, mich zu entscheiden, weil es gegen die Moral wäre. Mein eigenes Gefühl liegt bei 99 Prozent, aber ich bin
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mir zu einem Prozent unsicher, ob es nicht unmoralisch ist, weil es 30 Prozent gibt, die [mit Beatmungsmaschine] leben, und ich, obwohl es 30 Prozent gibt, aufgebe.«
Frau Minami begründet ihre verbleibenden Bedenken mit der Wertschätzung, die sie den Menschen entgegenbringt, die sich für die künstliche Beatmung entschieden haben. Ihre ein-prozentige Unsicherheit wird zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal von Herrn Yamamoto aufgegriffen.28 Herr Yamamoto bezieht sich auf den öffentlichen Diskurs und erklärt, von den Befürwortern der künstlichen Beatmung werde häufig vorgebracht, es müssten bessere Strukturen geschaffen werden, die ein unabhängigeres Leben mit der Beatmung ermöglichen. Und dass durch eine steigende Anzahl von Menschen, die sich gegen die Beatmung entscheiden, die gesellschaftliche Akzeptanz für ein Leben mit der Beatmung sinke. Er fragt Frau Minami, ob sie sich durch dieses eine Prozent Unsicherheit eine Tür offen halte und ob sich ihre moralischen Bedenken auf diese Argumentation beziehen. Frau Minami weist diesen Zusammenhang jedoch zurück. Sie bezweifelt nicht, dass das Verhältnis von Ablehnung und Akzeptanz der Beatmung einen Einfluss auf die Entscheidungsfindungen zukünftiger ALSPatienten hat, jedoch stellt sie infrage, ob es eine allgemeingültige und richtige Antwort für alle Patienten geben kann. Sie könne keine allgemeingültige Bewertung treffen, ob der Verlust der spontanen Atmung der Endpunkt (shûchaku) des Lebens sein sollte oder ob es richtig ist, sich an die künstliche Beatmung anschließen zu lassen, zu kämpfen und weiterzuleben. Aber für sich selbst habe sie diese Frage geklärt. Für ihre Begründung spielt das Motiv des Maßhaltens oder der Angemessenheit eine bedeutende Rolle. Zur Forderung nach mehr Sozialleistungen oder verbesserten wohlfahrtsstaatlichen Strukturen für ALS-Patienten erklärt sie, dass für sie schon jetzt sehr viel Geld der Pflegeversicherung, der Krankenversicherung und der Rente für Menschen mit Behinderungen ausgegeben werde, etwa 50.000 Yen29 im Monat. Das Recht auf Leben habe sicherlich jeder. Jedoch arbeite sie nicht und erhalte lediglich dafür, dass sie ihre Zeit genießt, sagt sie lachend, 50.000 Yen im Monat. Deswegen stelle sie sich die Frage, bis zu welchem Grad es angemessen ist, um Unterstützung zu bitten.
28 Frau Minami wurde mir über die Masterstudentin Frau Tanaka als Interviewpartnerin vermittelt. Herr Yamamoto ist der Professor, der die Masterarbeit von Frau Tanaka betreut. Frau Tanaka und ihr Mann sind ebenfalls bei dem Interview anwesend, halten sich vor allem zu Beginn des Interviews jedoch im Hintergrund, während Herr Yamamoto des Öfteren Fragen stellt. 29 50.000 Yen entsprachen im August 2009 etwa 370 Euro.
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Sie bezieht sich auf das Buch Jishi to iu ikikata (Der Lebensstil namens Freitod) von Suhara Kazuhide, einem Philosophen der sich mit 65 Jahren das Leben nahm. Suhara plädiere für ein maßvolles, angemessenes Leben, das mit einem Gefühl der Zufriedenheit geführt wird. Und wenn die Grenze der eigenen Rolle oder Funktion (yakume) erreicht ist, wenn das Maß erreicht ist, dann solle man aus dem Leben treten, erklärt Frau Minami die Botschaft des Buches. Wie Suhara Selbstmord zu begehen, so weit denke sie nicht. Jedoch liege für sie die Grenze eines erfüllten Lebens an dem Punkt, wo sie nicht mehr selbstständig atmen kann. Sie bezieht sich in ihrer Erklärung auf eine häufig von der ALS-Patientin Hashimoto Misao vorgebrachte Metapher, die Beatmungsmaschine sei wie eine Brille eine Unterstützung für eine geschwächte Körperfunktion: »Also eine Brille... Weil die Augen schlecht geworden sind, setze ich eine Brille auf. Weil ich nicht mehr atmen kann, schließe ich ein Beatmungsgerät an. Das auf die gleiche Weise wahrzunehmen, daraus zu schlussfolgern die Beatmungsmaschine anzuschließen – so kann ich das nicht sehen. Als Mensch den Atem ein- und ausatmen, und wenn man nicht mehr atmen kann – reicht es nicht aus bis zu diesem Zeitpunkt? Das ist in meiner Vorstellung die Grenze.«
Frau Minami weist den Brillen-Vergleich entschieden zurück und spricht von der spontanen Atmung als wesentliches Merkmal des Menschen, das seine Existenz bestimmt. Hier klingt implizit eine Ablehnung von als ›künstlich‹ verstandenen Maßnahmen zum Lebenserhalt an, die auch an anderen Stellen des Interviews zum Ausdruck kommt. Frau Minami bezieht sich auf ihre beruflichen Erfahrungen als Krankenschwester und Care-Managerin und ihre privaten Erfahrungen, die sie durch die Pflege ihrer kranken Mutter erworben hat, und erklärt, dass sie nicht in einem Zustand leben möchte, in dem sie bloß am Leben erhalten wird und ihren eigenen Willen nicht mehr übermitteln kann: »Ich habe alles Mögliche gesehen, alte Frauen und Männer, die bloß am Leben erhalten werden und sogar die Mahlzeiten – und ich habe gedacht, in so einen Zustand möchte ich nicht kommen. Ich werde nicht in einen Zustand kommen, in dem ich meinen eigenen Willen nicht mitteilen kann und bloß am Leben erhalten werde.«
An Schläuche angeschlossen zu werden und sich im ›Spaghetti-Zustand‹ wiederzufinden, nichts tun zu können sondern nur zu empfangen, dass sei für einen selbstbezogenen (wagamama na watashi ni) Menschen wie sie ein unerträglicher Gedanke. Schon in den ersten Minuten des Interviews fasst Frau Minami zusammen, durch ihre privaten und beruflichen Erfahrungen habe sie verschiedene
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Perspektiven kennengelernt und sich die Frage gestellt: »[...] bedeutet bloßes Leben wirkliches Glück?«. Die Antwort, die sie gibt, lautet: »Ich würde es nicht wählen.« Frau Minami glaubt daran, dass hinter dem Leben mehr stecke, als die physische Existenz. Sie bezeichnet sich selbst als nicht religiös, aber dennoch glaube sie daran, dass es ein tamashii (Geist oder Seele, s. Kapitel 4.2.5) gebe, das zeitlos ist und ewig existiert. Aus diesem Grund hänge sie nicht sonderlich am Leben. Weitere Gründe, warum sie im Vergleich weniger am Leben hänge als andere, seien die Erfahrungen die sie in ihrem Leben gemacht hat und das Gefühl, zur Genüge die Dinge getan zu haben, die sie tun wollte. Zudem habe sie keine Kinder, ihre Eltern seien verstorben und ihr Mann dazu in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Ihre Ehemaxime sei, dass jeder seinen eigenen Weg gehe und seine individuellen Entscheidungen treffe. Frau Minami ist demnach durch die eigene Krankheit direkt von konkreten Fragen zu Behandlungen in der Sterbephase betroffen. Ihre Krankheit und die Entscheidung gegen die Beatmung waren jedoch nicht der Anlass für Frau Minami, eine Patientenverfügung zu verfassen. Sie ist Mitglied in der JSDD geworden, als sie noch gesund war. Auf die Frage, wie es dazu kam, dass sie eine Patientenverfügung verfasst hat, erzählt Frau Minami von der Krankheit und dem Tod ihrer Mutter. Die Mutter von Frau Minami erlitt 1989 einen Schlaganfall und wurde drei Jahre lang von Frau Minami und ihrem Bruder gepflegt, bis sie 1992 verstarb. Damals habe es noch keine Pflegeversicherung gegeben und Frau Minami nahm ihre Mutter bei sich auf. Sie beschreibt ihre Mutter als lebhafte, selbstständige Frau, die ihr eigenes kleines Geschäft hatte. Und obwohl sie sich, so gut sie konnte, um ihre Mutter kümmerte, habe sie es nur schwer mit ansehen können, dass ihre Mutter nichts mehr selbst tun konnte, bettlägerig und pflegebedürftig wurde. Die ersten Monate nach dem Schlaganfall sei ihre Mutter in einer Art Dämmerzustand gewesen, erinnert sich Frau Minami. Die folgenden zwei Jahre habe sich ihr Zustand gebessert und sie konnte alleine die tragbare Toilette benutzen oder mit Hilfestellung baden. Da sie ihren rechten Arm nicht mehr bewegen konnte, habe sie mit links gegessen. Zum Ende hin habe sie über Kopfschmerzen geklagt und nach Hirnblutungen zehn Tage im Koma gelegen. Ihre Mutter habe gewusst, dass sie nicht wieder gesund werden würde, und als die Hirnblutungen begannen, darum gebeten nicht operiert zu werden. Dass kein chirurgischer Eingriff vorgenommen wird, habe sie ihrer Mutter versprochen, und nach zehn Tagen verstarb die Mutter. Den Wunsch der Mutter stellt Frau Minami als gemeinsame Abmachung dar. Die Geschwister ihrer Mutter stimmten jedoch nicht mit dieser Entscheidung überein. Es kam zu Meinungs-
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verschiedenheiten, da die Geschwister der Mutter die Position vertraten, nicht zu operieren und nichts zu tun, komme einem Mord gleich. Hätte ihre Mutter ihren Willen klar und deutlich aufgeschrieben, hätte niemand etwas dagegen sagen können, überlegt Frau Minami. Und die Situation wäre für die Hinterbliebenen nicht mit quälenden Gedanken verbunden gewesen. Zu den Meinungsverschiedenheiten mit den Verwandten kommen auch Differenzen mit den Ärzten hinzu. Zu einem späteren Zeitpunkt im Interview spricht sie davon, dass die Ärzte im Krankenhaus ihre Mutter an die künstliche Beatmung anschlossen, ohne Rücksprache zu halten. Sie habe den behandelnden Arzt darauf angesprochen, dass sie die Beatmung nicht wünsche und er habe geantwortet: »Ja, soll ich die Kanüle da rausziehen? Dann stirbt sie.« Auch der Wunsch ihrer Mutter, nicht operiert zu werden, wurde in diesem Krankenhaus nicht akzeptiert: »Obwohl [sie einen Blutdruck von 200 hatte,] wollten die Ärzte des Krankenhauses, obwohl sie wussten, dass ein chirurgischer Eingriff sinnlos ist, wollten sie operieren! Das war damals das Krankenhaus B und die Schwägerin meines Mannes war dort Oberschwester. Und weil sie alles Mögliche aus dem Krankenhaus wusste, dass die Krankheit [meiner Mutter] nicht heilbar ist und so weiter, sagte sie mir: ›Nimm sie und bring sie nach Hause. Es ist besser sie nach Hause zu bringen, ohne OP.‹ Weil die Schwiegertochter meines Bruders in einem anderen Krankenhaus arbeitete, in einer Privatklinik, ließen wir sie dahin verlegen ohne zu operieren und begleiteten sie im Sterben.«
Den Tod ihrer Mutter stellt Frau Minami als Schock dar. Sie war 40 Jahre alt, als ihre Mutter starb, und die Erfahrungen veranlassten sie, über ihr eigenes Leben nachzudenken und sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Sie habe nach dem Tod der Mutter viele Bücher zu Tod und Sterben gelesen und in einem dieser Bücher war von der JSDD die Rede. Sie entschloss 1999 zusammen mit ihrem Mann, Mitglied zu werden. Zunächst nur für ein Jahr, da sie damals gesund war und jedes Jahr, bevor sie die Mitgliedschaft verlängerte, überprüfen wollte, ob sich ihre Einstellung geändert hat. Nach ein, zwei Jahren habe sie sich dann entschieden, die Mitgliedschaft bis zum Lebensende zu wählen. Ebenso wie bei Frau Fukui und Frau Chibana ist auch Frau Minami durch die Erfahrungen mit der Krankheit und dem Tod einer nahen Angehörigen beunruhigt, und durch den Beitritt zur JSDD trifft sie eine zunächst vorläufige Entscheidung, um wieder Sicherheit herzustellen. In allen drei Fallbeispielen ist der Anlass für die Patientenverfügung mit Überlegungen über mögliche Krankheitsrisiken verbunden, die Verfasserinnen der Patientenverfügungen erwähnen jedoch für die Situation, in der sie die Patientenverfügung abschlossen, keine am
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eigenen Leib erfahrenen Krankheiten. Alle drei Frauen stellen sich als diejenigen dar, die von der JSDD und Patientenverfügungen erfuhren und ihre Ehemänner von einem gemeinsamen Beitritt überzeugten. Bei Frau Fukui und Frau Chibana trägt das Krankheitsrisiko der Ehemänner entscheidend zu ihrem Problembewusstsein bei. Die Patientenverfügungen stellen eine Gelegenheit für sie dar, mit ihren Ehepartnern über ihre Wünsche und Vorstellungen zu sprechen. Die Versicherung und die Dokumentation der Wünsche des Ehepartners und des eigenen Willens erhalten bei Frau Chibana und Frau Minami durch die Erfahrungen mit unterschiedlichen normativen Vorstellungen zwischen den Verwandten oder Angehörigen und Ärzten eine wichtige Funktion. Es ist anzunehmen, dass die Patientenverfügung für Frau Chibana eine Gelegenheit war, mit ihrem Mann über seine Wünsche in der Sterbephase zu sprechen, obwohl sie aufgrund der verschwiegenen Diagnose nicht offen mit ihm über seine Krankheit sprechen konnte (s. Kapitel 2.1.3). Diese Bedeutungskomponente, die als Übernahme von Verantwortung für das Wohlergehen des Ehepartners bezeichnet werden kann, verliert die Patientenverfügung mit dem Tod ihres Ehemannes. Auch bei Frau Minami ist von einem Bedeutungswandel der Patientenverfügung auszugehen. Durch die Krankheitsdiagnose veränderte sich ihre Situation grundlegend. Zuvor vorgestellte Risiken werden zu konkret anstehenden Entscheidungsfragen und die Patientenverfügung – obwohl sie nach außen hin unverändert das gleiche standardisierte und allgemeingehaltene Formular ist – erfährt einen Bedeutungswandel und steht für eine klar getroffene Entscheidung. Frau Minami bringt den Bedeutungswandel und die Konkretisierung ihrer Patientenverfügung dadurch zum Ausdruck, dass sie Vorkehrungen für den Notfall trifft. In diesem Zuge hat sie eine Kopie ihrer JSDDMitgliedskarte angefertigt und handschriftlich Ergänzungen vermerkt. Sie erklärt auf der Kopie, dass sie an ALS erkrankt und aufgrund der Krankheit in Behandlung ist. Falls es zu einer plötzlichen, kritischen Verschlechterung ihres Zustandes kommen sollte, lehne sie eine Tracheotomie, Herz-Rhythmus-Massagen und künstliche Ernährung per Tropf und Magensonde als lebensverlängernde Maßnahmen ab. Zudem hat sie eine spezielle Notfallkarte für Patienten mit schweren neuronalen Erkrankungen mit ihrem Arzt vorbereitet, die zusammen mit der Kopie der JSDD-Karte über ihrem Bett gut sichtbar an der Wand hängt. Indirekte Betroffenheit und konkrete Erfahrungen Auch Frau Kondo ist durch konkrete Ereignisse beunruhigt, jedoch ist sie nicht direkt betroffen. Ihre Sorgen beziehen sich auf die Lebensumstände ihres Ehemannes. Sie arbeitet als Krankenschwester in einem Hospiz und erfuhr durch ihre Arbeit und ihre Mitgliedschaft in einer Hospiz-Studiengruppe von der Mög-
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lichkeit einer Patientenverfügung, brachte dieses Wissen jedoch nicht mit ihrem Privatleben in Verbindung. Erst durch konkrete Ereignisse am Arbeitsplatz ihres Mannes gewinnt die Patientenverfügung für sie persönlich an Relevanz. Ihr Mann ist Englischlehrer an einer Oberschule und eines Tages schieden zwei seiner Kollegen plötzlich aufgrund von Arbeitsüberlastung aus dem Schulbetrieb aus. Ihr Mann wurde mit dem gleichen Aufgabenbereich betraut und Frau Kondo begann sich über die Arbeitsbedingungen ihres Mannes zu sorgen. Der eine Kollege erlitt einen Schlaganfall und wurde zum Pflegefall. Er und seine junge Frau ließen sich scheiden und er kehrte zurück in sein Elternhaus, wo er von seiner alten Mutter gepflegt wird, erzählt Frau Kondo. Der andere Kollege ihres Mannes sei zusammengebrochen, dann zwar wieder auf die Beine gekommen, litt jedoch an Depressionen und beging Selbstmord. Diese Ereignisse lösten Besorgnis bei Frau Kondo aus. Sie nutzte ihr berufliches Wissen und besorgte Informationsbroschüren, die sie zusammen mit ihrem Mann durchsah. Am Ende dieser Gespräche stand der gemeinsame Beschluss eine Patientenverfügung abzuschließen. Frau Kondo und ihr Mann wurden Mitglied in der JSDD und verfassten zusätzlich eine Patientenverfügung in eigenen Worten, die bei ihnen zu Hause im Wohnzimmer an der Pinnwand hängt. Begründet werden die Patientenverfügungen von Frau Kondo aus der heutigen Sicht mit den Worten: »Weil wir als Ehepaar zu zweit sind und keine Kinder haben, dachten wir für den Fall, dass etwas passieren sollte, selber vorsorglich für unsere eigenen Angelegenheiten Verantwortung übernehmen zu wollen. Deswegen die Songenshi Kyôkai, und außerdem hängt unser eigener Wille an der Wand.«
Frau Kondo schrieb ihre handschriftliche Patientenverfügung im Jahr 2003. Sie beinhaltet Angaben zum Zustand, für den sie gelten soll, zur Aufklärung, Schmerzbehandlung und Trauerfeier. Falls sie erkranken sollte und es keine Aussicht auf Heilung gibt, verfügt sie, dass alle »sinnlosen lebensverlängernden Maßnahmen« (muda na enmei sochi) unterlassen werden. Frau Kondo wünscht, über ihre Krankheit persönlich durch den Arzt aufgeklärt zu werden und selbst ihre Angehörigen zu informieren. Da sie nicht leiden möchte, vermerkt sie, dass eine Schmerzbehandlung so früh wie möglich begonnen wird. Durch ihr Fachwissen als Hospizkrankenschwester sind ihre Wünsche zu diesem Punkt sehr konkret: Sie gibt den genauen Namen des Präparats an, mit dem sie behandelt werden möchte, und erklärt, dass sie eine Lebensverkürzung als Nebenwirkung der sedativen Behandlung in Kauf nimmt.
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In der Ablehnung ›sinnloser lebenserhaltender Maßnahmen‹ und der Forderung nach palliativer Behandlung stimmt ihre individuelle Patientenverfügung mit dem Formular der JSDD überein. Der Wunsch über die Diagnose aufgeklärt zu werden stellt eine Besonderheit dar. Nicht nur weil er von der standardisierten Patientenverfügung der JSDD abweicht, sondern weil er sich nicht wie für Patientenverfügungen üblich auf einen Zustand bezieht, in dem der Patient die Fähigkeit verloren hat, seinen Willen zu äußern. In dieser Äußerung von Frau Kondo kann ein Hinweis darauf gesehen werden, dass die direkte Aufklärung des Patienten über seine Diagnose nicht als Selbstverständlichkeit von ihr vorausgesetzt wird. Zudem erweitert Frau Kondo ihre Patientenverfügung über den medizinischen Rahmen und ihr Leben hinaus. Sie und auch ihr Mann vermerken in ihren Patientenverfügungen zur Trauerfeier, dass sie keine Feierlichkeiten wünschen, sondern nur ein Begräbnis im engen Kreis (missô). Frau Kondo erklärt jedoch im Interview, dass sich ihre Einstellung bezüglich dieses Punktes in den letzten fünf Jahren geändert habe. Sie habe einige Trauerfeiern in ihrem sozialen Umfeld besucht und sei zu der Einsicht gelangt, dass Beerdigungen nicht für den Verstorbenen sind, sondern für die Hinterbliebenen eine wichtige Funktion erfüllen. Es gebe demnach keinen Grund eine Trauerfeier abzulehnen und das Wichtigste sei, den Hinterbliebenen keine Schwierigkeiten zu bereiten. Dieser Einstellungswandel hat sich bisher jedoch nicht auf die schriftliche Fassung ihrer Patientenverfügung ausgewirkt. Als weitere individuelle Vorkehrung in ihrer handschriftlichen Patientenverfügung nennt sie einen Arzt ihres Vertrauens, der informiert werden soll, falls ihr etwas zustößt. Diesen Wunsch zählt sie in der Inhaltszusammenfassung im Interview nicht auf, er ist jedoch auf der Kopie nachzulesen. Für Frau Kondo gibt es demnach einen konkreten Anlass, ein Ereignis, das sie jedoch nur indirekt betrifft. Der Bezug zur eigenen Lebenssituation wird durch ein empfundenes Risiko über die Parallele zwischen der Tätigkeit ihres Mannes und der seiner beiden Kollegen hergestellt. Dieses Risiko wird von Frau Kondo auch auf ihre eigene Situation übertragen und generalisiert »für den Fall, dass etwas passieren sollte«. Sie und ihr Mann verfassen die Patientenverfügung in einer Situation, in der sie beunruhigt sind, um wieder Sicherheit herzustellen. Generelles Problembewusstsein: eine Vorkehrung, die ansteht Obwohl Frau Kondo den Zusammenbruch von zwei Kollegen ihres Mannes als Anlass bezeichnet, zusammen mit ihrem Mann eine Patientenverfügung zu verfassen, spricht Herr Kondo im Interview nicht von einem konkreten Anlass für seine Patientenverfügung. Vielmehr seien Tod und Sterben durch die Arbeit sei-
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ner Frau im Hospiz ein häufiges Gesprächsthema. Durch die Erlebnisse, von denen seine Frau beim gemeinsamen Abendessen berichtet, habe er viele Gelegenheiten gehabt, darüber nachzudenken, wie er sterben möchte. Ein weiterer Grund für die Notwendigkeit einer Patientenverfügung sei, dass er und seine Frau keine Kinder haben und sie soweit wie möglich ihre eigenen Angelegenheiten selbst entscheiden wollen. Herr Kondo versteht die Patientenverfügung als Vorausverfügung des eigenen Willens für den Fall, dass seine Frau vor ihm stirbt und nicht stellvertretend für ihn entscheiden kann. Die Patientenverfügung ist in diesem Sinne eine Vorkehrung, die Entscheidungen über das eigene Leben bis zum Ende selbst zu treffen. Herr Kondo erzählt keine Geschichte, wie es zu seiner Patientenverfügung gekommen ist, da es aus seiner Sicht keinen Anlass und somit auch keine Geschichte gibt. Er schließt seine Antwort auf die Eingangsfrage, wie es dazu kam, dass er eine Patientenverfügung verfasst hat, sehr schnell ab. Er benutzt dazu die Worte: »Das war es. Ich denke nicht besonders tiefgehend darüber nach.« als Endmarker. Auf die explizite Frage nach einem Anlass verneint er, es habe keinen besonderen Anlass gegeben, und er erklärt erneut, er und seine Frau hätten häufig über diese Thematik gesprochen. In den Gesprächen sei es zum einen um die Art und Weise gegangen, wie sie sterben wollen, und zum anderen um das Grab und um die Trauerfeier. Herr Kondo stellt hier die Patientenverfügung als Entscheidung dar, die ebenso wie die Frage des Grabes und der Trauerfeier ab einem bestimmten Zeitpunkt im Leben geregelt werden sollte. Da er 51 Jahre alt ist und somit schon mehr als die Hälfte seines Lebens vorbei sei, erklärt er, sei der Zeitpunkt für ihn gekommen, Vorkehrungen für sein Lebensende zu treffen. Vorstellungen über die Dauer seiner Lebenszeit sind ein wichtiges Motiv, das immer wieder als Begründung für seine Einstellung zu Leben und Tod in Erscheinung tritt (s. auch Kapitel 4.2.1). Hier beendet Herr Kondo erneut seine Erklärungen, er habe bisher nicht besonders tiefgehend darüber nachgedacht. Er erweckt durch die zusätzliche Bemerkung, die Patientenverfügung sei nur ein Thema von mehreren, über die er nachdenke, den Eindruck, dass die Patientenverfügung für ihn keine besonders wichtige Rolle spielt und nur eine Vorkehrung unter anderen ist, die zu treffen sind. Von sich aus zu erzählen beginnt Herr Kondo erst, als es um seine Vorstellungen von einer guten Art zu sterben geht und um die Frage nach der eigenen Trauerfeier und dem eigenen Grab. Herr Kondo hat klare und konkrete Vorstellungen, wie er sterben möchte. Im Idealfall wolle er plötzlich sterben (iki ni), von einem auf den anderen Augenblick. Diese weit verbreitete Idealvorstellung beinhaltet den Wunsch, nicht an einer Krankheit zu leiden und langsam zu ster-
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ben. Für den Fall, dass er erkranken sollte, könnte Herr Kondo sich jedoch auch vorstellen, in einem Hospiz zu sterben. Er hebt positiv hervor, dass die Menschen sich dort auf den Tod vorbereiten können, ein offener Umgang mit der Krankheit im Kreise der Familie möglich ist und die Schmerzen genommen werden. Ein Thema, das ihn besonders beschäftigt und zu dem er nahtlos überleitet, ist der Todeszeitpunkt und die Trauerfeier. In diesem Kontext kommt er auf einen Kollegen zu sprechen, der während der Sommerferien plötzlich verstarb. Er stellt dieses Ereignis auch nicht im Nachhinein als Anlass für seine Patientenverfügung dar. Jedoch schreibt er dieser Erfahrung eine wichtige Bedeutung für seine Wünsche bezüglich des eigenen Todeszeitpunktes und der Beerdigung zu. Herr Kondo erklärt, dass die Sommerferien für ihn als Oberschullehrer eine sehr arbeitsreiche Zeit sind, da dann die Vorbereitungskurse für die Universitätsaufnahme und Klausuren stattfinden. Einer seiner älteren Kollegen sei genau in dieser Zeit gestorben. Zur Trauerfeier dieses Kollegen seien mehrere hundert Schüler gekommen, die gar nicht alle in den Raum hineinpassten, erinnert sich Herr Kondo. Er selbst wolle nicht auf diese Art und Weise enden. Deswegen vermerkte er auch in seiner handschriftlichen Patientenverfügung, dass er eine Trauerfeier im engen Kreis wünscht. Um eine große Trauerfeier zu vermeiden, habe er sich vorgenommen, erst zu sterben, wenn er keine berufliche Verantwortung mehr trägt und das Pensionsalter erreicht hat. Seine Vorstellungen von der Trauerfeier sind klar formuliert und er hat entschieden, wie in seinem Sinne verfahren werden soll. Auch die medizinische Behandlung hat er durch die Patientenverfügung geregelt. Ein großes Thema, für das er noch keine Entscheidung getroffen hat und das ihn beschäftigt, ist das Grab. Herr Kondo erzählt, dass sein Vater keine Vorkehrungen getroffen hatte, als er mit 60 Jahren verstarb. Er hatte kein Grab und es sei für die Familie umständlich gewesen, ein Grab für ihn zu finden. Herr Kondo erklärt ausführlich das japanische danka-System, ein Verwaltungssystem aus der Edo-Zeit (1603-1868), durch welches das ganze Land in Bezirke eingeteilt wurde, die einem Tempel zugeordnet waren, und dass sich jeder Haushalt bei dem zuständigen Tempel melden musste. Dieses Meldesystem wurde offiziell mit der Meiji-Restauration in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgeschafft, jedoch spiele die Zugehörigkeit zu den Tempeln immer noch eine wichtige Rolle, wenn es um das Familiengrab gehe. In der Regel führe der älteste Sohn die Familienlinie weiter und übernehme auch das Familiengrab. Die später geborenen Söhne verlassen die Hauptlinie und gründen ihre eigene Familie und die Töchter heiraten in die Fa-
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milie ihres Ehemannes ein und verlassen auch die Herkunftsfamilie. Wenn eine neue Familie gegründet wird, dann müsse diese sich neu in einem Tempel registrieren und eine Gebühr bezahlen. Viele Japaner, so erklärt Herr Kondo, würden die Frage, ob sie an die buddhistische Lehre glauben oder nicht, von der Entscheidung, sich in einem Tempel zu registrieren, trennen. Sie würden des Grabes wegen Mitglied und, weil dadurch Sterben leichter werde. Herr Kondo lehnt dieses buddhistische Registrierungssystem ab. Ein eigenes Grab habe er jedoch noch nicht gefunden. Obwohl er der jüngere von zwei Söhnen ist, wurde ihm von seinem älteren Bruder und der Mutter angeboten, dass er ebenfalls im Familiengrab beigesetzt werden könne. Herr Kondo wies dieses Angebot jedoch ab. Er möchte sein eigenes Grab haben, schließlich lebe er schon viel länger von der Familie getrennt, als er jemals mit ihnen zusammengelebt habe. Die Schwierigkeiten ein Grab zu finden, vergleicht Herr Kondo mit den Aussichten im Lotto zu gewinnen. In Tokyo sei es schwer auf einem öffentlichen Friedhof ein Grab zu kaufen, da es zu viele Menschen gebe und zu wenig Platz. Am liebsten hätte er ein Grab auf einem städtischen Friedhof. Für Herrn Kondo liegt der Patientenverfügung demnach ein generelles Problembewusstsein zugrunde. Er sieht sie als notwendige Vorkehrung, ab einem gewissen Alter, ebenso wie Trauerfeier und Grab, um für das eigene Lebensende Verantwortung zu übernehmen. Eines ähnlichen Narrationsmusters bedient sich auch die 88-jährige Frau Ono. Sie spricht ebenfalls von einem generellen Problembewusstsein, das sich bei ihr durch Krankenhausbesuche bei Sterbenden oder durch Erzählungen von Menschen aus ihrem sozialen Umfeld einstellte. Sie spricht nicht von einzelnen Erlebnissen, sondern resümiert, dass heutzutage Maßnahmen wie künstliche Ernährung und Beatmung zur Verfügung stehen und dass durch diese technischen Möglichkeiten auch Menschen im Koma am Leben erhalten werden. Diese Zustände würden das soziale Umfeld belasten, weil ihnen Kummer bereitet wird. Sie selbst lehne lebensverlängernde Maßnahmen für sich ab und wünsche, natürlich zu sterben. Sie greift das Motiv der sozialen Belastung an einer späteren Stelle noch einmal auf und erklärt, ihre Generation sei dazu erzogen worden, mehr an andere zu denken als an sich selbst. Für die Frauen ihrer Generation habe das geheißen, nicht über ihr eigenes Glück nachzudenken, sondern das Wohlergehen ihrer Kinder zur eigenen Lebensaufgabe zu machen. Die nachfolgenden Generationen denken anderes, erklärt Frau Ono. Heute denke man zuerst an sich selbst. Neben kritischen Gedanken zu einer selbstbezogenen Lebensweise hebt Frau Ono hervor, dass sich die Menschen heutzutage mehr mit ihrer Zukunft und auch mit
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dem Alter auseinandersetzen. Sie selbst habe sich früher keine Gedanken über das Alter gemacht hat. Das sei ein Fehler gewesen. Sie bezeichnet die Auseinandersetzung mit dem Alter und Lebensabend als notwendig, wolle man nicht zu einer Belastung für andere werden. Frau Ono lebt auf dem gleichen Grundstück wie ihr Sohn und seine Frau, die Enkelkinder haben eigene Familien gegründet und leben im Ausland. Sie betont, dass sie seit dem Tod ihres Ehemannes vor 43 Jahren (1965) versucht, so selbstständig wie möglich ihren eigenen Haushalt zu führen und der Familie keine Sorgen zu bereiten. In diesem Zusammenhang erzählt sie von einem Unfall, der sich nur wenige Wochen vor dem Interview ereignete. Frau Ono kam von einem Arztbesuch und kaufte auf dem Nachhauseweg Geschenke für ihre Urenkel, die zu Besuch gekommen waren. Die Geschenke ließ sie nicht vom Kaufhaus nach Hause schicken, sondern verstaute sie unterwegs auf ihrer Gehhilfe (silver-car). Durch das schwere Gepäck kippte ihr silver-car auf der Rolltreppe im Bahnhof um und sie stürzte. Der Bahnsteigaufseher rief den Notarzt, der Frau Ono ins Krankenhaus bringen ließ. Der Sturz ging zwar glimpflich aus, doch zieht Frau Ono im Rückblick die Bilanz, dass sie ihrer Familie Sorgen bereitet hat, weil sie selbstständig sein wollte und nicht um Hilfe gebeten hat. Über ihr Alter spricht Frau Ono vor allem im Vergleich mit der Lebenserwartung ihrer verstorbenen Verwandten. In ihrer Familie seien fast alle um die 60 Jahre alt geworden. Als sie 70 Jahre alt wurde, habe sie das bereits als außergewöhnlich alt empfunden und das sei der Zeitpunkt gewesen, an dem sie ihrer Familie die Patientenverfügung überreicht hat. Ihr Alter kann in gewissem Sinn als Anlass für die Patientenverfügung gedeutet werden. Doch weist die Erzählung von Frau Ono größere Parallelen mit dem generellen Problembewusstsein von Herrn Kondo auf. Die Mitteilung der eigenen Wünsche für Behandlungen in der Sterbephase steht irgendwann an und wird mit fortschreitendem Alter immer dringlicher. Frau Ono suchte zunächst das Gespräch mit ihrer Familie, um sie über ihre Gedanken in Kenntnis zu setzen, damit die Angehörigen ihre Wünsche stellvertretend den Ärzten übermitteln können. Ihre Familie legt ihr im Gespräch nahe, ihre Wünsche schriftlich niederzulegen mit der Begründung, dass die stellvertretende Übermittlung ihrer Worte so von den Ärzten eher befolgt werde. Da ihr Sohn sich gut mit diesen Angelegenheiten auskenne, habe er für sie das Tippen der Patientenverfügung übernommen und alle Familienmitglieder hätten ihren Stempel als Zeichen der Zustimmung unter das Schriftstück gesetzt. Frau Ono ist nicht Mitglied in der JSDD geworden. Die Familie habe die Patientenverfügung an einem sicheren Ort gut verwahrt, erklärt sie. Jedoch sei das schon mehr als zehn Jahre her und sie hätten in der Zwischenzeit das alte Haus
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abgerissen und zwei neue Häuser gebaut. Beim Umzug scheint die Patientenverfügung verloren gegangen zu sein, das sei ihr erst aufgefallen, als sie das Dokument für mich heraussuchen wollte. Auch für den 70-jährigen Herrn Watanabe30 haben Überlegungen über seine eigene Lebenserwartung eine entscheidende Bedeutung für seine Einstellung zum Tod (s. Kapitel 4.2.1). Er begreift Patientenverfügungen als Vorkehrung, der ein generelles Problembewusstsein zu lebenserhaltenden Maßnahmen in der Sterbephase zugrunde liegt. Doch unterscheidet sich die Erzählung von Herrn Watanabe grundlegend von allen anderen Interviewpartnern. Herr Watanabe bezeichnet den Tod seines Vaters und seiner Mutter als Anlass, sich mit der Problematik von Entscheidungsfindungen zum Lebensende auseinanderzusetzen. Durch seine Tätigkeit als Herausgeber der Organisationszeitschrift der JSDD wusste er schon lange von der Möglichkeit einer Patientenverfügung. Jedoch entschloss sich Herr Watanabe erst nach zehn Jahren als Herausgeber bei der JSDD und etwa acht Jahre nach dem Tod seiner Mutter dazu, eine Patientenverfügung abzuschließen und Mitglied in der JSDD zu werden. Es gebe alle möglichen Gründe, sich mit der Problematik auseinanderzusetzen, doch meistens sei es der Tod eines nahen Verwandten, der zum Nachdenken veranlasst, erklärt Herr Watanabe zu Beginn des Interviews. In seinem Fall sei es der Tod seines Vaters und seiner Mutter gewesen, die im hohen Alter aufgrund einer Krankheit verstarben. Beide Todesfälle geben ihm aus unterschiedlichen Gründen bis heute zu denken. Sein Vater wurde über 90 Jahre alt und verstarb etwa 1995. Den Tod seines Vaters stellt Herr Watanabe als schlechten Tod dar, aufgrund dessen er sich immer noch Vorwürfe mache. Sein Vater war dement und starb über Nacht in einem Altersheim, in das er erst eine Woche vor seinem Tod aus dem Krankenhaus verlegt worden war. Als Todesursache gibt Herr Watanabe an, dass sein Vater sich wahrscheinlich nachts an seinen eigenen Sekreten verschluckte und erstickte, weil das Pflegepersonal seine Atemnot nicht bemerkte:
30 Herr Watanabe ist um 1939 geboren und im Jahr 2009, zum Zeitpunkt des Interviews, 70 Jahre alt. Unter den Interviewpartnern nimmt er eine besondere Rolle ein, da er mir als Mitarbeiter der JSDD bei der Vermittlung von Interviewpartnern behilflich war. Er organisierte für mich mehrere Interviewtermine. Bevor ich ihn interviewte, stellte er mir Frau Chibana vor. Er und eine Sekretärin waren während des Interviews mit Frau Chibana im selben Büro, hielten sich jedoch im Hintergrund. Nach dem Interview mit Frau Chibana setzten wir nahtlos mit seinem Interview fort. Nachdem Herr Watanabe seine erste Stegreiferzählung abgeschlossen hat, ging das Interview in ein Gespräch über, an dem sich auch Frau Chibana aktiv beteiligte.
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»Als sie morgens aufwachten, war er tot. Wenn etwa [die Luftröhre] verstopft ist, wenn [die Luftröhre] von irgendwas, Schleim oder so verstopft wird und niemand da ist, es keine Hilfe gibt, dann stirbt man. Auf diese Art ist er gestorben. Ich bereue das heute noch, man könnte sagen, ich habe heute noch ein schlechtes Gewissen. Weil ich beispielsweise nicht da war als mein Vater gestorben ist, weil er auf diese Art gestorben ist, habe ich ein sehr starkes Bedauern, das zu einem Gefühl der Befangenheit geworden ist.«
Seine Mutter habe noch sieben Jahre nach dem Tod des Vaters allein in seinem Elternhaus gelebt. Seine Mutter schildert er als bemerkenswerte Frau, die nach ihren eigenen Vorstellungen lebte. Im Alter von 90 Jahren habe sie beschlossen das alte Haus nach ihren eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen umbauen zu lassen. Dort habe sie dann noch vier weitere Jahre gelebt, bis sie im Alter von 94 Jahren ins Krankenhaus kam und Lungenkrebs diagnostiziert wurde. Herr Watanabe beschreibt bis zu diesem Zeitpunkt seine Mutter als gesunde und aktive (genki na), selbstständige Frau. Im Jahr 2002 wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert und starb dort nach einem Monat. Mit der Beschreibung des Krankenhausaufenthalts seiner Mutter wechselt er die Erzählperspektive und berichtet aus der Sicht der Entscheidungsträger, zu denen seine Mutter nicht gehörte. Herr Watanabe wurde von den Ärzten über die Lungenkrebs-Diagnose seiner Mutter unterrichtet. Das Krankenhaus habe unter enormem Druck gestanden, erklärt er. Aufgrund des Alters seiner Mutter waren die Ärzte der Meinung, es sei besser nicht zu operieren, und sie konsultierten Herrn Watanabe, um seine Zustimmung einzuholen. Herr Watanabe und seine jüngeren Brüder stimmten dem Vorschlag auf Behandlungsverzicht der Ärzte zu. Als Grund für ihre Entscheidung führt Herr Watanabe Äußerungen seiner Mutter über die Zufriedenheit mit ihrem Leben und ihrer Lebensdauer an: »Meine Mutter sagte immer, sie habe ausreichend gelebt, sie habe mehr als andere ausreichend gelebt. Deswegen reiche es, falls irgendetwas sein sollte, sei es damit gut. Und sie sagte enthusiastisch so etwas wie, sie wolle schnell dorthin gehen, wo alle ihre [verstorbenen] Freunde sind. Dass unsere Mutter solche Dinge gesagt hatte, war unser Grund. Aber in Wahrheit gab es keinen Beweis dafür, es war einzig und allein, dass wir das sagten.«
Seine Begründung bezeichnet Herr Watanabe als einen geläufigen Grund, der in solchen Fällen angeführt wird. Und auch Long kommt in ihren Studien zu der Feststellung, dass bei alten Menschen in Japan der Tod eher akzeptiert werde als bei jungen Menschen (vgl. Long 2002: 311 f.).
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Zur Entscheidungsfindung erläutert Herr Watanabe, die Ärzte hätten zwar zwei-, dreimal nachgefragt, um sich der Entscheidung von Herrn Watanabe und seinen Brüdern zu versichern, jedoch keinen Beleg für ihre Begründung gefordert oder die Mutter von Herrn Watanabe in die Entscheidungsfindung mit einbezogen. Herr Watanabe kommt zu einem späteren Zeitpunkt im Interview auf die Bedeutung des informed consent Prinzips zu sprechen, das seiner Meinung nach die Basis für einen würdevollen Tod darstellt. Wenn er im Nachhinein an den Krankenhausaufenthalt und Tod seiner Mutter denke, dann sei das Prinzip des informed consent in keinerlei Weise beachtet worden. Herr Watanabes Kritik bezieht sich hauptsächlich auf die Kommunikation zwischen den Ärzten und Angehörigen. Er sagt, die Erklärungen der Ärzte hätten nicht ausgereicht. Die Gespräche zwischen Arzt und Familie seien seiner Meinung nach nicht so geführt worden, wie es für eine informierte Entscheidung nötig gewesen wäre, sondern die Ärzte hätten einzig und allein die Zustimmung der Angehörigen eingeholt, ohne die einzelnen Möglichkeiten mit ihren Vorund Nachteilen zu erklären. Auf die erste Entscheidung, keinen chirurgischen Eingriff vorzunehmen, folgten die nächsten Situationen, für die entschieden werden musste, welche Maßnahmen ergriffen oder unterlassen werden sollten. Herr Watanabe erinnert sich, die Ärzte hätten gefragt, »Ist es in Ordnung, wenn wir nichts unternehmen?« und seien nicht näher auf die verschiedenen Möglichkeiten wie künstliche Beatmung oder Herzmassage etc. eingegangen. Sie hätten sich mit der Antwort »Bitte machen sie das Lebensende für sie friedlich und natürlich« zufrieden gegeben. Herr Watanabe erinnert sich an den Tod seiner Mutter als sehr natürlich. Im Gegensatz zum Tod des Vaters waren beim Eintreten des Todes der Mutter auch alle Söhne anwesend. Im Vergleich mit dem Tod seines Vaters schildert Herr Watanabe die äußeren Umstände beim Eintritt des Todes seiner Mutter als gute Voraussetzungen für die Bewertung als ›guter Tod‹. Er nimmt jedoch keinerlei explizite Bewertung vor. Er verliert auch kein Wort darüber, welchen Eindruck seine Mutter auf ihn während der letzten Tage oder Stunden ihres Lebens machte. Er bleibt in der Rolle des Entscheidungsträgers, der noch Jahre später mit sich hadert, ob alles richtig verlaufen ist: »Seitdem sind einige Jahre vergangen, doch lässt es mich die ganze Zeit, während ich weiterlebe, nicht los. Als ihr Kind habe ich nach eigenem Gutdünken gesagt, dass meine Mutter so etwas gesagt hat (lacht). Daran gibt es keinen Zweifel, aber, also wenn es zu meinen eigenen Angelegenheiten kommt, also wenn demnächst ich im Sterben liege und meine Kinder letztendlich die gleichen Dinge... (lacht)«
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Vor allem damit sich seine Kinder nicht wie er im Nachhinein fragen müssen, ob sie das Richtige getan haben, sei ihm zufolge eine Patientenverfügung wichtig. Jedoch veranlassen seine Erfahrungen und diese Überlegungen Herrn Watanabe nicht dazu, eine Patientenverfügung zu verfassen. Zehn Jahre lang begegnete er der Patientenverfügung mit Skepsis und hatte bis vor kurzem kein Vertrauen in ihre Zuverlässigkeit – er sei nicht zufrieden gewesen. Seine Wünsche oder Forderungen klar und deutlich aufzuschreiben, das hätte ihm keine Schwierigkeiten bereitet. Seine Zweifel und seine Unzufriedenheit beziehen sich darauf, dass Patientenverfügungen in Japan nicht ausreichend gesellschaftlich akzeptiert werden. Die Zuverlässigkeit oder der Wert der Patientenverfügung werde weder vom Verfasser noch von der JSDD festgelegt, sondern durch die gesellschaftliche Anerkennung, die sie erfahre. Jedoch habe sich in den letzten zehn Jahren einiges geändert: »Japan ist endlich dort angekommen. Wie gesagt, der Wert oder die Geltung des Living Wills die werden nicht vom Living Will entschieden, sondern vom Zeitalter und von der Gesellschaft zu dieser Zeit. [...] Heute ist sie noch auf dem Weg, aber es kommt langsam.«
Eine gesetzliche Garantie der Patientenverfügung gebe es nicht, aber verschiedene Richtlinien zur Achtung des individuellen Willens, und in der Öffentlichkeit werde immer mehr über die Problematik von medizinischen Behandlungen am Lebensende diskutiert. Herr Watanabe stellt eine Wertsteigerung der Patientenverfügung fest und ist zufrieden mit den Entwicklungen – auch wenn die Patientenverfügung noch nicht die volle Anerkennung erfährt. Verfolge man den Living Will zurück, dann habe er zu Gründungszeiten der JSE nicht viel mehr Wert gehabt als den eines Stück Papiers. Die Wertschätzung von Patientenverfügungen sei gestiegen und werde wahrscheinlich weiter zunehmen, erläutert Herr Watanabe seine Gedanken. Nur wenige Monate vor dem Interview fällte Herr Watanabe die Entscheidung, der JSDD beizutreten. 3.2.2 Zugeschriebene Bedeutungen und die Funktionen der Patientenverfügung Ebenso wie das Problembewusstsein mit konkreten Erfahrungen verbunden ist, basieren auch die zugeschriebenen Bedeutungen auf den Erlebnissen der Interviewten und sind eng verknüpft mit der Wahrnehmung der eigenen sozialen Si-
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tuation. Welche Bedeutungen die einzelnen Personen ihren Patientenverfügungen zuschreiben, hängt von den sozialen Beziehungen ab, die sie mit Blick auf ihr Lebensende als relevant erachten. Dabei variieren die Bedeutungen je nach Fokus des antizipierten sozialen Kontexts und den Wertvorstellungen der bedachten Personen. So kann die Patientenverfügung einerseits als Absicherung für den Ehepartner gedacht sein, wenn der Verfasser von einer Übereinstimmung der eigenen Werte mit denen des Partners ausgeht oder sich zumindest der Akzeptanz seiner eigenen Wünsche sicher ist. Auf der anderen Seite kann die Patientenverfügung als Abwehr von Angehörigen oder auch Ärzten gedacht sein, deren Wertvorstellungen von den eigenen abweichen. Basierend auf den Bedeutungszuschreibungen, welche die Interviewten im Interview vornehmen, werden im Folgenden verschiedene Funktionen der Patientenverfügungen vorgestellt. Die Stellvertreterfunktion der Patientenverfügung Eine wichtige Bedeutung der Patientenverfügung ist, dass sie als Stellvertreter gedacht wird. Zum einen kann sie eine Stellvertreterfunktion für den Verfasser der Patientenverfügung übernehmen. Dann soll sie den Willen des Verfassers für zukünftige Situationen übermitteln und ihn oder sie als Entscheidungsträger ersetzen, falls er oder sie nicht dazu in der Lage sein sollte, den eigenen Willen mitzuteilen und selbst zu entscheiden. In dieser Funktion ist die Patientenverfügung eng mit dem Gedanken verknüpft, für die eigenen Belange vorsorglich Verantwortung zu übernehmen. Wenn die Verfasser der Patientenverfügung davon ausgehen, dass es eine oder mehrere Personen in ihrem persönlichen Umfeld gibt, die stellvertretend für sie Entscheidungen übernehmen und ihre Wünsche übermitteln werden, dann kann die Patientenverfügung auch als Unterstützung für diesen Stellvertreter gedacht sein. Hier gibt es zwei Varianten in den Bedeutungszuschreibungen. Zum einen wird die Patientenverfügung als Entlastung für die stellvertretend entscheidenden Angehörigen gedacht. Die Patientenverfügung soll in diesem Fall die Wünsche des Verfassers übermitteln und den Angehörigen eine schwierige Entscheidung erleichtern oder ihnen bestätigen, dass sie im Sinne des Verfassers handeln. Zum anderen wird der Patientenverfügung jedoch auch die Bedeutung zugeschrieben, als Beweisstück für die Angehörigen zu dienen, wenn sie den behandelnden Ärzten den Willen des Verfassers übermitteln. Die Patientenverfügung kann auch als Ersatz für den Stellvertreter gedacht sein. Dies ist in den Erzählungen von Frau Chibana, Frau Fukui und Frau Kondo angedeutet. Sie verstehen sich als Verantwortliche für das Wohlergehen ihrer Ehemänner und als stellvertretende Entscheidungsträgerinnen. Für den Fall, dass
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sie selbst die Stellvertreterfunktion nicht mehr übernehmen können, soll die Patientenverfügung des Ehepartners diese übernehmen. Die Patientenverfügung in der direkten Stellvertreterfunktion – wie sie im Diskurs thematisiert wird – kommt als Bedeutungszuschreibung in den Interviews nie als alleinige Funktion vor. Frau Minami sieht zuallererst in der Patientenverfügung ein Instrument, um die eigenen Wünsche zu dokumentieren. Sie geht davon aus, dass sich ihre Einstellung ändern könnte, jedoch möchte sie, dass ihre bestehende Erklärung als ihr aktueller Wille angesehen wird. In Bezug auf ihre Krankheit schreibt Frau Minami der Patientenverfügung die Bedeutung zu, ihren Willen in Notfallsituationen zu übermitteln. Sie versteht die Patientenverfügung zusammen mit einer Notfallkarte für Patienten mit schweren neuronalen Erkrankungen als Absicherung für den Fall, dass ihre eigene Atmung lebensbedrohlich eingeschränkt sein sollte. Hiermit will sie verhindern, dass sie an die künstliche Beatmung angeschlossen wird. Sie möchte vermeiden, dass sie in einen Zustand kommt, in dem sie ihren Willen nicht mehr mitteilen kann und bloß am Leben erhalten wird (s. Kapitel 3.2.1). Aus diesem Grund hängen die Dokumente, die sie als Vorkehrung für den Notfall verfasst hat, über ihrem Bett an der Wand. Sie hat mit ihrem Mann vereinbart, dass er den Notarzt ruft, falls ihre Atmung versagt, dem Notarzt ihre Willenserklärungen überreicht und im Krankenwagen mitfährt. Vorkehrungen zu treffen hat einen wichtigen Stellenwert für Frau Minami. Neben der Notfallkarte und der JSDD-Mitgliedschaft spricht sie auch davon, dass sie im ersten Jahr der Krankheit ihr Testament verfasste und ihren Besitz regelte sowie in ihrem sozialen Umfeld ihre Dankbarkeit für empfangene Hilfe ausdrückte (s. Kapitel 4.1.3). Des Weiteren hat sie verschiedene aufbauende Textstellen vorbereitet für Tage, an denen es ihr nicht gut geht, und verschiedene Vorkehrungen getroffen für den Fall, dass sie sich verbal nicht mehr gut ausdrücken kann. Berichte über andere ALS-Patienten, die keine Willensäußerung vorbereitet hatten und routinemäßig an die Beatmung angeschlossen wurden, sowie ihre eigenen Erfahrungen, dass ihre Mutter ohne Rücksprache der Ärzte künstlich beatmet wurde, führt Frau Minami als Erklärung für die Notwendigkeit der Vorausverfügung ihres Willens an. Die Stellvertreterfunktion ihrer Patientenverfügung ist in diesem Sinne als Übermittlung ihres Willens für den Notfall zu verstehen und enthält auch die Bedeutungskomponente, sie vor Routineeingriffen zu schützen. In diesem Kontext ist ihre Patientenverfügung auch als Abwehr von Fremdbestimmung zu verstehen.
