Neues Landschaftstheater: Landschaft und Kunst in den Produktionen von »Schauplatz International« [1. Aufl.] 9783839420942

Was ist eine Landschaft heute? Das Buch findet hierauf eine Antwort, indem es von zeitgenössischem Theater erzählt. Der

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German Pages 430 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
1 Einführung
1.1 Beobachtende Teilnahme
ERSTER TEIL: GEGENSTAND
2 Vier Stücke von Schauplatz International
2.1 Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt
2.2 Expedition an den Rand der Welt
2.3 Schengen Border Observation Point
2.4 Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei
2.5 Schauplatz International
ZWEITER TEIL: THEORIE
3 Die Raumwende
3.1 Die Kulturwissenschaften
3.2 Turns in den Kulturwissenschaften
3.3 Der Spatial Turn
3.4 Theaterwissenschaft und Raum
4 Historische Landschaftstheorien
4.1 Der Landschaftsbegriff in der Geographie
4.2 Geographie und Kunst
4.3 Petrarca auf dem Mont Ventoux
4.4 Landschaftsmalerei
4.5 Begriffsgeschichte: Der ästhetische Landschaftsbegriff
4.6 Politische Landschaft: Mimesis und Poiesis – Geht die Kunst der Landschaft voraus?
5 Zeitgenössische Landschaftstheorien
5.1 Inklusion
5.2 Corboz: Territorium und Palimpsest
5.3 Jackson: Landschaft 3
5.4 Sieferle: Totale Landschaft
5.5 Sieverts: Zwischenstadt
5.6 Inszenierte Landschaft
6 Traditionelles Landschaftstheater
6.1 Natur-, Freilicht- und Landschaftstheater nach Kutscher und Stadler
6.2 Das Landschaftstheater Ballenberg
6.3 Das Landschaftstheater Louis Naefs
6.4 Das Landschaftstheater Uli Jäckles
6.5 Das Schwyzer Mythenspiel von 1991
DRITTER TEIL: SYNTHESE
7 Neues Landschaftstheater – Neue Landschaften
7.1 Die Produktionen von Schauplatz International als Landschaftstheater
7.2 Neues Landschaftstheater
7.3 Neue Landschaften
8 Schluss
Abbildungen
Anhang
Bibliographie
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Neues Landschaftstheater: Landschaft und Kunst in den Produktionen von »Schauplatz International« [1. Aufl.]
 9783839420942

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Martin Bieri Neues Landschaftstheater

Theater | Band 49

Martin Bieri (Dr. phil.) ist leitendes Mitglied von »Schauplatz International« und arbeitet als freier Dramaturg, Autor und Journalist.

Martin Bieri

Neues Landschaftstheater Landschaft und Kunst in den Produktionen von »Schauplatz International«

Materialien des ITW Bern Herausgegeben von Andreas Kotte Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Nicolai Heinle, 2010; Schauplatz International: Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei Korrektorat: Adele Gerdes, Bielefeld, Fritz Bieri Satz: Martin Bieri Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2094-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1

Einführung | 7

1.1 Beobachtende Teilnahme | 10

ERSTER TEIL: GEGENSTAND 2

Vier Stücke von Schauplatz International | 21

2.1 Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt | 21 2.2 Expedition an den Rand der Welt | 30 2.3 Schengen Border Observation Point | 43 2.4 Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei | 50 2.5 Schauplatz International | 58

ZWEITER T EIL: THEORIE 3 Die Raumwende | 103

3.1 Die Kulturwissenschaften | 103 3.2 Turns in den Kulturwissenschaften | 106 3.3 Der Spatial Turn | 112 3.4 Theaterwissenschaft und Raum | 129 4 Historische Landschaftstheorien | 133

4.1 Der Landschaftsbegriff in der Geographie | 133 4.2 Geographie und Kunst | 145 4.3 Petrarca auf dem Mont Ventoux | 158 4.4 Landschaftsmalerei | 167 4.5 Begriffsgeschichte: Der ästhetische Landschaftsbegriff | 190 4.6 Politische Landschaft: Mimesis und Poiesis – Geht die Kunst der Landschaft voraus? | 218 5

Zeitgenössische Landschaftstheorien | 275

5.1 Inklusion | 275 5.2 Corboz: Territorium und Palimpsest | 282 5.3 Jackson: Landschaft 3 | 286 5.4 Sieferle: Totale Landschaft | 290 5.5 Sieverts: Zwischenstadt | 292 5.6 Inszenierte Landschaft | 298

6 Traditionelles Landschaftstheater | 301

6.1 Natur-, Freilicht- und Landschaftstheater nach Kutscher und Stadler | 301 6.2 Das Landschaftstheater Ballenberg | 310 6.3 Das Landschaftstheater Louis Naefs | 313 6.4 Das Landschaftstheater Uli Jäckles | 318 6.5 Das Schwyzer Mythenspiel von 1991 | 323

DRITTER T EIL: SYNTHESE 7 Neues Landschaftstheater – Neue Landschaften | 337

7.1 Die Produktionen von Schauplatz International als Landschaftstheater | 337 7.2 Neues Landschaftstheater | 350 7.3 Neue Landschaften | 363 8

Schluss | 373

Abbildungen | 375 Anhang | 385 Bibliographie | 391

1 Einführung

»Die Theorie hat die Landschaft wieder entdeckt!«,1 skandierten kürzlich zwei Landschaftstheoretikerinnen. Sie sehen das Konzept »Landschaft« im Aufwind, nachdem es weitgehend aus dem akademischen Diskurs verschwunden war. Heute aber scheint »Landschaft« wieder Antworten auf offene Fragen in Aussicht zu stellen. Es sind Fragen nach dem schwer zu erfassenden Aussehen der Welt, in der Menschen leben, und dem noch schwerer zu verstehenden Verhältnis, in dem sie zu ihr stehen. Es sind Fragen, die auch den öffentlichen Diskurs umtreiben und dort auf verschiedenen Ebenen gestellt werden. Sie betreffen die Raumplanung ebenso wie den Umweltschutz, die Architektur ebenso wie die Verkehrspolitik. Insgesamt scheint in der wiedergewonnenen Virulenz des Begriffs ein Problem zum Ausdruck zu kommen, das Gestaltung und Gegebenheit des Lebensraums unserer Gesellschaft betrifft. Die Kunst hat im Prozess des Nachdenkens über dieses Problem eine aktive Rolle übernommen. Sie beschäftigt sich gegenwärtig intensiv mit Fragen des Raums und seiner Gestaltung. Dem Theater kommt dabei eine besonders wichtige Funktion zu, weil es sich direkter als andere Kunstformen mit dem Verhältnis von Menschen und Raum auseinandersetzen kann. Für solche Theaterformen hat sich der Begriff der »Ortsspezifik« eingebürgert. Ursprünglich galt er besonders für Objekte der bildenden Kunst und wurde in den 1960er Jahren populär.2 Ortsspezifik umfasst sowohl den Bezug zu Außen- wie auch zu Innenräumen, je nach Kontext, in welchem ein Werk ausgestellt ist. Heute wird der Begriff auch außerhalb der bildenden Kunst angewendet. Besonders über den Weg der Performance Art ist er in

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Brigitte Franzen, Stefanie Krebs: Cultural Landscape Studies. Oder: Was ist Landschaftstheorie. In: Brigitte Franzen, Stefanie Krebs (Hg.): Landschaftstheorie. Texte der Cultural Landscape Studies. Köln 2005, S. 7-13, hier S. 7. Vgl. z.B. Nick Kaye: Site-Specific Art: Performance, Place and Documentation. London 2003.

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den Bereich des Theaters vorgedrungen und bezeichnet dort Stücke, die auf ihren räumlichen Kontext reagieren. Zu diesen ortsspezifischen Theaterformen gehört das Landschaftstheater. Es ist besonders in der Schweiz populär und traditionell weitgehend außerhalb des subventionierten Theaterbetriebs im ländlichen, manchmal folkloristischen Milieu angesiedelt. Dieses Landschaftstheater hat sich bisher noch nicht um einen Anschluss an die aktuellen landschaftstheoretischen Debatten bemüht. Es basiert auf überlieferten Landschaftsvorstellungen, die nicht zuletzt durch die Kunst hervorgebracht worden sind, mit der die Geschichte des Begriffs »Landschaft« untrennbar verbunden ist. Auf einer auf den ersten Blick ganz anderen inhaltlichen und künstlerischen Linie als das traditionelle Landschaftstheater bewegt sich Schauplatz International. Die Gruppe gehört seit Jahren zu den respektabelsten Formationen des Freien Theaters im deutschsprachigen Raum. Ihre Arbeiten sind Referenz. Das gilt nicht zuletzt für die ortsspezifischen, um die es hier geht. Die vorliegende Arbeit untersucht vier ortsspezifische Produktionen von Schauplatz International im Hinblick auf die Frage, ob es sich dabei um Landschaftstheater handelt. Zu diesem Zweck werden die Stücke in einen Zusammenhang mit historischen und zeitgenössischen Landschaftstheorien gesetzt. So zeigt sich, von welchem Landschaftsbegriff die fraglichen Produktionen ausgehen und welche Vorstellungen von Landschaft sie produzieren. Diese Studie schlägt eine Brücke zwischen Theorie und künstlerischer Praxis, indem sie untersucht, was im zeitgenössischen Theater unter »Landschaft« theoretisch verstanden wird und welche Landschaftskonzeptionen das zeitgenössische Theater seinerseits praktisch entwirft. Der erste Teil der Arbeit stellt in Kapitel 2 den Gegenstand der Untersuchung in chronologischer Reihenfolge vor, nämlich die Stücke »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt«, »Expedition an den Rand der Welt«, »Schengen Border Observation Point« und »Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei«. Nach einer ausführlichen Beschreibung der Stücke und ihres Zustandekommens wird in Kapitel 2.5 die Arbeit von Schauplatz International diskutiert und im Kontext des zeitgenössischen Theaterschaffens situiert, und zwar über die vier hier besprochenen Produktionen hinaus. Im zweiten, theoretischen Teil wird zunächst der Tatsache Rechnung getragen, dass verschiedene akademische Disziplinen sich in letzter Zeit mit Fragen zum Phänomen des Raums und dessen Entstehen beschäftigt haben, selbst wenn solche auf den ersten Blick nicht zu ihrem Forschungsbereich gehörten. Der ohnehin interdisziplinär ausgerichtete Forschungszweig der Kulturwissenschaften hat sich besonders intensiv mit dieser Neuorientierung befasst, so dass es zu einer eigentlichen Raumwende, einem Spatial Turn gekommen ist. Das Kapitel 3 fasst den Spatial Turn zusammen und stellt ihn in einen Zusammenhang mit der Theaterwissenschaft. Zu den Themen, die mit dem Spatial Turn an Beachtung gewonnen haben,

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zählt jenes der Landschaft. Das ist insofern bemerkenswert, als dass der Begriff lange Zeit nicht mehr in akademischem Gebrauch war und besonders in der Geographie systematisch abgelehnt wurde. Wie es dazu kam, wird in den Kapiteln 4.1 und 4.2 erklärt. Insgesamt befasst sich das Kapitel 4 mit verschiedenen historischen Landschaftstheorien. Dies, weil die Frage, was Landschaftstheater ist, die Frage impliziert, was eine Landschaft ist. Der Begriff ist in der europäischen Kulturgeschichte schon lange präsent, jedoch mit einem breiten Bedeutungsspektrum. In der Geographie spielte Landschaft lange Zeit eine wichtige Rolle, wie das Kapitel 4.1 zeigt. Dem zugrunde lag die Aneignung einer besonderen Bedeutungsebene des Begriffs, nämlich der ästhetischen. Das dazugehörige Wissenssystem war die Landschaftsmalerei, die in 4.4 behandelt wird. Allerdings ist es der Kunstgeschichte nach wie vor nicht gelungen, das scheinbar plötzliche Auftauchen der Landschaftsmalerei in der frühen Neuzeit zu erklären. Ein besonders schwieriges Problem stellt dabei das Verhältnis von Kunst und Realität, von Wirklichkeit und Abbild dar. Es ist kunstgeschichtlich nicht klar, ob Landschaft der Kunst vorausgeht oder vielmehr erst durch Kunst entsteht. Dieses absolute Zentralproblem der Landschaftstheorie wird in Kapitel 4.5 vertieft, das die Geschichte des Begriffs »Landschaft« aufrollt. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Entstehung der ästhetischen Bedeutungsebene gelegt, denn diese begann im Lauf der Zeit alle anderen zu überlagern. Um dem entgegenzuwirken, untersucht das Kapitel 4.6 genauer, welcher Begriff von Ästhetik der ästhetischen Landschaftskonzeption zugrunde liegt und kommt zu einem erweiterten, »politischen« Landschaftsbegriff. Dieser wird in den Kapiteln 4.6.1 bis 4.6.4 anhand historischer Beispiele von Landschaftsidealen erprobt. Den historischen Vorstellungen von Landschaft stellt das Kapitel 5 zeitgenössische Theorien gegenüber. Die wichtigsten landschaftstheoretischen Positionen werden vorgestellt, denn Elemente davon lassen sich in vielen ortsspezifischen Produktionen des Gegenwartstheaters wiederfinden – nicht zuletzt in den hier zur Diskussion stehenden von Schauplatz International. Bevor diese Stücke aber vermittels der theoretischen Grundlagen analysiert werden, arbeitet das Kapitel 6 jene Theaterform auf, die traditionell als »Landschaftstheater« bezeichnet wird. Aus der Betrachtung von vier künstlerischen Positionen innerhalb dieser Theaterform lassen sich Bestimmungskriterien ableiten, die nun auf die Stücke von Schauplatz International angewendet werden können. Der dritte und letzte Teil dieser Arbeit legt die entsprechende Synthese vor. Die vier besprochenen Stücke werden mit den Ergebnissen der Beschreibungen der historischen und zeitgenössischen Landschaftstheorien sowie jener des traditionellen Landschaftstheaters verglichen. Als Resultat soll erstens die Frage beantwortet werden, inwiefern die Stücke von Schauplatz International als Landschaftstheater zu bezeichnen sind und was diese Bezeichnung bedeuten könnte. Zweitens trägt das

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Kapitel 7.3 dem etablierten politischen Landschaftsbegriff Rechnung und wendet ihn auf die zur Diskussion stehenden Stücke an. Dieser Blick auf die Landschaft trägt dazu bei, sich nicht nur ein Bild von ihr machen zu können, sondern auch die Gründe ihres Entstehens zu begreifen. Das ist darum wichtig, weil die Beziehung der Menschen zu ihrem Lebensraum heute als nicht weniger problematisch empfunden wird, als sie es in der Geschichte des Konzepts schon immer war. Das lässt sich in der Kunst besonders gut nachvollziehen, wie die vorliegende Arbeit deutlich zeigt. Sie dokumentiert ebenso, welche Rolle die Produktionen von Schauplatz International dabei spielen. Denn wenn die Theorie die »Landschaft wieder entdeckt« hat, so muss man sagen: das Theater auch.

1.1 B EOBACHTENDE T EILNAHME Seit 2002 bin ich selbst, neben Anna-Lisa Ellend, Albert Liebl und Lars Studer, leitendes Mitglied von Schauplatz International. 2001 ging die Gruppe eine Koproduktion mit dem Luzerner Theater ein, wo ich zu der Zeit als Dramaturgieassistent tätig und für die Betreuung des fraglichen Projekts verantwortlich war. Das Stück »Passion Arbeit. Eine Andacht« hatte am 14. November 2001 im UG, der zweiten Bühne des Theaters, Premiere. Nach Ende meines Engagements in Luzern wurde ich der Dramaturg von Schauplatz International. Seither bin ich maßgeblich an Konzeption und Produktion der Stücke beteiligt, verantworte die Eingaben und Verhandlungen mit Koproduktionspartnern mit, bin direkt an den Proben beteiligt und vereinzelt, in der Rolle des Dramaturgen, in den Aufführungen zu sehen. Die Produktionsprozesse von Schauplatz International sind arbeitsteilig gegliedert, eine strikte Funktionszuschreibung gibt es aber nur bedingt, eine Unterscheidung zwischen Regie und Schauspiel gar nicht. Das sich daraus ergebende methodische Problem, in den Proben Produktion und Rezeption gleichzeitig abdecken zu müssen, wird situativ gelöst, das heißt, wer frei ist, schaut von außen zu. Meine hauptsächliche Perspektive ist die beobachtende Außensicht. In Kombination mit dem Wissen um die inhaltliche Ausrichtung des Stücks und die entsprechenden Wirkungsabsichten ergibt sich eine künstlerische Produktionshaltung, die kreativ und interpretativ zugleich ist. Diese Perspektive entspricht auf den ersten Blick nicht den Grundsätzen wissenschaftlicher Objektivität im Sinne der geforderten Unbefangenheit des untersuchenden Subjekts. Um dieses Problem zu lösen, sei, ohne eine ausgedehnte Diskussion über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit wissenschaftlicher Objektivität führen zu wollen, kurz das grundsätzliche Erfordernis wissenschaftlichen Arbeitens angesprochen: »Wissenschaft kann nicht Wahrheit gewährleisten, sondern objekti-

E INFÜHRUNG

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vere Kommunikation.«3 Wissenschaftliche Objektivität entsteht nicht aus einem Wahrheitsanspruch seitens der Untersuchenden, sondern durch Transparenz im Sinne der Nachprüfbarkeit der Untersuchung und ihrer Resultate. Das heißt in den experimentellen Naturwissenschaften zum Beispiel, dass ein Versuch unter reproduzierbaren Bedingungen voraussagbare Resultate ergeben sollte. In den Geisteswissenschaften, die einen hohen interpretativen Anteil aufweisen, ermöglichen vor allem die Offenlegung der Quellen und Klarheit der Methode Transparenz. Die Nachvollziehbarkeit von Quellenerschließung und Quellenbearbeitung sowie die Überprüfbarkeit von Beschreibungen sind die Kriterien, die wissenschaftliche Objektivität im geisteswissenschaftlichen Milieu ausmachen. Zusätzlich und auf die Untersuchenden4 bezogen, setzt wissenschaftliche Objektivität Unbefangenheit voraus. Das kann bedeuten, dass Untersuchende nicht in anderer Weise als durch das wissenschaftliche Interesse begründet mit dem Untersuchungsgegenstand verbunden sind, ein wichtiger, aber utopischer Parameter wissenschaftlicher Arbeit. Utopisch, weil die Trennung von Subjekt und Objekt, das heißt von Untersuchenden und Gegenstand, eine theoretisch erdachte ist, praktisch aber keine Rolle spielt – was allerdings ebenso für die Trennung von Theorie und Praxis gilt. Eine solche Trennung müsste zum Beispiel beinhalten, dass die Untersuchenden keinen Einfluss auf den Gegenstand nehmen, das heißt, sich dieser durch die Untersuchung nicht verändert. In der kunstwissenschaftlichen Arbeit ist das eine aporetische Forderung, denn dort ist Wahrnehmung nicht ein sekundäres Phänomen, sondern gehört, weil sich Kunst explizit auf ästhetische Erkenntnisweisen bezieht,5 elementar zum Gegenstand, so dass sich kunstwissenschaftliche Arbeit in einer Art epistemischen Zirkels befindet, weil das Nachdenken über den Gegenstand Teil des Gegenstands ist. Ganz besonders trifft dies auf die Theaterwissenschaft zu, da deren Gegenstand sich per Definition durch die gemeinsame Leistung von Produzierenden und Rezipierenden konstituiert, ansonsten er gar nicht existiert.6 Theater setzt die Beteiligung der Rezipierenden, die dadurch eben auch Produzierende sind, voraus, ein Umstand, dem sich die Theaterwissenschaft nicht entziehen und dadurch die supponierte Trennung von Subjekt und Objekt nicht nachvollziehen kann.

3

Kurt Eberhard: Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Geschichte und Praxis der konkurrierenden Erkenntniswege. Stuttgart, Berlin, Köln 1999, S. 20.

4

Das Problem der geschlechtsspezifischen Schreibweise wird im Folgenden durch bewusste Heterogenität gelöst. Nur wo es inhaltlich zwingend ist, steht eine eindeutige Form allein.