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Bei Frau Chibana steht der Aspekt, nach ihrem eigenen Willen behandelt zu werden, im Vordergrund ihrer Narration. Den Inhalt des Vortrags, den sie als Anlass für ihren Beitritt zur JSDD bezeichnet, paraphrasiert sie als Rede darüber, »dass man nicht dem eigenen Willen gemäß sterben kann« (s. auch Kapitel 3.2.1), wenn keine Patientenverfügung vorliegt. Und auf die Nachfrage, worum genau es damals in dem Vortrag gegangen sei, fasst sie zusammen: »Ja, worum ging es? So wie es da [in der Broschüre] steht. Wenn man den eigenen Willen vorsorglich registriert für den Fall, dass man plötzlich durch einen Verkehrsunfall zum vegetativen Menschen wird, auch wenn man den eigenen Willen nicht mehr übermitteln kann, wenn man so etwas [wie einen Living Will] hat... Ja, so in etwa. Und weil man der Familie das klar mitteilen sollte, war das sehr – wie ein o mamori [Talisman] war das für mich. Als ich [den Living Will] erhalten habe, da war ich sehr erleichtert und beruhigt.«
Die Ablehnung von lebenserhaltenden Maßnahmen – falls sie in ein irreversibles Koma fallen sollte – sind durch ihre Erfahrungen der Bezugspunkt für ihre Überlegungen und ihr Problembewusstsein. Angesichts der Situation ihrer Tante, die über mehrere Jahre im Koma lag, überlegte sie, was sie in diesem Zustand wollen würde. Frau Chibana bezeichnet die Patientenverfügung als o mamori, ein Symbol des Schutzes oder eine Art Talisman, wie sie in schintoistischen Schreinen verkauft werden. Die Patientenverfügung von Frau Chibana erfüllt in diesem Sinne die Funktion, ihren Willen zu übermitteln und sie dadurch symbolisch zu schützen. Zum Zeitpunkt als Frau Chibana die Patientenverfügung verfasste, war ihr Mann schon auf ihre Pflege angewiesen. In Bezug auf ihren Mann erfüllte die Patientenverfügung die Funktion eines Kommunikationsmittels über seine Wünsche und Vorstellungen eines guten Todes. Und auch ihre Töchter bezieht Frau Chibana in ihre Überlegungen mit ein und schreibt ihrer Patientenverfügung in dieser Beziehung eine absichernde Bedeutung zu. Den eigenen Willen für zukünftige Situationen zu übermitteln, ist eng verknüpft mit der Absicht, für die eigene Zukunft vorsorglich Verantwortung zu übernehmen. Dies drücken Frau und Herr Kondo besonders deutlich aus. Bei ihnen steht das Motiv, für die eigenen Angelegenheiten selbst Verantwortung zu übernehmen, im Vordergrund ihrer Erklärungen zur Bedeutung der Patientenverfügung. Beide erwähnen, dass sie keine Kinder haben, die stellvertretend entscheiden könnten. Die Patientenverfügung übernimmt somit eine Stellvertreterfunktion, falls der Ehepartner nicht stellvertretend entscheiden kann. In diesem Sinne ersetzt die Patientenverfügung sowohl den Ehepartner als Stellvertreter als
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auch den Verfasser als Entscheidungsträger. In den Worten von Herrn Kondo lautet die Erklärung: »Weil wir keine Kinder haben, wenn einer von uns beiden vor dem anderen geht [stirbt], dann muss der Übriggebliebene entscheiden. Deswegen denke ich, man sollte, so gut es geht, selber über die eigenen Angelegenheiten [entscheiden].«
Der ›Übriggebliebene‹ ist der Betreffende selbst, der eine Patientenverfügung braucht, um für sich Verantwortung übernehmen zu können, falls der Ehepartner vor ihm sterben sollte. Herr Kondo und Frau Kondo äußern sich in den jeweiligen Interviews fast übereinstimmend zur Bedeutung, welche sie der Patientenverfügung zuschreiben (für den direkten Wortlaut von Frau Kondo s. Kapitel 3.2.1). Die Kinderlosigkeit spielt für die Patientenverfügung in einer weiteren Hinsicht eine wichtige Rolle. Da sie keine Kinder haben, müssen sie auch nicht bedenken, welche Auswirkungen ihre Wünsche für etwaige Kinder hätten. 31 Es gibt in dieser Hinsicht keine familiären Beziehungen, die zu bedenken oder die im Voraus zu regeln wären. Es gibt niemanden, für den sie aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehungen Verantwortung tragen und der auf sie angewiesen ist. Frau Kondo geht davon aus, dass sie ihre Mutter und Großmutter überleben wird, ansonsten gibt es in ihrem familiären Umfeld niemanden mehr. Dadurch dass Herr Kondo der zweitgeborene Sohn ist und seine Mutter bei seinem älteren Bruder lebt, trägt er für die Pflege seiner Mutter keine Verantwortung mehr. Seine Verwandten kommen auch nicht als stellvertretende Entscheidungsträger infrage. Herr Kondo schreibt seiner Patientenverfügung in Bezug auf seine Mutter und seinen älteren Bruder vielmehr eine Abwehrfunktion zu. Ihre Patientenverfügung versteht Frau Chibana nicht nur als Schutz ihres eigenen Willens, sondern schreibt ihr darüber hinaus eine entlastende Bedeutung für ihre Töchter zu. Für die Angehörigen sei es oft schwer, medizinische Maßnah-
31 Die Sicht auf die eigene familiäre Situation als ›Ehepaar zu zweit‹ wird auch von Frau Minami hervorgehoben. Sie betont zudem, dass sie und ihr Mann jeweils ein selbstständiges Leben führen und ihre Entscheidungen für sich selbst treffen (s. Kapitel 5.4.2). Frau Minami ruft im Verlauf des Interviews ihren Mann hinzu, damit er ihre Aussagen bestätigt. Herr Minami ist auch Mitglied in der JSDD und bedient sich eines ähnlichen Motivs wie Frau und Herr Kondo. Er bezieht sich zudem darauf, dem sozialen Umfeld nicht zur Last werden zu wollen: »Weil wir nur zu zweit sind. Und weil man das Umfeld nicht belasten kann«.
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men stellvertretend abzulehnen, erklärt Frau Chibana. Wenn jedoch eine Patientenverfügung vorliege, dann sei es für sie einfacher. Die Töchter nicht belasten zu wollen, ist ein Motiv, das Frau Chibana schon im Zusammenhang mit ihrer Trauer über den Tod ihres Mannes deutlich ausdrückte. Am Totenbett ihres Mannes hätten sie zusammen getrauert, in der Zeit danach jedoch wurde das Sei to Shi wo Kangaeru Kai zum Ort für Frau Chibanas Trauer. Ihre Töchter wollte sie nicht beunruhigen und auch Freunden gegenüber habe sie nicht weinen oder über ihre Trauer sprechen wollen, sondern sich zusammengerissen und bemüht, die Fassung zu bewahren. Vorkehrungen für ihre Töchter zu treffen bedeutet für Frau Chibana viel. Auf die Frage, ob sie selbst informiert werden möchte, falls sie erkranken sollte, antwortet sie, vor allem aus dem Grund wissen zu wollen, wie es um sie steht, damit sie sich von ihren Töchtern verabschieden und ihnen danken könne, solange sie noch bei Bewusstsein ist. Diesen Wunsch führt sie auf die schmerzliche Erfahrung zurück, dass ihr Mann sich nicht bewusst verabschieden konnte. Eine ähnliche Bedeutungszuschreibung nimmt Herr Watanabe vor: Er überträgt seine Erfahrungen als stellvertretender Entscheidungsträger seiner Mutter auf eine mögliche, eigene Situation. Ihn belaste auch Jahre nach dem Tod seiner Mutter noch, dass er nicht weiß, ob er wirklich in ihrem Sinne entschieden hat, auch wenn er damals nach bestem Wissen und Gewissen handelte. Er möchte vermeiden, dass seine Kinder einmal in die gleiche Lage kommen könnten und sich nach seinem Tod fragen, ob sie alles richtig gemacht haben: »Ich denke, meine Kinder werden letztendlich Ressentiments zurückbehalten, wenn sie sagen unser Vater hat gesagt, dass er solche zusätzlichen, lebensverlängernden Maßnahmen nicht möchte. Ich denke, es ist besser, wenn man ganz exakt in einem Schriftstück einen Beweis – wie sagt man, ein Beweisstück oder, um einen steiferen Ausdruck zu benutzen, wäre das dann ein Living Will, vorbereitet und hinterlässt. Meiner persönlichen Meinung nach ist das mehr für meine Kinder gedacht als für mich selbst.«
Eine Entscheidung gegen lebenserhaltene Maßnahmen – wenn nicht alles in den Möglichkeiten der modernen Biomedizin Stehende getan wird, um das Leben aufrechtzuerhalten – berge die Gefahr, dass sich die Hinterbliebenen fragen, ob sie wirklich das Richtige getan haben. Herr Watanabe möchte seinen Kindern ein Beweisstück an die Hand gegeben, das mehr ist als im Gespräch geäußerte Wünsche zu einem früheren Zeitpunkt. Die schriftliche Dokumentation der eigenen Wünsche in der Patientenverfügung enthält über die Willensäußerung zum gegenwärtigen Zeitpunkt hinaus eine Zukunftskomponente. Die Patientenverfügung wird so zum ›Beweisstück‹ und symbolisiert den in der Vergangen-
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heit gefassten Wunsch des Verfassers, dass der niedergeschriebene Wille in der Zukunft Gültigkeit haben soll. Die Patientenverfügung als Beweis bietet den Kindern somit die Sicherheit, dass sie im Sinne ihres Vaters entscheiden. In den Erläuterungen von Frau Ono nimmt die Patientenverfügung auch die Bedeutung einer Entlastung und eines Beweises für die Angehörigen an. Sie möchte durch die im Voraus getroffene Entscheidung Verantwortung für ihren Lebensabend übernehmen und ihre Familie entlasten. Der Familie keine Sorgen zu bereiten ist ein wichtiges Motiv ihrer Erzählung, das sie auf alltägliche Situationen und ihren Gesundheitszustand bezieht. Zum Beweis ihrer Wünsche wird die Patientenverfügung für den Fall, dass die Angehörigen ihren Willen stellvertretend den Ärzten mitteilen. Die Patientenverfügung soll belegen, dass die Familie wirklich ihren Willen übermittelt, und gewährleisten, dass die Ärzte ihre Wünsche befolgen. Die Familie soll demnach die direkte Stellvertreterfunktion einnehmen und die Patientenverfügung als Beweisstück gegenüber den Ärzten dienen. Ein wichtiges Motiv im Interview von Frau Kondo ist der Austausch über Vorstellungen bezüglich des eigenen Lebensendes. Sie habe alle ihre Angelegenheiten geregelt, ihr eigener Wille hänge an der Wand und sie sei Mitglied in der JSDD. Ihre Mutter habe jedoch noch keine Vorkehrungen getroffen und bisher sei es schwierig gewesen, mit ihr über diese Thematik zu sprechen. Aus ihrer Herkunftsfamilie gebe es nur noch sie und ihre Mutter.32 Sie geht davon aus, dass ihre Mutter vor ihr sterben wird. Sie habe versucht, mit ihrer Mutter über ihre Wünsche zu sprechen, aber ihre Mutter gehöre zu den Menschen, die nicht über den Tod sprechen und auch nicht über eine Krankheit wie Krebs aufgeklärt werden möchten. Ihre Mutter denke, dass eine Diagnose sie beängstigen und ihr die Kraft rauben würden, weiterzuleben. Da ihre Mutter in den letzten Jahren einige Verwandte im Sterben begleitet habe, hofft Frau Kondo, dass sich ihre Einstellung verändert hat. Frau Kondo spricht davon, dass eine Patientenverfügung nur nötig sei, wenn es niemanden gibt, der den eigenen Willen stellvertretend übermitteln kann. Sie habe jemanden, der ihre Interessen vertreten kann. Ihr Mann und sie verfolgen eine ähnliche Lebensweise und auch ihre Werte würden grundsätzlich übereinstimmen. Durch das gemeinsame Verfassen der Patientenverfügung haben sie sich miteinander über ihre Wünsche ausgetauscht. Frau Kondo überlegt in die-
32 An einer anderen Stelle erwähnt sie auch ihre 97-jährige Großmutter. Doch scheinen in dieser Überlegung weder ihre Mutter noch ihre Großmutter als geeignete Stellvertreter infrage zu kommen.
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sem Kontext, ob es für sie überhaupt Sinn mache, ihre Mitgliedschaft in der JSDD zu verlängern, da nur Menschen eine Patientenverfügung bräuchten, die niemanden haben, der stellvertretend für ihre Wünsche eintritt. Außerdem habe sie ihre handschriftliche Patientenverfügung, die ausreichen sollte. Dann überlegt sie jedoch, dass die Patientenverfügung der JSDD durch das Kartenformat im Portemonnaie für Notfälle von Vorteil sei. Frau Kondo schildert die letzte Lebensphase ihres Stiefvaters, um ihr Anliegen zu verdeutlichen, sich der Wünsche von nahestehenden Personen zu versichern, um ihnen ein gutes Lebensende zu ermöglichen. Dabei stellt sie sich selbst als Vermittlerin zwischen ihrer Mutter und ihrem Stiefvater dar. Das Verhältnis zu ihrem Stiefvater beschreibt sie als neutral bis positiv. Etwa fünf Jahre zuvor sei er an seinem dritten Schlaganfall verstorben und sie habe ihre Mutter bei der Sterbebegleitung unterstützt: »Er [mein Stiefvater] hatte ungefähr drei Schlaganfälle. Als er das zweite Mal nach einem Schlaganfall zusammengebrochen war, hatte ich die Gelegenheit, mit ihm zu zweit zu sprechen. Als ich zu ihm sagte: ›Falls du noch einmal einen Schlaganfall haben solltest, denke ich, du wirst wahrscheinlich durch Rehabilitation nicht wieder in den jetzigen Zustand zurückkehren können. Gibt es noch etwas, das du erledigen möchtest?‹ Da antwortete er: ›Es gibt nichts mehr.‹ Und: ›Ich sage es schon die ganze Zeit deiner Mutter, ich möchte keine sinnlosen Maßnahmen mehr, ich möchte keine lebensverlängernden Maßnahmen‹, sagte er. [...] Kurz darauf sprach ich mit meiner Mutter, und als ich sie fragte: ›Falls es so kommen sollte, gibt es etwas, das du tun möchtest?‹, bestätigte sie: ›Ich habe zehn Jahre lang alles getan, und weil er selber nicht sagt, dass er lebensverlängernde Maßnahmen möchte, weil ich das verstehe, denke ich, es ist gut so.‹«
Ihr Stiefvater erlitt einen dritten Schlaganfall und wachte nicht mehr aus dem Koma auf, schließt Frau Kondo die Erzählung ab. Sie erzählt von dieser Erfahrung, um darzustellen, dass sie der Kommunikation über die Wünsche und Vorstellung zwischen Sterbendem und Angehörigen einen wichtigen Stellenwert beimisst, damit der Sterbende Unerledigtes erledigen und in Frieden sterben kann und damit für alle Beteiligten der Tod als ›gut‹ bewertet werden kann. Als Anlass für ihre Patientenverfügung erzählt Frau Kondo von ihrer Beunruhigung über den beruflichen Aufgabenbereich ihres Mannes. In diesem Zusammenhang kann die Anlassnarration von Frau Kondo dahin gehend gedeutet werden, dass sie sich zum einen durch das gemeinsame Verfassen einer Patientenverfügung mit ihrem Mann seiner Wünsche versichern wollte, um für ihn als Stellvertreterin eintreten zu können, und dass zum anderen seine Patientenverfü-
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gung sie als Stellvertreterin ersetzen kann, wenn sie vor ihm sterben sollte bzw. nicht dazu in der Lage sein sollte, stellvertretend für ihn zu entscheiden. Neben der stellvertretenden Funktion der Patientenverfügung von Frau Chibana, ihren Willen in der Sterbephase zu schützen, nahm sie auch eine wichtige Bedeutung für das Verhältnis zu ihrem Mann und dem Umgang mit seiner Krankheit ein. Mit Verweis auf die Bedeutung der Patientenverfügung als o mamori erzählt Frau Chibana, als sie die Patientenverfügung abschloss, habe sie sich sicher (anshin), beruhigt und erleichtert (ki ga raku ni natta) gefühlt. Diese Sicherheit, die von der Patientenverfügung als Symbol des Schutzes ausgeht, bezieht Frau Chibana nicht nur auf ihre eigene Person, sondern auch auf ihre Rolle in der Beziehung zu ihrem Mann: »Sterben, der Gedanke, dass ich vor meinem Mann sterben könnte, war sehr, also dann hätte ich ihn nicht mehr im Sterben begleiten können. [...] Deswegen war ich sehr erleichtert und beruhigt, nachdem ich das [die Patientenverfügung] bekommen hatte.«
Frau Chibana versteht es als ihre Aufgabe als Ehefrau, sich um das Wohl ihres Mannes zu kümmern, ihn zu pflegen und auch medizinische Entscheidungen für ihn zu treffen, da sie es ist, die von den Ärzten über seinen Zustand informiert wurde und die Verantwortung übertragen bekam (s. Kapitel 2.1.3). Die Patientenverfügung ihres Mannes sieht sie als Schutz für ihn und gleichzeitig als Ersatz für sich selbst als verantwortliche Person – die Patientenverfügung ersetzt sie als Stellvertreterin. Das Fallbeispiel von Frau Chibana zeigt deutlich, dass unter Rahmenbedingungen, in denen die Aufklärung des Patienten nicht zur Standardverfahrensweise gehört, die Patientenverfügung nicht die offene Kommunikation fördert, sondern in die bestehenden Kommunikationsverhältnisse eingepasst wird. Das Koma der Tante und den Vortrag über Patientenverfügungen nutzt Frau Chibana, um mit ihrem Mann über seine Wünsche zu sprechen, ohne dabei seine eigene Situation offen zur Sprache zu bringen. Sie überprüft, ob er ihrem Anliegen, Mitglied in der JSDD zu werden, zustimmt. Ihr Ehemann trifft somit eine Entscheidung über die gewünschten Behandlungen in seiner Sterbephase, ohne jemals mit den Ärzten oder seiner Frau offen über Diagnose und Prognose gesprochen zu haben. Frau Chibana geht davon aus, dass er während der letzten Lebensjahre Bescheid wusste oder zumindest ahnte, wie es um ihn steht (s. Kapitel 2.1.3). Deswegen ist auch anzunehmen, dass er das Anliegen seiner Frau, eine Patientenverfügung abzuschließen, dementsprechend deutete und auf seine eigene Situation bezog. Die Patientenverfügung erfüllte zwischen den Ehepartnern
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somit die Funktion, das Schweigen aufrechtzuerhalten und sich trotzdem über Wünsche und Vorstellungen auszutauschen. Die Patientenverfügung als Instrument zur Vermeidung von Konflikten am Sterbebett und zur Abwehr von Fremdbestimmung Durch Erfahrungen mit Konflikten am Sterbebett oder durch generelle Erfahrungen, dass die eigenen Lebenseinstellungen und Werte von denen anderer abweichen, erhält die Patientenverfügung eine Abwehrfunktion. Frau Minami bringt deutlich zur Sprache, dass sie aufgrund der Erfahrungen mit Konflikten zwischen den Angehörigen und Ärzten im Fall ihrer Mutter in der Patientenverfügung eine Möglichkeit sah, durch die im Voraus verfügten Wünsche zur Klärung beizutragen und Fremdbestimmung abzuwehren. Eine Patientenverfügung hätte damals zur Klärung der Differenzen zwischen ihr und den Angehörigen sowie den Ärzten beitragen können. Der niedergeschriebene Wille hat in ihrer Vorstellung Autorität und verhindert, dass andere ihre Vorstellungen eines guten Todes durchsetzen, die konvergierende Normen vertreten. In diesem Sinne erhält die Patientenverfügung durch ihre klärende Wirkung und die Autorität des Patientenwillens auch eine abwehrende Funktion gegenüber Zwangsbehandlung und Fremdbestimmung. Zudem erfüllt die Patientenverfügung für diejenigen, die im Sinne des Sterbenden handeln, eine entlastende Funktion und gibt ihnen die Sicherheit, das Richtige zu tun. Frau Minamis Beitritt zur JSDD liegt zum Zeitpunkt des Interviews schon zehn Jahre zurück. Zu Beginn verlängerte sie jährlich ihre Mitgliedschaft und überprüfte, ob sich ihre Einstellung geändert hat. Damals war sie gesund und die Ablehnung, von Maschinen am Leben erhalten zu werden, falls sie nicht mehr aktiv am Leben teilhaben kann, basierte auf ihren beruflichen und privaten Erfahrungen in der Pflege. Durch ihre eigene Krankheit, von der sie drei Jahre vor dem Interview erfuhr, änderte sich nichts Grundlegendes an ihrer Einstellung gegenüber lebenserhaltenden Maßnahmen. Jedoch veränderte sich durch die Krankheit die Bedeutung ihrer Patientenverfügung insofern, als sie nun für eine konkrete Entscheidungssituation gedacht ist. Auch scheint die Abwehrfunktion gegenüber Angehörigen oder auch die klärende Funktion in den Hintergrund getreten zu sein. Ihr familiäres Umfeld weiß von ihrer Entscheidung, die Telefonnummer ihres Bruders und ihres Neffen sind auf ihrer Notfallkarte eingetragen und auch ihr Arzt akzeptiert ihre Entscheidung und hat einen Vermerk in ihre Patientenakte gemacht. Lediglich durch den Wunsch, nicht gegen ihren Willen an die künstliche Beatmung angeschlossen zu werden, besteht die Abwehrfunktion weiter fort.
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Auch Frau Chibana hat in ihrer Erzählung vom Anlass für ihre Patientenverfügung von dem Konflikt zwischen ihrer Cousine und ihrem Cousin am Krankenbett der Tante und von Konflikten zwischen ihrer Cousine und dem behandelnden Arzt gesprochen. Sie sagt zwar, dass diese Situation sie veranlasst habe, über ihre eigenen Wünsche nachzudenken, und sie sieht die Patientenverfügung als Schutz für ihren Willen in der Sterbephase, doch spricht sie nicht direkt von einer abwehrenden oder konfliktlösenden Bedeutung. Hinsichtlich ihrer Familie scheint es auch keinen Anlass dazu zu geben, denn ihre Töchter akzeptieren ihre Wünsche und ihre älteste Tochter hat eine Kopie ihrer Patientenverfügung und werde sie den Ärzten zeigen, falls es erforderlich sein sollte. In Bezug auf eine Missachtung ihres im Voraus verfügten Willens seitens der Ärzte besteht eine gewisse Restunsicherheit, jedoch vertraut sie auf die Hilfe der JSDD und hat positive Erfahrungen mit der Patientenverfügung ihres Ehemannes gemacht. Herr Kondo hingegen bezieht sich nicht auf konkrete Erfahrungen von Konflikten in der Sterbephase, beschreibt jedoch sein Verhältnis zu seiner Mutter und seinem Bruder als distanziert und sieht in ihren Wertvorstellungen und ihrer Lebensweise grundlegende Differenzen zu seinen eigenen. Er schildert das potenzielle Risiko, dass es zwischen seiner Frau und seiner Herkunftsfamilie zu Konflikten an seinem Sterbebett kommen könnte, und schreibt der Patientenverfügung in Bezug auf seine Mutter und seinen Bruder eine abwehrende und in Bezug auf seine Frau eine unterstützende Bedeutung zu: »Wir leben nicht zusammen, aber zum Beispiel mein älterer Bruder und meine Mutter, die noch lebt, meine Verwandten haben eine vollkommen andere Denkweise. Sie sind sehr conservative, sie denken auf die Art, wie man das früher getan hat. Deswegen, also falls mir etwas zustoßen sollte, dann würde der Wille meiner Frau und meiner Verwandten nicht zusammenpassen. Das ist auch schlecht.« (Englisch im Original)
Da Entscheidungen in der Sterbephase für das soziale Umfeld schwierig zu treffen seien, sollte man im Voraus entscheiden, leitet Herr Kondo diese Erklärungen zum Verhältnis zwischen seiner Mutter und seinem Bruder auf der einen Seite und seiner Ehefrau auf der anderen ein. In diesem Sinne trifft er durch die Patientenverfügung Vorkehrungen, mögliche Konflikte zwischen diesen beiden Parteien zu vermeiden und durch seinen im Voraus verfügten Willen seine Frau zu stärken, sollte sie in die Situation kommen, sich gegen seine Angehörigen durchsetzen zu müssen. Seiner Mutter und seinem Bruder hat er nichts von der Patientenverfügung erzählt. Sie gehören zu den Menschen, die nicht über Sterben und Tod sprechen wollen, erklärt Herr Kondo. Mögliche Schwierigkeiten
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durch Gespräche im Vorhinein zu vermeiden, scheint demnach keine Option zu sein. Die Patientenverfügung als Instrument zum würdigen, natürlichen oder dem Selbstbild entsprechenden Sterben Frau Chibana erwähnt in Bezug auf den Vortrag, durch den sie das erste Mal von der JSDD hörte, dass die Organisation damals noch Nihon Anrakushi Kyôkai geheißen habe. Das anrakushi (Euthanasie/Sterbehilfe) im Namen der Organisation habe sie sehr gestört, aber der Inhalt des Vortrages habe ihr Interesse geweckt.33 Später im Interview erklärt sie auf die Frage, weshalb sie anrakushi beunruhigte, dass sie ein ungutes Gefühl gehabt hätte und der Begriff zweideutig und vage sei (bakuzen). Beim würdevollen Sterben (songenshi) stehe der eigene Wille im Vordergrund, erklärt Frau Chibana. Bei anrakushi könne auch der eigene Wille eine Rolle spielen, aber es werde die Hilfe einer anderen Person benötigt. Frau Chibana spielt damit auf die Bedeutungskomponente der aktiven Sterbehilfe an. Bei songenshi hingegen gehe es darum, dass der eigene Wille, Behandlungen zu unterlassen und Schmerzen zu lindern, befolgt werde. Frau Kondo erklärt schon zu Beginn des Interviews, dass würdevolles Sterben für sie einen hohen Stellenwert habe. Durch ihre beruflichen Erfahrungen wisse sie jedoch auch, dass dies nicht für alle Menschen gelte, und das akzeptiere sie. Diese Äußerung von Frau Kondo mag verwundern, ist es doch nur schwer vorstellbar, dass es jemanden geben könnte, der es ablehnt in Würde zu sterben. Verständlich wird diese Aussage von Frau Kondo erst, wenn man bedenkt, dass ›Würde‹ (songen) ein Begriff ist, der in der Alltagssprache kaum verwendet wird und erst in seiner Verbindung mit ›Tod/Sterben‹ (shi) in den Medien Verbreitung findet. Vor allem durch die Umbenennung der JSE in ›Japan Society for Dying with Dignity‹ (Nihon Songenshi Kyôkai) und dem Begriff von ›würdevolles Sterben‹ als Metapher für die Ablehnung von lebenserhaltenen Maßnahmen am Lebensende wird verständlich, dass Frau Kondo hier nicht von Menschen spricht, die im wörtlichen Sinn nicht ›würdevoll‹ sterben wollen, sondern von Menschen, die Apparatemedizin und den Erhalt des Lebens so lange wie
33 Frau Chibana datiert ihren Beitritt zur JSDD auf das Jahr 1993. Die JSE benannte sich jedoch schon 1983 in JSDD um. Vielleicht verschätzt sie sich um zehn Jahre und trat schon früher bei. Oder der erste Name der Organisation ist auch in den 1990ern noch bekannt und sie erinnert sich nicht mehr genau, dass der Namenswechsel schon vor ihrem Beitritt stattfand, weil sie anrakushi damals verunsichert hatte und sie sich auch 15 Jahre später noch gut an ihre Bedenken erinnert.
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möglich befürworten. An einer späteren Stelle im Interview antwortet Frau Kondo auf die Frage, was songen in songenshi für sie bedeutet: »Ja, was heißt das wohl? Ich denke, es bedeutet soviel wie dem Selbst entsprechend. Aber 34
wenn es jemanden gibt, der dieses Selbstsein
unterstützt und für einen darauf achtet,
(lacht) dann braucht man nicht in die Organisation [JSDD] einzutreten. Falls man so einen Menschen trifft, der einen unterstützt, dann ist das gut. Wenn das nicht so ist, dann sollte man die eigenen Angelegenheiten selbst entscheiden, und wenn man sie entschieden hat, ist es besser in eine solche Organisation einzutreten.«
Es ist auffällig, dass Frau Kondo nach der Erwähnung ›dem Selbst entsprechend‹ sofort auf die Patientenverfügung und die JSDD zurückkommt und erklärt, dass eine Mitgliedschaft nur dann notwendig ist, wenn es niemanden gibt, der als Stellvertreter die eigenen Wünsche übermitteln kann. Hier wird nochmals deutlich, wie eng der Begriff des würdevollen Sterbens im Japanischen mit der JSDD und ihren Patientenverfügungen verknüpft ist.35 Würdevolles Sterben wird demnach zum einen als Abgrenzung zur aktiven Sterbehilfe verstanden, zum anderen mit der Ablehnung von lebenserhaltenden Maßnahmen und der Forderung nach palliativer Versorgung verknüpft. Dem eigenen Willen gemäß und dem Selbstbild entsprechend zu sterben wird dabei eine bedeutende Rolle zugeschrieben. Der Wunsch natürlich zu sterben kommt bei Frau Chibana und Frau Minami deutlich durch ihre Ablehnung der Apparatemedizin in der Sterbephase zum Ausdruck, die zur bloßen Aufrechterhaltung des Lebens eingesetzt werden. Beide Interviewpartnerinnen verwenden Ausdrücke wie ›vegetativer Mensch‹ oder ›Spaghetti Syndrom‹, die als Gegenbegriffe zu dem Terminus ›natürlicher Tod‹ erscheinen. Frau Ono bezieht sich auf allerlei technische Möglichkeiten, die es in ihren jungen Jahren noch nicht gab, und lehnt diese ab. Sie sagt, sie habe in ihrer Patientenverfügung geschrieben, dass sie Maßnahmen wie künstliche Ernährung oder Beatmung nicht wünsche und dass ihr Leben dem Laufe der Natur überlassen werden solle (shizen no mama ni shite hoshii). An einer anderen Stelle spricht sie davon, falls ihr Leben gerettet werden kann, dann wünsche sie dies.
34 Frau Kondo spricht hier von jibunrashisa, einer Nominalisierung von dem zuerst verwendeten jibunrashii (dem Selbst entsprechend). Eine wörtliche Übersetzung ist schwierig; in diesem Kontext bedeutet jibunrashisa soviel wie, es gibt einen Menschen, der darauf achtet, dass man dem eigenen Selbst (oder Selbstbild) entsprechend behandelt wird, so wie man es gewollt hätte. 35 Für eine eingehendere Betrachtung des Konzepts jibunrashisa s. Kapitel 5.3.
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Maßnahmen wie künstliche Beatmung oder Ernährung, um ihr Leben um einen oder zwei Tage zu verlängern, lehne sie jedoch ab. Hier deutet Frau Ono an, dass ihre Ablehnung medizinischer Maßnahmen sich auf einen Zustand bezieht, in dem sie eine Art natürliche Kraft zu leben verloren hat. Auch Herr Kondo bezieht sich an einer Stelle darauf, dass man so lange leben sollte, wie man aus eigener Kraft leben kann (s. Kapitel 5.2.1). Die natürliche oder eigene Kraft zu leben wird hier als Grenze konstruiert. Ist diese Kraft noch vorhanden, sollte man leben und es sollten auch medizinische Maßnahmen ergriffen werden. Ist die Grenze überschritten, dann soll die Patientenverfügung zum Einsatz kommen und es sollen keine Maßnahmen zur Lebensverlängerung durchgeführt werden. Eine ähnliche Grenzziehung nimmt auch Frau Minami vor, wenn sie von der Angemessenheit spricht und die eigene spontane Atmung als ihr Maß bezeichnet (s. Kapitel 3.2.1). Zugeschriebene Verbindlichkeit und Reichweite der Patientenverfügung Bezüglich der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen erwähnt Frau Chibana eine gewisse Unsicherheit. Sie erklärt, dass die Patientenverfügung nicht von allen Ärzten respektiert und befolgt werde. Jedoch verweist sie auf die Unterstützung der JSDD bei der Durchsetzung der Patientenverfügung. In den Informationsheften der JSDD habe sie gelesen, man brauche sich bei Schwierigkeiten nur an die JSDD zu wenden und sie würden das Krankenhaus kontaktieren und helfen. Dieses Angebot der JSDD scheint Frau Chibana zu beruhigen. Die Erfahrungen mit der Patientenverfügung im Fall ihres Mannes tragen zu einem gewissen Grad zu ihrer Beruhigung bei. Die Erlebnisse mit den Ärzten ihres Mannes sind vielfältig. Sie berichtet von den Differenzen zwischen ihrem Wunsch, ihr Mann möge über die Krebsdiagnose aufgeklärt werden, und dem Standpunkt der Ärzte, es sei das Beste für ihn, nichts zu wissen. Frau Chibana handelt nicht nach ihrer eigenen Überzeugung, sondern erkennt die Autorität der Ärzte an und fügt sich den Regeln des Krankenhauses (s. Kapitel 2.1.3). Sie erwähnte den verantwortlichen Ärzten gegenüber, dass ihr Mann Mitglied in der JSDD ist. Die Unterlagen der JSDD hatte sie vorbereitet und beabsichtigte, sie den Ärzten zu zeigen. Dazu kam es jedoch nicht. Die Ärzte entgegneten, sie hätten verstanden und leiteten keine lebenserhaltenden Maßnahmen ein, lediglich Bluttransfusionen habe ihr Mann bekommen. Frau Chibana differenziert später zwischen dem Verhalten der einzelnen Ärzte. Die beiden älteren Ärzte und die Krankenschwestern hätten verstanden, dass keine lebensverlängernden Maßnahmen gewünscht werden. Der dritte, jüngere Arzt im Praktikum hingegen sei sehr engagiert gewesen und wollte alles
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Mögliche unternehmen. Die Krankenschwestern hätten ihn öfter darauf hinweisen müssen, dass es genug sei. Frau Chibana kommentiert die Sterbephase ihres Mannes in Bezug auf ihre Patientenverfügung damit, sie sei aufgrund ihrer Erfahrungen beruhigt. Wenn sie selbst ins Krankenhaus müsse, dann würde sie die JSDD-Mitgliedskarte zusammen mit ihrer Versichertenkarte mitnehmen. Das Checkkartenformat der Mitgliedskarte hebt sie in diesem Kontext als vorteilhaft hervor, da sie die Patientenverfügung immer mit sich tragen könne, falls etwas passieren sollte. Da man nie weiß, ob und wann einem etwas zustoße, verstärke die Mitgliedskarte ihr Sicherheitsgefühl. Auch Frau Minami ist sich dessen bewusst, dass die Ärzte ihren Willen oder ihre Patientenverfügung übergehen könnten. Ebenso wie Frau Chibana erklärt sie, sie habe gehört, in diesem Fall würde die JSDD einen Arzt schicken, der sich um eine Verlegung in ein anderes Krankenhaus kümmert, wo ihre Wünsche beachtet werden. Frau Minami kann durch ihre berufliche Tätigkeit als Krankenschwester und Care-Managerin sowie durch die Pflege ihrer Mutter und die eigene Krankheit auf ein breites Spektrum von Erfahrungen mit Ärzten zurückgreifen. Während sie ihre Erfahrungen mit den Ärzten ihrer Mutter als negativ darstellt, beschreibt sie das Verhältnis zu ihren eigenen Ärzten als neutral bis positiv. Im Fall ihrer Mutter setzte sie deren Willen, nicht operiert zu werden, gegen die Absicht der Ärzte durch eine Verlegung in ein anderes Krankenhaus durch. Ihre eigene Entscheidung gegen die künstliche Beatmung wird von ihrem Arzt akzeptiert. Sie erzählt, als sie ihm ihre Erklärung überreichte, keine künstliche Beatmung zu wollen, habe der Arzt sie darauf hingewiesen, dass sie diese Erklärung mit einem Datum versehen solle, da die Erklärung auf ihrer derzeitigen Einstellung beruhe und diese sich ändern könne. Der Aspekt der Vorläufigkeit der Entscheidung erscheint immer wieder im Interview. Ihre Mitgliedschaft in der JSDD verlängert sie zunächst jahresweise, um ihre Entscheidung immer wieder zu überprüfen. Jedoch sieht sie hierin keine Minderung der Verbindlichkeit. Sie bezieht sich auf eine Metapher, von der sie in einem Buch gelesen hat: Einen Menschen, der gestern da war, könne man nicht mehr umarmen und auch nicht den, der morgen erst kommt, sondern allein denjenigen, der jetzt im Moment da ist. In diesem Sinne verstehe sie auch ihre Patientenverfügung: »Wenn man dadurch [durch die schriftliche Willenserklärung] ausreichend weiß, wie meine Einstellung aussieht, weil ich das zum jetzigen Zeitpunkt geschrieben habe, dann interessiert nicht, was gestern war und auch nicht was morgen sein wird.«
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Über ihre Befürchtungen, in einer Notfallsituation gegen ihren Willen oder aus Routine an die Beatmungsmaschine angeschlossen zu werden, hat sie mit ihrem Arzt gesprochen. Ihr Arzt habe ihr versichert, dass er mit ihrer Entscheidung einverstanden sei und das in ihrer Krankenakte vermerkt habe, sodass auch andere Ärzte diese Entscheidung akzeptieren werden. Die Patientenverfügung von Frau Minami bzw. ihre Entscheidung gegen die Beatmung erlangt in dieser Darstellung durch die Zustimmung und Akzeptanz des Arztes an Verbindlichkeit. Frau Minami wird von Herrn Yamamoto im Interview darauf angesprochen, wie sie zu einer gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen stehe und was sie darüber denke, den Abbruch der künstlichen Beatmung zu legalisieren. Ein Gesetz zu Patientenverfügungen ist ihrer Meinung nach nicht unbedingt notwendig, sie scheint jedoch keine klare Position zu vertreten. Dem Abbruch der künstlichen Beatmung stehe sie positiv gegenüber, gibt jedoch zu bedenken, dass diese Option für das soziale Umfeld mit Schwierigkeiten behaftet sei. Herr Watanabe hingegen bezieht im Interview ganz klar Stellung gegen eine gesetzliche Regelung, obwohl er für die JSDD arbeitet und noch mehr Akzeptanz seitens der Ärzte für Patientenverfügungen fordert. Zu seiner Ablehnung eines Gesetzes erklärt er, Rechte bringen immer Pflichten mit sich. Ein weiterer Grund sei, dass die Problematik in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient liege und nicht durch ein Gesetz zu lösen sei: »Wenn Arzt und Patient nicht zu einem gegenseitigen Verständnis kommen, dann wird sich diese Problematik bis in alle Ewigkeit nicht lösen. Ich habe den Eindruck, das ist keine Problematik, die sich löst, wenn man ein ›Blatt Patientenverfügung‹ hat oder wenn der Patient ein ›Blatt Selbstbestimmung‹ hat.«
Wenn er sich die Diskussionen in Deutschland kurz vor der Verabschiedung des Gesetzes beispielsweise ansehe, so habe er den Eindruck, dass die Ablehnung des Patientenwillens durch den Arzt kein grundlegendes Problem darstellte. Genau in diesem Punkt liege jedoch die Problematik in Japan. Herr Watanabes Einstellung ist gegenläufig zur Position der JSDD und ihrer Gesetzesinitiative. Da er seine Meinung auch öffentlich äußere, sei es auch schon zu Auseinandersetzungen gekommen. Die Problematik der Arzt-Patienten-Kommunikation stellt Herr Watanabe als unzureichendes Verständnis auf Seiten der Ärzte dar. Er verdeutlicht dies anhand seiner eigenen Erfahrungen. In der Situation, als seine Mutter im Sterben lag, sei er selbst dermaßen von der Situation eingenommen und damit beschäftigt gewesen, darüber nachzudenken, was getan werden sollte, dass erst im
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Nachhinein die Reflexion über die Geschehnisse und ihre Folgerichtigkeit eingesetzt habe. Im Nachhinein sei ihm aufgefallen, dass kaum längere Gespräche zwischen den Ärzten und Angehörigen stattfanden und dass es sich auch nicht um gemeinsame Gespräche gehandelt habe, sondern vielmehr um den Abgleich von getroffenen Entscheidungen. Ein gegenseitiges Verständnis sei auf diese Art und Weise nicht möglich gewesen. Hier leitet Herr Watanabe über zur Bedeutung des informed consent Prinzips, das er als Basis für würdevolles Sterben bezeichnet. Er äußert jedoch Zweifel daran, dass informed consent in der Realität auch praktiziert werde. Er schildert im Folgenden ausführlich sein Verständnis von informed consent, für das er die japanische Übersetzung ›Erklärung und Zustimmung‹ (setsumei to dôi) angibt. Von ärztlicher Seite müsse der Krankheitszustand genauestens erklärt werden, ebenso wie die restliche zu erwartende Lebensdauer, auch wenn diese sehr kurz ist. Und von Patientenseite sollte dann eine Wahl bezüglich der medizinischen Behandlung getroffen werden, einschließlich der Möglichkeit, keine Behandlung zu wählen – das sei mit Zustimmung gemeint. Diese Art der Kommunikation nehme viel Zeit in Anspruch, schließt Herr Watanabe seine Erklärungen zu informed consent und kehrt wieder zu den Erfahrungen im Todesfall seiner Mutter zurück, um zu verdeutlichen, dass die Kommunikation von Seiten der Ärzte nicht ausreichend war. Der Frage, ob er selbst über seinen Zustand informiert werden wolle, stimmt Herr Watanabe entschieden zu. Seine persönliche Idealvorstellung des Sterbens bezieht sich auf den aufgeklärten Patienten, der sich mit dem eigenen Tod auseinandergesetzt hat und dem Tod gefasst entgegenblicken kann, weil ihn nichts mehr im Leben hält (s. Kapitel 4.2.1). Frau Kondo hegt keine Bedenken, dass sie nicht ihren Wünschen entsprechend behandelt wird. Sie ist aus ihrem beruflichen Alltag damit vertraut, dass häufig die Angehörigen über die Krankheit des Patienten aufgeklärt werden. Jedoch scheint sie der Meinung zu sein, wenn jemand über seinen Gesundheitszustand informiert werden möchte und dies klar und deutlich äußert, dann werde dieser Wunsch auch beachtet. Diese Annahme von Frau Kondo beruht unter anderen auf den Regeln des Hospizes, in dem sie arbeitet. Der Grundsatz aller Hospize, in denen sie bisher gearbeitet hat, sei es, die Wünsche der Patienten zu respektieren. Für die Aufnahme im Hospiz gibt es die Regel, dass der Patient über seine Krankheit informiert ist und die prognostizierte verbleibende Lebensdauer ein halbes Jahr nicht überschreitet. Der Patient müsse jedoch nicht über die prognostizierte Lebensdauer informiert sein. Immer wieder komme es vor, dass die Krankheit schon weit fortgeschritten ist und der Betreffende selbst nicht mehr dazu in der Lage ist, zum Aufnahmegespräch zu
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kommen. Teilweise würden die Angehörigen bei den Aufnahmegesprächen darum bitten, dass der Patient nicht über Details informiert wird. In einem solchen Fall würde das Hospiz den Angehörigen deutlich machen, dass sie den Patienten nicht belügen werden, falls er zu verstehe gibt, dass er wissen möchte, wie es um ihn steht. Aus der Sicht von Frau Kondo hängt das Thema Patientenaufklärung demnach eng mit der persönlichen Einstellung der Patienten zusammen und damit wie deutlich sie ihre Wünsche über Wissen und Nichtwissen zum Ausdruck bringen. 3.2.3 Patientenverfügungen zwischen paternalistischen und aufklärerischen Werten? Während in der Debatte zu einer gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen die Befürworter des Gesetzes sich auf die individuellen Rechte des Einzelnen beziehen und Selbstbestimmung und das Recht, dem eigenen Willen gemäß und würdevoll zu sterben, als allgemeine Menschenrechte bezeichnen, spielen persönliche Rechte in den Narrationen der Interviewten keine Rolle. Vielmehr verarbeiten sie – wie auch Inthorn für die Verfasser von Patientenverfügungen in Österreich feststellte – ihre Erfahrungen mit medizinischen Entscheidungsfindungen oder Sterbenden und nutzen die Patientenverfügung als Gelegenheit, Vorkehrungen für die eigene Sterbephase und ihr soziales Umfeld zu treffen. Die Bedeutungszuschreibungen sind eng verknüpft mit den Erfahrungen der Interviewten. Die Funktionen der Patientenverfügung ergeben sich aus ihren Reflexionen über ihre soziale Einbettung, und variieren je nachdem, welche sozialen Kontexte sie bedenken. Sowohl die zugeschriebenen Bedeutungen als auch die Funktionen sind nicht statisch und ein für alle Mal festgeschrieben, sondern werden durch neue Erfahrungen und Veränderungen der sozialen Situation neu interpretiert. Die gleichbleibende und stark standardisierte äußere Form des JSDDFormulars täuscht demnach darüber hinweg, dass der Wille der Verfasser und die Bedeutung der Patientenverfügung sich stetig mit neuen Erfahrungen und Lebenssituationen wandeln. Teilweise haben die Interviewten durch eigene Formulierungen ihren persönlichen Gedanken Ausdruck verliehen oder ihre konkreten Wünsche ergänzend zur JSDD-Patientenverfügung hinzu geschrieben. Zu beachten ist auch, dass keiner der Interviewten befürchtet, dass er oder sie durch die Patientenverfügung zu früh sterben könnte oder dass Maßnahmen auch in Fällen unterlassen werden könnten, in denen sie noch weiterleben möchten. Vielmehr zeigen die Anlassnarrationen in einigen Fällen, dass sich das Problembewusstsein der Interview-
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ten auf eine ärztliche Praxis bezieht, in der die Priorität auf Lebenserhalt durch medizinische Technik gelegt wird, auch wenn im Erleben der Interviewpartner ein Weiterleben nicht mehr erstrebenswert ist. Die Patientenverfügung wird von ihnen als Schutz gesehen, dass medizintechnische Maßnahmen nicht eingeleitet werden und sie sterben dürfen. Insofern soll der vorausverfügte Wille den Arzt von seiner Pflicht zum Lebenserhalt entbinden. Gleichzeitig soll die Familie von dieser schwierigen Entscheidung entbunden werden. Inthorns Typen von Patientenverfügungen als Absicherungs- und Abwehrinstrument sowie als Instrument zum schönen Sterben kommen bei meinen Interviewpartnern als einzelne Funktionen der Patientenverfügung vor, jedoch können die einzelnen Interviewten nicht eindeutig einem dieser Typen zugeordnet werden. Frau Minami beispielsweise scheint in der Situation des Interviews zum Typ ›Patientenverfügung als Absicherungsinstrument‹ zu passen. Inthorn unterscheidet diesen Deutungstyp noch einmal in zwei Untertypen: in die Personen, die gesund sind und in der Patientenverfügung einen weiteren Schritt neben den Regelungen des Begräbnisses und dem Testament sehen, um alle nötigen Vorkehrungen zu treffen (vgl. Inthorn 2008: 431), und in die Personengruppe der chronisch Kranken, für die aufgrund eines gut vorhersehbaren Krankheitsverlaufs konkrete Entscheidungen anstehen (vgl. ebd.: 431 f.). Frau Minami entspricht diesem zweiten Untertypen durch ihre ALS-Erkrankung und stellt die Entscheidung gegen die künstliche Beatmung auch im Sinne dieses Deutungstypen dar. Bezieht man jedoch den Anlass von Frau Minami einige Jahre vor ihrer Krankheit mit ein, so wird ersichtlich, dass sich trotz gleichbleibender Patientenverfügung eine Verschiebung ihrer Deutung ergeben hat. Die Motivation für ihren Beitritt zur JSDD war es in erster Linie, ihre Wünsche klar festzuhalten, um nach ihrem eigenen Willen behandelt zu werden und so zu vermeiden, dass es zu Differenzen zwischen ihren Angehörigen und den Ärzten an ihrem Sterbebett kommt. In diesem Sinne ergeben sich Überschneidungen mit Inthorns Deutungstyp der Patientenverfügung als Abwehrinstrument, basierend auf ihren schlechten Erfahrungen mit den behandelnden Ärzten und mit den Geschwistern ihrer Mutter. Diese Verschiebung in Frau Minamis Deutung geht wahrscheinlich auf positive Erfahrungen mit der Akzeptanz ihrer Entscheidung durch ihre Ärzte zurück. Herr Kondo entspricht in gewisser Weise dem ersten Untertypen der ›Patientenverfügung als Absicherungsinstrument‹, da er in der Patientenverfügung neben dem Verfassen eines Testaments und dem Kauf des Grabes eine notwendige Vorkehrung sieht, um Verantwortung für sein Lebensende zu übernehmen. Jedoch versteht Herr Kondo die Patientenverfügung in Bezug auf seine Herkunftsfamilie als Abwehrinstrument.
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Auch bei Frau Kondo lassen sich gewisse Elemente der Patientenverfügung als Absicherungsinstrument feststellen, vor allem da bei ihr auch eine ausgeprägte Selbstwirksamkeitsannahme vorliegt, wie sie von Inthorn diesem Typen zugeschrieben wird. Doch lassen sich bei ihr durch die stark normierten Vorstellungen des würdevollen oder dem Selbst entsprechenden Sterbens auch Übereinstimmungen mit dem dritten Deutungstyp des Instruments zum schönen Sterben feststellen – ähnliche Übereinstimmungen gibt es auch bei Frau Chibana und Frau Ono. Eine Einordnung von Herrn Watanabe fällt besonders schwer, da aus der Sicht von Herrn Watanabe die Grundvoraussetzungen für das Instrument der Patientenverfügung nur bedingt gegeben sind. Er schreibt der Patientenverfügung die Bedeutung der Absicherung für seine Kinder zu. Jedoch vertraut er aufgrund seiner schlechten Erfahrungen mit der Kommunikation zwischen Arzt und Angehörigen nicht darauf, dass die Patientenverfügung von den Ärzten akzeptiert wird. Herr Watanabe sieht sich selbst als einen Befürworter eines ArztPatienten-Verhältnisses, das auf Aufklärung durch den Arzt und Selbstbestimmung des Patienten beruht. Dieses Verständnis des Arzt-Patienten-Verhältnisses drückt sich in seinen Erklärungen zum Prinzip des informed consent aus, das er als grundlegend für den würdevollen Tod begreift. Seine Erklärungen der ärztlichen Praxis und des gesellschaftlichen Umgangs mit Patientenverfügungen stellen die Situation in Japan als rückständig dar. Herr Watanabe ist sehr gut informiert über die Regelungen in anderen Ländern und positioniert sich selbst als Beobachter, der die neuen fortschrittlichen Normen vertritt und darauf wartet, dass sie sich in der japanischen Gesellschaft durchsetzen. Sein Zögern, eine Patientenverfügung abzuschließen, könnte interpretiert werden als Ablehnung des sinnlosen Versuchs, mit einem nicht etablierten, aber fortschrittlichen Instrument einer veralteten Praxis entgegenzutreten. In diesem Sinne sind die abwehrenden Funktionen der Patientenverfügung bei Frau Chibana, Frau Minami und im gewissen Sinne auch bei Frau sowie Herrn Kondo nicht – wie bei Inthorn – durch Abweichungen von der Norm begründet, sondern durch Werte, die von ihnen als ›neu‹ oder vielleicht auch ›fortschrittlich‹ dargestellt werden. Diese neuen oder fortschrittlichen Einstellungen finden immer mehr Akzeptanz, konkurrieren jedoch mit den alten, konservativen Werten und die derzeitige Situation erscheint als Zeit des Umbruchs, in der ein neuer Umgang mit pluralistischen Wertvorstellungen erst gefunden werden muss. Neben den Deutungstypen von Inthorn ist eine gesonderte Betrachtung der Stellvertreterfunktion lohnenswert: Hinter dieser als selbstverständlich erscheinenden Funktion verbirgt sich die Deutung der Patientenverfügung als Kommu-
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nikationsinstrument, mit dem man sich mit nahestehenden Menschen über ihre Wünsche und Vorstellungen austauschen kann. Das Fallbeispiel von Frau Chibana verdeutlicht, wie das im aufklärerischen Kontext entstandene Instrument Patientenverfügung an bestehende Kommunikationszusammenhänge angepasst wird. Durch die Patientenverfügung wird in diesem Fall nicht ein offener Umgang mit Krankheit und Sterben bewirkt, sondern sie dient dazu, das Schweigen aufrechtzuerhalten und trotzdem einen Austausch über die Wünsche des Partners zu ermöglichen. Auch eine Patientenverfügung des Partners als Ersatz für die eigene Person als Stellvertreter einzusetzen, deutet die Patientenverfügung hinsichtlich der bestehenden sozialen Beziehungen um. Ein weiterer Aspekt, der von den Gegnern eines Gesetzes zu Patientenverfügungen häufig zur Sprache gebracht wird – dass ein Leben in Abhängigkeit von medizinischer Technik und von der Pflege Dritter abgelehnt werde, damit der Betreffende nicht zu einer familiären oder sozialen Belastung wird – klingt in den Narrationen immer wieder an, vor allem wenn die Interviewten in ihren Patientenverfügungen ein Instrument zur Entlastung der Angehörigen sehen. Finanzielle Belastungen werden von ihnen nicht thematisiert, mit der Ausnahme von Frau Minami, die nur bis zu einem gewissen Maße wohlfahrtstaatliche Leistungen in Anspruch nehmen möchte. Vor allem die Überlegungen von Frau Ono, so gut es geht selbstständig leben zu wollen und für den Lebensabend Verantwortung zu übernehmen, führen sie zu der Erklärung, nicht zu einer Belastung für die Familie werden zu wollen, indem sie ihnen Sorgen bereitet. Ein interessanter Punkt dieser Überlegungen liegt in ihrer Schilderung von ihrem Sturz im Bahnhof, da sie gerade die Absicht selbstständig zu sein, als Auslöser dafür bezeichnet, dass sie ihrer Familie Sorgen bereitet.
4 Lebenszeit und Timing
Unter der Thematik ›Patientenverfügungen‹ sprechen die Interviewten neben ihren Erfahrungen und Lebensumständen, die sie als Anlass für ihre Patientenverfügung darstellen, auch über ihre Vorstellungen von Alter oder Lebenszeit. Durch die Interpretationen der je eigenen Lebenszeit betten sie die Patientenverfügung in ihre Lebensgeschichte ein. Im ersten Teil dieses Kapitels wird thematisiert, wie das Konzept des ›Lebens‹ durch das Konzept der ›Zeit‹ und institutionalisierte Lebensläufe strukturiert wird. Anhand der Erzählungen von zwei Interviewpartnern wird verdeutlicht, wie die Vorstellung eines kontinuierlichen zeitlichen Verlaufs des Lebens durch die Diagnose ALS unterbrochen wurde. Frau Minami und Herr Jômon mussten ihre Lebenszeit neu deuten und die Krankheit in ihre Biografie integrieren, um wieder Kontinuität herzustellen, sich als handlungsfähige Individuen zu begreifen und Entscheidungen treffen zu können. Der Faktor ›Zeit‹ ist in ihren Erzählungen ein Schlüsselkonzept für ihre Entscheidungsfindung. ›Lebenszeit‹ ist zudem Gegenstand international vergleichbarer und standardisierter wissenschaftlicher Messungen und Berechnungen im Sinne der Sterblichkeitsrate und Lebenserwartung sowie Alterung der Gesellschaft. Die erhobenen Daten werden durch die mediale Berichterstattung, staatliche Gesundheitspolitik und Vorsorgeprogramme zum gesellschaftlich geteilten Wissen. Dieses Wissen wird von den Individuen auf ihre eigenen Lebensumstände bezogen und vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen gedeutet. Im zweiten Teil dieses Kapitels geht es um die subjektiven Deutungen von Lebenszeit und Alter. Bewertungen der eigenen Lebenszeit als ›lang genug‹ sind eng verknüpft mit Wertvorstellungen des ›guten Lebens‹ und ›guten Tods‹. Idealvorstellungen des guten Tods werden vor allem in Bezug auf das Konzept des ›guten Timings‹ geäußert. Ein weiterer Aspekt von Lebenszeit sind Einstellungen dazu, ob der Tod gleichgesetzt wird mit dem Ende der eigenen Existenz. Durch den Glauben an die zeitlose Existenz eines tamashii (Geist, Seele) oder eine Welt der Toten können Vorstellungen der begrenzten Lebenszeit transzendiert werden.
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4.1 L EBENSZEIT
ALS GESTALTBARE INDIVIDUELLE
Z EIT
Das Verständnis von ›Lebenszeit‹ als gestaltbarer, individueller Zeit erscheint uns heute als selbstverständlich. Bei genauerer Betrachtung verbergen sich hinter dieser Formulierung jedoch komplexe Konzepte, deren Bedeutungen keinesfalls eindeutig und selbstverständlich sind, sondern sich unter spezifischen historischen und soziokulturellen Bedingungen herausgebildet haben. Jens Brockmeier verdeutlicht die Komplexität der mit diesen Konzepten verbundenen Problematiken durch die folgenden Fragestellungen: »Was ist ein Leben – und wie bestimmt man seinen Umfang, seine Bedeutung? Was ist Zeit – und was ist Lebenszeit, je meine Zeit; gibt es überhaupt Zeit als etwas Persönliches, als einen individuellen Besitz oder Zuständigkeitsbereich? Schließlich, ist die Zeit eines Lebens nicht immer ein Plural, eine Vielzahl von Zeiten?« (Brockmeier 2003: 5; Hervorhebung im Original)
Die Bedeutungskonstruktionen, die mit den Begriffen ›Leben‹ und ›Zeit‹ sowie ›individuell/Individuum‹1 verbunden sind, können Brockmeier zufolge nur sinnvoll unter Berücksichtigung von historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten beantwortet werden (vgl. ebd.). Im Folgenden soll zunächst ein Verständnis der Lebenszeit als Geschichte des eigenen Lebens durch die narrative Konstruktion von Identität dargestellt werden. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Bedeutung von Krankheit und Krankheitsdiagnosen als Bruch im Lebenslauf und der damit verbundenen Identitätsarbeit zur Überwindung der Lebenskrise. Anschließend wird die Frage diskutiert, inwiefern sich diese Überlegungen auf die japanische Gesellschaft übertragen lassen. Vorwegnehmend sei hier schon erwähnt, dass eine Institutionalisierung und Standardisierung der Lebensläufe sowie die Übernahme westlicher Zeitkonzepte in Japan seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu beigetragen haben, dass die strukturellen Gegebenheiten für eine Anwendbarkeit der folgenden Überlegungen auf die japanische Gesellschaft sprechen. Anhand von Fallbeispielen der an ALS erkrankten Frau Minami und Herrn Jômon wird sodann gezeigt, wie die strukturellen Vorlagen durch kulturelle und individuelle Bedeutungskonstruktionen gestaltet werden.
1
Brockmeier beschränkt sich in seiner Darstellung auf die Begriffe ›Leben‹ und ›Zeit‹. Zum Begriff des ›Individuums‹ als Schlüsselkonzept der europäischen Geistesgeschichte und seiner Übersetzung und Übernahme in Japan während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts s. Shimada 2007: 74-111.
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Versteht man Leben als Sein in der Zeit (vgl. Brockmeier 2003: 4), gewinnt der Begriff der diachronen Identität2 an Bedeutung. Unser Leben als ›Geschichte unseres Lebens‹ zu begreifen, setzt bestimmte Fähigkeiten voraus, die im Zuge der Sozialisation in Form von »biographische[n] Kompetenz[en]« (Straub 2000: 137) erworben werden. Das Individuum entwickelt ein Verständnis seines Lebens als Lebensgeschichte und lernt das eigene Leben als solche zu erzählen (vgl. »narrative Kompetenz«, Straub 2000: 140). Dieses Konstrukt der eigenen Lebensgeschichte begreift Jürgen Straub als: »[...] (situations- und kontextabhängiges) Produkt einer retrospektiven und reflexiven Selbstkonstitution von Subjekten [...], die im Laufe ihrer Sozialisation gelernt haben, ihr eigenes Selbst als gewordenes und temporal strukturiertes aufzufassen.« (Straub 2000: 138; Hervorhebungen im Original). Dies bedeutet, dass wir bestimmte Narrationsmuster erlernen und abhängig vom Interaktionszusammenhang unsere Lebensgeschichte immer wieder neu erzählen (vgl. ebd.). Um unser Leben als Lebensgeschichte zu begreifen oder zu erzählen, reflektieren wir ausgehend von der gegenwärtigen Situation und mit Blick auf die Zukunft unsere Vergangenheit und bringen vergangene Erfahrungen und Erlebnisse in einen kontinuierlichen und kohärenten Sinnzusammenhang. Dabei wählen wir – bewusst oder unbewusst – einzelne Erinnerungen als besonders bedeutsam aus und heben sie hervor oder lassen andere Ereignisse unerwähnt. Die Herstellung von Kontinuität – einer Einheit über den Lauf der Zeit hinweg – und Kohärenz – der inneren moralisch-normativen Stimmigkeit – kommen im Konstruktionsprozess eine Schlüsselfunktion zu: Sie bilden die Basis für die eigenen Erwartungen des Individuums an sich selbst und sein Vertrauen in seine zukünftige Handlungsfähigkeit und Ziele sowie die Grundlage für die Bewertung der Verlässlichkeit durch Dritte (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 48; Straub 2000: 138). Erfahrene Differenzen werden in die Lebensgeschichte integriert, um den kontinuierlichen Sinnzusammenhang und die innere Konsistenz zu erhalten: »Auch in ihrer Zeitdimension ist die Identität einer Person als Einheit ihrer Differenzen zu denken. Kontinuität und damit diachrone Identität ist nicht zuletzt dann möglich, wenn Kontingenz und Differenz akzeptiert und in die sinnhaft strukturierte Verlaufsgestalt eines Lebenszusammenhangs integriert werden können.« (Straub 2000: 139)
2
Die folgenden Ausführungen zu narrativen Identitätskonstruktionen sind teilweise angelehnt an meine unveröffentlichte Magisterarbeit (2007) Identitätswandel in Okinawa. Am Beispiel der personalen Identität von Herrn S (s. auch Spoden 2012).
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Einschneidende Erlebnisse und Differenzerfahrungen können als Auslöser für Identitätskrisen betrachtet werden, die das Individuum zur selbstreflexiven Identitätsarbeit herausfordern, um handlungsfähig zu bleiben (vgl. Straub 1998: 8386). Diagnosen von schweren Krankheiten stellen häufig solch einschneidende Erlebnisse dar, die als Bruch der Identität erlebt werden. Juliet Corbin und Anselm Strauss unterteilen in ihrer Studie zum Leben mit chronischen Krankheiten3 das Konzept der Lebensgeschichte in drei Elemente: biografische Zeit, Vorstellungen vom Selbst (Identität) und Körperkonzeptionen. Diese drei Elemente der Biografie seien eng miteinander verknüpft und müssen erfolgreich zu einem Ganzen integriert werden, um der Biografie Struktur und Kontinuität zu verleihen. Die Autoren bezeichnen die Integrationsleistung, die über das Zusammenspiel der drei Elemente möglich ist, als »Kette des biographischen Körperschemas« (Corbin/Strauss 1993: 44). Krankheit kann zu Brüchen dieser Kette des biografischen Körperschemas führen und hat somit große Auswirkungen auf das Selbstverständnis der erkrankten Person (vgl. ebd.: 45). Die Erkrankten stünden vor der Aufgabe, den lebensgeschichtlichen Bruch durch die Diagnose zu bewältigen und die Krankheit als Teil des Selbst in ihre Biografie zu integrieren: »Wenn eine schwere chronische Krankheit in das Leben eines Menschen einbricht, löst sich seine gegenwärtige Existenz von seiner vergangenen Existenz ab; die Vorstellungen vom Selbst in der Zukunft sind getrübt oder sogar zerstört. [...] Aus den Identitätsresten muß er neue Konzeptionen entwickeln: wer er einmal war, wer er jetzt ist und zukünftig sein wird.« (Corbin/Strauss 1993: 41)
Die Krankheit zerstört die Vorstellung eines kontinuierlichen zeitlichen Verlaufs des Lebens und bringt die bisherige Ordnung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durcheinander. Der Kranke steht vor der Aufgabe, sein Leben zeitlich neu auszurichten und ihm durch das Wiederherstellen von Kontinuität und Kohärenz erneut eine Sinnstruktur zu verleihen. Er muss seine Biografie anpassen.
3
Corbin und Strauss arbeiten das Schlüsselkonzept der ›Verlaufskurve‹ aus ihren empirischen Daten für den Umgang mit chronischen Krankheiten heraus. Unter Verlaufskurve verstehen sie sowohl den physischen Krankheitsverlauf mit seinen unterschiedlichen Phasen als auch die Vorstellungen vom Verlauf der Krankheit und dem damit verbundenen Arbeitsaufwand und Wandel der persönlichen Lebensentwürfe. ›Arbeit‹ ist ein weiteres zentrales Konzept, unter das sie sowohl medizinisch-pflegerische Arbeitsprozesse fassen als auch die Bewältigung und den Umgang mit der Krankheit seitens des Erkrankten und seines sozialen Umfelds (vgl. Corbin/Strauss 1993: 11 ff.).
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Corbin und Strauss gehen von einer Wechselwirkung zwischen Biografie und Krankheitsverlauf aus, die Krankheit verändert die Biografie, die Biografie ihrerseits beeinflusst den Umgang mit der Krankheit (vgl. ebd.: 42). Da die Krankheit nur ein Teil des Selbstverständnisses ausmacht, müsse sie im Kontext des gesamten Selbst und somit der Lebensgeschichte gesehen werden. Daraus folgt, dass die Integration der Krankheit in die Biografie stark individuell geprägt ist. Welcher Stellenwert der Krankheit für das zukünftige Selbstverständnis zugemessen wird, hänge entscheidend von der Schwere und Häufigkeit der Symptome sowie der körperlichen Beeinträchtigungen der bisherigen Lebensgestaltung ab. So werde bei manchen die Krankheit zum Lebensmittelpunkt, andere wiederum integrieren sie mehr oder weniger als einen Aspekt, der bewältigt wurde, in ihre Lebensgeschichte (vgl. ebd.: 43). 4.1.1 Lebenszeit und standardisierte Lebensläufe in Japan In seinem Aufsatz zu Biografie, Kultur und sozialem Wandel (2010) behandelt Shingo Shimada die Frage, ob die Konzepte der narrativen Identitäts- oder Biografie-Forschung wie ›Selbst‹, ›Autonomie‹, ›narrative Kompetenz‹ oder auch ›Zeit‹, deren Entstehung er in der europäischen Geistesgeschichte verortet, auf außereuropäische Kulturen und speziell auf Japan übertragen werden können (vgl. Shimada 2010: 160). Dafür spreche, dass im Zuge der Modernisierung ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts moderne Institutionen nach westlichem Vorbild in Japan eingeführt wurden, sodass die japanische Gesellschaft heute große strukturelle Ähnlichkeiten mit diesen aufweist (vgl. Shimada 2010: 161). Durch die Meiji-Restauration 1868 wurde das in der Edo-Zeit (1603-1868) vorherrschende Ständesystem abgeschafft, sodass ähnlich wie in Europa »[...] das Individuum aus zuvor gegebenen traditionellen sozialen Zusammenhängen ›entlassen‹« (Shimada 2010: 161) wurde und seinen Lebensweg zumindest prinzipiell selbst gestalten konnte. Eine besondere Bedeutung kam hierbei den neu eingeführten Bildungsinstitutionen zu, mit deren Verbreitung sich allmählich verschiedene Lebenslaufmodelle entwickelten, abhängig vom jeweiligen Ausbildungsgrad (vgl. Shimada 2007: 98). Die Idee der individuellen Gestaltbarkeit des eigenen Lebenslaufes wurde zudem von den Schulen Ende des 19. Jahrhunderts vermittelt, ganz im damaligen Sinne ihres Zieles, die Schüler zum Zweck der Bildung einer starken Nation zu selbstständigen Individuen zu erziehen (vgl. Shimada 2007: 95). Als Vorlage für besonders erfolgreiche Lebensläufe dienten dabei die Biografien bedeutender, westlicher Persönlichkeiten wie Benjamin Franklin, James Watt, Napoleon oder anderen. Prinzipien wie Selbstdisziplin, persönlicher Einsatz, methodische
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Lebensführung und Nutzung der eigenen Zeit wurden durch diese Lebensgeschichten exemplarisch als Wege zum Erfolg dargestellt (vgl. ebd.: 96, 100). Die Institutionalisierung der Lebensläufe führte zu einer Dreiteilung in die Zeit der Ausbildung, Erwerbstätigkeit und des Ruhestands, die heute unhinterfragt als Standard gelten (vgl. Shimada 2010: 161). Shimada beobachtet für die Nachkriegsgesellschaft eine deutliche Homogenisierung und Standardisierung der Lebensläufe sowie eine Überdeterminierung durch den Ideallebenslauf (vgl. ebd.: 161 f.). Eng verknüpft mit der Verbreitung westlicher Institutionen und standardisierter Lebensläufe im japanischen Modernisierungsprozess ist auch die Übernahme westlicher Zeitkonzepte als Grundlage für das Verständnis der Lebenszeit. Das westliche Zeitverständnis war damals durch die europäische und amerikanische Expansionspolitik und das entstehende Weltwirtschaftsnetz im Begriff zur standardisierten Weltzeit zu werden. Während die Standardisierung der Zeit auf der lokalen Ebene in der westlichen Welt erst im Entstehen war, wurde die Welt in verschiedene Zeitzonen eingeteilt und der gregorianische Kalender und Messinstrumente wie die mechanische Uhr führten nach und nach zu einer synchronisierten Welt, sodass sich das heutige Verständnis von einer »Gleichzeitigkeit der Ereignisse« (Shimada 1994: 101) herausbilden konnte. Um mit den Entwicklungen mitzuhalten und der Übermacht des Westens nicht zu unterliegen, wurde durch die Modernisierung in Japan auch die westliche Regelung der Zeit übernommen (vgl. ebd.: 100 f.). Es war im Zuge der Übersetzungen westlicher Schriften zu diesem Zweck notwendig, einen neuen Begriff für die europäischen Wörter für ›Zeit‹ einzuführen, da mit dem japanischen Begriff toki – trotz seiner vielfältigen Bedeutungen und Verwendungsmöglichkeiten – kein abstraktes, substantivisches Zeitverständnis ausgedrückt werden konnte (vgl. Shimada 1994: 73-81): »Erst die okzidentalen Wissenschaften brachten den Begriff der Zeit als eines Gegenstandes der Betrachtung. Daher mußte er neu übersetzt werden. Das neu übersetzte Wort jikan gewinnt daraufhin eine Eigendynamik, durch die es Einfluß auf das alltägliche Leben auszuüben beginnt. Dabei steht dieser Begriff in erster Linie für die Institutionalisierung der Zeit.« (Shimada 1994: 80 f.; Hervorhebung im Original)
Shimada nennt das Schulsystem mit seinen Schulstunden, den Fahrplan der Eisenbahn und die Arbeitszeit in den Fabriken des sich industrialisierenden Landes als Beispiele für das neu eingeführte Verständnis von Zeit, das er mit Bezug auf Foucault auch als »Disziplinarzeit« (Shimada 1994: 81) bezeichnet. Wichtig ist hier hervorzuheben, dass das Alltagsleben der Bevölkerungen durch Institu-
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tionen wie die Schule, einheitliche Nationalfeiertage oder auch durch die Verbreitungen von Tageszeitungen durch die neue Zeit strukturiert wurde. Es verbreitete sich ein Gefühl der Gleichzeitigkeit im ganzen Land, das auch entscheidend zur Ausbreitung der Vorstellung der Nation als Einheit des japanischen Volkes beitrug (vgl. Shimada 1994: 107 ff.). Bezogen auf den Kalender erklärt Shimada, dass nicht nur alte Prinzipien zur Einteilung der Zeit von neuen abgelöst wurden, sondern die japanische Regierung vor allem bestrebt war, die bisherigen, mit Handlungsanweisungen verbundenen Deutungen der kalendarischen Zeit abzuschaffen und als Aberglauben zu unterbinden. Über das alte Verständnis der Zeit sagt er: »Zusammenfassend möchte ich behaupten, daß die Zeit vor 1873 vor allem als Bedeutungseinheiten aufgefaßt wurde, die in ihrer Beziehung zu den kosmologischen Konstellationen bestimmte Richtlinien für konkrete Handlungen lieferten. So waren Zeit und Raum weder neutral noch homogen. Anders ausgedrückt wurden sie gerade durch die Zuordnung der Bedeutungen als sinnstiftend konstituiert.« (Shimada 1994: 106)
Auch wenn die Bestrebungen der Regierung, die Deutungen des Kalenders abzuschaffen, nicht in voller Hinsicht erfolgreich waren und schon nach kurzer Zeit neue Bedeutungszuschreibungen kursierten und alternative Zeitkonzepte heute parallel existieren, so setzte sich die neue Zeitlichkeitsregelung jedoch im öffentlichen Leben durch und übte großen Einfluss auf die gesellschaftlichen Strukturen aus (vgl. Shimada 1994: 104-112). Es vollzog sich, was Anthony Giddens in Bezug auf Eviatar Zerubavel die Trennung der Zeit vom Raum (Ort) oder die Entleerung der Zeit nennt: »Von ausschlaggebender Bedeutung für die Trennung der Zeit vom Raum war die Erfindung der mechanischen Uhr und deren Verbreitung [...]. Die Uhr brachte eine einheitliche Dimension ›leerer‹ Zeit zum Ausdruck, welche derart quantifiziert wurde, daß die präzise Bezeichnung von Zeitzonen des Tages (wie zum Beispiel der täglichen ›Arbeitszeit‹) möglich wurde. Die Zeit blieb an den Raum (und an einen Ort) gebunden, bis es dazu kam, daß der Einheitlichkeit der Zeitmessung durch die mechanische Uhr eine Einheitlichkeit der gesellschaftlichen Organisation von Zeit entsprach. Dieser Wechsel fand zur gleichen Zeit statt, wie die Ausbreitung der Moderne und ist erst in unserem Jahrhundert zum Abschluß gekommen.« (Giddens 1996: 29)
Erst durch ein Zeitverständnis, das durch Messungen die Zeit abstrakt fasste, sie für jeden jederzeit und an jedem Ort zur gleichen Bezugsgröße werden ließ und sie durch Institutionen wie die Schule und Arbeitsverhältnisse strukturierte, kön-
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nen die oben erwähnten standardisierten Lebensläufe entstehen. Durch eine standardisierte Abfolge von verschiedenen Institutionen erhält zudem die Linearität der Zeit Einzug in den Lebenslauf des Einzelnen. Die gedankliche Grundlage für ein Verständnis der ›Lebenszeit‹ als je individuell gestaltbarer Zeit wird demnach erst durch das Zusammenspiel der abstrakten, entleerten Zeit und ihrer Institutionalisierung im standardisierten Lebenslauf möglich. Mit anderen Worten ermöglicht der abstrakte und leere Zeitbegriff eine Subjektivierung der Zeit als je eigene Lebenszeit (vgl. Gabbani-Hedman 2006: 180). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass durch die Modernisierung die strukturellen Voraussetzungen geschaffen wurden, um von einer Auffassung des Lebens als Sein in der Zeit und der Lebenszeit als individuell gestaltbarer Zeit sprechen zu können. Shimada weist darauf hin, dass lebensgeschichtliche Erzählungen in Japan strukturell der modernen Lebensgeschichte entsprechen, jedoch schon immer durch Sprache und kulturelle Erzählmuster vorstrukturiert werden (vgl. Shimada 2006: 79). Diese Narrationsmuster sind keinesfalls als statische und unveränderliche kulturelle Determinanten der Erzählungen zu verstehen. Sondern sie befinden sich vielmehr in einem ständigen kulturellen und sozialen Wandlungsprozess (vgl. Shimada 2006: 91; vgl. auch Gabbani-Hedman 2006: 123). Als häufig im japanischen Kontext verwendete Narrationen wird auf die Erzählmuster des ›Understatement‹ oder die relationale Darstellung des Selbst in Entscheidungsprozessen verwiesen (vgl. Shimada 2006: 91 f., 85 ff.). In diesen Narrationsmustern nehmen sich die Erzählenden als selbstbestimmt handelnde Subjekte zurück und schreiben persönliche Erfolge dem Zufall oder dem Einfluss des sozialen Umfeldes zu. Lebensentscheidungen werden so dargestellt, dass sie vom sozialen Umfeld an die Erzählenden herangetragen oder mitgetragen wurden. Nicht die teleologische Entfaltung des Selbst oder Selbstverwirklichung stehe in dieser Semantik im Mittelpunkt der Erzählung, sondern »[...] die Einbindung in die unterschiedlichen sozialen Netzwerke« (Shimada 2006: 91) und die relationale Konstitution des Selbst durch soziale Bindungen (vgl. auch Gabbani-Hedman 2006: 177 ff.). Vor allem die Konstitution des Selbst durch die Einbettung in soziale Zusammenhänge und das Verständnis des Selbst über die Zuschreibung von sozialen Rollen und den damit verbundenen Aufgaben und Pflichten spielen in den im Folgenden behandelten Fallbeispielen eine bedeutende Rolle. Andererseits lassen sich in meinen Fallbeispielen auch Narrationen finden, die dem Muster der individuellen, selbstbestimmten Lebensführung mit dem Ziel der Selbstverwirk-
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lichung entsprechen.4 Dies kann möglicherweise als ein Wandel der Erzählmuster und als eine zunehmende Individualisierung interpretiert werden. Wie oben erwähnt, ist die Einführung der standardisierten Zeit nicht als vollständige Ablösung älterer Zeitkonzepte zu verstehen, sondern es existieren heute mehrere unterschiedliche Konzeptionen von Zeit parallel zueinander und bilden zusammen ein Repertoire von Sinnstrukturen, deren sich der Einzelne zu seinen je eigenen Zwecken bedient: »Es scheint, dass alle Kulturen reichhaltige, wenngleich sehr verschiedene Repertoires narrativer Modelle des Lebens und der Zeit hervorgebracht haben. Solche kulturellen Modelle beschränken sich nicht auf formelle Zeitraster und regulative Mess- oder Ordnungssysteme wie die Uhr- oder Kalenderzeit, derer sich die Mitglieder einer Gesellschaft als eines allgemeinen Bezugsrahmens bedienen, innerhalb dessen sie ihr soziales Handeln organisieren und ihre Welt- und Zeitlichkeitserfahrungen koordinieren. Narrative Modelle der Zeit sind vielmehr selbst schon inhaltlich gesättigte Strukturen, die gelebtem, antizipiertem und imaginiertem Leben Sinn und Bedeutung verleihen. Wir passen sie zu unseren Zwecken und Bedürfnissen an und verleihen ihnen individuelle Färbung. Wir stellen sie in Frage, weisen sie zurück, erfinden sie neu. Doch letztendlich vermögen wir uns so wenig von ihnen zu lösen wie von der Sprache, die wir sprechen und zu der sie gehören.« (Brockmeier 2003: 12-13)
Durch die folgenden Fallbeispiele wird deutlich, wie sich die Interviewten auf kulturell und sozial geteilte Deutungen der Zeit beziehen, sie auf ihre individuelle Lebenssituation übertragen und durch ihre je eigenen Erfahrungen interpretieren. 4.1.2 Zeit für die Bewältigung der Diagnose und Umgestaltung der verbleibenden Lebenszeit Obwohl das Wissen von der Begrenztheit der Lebenszeit in modernen Gesellschaften sozial geteilt wird, erscheint den meisten im Alltagsleben das eigene Lebensende als weit entferntes Ereignis, mit dem sich die wenigsten ohne konkreten Anlass bewusst auseinandersetzen. Anlässe für eine Reflexion über das Lebensende sind häufig der Tod oder die schwere Krankheit eines Menschen im sozialen Umfeld, die Diagnose einer chronischen Krankheit mit letalem Verlauf, ein schwerer Unfall oder auch das (fortgeschrittene) Alter, mit dem das Ende
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Zu verschiedenen Konzepten des Selbst s. Kapitel 5, in dem diese Aspekte ausführlicher diskutiert werden.
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immer näher zu rücken und unausweichlicher zu werden scheint. Personen, die sich dazu entschließen, eine Patientenverfügung abzuschließen, verweisen auf derartige persönliche Erlebnisse als Anlass (s. Kapitel 3.2.1). Diese Ereignisse werden durch die Antizipation der gewünschten oder unerwünschten Zustände zum Lebensende auch zum Anlass, über die Werte bezüglich der Gestaltung der persönlichen Lebenszeit zu reflektieren. Besonders deutlich wird dies in den Fallbeispielen der an ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) 5 erkrankten Interviewpartner Frau Minami und Herr Jômon. Corbin und Strauss erklären zur Phase vor der Diagnose einer chronischen Krankheit, wie sich die Betreffenden in einem Zustand der Unsicherheit befinden, während nach Erklärungen für die Symptome gesucht wird, die im Fall von ALS meist mit einem Taubheitsgefühl in den Fingern oder Zehen beginnen, das sich langsam von den Extremitäten her ausweitet – in einigen Fällen beginnen die Symptome auch mit einer eingeschränkten Beweglichkeit des Mundes. Das Verstreichen der Zeit bis zur Diagnosestellung werde als quälend langsam empfunden oder auch als Dahinrasen wertvoller Zeit. Von dem Grad der Beeinträchtigungen, welche durch die Krankheit hervorgerufen werden, hänge entscheidend ab, wie sehr die Krankheit das Leben verändert. Auch der Körper, der als funktionierende Einheit kaum beachtet wird, rücke durch die Einschränkungen vermehrt in den Fokus der Selbstwahrnehmung (vgl. Corbin/Strauss 1993: 20-25). Über die Diagnose sagen Corbin und Strauss: »Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart scheinen im Augenblick der Mitteilung zu verschmelzen.« (Corbin/Strauss 1993: 26), die Zeit scheine stillzustehen und die Reaktionen auf die Diagnose reichen von Schock bis Erleichterung.
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ALS ist eine Erkrankung des motorischen Nervensystems. Die Ursachen der Krankheit und wirksame Heilmethoden sind nicht bekannt. Betroffene leiden mit fortschreitendem Krankheitsverlauf zunehmend an Lähmungserscheinungen und Krämpfen. Es gibt individuelle Unterschiede im Verlauf der Krankheit, durchschnittlich leben die Erkrankten jedoch nach Ausbruch noch weitere drei bis fünf Jahre, bevor auch die Atemmuskulatur betroffen ist und die Patienten versterben, wenn sie sich nicht für eine dauerhafte invasive, künstliche Beatmung entscheiden. Durch die künstliche Beatmung kann die Lebenszeit um mehrere Jahrzehnte verlängert werden, jedoch schreiten die Degenerationen weiter fort, sodass die meisten Patienten zum Zeitpunkt der Beatmung fast vollständig gelähmt sind. Die kognitiven Fähigkeiten sind in den meisten Fällen nicht von Einschränkungen betroffen (vgl. Borasio/Gelinas/Yanagisawa 1998: S7; Smyth et al. 1997: S93; Japan Amyotrophic Lateral Sclerosis Association (JALSA) zitiert in Tateiwa 2005b: 10; der von Tateiwa zitierte Text ist in dieser Form nicht mehr auf der Homepage der JALSA zu finden).
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Beide Interviewpartner erkrankten in mittleren Lebensjahren6 an ALS7. Frau Minami und Herr Jômon wurden nach einer längeren Phase der Unsicherheit von ihren Ärzten über die Krankheit aufgeklärt. Die Ärzte vermittelten ihnen das medizinische Wissen über die Krankheit, ihren Verlauf und die zu treffenden Entscheidungen. Im Folgenden werden die Auseinandersetzung mit der Diagnose und Krankheit, Gedanken zur Lebenszeit und die Entscheidung gegen eine dauerhafte, invasive Beatmung von Frau Minami vorgestellt und im nächsten Unterkapitel mit den Überlegungen von Herrn Jômon kontrastiert, der seine Situation als Dilemma darstellt, aufgrund dessen er zu keiner Entscheidung findet. 4.1.3 Fallbeispiel: In einem Jahr ein Jahrzehnt leben Frau Minami hat sowohl beruflich als auch privat Erfahrungen im Pflegesektor gesammelt und verfügt schon vor ihrer Krankheit über Fachwissen zum Gesundheitswesen. Ihre fachlichen Kompetenzen demonstriert sie im Interview mit der Aussage, die Ärzte hätten bei ihr zunächst eine Fehldiagnose gestellt und erst durch ihre eigenen Recherchen sei die Krankheit ALS diagnostiziert worden: »Weil ich meine Schultern nicht anheben konnte, bin ich häufig zum Arzt gegangen. Die ganze Zeit über wurde mir gesagt, es sei die Alterssteife der Schultern [gojûkata].« Frau Minami bemerkte jedoch selbst Veränderungen in den Muskeln und ihrer Beweglichkeit und stellte Nachforschungen an: »Ich recherchierte und dachte, das ist ALS. Ich bat meinen Arzt sofort Untersuchungen durchzuführen, da ein Tag für mich [der Länge von] einem Monat entspricht [sollte ich ALS haben]. Daraufhin kam ich unmittelbar für die Untersuchungen ins Krankenhaus. Ich war eine Woche im Krankenhaus und das Ergebnis der Untersuchungen war ALS.«
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Zum Zeitpunkt des Interviews ist Frau Minami 53 Jahre alt. Bei ihr wurde im Alter von 50 Jahren ALS diagnostiziert. Herr Jômon ist 48 Jahre alt. Er erkrankte etwa 1997/8 im Alter von 37 Jahren. Die Diagnose wurde 2002 gestellt. Der Krankheitsverlauf bei Frau Minami entspricht in etwa dem Durchschnitt, während die Krankheit bei Herrn Jômon sehr langsam verläuft.
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Durchschnittlich sind die Erkrankten zwischen 40 und 60 Jahre alt, wenn die Krankheit ausbricht. Im Jahr 2002 waren 6180 ALS-Patienten in Japan verzeichnet, die sich in ärztlicher Behandlung befanden (vgl. JALSA zitiert in Tateiwa 2005b: 10; der von Tateiwa zitierte Text ist in dieser Form nicht mehr auf der Homepage der JALSA zu finden).
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Aufgrund der Diagnose fiel Frau Minami in eine zweiwöchige Tiefphase (ni shûkan ochikomi ni ite). Die nächste Untersuchung hatte sie einen Monat nach der Diagnose. Zu diesem Termin brachte sie bereits dem Arzt ihre schriftliche Erklärung mit, dass sie nicht künstlich beatmet werden möchte. Selbstständig atmen zu können, stellt für sie die Grenze dar, über die hinaus sie nicht leben möchte. Diese Entscheidung fasste sie, nachdem sie das Tief überwunden hatte. In der Zeit, die unmittelbar auf die Diagnose folgte, setzte sie sich mit ihrer verbleibenden Lebenszeit auseinander und fasste folgenden Entschluss: »Dass ich [über die Diagnose] aufgeklärt wurde, war vor drei Jahren. Weil ich 50 Jahre alt war, habe ich beschlossen, dieses Jahr zum 50er-Jahrzehnt zu machen. Das nächste Jahr zum 60er-Jahrzehnt und das folgende zum 70er-Jahrzehnt. Ich dachte, es sei gut, wenn ich die Länge der Zeit so auffasse und in einem Jahr ein Jahrzehnt leben könnte, wenn ich auf diese Weise leben würde.«
Schon nach dem Tod ihrer Mutter 8 habe Frau Minami darüber nachgedacht, nicht wie ein Bummelzug (kakueki teisha), der an jedem Bahnhof anhält, sondern lieber mit der Schnelligkeit eines Shinkansen leben zu wollen. Auf die Frage hin, wie sie auf den Gedanken kam, in einem Jahr ein Jahrzehnt leben zu wollen, erklärt Frau Minami: »Ich traf meinen Grundschullehrer, als ich schon erwachsen war. Er hatte Krebs und war etwa 80 Jahre alt, als er verstarb, wenn ich mich [richtig] erinnere. Dieser Lehrer sagte zu mir: ›Die Zeit fliegt pfeilschnell dahin [kôin ya no gotoshi].‹ Das bedeute, dass [die Zeit wie ein] Pfeil mit der Geschwindigkeit des Lichtes fliegt, durch den eigenen Körper hindurch. Der Pfeil durchbohre den Körper und man selbst werde von ihm mitgenommen. Er bat mich, zu bedenken [wie schnell die eigene Zeit verfliegt] und mit Wertschätzung zu leben.«
Sie erläutert ihren Gedankengang weiterhin mit dem Lebensalter ihrer Haustiere und bezieht sich auf die unterschiedliche Rechenweise zwischen dem Hundeoder Katzenalter und dem Menschenalter. Die Nachfrage von Herrn Yamamoto, ob die Lebenseinstellung, jeden Tag als eine einmalige Gelegenheit zu begreifen (mai nichi ichigo ichie), eine Bedeutung für ihre Überlegungen habe, bejaht sie. Als Erklärung fügt sie hinzu: »Wenn ich eine Rolle [Aufgabe] habe, wenn es
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Die Krankheit (Schlaganfall), Pflegebedürftigkeit und den Tod ihrer Mutter stellt Frau Minami als die entscheidenden Erfahrungen dar, die sie veranlassten der JSDD beizutreten, schon Jahre bevor sie selbst erkrankte (s. Kapitel 3.2.1).
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heute eine Rolle gibt, die ich für mich sehe, dann möchte ich sie ausfüllen, mit diesem Gefühl.« Hier präzisiert Frau Minami das Motiv, im Leben eine Aufgabe erfüllen zu wollen, um der Lebenszeit einen Sinn zu verleihen. Indirekt kommt dieses Motiv schon in den Schilderungen der Phase, die direkt auf die Diagnose folgte, zum Ausdruck. Sie beschreibt, welche Gedanken ihr durch das Vorhaben, in einem Jahr ein Jahrzehnt leben zu wollen, durch den Kopf gingen und wie sie die verbleibende Zeit plante: »Ich dachte darüber nach, was ich machen könnte und dass ich mich um meine Sachen kümmern muss, ein Testament schreiben (lachend), alles aufräumen, Dinge wegschmeißen und aufteilen, zum Beispiel meine Ringe. Alle meine Ringe mit Juwelen habe ich unter Freunden oder Bekannten aufgeteilt. Für die Mahlzeiten und zum Wohnen [suchte 9
ich mir diesen Raum aus] hier ist es in Ordnung, es bleibt mir nichts anderes übrig. Hauptsache ich kann hier schlafen. Um das Essen kümmert sich mein Mann. Er ist Koch und kann mir alles zubereiten. Dann dachte ich darüber nach, was ich mit meiner Kleidung machen soll. Wenn möglich selber anziehen oder von anderen tragen lassen? Ich fühle mich besser, wenn ich sie von anderen tragen lasse, dachte ich und änderte alle meine Kimonos – zusammen sind es etwa 100 Stück – in einem Jahr um. Ich tat das in einem traumähnlichen Zustand. In dieser Zeit ist mein Schmerz gelindert worden. [...] Die Hälfte meiner 100 Kimonos, etwa 50 Stück, sind übrig geblieben, aber die anderen habe ich an Verwandte, Geschwister, Freunde, Menschen, die mir einen Gefallen getan haben, usw. verschenkt. Ich habe sie diesen Menschen angepasst und geändert. Ja, das war, was ich zunächst tun konnte. Seit dieser Zeit kann ich meine Hände schon nicht mehr gebrauchen...«
Frau Minami fasst hier die Zeit nach der Diagnose zusammen. Das zweiwöchige Tief überwand sie durch das Vorhaben, in einem Jahr ein Jahrzehnt zu leben. Sie löste die Zeit von ihrer standardisierten quantifizierten Messung in Jahren, Monaten, Wochen, Tagen, Stunden und Minuten und deutete sie um: Lebenszeit und Alter bestimmte sie durch Erfahrungen und die Art und Weise, wie die Zeit genutzt und gestaltet wird. Diese qualitative Umdeutung der Lebenszeit führte sie zu dem Vorhaben, ihre Zeit auszufüllen und in einem kalendarisch gemesse-
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Das Interview fand im Erdgeschoss ihres Hauses statt, in einem Zimmer direkt neben dem Eingang, das nun ihr Zimmer ist. Vor der Krankheit hatte sie ein anderes Zimmer im Haus, wahrscheinlich in der zweiten Etage, denn sie erwähnt, dass sie dort nach dem Tod ihrer Mutter alleine geweint hätte. Zur Nutzung des Raumes erzählt Frau Minami, es sei das selbe Zimmer, in dem auch ihre Mutter nach ihrem Schlaganfall wohnte und wo sie von ihr jahrelang gepflegt wurde.
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nen Jahr ein gefühltes Jahrzehnt zu verleben. Sie gestaltete für die Umsetzung dieses Plans zunächst ihr Leben um. Die alltäglichen Dinge wurden geregelt: Sie verlegte ihr Zimmer in einen Raum, in dem sie fortan auch im Rollstuhl leben kann, um ihre Verpflegung muss sie sich nicht kümmern, da sie von ihrem Mann übernommen wird. Besonders bedeutend ist für Frau Minami, sich von ihrem Besitz und den Dingen, die sich im Laufe ihres Lebens angesammelt haben, zu trennen. Einerseits regelt sie dies über ein Testament, aber von vielen Dingen löste sie sich schon vor ihrem Tod. Ihre Ringe und ihre Kimono-Sammlung bedeuten der modebewussten und sehr auf ihr Äußeres bedachten Frau Minami10 sehr viel. Mit großer Sorgfalt wählte sie Kimonos aus, passte sie individuell auf die zu Beschenkenden an und verbrachte ein Jahr damit, sie für ihre neuen Besitzer umzuändern. Der gewählte Zeitraum von einem Jahr für die Änderungen gewinnt durch ihre abschließende Bemerkung, nach diesem Jahr habe sie ihre Hände schon nicht mehr gebrauchen können, an Bedeutung. Sie muss den Verlauf der Krankheit abschätzen und die Zeit, die ihr für bestimmte Tätigkeiten zur Verfügung steht, so gut wie möglich planen, bevor ihre Handlungsfähigkeit durch die physische Degeneration eingeschränkt wird. Die selbst gewählten Aufgaben, die sie handeln lassen, helfen ihr bei der Bewältigung der Diagnose, sie lindern ihren Schmerz. Die Lebenszeit so gut wie möglich zu nutzen und mit Freude zu leben, erscheint als Strategie, um mit der Angst vor dem Tod umzugehen: »Wenn das Sterben furchteinflößend ist, dann lebt man mit aller Kraft. Deswegen lebe ich so gut wie möglich und mit Freude. Ja, so ein Gefühl ist das.« Im Kontext eines weiteren zentralen Motivs, nicht am Leben zu hängen, kann das Umändern und Verschenken der Kimonos auch als Verabschiedungsstrategie aus dem Leben interpretiert werden. Bereits zu Beginn des Interviews spricht Frau Minami ihre Erfahrungen aus der Pflege an: Sie habe gesehen, unter welch unterschiedlichen Umständen die Menschen leben. Insbesondere die Erfahrungen aus der Pflege ihrer Mutter verwendet sie als Erklärung, niemals in einem Zustand leben zu wollen, in dem sie nichts mehr tun kann und bloß am Leben erhalten wird. Mit anzusehen, dass aus ihrer selbstständigen Mutter, die immer munter (genki) war und ein eigenes Geschäft hatte, eine bettlägerige Frau
10 Dass Frau Minami sehr auf ihre äußere Erscheinung bedacht ist, zeigt sie am Tag des Interviews: Sie ist in einen sehr eleganten Yukata gekleidet und sorgfältig geschminkt. Schminken ist auch zum Ende des Interviews ein Thema. Sie erklärt, wie wichtig es ihr ist, durch ihr Äußeres zu signalisieren, dass es ihr trotz Krankheit gut gehe und dass sie nicht bemitleidenswert ist. Dieses Motiv, nach außen hin Haltung zu bewahren, wird ausführlicher in Kapitel 5.4.2 behandelt.
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wurde, sei ihr schwer gefallen. Die Pflege und den Tod der Mutter stellt sie als Erfahrungen dar, welche die gedankliche Grundlage für ihre heutige Entscheidung gegen die Beatmung bilden und für den strategischen Umgang mit der Krankheit, die bewusste Loslösung und Verabschiedung aus dem Leben: »Ich habe alle möglichen Bedürfnisse abgeschüttelt und dachte, wenn ich jetzt sterben sollte, ist das in Ordnung. Bis ich ungefähr 40 Jahre alt war, ist alles Mögliche in meinem Leben passiert, ab meinem 40. Lebensjahr... In meinem Leben habe ich schon gegeben, gegeben und mit diesem Gefühl möchte ich [mein Leben] beenden. Deswegen war das keine besonders große Sache. (lachend) Ich hatte einfach das Gefühl, ob es nicht damit genug sei.«
Den Tod der Mutter beschreibt sie als Schock und tiefen Einschnitt in ihr Leben im Alter von 40 Jahren. Dieses Erlebnis kann bereits als Bruch in ihrem Lebenslauf verstanden werden. Die Erfahrungen mit der Pflege ihrer Mutter hätten sie nach der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 2000 dazu veranlasst, einen neuen beruflichen Weg einzuschlagen und sich als Care Managerin ausbilden zu lassen.11 Sie las nach dem Tod ihrer Mutter viele Bücher über den Tod und wurde Mitglied in der JSDD; zu diesem Zeitpunkt war sie noch nicht an ALS erkrankt (s. Kapitel 3.2.1). Aus heutiger Sicht erklärt sie, es gebe für sie keinen Grund am Leben zu hängen: »Unter ›nicht am Leben hängen‹ verstehe ich, dass ich keine Kinder habe. Meine Eltern sind schon gestorben und ich habe keine Kinder. Das Zusammenleben mit meinem Mann ist zudem, also, ja –. Er (ano hito) kann alleine leben. Wir haben keineswegs ein schlechtes Verhältnis, [lachend] aber er sagt immer: ›Du (kimi) hast deinen Weg und ich (boku) habe meinen Weg.‹ So ein Eheleben haben wir geführt. Wenn ich nicht mehr bin, dann kann mein Mann damit leben. Ja, es gibt keinen Grund am Leben zu hängen.«
Auf dieses Motiv, nicht am Leben zu hängen, kommt Frau Minami im Verlauf des Interviews immer wieder zurück. Ein entscheidender Hintergrund ist die
11 Bis sie ihren Mann heiratete, arbeitete Frau Minami als Krankenschwester. Nach der Hochzeit gab sie diesen Beruf auf, um im Restaurant ihres Mannes mitzuhelfen. Seit dem Tod ihrer Mutter (etwa im Jahr 1996) habe sie darüber nachgedacht, ob es nicht eine Beschäftigung gebe, mit der sie mehr zur Pflegesituation beitragen könne.
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Vorstellung, dass ein zeitloses tamashii (Geist, Seele)12 existiert und das Ende des körperlichen Daseins nicht das Ende von allem sei. Wie in der oben zitierten Interviewpassage anklingt, gibt es aus der Sicht von Frau Minami keinerlei soziale Verantwortung, aufgrund der sie sich zum Weiterleben verpflichtet fühlt. In einer späteren Interviewpassage erklärt sie, dass sie und ihr Mann auch kaum an materiellen Dingen hängen und dass sie ihre Aufgaben im Leben zu großen Teilen schon abgegeben habe: »Ich habe viele meiner Aufgaben (yakuwari) abgegeben. Deswegen sind unsere Aufgaben schon fast alle beendet. Mein Mann (otôsan) denkt so und ich denke auch so. Ja. Im Großen und Ganzen ist es schon vorbei.«
Yakuwari bedeutet sowohl ›Rolle‹ als auch ›Aufgabe‹. Im Kontext ihrer vorherigen Erläuterungen können diese Aufgaben interpretiert werden als Verpflichtungen, die an soziale Rollen geknüpft sind. Sie zählt die familiäre Rolle der Mutter auf, die sie nie inne hatte. Die Rolle der Tochter sieht sie durch den Tod ihrer Eltern als beendet an. Als Ehefrau sieht sie keinerlei Verpflichtungen weiterzuleben, da sie und ihr Mann ein Eheleben führen, in dem jeder seinen eigenen Weg geht und seine eigenen Entscheidungen trifft. Die Frage, ob es im Sinne der gemeinsamen Definition einer ›Ehe zwischen Unabhängigen‹ überhaupt denkbar wäre, dass sie sich für die künstliche Beatmung entscheidet und von ihrem Mann gepflegt wird, ist nicht Gegenstand des Interviews. Diese Frage erscheint durch den fest gefassten Entschluss von Frau Minami – ihr Leben nicht durch die künstliche Beatmung verlängern zu lassen – keine Relevanz zu haben. Weiterhin fällt auf, dass Frau Minami, obwohl sie sich noch im berufsfähigen Alter befindet, keinen Bezug auf Aufgaben oder Verantwortungen nimmt, die mit einer Arbeitsstelle in Verbindung stehen. Denn auch diese Aufgaben hat sie bereits abgegeben. An einer anderen Stelle im Interview erwähnt sie, dass sie schon zum Zeitpunkt der Diagnosestellung aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen nicht mehr arbeitete. Da sie eine Behinderten-Rente (shôgaisha nenkin) bezieht, ist zu vermuten, dass sie ihren Beruf aufgeben musste und in eine Art Frühruhestand aufgrund körperlicher Behinderungen versetzt wurde. Der Entschluss von Frau Minami, der verbleibenden Lebenszeit einen Sinn zu verleihen und sie, so gut es geht, zu nutzen, um in einem Jahr ein Jahrzehnt zu leben, ist auf den nahenden Tod ausgerichtet und kann als Beginn für ihre
12 Der Ausdruck tamashii kann am ehesten mit ›Geist‹ oder ›Seele‹ übersetzt werden, hat jedoch keine christlichen Konnotationen und wird von Frau Minami auch nicht mit einem religiösen Glauben verknüpft.