5 6

Vgl. Kapitel 4.6. Vgl. z.B.: Wilmar Sauter: Publikum. In: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat: Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart 2005, S. 253-259.

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Spezifischer bedeutet Unbefangenheit die Garantie, dass den Untersuchenden keine Vor- oder Nachteile aus den Ergebnissen ihrer Untersuchungen erwachsen können. Gemeint ist nicht die allfällige Honorierung als Effekt der geleisteten Arbeit als solche, sondern Vor- oder Nachteile, die durch eine tendenziöse oder – wenn bewusst geschehen – durch eine manipulative Darstellung des Inhalts der fraglichen Arbeit entstehen. Im kunstwissenschaftlichen Kontext besteht diese Gefahr besonders dort, wo Ergebnisse auf eine qualitative Wertung hinauslaufen, das heißt, wo Kunst in »gute« oder »schlechte« klassifiziert werden soll. Anstelle dieser Adjektive können auch andere, scheinbar neutralere, aber unausgesprochen mit Werturteilen verbundene Termini treten: »innovativ«, »interessant«, »intensiv«, »radikal«, »gekonnt«, »konsequent«7 für wohlwollend aufgenommene, »konventionell«, »absehbar«, »gesucht« für verworfene Werke. Solche Beschreibungen bezeichnen scheinbar Wirkungen, dienen in der Rezeptionsdiskussion aber vor allem dazu, Anschluss an spezifische, autoritär eingesetzte Urteils- und ästhetische Wertesysteme herzustellen. Solche Diskursanschlüsse wiederum sind nicht selten dazu da, die Position der Rezipierenden, die eigentlich zu Rezensierenden werden, zu bezeichnen, was, verbunden mit ästhetischen Diskursen, auf eine soziale Positionierung über Geschmacksurteile hinausläuft, und sei es auch nur situativ.8 Das heißt nicht zwingend, dass nicht wertend über Kunst gesprochen werden sollte. Solches Sprechen hat aber eine Funktion, die – das zeigt auch die hier geführte Diskussion zur Entwicklung des Landschaftsbegriffs – über den Gegenstand der Rede hinausgeht.9 Unter solchen Umständen ist wissenschaftliche Objektivität nicht gegeben. Wenn sich aber Kunst- und in diesem Fall Theaterwissenschaft als beschreibende, vielleicht interpretative, aber nicht werturteilende Wissenschaft versteht, wird das Verhältnis von Untersuchenden zu ihrem Gegenstand entkompliziert, oder, anders ausgedrückt, kompliziertere Verhältnisse von Untersuchenden zu ihrem Gegenstand werden denkbar. Komplizierte Verhältnisse sind im vorliegenden Fall offenkundig gegeben. Ich bin Teil der Gruppe, die für die Kreation der untersuchten Stücke verantwortlich ist, und bin folglich einer der Urheber dieser Stücke. Es ist nicht meine Absicht, wohlwollende Meinungen über mein eigenes Werk in die Welt zu setzen. Das Ziel ist im Gegenteil eine kritische Beschreibung jenes Teils der Arbeit von Schauplatz International, der für die Frage, ob ein Landschaftsbegriff im zeitgenössischen Theater relevant und wie ein solcher allenfalls konnotiert ist, von Bedeutung ist. Der künstlerische oder kunsttheoretische Wert der Arbeit von

7

Vgl. Florian Dombois, Yeboaa Ofosu, Sarah Schmidt (Hg.): »genau. leicht. konsequent.« Ein dreifaches Rendezvous der Künste und Wissenschaften. Basel 2009.

8

Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. 1982.

9

Vgl. Kapitel 4.6.1-4.6.4.

E INFÜHRUNG

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Schauplatz International ist nicht von Interesse, deren Eingriffe in Landschaftsdiskurse hingegen schon. Wissenschaftliche Objektivität ist also insofern nicht gegeben, als der Untersuchende stark mit dem Gegenstand verbunden ist. Vor- oder Nachteile wird er aber aus diesen Resultaten der Untersuchung nicht ziehen, weil eine wertende Einordnung in einen hierarchisierten Kanon des zeitgenössischen Theaters nicht Ziel dieser Untersuchung ist. Die Beantwortung der Frage, ob die Arbeit von Schauplatz International für Landschaftsdiskurse von Bedeutung ist oder nicht, wird die Gruppe für manche Kontexte vielleicht interessanter machen, für andere wiederum gerade nicht. Profitieren könnte sie allenfalls von der Tatsache, dass überhaupt über sie geschrieben wird. Das aber ist, nach über zehn Jahren des Bestehens und Wirkens der Gruppe, mindestens ein chronistisches Desiderat. Ihren ökonomischen und symbolischen Marktwert wird das insgesamt nicht steigern. Entsprechende Effekte sind auch für mich selbst nicht zu erwarten. Folglich nehme ich für mich in Anspruch, unbefangen zu sein. Methodisch lässt sich diese Position sogar noch weiter absichern. Der Diskurs rund um die Frage, ob Performance Forschung sein könne, beschäftigt die Theaterwissenschaft schon länger. Der Ansatz »Performance as Research« unterstützt besonders in den englischsprachigen »Performance Studies« alternative methodische Vorgehensweisen. Im deutschsprachigen Raum wird das Thema unter dem Stichwort »Kunst als Forschung« besprochen.10 In gewisser Weise hat Richard Schechner die Sache bereits 1985 auf den Punkt gebracht, indem er erklärte, er glaube, man könne, um ein performatives Phänomen zu verstehen, »either from the outside in, as a spectator would, or from the inside out, as a performer would«,11 arbeiten. Daher empfiehlt die australische Theaterwissenschaftlerin Alison Richard: »It is useful therefore for performance researchers to be self-reflexive, and to query both the traditional ascription of ›objectivity‹ to the researcher, and the distant and hierarchical relation between researcher and the subject or object of research.«12 Es sei, so Richards, daher nützlich, sich in anderen Forschungsfeldern umzusehen, wie dort das Problem gelöst werde. In den Sozialwissenschaften zum Beispiel ist es gut bekannt. Dort stellt die so genannte »teilnehmende Beobachtung« eine – wenn auch nicht unumstrittene – em-

10 Vgl. z.B. Florian Dombois: Kunst als Forschung. Ein Versuch, sich selbst eine Anleitung zu entwerfen. In: Hochschule der Künste Bern (Hg.): Hochschule der Künste Bern 2006. Bern 2006, S. 21-29. 11 Richard Schechner: Between Theater and Anthropology. Philadelphia 1985, S. 280. 12 Alison Richards: Performance as Research/Research by Means of Performance. 1995. www.adsa.edu.au/research/performance-as-research/performance-as-research (11. April 2011).

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pirische Methode der qualitativen Feldforschung dar.13 Von einer teilnehmenden Beobachtung ist dann die Rede, wenn die beobachtende Person selbst am von ihr beobachteten Feld partizipiert und zum Beispiel Teil einer untersuchten Personengruppe ist. Interaktion mit dem untersuchten Feld wird nicht vermieden, sondern gegebenenfalls explizit gesucht, um andere Informationen zu gewinnen, als es durch eine distanzierte, nur beobachtende Haltung möglich wäre. Teilnehmende Beobachtung hat insofern ein Lavieren zwischen Nähe und Distanz, zwischen Teilnahme und Beobachtung zur Folge. Wie für jede Art der Beobachtung gilt auch für die teilnehmende, dass die Ergebnisse entscheidend davon abhängen, ob die Beobachtung offen oder verdeckt, also mit oder ohne Wissen der Beobachteten erfolgt. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung kam zuerst in der Ethnologie und der Sozialanthropologie zur Anwendung. Frank Hamilton Cushing, der in den 1880er Jahren mit den Zuni-Indianern lebte,14 und der etwas später die Methode systematisierende Bronislaw Malinowski15 gelten als die ersten teilnehmenden Beobachter der neueren Wissenschaftsgeschichte. In die Soziologie eingeführt wurde die Methode vor allem durch Robert Ezra Park und die Chicagoer Schule.16 Noch heute ist die teilnehmende Beobachtung im anglo-amerikanischen Sprachraum am besten akzeptiert, im deutschen vertritt der österreichische Soziologe Roland Girtler diese Linie.17 Girtler widerspricht auch einem häufig geäußerten Vorwand gegen die teilnehmende Beobachtung, demgemäß diese Methode die Gefahr des so genannten »going native«18 beinhalte. »Going native« bedeutet, dass die beobachtende Person sich so sehr mit dem beobachteten Feld identifiziert, dass sie »Urteilsmaßstäbe und Verhaltensmuster der Akteure im Feld«19 übernimmt, jegliche Distanz verliert und befangen wird. Dem hält Girtler, mitunter auf den kolonialistischen Tonfall des Arguments hinweisend, entgegen, Distanz beruhe ihrerseits nur auf Vorurteilen und

13 Vgl. z.B. Rainer Schnell, Paul B. Hill, Elke Esser: Methoden der empirischen Sozialforschung. München 2005, S. 391. 14 Vgl. z.B. Frank Hamilton Cushing: Cushing at Zuni: The Correspondence and Journals of Frank Hamilton Cushing 1879-1884. Albuquerque 1990. 15 Vgl. Bronislaw Malinowski: Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von MelanesischNeuguinea. Eschborn 2007. 16 Vgl. z.B. Rolf Lindner: Die Entdeckung der Stadtkultur: Soziologie aus der Erfahrung der Reportage. Frankfurt a.M. 2007. 17 Vgl. Roland Girtler: 10 Gebote der Feldforschung. Wien 2004. 18 Roland Girtler: Methoden der Feldforschung. Wien, Köln, Weimar 2001, S. 78. 19 Girtler: Methoden, S. 78.

E INFÜHRUNG

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Teilnahme biete gerade die Möglichkeit, solche abzubauen. Dass von distanzierten Beobachtungen behauptet werde, sie seien methodologisch abgesicherter und daher vergleichbarer, rühre allein von der Unterschlagung gemeinsamer Vorurteile her. Folglich bezeichnet Girtler die Sache als ein »Scheinproblem«,20 und zwar deshalb, weil überhaupt kein methodisches Vorgehen für sich in Anspruch nehmen könne, wissenschaftlich korrekt zu sein. Diese polemische Wendung verschweigt allerdings, dass teilnehmende Beobachtung von »impliziten Authentizitätsannahmen«21 geleitet sein kann, die einen kritischen Umgang mit dem Gegenstand auch eher verhindern als begünstigen. Ein wirkliches Problem der teilnehmenden Beobachtung besteht zudem darin, dass Teilnahme Veränderung bedeutet. Veränderung wiederum kann Störung bedeuten, wenn die Beobachtung darauf abzielt, ein Feld derart zu erfassen, wie es unabhängig von der Beobachtung gegeben ist. Das ist nicht mehr möglich, wenn die beobachtende Person so am Feld teilnimmt, dass sie es verändert. Dann werden sie und ihre Teilnahme selbst zum Gegenstand der Beobachtung, was wiederum folgerichtig ist, denn das fragliche Feld besteht ja dann nur noch unter der Bedingung der Teilnahme der beobachtenden Person. Zugleich wird sich nicht nur das beobachtete Feld, sondern, wie gesagt, auch die beobachtende Person durch das Feld verändern, ihre beobachtende Position wird gestört. Bei einer so weitgehenden, Gegenstand und Beobachtende verändernden Partizipation drängt sich eine begriffliche Anpassung auf. »Teilnehmende Beobachtung« ist eine unzureichende Bezeichnung für das Vorgehen. Eher sollte von einer »in den methodologischen Lehrbüchern der Soziologie nicht beschriebene[n], von manchen Soziologen aber dennoch betriebene[n] Methode«22 der »beobachtenden Teilnahme«23 die Rede sein. Diese terminologische Rochade bringt das gesteigerte Maß an Partizipation von bestimmten Untersuchungssituationen zum Ausdruck. Gemäß der viel zitierten Definition von Morris S. Schwartz und Charlotte Green Schwartz setzt die teilnehmende Beobachtung die Präsenz der beobachtenden Person in einer sozialen Situation zum Zweck wissenschaftlicher Forschung – »for the purpose of scientific in-

20 Girtler: Methoden, S. 78. 21 Christian Lüders: Teilnehmende Beobachtung. In: Ralf Bohnsack, Winfried Marotzki, Michael Meuser (Hg.): Hauptbegriffe qualitativer Sozialforschung. Opladen 2003, S. 151-153, hier S. 152. 22 Roland Springer: Rückkehr zum Taylorismus? Arbeitspolitik in der Automobilindustrie am Scheideweg. Frankfurt a.M. 1999, S. 38. 23 Heinrich Bollinger, Friedrich Weltz: Zwischen Rezeptwissen und Arbeitnehmerorientierung. Der Arbeitsbezug soziologischer Beratung von Unternehmen. In: Ulrich Beck, Wolfgang Bonss (Hg.): Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens. Frankfurt a.M. 1989, S. 248-275, hier S. 266.

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vestigation«24 – voraus. Beobachtende Teilnahme hingegen findet nicht unbedingt »zum Zweck« wissenschaftlicher Forschung statt, sondern hat Ziele, die in der Logik des untersuchten Feldes selber liegen. Teilnahme ist nicht Mittel zum Zweck wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern verfolgt eben eigene Zwecke. Sie basiert, im Vergleich zur teilnehmenden Beobachtung, auf einer »umgedrehte[n] ZweckMittel-Relation«.25 Beobachtende Teilnahme ist insofern eine bestimmte Art des Handelns, die von einer ständigen Selbstreflexion begleitet wird, das heißt, Distanzierung zulässt und beinhaltet. Zugleich zielt die beobachtende Teilnahme darauf ab, eine vertiefte Innensicht des beobachteten Feldes zu gewinnen, indem die beobachtende primär zur handelnden Person, zum Akteur wird und sich als solcher von den Handlungszusammenhängen des Feldes leiten lässt, nicht von jenen seines wissenschaftlichen Wollens. Im gegebenen Fall der hier vorliegenden Untersuchung könnte, in Anlehnung an diese sozialwissenschaftlichen Methoden, von einer beobachtenden Teilnahme die Rede sein, weil ich selbst erstens am untersuchten Gegenstand, der freien Theatergruppe Schauplatz International, partizipiere und zweitens mein diesbezügliches Handeln primär künstlerisch und nicht wissenschaftlich motiviert war und ist. Für meine Arbeitsmethodik ist aber Distanz künstlerisch ebenso unabdingbar wie theoretische Reflexion, so dass Wissenschaftlichkeit im Sinne einer beobachtenden Teilnahme implizit in der Arbeit bereits stets angelegt war. Die Perspektive des Beteiligten ermöglicht es im Weiteren, sowohl den Produktions- als auch den Rezeptionsprozess beschreibend abzudecken. Das überwindet tendenziell die theoretische Teilung des Phänomens Theater in Produktion und Rezeption und erschließt einen beide Seiten synthetisierenden Standpunkt, was wiederum die Situation im Arbeitsprozess widerspiegelt. Entscheidend dabei ist, Absicht und Resultat, intendierte und wahrgenommene Wirkung voneinander unterscheiden zu können. Auch darin ähneln sich Produktion und wissenschaftliche Untersuchung derselben. Die Forderung nach Transparenz in Bezug auf die Quellen kann unter den gegebenen Umständen sogar besonders gut erfüllt werden. Ich habe Zugang zu allen relevanten Materialien der Stücke, sei es, weil sie direkt aus der Produktion und dadurch aus eigener Hand stammen, oder sei es, weil ich sie über Veranstalter und Medien selbst für das Archiv von Schauplatz International erschlossen habe. Transparent ist die Quellenlage darüber hinaus, weil ich bei jeder Quelle weiß, wann, wie

24 Morris S. Schwartz, Charlotte Green Schwartz: Problems in Participant Observation. In: The American Journal of Sociology. Vol. 60, No. 4, Chicago 1955, S. 343-353, hier S. 344. 25 Jürgen Schmitt: »Wer plant hier für wen – ?« Feldforschung in der Interaktionsgemeinde eines ostdeutschen Prozesses der Stadtteilarbeit. Wiesbaden 2004, S. 68.

E INFÜHRUNG

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und warum sie entstanden ist. Das bedeutet, dass der Arbeitsprozess in seiner vollen Länge erfasst wird, was ohne die Perspektive des Beteiligten ebenfalls nicht möglich wäre. Das ist im landschaftstheoretischen Zusammenhang insofern interessant, als es keinen fixierbaren Zeitpunkt der gültigen Aussage gibt, einen Moment, in dem das, was ein Stück bedeuten soll, feststeht und eindeutig wahrgenommen werden könnte. Ein Stück besteht, seine Entstehung inbegriffen, aus einer Vielzahl von konzeptionellen, theoretischen und künstlerischen Äußerungen, die den Landschaftsdiskurs betreffen. Daher ist es hilfreich, Stücke nicht nur so, sondern auch Produktionen zu nennen, um den Prozess, der das Stück hervorbringt, mitzuformulieren. Diese Unabgeschlossenheit bildet nicht zuletzt, wie die vorliegende Arbeit zeigt, den hermeneutischen Status historischer und zeitgenössischer Landschaftstheorien ab, mit denen sich die untersuchten Produktionen ja beschäftigen.

Erster Teil: Gegenstand

2 Vier Stücke von Schauplatz International

2.1 A UF

DER

S UCHE

NACH DER VERSCHWUNDENEN

S TADT

27. April 2006; Essen, Berliner Platz bei Einbruch der Dunkelheit. Ein Reisebus fährt auf das Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs, hält an einer alten Backsteinmauer, Leute steigen aus. Sie betreten ein Podest, blicken über die Mauer und verfolgen, was in den nächsten 90 Minuten auf der großen Brache an den ehemaligen Gleisen geschieht. Was sie sehen, ist das Stück »Segeroth – Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« von Schauplatz International. Es ist in Koproduktion mit dem Schauspiel Essen entstanden, das sich in einer »FeldWaldWiese« getauften Reihe anhand so genannter »Stadtprojekte« außerhalb des Bühnenraums im Grillo Theater mit der Stadt Essen, deren Bewohnern und ihrer Geschichte auseinandersetzen will. Teil dieser Geschichte ist das verschwundene Industrie- und Arbeiterviertel Segeroth, der »wilde[n] Norden«1 Essens. Die genauen Grenzen des Quartiers lassen sich nicht mehr eruieren. An seiner Stelle liegt heute ein Teil des Nordviertels, mit dem Campus der Universität Essen. Ein eigentlicher, in sich geschlossener Stadtteil war der Segeroth von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Er lag östlich der Krupp-Stadt und westlich der Zeche Victoria Mathias, wurde nördlich begrenzt durch einen Friedhof und die Städtische Gasanstalt, südlich vom früheren Güterbahnhof Essen-Nord und dem Großmarkt. Heute befinden sich dort vereinzelt Nachkriegswohnbebauung, die Universität, der Rotlichtbezirk in der Stahlstraße und, nahe des Berliner Platzes, eine große Brache mit Resten der Gleisanlagen. Dort spielte das Stück von Schauplatz International. Entstanden war der Segeroth durch die starke Zuwanderung von Industriearbeitern im Zuge des Aufbaus der Montanindustrie in Essen und das damit einhergehende Bedürfnis nach günstigem, flexibel nutzbarem Wohnraum. Besonders wirkte

1

Frank Bajohr, Michael Gaigalat (Hg): Essens wilder Norden. Segeroth. Ein Viertel zwischen Mythos und Stigma. Hamburg 1991.