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Verabschiedung aus dem Leben gesehen werden. Die Kimonos stehen symbolisch für die Loslösung von materiellen Dingen, die eine Bedeutung für sie haben und sind gleichzeitig als Gabe an ihr soziales Umfeld zu verstehen, mit der sie sich für die erfahrene Unterstützung bedankt und ihre sozialen Verpflichtungen ablegt. 4.1.4 Fallbeispiel: Über den guten Tod zur guten Lebensweise Im Fall von Herrn Jômon sind sowohl die Aufklärung durch seinen Arzt als auch die Treffen der ALS-Patientengruppe (ALS kanja kai) für die Vermittlung des Wissens über die Krankheit ausschlaggebend.13 Auch bei Herrn Jômon wurde die Krankheit nicht sofort diagnostiziert. Die ersten Anzeichen nahm er mit etwa 37 Jahren wahr, bis zur Diagnosestellung vergingen jedoch noch weitere drei bis vier Jahre. Er interpretierte die Symptome zunächst als Alterserscheinungen und als Charakteristikum seiner persönlichen körperlichen Schwäche, die er als selbst verschuldete Folge seiner unzureichenden sportlichen Betätigungen in jüngeren Jahren sieht. In der Retrospektive stellt er diese Zeit als leidvoll für sein Selbstverständnis dar. Da er die Symptome als selbst verschuldet interpretierte und keine andere Erklärung hatte, übernahm auch sein soziales Umfeld diese Deutung. Als eine der schmerzlichsten Erfahrungen bezeichnet er sein körperliches Versagen bei der Erfüllung der väterlichen Rolle in der Fußballmannschaft seiner Söhne. Weil er nicht in der Lage war, wie die anderen Väter als Linien- oder Schiedsrichter zu fungieren, wurden seine Kinder bei Turnieren nicht mehr aufgestellt. Die Diagnose der Krankheit erscheint aus heutiger Sicht in diesem Kontext fast wie eine Erleichterung, da sie ihn aus der Verantwortung für die körperliche Schwäche enthob und er anderen erklären konnte, warum er physisch nicht belastbar ist: »Es war zwar ein Schock, als mir gesagt wurde, es ist ALS, aber ich war auch erleichtert (hotto shita).« Herr Jômon wurde von seiner Frau begleitet, als die Diagnose der Krankheit gestellt wurde. Ihm sei zum Weinen zumute gewesen, jedoch konnte er nicht weinen, weil seine Frau vor ihm in Tränen ausbrach und er sich verpflichtet fühlte, die Fassung zu bewahren und ihr beizustehen. Dieses Motiv, stark zu 13 Frau Minami besucht die gleiche ALS-Patientengruppe wie Herr Jômon. Sie bezieht sich im Interview jedoch seltener auf die Gruppe und schreibt ihr auch weniger Bedeutung für den Umgang mit der Diagnose und Krankheit zu. Das mag daran liegen, dass Frau Minami sich gegen die künstliche Beatmung entschieden hat und in der ALS-Gruppe, vor allem durch den Einfluss von Hashimoto Misao, sich viele Patienten für die Beatmung entscheiden.
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sein, weil die Familie unter seiner Krankheit leidet, zieht sich durch das Interview. Die Zeit der Diagnosestellung beschreibt Herr Jômon als Schock. Seine Erzählungen erinnern sehr an die Ausführungen von Corbin und Strauss: Er verwendet das Bild des Hinabfallens, bei dem sein bisheriges Leben zusammenschrumpfte (sore made no jinsei ga gyôshukusarete gurai nakami no koi mono). Um aus diesem Tief wieder emporzusteigen, sah er sich vor die Aufgabe gestellt, seine Lebensgeschichte umzuschreiben: »Die größte [Aufgabe] war, dass ich die Geschichte meines Lebens ändern musste.« Er erklärt diese Aussage mit den Worten: »Wir skizzieren alle unsere Träume. Aber unsere eigene Geschichte erzeugen wir erst, indem wir sie mit der Wirklichkeit abstimmen, nicht wahr?« Er beschreibt die übliche Lebensplanung für einen Mann vom Eintritt ins Berufsleben bis in sein Lebensalter: »Wir ergreifen einen bestimmten Beruf, tragen Verantwortung für eine Familie und auch wenn wir straucheln, stehen wir wieder auf, solche Geschichten gibt es. Es gibt auch den Teil der Geschichte, einen Kredit aufnehmen zu müssen, um ein Haus zu bauen, oder vollendete Geschichten. Aber es gibt niemanden, der sich vorstellt, an einer unheilbaren Krankheit zu erkranken.«
Die plötzliche Diagnose stelle die Betroffenen vor Ratslosigkeit, Trauer, Schmerz, Zorn und Ungeduld (tomadoi toka, kanashimi mo, ikari mo, aseri mo), umschreibt Herr Jômon den Gefühlszustand. Er beschreibt hier einen Wendepunkt seiner Biografie, an dem ihm seine Vergangenheit als kompakte Geschichte erscheint, die er nicht auf die gleiche Weise weiterleben kann wie bisher. Der Abgleich seines Lebensentwurfes mit der Realität wird durch die Diagnose erschüttert und er sieht sich vor die Aufgabe gestellt, sich neu zu orientieren, um wieder in die Zukunft blicken zu können. Im Rückblick bewertet Herr Jômon die äußeren Lebensumstände zum Zeitpunkt der Diagnosestellung als günstig, um sich neu zu orientieren. Dabei nimmt er eine Umdeutung seiner Situation vor. Zu einer Zeit, in der es ihm finanziell nicht gut ging und er sich anscheinend auch beruflich neu orientieren musste, erfuhr er, dass er an einer unheilbaren, chronischen Krankheit mit tödlichem Verlauf erkrankt ist: »Als es mit der japanischen Konjunktur bergab ging, wurde in der Firma, in der ich arbeitete, der Lohn gekürzt. Es hieß, sie wollten das Büro auch überprüfen und so weiter. Das war eine Phase, wo ich dachte, dass ich meine Geschichte ein bisschen erneuern und umschreiben möchte. Deswegen, also als ich krank wurde, lief meine eigene Geschichte ge-
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rade nicht so gut. Vom Timing her war es günstig, dass meine Narrative (naratibu) umgeschrieben werden wollte. Je besser das Vorwärtskommen ist, desto schwieriger ist es, sie umzuschreiben. Manchmal ist mein Timing [gut] (lacht) – es war ein schwieriges Auf und Ab durch äußere Einflüsse wie die Konjunktur und all so was.«
Wäre seine Erwerbsbiografie erfolgreicher verlaufen, hätten ihn die Krankheit und die krankheitsbedingten Einschränkungen wahrscheinlich schwerer getroffen, vermutet er, indem er seinen eigenen Umgang mit der Krankheit mit den Geschichten von erfolgsreichen Geschäftsmännern vergleicht, die er aus der ALS-Patientengruppe kennt. Nicht nur das Timing sei gut gewesen, sondern er habe auch Glück mit dem Verlauf seiner Krankheit. Herr Jômon erklärt, dass ALS eine Krankheit mit einer sehr schnell voranschreitenden körperlichen Degeneration sei. Die meisten ALSPatienten würden nach fünf Jahren versterben und die letzten zwei Jahre bettlägerig sein. Sie könnten nicht mehr selbstständig oder aktiv handeln. Der Ausbruch der Krankheit liege in seinem Fall schon mehr als zehn Jahr zurück. Über den Verlauf seiner Krankheit sagt er: »Ich habe einen sehr langsam verlaufenden [Krankheits-]Typ. Im Moment ist der Verlauf so stabil, dass man schon fast sagen kann, er sei stehen geblieben. So habe ich Zeit bekommen. Ich habe nicht nur Zeit bekommen, um aktiv tätig zu sein, sondern auch Zeit, um zu weinen. Zeit für Phasen, wo ich am Boden zerstört bin und weder ein noch aus weiß und auch Zeit, um dann zu weinen. Ja, und auch Zeit, um wieder hoch zu kommen, und Zeit, um etwas zu tun. Diesen zeitlichen Spielraum zu haben, ist wichtig.«
Seine eigene Situation stellt Herr Jômon als glücklich im Vergleich zu anderen Menschen aus der ALS-Patientengruppe dar, denen die Zeit buchstäblich zu entrinnen scheint und denen nicht einmal die Zeit bleibe, sich an die neue Situation oder krankheitsbedingte Einschränkungen zu gewöhnen, da die physische Degeneration so schnell voranschreite. Die Zeit, die Herrn Jômon für den Umgang mit der Krankheit und die psychische Bewältigung zur Verfügung steht, bezeichnet er als ein Geschenk (jikan ga ataerareta/ataerareta jikan), als etwas, das ihm gegeben wurde. Von wem, möchte man fast fragen. Bei genauerer Betrachtung ist es nicht die Zeit, die für die einen schneller und die anderen langsamer verstreicht, sondern der Krankheitsverlauf, der in einem Fall langsam und im nächsten schnell ist (shinkô no supeedo ga hayai byôki). In dieser Betrachtung scheint die Zeit eine Konstante zu sein, an der die körperliche Veränderung als normaler oder abweichender Verlauf gemessen wird und die durch das physi-
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sche und psychische Erleben als ausreichend vorhanden oder als ein zu kleiner zeitlicher Spielraum interpretiert wird. Herr Jômon wird zum Zeitpunkt der Diagnosestellung zum ersten Mal mit dem üblichen Fortgang der Krankheit konfrontiert. Sein Arzt sprach mit ihm über den tödlichen Verlauf und erteilte ihm den Ratschlag, seine Zukunftspläne auf die nächsten fünf Jahre zu beschränken. Aus heutiger Sicht und im Vergleich zu den Erfahrungen anderer ALS-Patienten ist er zufrieden mit seinem Arzt, der sich Zeit nahm, ihn einfühlsam über die medizinische Seite der Krankheit aufzuklären. Auch schwierige Themen wie die zu erwartenden Verluste und Belastungen, die auf ihn und seine Familie zukommen werden, wurden in diesem ersten Gespräch angerissen. In diesem Zusammenhang sprach der Arzt die Möglichkeit der künstlichen Beatmung an, stellte Herrn Jômon jedoch nicht vor die Entscheidung – diese Frage sei erst in späteren Gesprächen aufgekommen. Das Wissen über den Krankheitsverlauf stellt Herrn Jômon bei seiner Neuorientierung vor die entscheidende Beatmungsfrage – eine Frage, die über seinen Todeszeitpunkt entscheidet und auf die er noch keine Antwort weiß. Die Problematik, durch diese Wahl über den Zeitpunkt des eigenen Lebensendes zu entscheiden, führt Herrn Jômon zu Reflexionen darüber, wie er aus dem Leben treten und von seinem sozialen Umfeld erinnert werden möchte: »[Wenn ich mich frage, was] ich denke, denken möchte zu dieser Zeit [wenn ich sterbe], dann wünsche ich mir letztendlich einen Tod, der so gut wie möglich [yori yoi shi] ist. Bis zu diesem Augenblick möchte ich als Vater für meine Söhne ein hervorragender Vater sein. Für meine Frau möchte ich bis zu diesem Augenblick ein guter Ehemann sein.«
Herr Jômon bringt deutlich zum Ausdruck, dass ein guter Tod für ihn mit Werten verbunden ist, die mit seiner Rolle als Vater und als Ehemann zusammenhängen. Nicht nur sein familiäres Umfeld, sondern auch seine Freunde und Bekannten sowie die Menschen aus der ALS-Patientengruppe bezieht er in seine Überlegungen mit ein. Auch sie sollen im Nachhinein denken, dass er einen guten Tod gestorben ist. Das Nachdenken über den guten Tod führt Herrn Jômon dazu, über sein Verständnis einer guten Lebensweise zu reflektieren: »Jedoch, wenn ich darüber nachdenke, wie ich es gut machen kann, um das zu erfüllen, wenn ich bis zu diesem Augenblick [des Todes] der beste Vater sein möchte, dann muss ich, während ich lebe, der beste Vater sein, nicht wahr? Um wirklich im Augenblick des Todes gesagt zu bekommen: ›Du warst ein guter Ehemann‹, muss ich im Jetzt, in dem ich lebe, in dieser Zeit, eins ums andere ein guter Ehemann sein. Je mehr ich mit aller Energie den guten Tod durchdachte, desto mehr dachte ich darüber nach, wie ich lebe[n sollte].«
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Die Familie ist das zentrale Motiv in der Narration von Herrn Jômon. Die Unterstützung seiner Familie ermöglichte ihm den Umgang mit der Krankheitsdiagnose und eine neue Ausrichtung auf die Zukunft (mae muke). Die gute Erfüllung seiner familiären Rollen stellt er als Aufgabe dar, die seinem Leben Sinn verleiht. Die Familie als Lebensmittelpunkt führt Herrn Jômon jedoch auch in ein Dilemma: Die Entscheidung, ob er durch die künstliche Beatmung weiterleben möchte oder nicht, ist aus seiner Sicht nicht allein Sache des Erkrankten, da sie auch Einfluss auf das Leben des sozialen Umfeldes nimmt. Insbesondere das Leben der Familie würde sich durch seine Entscheidung grundlegend verändern, da sie die Hauptverantwortung für die 24-stündige Pflege zu tragen hätte. Der Wunsch leben zu wollen reiche allein als Antwort auf die Beatmungsfrage nicht aus, sondern die Betroffenen müssen die Folgen ihrer Entscheidung bedenken, und wie sie durch ihre Entscheidung das Leben Dritter beeinflussen und ob sie dies verantworten können. Aus seinen Erfahrungen in der ALS-Patientengruppe weiß Herr Jômon, dass selbst Patienten, die sich vermeintlich sicher in ihrer Entscheidung waren, sich noch im letzten Augenblick anders entschieden. Er erzählt von einem Mann, der selbst, als der Arzt ihm mitteilte, es sei die letzte Möglichkeit, sich für die Beatmung zu entscheiden, bei seiner Entscheidung gegen die Beatmung blieb. Erst auf die Bitte seiner Frau hin, er möge sich ihr zuliebe an die Beatmungsmaschine anschließen lassen, änderte er seinen Entschluss. Dieses Beispiel erhält den Status einer Art Wunschsituation: »Sehr wahrscheinlich werde auch ich mich bis zu diesem [letzten] Augenblick nicht entscheiden können. Welche [Wahl] ich in diesem letzten Augenblick nennen werde, weiß ich nicht, aber während ich die Wörter ausspreche, werde ich in die Augen meiner Frau und meiner Kinder blicken (räuspert sich). Was für ein Gesicht sie zu meinen Worten machen werden, darüber sorge ich mich sehr.«
Die Entscheidung bis zum letztmöglichen Zeitpunkt hinauszuschieben, beinhaltet ein großes Risiko. Herr Jômon weiß von Fällen, in denen ALS-Patienten aufgrund eines Versagens der Atmung ins Koma fielen. In einigen Fällen sei es dann schon zu spät für den operativen Eingriff, der ›letzte Augenblick‹ für die Entscheidungsmöglichkeit sei in diesen Fällen verpasst worden. Oder aber der Anschluss an die invasive Beatmung ist noch möglich und der Arzt berate sich mit der Familie was zu tun ist – eine Situation, die für die Familie nicht einfach sei. Herrn Jômon sind durchaus Fälle bekannt, in denen die durch die Familie getroffene Entscheidung für die Beatmung nicht im Sinne des Betroffenen war.
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Er erzählt von einem Mann, der sich gegen die Beatmung entschieden hatte, seine Familie jedoch den Arzt bat, ihn doch anzuschließen, als er bewusstlos war. Dieser Patient habe sich nie mit der guten Absicht seiner Familie arrangieren können und unter seiner Situation gelitten. Es ist anzunehmen, dass Herr Jômon bewusst das Risiko eingeht, den Zeitpunkt der eigenen Entscheidungsfindung zu verpassen. Abschließend kann zusammengefasst werden, dass die Diagnose für Herrn Jômon einen Bruch in seiner Biografie bedeutet. Der Schnitt zwischen Vergangenheit und Gegenwart stürzt ihn in eine Krise, die er durch die Akzeptanz der Diagnose und eine Ausrichtung seines Lebens am fiktiven letzten Augenblick seines Lebens bewältigt. Durch seine Überlegungen, wie er sein neu gewonnenes Ziel eines ›guten Todes‹ umsetzen kann, orientierte er sich an den Werten, die mit seinen sozialen Rollen verbunden sind, und findet durch den Umweg über die Zukunft zurück in die Gegenwart. 4.1.5 Soziale Rollen und ihre Bedeutung für die Interpretation der eigenen Lebenszeit Obgleich die Erzählungen von Frau Minami und Herrn Jômon unterschiedlicher nicht sein könnten, zeigen sie große strukturelle Ähnlichkeiten mit den Beobachtungen von Corbin und Strauss zu Biografien von chronisch Kranken. In beiden Fallbeispielen wurde deutlich, wie durch die Diagnose einer chronischen Krankheit mit tödlichem Verlauf die Biografien der Erkrankten einen Bruch erlitten. Im Fall von Frau Minami kann davon ausgegangen werden, dass sie etwa zehn Jahre vor der eigenen Diagnosestellung durch die Krankheit und den Tod ihrer Mutter eine ähnliche Lebenskrise durchlebte, in der sie die grundlegenden Entschlüsse für ihre heutige Entscheidung traf (zum Beispiel ihre Mitgliedschaft in der JSDD). Für beide Interviewten stellt die Diagnose einen Wendepunkt im Leben dar und die unmittelbar auf die Diagnose folgende Zeit wird als schockartige Tiefphase beschrieben, wenngleich Herr Jômon sie im Rückblick auch als erleichternde Erklärung für seine körperliche Schwäche darstellt. Die Erkrankten organisieren ihr Leben neu und setzen sich mit ihrer Zukunft auseinander, die zu einer absehbaren und voraussichtlich kurzen Zeitspanne geworden ist. Sie bedienen sich dabei vergangener Erlebnisse und Erfahrungen, um das im Interview präsentierte Selbstbild zu verorten, ihren gegenwärtigen Standpunkt zu begründen und ihre Entscheidungen zu erklären. Frau Minami verfolgt die Strategie, die verbleibende Zeit mit aller Kraft zu nutzen, so als könne sie in einem Jahr ein ganzes Jahrzehnt leben. Gleichzeitig beginnt sie, alle ihre Angelegenheiten zu regeln, sich durch Verschenken ihres
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Besitzes und der Erstellung eines Testaments von materiellen Dingen zu trennen und ihre sozialen Rollen abzulegen, um sich aus dem Leben zu verabschieden. Für Herrn Jômon bringt die Auseinandersetzung mit dem Tod die Einsicht, wie er leben will: Die Aufgaben und Verpflichtungen, die mit seinen familiären Rollen als Ehemann und Vater verbunden sind, möchte er, so gut es ihm möglich ist, erfüllen. Herr Jômon kann sich nicht für oder gegen die Beatmung entscheiden, weil er seinen Lebenssinn über seine familiären und sozialen Rollen definiert und sich in einem Dilemma aus Verantwortung für die anderen und eigenen Wünschen verstrickt. Eine Patientenverfügung kommt demnach für ihn nicht infrage: es gibt keine Entscheidung, die er dokumentieren könnte. Da er die künstliche Beatmung für sich noch nicht ausgeschlossen hat, braucht er sich nicht abzusichern. Vorkehrungen für seine Familie kann er nicht treffen, weil er die Entscheidung nicht allein als seine Wahl zwischen verschiedenen Optionen begreift, sondern der Familie eine bedeutende Rolle bei der Entscheidungsfindung einräumt, da auch ihr Leben durch diese Frage grundlegend betroffen ist. Demgegenüber stellt Frau Minami sich als allein verantwortlich für ihr eigenes Leben dar, ebenso wie ihr Mann selbst die Verantwortung für sein Leben trägt und beide nicht voneinander abhängig sind. Die beiden Fallbeispiele können in diesem Sinne als zwei Extreme gesehen werden. Neben der starken individuellen Färbung der Geschichten finden sich in den Interviews jedoch auch immer wieder ähnliche Erzählungen, die auf ein geteiltes Wissen über Krankheitsverläufe schließen lassen. Diese Krankheitsgeschichten begegnen Frau Minami und Herrn Jômon in der ALS-Patientengruppe oder auch durch Bücher, Fernsehdokumentationen oder das Internet. Besonders Herr Jômon verwendet diese Geschichten anderer, um sie mit seiner eigenen abzugleichen und sich selbst zu positionieren. Frau Minami hingegen bleibt auch in dieser Hinsicht mehr auf sich selbst zentriert.
4.2 T IMING , L EBENSERWARTUNGEN DIE R ISIKEN DES ALTERNS
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Durch die Auffassung von einer individuell gestaltbaren Lebenszeit gewinnt der Aspekt des ›Timings‹ in Bezug auf den Zeitpunkt des Todes an Bedeutung. Im Fallbeispiel von Herrn Jômon konnte gezeigt werden, dass gutes Timing eine Kategorie ist, mit deren Hilfe er die Bewältigung seiner Krankheitsdiagnose interpretiert und im Nachhinein eine schwierige Zeit seiner Biografie als günstig für eine Neuorientierung darstellt. Im Zusammenhang mit der Bewertung des Sterbens als guter Tod nennt Long »timing« neben »choice«, »place« und »per-
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son« (Long 2004: 918)14 als einen von vier Begriffen, die eine Schlüsselrolle in den Gesprächen mit ihren Interviewpartnern spielten. Dem Alltagsverständnis nach wird der Tod heute idealerweise in die Lebensphase des Alters eingeordnet, die der letzten Zeiteinheit des standardisierten Lebenslaufes entspricht, dem Ruhestand. Long fasst verallgemeinernd zusammen, dass der Tod im Alter in Japan häufig als trauriges, aber absehbares, wenn nicht sogar ›natürliches‹ Ereignis hingenommen werde, während bei Säuglingen, Kindern oder auch Erwachsenen, die sich vor der Phase des Ruhestands befinden und berufliche und soziale Verpflichtungen innehaben, oft alles in den Möglichkeiten der medizinischen Be-
14 Unter dem Konzept ›choice‹ thematisiert Long die Debatte zu Paternalismus, informed consent und der Familie als Entscheidungsträger in Japan. Vor diesem Hintergrund stellt sie Fallbeispiele aus ihrer Feldforschung vor, um zu verdeutlichen, dass es diverse Umgangsweisen mit Entscheidungsfindungen zum Lebensende gibt, die von Selbstbestimmung über Äußerungen, dem Arzt als Experten die Entscheidung zu überlassen, bis hin zur Familie als Entscheidungsträger reichen (vgl. Long 2004: 921 f.). Zu ›place‹ bezieht sich Long auf die Redewendung tatami no ue de shinitai (auf den Tatamimatten sterben wollen). Dieser Wunsch sei von der Mehrzahl ihrer Interviewten als Idealvorstellung eines guten Todes geäußert worden und habe sich entweder dem Wortlaut entsprechend darauf bezogen, im eigenen Zuhause auf den Tatamimatten sterben zu wollen, oder als Metapher dafür gestanden, umgeben von der Familie sterben zu wollen. In diesem letzteren Sinne bezieht sich Long auf japanische Hospize, von denen die meisten einen Tatami-Raum für die Angehörigen bereitstellen, in dem der Sterbende umgeben von seiner Familie die letzten Stunden verbringen kann. Neben dem Hospiz als neuen Ort des Sterbens geht Long auch auf alternative Deutungen des Krankenhauses als guter Sterbeort ein. In dieser Interpretation stellt das Krankenhaus die nötigen Apparate und das Fachwissen zur Verfügung, damit alles in den Möglichkeiten Stehende getan werden kann, um für das Leben des Kranken zu kämpfen (vgl. ebd.: 923 f.). Zum Konzept der Person schreibt Long, dass in Japan der Fokus weniger auf einer Unterscheidung zwischen ›menschlichem‹ und ›nicht mehr menschlichem‹ Leben durch ein dauerhaftes Koma gelegt wurde, sondern vielmehr Betonung auf die Verbindung zwischen Lebenden, Sterbenden und Verstorbenen gelegt werde. Ein weiterer Aspekt sei die Individualisierung des Sterbeprozesses. Unter dem Konzept der Person behandelt Long neben religiösen Vorstellungen und Individualisierung auch die Redewendung shini me ni au (den Augen des Sterbenden begegnen) (vgl. ebd.: 924 f.), die in Kapitel 4.2.4 behandelt wird.
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handlung Stehende getan werde, um den Zeitpunkt des Todes hinauszuschieben (vgl. Long 2004: 922 und Long 2005: 57).15 Japan gilt heute als das Land mit der im internationalen Vergleich höchsten Lebenserwartung. 16 Dass ein Großteil der Bevölkerung tatsächlich im fortgeschrittenen Alter stirbt, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern wird als ein Charakteristikum postindustrieller Gesellschaften angesehen. Die Entwicklung der Sterblichkeitsrate für die japanische Gesellschaft zeigt, dass seit den 1950erJahren die Lebenserwartung rapide gestiegen ist, sodass heutzutage über 90 Prozent der Bevölkerung sterben, nachdem sie das Alter von 50 Jahren überschritten haben (vgl. Long 2005: 32). Während der Phase der Industrialisierung starben die meisten Menschen an Infektionskrankheiten und Unfällen, die jeden Menschen jederzeit und unabhängig vom Alter treffen konnten. Verbesserungen der Lebensbedingungen, der medizinischen Versorgung, insbesondere der Verfügbarkeit von Antibiotika, sowie staatliche Maßnahmen führten in den 1950er-Jahren zu einem Rückgang von Infektionen. Vor allem die enorme Abnahme der Säuglingssterblichkeit und des Tods im Kindsbett werden für eine ansteigende Lebenserwartung in Japan Ende der 1950er-Jahre genannt, ebenso der Rückgang von Tuberkulose, der Haupttodesursache zu Beginn der 1950er-Jahre (vgl. Long 2005: 30; Atoh 2008: 7, 12).
15 Im Vergleich zur US-amerikanischen Gesellschaft stellt Long fest, dass in den USA die Hoffnung auf Genesung als Kriterium für die Bewertung ausschlaggebender zu sein scheint als das Alter. Selbst bei kleinen Kindern und jungen Erwachsenen würde der Tod akzeptiert, wenn es keine Aussicht mehr auf ein bewusstes, selbstständiges Leben gibt, wohingegen alles medizinisch Mögliche unternommen werde, um zu verhindern, dass jemand ›vor seiner Zeit‹ stirbt, solange es noch Hoffnung gibt. In Japan hingegen beobachtete sie in den 1990er-Jahren, dass Ärzte auf NeugeborenenStationen selbst bei schweren Behinderungen alles in ihren Möglichkeiten Stehende unternahmen, um das Leben der Neugeborenen zu erhalten (vgl. Long 2004: 919). 16 Während die durchschnittliche Lebenserwartung in der Nachkriegszeit bei 50 Jahren lag und damit deutlich (etwa 15 Jahre) unter dem Durchschnitt der anderen Industrieländer, betrug sie für Frauen 2004 über 85 Jahre und für Männern über 78 Jahre, damit galt sie als höchste Lebenserwartung weltweit (vgl. Ölschleger 2008: 28). Auch unter Berücksichtigung des gesundheitlichen Zustandes erreicht Japan die höchste durchschnittliche Lebenserwartung weltweit (vgl. ebd.: 29). Laut United Nations Development Programme (UNDP) betrug 2013 die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt in Japan 83,6 Jahre (vgl. UNDP 2013).
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Als charakteristisch für die Industrialisierung ist ein Wandel von hohen Geburtenzahlen und hoher Sterblichkeit hin zu einer Phase mit einer hohen Geburtenrate, jedoch sinkenden Todesfällen und schließlich zu gleichbleibend niedrigen Geburten- und Sterberaten in postindustriellen Gesellschaften (vgl. Long 2005: 30). Der Beginn des demografischen Wandels wird für Japan aufgrund eines Anteils der über 65-Jährigen von 7 Prozent an der Gesamtbevölkerung auf das Jahr 1970 datiert. Im Jahr 1994 hatte Japan mit einem Altenanteil von 14 Prozent schon die Transformation zu einer alternden Gesellschaft und eine Altersverteilung erreicht, die für Industriestaaten als charakteristisch bezeichnet wird. Der demografische Wandel verlief in einem vergleichsweise rasanten Tempo und legte in Japan innerhalb von 24 Jahren eine Entwicklung zurück, die sich in Staaten wie Frankreich über ein ganzes Jahrhundert erstreckte (vgl. Shimada/Tagsold 2006: 95). Im Jahr 2008 erreichte Japan mit über 21 Prozent der über 65-Jährigen als erste postindustrielle Gesellschaft den Status einer ›überalterten‹ Gesellschaft. Die ›Langlebigkeit der Japaner‹ bei hoher Lebensqualität ist zu einer häufig inszenierten Besonderheit sowohl in Japan als auch im Ausland geworden und wird nicht selten idealisiert.17 Jedoch findet auch eine zunehmende Problematisierung der Alterung statt, die als Gegendiskurs zur Idealisierung der Langlebigkeit gesehen werden kann. Auch hier spielen Zahlen und Verhältnisse eine Rolle: Durch die Langlebigkeit nimmt das Risiko zu, an chronischen, degenerativen Krankheiten zu erkranken, die im Alter vermehrt auftreten (vgl. Atoh 2008: 19). Als charakteristische Todesursachen für postindustrielle Gesellschaften nennt Long für Japan seit Beginn der 1980er-Jahre an vorderster Stelle Krebserkrankungen, gefolgt von Herzkrankheiten und Schlaganfällen (vgl. Long 2005: 32).
17 Idealisierte oder romantisierte Darstellungen von Alter(n) in Japan werden meist in einer vergleichenden Perspektive geäußert, in der dem westlichen Individualismus der japanische Familismus und die Bedeutung der Gruppenzugehörigkeit entgegengestellt wird. Vor allem in Bezug auf das japanische Wohlfahrtssystem ist seit Mitte der 1970er-Jahre von der ›Japanese-style welfare society‹ die Rede. Familiäre Unterstützung, Mehrgenerationenhaushalte und nachbarschaftliche Unterstützung werden in diesem Zuge als japanische Besonderheiten dargestellt, die auf alten Traditionen beruhen. Jedoch verschleiern diese idealisierten Darstellungen häufig die existierenden Probleme und entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als ›invented traditions‹, mit denen Einsparungen im Sozialwesen legitimiert werden sollen. Für eine interessante Untersuchung zur Japanese-style welfare society und dem minsei-iin-System (ein Wohlfahrtssystem von Freiwilligen, die auf lokaler Ebene agieren) als invented tradition s. Goodman 1998: 148 ff.
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Im Vergleich zum Tod durch Infektionskrankheiten fasst sie den Wandel des Sterbeprozesses folgendermaßen zusammen: »A significant feature of dying from these postindustrial diseases is that it is less clearly defined in time and place. In contrast to contracting and then dying from an infectious disease, there is often no clear beginning to the illness process except perhaps hearing the diagnosis of a hidden cancer or blocked artery. When someone is defined as dying, as opposed to being ill, is arbitrary; […]. Because the process of dying is extended and not clearly defined, the place in which dying occurs is also more ambiguous. Officially, over 78% of deaths take place in hospitals, but extended periods of caregiving over the course of a chronic illness also take place in homes and elder care institutions.« (Long 2005: 33; Hervorhebung im Original)
Ein Verschwimmen der Grenze zwischen Krankheit und Sterbeprozess und eine Verlängerung der Sterbephase bzw. von Krankheiten im Alter oder auch eine Zunahme an Pflegebedürftigkeit sind jedoch nur die eine Seite. Auf der anderen Seite hat der technische Fortschritt in der Medizin – und hier vor allem die Präzisierung von Diagnose- und Prognoseverfahren – zu neuen Einflüssen des Faktors ›Zeit‹ auf die letzte Lebensphase geführt. Diagnosen von Krankheiten oder auch Krankheitsrisiken mit Prognosen zum wahrscheinlichen Verlauf stellen Einschnitte in die Biografie der Betroffenen dar, die – je nach Schweregrad der Erkrankung – zu einem entscheidenden Wandel der Lebensweise führen. Krankheiten, deren Diagnose mit einer Prognose über die durchschnittliche oder wahrscheinlich noch verbleibende Lebenszeit einhergehen, konfrontieren die Erkrankten meist plötzlich mit einer berechneten, noch zur Verfügung stehenden Zeiteinheit und messen die ›restliche Lebenszeit‹, die ansonsten als nicht bestimmbar und ungewiss erscheint (s. Kapitel 4.1.3 und 4.1.4). Nicht nur die persönliche Lebensgestaltung wird durch diese Berechnungen der Lebenszeit beeinflusst, sondern es werden auch die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten im Gesundheitssystem nach ihr geregelt. Ein anschauliches Beispiel stellen Tumorerkrankungen dar: Sobald ein Endstadium der Krankheit diagnostiziert wird, in dem keinerlei Aussicht auf Heilung und Verbesserung des Zustandes mehr besteht, werden keine kurativen Maßnahmen mehr ergriffen, sondern Symptom- und Schmerzbehandlungen eingeleitet. Der Patient verliert seinen Anspruch auf ein Krankenhausbett. Durch eine Prognose, dass die voraussichtlich verbleibende Lebenszeit noch maximal sechs Monate beträgt, er-
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hält der Betroffene die Möglichkeit, in ein Hospiz verlegt zu werden (persönliches Gespräch Medical Social Worker 2009).18 Die gemessenen Daten dokumentieren nicht nur den Status quo und dienen den Wissenschaftlern zur Interpretation, um Voraussagen über zukünftige demografische Entwicklungen zu treffen, sie sind auch Gegenstand gesellschaftlicher Deutungen. Sie werden durch bestehende Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit interpretiert und beeinflussen und modifizieren diese andererseits. Die Anthropologin Emiko Ohnuki-Tierney spricht in den 1980er-Jahren von einer hohen Sensibilität in Japan bezüglich des eigenen Gesundheitszustandes. Während offen über die (kleinen) Alltagsleiden (taishitsu und jibyô19) gesprochen werde, sei die Furcht vor ernsthaften Krankheiten jedoch weit verbreitet. Sie stellt eine Zurückhaltung in der japanischen Gesellschaft fest, über bestimmte Krankheiten in der Öffentlichkeit zu sprechen. Dazu gehörten die gefürchteten Krankheiten des 19. Jahrhunderts wie Tuberkulose und Lepra, die bis in die Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts als unheilbar, tödlich und ansteckend galten, sowie Geisteskrankheiten, die ebenso wie Tuberkulose als vererbbar angesehen wurden (vgl. Ohnuki-Tierney 1984: 60). Während die Furcht vor Tuberkulose und Lepra mit der Abnahme der Häufigkeit dieser Krankheiten zurück-
18 Hospize sind nach den Vorgaben des MHLW nur für Patienten mit Krebs und AIDS (für AIDS-Patienten gibt es gesondert ausgewiesene Einrichtungen) vorgesehen, deren Lebenserwartung noch maximal sechs Monate beträgt. Es gibt jedoch auch Hospize, die Ausnahmen bei speziellen Krankheiten machen. So das von mir besuchte Hospiz, das einen, maximal zwei ALS-Patienten aufnimmt. Die Aufnahme von mehr Patienten ist aufgrund des erhöhten pflegerischen Aufwands und der Kostendeckung nicht möglich, da die Krankenkassen nur bei Krebs oder AIDS die vollen Tagessätze an das Hospiz zahlen. Mit den Krankenkassen können die Hospize bei anderen Krankheiten als Krebs oder AIDS nur medizinische Leistungen abrechnen, sodass die Differenz der Kosten von den ALS-Patienten privat gezahlt wird oder über Spenden finanziert werden muss (persönliches Gespräch Medical Social Worker 2009). 19 Während taishitsu die körperliche Konstitution im Sinne von angeborenen physischen Charakteristika bezeichne, werden unter dem Begriff jibyô Krankheiten zusammengefasst, die eine Person ihr Leben lang begleiten. Die beiden Konzepte seien nicht unbedingt trennscharf voneinander zu unterscheiden, die gleichen Symptome könnten sowohl einer angeborenen physischen Konstitution zugeschrieben werden, als auch als chronische Erkrankungen gehandelt werden, unter welche die Person schon ihr Leben lang immer wieder, meist in bestimmten Zyklen oder zu bestimmten Jahreszeiten, leide – die Unterscheidung zwischen beiden Konzepten liege mehr im Grad der Leiden als in den Symptomen (vgl. Ohnuki-Tierney 1984: 53-56).
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ging, würden Geisteskrankheiten nach wie vor gefürchtet. Relativ neu sei hingegen – seit Anfang der 1980er-Jahre – die Angst vor Tumorerkrankungen: »Cancer, on the other hand is new on the scene. It is extremely feared and people do not discuss it, not because it is contagious, but because it is considered to be synonymous with the death sentence.« (Ohnuki-Tierney 1984: 61) Obwohl Krebsdiagnosen immer noch einen entscheidenden Einschnitt in das Leben der Betroffenen bedeuten und Furcht verbreiten, hat die Bedeutungszuschreibung seit Ohnuki-Tierneys Studie in den 1970er- und frühen 1980erJahren einen Wandel erfahren. Während zur Zeit ihrer Feldforschung die direkte Aufklärung des Patienten durch den behandelnden Arzt eine Seltenheit war, ist das Mitteilen der Diagnose durch die Verbreitung des informed consent Prinzips immer mehr zur Norm geworden, sodass das Wissen über die eigene Krankheit der Betroffenen zugenommen hat und zumindest die Möglichkeit zur Kommunikation mit dem sozialen Umfeld besteht. Verbesserungen der Früherkennung, Behandlungsmöglichkeiten und Schmerztherapie haben zudem das Krankheitsbild verändert: Die Krebsdiagnose ist nicht mehr unbedingt gleichbedeutend mit dem ›Todesurteil‹ und die Schmerzen und Leiden bei Krebskranken im Endstadium können durch Palliativbehandlungen gelindert werden (zur Deutung von Krebsdiagnosen als Todesurteil vgl. auch Long/Long 1982 und s. Kapitel 2.1). Durch die Prognose der verbleibenden Lebenszeit scheint der Tod zudem planbar geworden zu sein. In diesem Sinne schreibt der Arzt und Vorsitzende einer regionalen Gruppe der JSDD, Ôta Mitsuo, in seinem Buch mit dem provokanten Titel Ich möchte an Krebs sterben (Watashi wa, gan de shinitai, 1998), an einer Tumorerkrankung zu sterben, stelle für ihn den idealen Tod dar. Dies begründet er damit, dass durch die Fortschritte der Palliativmedizin Schmerzen gut zu kontrollieren seien und die verbleibende Lebensdauer bei Krebserkrankungen heutzutage gut vorhersehbar sei, wodurch Patienten genügend Zeit hätten, ihre Angelegenheiten zu regeln. Zudem würden Tumorerkrankungen früher oder später jeden treffen und er ziehe einen Tod durch Krebs einer demenziellen Erkrankung vor (vgl. Ôta 1998: 1-6). Ôtas Position ist sicherlich extrem und durch seine Funktion als Vorsitzender der JSDD als provokativ einzustufen. Es werden hier jedoch interessante Aspekte sichtbar, die für einen Wandel des gesellschaftlichen Umgangs mit Sterben und dem Bewusstsein von Krankheit und Altern sprechen. Seinen Überlegungen zum guten Tod liegt der aufklärerische Gedanke des informierten Patienten zugrunde (vgl. ebd.: 3). Und auch Ôtas Negativ-Entwurf der Demenz basiert auf dem Ideal des aufgeklärten und rational handelnden Patienten: Demenz erscheint gegenüber Krebs als Schreckensbild, da der bewusste und rationale Umgang mit der Krankheit nicht möglich ist und die Erkrankten ihre verbleibende Lebenszeit
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nicht mehr planen können. Ôtas Bezugnahme auf Demenz verweist auch auf den gesellschaftlichen Diskurs, in dem Demenz zunehmend als ›Altersrisiko‹ ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist. Abschließend kann gesagt werden, dass durch staatliche Aufklärungsprogramme über Gesundheitsrisiken, mediale Berichte und Vorsorgeprogramme das Wissen um die Risiken des Alter(n)s weite Verbreitung in der japanischen Gesellschaft findet. Die meisten Menschen leben in dem Bewusstsein, dass durch eine gestiegene Lebenserwartung und Konzentration der Sterblichkeit auf das Alter, der Tod sie voraussichtlich in der Phase des Ruhestandes ereilen wird. Durch das Wissen über sogenannte Zivilisationskrankheiten und Altersrisiken ist Langlebigkeit allein jedoch kein Ideal. Dieses Bewusstsein zeigt sich in den Narrationen der Interviewten zu ihrer Patientenverfügung. Die Betreffenden setzen sich mit ihren Erfahrungen zu Krankheit und Tod und ihrem Wissen von bestimmten pathologischen Zuständen auseinander. Die Schreckensbilder des Altersrisikos bestehen für sie darin, für die Angehörigen durch eigene Pflegebedürftigkeit zur Last zu werden, zu leiden und Schmerzen zu haben, an Schläuche angeschlossen im Krankenhaus ›dahin zu vegetieren‹ und ohne (Selbst-)Bewusstsein zu leben. In diesem Sinne erfährt auch der medizinische Fortschritt – der im Positiven für die Langlebigkeit verantwortlich gemacht wird – eine negative Umdeutung, wenn medizinische Apparate als Maschinen erscheinen, die unnötig das Leben verlängern. Gedanken über die eigene Lebenserwartung spielen vor allem bei den Interviewpartnern eine bedeutende Rolle, die aus einem generellen Problembewusstsein heraus eine Patientenverfügung verfassen und diese als notwendige Vorkehrung begreifen, die ab einem bestimmten Alter zu treffen ist. 4.2.1 Lang genug gelebt oder länger als gedacht Ein langes Leben zu führen entspricht nicht den Erwartungen aller Interviewten. Frau Ono, die zum Zeitpunkt des Interviews 88 Jahre alt ist, erklärt die Entscheidung für ihre Patientenverfügung mit den Worten: »Das war, weil ich 70 Jahre alt geworden war. Dass ich 70 Jahre [alt wurde] – was ich dachte war: Von meinen Eltern und Geschwistern haben nur einer oder zwei die 70 überschritten, und weil sie in der Regel mit 60 Jahren verschieden sind, ist 70 Jahre wirklich alt, das ist das Maximum, das reicht aus, dachte ich.«
Der Vater ihres Mannes wurde 86 Jahre alt, ein Alter, das ihr außergewöhnlich hoch erschien und das sie aus ihrer eigenen Familie nicht kannte. Als sie dann
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selbst ein ähnliches Alter erreichte, sei sie sehr überrascht gewesen. Frau Onos Erfahrungen, dass die meisten Menschen in ihrem familiären Umfeld mit etwa 60 Jahren starben, entsprechen durchaus der durchschnittlichen Lebenserwartung bei der Geburt ihrer Generation und der ihrer Eltern.20 Sie spricht davon, dass es heutzutage alle möglichen medizintechnischen Apparaturen gibt, die es früher nicht gab. Frau Ono erläutert, dass sie in ihrer Patientenverfügung lebensverlängernde Maßnahmen ablehnt und Schmerzbehandlungen wünscht. Sie lehnt die sogenannten lebensverlängernden Maßnahmen jedoch nicht an sich ab, sondern differenziert zwischen unterschiedlichen Anwendungssituationen. Wenn durch Beatmungsmaschinen und künstliche Ernährung Leben gerettet werden können, dann sollten sie zur Anwendung kommen. Sie fasst ihre Wünsche zusammen mit den Worten, natürlich sterben zu wollen (issai shizen no mama ni shite hoshii). Nicht nur die Lebenserwartung und die Möglichkeiten zur Lebensverlängerung haben sich im Verlaufe von Frau Onos Leben gewandelt, auch das Zeitempfinden ihrer Generation beschreibt Frau Ono als verschieden von den nachfolgenden Generationen. Hinsichtlich des Umgangs mit der Zeit bezieht sie sich zum einen auf die zeitliche Gestaltung des Alltags und die beruflich bedingten späten Schlafenszeiten ihres Sohnes und seiner Familie. Zum anderen stellt sie die Einstellung zur eigenen Lebenszeit als Differenz der Erziehung dar: »[...] Zu meiner Zeit galt die Erziehungsmaxime: ›Mehr als an dich selbst, denke an die anderen!‹« Besonders für Frauen wie sie habe dies bedeutet, dass ihre Familie und insbesondere ihre Kinder an vorderster Stelle standen und das eigene Glück über das Wohlergehen der Kinder definiert wurde. Wenn sie sich mit Freundinnen aus der Schulzeit treffe, dann sei diese Werte-Differenz zu den nachfolgenden Generationen, die zuallererst an das eigene Wohlergehen und die eigene Zukunft denken, oft Thema: »Ich spreche darüber mit meinen Freundinnen, dass wir zu unserer Zeit überhaupt nicht über unsere eigenen Angelegenheiten nachgedacht haben. Darüber sprechen wir oft. Das Glück unserer Kinder – ob das wirklich das Glück der Kinder war, weiß ich nicht – aber dass sie glücklich werden [war für uns das Wichtigste]. Was einen selbst betrifft, spielte keine Rolle. So haben wir gedacht. Das machte das Elternsein aus. Über unsere eigene Zukunft haben wir überhaupt nicht nachgedacht. Aber heute geht das nicht mehr. Das war wirklich verkehrt, denke ich. Letztendlich, wenn man nicht [über seine Zukunft und den
20 Die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt lag 1921, im Geburtsjahr von Frau Ono, sogar nur bei rund 42 Jahren für Männer und 43 Jahren für Frauen (vgl. Ölschleger 2008: 29, Table 1).
234 | Ü BER DEN TOD VERFÜGEN Lebensabend] nachdenkt, dann wird man letztendlich zur Belastung. Das ist etwas, worüber man letztendlich nachdenken muss, das habe ich gemerkt, jetzt, wo ich so [alt] geworden bin.«
Über die eigene Zukunft und auch über den eigenen Lebensabend nachzudenken, unterscheide die nachfolgenden von ihrer Generation. Heute würden die Menschen mehr an sich denken, was sie nicht nur positiv bewertet. Aber nicht über die eigene Zukunft und das Alter nachzudenken, so wie sie das früher getan habe, sei aus ihrer heutigen Sicht »dumm« (baka mitai). Frau Ono gehört zu einer Generation, die in jungen Jahren durch den Krieg mit dem Tod in Berührung kam, und auch in ihrem weiteren Leben wurde sie mit dem Tod von Menschen konfrontiert, die ihr nahestanden. Ihr Ehemann starb schon in den 1960er-Jahren, 21 als die beiden Söhne noch zur Schule gingen. Auch ihr jüngerer Sohn starb in mittleren Lebensjahren. Sie überlebte viele Freunde und Bekannte, die sie in der letzten Lebensphase im Krankenhaus besuchte. Während im Fall von Frau Ono die Erwartung, nicht viel älter als 60 Jahre alt zu werden, durch die durchschnittliche Lebenserwartung ihrer Generation und ihre Erfahrungen mit Krankheit und Tod in ihrem sozialen Umfeld erklärt werden können, verwundert es, dass sich der über 30 Jahre jüngere Herr Kondo eines ähnlichen Erklärungsmusters bedient: »Ich bin jetzt 51 Jahre alt. Mein Leben ist schon mehr als zur Hälfte vorbei. Deswegen ist das, was noch kommt, kurz. Aus diesem Grund beschäftige ich mich damit und denke besonders darüber nach, wie ich es [das Sterben] wohl am besten anstelle.«
Er denke zum Beispiel darüber nach, dass er am liebsten schnell und plötzlich sterben möchte, von einem Moment auf den anderen (ikki ni. Nani mo kangaezu ni ppa to icchau). Seine Lebenseinstellung stellt er dar, als bedeute ihm ein langes Leben nichts: »Ich hänge kaum [an dem Gedanken] lange zu leben. Ich möchte nicht lange leben.« Er scheint diese Aussage nicht als weiter erklärungsbedürftig zu verstehen und lässt sie trotz erstaunter Reaktion so stehen. Erst auf die Frage, warum er nicht lange leben möchte, erklärt Herr Kondo: »Ja also, so gut ist das auch nicht [lange zu leben]. Auch wenn man lange lebt – ja. Deswegen möchte ich nicht lange leben. Nur während ich noch [berufliche] Verantwortung habe, denke ich, dass ich leben muss. Ich möchte leben, aber – mh. Ich bin jetzt wirklich
21 Ihr Ehemann starb vor 43 Jahren, sagt sie, im Jahr Shôwa 40, d.h. 1965.
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51 Jahre alt. Ich dachte früher immer, als ich noch jung war, ich werde bestimmt mit 50 Jahren sterben.«
Er lebe schon länger, als er erwartet habe, erklärt Herr Kondo, weil er ungefähr seit seinem 20. Lebensjahr davon ausging, mit 50 Jahren zu sterben. Da das Pensionsalter für Lehrer bei 60 Jahren liege, habe er sich vorgenommen, auf jeden Fall bis zu seinem 60. Geburtstag zu leben. Die Pensionierung spielt eine wichtige Rolle bei der Strukturierung seiner Lebensplanung. Seine Arbeit als Lehrer an einer Oberschule stellt seine Hauptverantwortung dar. Zu sterben bevor er pensioniert wird, ist seine größte Sorge. Er wünscht sich in seiner handschriftlichen Patientenverfügung eine kleine Beerdigung. Wenn er vor seiner Pensionierung sterben würde, kämen mehrere Hundert Menschen, weiß Herr Kondo aus seiner Erfahrung mit Todesfällen von Kollegen, die, während sie noch im Berufsleben standen, starben.22 Ähnlich wie bei Frau Ono ist hier davon auszugehen, dass die Überlegungen von Herrn Kondo dadurch motiviert sind, dass er nicht zur Last für sein soziales Umfeld werden möchte. Die Belastung im Falle von Herrn Kondo bezieht sich jedoch nicht in erster Linie auf Hilfs- oder Pflegebedürftigkeit im Alter oder der Sterbephase, sondern auf die Verpflichtungen, die sein Tod für die Menschen mit sich bringen würde, mit denen er beruflich verbunden ist. Würde er vor dem Pensionsalter sterben, wären seine Schüler und deren Eltern sowie seine Kollegen verpflichtet, seine Trauerfeier zu besuchen und ihr Beileid in Form von standardisierten Geldgeschenken kundzutun. Für seine Hinterbliebenen würde dies wiederum bedeuten, dass sie eine große Trauerfeier ausrichten müssten, die Beileidsgaben von allen Gästen entgegennehmen und zu einem späteren Zeitpunkt etwas als Gegengabe schenken müssten. Wenn Herr Kondo erst nach seiner Pensionierung stirbt, dann würde zumindest diese Verpflichtung für die Schüler und ihre Familien wegfallen. Bei Herrn Kondo gibt es keinen offensichtlichen Grund für seine Annahme, dass sein Leben mit 50 Jahren zu Ende sein wird. Der 20 Jahre ältere Herr Watanabe jedoch verweist auf seine schlechte körperliche Verfassung während seiner Kindheit, aufgrund derer er nie davon ausging, ein langes Leben zu führen:
22 Mit 60 Jahren verstarb auch sein Vater. Jedoch stellt Herr Kondo im Interview keine Bezüge zwischen seiner eigenen Lebenserwartung und der Lebensdauer seines Vaters her. Er antwortet lediglich auf die Frage, ob seine Eltern früh gestorben sind. Er war 28 oder 29 Jahre alt, als sein Vater starb. Somit liegt die Datierung, seit wann er davon ausging früh zu sterben, vor dem Tod seines Vaters. Seine Mutter lebt zum Zeitpunkt des Interviews bei seinem älteren Bruder.