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sich die Entwicklung in der unmittelbaren Nachbarschaft mit der Abteufung der Zeche Victoria Mathias 1840 und der Expansion der Kruppwerke auf das Gebiet aus, so dass die Einwohnerzahl für das ehemals vorstädtisch-ländliche Agrarareal bis 1930 auf 40.000 Menschen angestiegen war. Einen beträchtlichen Teil davon machten Zugezogene aus dem deutschen Osten aus, unter ihnen Juden und Roma. Deswegen – und weil das Viertel als rote Hochburg galt, in der die NSDAP auch nach ihrem Aufstieg zur Massenpartei hinter der KPD zurückblieb – wurde der Segeroth zum Ziel des »sozialhygienischen« Zugriffs der Nationalsozialisten. Viele Bewohner wurden deportiert, Teile des Viertels abgerissen. Die Nähe zu den Industrieanlagen bedeutete das Ende des Quartiers in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs. Das Wenige, das materiell vom Segeroth übrig blieb, verschwand in den Nachkriegsjahren, namentlich beim Bau der Universität. Nicht vergessen ging der Ruf des Quartiers, Elendsviertel, Sündenpfuhl, Arbeiterbastion und Hort des Widerstands zu sein. Das Gemenge aus Erinnerung, Verklärung, Widerwillen und Vergessen ergab nach Verschwinden des Segeroths ein mythisches Bild, das Eingang in die verschüttete Geschichte der Stadt fand. Diesem Bild sollte sich die Arbeit »Segeroth – Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« nähern und sein Entstehen untersuchen. Für das Publikum begann das Stück vor dem Grillo Theater im Zentrum Essens. Dort wurde den Leuten ein Fernglas ausgehändigt, sie stiegen in einen Reisebus, der sich dann in Richtung Norden in Bewegung setzte. Die Route ging nicht direkt zum Berliner Platz, der in wenigen Minuten zu erreichen gewesen wäre, sondern führte durch das umgebende Gebiet, wo einst der Segeroth gelegen hatte. Im Bus bekam das Publikum einen Videomitschnitt einer fingierten Pressekonferenz zu sehen, die die Mitglieder von Schauplatz International vor ihrem Aufbruch gegeben hatten und in der die Ausgangssituation erklärt wurde: Ein ägyptischer Investor beabsichtige, auf der Brache ein Großprojekt zu realisieren, und schicke zu diesem Zweck einen Expeditionstrupp vor – halb Archäologengruppe, halb Jagdkommando –, um Geschichten und Legenden des untergegangenen Stadtteils ausfindig zu machen und auf ihre Verwertbarkeit zu prüfen. Bereits im Vorfeld der Produktion hatte Schauplatz International das Gerücht vom ägyptischen Investor über die Medien verbreitet. In Anlehnung an den real existierenden Unternehmer Samih Sawiris, der zu dieser Zeit mit seinem Tourismusgroßprojekt in Andermatt an die Öffentlichkeit trat,2 erklärte Schauplatz International das Gelände am Berliner Platz zum städtebaulichen Entwicklungsgebiet, auf dem unter anderem ein Themen- und Vergnügungspark rund um den Segeroth-Mythos entstehen sollte. Damit spielte die Gruppe nicht nur offen auf das Städtebauprojekt »Neue Mitte Oberhausen« mit dem Einkaufszentrum »Centro«, einem Vergnügungspark und verschiedenen Ausstel-

2

Vgl. http://andermatt-swissalps.ch (11. April 2011).

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lungs- und Veranstaltungsflächen an,3 sondern nahm auch die Tendenz zur Ästhetisierung von Geschichte und Landschaft des Ruhrgebiets auf.4 Tatsächlich befanden sich das Gebiet um den Berliner Platz und die Brache selbst mitten in einem langjährigen Planungsprozess. Gleich südlich, am Limbecker Platz, hatten die Bauarbeiten für ein großes Einkaufshaus bereits begonnen, für das ehemalige Gleisgelände fanden zur Zeit der Produktion Bürgeranhörungen statt, um den jahrelang ergebnislos verlaufenen Prozess mit dem Bau einer innerstädtischen Wohnanlage für gehobene Ansprüche zu einem Ende zu bringen. Die auf der Fahrt zur Brache im Bus gezeigte Pressekonferenz war deutlich als Parodie zu erkennen. Weniger eindeutig wurde der ausgeteilte Abendspielzettel beurteilt. Der übertreibend-ironisierende Tonfall wurde ebenso wenig von allen Zuschauerinnen und Zuschauern bemerkt wie die Tatsache, dass sich der Text aus Fragmenten von Werbematerialien für Safaris und für Sawiris Tourismusprojekt zusammensetzte, so dass sich einige Anwesende am Ende des Abends »vollkommen in die Irre geführt«5 wähnten. Auf dem Weg zum Spielort machte Olaf Kröck, der zuständige Dramaturg des Schauspiels Essen, die Passagiere im Weiteren auf für den alten Segeroth oder für das neue Nordviertel wichtige Lokalitäten aufmerksam: »Zur Linken das FCKappes-Stadion, zur Rechten die Eckkneipe, die Moschee, das Pfarrhaus des Viertels, die Hurenstraße. Fast scheint es, als könne der Segeroth nur umkreist und gar nicht mehr erreicht werden, da zeigt sich der verlassene Platz, eine Betonwüste neben einem verwilderten Grünstreifen und der Universität.«6 In dieser Betonwüste angekommen, wurde das Publikum gebeten, auszusteigen und über eine Mauer zu blicken. Es sah – zum Teil mit Hilfe des Fernglases – auf eine freie, plane Fläche, die etwas weiter unten lag und einen verwilderten Eindruck machte. Vorne, entlang der Mauer, standen Büsche und kleine Bäume, in der Mitte war der Boden frei und mit Gras bewachsen. Dahinter, dort, wo sich die noch sichtbaren Gleisanlagen befanden, begann Unterholz. Auf der anderen Seite der Gleise, im Hintergrund, sah man die lange Silhouette der Universität. Die Brache wurde parallel zur Mauer von zwei Fahrwegen durchzogen. Sie berührten drei Baucontainer, die auf der Brache aufgestellt waren. Ein weißer, dessen Stirnseite durch eine

3

Vgl. z.B. Ariane von Graffenried: Dokumentarfilme im Theater. Ein dramaturgischer Vergleich zweier Dokumentarfilme und ihrer Transformation im Theater. Dissertation. Bern 2010.

4 5

Vgl. Kapitel 5.6. Sonja Mersch: Expedition führt in die Irre. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung WAZ, 29. April 2006.

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Annika Joeres: Expedition zu einer Legende. In: Die Tageszeitung TAZ NRW, 3. Mai 2006.

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Glasfront einsehbar war, befand sich nahe bei der Mauer. Die beiden hinteren, einer blau, einer beige, standen etwa 75 Meter vom Publikum und etwa 120 Meter voneinander entfernt im hinteren Teil der Brache. Das so sich bildende Dreieck markierte die Spielfläche. Sie wurde von Scheinwerfern, die in den hinteren beiden Containern untergebracht waren, und einem großen Feuer in der Mitte des Geländes beleuchtet. Die Akteure selbst trugen Stirnlampen. Weiter befanden sich auf der Brache zu Beginn ein von innen erhelltes Zelt und einige künstliche Büsche. Der vordere Container mit der Glasfront war wie ein so genanntes Büdchen, die im Ruhrgebiet verbreitete Form des Kiosks, gestaltet. Vor dem Zelt lag eine mit einem Computer im Zelt verbundene Leuchtanzeige mit Laufschrift. (Abb. 1) Im Zelt tippte ich einen Text, der sofort auf der Anzeige erschien und für das Publikum lesbar war. Es handelte sich um einen abgeänderten Ausschnitt eines Berichts der Bernerin Vivienne von Wattenwyl über eine Jagdexpedition im damaligen Britisch-Ostafrika aus dem Jahr 1925.7 Die Reise diente dem Aufbau der Schau- und Dioramensammlung afrikanischer Tiere im Naturhistorischen Museum in Bern. Der Initiator der Reise, Vivienne von Wattenwyls Vater Bernhard, kam dabei ums Leben. Der fragliche Ausschnitt bezog sich auf die Jagd nach dem Bongo, einer ebenso museal wertvollen wie seltenen Tierart. Von Wattenwyl beschreibt, wie die Jagdgesellschaft des Tieres in seinem Habitat, dem dichten Wald des im heutigen Aberdare-Nationalpark in Kenia gelegenen Gebirges, habhaft wird und es erlegt. Über Ablauf, Sinn und Zweck der Jagd nachdenkend, entwickelt sie eine Ahnung dessen, was die Tötung des Bongos, durch seine Abwesenheit zu einem eigentlichen Mythos geworden, bedeutet. Ihr wird klar, dass dann nicht nur dem Wald, sondern vor allem den Jägern etwas fehlen wird. Der Text wurde auf die Situation der Expedition im Stück, der der angestrebte Erfolg erst noch bevor stand, umgemünzt und sprachlich leicht angepasst: »Der Bongo spukte unterdessen weiter wie ein Schatten in der dunkelsten Tiefe des Waldes. Und dort würde ihn schließlich mein Vater endlich finden, irgendwann vielleicht durch einen Zufall. Was würde das für eine Heimkehr sein! Wir beide würden an unserem Feuer sitzen, die Jagd noch einmal aufleben lassen und bei einem guten Trunk den Jäger und seine herrliche Beute feiern. Es würde uns alles wie ein Traum vorkommen, und unsere Blicke würden immer wieder über das gestreifte seidene Fell streichen, das als greifbare Wirklichkeit mitten in unserem Zelt über einer Leine hinge. Vielleicht würden wir auch mitten in der Freude des Erfolges ein Gefühl des Bedauerns nicht ganz unterdrücken können. Ich fürchte allerdings, es

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Vivienne von Wattenwyl: Bongo-Jagd in den Aberdaire-Bergen, Britisch-Ostafrika: Bericht über eine durch Bernhard Perceval v. Wattenwyl zugunsten des Berner Naturhistorischen Museums im Frühling 1924 ausgeführte Expedition. Bern 1925.