236 | Ü BER DEN TOD VERFÜGEN »[...] eigentlich hatten mein Vater und auch meine Mutter ein langes Leben. Aber ich habe keine solchen Gedanken, dass ich selbst auch lange leben möchte oder so. [...] Es gibt alle möglichen individuellen Unterschiede und Vorstellungen, denke ich [... unverständlich]. In meinem Fall, also warum ich ganz persönlich so denke, also seit ich geboren wurde, war ich ein sehr kränkliches Kind. Jetzt bin ich gesund und munter (pinpin), ich bin jetzt 70, aber als Säugling sah es drei-, viermal so aus, als sei ich gestorben. Ich war [in einem Zustand] wie tot.«
Herr Watanabe erzählt, wie seiner Mutter früher auf der Straße Beileidsbekundungen (o kuyami) von Bekannten gemacht wurden, die dachten, er sei gestorben. Er stellt sich selbst als schwächliches Kind dar. Er habe sich nicht sportlich betätigen dürfen, worunter er als Kind gelitten habe. An seinen Vornamen sei auch nicht das für Jungen übliche Suffix -kun angehängt worden, sondern die Verniedlichungsform -chan für Mädchen, eine so schwache körperliche Konstitution (kyojaku taishitsu) habe er gehabt. Diese Zeit ist für Herrn Watanabe in lebendiger Erinnerung geblieben: »Diese Zeit meiner Kindheit habe ich noch sehr deutlich im Kopf, wie ich ins Krankenhaus kam oder zu Hause im Bett lag, dass der Arzt kam usw. Diese Erinnerung ist sehr klar und deutlich zurückgeblieben. [...] Wenn ich damals gestorben wäre, wäre ich ehrlich gesagt froh gewesen. Mh, ja, gelegentlich kommt es mir so vor, als würde ich bloß [dahin]leben, dieses Gefühl habe ich manchmal sehr stark. Ich habe kaum Hemmungen, hege keine Wünsche und Erwartungen oder hänge nicht sonderlich an einem langen Leben. Aber ich weiß auch nicht, wie es im entscheidenden Moment wirklich sein wird. (lacht) Vielleicht sträube ich mich im letzten Augenblick und schreie, dass ich noch länger leben möchte.«
Nicht die Länge des Lebens gemessen in Jahren hat für Herrn Watanabe Bedeutung, sondern die Frage, wie die Zeit gelebt wird. Seine Formulierung »bloß zu leben« (ikite iru dake) hat eine negative Konnotation und impliziert aufgrund der Erzählungen über seine Kindheit, dass das reine körperliche ›Überleben‹ nicht ausreicht, um dem Leben einen Sinn zu verleihen. Er hätte es als Kind nicht bedauert, wenn er gestorben wäre. Schon zu Beginn der Passage bringt er zum Ausdruck, dass er nicht unzufrieden ist mit seinem Leben: »In diesem Leben gibt es nichts, was ich bedauere (miren nai desu), es gibt kaum etwas, das ich bedauere (lacht).« Diese Aussage steht im Zusammenhang mit seiner Vorstellung, dass er über die Diagnose und Prognose einer Krankheit aufgeklärt werden möchte, um sich emotional auf den Tod vorzubereiten. Es gehe nicht darum, alle
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möglichen Angelegenheiten wie das Erbe zu regeln oder sich darum zu kümmern, dass die Menschen, die er hinterlassen wird, versorgt sind. Vielmehr ermögliche das Wissen über den nahenden Tod, dass er mit sich selbst ins Reine kommt. Er verwendet die Formulierung ›das Herz ordnen oder aufräumen‹ (kokoro oder hâto no seiri). Im Vergleich der drei Personen fällt auf, dass sie die Erwartungen zur eigenen Lebenszeit als Vorstellung darstellen, die übertroffen wurde. Während Frau Ono und Herr Watanabe von ihrem Alter sprechen, als seien sie von der Länge ihres Lebens überrascht, stellt Herr Kondo schlicht und einfach fest, dass er schon ein Jahr länger lebt, als er in jungen Jahren erwartet hatte. Herr Watanabe bezieht sich auf seinen körperlich schlechten Zustand während der Kindheit als Begründung für seine Erwartungen. Bei Frau Ono sind es die Erfahrungen mit der Lebensdauer ihrer Verwandten, die sie davon ausgehen ließen, nicht älter als 60 Jahre zu werden. Beide Interviewpartner äußern ihr Erstaunen über die nicht erwartete Langlebigkeit. Länger zu leben als sie erwartet hatten, ändert jedoch nichts an ihren Erwartungen zur verbleibenden Lebenszeit. Sowohl Frau Ono als auch Herr Watanabe erwecken den Eindruck, als seien sie darauf gefasst, dass ihr Todeszeitpunkt aufgrund ihres Alters immer näher rückt – als seien sie bereit, den Tod zu akzeptieren. Herr Kondo hingegen begründet seine Annahme mit etwa 50 Jahren zu sterben nicht weiter. Auch er lebe schon länger als er in jungen Jahren angenommen habe, jedoch zeigen seine Überlegungen zum guten Timing des Todes einen Bedeutungswandel in der Ausrichtung seines Lebens auf die Zukunft. Seine Erfahrungen mit Todesfällen in seinem beruflichen Umfeld haben ihn den Entschluss fassen lassen, noch mindestens bis zum Pensionsalter zu leben. Die Vorstellung über die eigene Lebensdauer Entscheidungen treffen zu können, kommt bei den Interviewten deutlich zum Ausdruck. Sie alle haben durch ihre Patientenverfügung den Entschluss gefasst, dass sie unter bestimmten Umständen nicht weiterleben, sondern sterben möchten. Herr Kondo fällt aufgrund seiner beruflichen Situation jedoch nicht nur die Entscheidung seine Lebenszeit zu begrenzen, sondern fasst den Beschluss, noch weitere zehn Jahre zu leben. Entscheidungen über sein Leben und seinen Tod zu treffen, ist ein wichtiges Motiv in der Darstellung von Herrn Kondo. In den Erläuterungen zu seiner Patientenverfügung und zu den Umständen, unter denen er nicht leben möchte (s. Kapitel 5.2.1), bezieht er sich auf seine Lebenszeit, als gebe es zu bestimmten Zeitpunkten unterschiedliche Optionen, von denen eine gewählt werden kann. Lebensverlängernde Maßnahmen sind solche Optionen, die er nicht wählen möchte. Ein weiterer Bereich in Bezug auf den Tod, in dem verschiedene Optio-
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nen zur Wahl stehen, ist die Religion. Auch hier überlegt Herr Kondo, ob er nicht eine der verschiedenen Religionen wählen sollte, um sein Leben und den Tod leichter zu gestalten (s. Kapitel 4.2.5). Bei allen drei Interviewpartnern ist die subjektive Bewertung der eigenen Lebenszeit als ›lang genug‹ verbunden mit einer Ablehnung lebensverlängernder medizinischer Maßnahmen. Sie wünschen kein langes oder ›verlängertes‹ Leben und wollen kein besonders hohes Alter erreichen. Lebenszeit als rein quantifizierbare Zeit – gemessen in Lebensjahren – scheint für sie keinen wichtigen Stellenwert zu haben. Frau Ono bedenkt die möglichen Risiken, im hohen Alter pflegebedürftig zu werden und auf Hilfe angewiesen zu sein, wenn sie davon spricht, es sei notwendig, sich über das Alter und die eigene Zukunft Gedanken zu machen, um nicht zu einer Belastung für die Familie zu werden. Auch Herr Kondo äußert Gedanken, in denen er Alzheimer und ein Leben in Abhängigkeit von medizinischen Apparaten und von familiärer Pflege als belastend darstellt, und dass er Lebenslagen dieser Art im Voraus durch Entscheidungen in der Patientenverfügung vermeiden möchte. Herr Watanabe spricht nicht von einer Belastung für die Angehörigen sondern äußert Zweifel, ob es erstrebenswert ist zu leben, wenn die verstreichende Lebenszeit subjektiv nicht als bedeutsam empfunden wird. Neben den geäußerten Vorstellungen zu Zuständen, welche die Interviewten durch ihre Patientenverfügung vermeiden wollen, sprechen sie auch über ihre Idealvorstellungen von einem guten Tod. Diese Idealvorstellungen können als Gegenentwürfe zu einem medikalisierten Tod verstanden werden. Besonders deutlich wird dies in den Formulierungen von Frau Ono, die sich einen ›natürlichen‹ Tod wünscht, und in der Idealvorstellung von Herrn Kondo, einen plötzlichen, schnellen Tod zu sterben. Herr Watanabe hingegen spricht nicht von seinen Idealvorstellungen eines Todes jenseits von Krankheit, sondern bezieht sich auf das Ideal eines aufgeklärten Umgangs mit dem Wissen vom nahenden Tod. 4.2.2 Pokkuri: Der plötzliche, schnelle Tod Der plötzliche, schnelle Tod – auch häufig als pokkuri bezeichnet – ist zusammen mit dem Tod durch Altersschwäche rôsui ein weit verbreitetes Ideal des guten Todes. Long vermutet, dass beide volkstümlichen Konzepte älter sind als die Medikalisierung von Alter und Sterben, weist jedoch darauf hin, dass beide Konzepte für einen natürlichen Tod stehen und zu Gegenentwürfen eines medikalisierten Sterbeprozesses geworden sind (vgl. Long 2004: 922). Als Ideal werden Begriffe, die pokkuri ähneln auch von meinen Interviewpartnern angeführt. Wenn es ihnen möglich wäre, auf diese Art zu sterben, dann bräuchten sie keine
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Patientenverfügungen. Die Interviewten sehen ihre Patientenverfügungen als Vorkehrung, die sich auf das Risiko bezieht, im Alter zu erkranken und im Krankenhaus zu sterben. Durch die Patientenverfügung sollen somit Rahmenbedingungen für einen guten Tod in einer medizintechnischen Umgebung geschaffen werden. Während rôsui für einen altersbedingten Tod steht, der nicht durch Krankheit hervorgerufen wird und idealerweise wie ein friedliches Einschlafen vonstattengeht, ist pokkuri das Ideal des plötzlichen und unvorhersehbaren Todes, der dem Betroffenen eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod, der Krankheit und Schmerzen sowie Pflegebedürftigkeit erspart (vgl. Long 2004: 922). Long verweist in diesem Kontext auf den Brauch, in buddhistischen Tempeln um pokkuri zu bitten. Seit den 1970er-Jahren erfreue sich dieser Brauch besonders unter Frauen einer großen Beliebtheit. Sie erklärt dies mit der häufig von Frauen zum Ausdruck gebrachten Befürchtung, durch die eigene Pflegebedürftigkeit zu einer Last für die Angehörigen zu werden (vgl. Long 2005: 55). Neben der Bezeichnung pokkuri gibt es weitere alltagssprachliche Redewendungen, die sich auf das gleiche Idealbild beziehen. Herr Kondo spricht von ikki ni (s.o.) und bezieht sich auf einen Tod, der von einem auf den anderen Atemzug eintritt. Er verweist hier auf das Gegenteil eines planbaren Todes, wie es in seinen Überlegungen zum guten Timing oder der Optionen, die durch die Patientenverfügung zur Wahl stehen, zum Ausdruck kommt. Das Ehepaar Fukui spricht von pinpin korori, was so viel heißt wie im gesunden Zustand einfach umfallen und tot sein. Frau Fukui erklärt ihre Vorstellung dieses Ideals näher und erzählt, dass sie sich mit ihrem Mann seit einigen Jahren ehrenamtlich engagiere. Das Ehepaar fahre etwa einmal im Jahr nach Thailand oder auf die Philippinen und helfe bei Aufforstungsprojekten mit. Wenn sie einen ganzen Tag lang Bäume gepflanzt habe, berichtet die 80-jährige Frau Fukui, dann fühle sie sich abends erschöpft und glücklich. Mit einem zufriedenen Gefühl dieser Art wünsche sie, aus dem Leben zu gehen. 4.2.3 Zeit zur Vorbereitung auf den Tod Bei Herrn Watanabe kommt der Wunsch zum Ausdruck, wissen zu wollen, dass er sterben wird. Er möchte über seine Diagnose und Prognose aufgeklärt werden, um die verbleibende Lebenszeit zur Vorbereitung auf den Tod zu nutzen. Hier ist sicherlich eine Parallele zu Ôta Mitsuos Vorstellung einer bewussten Vorbereitung auf den Tod zu erkennen. Herrn Watanabe geht es jedoch nicht darum, materielle Dingen zu regeln, sondern in erster Linie möchte er sich emotional auf den Tod vorbereiten, um ihm gefasst entgegenblicken zu können.
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Die emotionale Vorbereitung ist auch in anderen Interviews Gegenstand der Überlegungen. Frau Minami spricht davon, dass es zum Fassen einer Entscheidung für oder gegen die künstliche Beatmung wichtig sei, die eigenen Gefühle zu ordnen (kokoro no seiri; wörtlich: das Herz aufräumen). Hier zeigt sich auch eine Parallele zu der von Herrn Jômon angesprochenen Zeit zum Weinen, die er als wichtig erachtet, um die Krankheit zu bewältigen und Entscheidungen treffen zu können. Herr Jômon spricht zudem von der Bedeutung der ALSPatientengruppe und der gegenseitigen Unterstützung, um das eigene Innere zu ordnen (jibun no naka no seiri). Ebenso wie Herr Watanabe sich emotional auf den Tod vorbereiten möchte, um ihm gelassen entgegenzublicken, hofft auch Frau Minami, dass sie Ruhe bewahren kann, wenn die Atmung schwerer wird und sie stirbt. Sie hat bereits begonnen, sich auf den Tod vorzubereiten und emotional aus dem Leben zu lösen. Auch Long und Long schreiben in ihrer Studie in den 1980er-Jahren, dass ihre Interviewpartner von dem Ideal sprachen, ruhig und ohne Angst vor dem Tod zu sterben. Die Autoren führen diese Vorstellung auf eine idealisierte Sichtweise zurück, wie ein Krieger in der japanischen Feudalzeit im Sinne des bushidô (Weg des Kriegers) zu sterben hatte (vgl. Long/Long 1982: 2103-2106). Eine weitere Übereinstimmung sieht Long in dem buddhistischen Ideal, dem Tod ruhig und mit Fassung entgegenzublicken ohne am Leben festzuhalten und stattdessen einen Sinn im Tod zu finden (vgl. Long 2001a: 67). Ein entscheidender Unterschied besteht jedoch in dem Wunsch der Interviewpartner von Long und Long, nicht über eine Krebsdiagnose aufgeklärt zu werden. Im Gegensatz zu Herrn Watanabe und Frau Minami lehnten die Interviewpartner von Long und Long die Aufklärung über den nahenden Tod mit der Begründung ab, das Wissen würde sie beängstigen und dann könnten sie nicht mehr ruhig und gefasst sterben. Auch Frau Minami und Herr Kondo kennen die Sorge, kurz vor dem Eintritt des Todes die Fassung zu verlieren, jedoch begreifen sie beide das Wissen um das nahende Ende als Möglichkeit, sich bewusst mit dem Tod auseinanderzusetzen und sich aus dem Leben zu lösen. Dass diese bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod nur eine mögliche Umgangsweise mit der eigenen Lebenszeit ist, bringt Frau Kondo in Bezug auf ihre berufliche Erfahrung mit Sterbenden im Hospiz zur Sprache. Sie unterscheidet die Patienten in diejenigen, mit denen sie über den Tod sprechen kann, und solche, die zu verstehen geben, dass sie nicht darüber sprechen möchten. Der Umgang mit dem Tod hänge auch entscheidend von der familiären Situation oder dem Alter des Sterbenden ab. Auf ähnliche Beobachtungen bezieht sich Long, wenn sie davon spricht, der Tod von alten Menschen werde eher akzeptiert und als absehbares Ereignis be-
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griffen (vgl. Long 2004: 922). Dabei gebe es kein bestimmtes Alter oder eine Altersgrenze, die als Wendepunkt in der Bewertung eines Todeszeitpunktes als verfrüht oder als zu erwarten gelte. Vielmehr hänge die Bewertung mit den sozialen Rollen und den damit verbundenen Aufgaben zusammen. Long nennt hier vor allem Kinder, die noch nicht aus dem Elternhaus ausgezogen sind und noch keine eigene Familie gegründet haben, oder berufliche Verpflichtungen als Aspekte, die bei einer Einschätzung als verfrühter Tod eine Rolle spielen (vgl. ebd.). Auch Frau Kondo bezieht sich zur Verdeutlichung ihrer Aussage auf Konstellationen, in denen die Mutter oder der Vater eines noch nicht erwachsenen Kindes stirbt. In solchen Fällen gebe es noch kokoro nokori, was so viel bedeutet wie, dass das Herz zurückbleibt. Dabei kann sowohl der Gefühlszustand des sterbenden Elternteils gemeint sein als auch der emotionale Zustand der Kinder des Verstorbenen. Kokoro nokori erinnert an den Ausdruck shûchaku (am Leben hängen), der in der Verneinung eine wichtige Rolle für die Verabschiedungsstrategie und Vorbereitung auf den Tod bei Frau Minami spielt. Durch kokoro nokori und shûchaku ga aru/nai wird eine Aussage über die emotionale Bindung an das Leben und die Lebenden getroffen. Diese Bindung wird von den Betroffenen häufig über den Kontext ihrer familiären Rollen hergestellt. Frau Minami und ihr Mann betonen ebenso wie das Ehepaar Kondo im Zusammenhang mit ihrer Ablehnung lebensverlängernder Maßnahmen, dass sie keine Kinder haben. Herr Kondo bezieht sich auch auf seine beruflichen Verpflichtungen durch seine Rolle als Oberschullehrer, die ausschlaggebend sind für seine Vorstellung zum guten Timing des Todes. Herr Jômon – der durch seine Konzentration auf die Rollen als Vater und Ehemann nach der ALS-Diagnose sein Leben wieder auf die Zukunft ausrichtete – spricht davon, nicht sterben zu wollen, bevor alle drei Söhne ihre eigene Familie gegründet haben. 4.2.4 Timing und die Anwesenheit der Angehörigen am Bett des Sterbenden Gutes Timing im Zusammenhang mit Sterben und sozialen Verpflichtungen spielt auch im Kontext des Todes Dritter eine bedeutende Rolle. Dies kommt in der Erzählung von Herrn Watanabe zum Ausdruck, wenn er den Tod seines Vaters dem Tod seiner Mutter gegenüberstellt (s. Kapitel 3.2.1). Sein Vater wurde aus dem Krankenhaus heraus in ein Altenheim verlegt. Heute wisse er, dass sein Vater an Demenz erkrankt war. Im Altenheim starb er nach einer Woche über Nacht alleine und ohne den Beistand seiner Familie. Es komme im Altenheim
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öfter vor, erklärt Herr Watanabe, dass die Menschen sich nachts verschlucken oder sich etwas im Hals festsetzt und niemand da ist, der ihnen hilft. Er habe heute noch ein schlechtes Gewissen (kôkai/kui). Zum Zeitpunkt des Todes anwesend zu sein, bezeichnet Long als stark normierende soziale Erwartung an die Familie. Die Redewendung shini me ni au (den sterbenden Augen begegnen) bringe besonders deutlich die Bedeutung der sozialen Beziehungen für die Interpretation des Todes als ›guter Tod‹ zum Ausdruck, während das Sterben in Einsamkeit in dem Ausdruck kodoku na shi (einsamer Tod) als Inbegriff des schlechten Todes gelte (vgl. Long 2005: 61). Long berichtet auch von Fallbeispielen, in denen der Anwesenheit aller Familienmitglieder beim Eintreten des Todes so viel Bedeutung beigemessen wurde, dass trotz einer Ablehnung lebensverlängernder Maßnahmen der Tod medizinisch hinausgezögert wurde, bis alle Verwandten anwesend waren (vgl. ebd.: 128 und 134 f.). Im Falle der 94-jährigen Mutter von Herrn Watanabe war die Familie anwesend, als sie aufgrund von Lungenkrebs im Krankenhaus auf »natürlichem Weg« verstarb. Auch Frau Chibana stellt den Tod ihres Mannes im Krankenhaus als guten Tod dar, da es ihr und ihren Töchtern möglich war, im Augenblick des Todes anwesend zu sein und Abschied zu nehmen. Vor dem Hintergrund der Idealvorstellungen eines guten Todes erscheint die Patientenverfügung hier als Instrument, um einen möglichst guten Tod zu ermöglichen, wenn das Timing nicht gut war und ein Sterben im Krankenhaus nicht vermieden werden konnte. Den Idealvorstellungen der Interviewten liegt ein Verständnis der eigenen Lebenszeit zugrunde, die das Weiterleben unter bestimmten Umständen als nicht erstrebenswert erscheinen lässt. Sie konstruieren eine Grenze, die eine sinnerfüllte von einer sinnentleerten Lebenszeit trennt. War das Timing nicht gut und ist der Tod nicht vor dem Überschreiten dieser Grenze eingetreten, dann soll die Patientenverfügung verhindern, dass das Leben in diesem Zustand noch zusätzlich durch die Möglichkeiten der modernen Biomedizin verlängert wird. Ebenso wie in Longs Feldforschung Mitte der 1990er-Jahre spielt bei meinen Interviewpartnern das Alter eine Rolle zur Bewertung des guten Todes. Die Narrationen zeigen, dass ›Alter‹ eine Kategorie ist, die nicht allein durch quantifizierbare Lebenszeit definiert wird und dass es keine bestimmte Altersgrenze gibt, ab welcher der Tod akzeptiert wird. Auch die Bewertung eines vorzeitigen Todes hängt nicht unbedingt nur mit dem konkreten Alter der Sterbenden zusammen. Die Erzählung von Herrn Watanabe über den Tod seines Vaters zeigt vielmehr, dass das Timing und die Umstände des Sterbenden eine ausschlaggebende Rolle spielen: Auch im hohen Alter kann das Timing des Todes als zu früh und
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schlecht bewertet werden, wenn es durch eine angemessene Betreuung vermeidbar gewesen wäre oder der Tod als einsam bewertet wird und wie im Fall von Herrn Watanabes Vater wahrscheinlich unter quälenden Umständen eingetreten ist. Die Fallbeispiele von Frau Ono, Herrn Kondo und Herrn Watanabe zeigen, dass eine Interpretation der eigenen Lebenserwartung und der subjektiven Einschätzung der eigenen Lebenszeit – als lang genug oder länger als gedacht – nicht unbedingt mit der durchschnittlichen Lebenserwartung übereinstimmen muss. Nicht allein durch das Überschreiten einer bestimmten Altersgrenze wird die eigene Lebenszeit als lang genug bewertet. Ausschlaggebend für die Interpretation der eigenen Lebenszeit sind bei Frau Ono die Erfahrungen mit der Lebenserwartung von Angehörigen und Freunden sowie mit Krankheit und Tod im sozialen Umfeld; Erfahrungen mit der eigenen körperlich schlechten Konstitution während der Kindheit bei Herrn Watanabe sowie eine unbestimmte Vorstellung des jungen Erwachsenen bei Herrn Kondo, die im Hinblick auf seine Erfahrungen am Arbeitsplatz und vor dem Hintergrund seiner beruflichen Verpflichtungen umgedeutet wird. Die Erzählungen von Herrn Watanabe über die Entscheidung, keine lebensverlängernden Maßnahmen bei seiner Mutter einzuleiten (s. Kapitel 3.2.1), und Frau Minamis Erwähnung, viel erlebt und zur Genüge getan zu haben, was sie tun wollte (s. Kapitel 4.1.3), zeigen außerdem, dass für die Akzeptanz des Todes auch der Gedanke ausschlaggebend ist, die Lebenszeit nach eigenen Vorstellungen gestaltet oder eine sinnerfüllte Zeit verlebt zu haben. 4.2.5 Lebenszeit und Zeitlosigkeit Im heutigen Japan, erklärt Long, gebe es mindestens zwei sich widersprechende kulturelle Botschaften zur Bedeutung des Todes. Zum einen die moderne wissenschaftliche Sicht auf Leben und Tod, aus welcher der Tod das Ende des Lebens bedeutet und keinerlei Existenz nach dem Tod angenommen wird. Auf der anderen Seite sind sowohl buddhistische als auch schintoistische Auffassungen von Tod und Leben dafür bekannt, dass sie in unterschiedlichen Formen von einer Existenz nach dem Tod und einer Kontinuität zwischen Lebenden und Toten ausgehen. Über die Existenz oder die Welt nach dem Tod gebe es diverse Vorstellungen. Ein Charakteristikum, das diesen Vorstellungen gemein ist, kann in der Durchlässigkeit der Grenze zwischen den Welten der Lebenden und der Toten gesehen werden (vgl. Long 2001a: 68). In einigen Fallbeispielen kommen Vorstellungen zum Ausdruck, dass der Tod nicht das Ende ist. Die Gedanken zur Bedeutung des Todes und der Glaube daran, was nach dem Tod kommt, sind jedoch nicht unbedingt Ausdruck eines
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religiösen Glaubens. Einige der Interviewten betonen explizit, dass sie keiner Religion angehören (shûkyô ga nai; s.u.). Margaret Lock weist darauf hin, dass heutzutage viele Vorstellungen, die buddhistischen oder schintoistischen Ursprungs sind, in Form von Bräuchen und Ritualen aus Respekt vor den verstorbenen Vorfahren im Alltag praktiziert werden (vgl. Lock 2002: 211 ff.). Sie ordnet Ahnen-Vorstellungen nicht in den Bereich des Heiligen ein, sondern betont die Familienzugehörigkeit der Ahnen und ihre Rolle für die Erhaltung der Moral im alltäglichen Leben (vgl. ebd.: 212). Ebenso bedienen sich meine Interviewpartner ursprünglich religiöser Vorstellungen, wenn sie über das Leben oder den Tod reflektieren, ohne sie unbedingt als rein religiöse Konzepte zu verstehen. Gemeinsam ist den verwendeten Konzepten, dass sie die Funktion erfüllen, Trost zu spenden, mit der Angst vor dem Tod umzugehen und durch eine Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten die Vorstellung einer begrenzten Lebenszeit zu transzendieren. Die Frage, ob es eine Kontinuität zwischen Leben und Tod gibt, ist eng verknüpft mit dem Glauben an ein tamashii. Die Vorstellung von einem tamashii ähnelt einem christlichen Konzept der Seele insofern, als das tamashii nach dem biologischen Tod fortbesteht und mit dem Gedanken ewiger Existenz verknüpft ist. Jedoch unterscheidet sich die tamashii- von der christlichen Seelen-Vorstellung entscheidend dadurch, dass kein Dualismus zwischen Körper und Geist angenommen wird: Das tamashii ist als eine Art Lebensgeist zu verstehen, der sich überall im Körper befindet. Schon zu Beginn des Interviews erwähnt Frau Minami, dass sie zwar nicht religiös sei, jedoch an die Zeitlosigkeit (eien) des tamashii glaube. Die Vorstellung, dass ihr tamashii nach dem Tod des Körpers ewig weiter existiert, bildet die Grundlage für Frau Minamis Einstellung zu Leben und Tod und ist ein immer wiederkehrendes Motiv: »Ich bin nicht religiös, aber eine bedeutende Sache für mich ist [die Vorstellung], dass das tamashii grundsätzlich ewig zu sein scheint. Weil ich so denke, hänge ich nicht so sehr wie andere Menschen am Leben (shûchaku ga nai), denn ich habe das Gefühl, auch wenn dieser Körper aufhört [zu existieren], ist das nicht alles.«
Die Vorstellung von der Ewigkeit des tamashii ist die Voraussetzung für Frau Minami, sich schon zu Lebzeiten von materiellen Dingen und ihren sozialen Aufgaben und Verpflichtungen zu trennen, um sich auf den Tod vorzubereiten. Tod bedeutet durch ihre Annahme vom Fortbestehen des tamashii, dass ihre Existenz nicht allein physisch ist und dass sie auch nach dem Vergehen des Körpers als tamashii weiter existiert. Um ihre Vorstellung von der Zeitlosigkeit des
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tamashii zu erklären, erzählt Frau Minami von einem Erlebnis, das sie nach dem Tod ihrer Mutter hatte: »Das Gefühl eines zeitlosen tamashii habe ich seit dem Tod meiner Mutter. Als meine Mutter starb, war ich sehr traurig und einsam. Am Tag nach ihrem Tod weinte ich alleine in der zweiten Etage. Und dann – ob ich mir das einbildete, weiß ich nicht – aber auf einmal war es warm. Wenn ich es in einer Farbe ausdrücken sollte, dann war es Pink. Eine warme Atmosphäre bewegte sich, ein Gefühl als würde sie mich umarmen. Dieses Gefühl hatte ich wirklich und ich dachte zu dieser Zeit: ›Ah, das ist meine Mutter.‹ Deswegen, also, am nächsten Tag da konnte ich nicht anders, als zu denken (omoeta), auch wenn man tot ist, dann ist das tamashii immer noch da.«
Frau Minami stellt ihre Gedanken als Erlebnis dar, das ihr Gewissheit über die Existenz des tamashiis gab. Sie konnte gar nicht anders als zu denken, das tamashii ihrer Mutter habe ihr Beistand geleistet und sie getröstet. Doch scheint diese Vorstellung nicht frei von Zweifeln zu sein. Schon im nächsten Satz überlegt Frau Minami lachend, ob sie wirklich überzeugt ist oder ob sie nur gerne so denken würde (ometa, omoitai. Docchika wakaranai). Sie versucht den Zweifel fortzuschieben, formuliert jedoch letztendlich ihre Gedanken als Wunsch oder Hoffnung: »(lachend) Was ich auch denke, [ob ich mir sicher bin oder es mir wünsche] es ist eine positive Denkweise. Eigentlich wird man zu Staub im Weltall, aber ist es nicht besser zum tamashii, zum leuchtenden und funkelnden Licht zu werden, das immer da ist, als zu Staub? [unverständlich] Alle sind eins, mit so einem Gefühl möchte ich sein, bin ich (lacht). Klarheit gibt es nicht, aber – Klarheit, was bedeutet das? Ich bin mir nicht sicher. So ein Gefühl ist das.«
Frau Minami umschreibt das tamashii an beiden Stellen im Interview auf zwei unterschiedliche Arten. Das tamashii ihrer Mutter beschreibt sie als warme Luft oder Atmosphäre, die ihr ein Gefühl von Pink vermittelt. Das tamashii ist nicht sichtbar, sondern wird als unsichtbare Veränderung der Atmosphäre von ihr gespürt. Sie fühlt sich auf eine angenehme Art und Weise umschlossen, geborgen und getröstet: Emotionen, die eng mit der Rolle ihrer Mutter verknüpft sind. Die zweite Umschreibung des tamashii formuliert sie nicht aus der Erlebnissondern rein aus der abstrakten Vorstellungsperspektive. Nicht die Begegnung mit einem tamashii und die Emotionen, die es auslöst, sind Gegenstand ihrer Überlegungen, sondern eine nicht personifizierte Vorstellung des tamashii. Sie stellt es durch das Bild eines leuchtenden und funkelnden Lichts zwar als sicht-
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bar dar, jedoch ohne konkrete Form oder Begrenzung. Im übertragenen Sinn kann auch das Bild des Lichts in dieser Darstellung als Metapher für Hoffnung interpretiert werden. An einer späteren Stelle im Interview wird das Thema noch einmal aufgegriffen. Hier spricht sie von dem Wunsch (kibô), dass es ein ewiges tamashii gibt.23 Frau und Herr Tanaka24 konfrontieren Frau Minami mit ihrer Einstellung, so lange wie möglich und unter allen Umständen leben zu wollen. Frau Tanaka begründet dies mit ihrer Angst vor dem Tod und dem, was nach dem Tod kommt. Frau Minami teilt die Ansichten von Frau und Herrn Tanaka nicht, sie zählt Zustände auf, zum Beispiel Windeln tragen zu müssen, in denen sie nicht leben möchte. Auch sie kenne die Furcht vor dem Tod, jedoch beunruhige sie vielmehr, ob sie den Sterbeprozess ertragen und ihre Haltung bewahren kann, als das, was nach dem Tod kommt. Insbesondere sorge sie sich vor der Phase, in der das Atmen qualvoll wird. Dass sie Schmerzen haben werde, dagegen könne sie nichts tun, aber sie befürchte, dass ihr die Kraft fehlen wird, diese zu ertragen. Die Vorstellung nach dem Tod als tamashii ewig weiter zu existieren erfüllt in dieser Darstellung die Funktion, den Tod als nicht beängstigend darzustellen, wohingegen das Sterben als besorgniserregend erscheint. In der Literatur wird häufig erwähnt, dass sowohl in den buddhistischen Lehren als auch im Schintoismus der Tod als Teil eines natürlichen Kreislaufes gesehen werde, wodurch der Tod zum Leben gehöre und es keinen Grund zur Furcht gebe (vgl. Kimura 1998: 187; Long 2001a: 67). Der Buddhismus kennt das Ideal des Sterbenden, der dem Tod ruhig und gefasst entgegensieht, so wie es von Long und Long auch als idealisierter Tod im bushidô dargestellt wird (vgl. Long/Long 1982: 2103-2106). Susan O. Long scheibt, dass ihre Interviewpartner nur selten über die Angst vor dem Tod oder Sterben sprachen. Über die Thematisierungen aus ihrer Feldforschung sagt sie: »[...] I did hear from several elderly people with cancer that
23 Herr Minami ist zu diesem Zeitpunkt des Interviews auch zugegen und vertritt in der Diskussion die Meinung, nachdem der Körper zugrunde gegangen ist, gebe es nichts mehr außer den Tod. Frau Minami verweist ihn daraufhin auf ein Buch mit dem Titel Tamashii wa eien da (Das tamashii ist ewig), das er mit ihr zusammen lesen solle. 24 Während des Interviews mit Frau Minami sind mehrere Personen zugegen. Frau Tanaka, eine Masterstudentin, die ihre Abschlussarbeit über Entscheidungsfindungen bei ALS-Patienten schrieb, stellte mir Frau Minami vor. Sie und ihr Mann, der uns zum Interview gefahren hatte, hielten sich bis zu diesem Zeitpunkt zum Ende des Interviews eher im Hintergrund, während der ebenfalls anwesende Betreuer von Frau Tanakas Masterarbeit, Herr Yamamoto, von Beginn an Fragen stellte.
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they were not afraid of death, and others, including middle-aged people, differentiated between death itself, of which they were not afraid, and the process of dying, about which they had deep concerns.« (Long 2001a: 67) Sie vermutet: »Perhaps a more realistic view is that Buddhist ideal of a calm death requires first a recognition that people do fear death. The ideal death then draws our attention to the mental or spiritual strength to overcome that fear [...].« (Long 2001a: 67 f.; Hervorhebung im Original) Die Erzählungen von Frau Minami erinnern an dieses Ideal und die geistige Kraft, die sie versucht aufzubringen, um mit ihrer Angst vor dem Sterben und dem Tod umzugehen. Frau Minami befürchtet, dass sie in der Sterbephase keine Ruhe bewahren und dem Tod nicht ruhig entgegensehen kann. Die Vorstellung des tamashii hilft ihr, mit ihrer Angst umzugehen, und so ist es nicht der Tod, der ihr Furcht bereitet, sondern die letzte Phase des Lebens, das Sterben. Frau Kondo ist durch ihre Arbeit im Hospiz mit den Ängsten und Befürchtungen von Menschen in der letzten Lebensphase vertraut. Sie arbeitet in einem christlichen Hospiz, erklärt jedoch, dass die Patienten keinen Zugang zu einer christlichen Gottes-Vorstellung haben. Die meisten glauben nicht an einen Gott, der sie beschützt und ihnen im Sterben hilft oder zu dem sie als Verstorbene zurückkehren werden25. Ob jemand an eine Religion glaube oder nicht, spiele eine wichtige Rolle für den Umgang mit dem Tod. Frau Kondo geht davon aus, dass Sterben durch religiöse Vorstellungen, die eine Kontinuität zwischen Leben und Tod herstellen, einfacher wird. In Japan würden sich viele Menschen als nicht religiös bezeichnen, auch wenn die Totenfeier häufig buddhistisch sei. Wenn man keinen Glauben habe, dann sei die Frage, was nach dem Tod kommt, schwer zu beantworten. Die Vorstellung, sich in Nichts aufzulösen, spende keinen Trost. Frau Kondo sieht auch einen Zusammenhang zwischen Religion und der Aufklärung der Patienten über die Diagnose einer schweren Krankheit. Wenn jemand an keine Religion glaube, dann kappe die Diagnose für die Betroffenen die Verbindungen zur Zukunft: »Von dort aus wird die Zukunft zum hoffnungslosen Ort. Es ist sehr hart, weil sie das verlieren, was sie mit der Zukunft verbindet.« Es bestehe die Gefahr, dass die Menschen vereinsamen, verzweifeln und hoffnungslos werden, weil sie nichts haben, worauf sie sich stützen können. Religion stellt Frau Kondo in diesem Zusammenhang als hilfreich dar, die verloren
25 Sie bezieht sich an dieser Stelle nicht explizit auf christliche Vorstellungen, bezeichnet jedoch die Vorstellung eines Gottes, an dessen Seite die Verstorbenen zurückkehren, an einer früheren Stelle als christlich.
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gegangene Verbindung mit der Zukunft wiederherzustellen oder aufrechtzuerhalten. Frau Kondo bezeichnet sich selbst als nicht religiös. Ihre Großmutter sei Christin und sie habe einen katholischen Kindergarten besucht, sei jedoch nie getauft worden. Die Vorstellung eines Gottes, an dessen Seite die Verstorbenen zurückkehren, entspreche nicht ihren eigenen Vorstellungen. Frau Kondo grenzt sich von den Vorstellungen eines christlichen Gottes ab und erklärt, sie versuche den Sterbenden im Hospiz die Vorstellung zu vermittelt, dass die Menschen nach dem Tod wieder zueinanderfinden: »Ich habe keine Religion. Aber ich denke, mehr als dass man zu einem Gott zurückkehrt, dass man die Menschen wiedertrifft, die vor einem gegangen [gestorben] sind. [...] Unter den Patienten gibt es solche, mit denen man darüber Gespräche führen kann, und andere, mit denen das nicht geht. Die, die das können, mit denen kann man alle möglichen Gespräche führen: ›Haben sie Angst?‹ oder ›Was besorgt Sie im Moment am meisten?‹ oder ›Gibt es etwas, das Sie noch gerne tun würden?‹ Und gleichzeitig kann ich sagen: ›Ich denke, dass ich höchstwahrscheinlich später nachkommen [sterben] werde. Soll ich nicht irgendetwas als Souvenir mitbringen?‹ Und sie antworten: ›Ja so ist das. Aber ich brauche nichts, danke.‹ Aber wenn ich dann sage: ›Kommen Sie mich abholen, wenn ich gehe [sterbe]?‹, antworten sie: ›Ja, ist in Ordnung‹.«
Die Gespräche mit den Sterbenden verfolgen das Ziel, sich zu einem Zeitpunkt nach dem Tod zu verabreden und somit eine Verbindlichkeit über den Tod hinaus zu schaffen, die Halt gibt. Der Sinn und Zweck der Gespräche scheint gleichbleibend zu sein, doch die konkreten Unterhaltungen und die getroffenen Verabredungen spiegeln die Persönlichkeit und individuelle Lebensführung der Hospiz-Patienten wieder. Der eine wünsche sich japanische Süßigkeiten als Mitbringsel, der andere jahreszeitliche Früchte und ein Dritter verabrede sich zum Sake trinken: »Jemand, der gerne Sake trank, sagte: ›Lassen Sie uns zusammen trinken.‹ Und weil wir uns extra treffen um zu trinken: ›Lassen Sie uns, uns so richtig fein machen und dann zu einem entsprechenden Ort gehen.‹ (lachend) Es ist gut, wenn Menschen solche Gespräche führen.«
Ein guter Umgang mit Sterbenden ist aus ihrer Sicht nur möglich, wenn die Betreffenden über ihre Situation aufgeklärt sind – was in ihrem Arbeitsumfeld be-
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deutet, dass sie wissen wollen26 und zu einem offenen Gespräch bereit sind. Der Umgang mit Patienten, die nicht über den Tod und ihre Ängste sprechen möchten, stelle für die Arbeit im Hospiz eine Schwierigkeit dar. Frau Kondo spezifiziert ihre Vorstellung des ›Wiedertreffens nach dem Tod‹ nicht näher. Sie spricht auch nicht wie Frau Minami von einem tamashii. Ihre Vorstellung scheint sehr unbestimmt zu sein und dadurch offen für die Antworten und Vorstellungen ihrer Patienten. Die zentrale Funktion ist die ›Verbindung‹ untereinander und zwischen Leben und Tod. Im Gegensatz zu Frau Minami kommt es in ihrer Vorstellung nicht zur Begegnung zwischen Lebenden und Toten, sondern allein die Toten treffen einander wieder. Dabei scheint anders als bei Frau Minami die Materialität der Lebenden auch für die Toten fortzubestehen, sie können Gaben wie jahreszeitliche Früchte entgegennehmen oder sich zum Sake-Trinken zurechtmachen. Die Vorstellung, Religion und vor allem das Christentum vereinfache den Umgang mit dem Tod, bringt auch Herr Kondo zum Ausdruck. Die Erläuterungen von Herrn Kondo sind geprägt durch eine Sichtweise des Sterbens als einer Lebensphase, für die im Vorhinein verschiedene Optionen zur Wahl stehen, die eigenen Angelegenheiten zu regeln. Die Frage des Grabes steht noch offen, die Trauerfeier versucht er jedoch durch seine handschriftliche Patientenverfügung auf den engsten Personenkreis zu beschränken. ›Religion‹ führt er als eine weitere Wahlmöglichkeit auf, die man im Leben treffen könne. Dem Buddhismus
26 Zu den Aufnahmekriterien des Hospiz gehört, dass die Patienten über ihre Diagnose und Prognose aufgeklärt wurden und wissen, dass im Hospiz nur noch Symptom- und Schmerzbehandlungen durchgeführt werden, aber keine kurativen Maßnahmen ergriffen werden und dass ihre Lebenserwartung sechs Monate oder weniger beträgt. Da sich die Patienten jedoch meist in einem sehr weit fortgeschrittenen Stadium ihrer Krankheit (Krebs im Endstadium und im Falle dieses Hospizes auch ALS) befinden, können sie häufig zum Aufnahmegespräch nicht persönlich erscheinen, sodass ihre Angehörigen an ihrer Stelle das Hospiz aufsuchen. Nicht alle Patienten sind über ihre Krankheit und deren Verlauf aufgeklärt und es gibt auch Fälle, in denen die Familie wünscht, dass sie nicht informiert werden. In solchen Fällen versuchen der betreuende Arzt des Hospizes und die zuständige Krankenschwester während des Aufnahmegespräches die Angehörigen davon zu überzeugen, dass es für ihre Arbeit und den Betreffenden besser ist, wenn er über seinen Zustand Bescheid weiß, um sich auf den Tod vorzubereiten. Sie klären die Patienten jedoch nicht explizit gegen den Willen der Familie auf, erklärt Frau Kondo, sondern geben zu verstehen, dass sie den Betroffenen nicht anlügen werden und versuchen, ihn schonend in Kenntnis zu setzen, wenn er zu verstehen gibt, dass er wissen möchte, wie es um ihn steht.
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fühlt er sich nicht verbunden, auch wenn er es dadurch leichter hätte, ein Grab zu finden. Er denke derzeit über alles Mögliche nach und lese auch die Bibel. Dem Christentum beizutreten würde ihm einige Vorteile bieten und das Leben erleichtern, erklärt Herr Kondo, sollte er seinen Traum verwirklichen und nach der Pensionierung nach Australien ziehen. Bisher könne er die Wahl einer passenden Religion jedoch nicht treffen, da er noch nichts gefunden habe, woran er glauben könne. Der Glaube an Spiritualität und an einen ›Allmächtigen‹ stellt er als befremdlich dar, da er bisher immer den Eindruck hatte, dass er selbst es ist, der denkt oder die Dinge bewegt, und er verspüre keine übermächtige Kraft am Werk. Frau Chibana berichtet von einer ähnlichen Sichtweise ihres Mannes. Auch er habe nach einer Religion gesucht, um besser mit Gedanken über den Tod umgehen zu können. Frau Chibana erzählt, dass es in ihrem Leben keine Berührungspunkte mit Religionen gab, bis ihr Mann sich etwa zwei, drei Jahre vor seinem Tod mit der Thematik beschäftigte. Ihr Mann scheint geahnt zu haben, dass er sterben wird, denn Frau Chibana spricht davon, er habe angefangen sich über verschiedene Religionen zu informieren und Bücher über den Buddhismus, den Islam und das Christentum gekauft, weil für ihn die Vorstellung des Abschieds schwer zu ertragen gewesen sei. Letztendlich habe er sich dazu entschieden, Christ zu werden. Ein Jahr vor seinem Tod habe er den Wunsch geäußert, zur Kirche zu gehen, und dass Frau Chibana ihn begleite. Als er kurz vor dem Ende seines Lebens ins Krankenhaus kam, ließ er regelmäßig einen Priester kommen, der ihn und seine Frau auf die Taufe vorbereitete und sie im Krankenhaus taufte. Obwohl die Familie ihres Mannes seit Generationen ein Familiengrab besitze, habe ihr Mann sich dafür entschieden, sich christlich beisetzen zu lassen, und ein Grab in der Krypta einer katholischen Kirche gekauft. Während der gesamten Episode spricht Frau Chibana mit Befremden von der Entscheidung ihres Mannes. Sie habe nie etwas mit Religion zu tun gehabt, erfüllte ihrem Mann jedoch den Wunsch, mit ihm zusammen in die Kirche zu gehen und sich taufen zu lassen. Sie drückt ihr Befremden auch gegenüber der christlichen Beerdigung aus, und dass sein Körper als Ganzes begraben wurde, statt wie in Japan heutzutage üblich, verbrannt zu werden. Auch für ihre Gebeine sei in dem gekauften Grab genügend Platz vorgesehen. Trotz ihres Befremdens akzeptierte sie die Entscheidungen ihres Mannes und rief kurz vor seinem Tod einen Priester an das Sterbebett. Jeden Sonntag besucht sie das Grab ihres Mannes, geht jedoch nicht zum Gottesdienst. Sie ist erleichtert, dass der Besuch der Messe nicht von ihr erwartet wird, und sie verdeutlicht ihre Distanz zur Kirchengemeinde durch die Aussage, sie kenne noch nicht einmal die Lieder, die von allen in der Kirche gesungen werden.
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Die Erzählungen von Frau Chibana zeigen über den Beitritt ihres Mannes zum christlichen Glauben hinaus viele Berührungspunkte mit dem Christentum. Die Treffen zur Trauerarbeit, die Frau Chibana besucht, werden von der Sei to Shi wo Kangaeru Kai veranstaltet, einer Organisation, die von dem Jesuiten Alfons Deeken gegründet wurde. Auch Sono Ayako, die Koautorin des Buches, das Frau Chibana von Deeken las, ist Christin, und die Sophia Universität, die ihre Tochter besuchte, ist eine katholische Universität. Von einer ähnlichen Verbindung zum Christentum durch Bildungsinstitutionen spricht auch Frau Fukui, die eine christliche Mädchenschule besuchte, die gleiche Schule wie die Töchter des ebenfalls anwesenden Vorsitzenden der JSDD Süd-Japan. Dieser erklärt, dass viele Eltern ihre Töchter auf christliche Mädchenschulen schicken, die ein fester Bestandteil des japanischen Bildungssystems seien. Jedoch würden nur die wenigsten Christen werden. Der Vorsitzende erzählt, dass er während des Zweiten Weltkrieges in einer Eliteeinheit des japanischen Militärs ausgebildet wurde. Nach dem Krieg habe er sehr gelitten und nach etwas gesucht, an das er glauben kann. Auf seiner Suche habe er versucht, Christ zu werden. Jedoch sei es ihm schwer gefallen, an die christliche Lehre zu glauben. Letztendlich sei er zu dem Schluss gekommen, dass er nicht glauben kann und ihm nichts anderes übrig bleibe, als seinem Gewissen zu folgen. Durch seinen Bezug auf sein Gewissen verdeutlicht der Vorsitzende, dass er auf der Suche nach einer moralischen Instanz war, diese jedoch nicht in der christlichen Lehre finden konnte. Er antwortet auf die Frage, was nach dem Tod aus ihm werde, er werde zu Nichts (mu ni naru). Sein Körper werde verbrannt, zu Asche und er werde zu Nichts. Das Ehepaar Fukui hingegen glaubt nicht daran, dass die Existenz mit dem Tod beendet ist. Beide Ehepartner glauben, dass sie ins (buddhistische) Paradies (tengoku) kommen. Frau Fukui versucht den Vorsitzenden zu überzeugen und erzählt von einer buddhistischen Predigt, die sie gehört hat und in der es hieß: Alle, die auf Reisen gehen, kehren immer wieder nach Hause zurück. Dass noch niemand aus dem Paradies zurückgekommen ist, zeige, wie wunderbar es dort sein muss. Frau Fukui erzählt, dass sie an jedem Monatsanfang mit ihrem Mann zum Tempel gehe und dort dafür danke, dass sie beide zusammen ihr jetziges Alter erreicht haben. Wenn einer von beiden vor dem anderen diese Welt verlassen sollte, dann werde der andere in der Welt der Toten warten. Auch ein Grab hat das Ehepaar Fukui schon gekauft und sie sind bis nach Kyôto zum Hauptsitz ihres Tempels gefahren, um sich buddhistische Totennamen zu kaufen. Ebenso wie Frau Kondo und Frau Chibana kam Frau Fukui mit der christlichen Lehre in Berührung und grenzt sich vom christlichen Glauben ab. Ihre eigenen Erzählungen sind hingegen von Verweisen zum Buddhismus geprägt.