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würde ein recht oberflächliches Bedauern sein darüber, dass dieser edle, galante, alte Geselle, der all diese Jahre her in süßer Freiheit dort herumstreifte, schließlich an seine Feinde verraten würde und dass kein Wald ihn nicht länger mehr kennen würde. Damit, dass der Preis gewonnen würde und der Bongo in unsere Gewalt käme, würde aber etwas Großes aus unserer Welt scheiden. Es würde eine Leere bleiben, die wir nicht füllen können. Es würde etwas getötet und bliebe unwiderruflich tot, etwas, das uns hohe Ziele gesteckt, das in den vergangenen Wochen unsere Gedanken beherrscht, die Tage ausgefüllt und uns begeistert haben würde, ein Ideal, dessen Verfolgung alle Anstrengungen und Opfer mit kostbarem Abenteuer würzte.«8

Der Auszug aus von Wattenwyls Bericht, wesentlich länger als die zitierte Stelle, konnte dem Publikum als Interpretationsschlüssel des Geschehens dienen. Der Verweis zielte nicht nur auf den kolonialistischen Aspekt, sondern besonders auf die durch von Wattenwyl aufgedeckte Ambivalenz der Struktur von Ambition und Begehren im Zusammenhang mit Kultur – unter Voraussetzung der Abwesenheit des Ziels dieser Ambition respektive des Objekts des Begehrens. Deshalb diente die Jagdexpedition dem ganzen Projekt als Metapher. Auf der Brache stellten Anna-Lisa Ellend, Albert Liebl, Lars Studer und ich eine Suche nach Überresten des Segeroths nach. Das Ziel des Stücks war es zwar, dem Mythos, nicht der Wahrheit, auf die Spur zu kommen. Die Figuren hingegen gaben – in stratifikationstheoretischer Terminologie – an, »in die Tiefe zu gelangen«, »Schichten frei legen« zu wollen. Dieses Vorhaben, die »Suche nach der verschwundenen Stadt«, war, nebst der einfachen Handlung, dramaturgisch nach einem ebenso einfachen Rundenprinzip aufgebaut. Zelt und Feuer dienten als Kommando- und Treffpunkte, von denen aus die Spieler sich einzeln oder gemeinsam über das riesige Gelände verteilten und es in verschiedenen Durchgängen erforschten. Gefundenes wurde zurückgebracht und besprochen. Die Darsteller trugen Mikroports mit Funkverbindung in den Bus, der als Lautsprecher funktionierte, so dass Mono- und Dialoge für das Publikum – und die Spieler, die sich bisweilen weit voneinander entfernten – hörbar wurden. Neben den Mitgliedern von Schauplatz International befanden sich anfangs auch Gäste auf dem Gelände. Sie hielten sich hinter den künstlichen Büschen versteckt und wurden erst »entdeckt«, als die fingierten Forschungsreisenden zu ihrer ersten Suchrunde aufgebrochen waren. Die Tatsache, dass es sich bei den Verstecken um künstliche Vegetation handelte, wurde nicht verschwiegen, sondern im Gegenteil betont, um das Problem von Realität und Fiktion, mit dem sowohl Theater als auch historische Forschung zu tun haben, von Beginn an anzusprechen.

8

Schauplatz International: Text zu »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt«. April 2006, persönliches Archiv. Vgl. von Wattenwyl: Bericht. S. 15f.

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Die Gäste waren so genannte Augen- oder Zeitzeugen, das heißt Menschen, die aufgrund ihres biographischen oder fachlichen Wissens Auskunft über den Segeroth hätten geben können. Diese Gäste wurden als erste »Jagdtrophäen« präsentiert, »eingesammelt« und in den vordersten Container begleitet. Dort erzählten sie kurz, was sie über den Segeroth wussten und woher sie dieses Wissen hatten. Die Kommunikation war gespielt schwierig, weil die Expeditionsteilnehmer vorgaben, die Einheimischen nicht oder nur schlecht zu verstehen. Dann setzten sich Letztere im Container an einen Tisch, hielten ein Kaffeekränzchen und unterhielten sich miteinander. Als einzige Akteure wären sie dem Publikum nahe genug gewesen, um unverstärkt hörbar zu sein. Weil sie sich aber im Innern des Containers befanden, bekam man von ihren Geschichten nichts mit. Ebenso wenig interessierten sich die Forscher für sie. Ihnen schienen die Erzählungen nichts zur Lüftung der Geheimnisse rund um den Segeroth beizutragen. Tatsächlich hatte sich in den Recherchen zum Stück nämlich gezeigt, dass die Erschließung verborgener Erinnerungen mittels »Oral History«9 in diesem Fall nicht besonders weit reichte, weil sich ein standardisiertes Wissen gebildet hatte, auf das sich selbst die Augen- und Zeitzeugen bezogen. Diesen Umstand sollte der ostentative Verzicht auf die Erzählungen scheinbarer Experten und Expertinnen illustrieren. Drapiert in einem regional typischen Büdchen standen die nicht hörbaren Erinnerungen für das Scheitern von Wahrheitsfindung durch ständige Reproduktion des Mythos im Sinne eines als Wissen verstandenen Glaubens. Allerdings beinhaltete der Vorgang einen Widerspruch, indem durch Anhörung von Zeitzeugen theoretisch tatsächlich die Möglichkeit bestanden hätte, etwas Neues über den Segeroth zu erfahren, womit die Geschichtsforschung ja rechnen muss, ansonsten sie sinnlos wäre. Auf diese Art der Wahrheitsfindung wollten aber sowohl das Stück als auch die Figuren verzichten, denen es vordergründig und zu diesem Zeitpunkt der Handlung um eine möglichst reibungsfreie Kommodifikation des Segeroth-Mythos ging. Teilen des Publikums war dieser dramaturgische Umgang mit den Gästen, szenisch mitunter eher rabiat als sanft gehalten, nicht verständlich. Die Ablehnung dürfte nicht zuletzt aus der Spannung zwischen enttäuschter Hoffnung, etwas Neues über den Segeroth zu erfahren, und der als Affront verstandenen Weigerung, an der Reproduktion des Mythos mitzuarbeiten, entstanden sein. Das so kreierte Bild allerdings, das die Zeitzeugen an der Wärme – draußen war es kalt, bei manchen Aufführungen fiel Schneeregen – beim offensichtlich gemütlichen, aber unhörbaren Kaffeeplausch abgaben, reflektierte die Widersprüche von selbstvergewissernder Erinnerungskultur, harmonisierender Geschichtsverklärung und Wahrheit- sowie Mythenbildung, in denen sich das Stück selbst auch bewegte.

9

Vgl. z.B. Lutz Niethammer: Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis des »Oral History«. Frankfurt a.M. 1980.

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Nach diesem verheißungsvollen Start verlief die Expedition im Weiteren weniger erfolgreich. Verschiedene Suchmethoden aus der Wissenschaftspraxis und der Wissenschaftsfolklore wie Karte, GPS, Lupe, Spitzhacke und Schaufel kamen zur Anwendung. Gesucht wurde richtig, das heißt, die Brache mehr oder weniger systematisch begangen und eingesammelt, was tatsächlich darauf zu finden war. Es handelte sich um natürliche oder künstliche Objekte – meist jung, darunter viel Abfall –, die dann im Forschereifer als Überreste des Segeroth interpretiert wurden. Erst das gemeinsame Betrachten der Artefakte relativierte deren Bedeutung, so dass das Gelände, auf dem einst der Segeroth gelegen hatte, als eigentliche Schutthalde erschien, was der kolportierten Vorstellung von realen und imaginären Schichten, die sich über der historischen Wahrheit gebildet hatten, entsprach. Die wertlosen Fundstücke wanderten ins Feuer. Nach dem Misslingen dieses und aller weiteren Versuche, auf dem Gelände etwas Substanzielles zu finden, verzweifelten die Figuren zusehends. Ich selbst hatte, nebst dem Redigieren von von Wattenwyls Text, im Zelt die ganze Zeit über in Büchern gelesen und vorgegeben, alte Berichte anderer Expeditionen zu studieren. An passenden Stellen las ich entsprechende Texte vor, die sich auf die eigene, wechselnde Lage beziehen ließen. Sie waren nur scheinbar zitiert, ich hatte sie selbst geschrieben. Sie lauteten zum Beispiel so: »Alles hat einen guten Anfang genommen. Voller Zuversicht gehen wir ans Werk, und erste Erfolge stellen sich ein. Wir haben Kontakt mit dem Unbekannten aufgenommen. Fenster zur Vergangenheit öffnen sich, und unser Blick fällt auf das, was wir nicht sind, das ganz Andere. […] Die Sache gestaltet sich schwieriger als gedacht. Woran soll man sich halten? Woran glauben? Was wir versuchen zu finden, entzieht sich uns. Was wir zu erkennen hofften, bleibt verborgen. Und was offen zu Tage liegt, ist nicht das Erhoffte, sondern das Immergleiche. Nebel ziehen auf. Um uns ein Dickicht. […] Wir stecken in den größten Schwierigkeiten. Dem ganzen Unternehmen droht das Scheitern. Nichts ist ja auf die Dauer entmutigender als fortwährender Misserfolg.«10

An diesem Punkt der Handlung stürmten die Akteure ins Zelt, erklärten die Zeit der Bücher für beendet, nahmen sie mit und warfen sie ins Feuer. Nur wenige hundert Meter vom Spielort, am Gerlingplatz, hatte am 21. Juni 1933 die Bücherverbrennung der Deutschen Studentenschaft stattgefunden. Um der fortgeschrittenen Verzweiflung Ausdruck zu verleihen und entgegenzuwirken, hielten Anna-Lisa Ellend, Albert Liebl und Lars Studer dann je einen Monolog mit aufwändigem Vorgang. Ellend fand, als letztes Artefakt, die Tonaufzeichnungen aller in der Recherche ge-

10 Schauplatz International: Materialien aus »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt«. April 2006, persönliches Archiv.