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Vor allem ihre Dankbarkeit über die überwundene Krebserkrankung ihres Mannes, die sie einmal im Monat durch einen Tempelbesuch mit ihrem Mann zum Ausdruck bringt, zeigt ihre Verbundenheit mit dem Buddhismus. Frau Ono bezeichnet sich selbst als religiös, sie ist Katholikin. Ihre älteste Schwester habe eine katholische Mädchenschule besucht. Diese Schule sei nicht einfach nur irgendeine Schule gewesen, sondern die Seishin Joshi Sekundarschule (Herz-Jesu Mädchenschule) in Tokyo, eine bekannte Ordensschule, zu deren Absolventinnen auch die Kaiserin Michiko gehöre. Da an dieser Schule amerikanische Ordensschwestern unterrichteten und das verlangte Sprachniveau hoch gewesen sei, habe ihre Schwester einen speziellen Englisch-Vorbereitungskurs besucht, um die schwierige Aufnahmeprüfung zu bestehen. Die Familie lebte nicht in Tokyo und ihre Schwester habe in einem Wohnheim gewohnt. Ihren Wunsch, sich taufen zu lassen und Katholikin zu werden, habe die Schwester gegen den Widerstand der Eltern durchgesetzt. Damals, zwischen den Weltkriegen, hätten ihre Eltern die Meinung vertreten, dass die Tochter nicht die fremde Religion des Feindes USA annehmen könne. Jedoch habe sich die Schwester durchgesetzt, sich taufen lassen und Frau Ono und ihre nächst ältere Schwester im katholischen Glauben unterwiesen. Frau Ono besuchte nicht die gleiche Schule wie ihre älteste Schwester. Die Aufnahmeprüfung sei zu schwer und die Schule zu weit entfernt von ihrem Elternhaus gewesen. Sie erinnert sich, wie sie mit den Schwestern in eine Sonntagsschule ging und im sechsten Jahr der Elementarschule (wahrscheinlich um 1933) getauft wurde. Frau Ono bezeichnet sich selbst als nicht besonders leidenschaftliche Gläubige (anmari nesshin janai shinja). Doch glaube sie daran, dass es einen Gott gibt, der sie beschützt (kabau). Hätte sie nicht daran geglaubt, als ihr Mann starb, dann wäre die Zeit nach seinem Tod nicht zu ertragen gewesen. Sowohl in glücklichen als auch in traurigen und schmerzlichen Zeiten empfinde sie ihren Glauben als emotionale Stütze. Frau Ono stellt ihren Glauben an Gottes Schutz so dar, als stünde Gott immer auf ihrer Seite, egal was passiert, und beschütze sie. Andererseits würden vor Gott (kami tai jibun) jedoch auch die eigenen schlechten Verhaltensweisen offenbar. Hier findet sich wieder die Vorstellung von Gott als einer moralischen Instanz. Vor Gott könne sie ihre schlechten Seiten nicht verbergen. Frau Ono sagt, sie sei froh darüber. Würde es keinen Gott geben, dann wäre sie zu einem viel schlechteren Menschen geworden. Sie führt diesen Gedanken weiter aus und erklärt, im Miteinander mit anderen Menschen würden einem immer nur die Defizite der anderen bewusst. Um sich selbst wirklich zu erkennen, sei Gott notwendig. Gott, in dieser Vorstellung, ist jemand, der sie sieht, wie sie ist, und
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dem sie nichts vormachen kann. Erst im Angesicht Gottes könne sie sich selbst erkennen (jibun wo hakkiri mieru no wa, kamisama no mae dake). Frau Ono berichtet, dass für Außenstehende der katholische Glauben im Vergleich zum Schintoismus oder Buddhismus häufig als jenseitsbezogen wahrgenommen werde. Sie glaube nicht an eine Hölle – da ein Gott der Liebe keinen solchen Ort erschaffen würde. Jedoch glaube sie fest an den Himmel, und dass sie nach dem Tod ihren verstorbenen Mann und Sohn im Himmel wiedersehen werde – das sei ihr größter Wunsch. Würde es keinen Himmel geben, dann sei sie in Schwierigkeiten. Frau Ono erzählt, dass sie immer, wenn sie Rat brauche, zu ihrem verstorbenen Ehemann und Sohn im Himmel spricht, auch wenn sie keine Antwort bekomme. Manchmal denke sie, dass ihr die Verstorbenen einen Hinweis zur richtigen Entscheidung geben, und wenn sie sich an sie wende, dann beruhige sie das. Frau Ono glaubt daran, dass die Verstorbenen aus dem Himmel das Leben der Angehörigen mitverfolgen, und sie habe das Gefühl, dass sie immer im Haus zugegen seien. Die Buddhisten glauben, dass alle Menschen nach dem Tod wiedergeboren oder zu Göttern werden, erklärt Frau Ono. Dem Buddhismus und dem Schintoismus fehle die Jenseitsausrichtung des Christentums. Beide japanischen Religionen seien diesseitsbezogen. Das drücke sich Frau Ono zufolge darin aus, dass im Buddhismus und Schintoismus gute Taten oder auch Geldopfer mit einer Gegengabe vergolten werden, im Christentum jedoch die Gegengabe (o kaeshi) erst nach dem Tod stattfinde. Wenn sie sich die Welt ansehe und feststelle, wie viele Menschen ihr Bestes tun und trotzdem kein glückliches Leben führen, dann denke sie, es müsse einen Himmel geben. Diesen Gedanken stützt sie auf die Vorstellung eines gerechten Gottes. Es sei zu ungerecht, um wahr zu sein (fukôhei suginai kashira), dass es keinen Himmel gibt und all die Menschen, die sich zu Lebzeiten angestrengt haben gute Menschen zu sein, nicht nach dem Tod dafür belohnt würden. Aus diesem Grunde glaube sie fest an den Himmel, und da sie schon lang genug leben durfte und ihr Mann und ihr Sohn auf sie warten würden, fürchte sie sich nicht vor dem Tod.
4.3 Z WISCHENFAZIT : D IE B EDEUTUNG VON L EBENSZEIT UND T IMING FÜR E NTSCHEIDUNGSFINDUNGEN Im vorherigen Kapitel wurde anhand der Fallbeispiele dargestellt, wie persönliche Erfahrungen und Erlebnisse zum Anlass genommen werden, eine Patientenverfügung zu verfassen. Aufgrund ihrer Erfahrungen setzten sich die Interview-
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ten gedanklich mit dem Risiko, im Alter zu erkranken oder pflegebedürftig zu werden, auseinander und stellen Überlegungen an, welche medizinischen Maßnahmen sie für die letzte Lebensphase wünschen oder ablehnen. Dabei spielt das subjektive Miterleben von Krankheit und Sterben Dritter eine bedeutende Rolle für die Konstitution des eigenen Problembewusstseins, für die eigenen Wünsche, Ängste und auch die Bedeutungen, die den abgeschlossenen Patientenverfügungen zugeschrieben werden. In diesem Kapitel wurde der Fokus erweitert und die Bedeutungen, die der eigenen Lebenszeit als selbst gestaltbarer Zeit zugeschrieben werden, im Kontext von standardisierten Lebensläufen behandelt. Das Wissen über die eigene Krankheit, vermittelt durch die ärztliche Diagnose, wurde anhand der Fallbeispiele von Frau Minami und Herrn Jômon als biografischer Bruch thematisiert, und die unterschiedlichen Strategien wurden herausgearbeitet, die beide Interviewpartner zur Bewältigung der Diagnose und Neuausrichtung ihrer verbleibenden Lebenszeit verfolgen. Dabei wurde deutlich, dass die Interpretation der sozialen Rollen und die damit einhergehenden Aufgaben und Verpflichtungen von Bedeutung dafür sind, ob sie sich gegen die invasive künstliche Beatmung entscheiden oder nicht. Auch die Vorstellungen über die persönliche Lebenserwartung sind eng verknüpft mit den Erfahrungen der Interviewten. Die Interpretationen der eigenen Lebensdauer wichen aufgrund des durchschnittlichen Lebensalters im familiären und sozialen Umfeld oder einer Kindheit, die durch eine schlechte physische Verfassung geprägt wurde, stark von der durchschnittlichen statistischen Lebenserwartung ab. Doch zeigt sich auch hier, dass soziale Rollen und Verpflichtungen sowie Idealvorstellungen vom guten Tod einen Einfluss darauf haben, ab wann und unter welchen Umständen der Tod als zu früh oder akzeptabel erwartet wird. Verallgemeinernd kann hier sicherlich festgehalten werden, dass die subjektive Auffassung, lang genug (und ein erfülltes Leben) gelebt zu haben, eine ablehnende Haltung gegenüber lebensverlängernden Maßnahmen begünstigt. Hinsichtlich der Angst vor dem Tod bedienen sich die Interviewten religiöser Konzepte oder versuchen eine Religion zu finden, an die sie glauben können, um eine Kontinuität zwischen Leben und Tod herzustellen. Christliche JenseitsVorstellungen scheinen als besonders gut geeignet angesehen zu werden, um mit der Angst vor dem Tod umzugehen. Von einer ähnlichen Beobachtung spricht auch Long. Jedoch bezieht sie sich auf kulturelle Stereotype, mit denen sie durch ihre Interviewpartner konfrontiert wurde. Einige ihrer Gesprächspartner hätten sie darauf verwiesen, dass Japaner nicht an einen Himmel glauben so wie Christen und ihnen deswegen der Tod
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mehr Furcht bereite (vgl. Long 2004: 918). Long bringt diese Vorstellung auch in Zusammenhang mit den Schriften von Alfons Deeken, den sie als führende Persönlichkeit in der Death-Education-Bewegung bezeichnet. Er vertrete die Botschaft, dass im christlichen Glauben der Tod nicht nur das Ende des physischen Lebens sei, sondern das Tor zum ewigen Leben. Der Glaube an die Auferstehung und die Wiedervereinigung mit geliebten Verstorbenen im Himmel würde Mut und Trost vermitteln (vgl. ebd.). Ebenso wie Long hatte ich vor allem in Bezug auf den Themenbereich Religion den Eindruck, dass viele meiner Interviewpartner auf den christlichen Glauben zu sprechen kamen, weil sie davon ausgingen, dass ich Christin bin – einige fragten mich im Interview auch direkt nach meinem religiösen Hintergrund. Auch wenn die Verweise auf den christlichen Glauben teilweise an die kulturellen Stereotypen erinnern, die Long erwähnt, sind sie doch weitaus mehr als nur Stereotypen. Die Interviewten bedienen sich ihrer als Deutungsmuster, die sie auf ihr Leben anwenden und nach denen sie handeln, indem sie eine Religion suchen, die ihnen Halt gibt. Oder sie deuten religiöse Konzepte um, befreien sie sozusagen von ihrem institutionell-religiösen Gehalt und verwenden sie als Vorstellungen von einer Welt der Verstorbenen oder eines zeitlos existierenden Geistes, um eine Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten jenseits einer konkreten Religion zu schaffen. Aber auch bei den Interviewpartnern, die sich als religiös bezeichnen, ist zu beobachten, dass die religiöse Glaubenslehre aus ihrer Sicht offen ist für eigene Interpretationen und Anpassungen an ihre individuellen Lebenslagen. Auch sind die einzelnen Religionen nicht starr voneinander abgetrennt, was allein in der Verwendung der Terminologie zu erkennen ist, wenn Herr Fukui von ›Paradies‹ spricht und den Ausdruck tenkoku verwendet, der eher mit dem christlichen Paradies in Verbindung gebracht wird, obwohl er und seine Frau keinerlei Verbindungen zum Christentum haben und ihre Beerdigung buddhistisch planen. Und auch die alltäglichen Gespräche von Frau Ono mit ihrem verstorbenen Sohn und Ehemann und ihre Vorstellung, dass sie stets im Haus anwesend sind, erinnert eher an buddhistische Ahnenvorstellungen als an einen christlichen Umgang mit den Verstorbenen. Im Zusammenhang mit den Vorstellungen zur eigenen Lebenszeit und zur Gestaltung des Lebenslaufes wurde deutlich, dass das Konzept der Lebenszeit eng verknüpft ist mit dem Selbstverständnis der Interviewten. Im folgenden Kapitel werden die hier teilweise schon skizzierten Selbstbilder in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Es wird diskutiert, was es bedeutet, eine Entscheidung zu treffen, die dem Selbst entspricht (jibunrashisa). Im Zusammenhang mit den Selbstkonzeptionen werden die Bedeutungszuschreibungen der familiären, so-
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zialen und beruflichen Rollen vertieft und die ihnen zugrunde liegenden Werte herausgearbeitet. In diesem Kontext spielen die Konzepte der Verantwortung und Selbstständigkeit eine Schlüsselrolle.
5 Konstruktion von Selbstbildern als Spiegel der Entscheidungsfindung: Jibunrashisa, Selbstständigkeit und Verantwortung
Das Selbstbild der Interviewten hat eine wichtige Orientierungsfunktion bei der Entscheidung für eine Patientenverfügung. Die Betroffenen suchen nach Entscheidungen, die in Einklang mit ihrer bisherigen Lebensweise und ihren Werten bezüglich eines guten Lebens stehen, und wollen diese auch im Sterben verwirklichen. Auch die Bedeutungen, die den Angehörigen bei der Entscheidungsfindung zugeschrieben werden, basieren auf dem Selbstverständnis der jeweiligen Person und ihrer Auffassung von der eigenen sozialen Einbettung und Verantwortung. Die Selbstbilder wiederum entstehen durch Reflexionen über eigene Erfahrungen in sozialer Interaktion. In diesem Kapitel werden die Selbstbilder der Interviewten in den Fokus der Betrachtung gestellt. Die von ihnen erwähnten sozialen und familiären Rollen werden aufgegriffen und hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis thematisiert. Es wird herausgearbeitet, wie sich die selbstbezüglichen Reflexionen der Interviewten im Spannungsfeld zwischen Selbstständigkeit und Abhängigkeit sowie Selbstbestimmung und Verantwortung bewegen.
5.1 D IE B EDEUTUNG SOZIALER R OLLEN FÜR DIE K ONSTITUTION DES S ELBST DURCH E RFAHRUNGEN IN SOZIALER I NTERAKTION Gordon Mathews schreibt sozialen Rollen eine wichtige Funktion für die Selbstidentifikation in Japan zu. Er vermutet, diese hätten in Japan eine größere Bedeutung als in den meisten anderen Gesellschaften, weswegen ein Verlust der sozialen Rolle, über welche die Selbstidentifikation hauptsächlich stattfinde, eine schwerwiegende Krise auslöse (vgl. Mathews 2013: 35). Als Rollenverlust
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hat er vorwiegend einen biografischen Bruch durch den Eintritt ins Rentenalter für Angestellte im Blick. Wie im vorhergegangenen Kapitel an den Fallbeispielen von Frau Minami und Herrn Jômon gezeigt wurde, kann jedoch auch eine Krankheit zu einem biografischen Bruch führen und ein Aufgeben, einen Verlust oder eine Neugestaltung früherer sozialer Rollen mit sich bringen. Bei Mathews sind es die Rentner, die ihren Lebensinhalt bisher einer Institution – meist der Arbeit (Firma) – gewidmet haben, aus der sie nun ausscheiden. Ihr bisheriges Leben sei von Institutionen geprägt gewesen. Durch die gesellschaftlich normative Konzeption der Rolle sei von ihnen erwartet worden, dass sie sich mit diesen Institutionen identifizieren und ihren Lebensinhalt in der Erfüllung ihrer Rolle finden. Mit dem Rentenalter scheiden sie aus der Institution Arbeit aus und stünden der Anforderung gegenüber, sich selbst einen neuen Lebensinhalt zu suchen. Die Schwierigkeiten bei der Neuorientierung führt Mathews darauf zurück, dass die Individuen, die den Großteil ihres Lebens voll und ganz einer Institution und der Erfüllung ihrer Rolle gewidmet haben, in ihrem bisherigen Leben keine oder nur begrenzte Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung hatten. Die Institutionalisierung des Lebenslaufes und die Erwartungen an eine Identifikation mit den institutionellen Rollen sei dermaßen ausgeprägt, dass darüber hinaus kein Raum zur Selbstgestaltung des Lebens bleibe (vgl. Mathews 2013: 34 f.). Diese Vorstellung Mathews’ wird besonders deutlich, wenn er fragt, was mit den Männern passieren wird, die ihr Leben der Firma gewidmet haben und bald in den Ruhestand entlassen werden: »Will they still have selves left to which to return?« (Mathews 2013: 35) Mathews beschreibt die Problematik anhand des Konzepts ikigai, das mit Lebenssinn oder Lebensinhalt übersetzt werden kann, und stellt zwei seiner Meinung nach sich widerstreitende Bedeutungen des Konzepts vor. Zunächst bezeichne ikigai ganz allgemein das, was das Leben aus der subjektiven Perspektive lebenswert macht. Ikigai könne sich auf die Familie oder Arbeit als Lebensinhalt beziehen, auf persönliche Hobbies und auch Träume, oder es könne in Zusammenhang mit religiösen Vorstellungen stehen (vgl. ebd.: 33). In einer älteren, bis in das späte 14. Jahrhundert zurückgehenden Verwendung bedeute ikigai die Erfüllung sozialer Werte und Rollen, gebunden an die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Ikigai in dieser Bedeutung sei Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Sprachgebrauch und Wörterbüchern verschwunden. Einige Jahrzehnte später sei das Konzept jedoch im Zuge der Modernisierung von Autoren wie Natsume Sôseki wieder verwendet worden, um die Verwirklichung persönlicher Ziele im Leben zu bezeichnen (vgl. ebd.: 33 f.):
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»Thus ikigai historically shifted in its meaning, from signifying one’s commitment to group and role up to the late nineteenth century to signifying the pursuit of self in the opening decades of the twentieth century. Over the past half-century, both these concepts of ikigai have had their adherents.« (Mathews 2013: 34; Hervorhebung im Original)
Es fand demnach ein Wandel der Bedeutung statt: von der Erfüllung der gemeinschaftlich definierten Rolle zu einer Loslösung des Subjekts aus der Gemeinschaft im späten 19. Jahrhundert und seinem Streben nach Selbstverwirklichung. In diesen Ausführungen Mathews’ spiegelt sich ein gesellschaftliches Entwicklungsmodel wider, das von einem Verschmelzen des Einzelnen mit seiner Rolle in vormodernen Gemeinschaften ausgeht. Erst durch die Moderne tritt der Einzelne als Individuum aus der Gemeinschaft mit vorgegebenen Rollen aus und erhält in der modernen Gesellschaft die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen. Die neue Bedeutung ersetze die alte jedoch nicht, sondern habe sie wiederbelebt, sodass beide in der heutigen Gesellschaft parallel zu existieren scheinen. Mathews kommt zu diesen Überlegungen durch eine Analyse der japanischen Literatur zu ikigai in den 1990er-Jahren. Seine eigene Feststellung, dass im Widerstreit der beiden Bedeutungen ›Selbstverwirklichung‹ gegenüber der ›Gruppen- und Rollenidentifikation‹ die Oberhand zu gewinnen scheint, verwundert ihn. Er verneint die mögliche Erklärung, dass ›Selbstverwirklichung‹ zu einem dominanten Modus der Lebensgestaltung geworden ist, und erklärt, gerade durch die starke Institutionalisierung der Lebensläufe und Vereinnahmung des Individuums durch Institutionen gebe es keinen Raum zur Selbstverwirklichung, die aus diesem Grund zum Wunsch oder Traum werde (vgl. ebd.: 34). Über die Bedeutungszuschreibungen seiner Interviewpartner schreibt er jedoch, dass es durchaus Personen gebe, die sich beider Konzepte bedienen, wenn sie über ihren Lebensinhalt sprechen. Sie haben laut Mathews geschafft, was nicht allen Mitgliedern der japanischen Gesellschaft möglich ist: »[...] using more than being used by the competing discourse on how to live that their society offers them« (Mathews 2013: 39). In den Darstellungen Mathews’ zu ikigai zeigt sich eine Problematik, die auf eine konzeptionelle Fassung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft zurückzuführen ist.1 Die gemeinschaftlichen Strukturen der japanischen Gesellschaft scheinen eine individuelle Entwicklung zu verhindern, da das Indi-
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Zu einer ausführlichen Erläuterung der kulturhistorischen Konstruktion des Gegensatzpaares Gemeinschaft und Gesellschaft in Europa und dessen Übernahme in Japan s. Shimada 2007: 36-73.
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viduum – überspitzt formuliert – durch gesellschaftliche Normen zu einer vollkommenen Identifikation mit seiner Rolle in der Gemeinschaft gezwungen wird. Die ›Rolle‹ wird in diesem Verständnis von außen bestimmt und bietet dem Einzelnen keine Möglichkeit zur eigenen Gestaltung oder Distanz von der Rolle. Diese Rollen-Konzeption erinnert an die Überlegungen Dahrendorfs zum Verhältnis des Individuums durch die soziale Rolle zur Gesellschaft: »Am Schnittpunkt des Einzelnen und der Gesellschaft steht homo sociologicus, der Mensch als Träger sozial vorgeformter Rollen. Der Einzelne ist seine sozialen Rollen, aber diese Rollen sind ihrerseits die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft.« (Dahrendorf 1974: 20; zit. n. Miebach 2010: 50)
Ähnlich wie Mathews stellt Dahrendorf dem Begriff des Individuums den der Rolle gegenüber. Das Individuum könne nur durch die Übernahme einer Rolle mit der Gesellschaft in Interaktion treten und sozial handeln. Die Rolle werde in dieser Auffassung als sozial definiertes Bündel von Erwartungen konzipiert, die durch Belohnungen für rollenkonformes Verhalten oder negative Sanktionen für Abweichungen von der Rolle durchgesetzt werden. Diese äußere Kontrolle der Rollenkonformität werde durch eine innere Kontrolle ergänzt, die durch eine Internalisierung der Rollenmuster zu einer Erfüllung der gesellschaftlichen Erwartungen führt und das Individuum von sich selbst entfremde (vgl. Miebach 2010: 50) – die Frage Mathews’, ob der Angestellte nach dem Eintritt ins Rentenalter noch ein Selbst hat, zu dem er zurückkehren kann, kann ganz in diesem Sinne verstanden werden. Friedrich Tenbruck kritisiert in einem Artikel von 1961 Dahrendorfs homo sociologicus, 2 da dieser Kultur und Persönlichkeit bei der Erklärung sozialen Handelns vernachlässige und von einem Kausalzusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Erwartungen an einen Rollenträger als Ursache und der Rollenhandlung als Wirkung ausgehe (vgl. Miebach 2010: 51). Zum Verständnis von sozialem Handeln sei jedoch eine gemeinsame Sinn- und Bedeutungsstruktur der Individuen notwendig, die Tenbruck in der Dimension der Kultur ange-
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Tenbruck widmet diesen Artikel seiner Beobachtung, dass es bei der Rezeption der amerikanischen Strukturtheorie in Deutschland zu Bedeutungsveränderungen der zentralen soziologischen Begriffe gekommen ist. Die Konsequenzen, die sich durch diese Bedeutungsverschiebungen ergeben, verdeutlicht er anhand der Abhandlung Dahrendorfs zum Begriff der Rolle und vergleicht Dahrendorfs Ausführungen mit den Schriften amerikanischer Strukturalisten, um die Unterschiede im Verständnis des Rollenbegriffs zu verdeutlichen (vgl. Tenbruck 1961: 1 f.).
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siedelt sieht (vgl. Miebach 2010: 51; Tenbruck 1961: 6). Außerdem lasse sich Handeln nicht allein durch Sanktionen oder internalisierte Erwartungen erklären. Vielmehr ermögliche die Persönlichkeit eine individuelle Gestaltung der Verhaltensmuster, die einem bestimmten Rollenbild zugrunde liegen. Erst durch die Identifikation mit der Rolle werde die Basis für das Rollenspiel des Individuums gelegt, durch die sich Handlungsmöglichkeiten und Freiräume für Spontaneität eröffnen. Das Individuum sei demnach nicht durch die Verhaltenserwartungen der Gesellschaft an die Rolle fest gebunden, sondern ihm stehe ein Gestaltungsspielraum für sein Handeln zur Verfügung. Demnach gebe es kein kausales Verhältnis zwischen Erwartungen und Rollenhandeln, sondern vielmehr beeinflussen sich Erwartungen und Handeln wechselseitig. Zudem könne die soziale Rolle nicht vereinzelt gedacht werden, sondern werde immer im gegenseitigen Wechselspiel durch die komplementären Rollen ausgehandelt (vgl. Miebach 2010: 51; Tenbruck 1961: 6-9 und 11 ff.). Im Gegensatz zu einem Rollenverständnis, wie es bei Mathews in der Frage »Will they still have selves left to which to return?« (s.o.; Mathews 2013: 35) anklingt, bietet ein interaktionistisches Verständnis des Selbst die Möglichkeit, die Selbstdeutungen der Interviewten jenseits des Gegensatzes von Gruppenorientierung und Individualismus zu untersuchen. Die folgende Diskussion der in den Interviews ausgedrückten Selbstbilder lehnt sich an die theoretischen Überlegungen von Georg Herbert Mead zum Begriff des Selbst an. Mead begreift das Selbst als gesellschaftliche Struktur. Erst durch die Interaktionen mit anderen und die Übernahme ihrer Perspektive könne das Individuum auf sich selbst eine reflexive Sicht einnehmen und das Selbst zum Objekt der eigenen Betrachtung machen. Diese Fähigkeit zur Objektivierung des Selbst entwickle der Einzelne durch Interaktionen und Erfahrungen in der Gesellschaft: 3
»Diese Identität [self] , die für sich selbst Objekt werden kann, ist im Grunde eine gesellschaftliche Struktur und erwächst aus der gesellschaftlichen Erfahrung. Wenn sich eine Identität einmal entwickelt hat, schafft sie sich gewissermaßen selbst ihre gesellschaftlichen Erfahrungen. Somit können wir uns eine absolute solitäre Identität vorstellen, nicht aber eine Identität, die außerhalb der gesellschaftlichen Erfahrung erwächst.« (Mead 2013: 182)
Für die Entstehung des Selbst sind demnach gesellschaftliche Erfahrungen notwendig. Mead verdeutlicht seine Überlegungen durch den Entwicklungsprozess, den der Einzelne im Zuge der Sozialisation durchlebt. Er unterscheidet in das
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In der hier verwendeten Fassung wurde ›self‹ durchgehend mit ›Identität‹ übersetzt.
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›Spiel‹ (play) und den ›Wettkampf‹ (game) als Konstituenten des gesellschaftlich entwickelten Selbst. Auf der ersten Stufe der Sozialisation übernehme das Kind im Spiel die Rollen signifikanter Anderer und reagiere auf die Reize, die diese in ihm auslösen. Das könne sowohl in der Gruppe passieren als auch im Spiel mit sich selbst. Im Spiel entwickle sich durch den Dialog zwischen den gespielten Rollen eine organisierte Struktur, für die Gesten und speziell Sprache bedeutsam sind (vgl. ebd.: 193). Der Wettkampf stelle eine Weiterführung und die zweite Stufe der Sozialisation dar, in der das Zusammenspiel verschiedener Rollen in der jeweiligen sozialen Situation erlernt wird. Hier treten nicht nur zwei Rollen miteinander in einen Dialog, sondern es werden in komplexen und organisierten Beziehungsgeflechten die Haltung aller am Spiel Beteiligten und ihre Rollenbeziehungen zueinander und Reaktionen aufeinander erlernt. Die Spielregeln begreift Mead als: »[...] Gruppe von Reaktionen, die eine bestimmte Haltung auslösen. Man kann eine bestimmte Reaktion von anderen fordern, wenn man selbst eine bestimmte Haltung einnimmt. All diese Reaktionen sind auch in einem selbst.« (Mead 2013: 194) Dem Wettkampf komme eine entscheidende Funktion bei der Bildung des Selbst zu, da hier im Gegensatz zum einfachen Spiel verschiedene Rollen organisiert werden müssen. Es werde nicht mehr bloß spielerisch die Rolle der signifikanten Anderen übernommen. Der Wettkampf sei komplexer als das Spiel, in dem Reiz und Reaktion zeitlich nacheinander stattfinden. Das eigene Handeln werde im Wettkampf kontrolliert durch die Vorstellung von den Reaktionen der anderen. Diesen Gedanken führt Mead weiter zum Konzept des ›generalisierten Anderen‹: »Die organisierte Gemeinschaft oder gesellschaftliche Gruppe, die dem Einzelnen seine einheitliche Identität gibt, kann ›der (das) verallgemeinerte Andere‹ genannt werden. Die Haltung dieses verallgemeinerten Anderen ist die der ganzen Gemeinschaft.« (Mead 2013: 196) Das Individuum abstrahiere von den einzelnen Rollenträgern und lerne die Regeln der Beziehungen untereinander, um im Sinne des generalisierten Anderen die Haltung der Gemeinschaft zu begreifen. Durch die Übernahme der Sichtweise des generalisierten Anderen, also der Haltung der Gemeinschaft, könne das Individuum sie auf sich selbst anwenden und auf diese Weise seine eigene Rolle in der Gemeinschaft verstehen. In diesem Prozess entstehe das Selbst als Objekt der subjektiven Betrachtung. Durch die Übernahme der gesellschaftlichen Haltung erlerne das Individuum gesellschaftliche Regeln, begreife soziale Institutionen und moralische Prinzipien (vgl. Mead 2013: 202 ff; vgl. auch Miebach 2010: 54 ff. und Schubert 2009: 359). Soziale Institutionen unterscheiden sich von gemeinschaftlichen Regeln
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der Gruppe durch ihre Geltung für die gesamte Gesellschaft. Sie stehen demnach auf einer höheren Stufe als gemeinschaftliche Regeln. Moralische Prinzipien werden auf einer dritten Stufe angesiedelt. Sie ermöglichen ein Durchbrechen der sozialen Institutionen. Durch moralische Prinzipien könne das Individuum in einen Dialog mit der Gesellschaft treten und die sozialen Institutionen und gemeinschaftlichen Regeln infrage stellen und beeinflussen. Mead verlegt durch diese Überlegungen das Soziale in das Individuum. Dadurch, dass er das Selbst als soziale Struktur begreift, die erst durch die Erfahrungen in der Gesellschaft gebildet wird, kann das Selbstverständnis des Einzelnen niemals rein subjektiv sein. Das Selbst konstituiert sich erst durch die übernommene Perspektive des generalisierten Anderen und somit in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Haltungen und Reaktionen auf das eigene Handeln. In der Übernahme der Perspektive des verallgemeinerten Anderen sieht Mead auch den entscheidenden Faktor für die Erklärung eines gemeinsamen Systems gesellschaftlich geteilter Bedeutungen (vgl. Mead 2013: 198). Meads meint in der Internalisierung des verallgemeinerten Anderen eindeutig einen Kontrollmechanismus des individuellen Handelns durch die Gemeinschaft oder Gesellschaft zu erkennen (vgl. ebd.). Seine Theorie des Selbst ist jedoch keineswegs deterministisch angelegt. Das bisher Dargelegte sind Meads Überlegungen zur Struktur des Selbst, die alle Mitglieder der Gesellschaft als soziale Struktur des Selbst teilen (vgl. ebd.: 205 f.). Das Bewusstsein vom Selbst entwickle sich erst in sozialer Interaktion, jedoch verändere sich auch die Gesellschaft durch das Handeln der Individuen und es finde eine stetige, wechselseitige Beeinflussung zwischen Individuum und Gesellschaft statt: »Wir nehmen an, daß ein organisierter Brauch zur Moral wird. Was jedermann verurteilen würde, darf man nicht tun. Wenn wir die Haltung der Gemeinschaft unseren eigenen Reaktionen gegenüberstellen, so ist das richtig; doch dürfen wir jene andere Fähigkeit nicht vergessen, daß wir nämlich der Gemeinschaft antworten und darauf bestehen können, daß sich die Gesten der Gemeinschaft ändern. Wir können die Dinge verändern; wir können darauf bestehen, die Normen der Gemeinschaft zu verbessern. Wir sind durch die Gemeinschaft nicht einfach gebunden. Wir stehen in einem Dialog, in dem unsere Meinung von der Gemeinschaft angehört wird; ihre Reaktion wird davon beeinflußt. [...] Der Dialog setzt voraus, daß der Einzelne nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht hat, zur Gemeinschaft zu sprechen, deren Mitglied er ist, um jene Veränderungen herbeizuführen, die durch das Zusammenspiel der Individuen zustande kommen.« (Mead 2013: 211)
Im Handeln des Individuums sind daher immer eine soziale wie auch eine individuelle Komponente enthalten. Mead bedient sich der englischen Personalpro-
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nomen zur Verdeutlichung seiner Gedanken und wählt das nominative ›I‹ für die subjektive, spontane und kreative Komponente und das akkusative ›me‹, um das objektivierte Selbst durch die Perspektive des verallgemeinerten Anderen zu bezeichnen. Mead spricht hier vom Selbst als einem gesellschaftlichen Prozess, der aus den zwei getrennten Phasen des ›I‹ und ›me‹ besteht (vgl. ebd.: 221). Die Trennung versteht er nicht als künstliche Fiktion, sondern als erfahrbar. In der Vorbereitung einer Handlung seien die sozialen Regeln und Normen durch die Haltungen des generalisierten Anderen in uns gegeben; wir können uns reflexiv mit der Situation auseinandersetzen und uns selbst sowie die gesellschaftlichen Reaktionen in die Vorbereitung unserer Handlungen mit einbeziehen – diesen reflexiven Prozess schreibt Mead dem ›me‹ zu. Das ›I‹ reagiere auf diese Reflexionen spontan. Wie genau die Handlungen aussehen und ausgehen werden, das wisse keiner im Voraus und die Reaktionen des ›I‹ seien dem Bewusstsein von uns selbst nicht direkt gegeben, sondern immer erst im Nachhinein durch die Reflexionen des ›me‹ (vgl. ebd.: 217 ff.): 4
»Das ›Ich‹ tritt nicht in das Rampenlicht, wir sprechen zu uns selbst, aber wir sehen uns nicht selbst. [...] Das ›Ich‹ dieses Moments ist im ›ICH‹ des nächsten Moments präsent. Auch hier wieder kann ich mich nicht schnell genug umdrehen, um mich noch selbst zu erfassen. Das ›Ich‹, diese funktionale Beziehung, kann aber gegeben sein. Auf das ›Ich‹ ist es zurückzuführen, daß wir uns niemals ganz unserer selbst bewußt sind, daß wir uns durch unsere eigenen Aktionen überraschen.« (Mead 2013: 217)
Das ›I‹ zeichne sich demnach durch seine Spontanität und Unbestimmtheit aus, es rufe das ›me‹ hervor, wodurch wir uns der Situation und unserer selbst in der Situation bewusst werden können. Das ›I‹ reagiere auf das ›me‹ oder die Situation und das Selbstbewusstsein. Mead bezeichnet das ›I‹ auch als »die Antwort des Einzelnen auf die Haltung der anderen ihm gegenüber, wenn er eine Haltung ihnen gegenüber einnimmt« (Mead 2013: 221). Und durch das ›I‹ und seine spontanen und unbestimmten Reaktionen entstünden stets neue Elemente sowie ein Gefühl der Freiheit und der Initiative (vgl. ebd.). Das ›me‹ wiederum bezeichnet Mead als den Teil des Selbst, den Konventionen und Gewohnheiten ausmachen (vgl. ebd.: 241). Der entscheidende Unterschied von Meads Selbstkonzeption liegt in der Relationalität zwischen Selbst und Gesellschaft. Mit der sozialen Struktur des Selbst wird der Selbstbezug erst durch das Erlernen und die Internalisierung der
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In der vorliegenden deutschen Fassung wird ›I‹ durch ›Ich‹ und ›me‹ durch ›ICH‹ übersetzt.
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Perspektivübernahme des verallgemeinerten Anderen möglich. Zum anderen sieht Mead zwar die Existenz der Gesellschaft als vorgelagerte Bedingung für die Entwicklung des Selbst an, jedoch entstehe und entwickle sich die Gesellschaft durch die Interaktionen der Individuen (vgl. ebd.: 267 ff.). Das Selbst spiegle sozusagen die gesellschaftlichen Strukturen, jedoch unterscheiden sich die einzelnen Individuen voneinander durch die Perspektive oder einzelnen Aspekte, die von ihnen unterschiedlich gespiegelt werden (vgl. ebd.: 245 f.): »Jede individuelle Identität innerhalb einer gegebenen Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gemeinschaft spiegelt in ihrer organisierten Struktur das ganze Muster des organisierten gesellschaftlichen Verhaltens, das diese Gesellschaft oder Gemeinschaft aufweist oder abwickelt, und diese organisierte Struktur wird durch jenes Muster geformt. Da aber jede der individuellen Identitäten in ihrer Struktur einen andersartigen Aspekt oder eine andere Perspektive dieses Musters spiegelt, von ihrem spezifischen und einzigartigen Standpunkt aus innerhalb des ganzen Prozesses des organisierten gesellschaftlichen Verhaltens aus, da somit jede mit diesem ganzen Prozess andersartig oder einzigartig verbunden ist und eine einzigartige Position innerhalb seiner einnimmt, ist die jeweilige, durch dieses Muster geschaffenen Struktur von jeder anderen ebenso geschaffenen Struktur verschieden.« (Mead 2013: 246)
Schon bei der strukturell für alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichen Entwicklung des Selbst führt Mead somit ein individuelles Moment ein. Dem Einzelnen stehen in allen Handlungssituationen zudem als zwei verschiedene Pole die Selbstbehauptung gegenüber der Gemeinschaft und die Identifikation mit der Gemeinschaft zur Verfügung (vgl. ebd.: 236). Insbesondere durch die oben erwähnte Internalisierung von moralischen Prinzipien, die über die Werte der Gemeinschaft oder Gesellschaft hinausgehen, steht dem Einzelnen die Möglichkeit offen, die bestehenden Strukturen infrage zu stellen und zu Veränderungen beizutragen. Der Einzelne ist demnach nicht in Rollen gefangen, die gesellschaftlich definiert werden, sondern er kann sich von diesen Rollen distanzieren und kritisch zu den Erwartungen der Gesellschaft Stellung beziehen oder sich in seinem eigenen Verhalten abgrenzen. Selbstverwirklichung begreift Mead nicht als Projekt des Einzelnen in sozialer Abgeschiedenheit, sondern als Interaktion mit dem sozialen Umfeld: »Wir können uns selbst nur insoweit verwirklichen, als wir den anderen in seiner Beziehung zu uns erkennen. Indem der Einzelne die Haltung der anderen einnimmt, ist er fähig, sich selbst als Identität zu verwirklichen.« (Mead 2013: 238)
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Die Abgrenzung von anderen nimmt in diesem Prozess eine bedeutende Funktion ein. In der Bildung des Selbst und auch in seiner Verwirklichung ist stets durch die eigenen Erfahrungen der Kontrast zu den anderen ein Teil der Selbstreflexion.
5.2 V ERLUST
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Im Kontext von Patientenverfügungen oder Entscheidungsfindungen zum Lebensende werden von den Interviewten auch Vorstellungen zum Verlust des Selbst geäußert. Jedoch nicht wie bei Mathews als Verlust einer Rolle, über die sie den Sinn ihres Lebens definieren. Vielmehr beziehen sich die Interviewten auf ihre Vorstellungen, was menschliches Leben oder ihr Selbstverständnis ausmacht. Neben einem Verlust des Selbst durch einen irreversiblen Bewusstseinsverlust – wie ihn Frau Chibana am Beispiel ihrer Tante thematisiert – werden noch weitere Zustände dieser Art angesprochen, die Furcht einflößen. Was menschliches Leben oder das eigene Selbst ausmacht, ist dabei eng verbunden mit den Interaktionsmöglichkeiten des Betreffenden. Im Folgenden werden die Vorstellungen und Ängste zum Verlust des Selbst von Herrn Kondo und Herrn Jômon vorgestellt und miteinander verglichen. Beim Versuch einer Klärung ihrer Positionen fällt auf, dass ihre Erläuterungen lückenhaft sind. Durch Vergleiche verschiedener Aussagen im Interview kann eine Rekonstruktion der Haltung der Interviewpartner versucht werden und es können die Spezifika durch eine Kontrastierung der Positionen herausgearbeitet werden. Jedoch stößt diese Rekonstruktion immer wieder an Grenzen. Diese Grenzen geben Aufschlüsse über die Ambivalenzen, die bei einer Entscheidungsfindung über das eigene Lebensende auftreten. Sie beruhen auf unterschiedlichen Vorstellungen und miteinander konkurrierenden Werten und sind verbunden mit den Grenzen der Erfahrbarkeit der vorgestellten Situationen und Möglichkeiten der Antizipation. 5.2.1 Verlust des (Selbst-)Bewusstseins In beiden Patientenverfügungen von Herrn Kondo geht es um die Ablehnung von sogenannten ›lebensverlängernden Maßnahmen‹. Was genau unter dieser Formulierung zu verstehen ist, ob er keine künstliche Beatmung wünscht oder auch die Nahrungsaufnahme durch eine Magensonde von ihm abgelehnt wird, kann Herr Kondo nicht sagen. Er habe sich darüber bisher keine Gedanken gemacht, was konkret mit dieser Formulierung im Formular der JSDD gemeint ist,
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die er auch in seine handschriftliche Patientenverfügung aufgenommen hat. Dies scheint für seine Entscheidung bzw. Ablehnung jedoch auch nicht von größerer Bedeutung zu sein: »Ich kenne mich [mit medizinischen Dingen] nicht aus, jedoch möchte ich nicht in einem Zustand leben, in dem ich meine eigenen Angelegenheiten nicht entscheiden kann.«
Vor diesem Hintergrund scheint die Patientenverfügung eine generelle Willensbekundung zu sein, nicht mehr weiterleben zu wollen, sollte er nicht mehr selbstständig entscheiden können. Was genau unter ›lebensverlängernde Maßnahmen‹ zu verstehen ist, scheint zunächst nicht weiter relevant zu sein. Herr Kondo steckt mit seiner Patientenverfügung einen groben Rahmen ab und was aus seiner generellen Einstellung für den konkreten Krankheitsfall folgt, das legt er nicht weiter fest. Herr Kondo verdeutlicht seinen Standpunkt durch seine Furcht vor der Krankheit Alzheimer. Er fürchtet sich davor, in einem Zustand zu leben, in dem er nicht mehr er selbst ist. Das tückische an Alzheimer ist seiner Darstellung nach, dass trotz des Verlusts seiner selbst der Körper gesund ist und das Leben noch über Jahre weitergehen kann: »Vor Alzheimer habe ich Angst, große Angst. Ja. Obwohl der Körper gesund ist, in einem Zustand, in dem man nicht man selber ist, lange Zeit zu leben, ja, das ist unerträglich, denke ich.«
Herr Kondo möchte nicht mit einer Krankheit leben, durch die er nicht mehr er selbst ist. Den Verlust des Selbst bringt er mit der Krankheit Alzheimer in Verbindung. Im Zusammenhang mit seiner vorherigen Erklärung, nicht in einem Zustand leben zu wollen, in dem er seine eigenen Angelegenheiten nicht mehr selbstständig entscheiden kann, liegt die Vermutung nahe, dass rationale Fähigkeiten, Selbstständigkeit und seine Urteilskraft eine wichtige Rolle für seine Haltung spielen. Herr Kondo bezieht sich zu Beginn des Interviews auf einen Verwandten, der an ALS erkrankt ist und dessen Dasein er als Belastung für das soziale Umfeld darstellt. Dieser Verwandte werde seit fast 20 Jahren in einem bettlägerigen Zustand am Leben erhalten. Obwohl er nichts mehr mitbekomme (jibun wa nanimo wakaranai dake domo), 5 würde seine Existenz enormen Stress für die
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An dieser Stelle im Interview ist nicht deutlich, ob der Verwandte durch seinen gelähmten Zustand und eine nicht mehr vorhandene spontane Mimik auf Herrn Kondo
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Menschen um ihn herum bedeuten. Herr Kondo bezieht sich auf dieses Beispiel, um seine eigene Haltung abzugrenzen. Um nicht in einen ähnlichen Zustand zu geraten, möchte er die eigenen Angelegenheiten bis zum Lebensende, so gut es geht, entscheiden, solange er dazu in der Lage ist. Herr Kondo unterscheidet hier zwischen ›leben‹ (ikite iru) und ›am Leben erhalten werden‹ oder ›lebend gemacht werden‹ (ikasarete iru). Zum einen klingt eine Ablehnung der Aufrechterhaltung des Lebens durch medizinische Apparate (hier eine Beatmungsmaschine) an, zum anderen lehnt er einen Zustand ab, in dem er unfähig wäre selbstständig etwas zu tun, in dem er seine Umgebung nicht mehr wahrnehmen würde und sein Dasein eine Belastung für sein soziales Umfeld darstellen würde. Nachdem Herr Kondo zu einem späteren Zeitpunkt im Interview über seine Angst vor der Krankheit Alzheimer gesprochen hat, wurde das Thema von mir auf die Krankheit ALS zurückgelenkt. Auf die Frage hin, was er über ALS denke, eine Krankheit, bei der im Gegensatz zu Alzheimer der Verstand nicht beeinträchtigt ist und die Patienten bei vollem Bewusstsein in einem Zustand leben, in dem sie sich nicht mehr bewegen und nicht mehr kommunizieren können, überlegt Herr Kondo, welche Optionen wann zur Verfügung stehen und was er tun würde. Er wirft zunächst ein, dass ALS-Patienten solange sie ihre Augen bewegen können, über ihre Augen und eine Art Silben-Tafel kommunizieren können. Seine Einschätzung zum Krankheitsbild ALS lautet: »Solange man Bewusstsein hat, kann man da nichts machen. Ja, ich denke, dann muss man leben. Außer, wie ist das? Ob man in so einen Zustand kommt oder nicht, wenn es da eine Wahl gibt, dann würde ich das nicht wollen. Aber da kenne ich mich nicht aus. Wenn es so ist, dass man nur lebt, weil man an die Beatmungsmaschine angeschlossen ist, dann würde ich wünschen, dass sie abgestellt wird. Wenn das nicht so ist und es noch eigene Kraft zum Leben gibt, dann sollte man leben. [Mit leiser Stimme] Aber da kenne ich mich nicht aus. Nichts anderes mehr, als die Augen bewegen zu können, ist das nicht ein Zustand, in den man erst kommt, wenn man an der Beatmungsmaschine ist? Sicher, so ist das. Also hängt es davon ab, ob man sich an die Beatmungsmaschine anschließen lässt oder nicht, ich würde das nicht wollen. Ja, wenn es so eine Wahl gibt, dann ist das bestimmt das, was hier gemeint ist [zeigt auf die Patientenverfügung der JSDD].«
so wirkt, als würde er nichts mehr mitbekommen, oder ob seine Wahrnehmungsfähigkeit tatsächlich eingeschränkt ist. Im Normalfall geht ALS nicht mit einer Einschränkung der Wahrnehmung oder kognitiven Fähigkeiten einher. In seltenen Fällen ist auch die Augenmuskulatur von der Krankheit betroffen. Dann verlieren die Patienten neben der Sehfähigkeit meist auch ihre letzte Möglichkeit zur Kommunikation.
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Herr Kondo formuliert zunächst ›Bewusstsein‹ (ishiki) als Kriterium für eine Verpflichtung zu leben. Er überlegt sodann weiter und rekonstruiert den Krankheitsverlauf von ALS, und wie es zu einem Zustand kommt, in dem der Erkrankte bei vollem Bewusstsein aber vollständig gelähmt und ohne selbstständige Äußerungsfähigkeit ist. Wenn es vorher eine Wahlmöglichkeit gibt, diesen Zustand zu vermeiden, dann würde er das tun wollen. Die Wahlmöglichkeit den ›Ausweg Tod‹ zu ergreifen, knüpft er an das Kriterium ›eigene Kraft zu leben‹. Das Versagen der spontanen Atmung wäre demnach der Zeitpunkt, an dem die Option ›Beatmungsmaschine‹ zur Wahl steht, weil die eigenen Kräfte nicht mehr zum Leben ausreichen. Diese Option würde er nicht wählen, sondern sich für den Tod entscheiden. Die ›eigene Kraft zu leben‹ erinnert an ein Natürlichkeitsargument. Die eigene Kraft zu leben erscheint als natürliche Voraussetzung für das Leben. Wenn sie nicht mehr vorhanden ist, können künstliche Maßnahmen ergriffen werden, jedoch besteht keine Pflicht mehr weiterzuleben und der Mensch kann dem Lauf der Natur überlassen werden. Doch was bedeuten diese Überlegungen für die größte Angst von Herrn Kondo, dement zu werden? Im Fall von Alzheimer wäre der Zustand, in dem er nicht mehr leben möchte, gekennzeichnet durch einen Verlust des Selbst und der Fähigkeit, die eigenen Angelegenheiten selbst entscheiden zu können. Hier geht er nicht explizit darauf ein, wie durch die Patientenverfügung dieser Zustand vermieden werde soll. Wenn auch für den Zustand der Demenz ›Bewusstsein‹ (im Sinne von Wahrnehmungsfähigkeit und Bei-Bewusstsein-Sein) und ›eigene Kraft zu leben‹ die auschlaggebenden Kriterien sind, ob jemand weiterleben sollte oder nicht, dann bestünde nach dem Natürlichkeitsargument keine Wahlmöglichkeit, die den Tod als moralisch gerechtfertigte Option erscheinen lässt – zumindest solange keine weitere Erkrankung oder Schwierigkeiten bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme hinzukommen. Die Patientenverfügung ist in gewissem Sinne die konsequente Fortsetzung von Herrn Kondos bisheriger Lebensweise. Er versteht sich als Menschen, der selbstständig Entscheidungen über sein Leben trifft. In diesem Sinne möchte er weiterleben und auch für die Sterbephase selbst entscheiden: »Ich dachte, dass ich selber entscheiden kann, ob man mich weiterleben lässt oder nicht, das ist gut. Ja, das ist das Mindeste. Für die Menschen um einen herum [sind solche Situationen] schwierig. Deswegen sollte man vorsorglich entscheiden.«
Seine soziale Verantwortung kommt in dem Zitat zum Ausdruck, indem er durch die Patientenverfügung Verantwortung für Entscheidungen übernehmen möchte, die für seine Angehörigen schwer zu treffen sind. Herr Kondo ist sich durch die
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Einstellung seiner Verwandten und anderer Bekannter bewusst, dass es verschiedene Ansichten zu den Entscheidungsmöglichkeiten am Lebensende gibt. Er erkennt diese unterschiedlichen Auffassungen an, beabsichtigt jedoch den Einfluss seiner Herkunftsfamilie für Entscheidungsfindungen in seiner Sterbephase abzuwehren, indem er seine Frau durch die Patientenverfügung als Stellvertreterin autorisiert bzw. die Patientenverfügung als seinen Stellvertreter einsetzt (s. Kapitel 3.2.2). Die Patientenverfügung ist sozusagen ein Zeichen für das verantwortliche Handeln von Herrn Kondo. Zudem möchte er mit der Patientenverfügung vermeiden, in einem Zustand der Abhängigkeit zu leben, in dem er nicht mehr eigenständig handeln und entscheiden kann, seine Umwelt nicht mehr wahrnehmen kann und zu einer Belastung für sein soziales Umfeld wird. Herr Kondo hat klare Vorstellungen davon, was er wünscht und was er ablehnt. Doch zeigt die Rekonstruktion seiner Argumentation auch, dass seine moralische Bewertung, unter welchen Umständen Leben aufgegeben werden kann, sich nicht vollständig mit den Zuständen deckt, die er durch die Patientenverfügung vermeiden möchte. Möglicherweise kommt die allgemein gehaltene Formulierung seiner Patientenverfügung diesen Ambivalenzen entgegen. Er vertraut – bewusst oder unbewusst – darauf, dass sie im konkreten Anwendungsfall von den Ärzten oder auch seiner Frau richtig interpretiert wird. 5.2.2 Verlust der Mitteilungsfähigkeit als Auflösung des Selbst Vergleicht man die Darstellungen von Herrn Kondo mit der Erzählung von Herrn Jômon, so unterscheiden sich beide Fälle grundlegend voneinander. Herr Kondo trifft im gesunden Zustand Vorkehrungen für die in unbekannter Ferne liegende letzte Lebensphase. Er inszeniert sich dabei selbst als alleinigen Entscheidungsträger und versucht die selbstverantwortliche Lebensweise durch seine Patientenverfügung auch für den Fall zu gewährleisten, in dem er nicht mehr selbst entscheiden kann. Herr Jômon hingegen ist chronisch krank und wird sich in naher Zukunft entscheiden müssen, ob er weiterleben oder sterben will. Dass es für Herrn Jômon keine allein für ihn richtige Entscheidung geben kann, hängt eng mit seinem Selbstverständnis zusammen. Genau wie bei Herrn Kondo ist das, wovor sich Herr Jômon am meisten fürchtet, sein ›Selbst‹ zu verlieren. Während das Selbstkonzept bei Herrn Kondo jedoch eng mit der körperlichen und sozialen Unabhängigkeit und einem rationalen Selbstbewusstsein zusammenhängt, spielt für Herrn Jômon der soziale Zusammenhang, in dem er sich selbst ausdrücken kann, eine bedeutende Rolle.
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Bettlägerig (netakiri) zu werden und aufgrund der fortschreitenden Lähmung des Körpers in einen Zustand der körperlichen Abhängigkeit zu geraten, bezeichnet Herr Jômon als Folge der Krankheit, mit der er sich arrangieren könne. Das Schlimmste an der Krankheit sei für ihn, dass er durch die Degeneration des motorischen Nervensystems seine Ausdrucksfähigkeit verlieren werde. Durch die Ausdrucksfähigkeit (hyôgen) konstituiere sich das Selbst und forme sich die Persönlichkeit des Einzelnen in Interaktion. Im vollen Besitz seiner Sinne die Möglichkeiten zur Mitteilung des Selbst durch die Krankheit zu verlieren, bezeichnet Herr Jômon als seine größte Angst: »Sich selbst auszudrücken, ist das Menschlichste am Menschen (ichiban ningenrashii). Das ist das Außergewöhnlichste am Menschen. Für den Ausdruck, das, wodurch man sich dem anderen mitteilt, dafür hat der Mensch verschiedene Mittel und das ist das bemerkenswerte an ihm, nicht wahr? Das alles wird [durch die Krankheit] genommen. Die Funktion meiner fünf Sinne wird normal sein, ich werde wie alle fühlen und genauso denken... Aber wenn ich jegliche Mittel verliere, das auszudrücken, dann ist [im Vergleich dazu] bettlägerig zu werden nicht so schlimm. Wenn ich mich nicht mehr ausdrücken kann, dann verliere ich meine Individualität, meine Persönlichkeit. Wenn ich darüber nachdenke, dass Herr Jômon als Herr Jômon verloren gehen wird, dann ist das ungeheuer schmerzlich.«
Zwar gebe es die Möglichkeit über die Augen, Silbentabellen und spezielle Computerprogramme zu kommunizieren, jedoch könnten diese Hilfemittel die direkte Kommunikation, durch die Menschen miteinander in Berührung kommen (sessuru bubun), nicht ersetzen. Gefühle, die in der direkten Kommunikation nonverbal ausgedrückt werden, sind durch die Technik nicht vermittelbar: »Alles zusammen werden gute Dinge entwickelt. Aber wenn ich darüber nachdenke, dass ich meine Ausdruck[sfähigkeit] verlieren werde, mich selbst [verliere], sozusagen Herrn Jômon als Herr Jômon verlieren werde, dass meine Existenz als Mensch verschwimmen wird, dann ist es eine brutale Krankheit.«
Herr Jômon erwähnt zwar, derzeit noch keine Entscheidung fällen zu können, weil er für sich noch keine endgültige Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Lebens gefunden habe, aber er stellt auch dar, dass das Leben im Kreise seiner Familie und die bestmögliche Erfüllung seiner familiären Rollen die Faktoren sind, die ihm über den Schock der Diagnose hinweghalfen und seinem Leben einen neuen Sinn verliehen (s. Kapitel 4.1.4). Zudem sind für ihn die Interaktio-
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nen mit anderen Patienten und die aktive soziale Teilhabe durch seinen Arbeitsplatz wichtige Aspekte für ein erfülltes Leben. Herr Jômon ist mittlerweile durch die Krankheit körperlich eingeschränkt, sodass er nicht mehr unter herkömmlichen Bedingungen arbeiten kann. Er geht am Stock, trägt eine Halskrause zur Unterstützung seiner Nackenmuskulatur und muss sich mehrmals am Tag für einige Zeit hinlegen und mit einer Sauerstoffmaske ausruhen. Seine derzeitige Lebenssituation beschreibt er als glücklich (shiawase). Er sei glücklich und dankbar dafür, dass er mit seiner Krankheit einen Arbeitsplatz gefunden habe, an dem Rücksicht auf seine Krankheit genommen werde und Sonderregelungen für ihn geschaffen wurden. Er arbeite im Büro einer Klinik und der Klinikleiter gestatte es ihm, sich mittags mit der Sauerstoffmaske auszuruhen. Er dürfe als einziger Angestellter den Aufzug benutzen und habe einen Parkplatz in der Nähe des Eingangs zugewiesen bekommen. Aus mehreren Gründen bedeutet Herrn Jômon dieser Arbeitsplatz sehr viel. Zum einen versteht er ihn als Verbindungspunkt zum gesellschaftlichen Leben. Erst durch die Arbeit und die Möglichkeit zur Teilhabe am sozialen Leben fühle er sich als Mensch lebendig. Ein weiterer Grund für ihn zu arbeiten sei, dass er zur finanziellen Situation der Familie beitragen möchte. Sie seien nicht wohlhabend und er arbeite auch für die Zukunft seiner Kinder, das gebe ihm Energie zum Leben. Außerdem könne er durch die Arbeit Normalität in seinem Leben herstellen, weil er einem geregelten Tagesablauf nachgehe, morgens aufstehe, bis nachmittags arbeite und dann abends zusammen mit der Familie esse. Um seine eigene Entscheidung in Bezug auf die Beatmungsfrage zu finden, sind Herrn Jômon die Erfahrungen der anderen Patienten wichtig, mit deren Situation er die eigene Lebensweise vergleicht. Insbesondere die Gründerin des ALS-Patienten-Netzwerkes Sakurai Kai, Hashimoto Misao, wird von Herrn Jômon immer wieder im Interview erwähnt. Hashimoto unterstützt aktiv einzelne ALS-Gruppen und Herr Jômon kennt sie von ihren Besuchen in seiner Patientengruppe persönlich. Sie habe großen Einfluss auf ihn ausgeübt, sagt er. Herr Jômon vergleicht seine Entscheidung, die verbleibende Lebenszeit zu nutzen, um der bestmögliche Vater und Ehemann zu sein mit Hashimotos Entscheidung, getrennt von ihrem Mann und ihrer Tochter zu leben, um ihre Familie nicht durch die Inanspruchnahme der Pflegearbeit zu belasten. Die Grundeinstellung sei bei beiden die gleiche, denn auch Hashimotos Motiv sei es, eine gute Mutter und Ehefrau zu sein. Die Wege, die sie beide wählen, um dieses Ziel zu erreichen, seien jedoch entgegengesetzt. Herr Jômon erklärt, als er sich für seinen Weg entschied, habe er beide Entscheidungen als Ausdruck von Liebe
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gegenüber der Familie verstanden. Doch zweifelt er im Interview an seiner Entscheidung: »In dem Glauben, beides sei ein Ausdruck von Liebe, habe ich das bisher gemacht. Aber wenn ich jetzt fühle, wie meine Familie ihre erschöpften Gesichter zeigt, dann denke ich, es ist mein Ego, weil ich schwach bin. Nur weil ich darum gebeten habe, dass sie mich nicht verlassen, sind sie bei mir geblieben.«
Hashimoto Misao sei in eine eigene Wohnung gezogen, habe sich ein Pflegenetzwerk aufgebaut und ihrem Mann und ihrer Tochter gesagt, sie möchte, dass beide ihr eigenes Leben führen. Das Gleiche zu tun wie Hashimoto, die Familie zu ihrem Besten zu verlassen, dazu sei er nicht stark genug, erklärt Herr Jômon. Herr Jômon fordert an dieser Stelle des Interviews eine Stellungnahme von mir, welche der beiden Entscheidungen der Ausdruck wahrer Liebe zur Familie sei. Auf meine Reaktion, beide Entscheidungen hätten ihre Berechtigung, antwortet er, das habe er auch gedacht. Jedoch spiele auch sein Ego eine Rolle. Seine Zweifel beziehen sich darauf, dass er seine Entscheidung darstellt, als sei sie im Interesse der Familie getroffen worden. Wenn er jedoch selbstkritisch darüber nachdenke, dann müsse er sich eingestehen, dass die Entscheidung bei der Familie zu bleiben, nicht uneigennützig ist: »Ja, beides ist nicht falsch (lacht), denke ich. Ja, das denke ich auch. Auch jetzt habe ich diesen Gedanken. Das denke ich, aber mein Ego, mein Ego spielt auch eine Rolle. Ich sage, ich mache das für euch, aber in Wirklichkeit ist es ein Herr Jômon, der gerettet werden möchte oder sich davor fürchtet, alleine gelassen zu werden. Das denke ich. Ja, der Mensch ist schwach, ich bin schwach.«
Die Zweifel von Herrn Jômon beziehen sich auf seine Verantwortung der Familie gegenüber. Über den Gedanken, dass er für seine gute Erfüllung der Rollen als Vater und Ehemann Anerkennung erhalten möchte, fasst er ein neues Ziel in seinem Leben, das ihm bei der Bewältigung der Krankheitsdiagnose hilft. Seine Motivation zum Leben beinhaltet den Wunsch, im Kreis der Familie zu leben. Er führt weiter aus, die Entscheidung für oder gegen die Beatmung könne er nicht allein treffen. Allein seine richtige Entscheidung könne es nicht geben. Die richtige Entscheidung müsse auch für seine Familie die richtige Entscheidung sein: »Es geht nicht allein um mein Happy End, es ist nicht damit getan, dass ich mein Leben vollende. […] Allein meine richtige Entscheidung kann ich nicht treffen, nur damit kann es nicht enden. Es gibt die richtige Entscheidung meiner Frau, die richtige Entscheidung meiner Kinder, und am Ende muss dieses ein Ganzes ergeben, es muss von der Familie
274 | Ü BER DEN TOD VERFÜGEN beschlossen werden. Mein Leben ist vertan, wenn es nur 100 von 100 möglichen Punkten für Herrn Jômon sind.«
Herr Jômon stellt ein Konzept von Familie vor, in dem jedem Einzelnen seine eigene Lebensplanung zugebilligt wird, die von den anderen respektiert wird. Aufgrund dessen sieht er es als seine Verantwortung als Vater und als Ehemann, durch seine eigenen Wünsche die anderen in ihrer Lebensführung nicht einzuschränken. Herr Jômon begreift die Entscheidung für oder gegen die Beatmung sehr wohl als eine Entscheidung, die er selbst zu treffen hat und die ihm keiner abnehmen kann. Jedoch sieht er die Grenzen seiner Selbstbestimmung dort, wo sie die Lebensweise der einzelnen Familienmitglieder beeinflusst. Die Darstellungen von Herrn Jômon zu seinem Entscheidungsdilemma erwecken den Eindruck, als habe er sich schon für die Beatmung entschieden oder wünsche sich zumindest unter bestimmten Bedingungen weiterzuleben. Diese Bedingungen stellt er als seinen Wunsch dar, im Kreis der Familie zu leben, und er hofft, dass dieser Wunsch auch von seiner Familie geteilt wird. Sie soll sich nicht verpflichtet fühlen, ihn zu pflegen, sondern die Pflege und damit verbundenen Belastungen gerne und freiwillig übernehmen. Die Erläuterungen von Herrn Jômon werfen die Frage auf, weshalb er nicht für die derzeitigen Bedingungen – einschließlich der Unterstützungsmöglichkeiten und der finanziellen Situation – eine vorläufige Entscheidung zusammen mit seiner Familie trifft, die überdacht und geändert werden kann, wenn sich einzelne Faktoren positiv oder negativ verändern. Warum sucht Herr Jômon nach einer ihm selbst entsprechenden Entscheidung und dem Sinn seines Lebens, wenn er anscheinend schon Antworten gefunden hat und der nächste Schritt die Verständigung mit seiner Familie sein könnte? Erst durch die Thematisierung seiner Ängste wird eine weitere Facette seines Selbstverständnisses deutlich, welche die Tragweite seines Dilemmas verständlich macht. Herr Jômon ist auf der Suche nach einer seinem Selbst entsprechenden Antwort und kann keine vorläufige Lösung finden, weil sich sein Wunsch, im Kreise der Familie weiterzuleben, und seine Befürchtungen vor dem Verlust seiner selbst und einer möglichen sozialen Isolation miteinander in einem Konflikt befinden. Ohne diesen Konflikt für sich zu lösen, kann er sich nicht mit seiner Familie auf eine gemeinsame Lösung verständigen. Aus diesem Grund sind die Erfahrungen und das Miterleben der Entscheidungen anderer Patienten bedeutsam für seine Entscheidungsfindung. Auch wenn die Ärzte ihm zu einer vorläufigen Entscheidung raten und er Patientenverfügungen als Ausdruck eines vorläufig vorausverfügten Willens als sinnvoll erachtet, um in einer Notfallsitua-
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tion nicht gegen seinen Willen behandelt zu werden, kann Herr Jômon keine Patientenverfügung verfassen. Abschließend kann im Vergleich der beiden Fallbeispiele festgestellt werden, dass beide – sowohl Herr Kondo als auch Herr Jômon – eine Entscheidung in Einklang mit ihrer Lebensweise und ihrem Selbstbild treffen wollen. Für Herrn Kondo steht die Motivation, seine eigenen Angelegenheiten selbst zu entscheiden, sein Leben nach seinen Vorstellungen zu gestalten und Verantwortung für seine Lebensweise zu übernehmen, im Vordergrund. Für sein Selbstverständnis stellt er ein rationales Bewusstsein seiner selbst als bedeutsam dar. In Bezug auf dieses Selbstkonzept lehnt er krankheitsbedingte Zustände ab, in denen er aufgrund körperlicher Abhängigkeit oder kognitiver Beeinträchtigungen nicht mehr seine bisherige Lebensweise verfolgen könnte. Nicht mehr selbstständig handeln zu können und pflegebedürftig zu werden, lehnt er zudem in Bezug auf das Beispiel seines Verwandten ab, den er als Belastung für das soziale Umfeld beschreibt. Auch sein Wunsch nach einer Beerdigung im kleinen Kreis – den er in seiner handschriftlichen Patientenverfügung festgehalten hat – kann als Vermeidung von einer Belastung für sein soziales und berufliches Umfeld nach seinem Tod verstanden werden (s. Kapitel 3.2.1). Diese Zustände sind für ihn nicht mit seinem Selbstbild zu vereinbaren und er würde den Tod einer möglichen Lebensverlängerung vorziehen. Es ist die Strategie eines Mannes, der mitten im Berufsleben steht und dessen Selbstkonzept eng verbunden ist mit der Vorstellung eines rationalen und selbstbewussten Menschen, der seine Entscheidungen für sich und unabhängig von anderen trifft. Er bedenkt bei seiner Selbstreflexion durchaus seine soziale Einbettung und betont – ebenso wie seine Frau –, dass er kinderlos ist und seine Frau eine ähnliche Einstellung wie er vertritt. Die Patientenverfügung als Gelegenheit wahrzunehmen, Entscheidungen für sein Lebensende im Voraus zu treffen, begreift er nicht nur als Ausdruck seiner selbstständigen Lebensweise, sondern auch als seine Verantwortung gegenüber seinem familiärem Umfeld. Jedoch zeigt die Betrachtung der Darstellungen von Herrn Kondo auch, dass sich seine Wertschätzung eines unabhängigen, selbstverantwortlichen Lebensstils nicht unbedingt mit seiner Bewertung deckt, unter welchen Umständen das Aufgeben von Leben legitim ist. Im Gegensatz zu Herrn Kondo hat Herr Jômon noch keinen Entschluss gefasst, sondern befindet sich auf der Suche nach einer Entscheidung, die in Einklang mit seinem Selbstverständnis steht. Ebenso wie bei Herrn Kondo ist das Muster, das der Entscheidung von Herrn Jômon zugrunde liegt, eng mit seinem Selbstkonzept verbunden. Es unterscheidet sich jedoch grundlegend von den Vorstellungen von Herrn Kondo. Ausgelöst durch die Krankheitsdiagnose
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durchlebte Herr Jômon eine schwere Krise, zu deren Bewältigung er seine eigene Lebensgeschichte neu- bzw. umschreiben musste, wie er sagt. Konstitutiv für das Selbstverständnis von Herrn Jômon ist zum einen die Anerkennung und Wertschätzung seiner Person als Vater und Ehemann durch seine Familie, die er als Lebensmittelpunkt und Motivation zum Weiterleben darstellt. Herr Jômon spricht von mehreren Rollen und damit verbundenen Aufgaben, über die er seinen Lebenssinn definiert. Diese Rollen sind nicht von außen an ihn herangetragen worden, sondern sie werden von ihm gewählt und nach seinen Vorstellungen ausgestaltet. Im familiären Bereich verfolgt er das Ideal, der bestmögliche Vater und Ehemann zu sein; über seinen Beruf fühlt er sich als Teil des gesellschaftlichen Lebens und kann zur finanziellen Situation der Familie beitragen. In der ALS-Patientengruppe versteht er es als seine Aufgabe, die Unterstützung zurückzugeben, die er selbst empfangen hat. Ein weiterer wichtiger Aspekt seines Selbstkonzepts ist die Fähigkeit sich selbst ausdrücken und anderen mitteilen zu können. Diese Ausdrucksfähigkeit ist für ihn die Voraussetzung, um mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Nur durch den Austausch und Kontakt mit anderen könne Herr Jômon er selbst sein. Im Gegensatz zu Herrn Kondo geht Herr Jômon davon aus, mit einer Einschränkung seiner Handlungsfähigkeit und selbstständigen Lebensweise durch körperlich bedingte Abhängigkeiten umgehen zu können. Für sein Selbstverständnis ist der Selbstausdruck in Interaktion bedeutsam, der sowohl verbal als auch künstlerisch oder durch Gestik und Mimik erfolgen kann. Erst wenn diese vielfältigen und teilweise subtil unbewussten Möglichkeiten der Interaktion nicht mehr möglich sein sollten, sieht Herr Jômon sich selbst gefährdet, zu ›verschwinden‹, mit anderen Worten sozial und psychisch vor dem physischen Tod zu sterben. Eine Patientenverfügung im Sinne einer Stellvertreterfunktion mit einem im Voraus festgelegten Willen wie bei Herrn Kondo ist für Herrn Jômon nicht möglich. Er hat erlebt, wie sich durch die Diagnose der Krankheit sein Selbstverständnis verändert hat (s. Kapitel 4.1.4). Die Interpretation seiner körperlichen Schwäche als persönliches Versagen erwies sich durch das Wissen von der Krankheit als falsch und eröffnete ihm die Möglichkeit, zu einem positiven Selbstverständnis zu finden. Während Herr Kondo seine Unabhängigkeit in den Vordergrund rückt, stellt Herr Jômon ein Verständnis von selbstbestimmten Entscheidungen vor, die eingebettet sind in einen Prozess der Interaktion und ständigen Selbstreflexion. Bei beiden spielt die Verantwortung für das eigene Leben und für das soziale Umfeld eine bedeutende Rolle, jedoch nimmt sie bei Herrn Kondo die Form an, andere von Verpflichtungen und Verantwortung ihm gegenüber zu befreien, während Herr Jômon nach einem Weg sucht, sich in die
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Abhängigkeit seiner Familie zu begeben, ohne sie zu verpflichten oder Entscheidungen über ihr Leben zu treffen. Die Schlussfolgerung, dass ein Selbstverständnis, in dem Unabhängigkeit und Selbstständigkeit ein bedeutender Stellenwert zugewiesen wird, zu einer Ablehnung von lebenserhaltenden Maßnahmen führt, ist jedoch zu simpel. Auch wenn Herr Jômon bestimmte Abhängigkeiten in Kauf nehmen würde, so begreift er sich dennoch als selbstständig und möchte sich nur in die Abhängigkeit von der Unterstützung seiner Familie begeben, wenn sie auf der Grundlage der Freiwilligkeit beruht und seine Familie wünscht, dass er weiter lebt. Durch das Kontrastbeispiel von Hashimoto Misao verweist Herr Jômon auf eine weitere Option, die ihm zur Verfügung stehen würde. Hashimoto führt trotz ihrer Abhängigkeit von der maschinellen Beatmung und der Unterstützung ihres Pflegenetzwerkes ein unabhängiges Leben und ist dafür bekannt, dass sie sich aktiv für die Belange von ALS-Patienten einsetzt und sogar bis nach Mailand oder Kopenhagen fliegt, um auf Konferenzen Vorträge zu halten (vgl. Tokyo Shinbun 2009; Yamazaki 2006: 15-43).
5.3 J IBUNRASHISA – I DEAL
UND
V ORBILDFUNKTION
Im Diskurs um Patientenverfügungen wird der abstrakte und in der Alltagssprache wenig gebräuchliche Begriff songen (Würde) in dem Ausdruck songenshi (würdevolles Sterben) häufig durch shizenshi (natürliches Sterben) oder jibunrashii shi (dem Selbst entsprechendes Sterben) erklärt. Während ›natürliches Sterben‹ einen Gegenbegriff zum ›künstlichen Lebenserhalt‹ darstellt und vor allem im Kontext der Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen in der Sterbephase verwendet wird, ist die Bedeutung von ›im Einklang mit dem Selbst‹ oder ›dem Selbst entsprechenden‹ Sterben unbestimmter und steht in klarer Verbindung zum Selbstbild und der Lebensweise des sterbenden Menschen. Durch die selbstreflexive Komponente wird der Begriff der individuellen Interpretation geöffnet. In diesem Sinne kann jibunrashii shi als Begriff für eine individualisierte Interpretation der Sterbephase verstanden werden. Jedoch wird jibunrashii shi nicht nur für die subjektiven Deutungen und Wünsche in der Sterbephase verwendet, sondern auch von Dritten, wenn sie das Sterben anderer hinsichtlich eines guten oder schlechten Todes beurteilen – je mehr die Sterbephase im Einklang mit der Lebensweise und den Werten des Sterbenden interpretiert werden kann, desto eher wird der Tod im Nachhinein als guter Tod bewertet. Das Hilfsadjektiv rashii wird in der japanischen Sprache verwendet, um auszudrücken, dass etwas (annähernd) ist wie eine ideale Vorlage. Es kann bedeuten, dass etwas typisch ist, so scheint oder aussieht wie etwas. In Kombination
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mit jibun (Selbst) eröffnet -rashii die Suche nach einer Annäherung an das Selbst. Dieser Annäherungscharakter kann im Kontext von jibunrashii auch als Unmöglichkeit verstanden werden, das Selbst vollständig und in all seinen Facetten zu erfassen. Das Selbst scheint vielmehr in einem ständigen Reflexionsprozess neu gebildet und im Lichte neuer Erfahrungen interpretiert zu werden. 5.3.1 Jibunrashisa hängt von den individuellen Wünschen ab Frau Kondo spricht im Interview ganz im Sinne der gängigen Erklärung von songenshi als jibunrashii shi. Sie übernimmt hier die semantische Verknüpfung von songen und der Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen, wie sie durch die Verwendung der JSDD Verbreitung gefunden hat. Sie erklärt, würdevoll zu sterben und keine lebenserhaltenden Maßnahmen zu wünschen, sei als dem Selbst entsprechendes Sterben zu verstehen (s. Kapitel 2.3.1 und 3.2.2). Doch sind die Bedeutungen von songenshi und jibunrashii shi keineswegs deckungsgleich. Vielmehr ist jibunrashii shi weiter gefasst und geht über den Kontext von Patientenverfügungen hinaus. Durch ihre Erklärungen, dass songenshi oder der Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen nicht von jedem befürwortet wird, hebt Frau Kondo hervor, dass den individuellen Wünschen im Zusammenhang mit jibunrashii shi eine wichtige Bedeutung zukommt. Noch deutlicher wird der Aspekt der individuellen Wünsche, wenn Frau Kondo jibunrashii auf ihre beruflichen Erfahrungen bezieht und von der Schmerzlinderung im Hospiz spricht. Durch ihre beruflichen Erfahrungen habe sie gelernt, dass ihre eigenen Vorstellungen von einem guten Leben oder Sterben nicht mit denen anderer Menschen übereinstimmen müssen. Sie deutet an, dass das Lindern von Schmerzen ein Faktor sei, über den Einigkeit bestehe, wenn es um einen würdigen oder dem Selbst entsprechenden Tod gehe. Die Linderung von Schmerzen ist der Grundsatz, der in allen Hospizen, in denen sie bisher gearbeitet hat, verfolgt wurde, um den Patienten ein ›menschliches‹ oder dem ›Menschen angemessenes› (ningenrashii) Lebensende zu ermöglichen, auch wenn es unterschiedliche Methoden gab, die in den einzelnen Hospizen verfolgt wurden. Aber auch in Bezug auf die Wünsche der Patienten zur Schmerzlinderung gebe es Unterschiede. Schmerzen erscheinen in ihrer Darstellung als ein Symptom des Sterbeprozesses, das durch die Möglichkeiten der Palliativmedizin gut zu kontrollieren ist. Aus der Hospiztätigkeit ist sie mit unterschiedlichen Umgangsweisen der Patienten mit Schmerzen vertraut. Sie erzählt, es gebe einige Patienten, die eine niedrigere Medikation bevorzugen, wenn ansonsten ihr Bewusstsein beeinträchtigt und sie durch die Schmerzmittel schläfrig würden. Sie hätten lieber nur eine 80prozentige Schmerzlinderung, um sich selbst wahrzunehmen. Diesen Wunsch
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bezeichnet Frau Kondo als Ausdruck von jibunrashisa. ›Dem Selbst entsprechend‹ bedeutet in diesem Zusammenhang, sich selbst noch wahrzunehmen und zu spüren, bei Bewusstsein zu sein. Durch Schmerzen kann die Selbstwahrnehmung beeinflusst werden, aber auch die vollständige Betäubung der Schmerzen werde von einigen Menschen abgelehnt, um sich selbst zu spüren und, wie Frau Kondo sagt, sich selbst und den eigenen Zustand beurteilen zu können (jibun de jibun no koto wo handan shitai). Jibunrashisa ist im Verständnis von Frau Kondo eng verbunden mit ihrem Vorsatz, sich keine Bewertung über das Leben anderer zu erlauben. Zu Beginn des Interviews erklärt sie, sie habe durch ihren Beruf gelernt, sich nicht mit anderen zu vergleichen und den Zustand anderer nicht auf sich selbst zu beziehen. Ein Urteil über die Lebensqualität anderer – unter diesen Umständen nicht leben zu wollen – habe sie sich vorgenommen, nicht zu fällen. Zu einer späteren Stelle im Interview erklärt sie aus ihrer eigenen Lebensgeschichte heraus, dass sie sich bewusst dazu entschieden habe, andere nicht zu bemitleiden. Sie bezieht sich auf das japanische Sprichwort »Die Kinder werden auch groß, wenn sie keine Eltern haben« (oya ga nakute mo ko wa sodatsu) und wendet sich gegen die pauschale Annahme, Kinder, die ihre Eltern früh verlieren, seien unglücklich oder hätten ein schweres Leben. Frau Kondo spricht hier ihre eigenen Erfahrungen an. Ihr Vater starb, als sie noch ein kleines Kind war. Ebenso wenig wie sie aus diesem Grund bemitleidet werden möchte, lehnt sie eine bemitleidende Haltung gegenüber anderen ab. Sie habe die Entscheidung getroffen, sich kein Urteil über das Leid und Glück anderer Menschen zu erlauben. Auch Menschen, die traurige Erfahrungen gemacht haben, sei es möglich ein Leben zu führen, dass ihnen entspricht (sono hito rashii jinsei), erklärt Frau Kondo. Hier drückt sie eine Vorstellung aus, dass jeder Mensch eine Lebensweise finden kann, die zu ihm passt und mit der er oder sie zufrieden ist. Frau Kondo vertritt ihre Maxime, andere nicht zu bemitleiden, auch in ihrem Arbeitsalltag. Sie weise das Selbstmitleid von Patienten zurück, die sich mit anderen Menschen vergleichen. Manchmal würden sich Patienten über ihr Schicksal beklagen, da es ihnen schlecht und den Krankenschwestern gut gehe. Jedoch hätten die Patienten auch Zeiten in ihrem Leben gehabt, zu denen sie gesund waren, und sie als Krankenschwester wisse nicht, was ihr in ihrem Leben noch bevorstehe. Aus diesem Grund sei es wichtig, in der Gegenwart zu leben. In ihrer Arbeit versuche sie deswegen, die Patienten zu ermutigen darüber nachzudenken, was sie im Hier und Heute tun können und möchten. Wenn alle – Patienten, Ärzte und Krankenschwestern – das tun, was jetzt in ihren Möglichkeiten steht, dann herrsche Gleichheit unter ihnen.
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5.3.2 Auf der Suche nach einer dem Selbst entsprechenden Entscheidung Über die ALS-Patientin und Aktivistin Hashimoto Misao sagt Herr Jômon, dass sie ein beeindruckender Mensch sei, weil sie ihr Leben auf der stetigen Suche nach sich selbst führe oder, anders ausgedrückt, auf der ständigen Suche nach einem ihrem Selbst entsprechenden Lebensstil sei (tokoton jibunrashisa wo motomete, ikite rasharu kata). Einerseits dient Hashimoto Misao Herrn Jômon als Vorbild, andererseits nutzt er sie als ein Beispiel, um seine Lebensweise im Kontrast zu ihr zu verdeutlichen. Auch den Umgang mit der Krankheit von anderen Patienten, die er über die ALS-Gruppe kennt, stellt er als bedeutsam für seine Suche nach einer ihm selbst entsprechenden Entscheidungsfindung dar (jibunrashii ketsudan). Nach der Diagnosestellung habe er nach Informationen zum Umgang mit der Krankheit anderer Erkrankter gesucht. Sein Interesse für die persönlichen Erfahrungen anderer Patienten begründet er damit, dass die medizinischen oder wissenschaftlichen Informationen zur Krankheit nichts Persönliches enthalten würden (jibunrashisa to nai darô na). Im Internet habe er viele Seiten von ALSPatienten gefunden, die sich für die künstliche Beatmung entschieden hatten. Ihre Darstellungen seien jedoch durchgehend positiv gewesen. Er habe aber gerade nach Berichten über das Leid und die Ängste, welche durch die Krankheit hervorgerufen werden, gesucht. Deswegen sei er ein halbes Jahr nach der Diagnose in eine ALS-Patientengruppe eingetreten. Herr Jômon beschreibt seinen eigenen Gefühlszustand bei seinen ersten Besuchen der Patientengruppe als emotional aufgewühlt: In ihm sei alles durcheinander gewesen (jibun no naka wa serisarete nai). Er habe sich nicht mitteilen können, sei jedoch von den anderen verstanden worden. Durch die gemeinsamen Erfahrungen gebe es ein Gefühl der Verbundenheit und des Verständnisses, auch ohne Worte. Durch die Gespräche in der Patientengruppe wurde es Herrn Jômon möglich, Distanz zu seiner Situation zu gewinnen, sie durch die Augen und Erfahrungen der anderen zu betrachten und seine Gefühle und Gedanken zu ordnen. Der Umgang mit der Krankheit wurde durch die Erfahrungen der anderen zu einem abstrakteren Muster von Phasen, die zwar individuell geprägt sind, jedoch von allen durchlebt werden. Die geteilten Erfahrungen verbinden die Mitglieder. Für die Unterstützung, die er durch die Patientengruppe erfahren habe, empfinde er große Dankbarkeit. Und heute gebe er zurück, was er vor ein paar Jahren empfangen habe.
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Um mit seiner Krankheitsdiagnose und der neuen Situation umzugehen, sind demnach die Haltungen der anderen und ihre Erfahrungen bedeutsam. Herr Jômon sucht gezielt nach unterschiedlichen Erfahrungen und Umgangsweisen, in denen auch Leid und Angst thematisiert werden, und gibt sich nicht mit positiven Selbstdarstellungen zufrieden. Die unterschiedlichen Einstellungen begreift er als wichtige Voraussetzung für seine eigene Entscheidung. Herr Jômon bedient sich im Interview unterschiedlicher Formulierungen, um zum Ausdruck zu bringen, dass er nach einer Entscheidung zur Beatmungsfrage sucht, die seinem Selbstverständnis entspricht. Seine Suche nach einer ihm selbst entsprechenden Antwort – ›meinem Selbst entsprechend‹ (jibunrashii), ›Jômon entsprechend‹ (Jômon-rashii) und ›mir entsprechend‹ (bokurashii) – führt ihn zu der selbstreflexiven Frage nach seinem Selbstverständnis im Kontext der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten: »Ist eine an die [Beatmungsmaschine] angeschlossene Lebensweise eine meinem Leben (boku no jinsei), eine meiner Lebensweise (bokurashii ikikata) entsprechende? Was ist Herrn Jômon entsprechend, eine angeschlossene oder eine natürlich vollendete Lebensweise? Welche [Option] entspricht meinem Selbst (jibunrashisa wa dochidarô), wenn die Lebensumstände noch nicht geordnet sind und es eher Umstände sind, in denen ein Anschluss schwer ist? Was wird das Erste sein, was mir in den Sinn kommt, wenn es so weit ist?«
Die verschiedenen von ihm gebrauchten Ausdrücke verweisen auf unterschiedliche Perspektiven, aus denen er sich seinem Selbst zuwendet. Die Konstruktion aus seinem Nachnamen und rashii stellt die distanzierteste Betrachtung seines Selbst dar. Er betrachtet sich selbst aus der Außenperspektive, als würde er sich durch die Augen einer anderen Person sehen. Durch eine Verknüpfung des männlichen Personalpronomens boku – wie es eher in formelleren Gesprächssituationen verwendet wird – und rashii in dem Ausdruck ›mir selbst‹ wendet er sich seinem Selbst aus einer subjektiven Perspektive zu, die einen weniger reflektierten Eindruck erweckt als die Zuwendung zum objektivierten und abstrakteren ›Selbst‹ (jibun) durch den Ausdruck jibunrashii. Er kann nicht einfach nach seinen Wünschen handeln, wie es das subjektive ›Ich‹ (boku) bevorzugen würde. Auch die mit einem Blick von außen gestellte Frage, ob zu ihm – Herrn Jômon – ein Leben angeschlossen an Apparate passt oder doch eher die Ablehnung des Künstlichen und ein ›natürlicher‹ Tod, kann er nicht entscheiden. Ebenso führt eine Innenperspektive, die das Selbst zum Objekt der Betrachtung macht und die Lebensbedingungen in die Überlegungen mit einbezieht, nicht zu einer Lösung der Beatmungsfrage.
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Hier zeigt sich, wie Herr Jômon verschiedenste Perspektiven auf sich selbst einnimmt, um eine ihm persönlich entsprechende Entscheidung zu treffen. Er sieht sich jedoch nicht dazu in der Lage, weil er für sich noch nicht entscheiden könne, weil er noch auf der Suche nach dem Sinn und Zweck seines Lebens sei. Auf eine der letzten Fragen, was er sich für ALS-Patienten wünschen würde, nennt er an erster Stelle, dass eine Heilmethode entwickelt wird. Wenn das nicht möglich sei, dann sollte es ALS-Patienten ermöglicht werden, ein ihrem Selbst entsprechendes Leben zu führen. Dazu erklärt er, dass ALS-Patienten in vielerlei Hinsicht Unterstützung brauchen, um ein Leben zu führen, das ihrem Selbstverständnis entspricht.
5.4 S ELBSTSTÄNDIGKEIT
UND
ABHÄNGIGKEIT
Die Interviewten beziehen sich auf ihre Erfahrungen und Erlebnisse, denen sie Bedeutung für das Verfassen einer Patientenverfügung zuschreiben. Diese Erzählung verknüpfen sie mit ihren Vorstellungen zur eigenen Lebenszeit und stellen einen Zusammenhang zu ihrer Lebensgeschichte her. Durch die Einbettung der Entscheidung für eine Patientenverfügung in die eigene Lebensgeschichte schaffen sie einen kohärenten Sinnzusammenhang zwischen der Entscheidung für eine Patientenverfügung und ihrer bisherigen Lebensweise. Die Patientenverfügung als Ausdruck und Fortsetzung einer selbstständigen und selbstbestimmten Lebensweise ist ein Motiv, das deutlich in den Erzählungen von Frau Kondo und Frau Minami zur Sprache kommt. Die Fallbeispiele weisen vielfältige Parallelen auf: Beide Frauen betonen, dass sie kinderlos sind und es niemanden gibt, der auf sie angewiesen ist. Dadurch, dass ihre Ehemänner eine ähnliche Einstellung vertreten und sie in Partnerschaften leben, in der sich jeder selbst als verantwortlich für die eigene Lebensführung sieht und die Entscheidungen des jeweils anderen respektiert, stellen sie ihre Entscheidungsfindungen als unabhängig dar. Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Frauen ist, dass sie durch ihre beruflichen Tätigkeiten in der Kranken- und Altenpflege viele Erfahrungen zu unterschiedlichen Umgangsweisen mit Leben und Tod gesammelt haben, auf die sie sich bei ihren Selbstreflexionen beziehen. Ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Fallbeispielen ist jedoch die Krankheit von Frau Minami. Bei ihr stehen konkrete Entscheidungen an, wohingegen Frau Kondo sich mit der Möglichkeit auseinandersetzt, dass sie erkranken und nicht mehr selbst entscheiden könnte. Im Folgenden wird zunächst die Selbstdarstellung von Frau Kondo näher erläutert und im Anschluss die Selbstpräsentation von Frau Minami.
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5.4.1 Durch eigene Entscheidungen das Leben selbst gestalten Frau Kondo nimmt die Erzählaufforderung zu ihrer Patientenverfügung als eine Gelegenheit wahr, sich selbst im Interview innerhalb ihrer Vorstellungen von verschiedenen Entscheidungstypen zu positionieren und ihr Selbstbild zu kommunizieren. Erläuterungen zu Menschen, die ihrer Meinung nach eine andere Lebensweise verfolgen und Entscheidungen nicht selbst treffen, dienen ihr dabei als Kontrastfolie, um herauszustellen, dass selbst getroffene Entscheidungen, mit denen sie Verantwortung für ihr eigenes Leben und Sterben übernimmt, für ihr Selbstverständnis bedeutsam sind: »Es gibt auf dieser Welt viele Menschen, die nicht für sich selbst entscheiden können, das habe ich während meiner Arbeit in der Palliativpflege und im Hospiz gelernt. […] Weil sie keine Erfahrung darin haben, für sich selbst zu entscheiden. [...] Weil sie sich zum Beispiel bisher immer über alles Mögliche mit ihrem Ehemann beraten haben und dann dessen Entscheidung gefolgt sind. Zum Beispiel wird ihnen gesagt: ›Sie haben Krebs. Es gibt von jetzt an die oder die Behandlungen.‹ Oder: ›Vielleicht kann man es nicht mehr behandeln, aber es gibt auch die Möglichkeit der Palliativpflege.‹ Wenn es zu so einer Situation kommt, dann würden wir zuallererst darüber nachdenken, was wir tun wollen. Aber sie antworten, sie werden sich mit ihrem Ehemann oder mit der Familie beraten.«
Frau Kondo bringt im Verlauf des Interviews drei Situationen zur Sprache, in denen sie sich jeweils als Person darstellt, die selbstständig und aktiv ihre eigene Entscheidung trifft. Um ihren Standpunkt zu verdeutlichen, kontrastiert sie das eigene Entscheidungsverhalten mit Frauen, die ihr Leben lang nicht für sich selbst entschieden haben, sondern dem Rat ihres Ehemannes oder der Familie gefolgt sind und nach Meinung von Frau Kondo nie gelernt haben, für sich selbst zu entscheiden. Durch ihren Beruf habe sie erfahren, dass es Menschen mit den unterschiedlichsten Einstellungen gebe. Sie betont an dieser Stelle wie auch später im Interview, dass sie sich nicht mit der Situation anderer Menschen vergleichen und eine Bewertung abgeben möchte, die darauf hinzielt, nicht so wie sie enden zu wollen. Die Gegenüberstellung dient ihr dazu herauszustellen, dass für sie die Frage »Was möchte ich tun, was sollte ich tun?« stets im Mittelpunkt ihrer Entscheidungsfindungen steht. Die eigenen Angelegenheiten selbständig zu entscheiden, hebt sie als wichtigen Aspekt für ihr Selbstverständnis hervor. Die erste von ihr dargestellte Entscheidungssituation ist der Abschluss der Patientenverfügung (s. Kapitel 3.2.1). Die Frage, ob sie von klein auf ihre Entscheidungen selbst getroffen habe, bejaht sie und erklärt, in ihrer Familie sei es
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üblich gewesen, dass alle ihre Entscheidungen selbst fällen. Sie sei dazu erzogen worden und es habe in ihrer Familie oft Situationen gegeben, in denen sie sich zusammensetzten und sie gefragt wurde, was sie tun wolle und was die beste Entscheidung sei. Als sie dann jedoch heiratete, habe sie einen Mann geheiratet, in dessen Familie eigenständigen Entscheidungen ein vollkommen anderer Wert zugesprochen werde: »Aber als ich geheiratet habe, da bin ich mit einer Familie mit vollkommen verschiedenen Werten in Kontakt gekommen. Vollkommen verschieden! Die Werte von meinem Mann und mir unterscheiden sich kaum, aber die Familie von meinem Mann – die Mutter von meinem Mann war die ganze Zeit Vollzeithausfrau. Meine Mutter hat immer gearbeitet und ist stets aus dem Haus gegangen. Aber die Mutter von meinem Mann, sie hat immer das gemacht, was ihr Mann gesagt hat. Deswegen gibt es letztendlich diese Unterschiede.«
Ihr Mann sei nach dem Schulabschluss zu Hause ausgezogen, habe studiert und musste seine eigenen Entscheidungen treffen, deswegen würden sie und ihr Mann sich sehr in ihrer Haltung ähneln. Vor allem in Bezug auf ihre Mutter und auch anhand der vorherigen Ausführungen zu Frauen, die nie gelernt hätten, selbst zu entscheiden, wird deutlich, dass die Berufstätigkeit für Frau Kondo offenbar einen wichtigen Stellenwert für eine selbstständige Lebensführung hat. Dass häufig die Vollzeithausfrauen in der Generation ihrer Eltern familiäre Angelegenheiten entschieden und die Verantwortung für die innerfamiliären Angelegenheiten trugen, thematisiert Frau Kondo nicht. In ihrer Darstellung sind es die Hausfrauen, die im Gegensatz zu den berufstätigen Frauen unselbstständig sind. Obwohl in der Gegenüberstellung ihrer Mutter und Schwiegermutter eine klare Präferenz von Frau Kondo für die Rolle der berufstätigen Frau zum Ausdruck kommt, betont sie, keine Bewertung vornehmen zu wollen: »Ich habe die Familie meines Mannes gesehen und es ging nicht um gut oder schlecht, ich habe lediglich gedacht: ›Ah! Es gibt auch Menschen, die nicht entscheiden können.‹ (lacht)« Auf meine Frage, ob es eine Verbindung zwischen ihrer Lebensweise und ihrem Beruf gebe, erzählt Frau Kondo von ihrer Erwerbsbiografie. Sie berichtet von beruflichen Neuorientierungen, um zu verdeutlichen, dass selbstständig getroffene Entscheidungen ein wichtiger Bestandteil ihrer Lebensführung sind: »Um die Wahrheit zu sagen, ich... konnte keine Kinder bekommen. Ich hatte mehrere Fehlgeburten und konnte nicht gebären. So war das. Vielleicht hätte es geklappt, wenn ich noch weitere Behandlungen gehabt hätte. Als ich über mein eigenes Leben nachdachte, da
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war es mir zuwider, dass es so endet, und ich habe mit 37 Jahren die Behandlungen wegen Unfruchtbarkeit, die Behandlungen, um Kinder bekommen zu können, abgebrochen. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, wenn es so ist, [dass ich keine Kinder bekommen kann] dann gehe ich in die Sterbebegleitung (mitoru).«
Die Fehlgeburten sind demnach der Anlass für Frau Kondo, über ihr Leben nachzudenken. Die ersten Jahre ihres Erwerbslebens arbeitete sie als Krankenschwester in der gynäkologischen Abteilung einer Notfallambulanz. Zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung, fortan im Hospiz zu arbeiten, hatte sie schon einmal den Arbeitsplatz gewechselt. Zuvor hatte sie zehn Jahre lang als Schulkrankenschwester gearbeitet. Am Ende einer Lebensphase, in der sie mehrere Fehlgeburten und medizinische Behandlungen hinter sich hatte, stand der Entschluss etwas ändern zu wollen. Das Ergebnis war der Berufswechsel von der Schul- zur Hospiz-Krankenschwester. Hier wird deutlich, wie die selbstreflexive Frage ›Was möchte oder sollte ich tun?‹ zu einer Auseinandersetzung mit der bisherigen Lebensweise und dem eigenen Selbstverständnis führt. Für die Entscheidungen in ihrem Leben gebe es immer konkrete Anlässe, schließt sie die Episode über den Berufswechsel und leitet über zur Erzählung eines Schlüsselerlebnisses aus ihrer Kindheit, auf das sie ihre heutige Lebensführung und ihr Entscheidungsverhalten zurückführt. Der Erziehung durch ihre Familie, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, schreibt sie in dieser Episode Bedeutung zu. Frau Kondo erzählt, dass ihr Vater bei einem Unfall starb, als sie etwa drei Jahre alt war. Als ihre Mutter einige Jahre nach dem Tod des Vaters erneut heiratete, stellte die Familie sie vor die Wahl, ob sie fortan mit ihrer Mutter und ihrem neuen Mann zusammenleben wolle oder weiterhin bei den Großeltern: »Danach [nach dem Tod meines Vaters] hat meine Mutter erneut geheiratet. Und da musste ich entscheiden, ob ich zusammen mit meiner Mutter in das Haus, in das sie einheiratete (haha wa saikonsuru tokoro), gehe oder ob ich bei meinem Großvater und meiner Großmutter bleiben wollte.«
Frau Kondo bewertet ihre Entscheidung aus heutiger Sicht als bemerkenswert (sugoi). Im Alter von zehn Jahren habe sie sich entschieden, bei ihren Großeltern zu bleiben. Auch ihre Familie, die ihr in diesem Alter diese Wahl überlassen hat, stellt sie als bemerkenswert dar. Die Entscheidung, die sie im Kindesalter getroffen hat, unterscheidet sich von späteren Situationen dadurch, dass sie von außen an sie herangetragen wurde und sie aus vorgegebenen Optionen eine Möglichkeit auswählen sollte. Jedoch stand auch in dieser Situation wieder die Frage
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›Was möchte ich tun?‹ (›Was möchtest du tun?‹) im Vordergrund. Ihre Lebensweise sei damals entschieden worden, kommentiert Frau Kondo die Ereignisse aus heutiger Sicht. Frau Kondo stellt durch die Erzählung der drei Entscheidungssituationen eine Kontinuität ihrer Lebensweise von ihrer Kindheit bis heute her. In allen drei geschilderten Situationen präsentiert sie sich als Menschen, der konkrete Anlässe als Gelegenheiten begreift, aktiv und selbstständig zu entscheiden. Dabei kann eine Entwicklung festgestellt werden: von Entscheidungen, die von außen an sie herangetragen wurden, bis hin zu dem eigenen Bedürfnis, durch Entscheidungen die persönliche Lebensführung aktiv zu gestalten und Verantwortung für ihr Leben und Sterben zu übernehmen. Frau Kondo entwirft dabei auf der Grundlage ihrer Erfahrungen als Krankenschwester ihre eigene ›Theorie‹ über unterschiedliche Entscheidungstypen. Als ein Extrem nennt sie Menschen, die keinerlei Erfahrung mit selbstständig getroffenen Entscheidungen haben und stets den Rat anderer befolgen. Sie selbst verortet sich auf der Entscheidungsskala zwischen passiver und aktiver Entscheidungsfindung im Bereich der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Entscheidungen zu treffen erscheint dabei als wichtiges Mittel, um ihr Selbstverständnis zu kommunizieren. Long schreibt über die Funktion der Entscheidung zum Ausdruck und zur Formung des Selbst: »In all societies, people make choices in their daily lives about many things […]. The types of choices people make over time help define what kind of person they are within the social world they inhabit. Yet societies vary in their interpretations of what it means to choose and the importance of that process. The ideologies of postindustrial societies [...] stress the need to make choices to create desired ›self‹. In both the United States and Japan, people believe they have a wide range of choices in how they live their lives and are socialized to perceive that their choices define their public selves. Decisions thus become a means of expressing who we are or want to be in society.« (Long 2005: 4)
Am Fallbeispiel von Frau Kondo wird deutlich, wie sie durch die eigenen Entscheidungen ausdrückt, wer sie ist oder wie sie als Person wahrgenommen werden möchte. Die Vorstellung, durch ihre Entscheidungen ihrem sozialen Umfeld zu zeigen, wer sie ist, formuliert sie in ihren eigenen Worten: »Deswegen möchte ich auch meine eigenen Angelegenheiten in diesem Sinne entscheiden. Nicht alles, denke ich. Aber wenn man eine Meinung hat und seine eigenen Gedanken mitteilt, dann denken die Menschen um einen herum: ›A-h! So ein Mensch ist sie wohl!‹ (lacht)«
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Für Frau Kondo ist es demnach bedeutsam, sich selbst in Interaktionen mit anderen durch ihre Entscheidungen auszudrücken. Die Haltungen der anderen werden von ihr respektiert und sie dienen ihr als Kontrastfolie zur Behauptung ihres eigenen Selbstbildes. Sie erhebt den Anspruch an sich selbst, andere nach ihren Vorstellungen leben und sterben zu lassen und sich eines Urteils zu enthalten – die gleiche Haltung erwartet sie von anderen ihrer eigenen Lebensweise gegenüber. 5.4.2 Vorbereitungen für eine Loslösung aus dem Leben: Abgabe von sozialen Rollen und von Verantwortung Selbstständigkeit – auch wenn sie von ihr im Interview nicht wörtlich erwähnt wird – ist ein wichtiger Aspekt der Lebensführung und des Selbstverständnisses von Frau Minami. Das äußert sich in ihrer Beschreibung der Beziehung zu ihrem Ehemann, den Erläuterungen zu ihrer Erwerbsbiografie und den Erzählungen zum Umgang mit der Krankheit ihrer Mutter sowie der eigenen Krankheit. Ein zentrales Motiv der Erzählung von Frau Minami ist die im Kontext von ihren Vorstellungen zur Lebenszeit beschriebene Strategie, sich durch das Aufgeben ihrer sozialen Rollen aus dem Leben zu verabschieden (s. Kapitel 4.1.3). Sie erwähnt immer wieder, dass sie nicht am Leben hänge und führt dies auf ihre Vorstellung von einer Existenz nach dem Tod und ihre soziale Einbettung zurück. Bezogen auf ihr soziales Umfeld hat sie dabei in erster Linie Verpflichtungen oder Verantwortung im Blick, die durch verschiedene verwandtschaftliche Rollen bestimmt sind: »Unter ›nicht am Leben hängen‹ verstehe ich, dass ich keine Kinder habe. Meine Eltern sind schon gestorben und ich habe keine Kinder. Das Zusammenleben mit meinem Mann ist zudem, also, ja –. Er (ano hito) kann alleine leben. Wir haben keineswegs ein schlechtes Verhältnis, [lachend] aber er sagt immer: ›Du (kimi) hast deinen Weg und ich (boku) habe meinen Weg.‹ So ein Eheleben haben wir geführt. Wenn ich nicht mehr bin, dann kann mein Mann damit leben. Ja, es gibt keinen Grund am Leben zu hängen.«
Die Kinderlosigkeit wird von ihr betont und in einer sehr ähnlichen Formulierung wie bei Frau und Herrn Kondo vorgebracht. Ihre Eltern sind schon verstorben und man kann schlussfolgern, dass Frau Minami hier die familiären Beziehungen aufzählt, in denen sie aufgrund ihrer Rolle als Mutter oder Tochter Verantwortung tragen würde. Es bleibt als familiäre Rolle nur die der Ehefrau. Hier verweist sie auf das Prinzip, nach dem sie und ihr Mann ihre Ehe als die Partnerschaft zweier unabhängiger Menschen verstehen, die beide ihren eigenen Weg
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gehen. Mit ihrem Mann habe sie ihre Entscheidung gegen die künstliche Beatmung besprochen und er habe ihr zu verstehen gegeben, dass die Entscheidung allein bei ihr liege. Ihre soziale Einbettung in der Phase ihrer eigenen Erkrankung beschreibt sie demnach als ›unabhängig‹, da es niemanden gibt, der auf sie und ihre Unterstützung angewiesen ist. In ihrer Situation überrascht diese Perspektive. Sie sitzt im Rollstuhl und kann sich nur noch eingeschränkt bewegen. Sie ist physisch nicht mehr dazu in der Lage, sich um andere Menschen zu kümmern. Vielmehr ist sie selbst auf Hilfe angewiesen und man würde erwarten, dass sie erzählt, ob es jemanden gibt, der für sie sorgen kann. Da sie keine Kinder hat, scheint es nur ihren Mann zu geben, der ihre Pflege übernehmen könnte. Doch auch ihr Mann wird von Frau Minami in diesem Kontext nicht erwähnt und durch seine Selbstständigkeit als Koch im eigenen Restaurant kommt Herr Minami wohl auch nicht dafür infrage, seine Frau rund um die Uhr zu pflegen. Ihm weist sie die Aufgabe zu, für ihre täglichen Mahlzeiten zu sorgen. Frau Minami wird täglich von einer Helferin unterstützt. Jedoch thematisiert Frau Minami diese Unterstützung oder andere Möglichkeiten nicht weiter. Ihre Darstellungen konzentrieren sich auf das, was sie selbst gibt oder geben kann. In diesem Sinne bestimmt sie den Endpunkt eines zufriedenen Lebens über die Möglichkeit der selbstständigen Atmung. Ein Anschluss an Maschinen und die künstliche Aufrechterhaltung ihres Lebens lehnt sie ab. Diesen Gedanken führt sie zurück auf den letzten Krankenhausaufenthalt ihrer Mutter und das Bild des ›Spaghetti-Zustandes‹. Sie bezeichnet sich als selbstbezogenen Menschen (wagamama na watashi), für den es eine nicht ertragbare Vorstellung sei, angeschlossen an medizinische Apparate nicht mehr geben zu können und nur noch zu empfangen oder in einem Zustand am Leben erhalten zu werden, in dem sie ihren eigenen Willen nicht mehr übermitteln kann. In anderen Worten ist für Frau Minami die Vorstellung unerträglich, abhängig von anderen Personen oder medizinischen Apparaten zu leben und keine Möglichkeiten zu haben, selbstständig ihr Leben zu gestalten und einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Sozialleistungen zu fordern, um das jeweilige Recht auf Leben zu verwirklichen, ist eine von anderen ALS-Patienten und Aktivisten vorgebrachte Forderung, die sie zurückweist (s. Kapitel 4.1.3). In diesem Kontext bezieht sie sich auch darauf, dass die wohlfahrtsstaatliche Unterstützung, die sie erhalte, ihrer Meinung nach ausreichend ist. Sie betont, dass sie selbst nicht mehr arbeite, jedoch monatlich Sozialleistungen in Anspruch nehme. Diese Bemerkung bringt Frau Minami lachend vor, jedoch gibt sie zu verstehen, dass sie Bitten um höhere Sozialleistungen als unangemessen empfindet, da sie selbst keinen aktiven
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Beitrag zum gesellschaftlichen Leben leistet. Erwerbstätigkeit ist hier der zentrale Faktor, über den sie ihre Beteiligung am Gemeinwohl definiert. Vor ihrer Ehe arbeitete sie zehn Jahre als Krankenschwester. Nach der Hochzeit habe sie im Restaurant ihres Mannes mitgeholfen. Die Erfahrungen durch die Pflege ihrer kranken Mutter nennt sie als Anlass, als im Jahr 2000 die Pflegeversicherung eingeführt und neue Berufe im Pflegesektor geschaffen wurden, eine Umschulung als Care Managerin zu beginnen. Durch die Erzählung von ihrer beruflichen Neuorientierung nach dem Tod ihrer Mutter drückt Frau Minami das Bedürfnis aus, einen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl zu leisten. Ihre Motivation sei es gewesen, nützlich für andere Menschen zu sein (yaku ni tatsu), um ihnen ein besseres Lebensende zu ermöglichen, als es ihre Mutter hatte. Sie beschreibt die Entscheidung für den Berufswechsel als Suche nach einer Tätigkeit, die ihrer Fähigkeit entspricht, andere zu unterstützen. Frau Minami definiert Glück oder Zufriedenheit und den Sinn ihres Lebens über ihre soziale Rollen und Aufgaben. Auch in den Schilderungen ihres Umgangs mit der Krankheitsdiagnose drückt sie aus, dass ihre Vorstellung einer sinnvollen Lebensgestaltung eng verbunden ist mit einer guten Nutzung der zur Verfügung stehenden Zeit. Sie beschließt, die verbleibende Lebenszeit zu nutzen, um ihre sozialen Rollen aufzugeben und sich von den Menschen, mit denen sie über diese Rollen in Verbindung steht, zu verabschieden und ihnen für ihre Unterstützung zu danken. Sie verfolgt die Strategie sich aus dem Leben zu lösen, indem sie sich von ihren Aufgaben und ihrem Besitz trennt, ihren Schmuck und ihre Kimonos verschenkt (s. Kapitel 4.1.3). Die Fähigkeit ihren eigenen Willen auszudrücken, selbstständig zu leben, durch ihre beruflichen Aufgaben für andere da zu sein und somit einen aktiven Beitrag zum sozialen Leben beizutragen, werden von Frau Minami als bedeutsam für ihr Selbstverständnis dargestellt. Auch im Zusammenhang mit der Pflege ihrer Mutter spricht sie davon, dass es schwer für sie zu ertragen gewesen sei, mit anzusehen, wie ihre Mutter die Fähigkeit verlor, für sich selbst zu sorgen. Ihre Mutter sei bis zum Zeitpunkt des Schlaganfalls eine selbstständige und aktive Frau gewesen, die ihr eigenes kleines Geschäft hatte. Die Selbstständigkeit ihrer Mutter in der Pflege, so gut es geht, aufrechtzuerhalten, bezeichnet Frau Minami als eine Motivation ihrer Pflegetätigkeit. Anders als Frau Kondo bringt Frau Minami zum Ausdruck, dass sie sowohl während der Pflege ihrer Mutter als auch während ihrer beruflichen Tätigkeit häufig dachte, nicht so enden zu wollen. Diese Perspektive des Mitleids in Bezug auf ihre eigene Person möchte sie jedoch vermeiden. Deswegen ist sie sehr darauf bedacht, nach außen nicht den Eindruck zu erwecken, bemitleidenswert zu sein:
290 | Ü BER DEN TOD VERFÜGEN »Ich habe einen Rollstuhl, ich sitze im Rollstuhl, aber ich ziehe mich an, schminke mich und mache mich ein bisschen hübsch, so gut es geht, um nicht als trostlos betrachtet zu werden (kurai me de mirare nai yô ni). Wenn ich das tue, dann sehe ich glücklich aus. Ich sehe nicht unglücklich aus. Meine Absicht ist es zu vermitteln, dass ich nicht besonders unglücklich, sondern hinlänglich glücklich und zufrieden bin.«
Ungefähr 50 ihrer 100 Kimonos hat Frau Minami für sich behalten. Sie trägt während des Interviews einen schönen schwarzen Yukata mit Blumenmuster und sitzt geschminkt und frisiert in ihrem Rollstuhl. Sie erweckt den Eindruck einer modebewussten Frau. Doch das Schminken bereite ihr in der letzten Zeit Schwierigkeiten. Es gehöre zu ihren morgendlichen Routinen und sie scherzt, dass sie nicht wisse, was sie machen soll, wenn sie bald nicht mehr dazu in der Lage sein wird, sich selbst zu schminken. Die Kleidung und das Schminken erfüllen die Funktion, nach außen hin Haltung zu bewahren; sie möchte nicht bemitleidet werden, oder dass sich andere um sie sorgen. Das Motiv, Haltung zu bewahren, drückt Frau Minami auch in ihrer Besorgnis aus, ob sie der Sterbephase gewachsen sein wird (s. Kapitel 4.2.3). Ihre Befürchtungen vor einer qualvollen Sterbephase seien jedoch kein Grund für sie, sich für die Beatmung zu entscheiden, denn sie sei sich sicher, den Zustand mit Beatmung werde sie noch viel weniger ertragen können. ›Ertragen können‹ steht in Verbindung mit ihrer Vorstellung von dem, was sie mit ihrem Selbstverständnis vereinbaren kann. Frau Minami ist sich sicher, dass sie die passiv empfangene Rolle der gepflegten Kranken in Abhängigkeit von der maschinellen Beatmung nicht ertragen könnte. Dies ist nicht vereinbar mit dem Bild einer aktiven, ihre Lebenszeit sinnvoll gestaltenden, selbstständigen Frau, die lieber andere unterstützt, als selbst auf Unterstützung angewiesen zu sein. Ihre Selbstreflexionen darüber, wie sie von anderen wahrgenommen wird, tragen auch einen bedeutenden Beitrag zu ihrer Entscheidung bei. Nach außen möchte sie das Bild von sich vermitteln, das sie selbst als Ideal ihrer Lebensweise begreift. Für Frau Minami und Frau Kondo ist die Berufstätigkeit wichtig für das Selbstverständnis als selbstständiger Mensch. Beide Frauen identifizieren sich über ihre Berufstätigkeit, jedoch werden sie nicht von den beruflichen Rollen, als von außen an sie herangetragene gesellschaftliche Erwartungen, bestimmt, sondern sie bedienen sich in ihren Selbstpräsentationen Erzählungen über ihre Erwerbsbiografie, um zu verdeutlichen, was ihnen in ihrem Leben wichtig ist und wie sie sich weiterentwickelt haben. Sowohl Frau Kondo als auch Frau Minami berichten von Lebenskrisen, in denen sie sich entschlossen, ihrem Leben durch die Wahl eines neuen Berufes einen neuen Sinn zu verleihen und das Le-
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ben neu auf die Zukunft auszurichten. Die Wahl und Ausgestaltung ihrer beruflichen Rollen präsentieren beide Frauen im Sinne einer selbstverwirklichenden Lebensführung, über die sie ihr Selbstbild auch kommunizieren möchten. Neben den eher selbstbezogenen Aspekten ist es für beide Interviewpartnerinnen bedeutsam, für andere nützlich zu sein sowie einen Beitrag zum sozialen Leben zu leisten.