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führten Interviews. Sie versuchte, sich den Inhalt – es handelte sich um mehrere Stunden Material – binnen weniger Minuten anzuhören und komplett wiederzugeben. Ein Unterfangen, an dem sie ebenso scheitern musste wie Liebl, der dasselbe aus der Erinnerung zu tun versuchte, dabei unter großer Anstrengung eine Grube aushob, Erdschicht um Erdschicht freilegend, und so dem Willen Ausdruck verlieh, nichts in Vergessenheit geraten zu lassen. Unterdessen hatte Lars Studer begonnen, den Segeroth nachzubauen, und zwar einerseits so, wie er ihn sich aufgrund der Erzählungen historisch vorstellte, andererseits gleichzeitig so, wie er ihn sich idealiter, seinen Wertvorstellungen gemäß, wünschte. Studer verwendete zu diesem Zweck Feuerwerkskörper, besonders Rauchbomben, um »Tabula Rasa« machen und einen von der Vergangenheit unbelasteten Entwurf realisieren zu können. Dann stellte er große Lattengerüste auf, die – Bauprofilen ähnlich – die Umrisse des abgegangenen Stadtteils zeigten. Dazu platzierte er Schaufensterpuppen, um einzelne Bewohner anzudeuten. Der Aufbau dauerte einige Zeit, war sichtbar anstrengend und umständlich, doch am Ende stand eine ganze Gasse als Kulisse da. In diesem auferstandenen oder vorgestellten Segeroth spielten die Akteure dann kurze, im kollektiven Gedächtnis mit dem Quartier verbundene Szenen, wie zum Beispiel einen Spielmannszug oder die Durchfahrt Adolf Hitlers. Dabei verschwammen die Grenzen zwischen Figuren und Akteuren zunehmend; die künstlerische Verzweiflung, dem Untersuchungsgegenstand nicht näherkommen zu können, wurde zur Verzweiflung der Figuren, die ihre Expedition scheitern sahen – und umgekehrt. Im Moment der größten Ausweglosigkeit kündigte sich allerdings die Ankunft des Investors per Helikopter an. Laute Rotorengeräusche ertönten, die Forscher bereiteten die Landung vor. (Abb. 2) Doch anstatt selber zu erscheinen, warf der Investor ein Denkmal ab, das an die verschwundene Stadt erinnern sollte. Von seinem Projekt, auf der Brache einen Segeroth-Park zu errichten, schien er Abstand nehmen zu wollen. Die Expeditionsteilnehmer weigerten sich, das abgeworfene Denkmal zu enthüllen, dies als Anspielung auf die komplizierte, nicht enden wollende Entstehungsgeschichte der Gedenkstätten für die Deportierten am Hauptbahnhof und der Universität Essen. Als letztes Mittel, halb aus trotziger Empörung über den Verlauf des Abenteuers, halb in der Hoffnung, doch noch etwas retten zu können, riefen die Akteure eine Jagd auf die großen Mythen des Segeroths aus. Die Mythenjagd bestand im Wesentlichen darin, einen Fahnenträger mit verschiedenen Emblemen aus der Geschichte des Segeroths vor dem Publikum durch laufen zu lassen und ihn mit einem angedeuteten Schuss zur Strecke zu bringen. Ein Statist gab, angetrieben von Lars Studer, in mehreren Anläufen das Wild und trat dazu mit folgenden Flaggen auf: einem Reichsbanner, einer roten Fahne, einer Fahne mit den Ringen des Firmenemblems von Krupp, einem Schaukreuz für das verschwundene Marienkloster im Segeroth, einer Hakenkreuzfahne, einem Transparent mit der Aufschrift »Arbeiterkinder an die Uni« und einer Fahne des Projekts Kulturhauptstadt »Ruhr.2010«. Nach erfolgreicher Jagd bewegten sich Ellend, Liebl

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und Studer in den Hintergrund. Ich kletterte die kleine Böschung zur Mauer empor und trat an das Publikum heran. Zum ersten Mal an diesem Abend sahen die Zuschauer und Zuschauerinnen einen Menschen von nah. Unterwegs versuchte ich, das Dilemma des Abends in Worte zu fassen. Ich beschrieb die Schwierigkeit, sich auf dem Gebiet zwischen Mythos und Realität zu bewegen, sprach von der eigenen Faszination für die Geschichte des Segeroths, dem Wunsch, sich selbst als in einer moralisch integren Tradition stehend betrachten zu dürfen. Die Verzweiflung der Akteure entstehe aus der Enttäuschung darüber, das, was einem wichtig sei, in einem Mythos symbolisiert zu sehen und diesen wiederum selbst symbolisieren zu müssen. Darum hätten die Protagonisten – und damit waren sowohl die Spieler und die Spielerin als auch ihre Figuren gemeint – die Orientierung und vielleicht den Kopf verloren. Ein Schicksal, das viele Expeditionen ereilt habe. Die Rede war frei gehalten und veränderte sich von Aufführung zu Aufführung. Danach ging ich zu den anderen nach hinten. Dort, im Unterholz, begannen wir damit, in aller Ruhe Pflanzen zu bestimmen, und entfernten uns, indem wir immer tiefer in die Brache hineingingen und in der Dunkelheit verschwanden. Das Publikum stieg wieder in den Bus und wurde zum Grillo Theater zurückgefahren. Unterwegs bekam es noch einmal ein Video zu sehen. Es zeigte die Mitglieder von Schauplatz International in einer Menschenmenge in der Fußgängerzone. Der Bürgermeister hielt im Hintergrund eine Rede, im Vordergrund wurde den Schauspielern und der Schauspielerin zum Gelingen ihres Projekts gratuliert. Sie waren als jene Forscher zu erkennen, denen man soeben beim scheinbaren Scheitern ihrer Expedition zugesehen hatte. Tatsächlich hatte kurz vor der Premiere das Ruhrgebiet den Zuschlag für das europäische Kulturhauptstadtjahr 2010 erhalten. Die Mitglieder von Schauplatz International hatten sich beim öffentlichen Festakt unter die Menschen gemischt. Im Zusammenhang mit der Ausgangssituation des Stücks ergab sich so der Eindruck, der Investor habe, nach den letzten Geschehnissen auf der Brache, die Expedition nicht als missglückt taxiert und sein Projekt schließlich doch noch realisiert. Diese Wendung trug wohl dazu bei, dass das »Spiel von Kunst und Fake, Mythos und Wahrheit«11 in die »Irre« führte, wie Teile der Presse später schrieben: »›Schauplatz‹ haben in der Tat präzise recherchiert, um mit dem Mythos Segeroth aufzuräumen. Nicht jeder hatte darum gebeten.«12 Andere begrüßten die gewählte Art, mit dem offensichtlich sensiblen Thema umzugehen, und resümierten: »Die

11 Britta Helmbold: Den roten Segeroth gibt’s nicht mehr. In: Ruhr Nachrichten, 4. Mai 2006. 12 Mersch: Expedition führt in die Irre.

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Suche nach dem Segeroth führt am Ende zur eigenen Vergangenheit, den Bildern im Kopf.«13

2.2 E XPEDITION

AN DEN

R AND

DER

W ELT

Das Stück »Expedition an den Rand der Welt« wurde mehrmals an verschiedenen Orten aufgeführt. Die fünf Vorstellungsreihen in Essen, Bern, Zürich, Biel und Berlin unterschieden sich alle voneinander, und zwar zum Teil erheblich. Im Folgenden wird hauptsächlich die Zürcher Fassung vom Mai 2008 besprochen. Erstens war sie die vielleicht vielschichtigste, zweitens setzt sie sich mit der schweizerischen Landschaft als zwischenstädtischem Phänomen14 auseinander und drittens ist sie am besten dokumentiert. Anfänglich wurde das Projekt »Expedition an den Rand der Welt« einerseits durch das Interesse von Schauplatz International an liminalen Räumen initiiert, andererseits durch das Interesse des Schauspiels Essen an Schauplatz International. Die Gruppe wurde eingeladen, einen szenischen Beitrag zu einer Veranstaltungsreihe beizusteuern, die sich im November 2007 mit dem Thema »Schwarmintelligenz« befasste.15 Der Begriff »Schwarmintelligenz« ist eine der zoologischen Verhaltensforschung entnommene Metapher für Formen kollektiver Intelligenz. Systeme werden als »intelligente Schwärme« bezeichnet, wenn ihr Verhalten eine Rationalität erzeugt, die über die Rationalität der Individuen, aus denen sie bestehen, hinausgeht, das heißt, sie ein überindividuelles funktionales Verhalten zeigen. Zustande kommt dieses Verhalten durch wenige einfache Regeln, an die sich jedes Schwarmmitglied hält, zum Beispiel der Beibehaltung eines immer gleichen Abstands zum Nebenindividuum. »Schwarmintelligenz« wurde in der kulturtheoretischen Debatte in den letzten Jahren zu einem beachteten Topos, nicht zuletzt deshalb, weil er sich sowohl zur Beschreibung politischer Aktionsformen als auch zu deren Propagierung zu eignen schien und sich einer utopistischen Aufladung nicht verschloss. Von diesem Impetus war auch das Essener Symposium geprägt, das sich darüber hinaus auch um eine künstlerisch-praktische Erprobung des Konzepts bemühte. Diese Aufgabe sollte die »Expedition an den Rand der Welt« erfüllen. Die formale Setzung von Schauplatz International orientierte sich demnach auch am gegebenen Rahmen, in den die

13 Joeres: Expedition zu einer Legende. 14 Vgl. Kapitel 5.5. 15 Vgl. Schwärme. Die Stadt ist mehr als die Summe ihrer Einwohner. Faltblatt. www.planb-kulturprojekte.de/Programme/Schwaerme_Programm.pdf (11. April 2011).

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Gruppe umso besser zu passen schien, als sie von außen als Kollektiv und ihre Arbeit folglich als eine Variante von »Schwarmintelligenz« wahrgenommen wurde.16 Die Stadt Essen und das umgebende Ruhrgebiet eigneten sich in vielerlei Hinsicht als Forschungsfeld im Hinblick auf die Untersuchung des Phänomens der Liminalität. Liminale Orte sind Räume, die sich durch ihren transitorischen Charakter auszeichnen, die einen Rand markieren und deren Funktion sich darauf beschränkt, Orte zwischen anderen Orten zu sein. Das Ruhrgebiet ist, wie wenige andere Gebiete Europas, geprägt von seiner jüngeren Geschichte, was dazu führt, dass es voller geographischer, raumplanerischer und architektonischer Verwerfungen ist. Maßgeblich für das Aussehen und die innere Struktur des Ruhrgebiets sind besonders die im 19. und 20. Jahrhundert ebenso rasch wie ungebändigt erfolgten Industrialisierungs- und Deindustrialisierungsprozesse ganzer Landstriche, wobei der Montanindustrie eine entscheidende Rolle zukam, einem Wirtschaftszweig also, der erheblich in die Gestaltung von Landschaften und Lebensräumen eingreift. Als Zentrum von Bergbau, Stahl- und namentlich Rüstungsindustrie wurde das Ruhrgebiet zu einem strategischen und politischen Kerngebiet in beiden Weltkriegen, was besonders im und nach dem Zweiten zu fast flächendeckender Zerstörung führte. Parallel dazu hinterließen die großen sozialen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich im Ruhrgebiet deutlicher und konfrontativer als andernorts manifestierten, tiefe Spuren. Von diesen historischen Brüchen und Diskontinuitäten ist das Gebiet geprägt.17 Überlagert werden sie von den Resultaten einer städtebaulichen Entwicklung, anhand derer zum Beispiel das landschaftstheoretische Konzept der Zwischenstadt überhaupt erst entwickelt worden ist.18 Für die Erfassung beider Erscheinungsformen von Landschaft im Ruhrgebiet, die stratifikatorisch zerklüftete und die homogenisierend zwischenstädtische, schien der Referenzbegriff »Liminalität« geeignet. Der Terminus bezieht sich auf das lateinische Wort »limen«, das »Schwelle« bedeutet. Der französische Ethnologe Arnold van Gennep hat den Begriff der Schwelle in seinem Hauptwerk »Übergangsriten«, im Original »Les rites de passage«, 1909, für die Analyse von Ritualen eingeführt.19 Er beschrieb damit funktionalistisch bestimmte gesellschaftliche Praktiken, die zur Vergegenwärtigung und Verarbeitung von Übergängen, Veränderungen und Brüchen im Gemeinschaftsleben von Menschengruppen dienen. Von diesen Veränderungen gehe eine Bedrohung für