5.5 Z WISCHENFAZIT : S ELBSTBILDER DER E NTSCHEIDUNGSFINDUNG
ALS
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Zu Beginn dieses Kapitels wurde Meads theoretisches Konzept des Selbst dargestellt. Diesem Verständnis zufolge stellt das Selbst eine gesellschaftliche Struktur dar, die sich über die Erfahrungen und Interaktionen des Einzelnen in der Gesellschaft durch den Prozess der Sozialisation bildet. Durch einen Abstraktionsprozess erlernt das Individuum die gesellschaftlichen Regeln, Institutionen und moralischen Prinzipien und wird sich seiner selbst bewusst, indem es die Perspektive des generalisierten Anderen auf sich anwendet und auf diese Weise sein Selbst zum Objekt seiner Betrachtung macht. Das Selbst spiegelt Mead zufolge die gesellschaftlichen Strukturen. Es hat die gesellschaftlichen Regeln und Institutionen sowie die übergeordneten moralischen Prinzipien internalisiert und reflektiert sie in der Ausrichtung seiner Handlungen. Dabei unterscheiden sich die Individuen voneinander durch ihre Perspektive auf die gesellschaftlichen Strukturen oder die Aspekte, die sie spiegeln. Für das Handeln der Individuen bedeutet dies, dass sie verschiedene Möglichkeiten haben, wie sie sich zu den gesellschaftlichen Regeln, Institutionen und moralischen Prinzipien verhalten können. Der Einzelne kann sich von gesellschaftlichen Erwartungen distanzieren, bestimmte Normen für sich ablehnen, sie umdeuten oder auch im Einklang mit seinen eigenen Werten begreifen und nach ihnen handeln. Die hier vorgestellten Narrationen zeigen, wie die Befragten im Interview ihre Entscheidung für (oder auch gegen) die Patientenverfügung vor dem Hintergrund ihres Selbstbildes spiegeln, indem sie sich in einem selbstreflexiven Prozess auf ihre sozialen Erfahrungen beziehen. Sie positionieren sich innerhalb ihres Verständnisses von sozialen Normen, gesellschaftlichen Institutionen und Werten oder auch moralischen Prinzipien und grenzen sich von ihnen ab oder nutzen sie zur Erklärung ihrer Entscheidung. Dabei variieren die Erzählungen hinsichtlich des Fokus und des Grades der Reflexion. Worauf sich die Interviewten beziehen und wie sehr sie die eigene Entscheidungsfindung reflektieren,
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hängt wiederum eng mit den Erfahrungen zusammen, auf die sie in diesem Bereich zurückgreifen können. Vor allem die Reflexionen über die in den Anlassnarrationen erzählten Erfahrungen spiegeln ein Problembewusstsein hinsichtlich des Umgangs mit medizinischen Entscheidungen zum Lebenserhalt. Das geäußerte Problembewusstsein – sowohl an konkreten Erfahrungen festgemacht als auch auf einer generellen Ebene – markiert eine Situation oder Lebensphase, in der ein Handlungsbedarf empfunden wird. Durch die selbstreflexive Frage ›Was würde ich in der entsprechenden Situation wollen?‹ oder ›Welche Entscheidung würde mir entsprechen?‹ verarbeiten die Interviewten ihre Erfahrungen und setzen sich mit ihren Wünschen für die Sterbephase auseinander. In diesen Reflexionsprozess beziehen sie verschiedene Aspekte ein, die sie bei ihrer Handlungsausrichtung – der Entscheidung ›Patientenverfügung‹ – bedenken. Es findet eine Reflexion über die eigenen Erfahrungen mit Krankheit, Pflege und Sterbenden statt sowie über die Erfahrungen mit medizinischen Entscheidungsfindungen zwischen Arzt, Patient und Angehörigen. Eng verknüpft damit reflektieren die Interviewpartner ihre eigene soziale Situation und ihre Einbettung in soziale Beziehungen sowie ihre Erwartungen und Vorstellungen zur Dauer ihres Lebens und zur Bedeutung von sinnerfüllter Lebenszeit. Dabei überdenken sie ihre bisherige Lebensführung sowie Werte und Prinzipien, die sie als bedeutsam für das eigene Selbstverständnis ansehen. In diesem selbstreflexiven Prozess – bei der Suche nach der eigenen Entscheidungsfindung – sind verschiedene Fragen bedeutsam. In Bezug auf die Erfahrungen mit Krankheit, Pflege und Sterbenden übertragen die Interviewten die erlebten Situationen auf ihr eigenes Leben und überlegen, was sie in dieser Situation wollen würden und was diese Situation für die Angehörigen oder auch das soziale (berufliche) Umfeld bedeuten würde. Ihre Erfahrungen zu medizinischen Entscheidungsfindungen reflektieren sie hinsichtlich der erlebten Konflikte in der Sterbephase. Dabei antizipieren sie die erwarteten Haltungen der Ärzte und ihrer Angehörigen in Reaktion auf ihre eigenen Wünsche. Sie fragen sich, ob und, wenn ja, wer als stellvertretend Entscheidender infrage kommen würde. Zudem spielen sie gedanklich durch, welche Konflikte zwischen Arzt und Angehörigen oder stellvertretend Entscheidenden auftreten könnten bzw. welche Konflikte unter den Angehörigen zu erwarten sein könnten. Es werden nicht nur Konflikte zwischen den unterschiedlichen Parteien bedacht, sondern auch die Schwierigkeiten, die der Umgang mit der Situation für die Angehörigen verursachen könnte. Sie überlegen, wie sie den Angehörigen diese Situationen im Vorhinein erleichtern und sie unterstützen könnten, damit sie wissen, dass sie richtig und im Sinne des Erkrankten/Sterbenden handeln.
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Auf einer abstrakteren Ebene reflektieren die Interviewten in diesem Entscheidungsprozess ihre Vorstellungen und Erwartungen zur eigenen Lebenszeit und eng damit verbunden zu ihrem Selbstverständnis. Die Erwartungen zur Dauer des eigenen Lebens und die Vorstellungen zu einer sinnerfüllten Lebenszeit sind besonders bedeutsam, weil es bei der Entscheidungsfindung für die Patientenverfügung um eine Begrenzung der Lebenszeit geht. Es findet eine Reflexion darüber statt, wie lange und unter welchen Umständen sie Leben als erstrebenswert erachten. Die Fragen, die sich die Interviewten in diesem Zusammenhang stellen, verweisen auf Aspekte, durch die sie ihrem Leben Sinn zuschreiben. Es werden eigene soziale Rollen und Aufgaben bedacht und welche Verpflichtungen im sozialen Umfeld bestehen. Hier zeigt sich deutlich, wie eng die Konzepte der Lebenszeit und des Selbstbildes miteinander verknüpft sind. Durch die Reflexionen über die Lebenszeit stellt sich die Frage nach der bisherigen Lebensführung und weiteren Ausrichtung des Lebens auf die Zukunft. Ist das Leben bisher als erfülltes Leben gelebt worden? Wie möchte ich selbst erinnert werden? Und wie sollte meine eigene Lebensführung aussehen, damit ich so erinnert werde? Wie sehen mich andere? Drücken meine Handlungen aus, was ich ausdrücken möchte? Welchen Eindruck und welche Haltung der anderen mir gegenüber möchte ich vermeiden? Unter dem Konzept des Selbstbildes findet auch eine Auseinandersetzung mit den bisherigen Werten und Prinzipien statt, die als bedeutsam für die eigene Lebensführung angesehen werden. Dabei kommt dem Vergleich der eigenen Haltung mit den Einstellungen und Handlungen anderer eine wichtige Funktion zu. Die Haltungen anderer Personen werden herangezogen, um sich bei der Suche nach einer eigenen Entscheidung zu orientieren, um die eigene Haltung durch geteilte Werte und ähnliche Vorstellungen zu den Prinzipien der eigenen Lebensweise zu legitimieren oder um Unterschiede der eigenen Position zu anderen herauszustellen. Aber auch generalisierte Haltungen werden durch Verweise auf unterschiedliche gesellschaftliche Umgangsweisen mit der Sterbephase formuliert. Zum einen um Kritik an Praktiken zu äußern, die nicht mit übergeordneten Prinzipien übereinstimmen, aber auch um die eigene Akzeptanz zu individuellen Differenzen auszudrücken und gleichzeitig eine Akzeptanz der eigenen Entscheidung zu fordern. Die Interviewten reflektieren in Bezug auf ihre Lebensweise auch, nach welchen Prinzipien sie bisher gelebt haben und was es für sie bedeuten würde, wenn sie nicht mehr in diesem Sinne weiterleben könnten. Vor allem in Bezug auf die Prinzipien Selbstständigkeit und Verantwortung wägen sie ab, inwieweit ein Verlust der Fähigkeiten eigenständig zu leben, für sie akzeptabel wäre und bis zu welchem Grad und unter welchen Umständen sie sich in bestimmte Abhängig-
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keitsverhältnisse begeben würden. Dabei sind nicht nur die eigenen Wünsche ausschlaggebend, sondern vor allem auch ihre Überlegungen, was sie von ihrem sozialen Umfeld (oder auch der staatlichen Unterstützung) erwarten können und was zumutbar ist. Durch die Übernahme von Verantwortung können dabei nach ihrer Ansicht andere entlastet werden, oder es werden eigene Erwartungen und Wünsche an andere begrenzt. Der Spielraum für eine selbstbestimmte Entscheidung wird dabei bestimmt durch die Interpretationen der eigenen Möglichkeiten im jeweiligen sozialen Kontext. Das Verständnis von Selbstbestimmung variiert hierbei in Bezug auf die Deutungen von Selbstständigkeit und der Akzeptanz von Abhängigkeit sowie den Vorstellungen von der eigenen Verantwortung. Der hier dargelegte Prozess der Selbstreflexion verläuft nicht für alle Interviewpartner in der gleichen Intension und variiert hinsichtlich der berücksichtigten Aspekte, dem Grad der Reflexion und auch insoweit, wie bewusst er als Reflexionsprozess wahrgenommen wird. Wie die Erzählungen von Frau Minami und Herrn Jômon zur Diagnose der Krankheit ALS gezeigt haben, findet die Auseinandersetzung besonders bewusst und intensiv in Krisensituationen statt und ist ein Aspekt, der bedeutsam für die Überwindung der Krise ist. Ähnliches kann auch für die Erzählungen von Frau Chibana zum Schockerlebnis des Komas ihrer Tante festgestellt werden: Sie formuliert hier explizit, dass sie sich fragte, was sie in einer solchen Situation selbst wollen würde. Und auch Frau Kondo spricht in Bezug auf Lebenskrisen oder Schlüsselerlebnisse von der bewussten Auseinandersetzung mit ihrem bisherigem Leben und der Frage, was sie tun will oder tun sollte. Auch bedeutet eine reflexive Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen, sozialen Beziehungen sowie Werten und Vorstellungen nicht, dass dieser Prozess konfliktfrei verläuft. Vielmehr gibt es Hinweise auf innere Konflikte und widerstreitende Wertvorstellungen. Je deutlicher ungeklärte Fragen oder innere Konflikte in der Selbstreflexion hervortreten, desto schwieriger wird eine Entscheidung für diese Person zu treffen sein. Herr Kondo und Herr Jômon können hier als zwei Extreme gesehen werden. Aufgrund konkreter Erfahrungen durch seine Krankheit und eine intensive Auseinandersetzung mit widerstreitenden Wünschen und Ängsten ist Herrn Jômon die Ambivalenz seiner Situation bewusst. Er befindet sich in einem Dilemma, das ihm eine Entscheidung und auch eine Patientenverfügung als vorläufige Entscheidung nicht möglich macht. Herr Kondo hingegen äußert ein generelles Problembewusstsein ohne konkrete Erfahrungen, und dass er sich bisher keine genaueren Gedanken darüber gemacht habe und auch nicht über das nötige medizinische Wissen darüber verfüge, was die Formulierungen in der Patientenverfügung für konkrete Situationen bedeuten würden. Herr Kondo möchte durch seine Patientenverfügung zum Ausdruck bringen, dass er einen Lebenserhalt um jeden
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Preis als problematisch ansieht und ablehnt.6 Das allgemein gehaltene Formular der JSDD-Patientenverfügung kommt ihm dabei entgegen. Es verlangt nicht nach einer selbstreflexiven Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Krankheitssituationen und verschiedenen Möglichkeiten der Behandlung oder widerstreitenden Wünschen, Werten und Ängsten. Außerdem wird durch die abschließende Betrachtung der im Interview inszenierten Selbstbilder deutlich, dass sich die Interviewten mit ihren sozialen Rollen auseinandersetzen, ihnen unterschiedliche Bedeutungen für ihre Selbstidentifikation zuweisen, sich von ihnen distanzieren, sie durch ihre eigene Interpretation gestalten und umdeuten oder auch sich bewusst von ihren Rollen und den damit verbundenen Aufgaben trennen, wenn sie sich auf den Tod vorbereiten. Mathews’ Beobachtungen, dass die gesellschaftlichen Erwartungen zur Identifikation mit den institutionalisierten Rollen keinen Raum für die individuelle Gestaltung oder Selbstverwirklichung lassen, konnte durch meine Fallbeispiele nicht bestätigt werden. Vielmehr kommt gerade dem selbstreflexiven Umgang mit sozialen Rollen und deren Neugestaltung für die Orientierung in Krisensituationen eine bedeutende Funktion zu.
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Eine Umfrage von Miyata, Shiraishi und Kai im Jahr 2004 zu den Präferenzen von 40-65-Jährigen in Tokyo zu Behandlungen am Lebensende und Patientenverfügungen kommt zu dem Ergebnis, dass fast 60 Prozent der Befragten es bevorzugen, ihre Behandlungswünsche allgemein zu halten und nicht genau auszuformulieren. Über 60 Prozent der Befragten gaben an, dass sie es als sinnvoll erachten, eine Patientenverfügung zu verfassen, einen Stellvertreter zu bestimmen, ihren Besitz testamentarisch zu regeln oder Vorkehrungen für die eigene Bestattung zu ergreifen, jedoch hätten nur 10 Prozent zum Zeitpunkt der Umfrage schon konkrete Vorkehrungen getroffen. Eine strikte Befolgung der geäußerten Behandlungswünsche wurde nur von 5 Prozent der Befragten gefordert. Die Mehrheit (58 Prozent) wünschte eine Beachtung, so gut es möglich ist, und 32 Prozent würden ihre Wünsche als Hinweise verstanden wissen wollen, während 2,6 Prozent es nicht stören würde, wenn ihre Wünsche nicht beachtet werden (vgl. Miyata/Shiraishi/Kai 2006: o.S.). Die Haltung von Herrn Kondo, sich keine konkreten Gedanken zu speziellen Situationen oder Behandlungen zu machen und einen Interpretationsspielraum für seine Patientenverfügung einzuräumen, ist somit keine Seltenheit.
6 Schlussbemerkungen
Ausgangspunkt meiner Studie war die Feststellung, dass Patientenverfügungen in Bezugnahme auf abstrakte theoretische Prinzipien und reduzierte Interaktionszusammenhänge diskutiert werden – das Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmung und (Eigen-)Verantwortung auf der Patientenseite und der Fürsorgepflicht und Verantwortung auf Seiten des Arztes. Da die Alltagswirklichkeiten von Patientenverfügungen im Diskurs nicht behandelt werden, wurde angenommen, dass die Komplexität der Entscheidungsfindungen nicht erfasst werden kann. In meiner Studie steht die subjektive Perspektive von Personen, die eine Patientenverfügung abgeschlossen haben, im Mittelpunkt der Untersuchungen. Durch den narrativen Ansatz wurde den Interviewten ein möglichst großer Spielraum eingeräumt, von ihrem persönlichen Anlass für eine Patientenverfügung zu erzählen, ihre subjektiven Deutungen der Patientenverfügung für ihre Alltagswirklichkeit zur Sprache zu bringen und die für sie bedeutsamen Interaktionszusammenhänge im Entscheidungsprozess zu benennen. Durch die Rekonstruktion der relevanten Bedeutungszusammenhänge wurde die Schlüsselkategorie ›Problembewusstsein‹ entwickelt, die durch Bezüge auf die Kategorien ›Lebenszeit‹ und ›Selbstbilder‹ von den Interviewten in einen kontinuierlichen und kohärenten Sinnzusammenhang mit ihrer bisherigen Lebensweise und Biografie gebracht wurde. In diesem Zusammenhang wurde die Patientenverfügung eingebettet in die persönlichen Wertvorstellungen und Überlegungen zu einem sinnerfüllten Leben und guten Tod sowie (religiöse) Deutungsmuster zu einer Existenz nach dem Tod. Die Erzählungen der Interviewten spiegeln das seit den 1960er-Jahren entstehende Problembewusstsein zum Einsatz der ›neuen‹ medizinischen Technik und zum gesellschaftlichen Umgang mit Sterbenden wider. Die erzählten Konflikte zur Entscheidungsfindung bei Kranken und Sterbenden im näheren sozialen Umfeld verweisen auf den Diskurs und den Wandel von einer fürsorglichpaternalistischen medizinischen Praxis, in der Entscheidungen von den Ärzten in
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Absprache mit den Angehörigen getroffen wurden, hin zu einem immer aufgeklärteren Arzt-Patienten-Verhältnis vor allem seit den 1990er-Jahren. Die erfahrenen Konflikte können als Ausdruck fehlender allgemeinverbindlicher Normen zu neuen Kommunikationsverhältnissen und dem Umgang mit medizintechnischen Maßnahmen gedeutet werden. Die Patientenverfügungen werden in diesem Kontext einerseits als Instrumente zur Gestaltung der eigenen Sterbephase interpretiert und auf der anderen Seite als Übernahme von Verantwortung – in diesem Sinne kann die Patientenverfügung als ein Aspekt einer fortschreitenden Individualisierung der Sterbephase verstanden werden. Durch diese Form der Individualisierung reagieren die Interviewten auf einen Wertepluralismus zum Umgang mit Sterbenden und positionieren sich symbolisch durch ihre Patientenverfügung auf der progressiven Seite des Wandels: Die Patientenverfügung steht für eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Sterbephase und der Übernahme von Eigenverantwortung für die Regelung der sozialen Beziehungen am Sterbebett. Es findet eine Abgrenzung zur paternalistischen Praxis statt, die als veraltet und als Relikt der Vergangenheit dargestellt wird, und auch zu Personen, welche die eigenen Wertvorstellungen nicht teilen und sich nicht bewusst mit dem Lebensende auseinandersetzen wollen. Die eigene Position wird durchaus als Differenz einer Minderheit inszeniert, die sich eines fortschrittlichen Instruments bedient und der gesellschaftlichen Entwicklung einen Schritt voraus ist. Die Praxis des Verschweigens von Diagnose und Prognose bei Krebserkrankungen wird als Normalität der Vergangenheit dargestellt, die zu psychischen Belastungen führte. Auch der einsetzende Wertewandel zur Aufklärung und Mitbestimmung des Patienten wird anhand von geschilderten Konflikten deutlich, die als Zeichen für eine Zeit des Umbruchs gewertet werden können, in der unterschiedliche Handlungsmaximen aufeinanderprallen. Anhand dieses relativ neuen Gedankens der selbstbestimmten vorsorglichen Entscheidungsfindung für das Alter und die Sterbephase zeigt sich auch die Sorge um die Angehörigen, für die stellvertretende Entscheidungen oder eine durch medizintechnische Apparate verlängerte Sterbephase als leidvoll und belastend dargestellt werden. Die technischen Apparate erscheinen als Errungenschaften des medizinischen Fortschritts. Sie werden einerseits positiv bewertet, wenn sie Leben retten; für die Sterbephase werden jedoch die gleichen Geräte als Risiko interpretiert, dass die Betreffenden einen leidvollen, unnatürlichen und nicht dem eigenen Selbstverständnis entsprechenden Tod sterben könnten. Problematisiert wird in den Erzählungen somit die hospitalisierte Sterbephase, in der sich die Frage nach dem Umgang mit den zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten der modernen Biomedizin stellt. Die Interviewten
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sehen sich selbst in der Verantwortung, Vorkehrungen zu treffen, damit die medizinischen Apparate nicht zum Einsatz kommen. In der Dimension des konkreten Problembewusstseins kommen diese Wertkonflikte in den Berichten über persönliche Erfahrungen besonders deutlich zum Ausdruck. Hier liegt die Vermutung nahe, dass Erfahrungen mit einer paternalistischen Praxis als Anlassnarrationen abnehmen werden, je mehr ein aufgeklärtes Verhältnis zwischen Arzt und Patient und die Akzeptanz von Behandlungsverzicht oder Abbruch von medizinischen Maßnahmen zur Normalität werden. Wenn Patientenverfügungen zunehmend zur Norm werden sollten, ist davon auszugehen, dass die Dimension des generellen Problembewusstseins zunehmen wird. In diesem Erzählmuster wären nicht unbedingt individuelle Erfahrungen die Grundlage für eine Auseinandersetzung mit der eigenen Sterbephase, sondern die Patientenverfügung würde zu einer selbstverständlichen Vorkehrung werden, die jeder irgendwann treffen sollte. Die Deutungen von Patientenverfügungen meiner Interviewpartner illustrieren somit, dass neue Narrationsmuster entstanden sind, in denen die Sterbephase als selbstständig gestaltbare letzte Etappe im Lebenslauf dargestellt werden kann. Dies wird vor allem im Vergleich mit der Studie von Long und Long (1982) deutlich, in der Nicht-Wissen sowohl aus der subjektiven Perspektive als auch aus Sicht der Angehörigen und Ärzte von den Interviewten als im besten Interesse des Patienten dargestellt wurde. Die bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod ist ein Erzählmuster zu neuen Umgangsformen mit Sterben und Tod, das neue Bestattungsformen, Hospize, Palliativstationen und ambulante Palliativdienste zum Sterben zu Hause (zaitakushi) mit einschließt sowie weitere kommerzielle schriftliche Vorkehrungen. Hierzu zählen etwa als sogenannte Ending-Notes verkaufte Notizbücher oder Dienste des Anbieters Yahoo, über den automatisch personalisierte letzte Nachrichten an die Hinterbliebenen per EMails verschickt werden, wenn der Dienstleister über den Tod des Kontoinhabers informiert wird. Die feststellbare Individualisierung der Sterbephase kann als Antwort auf bestehende Probleme gedeutet werden. Die Patientenverfügung ist in diesem Sinn als neues Instrument zur individuellen Gestaltung der Sterbephase und zur Übernahme von Verantwortung zu sehen. Doch ist die Patientenverfügung auch ein adäquates Mittel, um bestehende Probleme zu lösen? Auf der subjektiven Ebene markieren die Interviewten durch ihr Problembewusstsein Situationen, die sie als problematisch und beunruhigend empfinden, oder antizipieren und formulieren einen Handlungsbedarf bezüglich zukünftiger, möglicher Entscheidungssituationen. Durch die Patientenverfügung soll Handlungssicherheit hergestellt werden. Es wurde dargestellt, wie dies über die aus
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den subjektiven Deutungen ableitbaren Funktionen geschehen soll: In der Stellvertreterfunktion soll die Patientenverfügung den eigenen Willen schützen, den stellvertretend entscheidenden Angehörigen eine Sicherheit oder einen Beweis an die Hand geben oder aber sie soll aus Sicht des Stellvertreters als sein Ersatz fungieren; in einer weiteren Funktionsweise ist die Patientenverfügung zur Vermeidung von Konflikten am Sterbebett gedacht oder als Abwehr von Fremdbestimmung und in einer dritten Funktion wird sie als Instrument zum natürlichen, würdigen oder dem Selbst entsprechenden Sterben eingesetzt. Die Patientenverfügungen werden in diesen Deutungen stets in die bestehenden Kommunikationszusammenhänge eingebettet und als Fortsetzung der eigenen Lebensweise dargestellt, unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und möglichen zukünftigen sozialen Interaktionsverhältnisse. Ob die Patientenverfügung ihren Zweck erfüllt, Sicherheit herzustellen, hängt davon ab, wie viel Wirkungskraft der Dokumentation des eigenen Willens zugeschrieben wird. In meinen Fallbeispielen wurden zwar Restunsicherheiten zur Akzeptanz der Patientenverfügung formuliert, doch überwog die Zuversicht, dass die Patientenverfügung die beabsichtigte Wirkung entfalten kann. Dem Zweck, Verantwortung für die eigene Sterbephase durch die Vorausverfügung des eigenen Willens und Vorkehrungen für das soziale Umfeld zu treffen, ist durch das Verfassen der Patientenverfügung in den Narrationen meiner Interviewten Genüge getan. Auffällig ist, dass die Interviewten ihre Patientenverfügungen einsetzen, um die sozialen Beziehungen für die Sterbephase zu regeln. Zum einen soll durch die Patientenverfügung der Wille des Verfassers kommuniziert werden, um den Arzt von seiner Behandlungspflicht zu befreien, den Angehörigen Sicherheit bei der stellvertretenden Entscheidungsfindung zu geben oder auch Konflikte unter den Angehörigen oder zwischen ihnen und den Ärzten zu vermeiden. Die Patientenverfügung kann in diesem Kontext auch als Instrument zur Kommunikation verstanden werden. Die Erzählungen zeigen einerseits, dass vor allem bei Ehepartnern, die gemeinsam eine Patientenverfügung verfasst haben, das Schriftstück zu einer Verständigung über die jeweiligen Wünsche und Sorgen bezüglich der Sterbephase beigetragen hat. Bisweilen haben auch die Kinder als mögliche Stellvertreter eine Kopie der Patientenverfügung erhalten und wurden so über die Wünsche der Eltern in Kenntnis gesetzt. Andererseits wird jedoch auch deutlich, dass das Instrument der Patientenverfügung an bestehende Probleme in den Kommunikationsverhältnissen angepasst wurde. Besonders gravierend wird dies am Fallbeispiel von Frau Chibana deutlich, wo das in einem aufklärerischen Kontext entstandene Instrument der Patientenverfügung an die paternalistische Praxis des Verschweigens der Diagnose angepasst wurde. Frau Chibana versicherte sich zwar durch den gemein-
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samen Abschluss einer Patientenverfügung der Einstellungen ihres Mannes zu lebensverlängernden Maßnahmen in der Sterbephase, durch die Aufrechterhaltung des gegenseitigen Schweigens über seine Diagnose war ihr jedoch eine offene Kommunikation nicht möglich – eine Situation, die sie auch Jahre später noch als belastend darstellt. Auch am Beispiel der in eigenen Worten verfassten Patientenverfügung von Frau Kondo wird deutlich, wie die Patientenverfügung an paternalistische Rahmenbedingungen, die von ihr nicht akzeptiert werden, angepasst wird. Durch ihren Verweis darauf, dass sie über eventuelle Krankheitsdiagnosen direkt aufgeklärt werden und selbst entscheiden möchte, ob sie ihre Angehörigen informiert, wird ersichtlich, dass Patientenaufklärung von ihr zwar gewünscht, aber nicht als selbstverständlich verstanden wird. Die Patientenverfügung wird in diesem Kontext eingesetzt, um ein offenes Kommunikationsverhältnis zwischen ihr und dem Arzt zu ermöglichen. Anhand der zusätzlichen Entscheidungen zur Trauerfeier in der Patientenverfügung von Frau und Herrn Kondo wird zudem ersichtlich, dass das Anliegen, die eigene Sterbephase zu regeln, über den medizinischen Kontext hinausreicht. Hier ist zu beobachten, was Komatsu als dichotomische Strukturen der Debatte bezeichnet hat (Komatsu 2007: 195). Durch das Recht auf Selbstbestimmung, das einer paternalistischen Praxis entgegengesetzt wird, werde lediglich die Macht (der Entscheidungsfindung und auch die Last der Verantwortung) von einer Seite – Ärzte und Angehörige – auf die andere Seite – die Patienten – übertragen. Das Individuum übernimmt als Entscheidungsträger die Hauptverantwortung für die eigene Sterbephase. Die Ärzte und Angehörigen, die in den 1980erund bis in die 1990er-Jahre hinein noch als Hauptverantwortliche für medizinische Entscheidungsfindungen und damit zusammenhängende Umgestaltungen der sozialen Verhältnisse galten, werden in den mit Patientenverfügung verbundenen Argumentationsstrategien von ihren Verantwortlichkeiten immer mehr entbunden. Komatsu zufolge werden durch eine solche Verschiebung der Macht oder Verantwortungsverhältnisse jedoch nicht die bestehenden Probleme gelöst. Neben Problemen wie der Pflegesituation und dem Ausbau der Palliativversorgung – von denen vor allem die Belastung durch Pflege für die Angehörigen ein besorgniserregendes Thema für meine Interviewten darstellt – hat Komatsu insbesondere Kommunikationsprobleme im Sinn. Auch meine Interviewpartner äußern sich entweder kritisch über Defizite in der Kommunikation zwischen Arzt, Patient und Angehörigen oder verweisen bei positiven Erfahrungen explizit auf die wichtige Rolle, die offene Kommunikationsverhältnisse für ihre Entscheidungsfindung spielten. Die Patientenverfügung kann in diesem Kontext zwar als möglicher Anlass für Gespräche mit Angehörigen oder Ärzten gesehen werden, doch kann sie Kommunikation nur för-
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dern, wenn die nötigen Rahmenbedingungen gegeben sind. Diese werden jedoch im Diskurs als mangelhaft beschrieben, da durch fehlende Vergütung und zu hohe Patientenkontakte die zeitlichen Rahmenbedingungen häufig nicht erfüllt sind und die medizinische Ausbildung nicht ausreichend auf die Kommunikation mit Patienten vorbereitet. Auch die Rolle der Angehörigen erscheint für neue Umgangsformen mit der Sterbephase als gesellschaftlich neu zu gestaltendes Problemfeld. In den Narrationen kommt häufig das Motiv zum Ausdruck, nicht für die Angehörigen zu einer Last durch Pflege, durch stellvertretende Entscheidungsfindungen oder auch durch Leid und Sorgen infolge einer langen Sterbephase im Krankenhaus werden zu wollen. Auf der subjektiven Ebene wird dieses Motiv in Einklang mit den eigenen Vorstellungen zur Lebenszeit und dem Selbstbild dargestellt. Es ist Ausdruck einer Vorstellung von sinnvoll gestaltbarer Lebenszeit durch die Ausfüllung und Übernahme sozialer Rollen sowie einem Leben, das in Einklang mit der bisherigen Lebensweise und Wertvorstellungen gelebt werden kann. Eine selbstständige Lebensweise und Eigenverantwortung für das eigene Leben stellen die Grundwerte dieses Selbstverständnisses dar. Auf einer zugrunde liegenden reflexiven Ebene fragen sich die Interviewten in diesem Kontext, wodurch ›menschliches‹ Leben in ihrem Verständnis gekennzeichnet ist. Hier kommen Vorstellungen zum Ausdruck, einen aktiven Beitrag zum familiären Leben leisten zu können oder Teil des sozialen Lebens zu sein. Die Voraussetzungen dazu werden in den eigenen Fähigkeiten zur sozialen Interaktion gesehen. Besonders deutlich werden diese Überlegungen bei den ALS-Patienten: Frau Minami, die in sozialen Kontexten ›geben‹ und nicht nur ›empfangen‹ möchte, und Herr Jômon, der sich sorgt, ob er noch er selbst sein wird, wenn ihm aufgrund der Krankheit die grundlegenden Fähigkeiten verloren gehen, sich selbst auszudrücken und so in Interaktion mit seinem Umfeld zu treten. Auch kommen die vermeintlichen sozialen Erwartungen in den Interviews zum Ausdruck. Jedoch nicht in Bezug auf konkret geäußerte Erwartungen oder als Wiedergabe von Kommunikationsprozessen zur familiären Bereitschaft oder Möglichkeiten der Unterstützung, sondern vom subjektiven Standpunkt ausgehend, was den Angehörigen zumutbar wäre. Herr Jômon ist der einzige, der in diesem Zusammenhang von einem Konflikt spricht zwischen der Möglichkeit weiterzuleben und den Veränderungen, die diese Entscheidung für das Leben seiner Angehörigen bedeuten würde. Anhand seiner Äußerungen, dass eine Entscheidung nur gemeinsam mit der Familie gefunden werden kann, lässt sich vermuten, dass sein Wunsch weiterzuleben und die als unmöglich empfundene Situation, offen mit seiner Familie über dieses Thema zu sprechen, ihn daran hindert, eine Entscheidung zu fällen. Im Vergleich mit seiner Situation scheinen
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intra- und interpersonale Konflikte bei einer Entscheidungsfindung für die Patientenverfügung nicht thematisiert zu werden – oder vielleicht auch nicht zu bestehen –, da das Thema Pflegebereitschaft und Möglichkeiten der familiären Pflege im Vorhinein durch die Ablehnung von lebenserhaltenden Maßnahmen vermieden wird. Das Motiv, nicht zu einer Belastung für das familiäre oder soziale Umfeld werden zu wollen, ist einerseits Ausdruck des Selbstverständnisses der Interviewten, wird andererseits aber auch durch belastende Erfahrungen durch die Pflege von Angehörigen begründet. Diese negativen Pflegeerfahrungen können auf einen Wandel der demografischen Situation Japans zurückgeführt werden. Durch die rapide Alterung der japanischen Gesellschaft, einem Wandel hin zur Kernfamilie sowie einer Zunahme von kinderlosen Paaren, Doppelverdienern, Singlehaushalten und sozialer Mobilität ist die Übernahme von Pflege durch die Familien zunehmend problematisch geworden. Hinzu kommt, dass die Phase der Pflegebedürftigkeit länger wird und demenzielle Erkrankungen durch eine steigende Langlebigkeit zunehmen. Die institutionellen Möglichkeiten der Pflege werden zwar ausgebaut, jedoch gibt es weiterhin einen Mangel an Personal und Plätzen in Pflegeeinrichtungen. Im Diskurs wird diese Problematik hauptsächlich von den Gegnern einer gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen zur Sprache gebracht, die einen Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Unterstützung fordern. Sie äußern die Befürchtung, dass sich alte, kranke und behinderte Menschen zunehmend einem sozialen Druck ausgesetzt sehen, nicht zu einer Belastung für die Gesellschaft zu werden. Die Kritik ist vor dem Hintergrund meiner Studie durchaus berechtigt, da das Ungleichgewicht zwischen Möglichkeiten zur institutionellen Pflege und Unterstützung oder Entlastungen der Angehörigen auf der einen Seite und dem gesellschaftlichen Wandel einer alternden Gesellschaft mit zunehmender Pflegebedürftigkeit auf der anderen Seite nicht durch die Übernahme von Verantwortung auf der individuellen oder familiären Ebene zu lösen ist. Da die wahrgenommenen Möglichkeiten den Rahmen der zur Wahl stehenden Optionen abstecken, ist es notwendig, dass die nötigen Rahmenbedingungen realisiert sind, um Entscheidungen in einer Patientenverfügung als freie Willensbekundungen zu verstehen. Würde durch die Patientenverfügung allein Verantwortung auf die Individuen übertragen, ohne die institutionellen Rahmenbedingungen in der Pflege oder auch der Kommunikationsverhältnisse in der medizinischen Praxis auszubauen, käme dies einer Instrumentalisierung gleich und die Patientenverfügung würde ihren Charakter als aufklärerisches Mittel zur Stärkung des Patienten verlieren.
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In diesem Kontext erscheint eine offene gesellschaftliche Debatte nicht nur über die Pflegesituation und Unterstützungsmöglichkeiten, sondern auch über die finanziellen Rahmenbedingungen nötig zu sein. Die finanzielle Situation wurde von meinen Interviewten kaum angesprochen. Anhand der wenigen Stellen, in denen die finanziellen Verhältnisse bei den ALS-Patienten zur Sprache kommen, ist jedoch zu erahnen, dass die finanziellen Rahmenbedingungen einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf die Entscheidungsfindung nehmen. Wer sorgt für den Unterhalt der Familie, wenn der Hauptverdiener pflegebedürftig wird und seine Rente nicht reicht? Wie finanziert sich das DoppelverdienerEhepaar ohne Kinder, wenn ein Ehepartner pflegebedürftig wird und der andere seine Berufstätigkeit für die Pflege einschränken oder aufgeben müsste? Es ist eine gesellschaftliche Debatte nötig, die sowohl die Entscheidung für eine Patientenverfügung als Ausdruck des Selbstverständnisses der Verfasser und dringliches Anliegen ernst nimmt und anerkennt, aber auch die sozialkritische Position der Gegner. Insbesondere die Probleme im Wohlfahrtssektor und der medizinischen Praxis, aber auch die finanziellen Rahmenbedingungen stellen Problemfelder dar, für die in einem demokratischen Prozess Lösungen gefunden werden müssten, damit das Instrument der Patientenverfügung als Stärkung der Patientenautonomie und freien Willensäußerung verstanden werden kann. In einem offenen Kommunikationsverhältnis zwischen Ärzten und Patienten stellt sich zudem die Frage, ob Patientenverfügungen als einmal getroffene Entscheidung das optimale Verfahren darstellen. Viele Ärzte bieten schon heute differenziertere Formulare an als die JSDD, in denen nicht nur drei standardisierte Punkte unterschrieben werden, sondern Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Behandlungsoptionen für die unterschiedlichsten Krankheiten und Stadien vorgesehen sind. Diese Dokumente werden vor allem bei chronisch Erkrankten in den Kommunikationsprozess eingebunden und als vorläufige Entscheidungen betrachtet, die immer wieder besprochen und gegebenenfalls an die veränderten Verhältnisse angepasst werden. Da die Patientenverfügung nicht allein als Ausdruck einer medizinischen Entscheidungsfindung begriffen werden kann, sondern vor allem auch Vorkehrungen für die Angehörigen getroffen werden, wäre ein Einbezug des familiären Umfelds und der sozialen Situation des Verfassers in die Entscheidungsfindung sicherlich in vielen Fällen von Vorteil.
7 Danksagung
Zuallererst möchte ich mich ganz herzlich bei der Alexander von HumboldtStiftung und den anonymen Gutachtern bedanken, die meine Feldforschung durch ein Stipendium zur japanbezogenen Forschung unterstützt haben. Des Weiteren gilt mein Dank dem Graduiertenkolleg »Alter(n) als kulturelle Konzeption und Praxis« der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf für die finanzielle Förderung der Veröffentlichung. Für die langjährige Unterstützung meines Projekts gilt mein besonderer Dank meinem Doktorvater Shingo Shimada, der von Anfang an begeistert von meinem Vorhaben war, mir einen großen Spielraum gewährte meine eigenen Gedanken zu entwickeln und mir in den entscheidenden Momenten mit Anregungen und Kritik zur Seite stand. Auch meinem Zweitgutachter Dieter Birnbacher, dessen Herangehensweise an bioethische Fragestellungen mich seit meinem Studium begleitet hat, möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Für das gute Gelingen der Forschungsphase in Japan gilt mein Dank meinen Interviewpartnern für ihre Offenheit und Gesprächsbereitschaft. Die Interviews wären ohne die Vermittlung von zahlreichen Kontaktpersonen nicht möglich gewesen, stellvertretend sei hier Katô Yasushi, Matsuda Jun, Shimada Munehiro, Kuroki Kunihiro, Tarui Masayoshi sowie Alfons Labisch und Annette SchadSeifert gedankt. Für die hilfreichen Anregungen während meiner Zeit im Feld danke ich ganz besonders Christian Tagsold und Uwe Krähnke. Ebenso danke ich allen, die mich im Arbeitsprozess durch zahlreiche Diskussionen, Anregungen und Hinweise begleitet haben. Besonders hervorheben möchte ich hier das Forschungskolloquium von Shingo Shimada und die Literaturtipps von Umehara Hideharu. Auch Heiner Fangerau und Hans-Martin Krämer möchte ich für ihre Vortragseinladungen und die Gelegenheit danken, erste Ergebnisse zu diskutieren. Für die Durchsicht des Manuskripts und vor allem für Hinweise auf unverständliche Stellen danke ich ganz besonders Christoph Winnefeld, Elena Winter, Farina Hodiamont und meinem Vater Kurt Spoden.
8 Interviewübersicht Frau Chibana (73 Jahre) Datum: 9. September 2009; Dauer: 46 Minuten Mitanwesend: Herr Watanabe und eine Sekretärin der JSDD Ehepaar Fukui Frau Fukui (81 Jahre) und Herr Fukui (83 Jahre) Datum: 14. September 2009; Dauer: 1 Stunde Mitanwesend: Der Vorsitzende und eine Sekretärin der JSDD Süd-Japan Herr Jômon (48 Jahre) Datum: 10. September 2009; Dauer: 2 Stunden und 13 Minuten Mitanwesend: Frau und Herr Tanaka Frau Kondo (Mitte 40) Datum: 11. August 2009; Dauer: 1 Stunde und 6 Minuten Herr Kondo (51 Jahre) Datum: 5. September 2009; Dauer: 50 Minuten Frau Minami (53 Jahre) Datum: 11. September 2009; Dauer: 1 Stunde und 26 Minuten Mitanwesend: Herr Yamamoto, Frau und Herr Tanaka Frau Ono (88 Jahre) Datum: 24. August 2009; Dauer: 1 Stunde und 28 Minuten Herr Watanabe (70 Jahre) Datum: 9. September 2009; Dauer: 1 Stunde und 50 Minuten Mitanwesend: Frau Chibana und eine Sekretärin der JSDD
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Alter(n)skulturen Max Bolze, Cordula Endter, Marie Gunreben, Sven Schwabe, Eva Styn (Hg.) Prozesse des Alterns Konzepte – Narrative – Praktiken Juli 2015, 322 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2941-5
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