16 Vgl. Kapitel 2.5.2. 17 Vgl. z.B. Roland Günter: Im Tal der Könige. Ein Handbuch für Reisen zu Emscher, Rhein und Ruhr. Essen 2000. 18 Vgl. Thomas Sieverts: Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land. Gütersloh, Berlin, Basel, Boston 2005. Und Kapitel 5.5. 19 Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passage). Frankfurt a.M. 2005.

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die herrschende Gesellschaftsordnung aus, weshalb den Übergangsriten die Funktion zukomme, die Dynamik des gesellschaftlichen Lebens zu kontrollieren und die herrschende Ordnung aufrechtzuerhalten. Übergangsriten garantieren insofern die Kohäsion einer Gesellschaft. Sie finden, so Gennep, in drei verschiedenen Phasen statt, deren eine die Schwelle ist. Diese Beobachtungen hat Victor Turner, ebenfalls Ethnologe, aufgegriffen und zu einer komplexen Theorie sozialer Veränderungsprozesse ausgebaut.20 Von den Absolventen der Schwellenphase eines Übergangsrituals spricht Turner als eigenen liminalen Wesen, von »liminaries«,21 und definiert sie unter anderem über die strukturelle Negativität völliger Besitzlosigkeit. Neben materiellem Eigentum entbehre dieses Wesen aller personenhaften Attribute wie Name, Stimme und Geschlecht, sei symbolisch tot und gelte den anderen als unrein. Dadurch entstünden aber auch vermeintliche Zeiträume der Freiheit und alternative Formen individueller und kollektiver Selbst- bzw. Fremdwahrnehmung. Die Liminalität selbst steht demnach theoretisch jenseits vertrauter Raum- und Zeitbegriffe. Sie ist das große Außerhalb von allen Hierarchien des sozialen Lebens, die sie in der Inversion jedoch dialektisch stützt und begründet. Gerade in der behaupteten Auflösung aller Grenzen und Differenzen, respektive in der umfassenden Ausweitung von Grenzräumen – mithin also im Verschwinden politischer Konturen – liegt das eigentlich Politische der Liminalität als Herrschaftsausübung. Dieses Konzept des Transitorischen ist in jüngeren kultur- und kunsttheoretischen Debatten, nicht zuletzt im Zuge des Spatial Turn,22 auf Räume übertragen worden.23 Liminale Räume sind demnach konkrete geographische oder architektonische Einheiten, deren bestimmende Eigenschaft die Indifferenz ist, gleichgültig, ob sie irgendwo am Rand oder mitten im Zentrum auftreten, wie etwa die Soziologin Sharon Zukin für ganze Städte nachweist.24 Die Ausweitung des Liminalitätsbegriffs auf räumliche Kategorien geschah nicht zuletzt unter dem Einfluss des Gedankengebäudes des französischen Ethnologen Marc Augé. In »Orte und Nicht-

20 Vgl. Victor Turner: Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M. 2005. Und Victor Turner: Liminal to liminoid, in play, flow, and ritual: An essay in comparative symbology. In: Victor Turner: From ritual to theatre. The human seriousness of play. New York 1982, S. 20-60. Und Victor Turner: Variations on a Theme of Liminality. In: Sally Falk Moore, Barbara G. Myerhoff: Secular Ritual. Assen 1977, S. 36-52. 21 Turner: Variations, S. 37. 22 Vgl. Kapitel 3.3. 23 Vgl. z.B. http://liminalspaces.org/ (11. April 2011). 24 Sharon Zukin: The Cultures of Cities. Cambridge 1995.

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Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit«25 entwarf er in den 1990er Jahren eine Theorie von Orten, die das eigentliche Gegenteil von Orten in anthropologischem Sinn sind: Nicht-Orte sind anonym, übersteigert funktional oder komplett disfunktional, leiden an Über- oder Unternutzung und sind vollständig technologisiert oder kommodifiziert. Orte, die sich durch diese Art von Gleichförmigkeit und Gleichgültigkeit als Nicht-Orte qualifizieren, stellen, so Augé, Individualität und Identität infrage und markieren damit das Ende der politischen Subjektivität. Einen ähnlichen Gedanken formulierte der Geograph Edward Relph in »Place and Placelessness«,26 wo er die völlige Loslösung des Sozialen vom Geographisch-Architektonischen konstatierte. Augé wiederum bezieht sich mit seinem Interesse für Identität und Subjektivität als Anthropologe, der er auch ist, auf ein am Menschen orientiertes Maß, das Orten im herkömmlichen Sinn eigen sein soll, Nicht-Orten jedoch fehlt. Wie Orte und Nicht-Orte aussehen, welche Bedeutung sie haben und zu welchem Zweck sie errichtet werden, weshalb, weshalb so und vom wem, sagt also etwas darüber aus, was unter dem »menschlichen Maß« und damit unter »dem Menschen« schlechthin gegenwärtig zu verstehen ist. Was der Mensch ist, oder wer, das ist eine der entscheidenden Fragen im Hinblick auf die Analyse der Beschaffenheit von Gesellschaften und ihrer Herrschaftsverhältnisse, weshalb die Auseinandersetzung mit dem Liminalitätsbegriff für Schauplatz International über einen raumtheoretischen Ansatz hinausging. In dieser politischen Dimension traf sich das Konzept mit jenem der Schwarmintelligenz und dessen politisch-utopischem Gehalt. Die Vorstellung von Menschen, die sich in Liminalräumen oder Nicht-Orten aufhalten, nähert sich jener Figur des »homo sacer« – »sacer« im lateinischen Doppelsinn des Wortes: frei und ausgestoßen –, die Giorgio Agamben in »Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben«27 als die Verkörperung des »nackten Lebens« beschreibt. Nach Agamben wird das nackte Leben durch den Ausnahmezustand erzeugt. Im Ausnahmezustand, den zu verhängen als ultimativer Akt der Souveränität gelte, setze der moderne Staat das Recht außer Kraft und schaffe rechtsfreie Räume. In den Konzentrations- und Vernichtungslagern des Nationalsozialismus sieht Agamben die extreme Form dieser Produktion von Liminalräumen zwischen Leben und Tod. In ihnen gehe der Staat dazu über, das biologische Leben zu seiner direkten Aufgabe zu machen, indem er es töte. Im »Schwellenraum der

25 Marc Augé: Orte und Nicht-Orte: Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt a.M. 1994. 26 Edward Relph: Place and Placelessness. London 1980. 27 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M. 2002.

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Ununterschiedenheit«,28 so Agamben, würden alle Differenzen aufgelöst, Menschen würden zu reinem biologischem Leben. Die Ursachen hierfür findet Agamben in der Gründungsakte der Moderne, der Erklärung der Menschenrechte von 1789. Sie schreibe die entscheidende Voraussetzung für die Spaltung zwischen »Mensch« und »Bürger«, zwischen dem Humanitären und dem Politischen fest: Dem nationalen Staat als dem neuen Subjekt der Souveränität sei die Möglichkeit zugewachsen, jederzeit eine normative Unterscheidung zu treffen zwischen denen, die dazugehören und politisch partizipieren, und denen, die dies nicht tun dürfen. Ausgerechnet der Mensch also, dem die besondere sozio-politische Identität als Bürger – das Auslassen der weiblichen Form ist gewollt – geraubt wurde, wird nach Agamben nicht länger als Mensch betrachtet und behandelt. Das sei das Paradox oder – mit Horkheimer und Adorno – die Dialektik der Aufklärung. Folgt man Agambens Überlegungen, sind Räume – im Besonderen liminale – Orte, an denen sich dieses Paradox manifestiert: »Was Agamben im Hinblick auf die historische Entwicklung der letzten 200 Jahre als Herrschaftsform des modernen bürgerlichen Staates beschreibt, wird in dessen behaupteter Krise immer mehr zur Strategie außerhalb von ihm selbst. Was geschieht mit souveräner Macht, wenn sie nicht mehr oder nicht mehr ausschließlich vom Nationalstaat ausgeübt wird, sondern sich in Zeiten der Globalisierung als allgemein gebräuchliche Form der Herrschaftsausübung verbreitet, mithin privatisiert? Agamben zeichnet ein Bild der Welt, das die euphemistische Miniatur des globalen Dorfs konterkariert. Postmoderne Transiträume und Wohncontainer, (Über-)Lebensprovisorien, Konzentrations- und Flüchtlingslager, Grenzen – mit einem Wort: Liminalräume – sind Paradigma und Konsequenz der abendländischen Politik des Raumes seit der Antike und verschärft seit der Erfindung der Moderne. Wer aber führt diese Aufgabe fort, wenn sie der Nationalstaat, wie behauptet wird, nicht mehr übernimmt?«29

Ausgehend von solchen Überlegungen versuchte Schauplatz International eine für die Beschreibung liminaler Orte adäquate szenische Form zu finden und einen Beitrag zum gesetzten Thema »Schwarmintelligenz« zu leisten. Heraus kam ein Stück, das Theater an den Rand seiner Auflösung führen und es so als einen liminalen Ort in sich selbst kennzeichnen sollte. Im Laufe der Arbeit stellte sich nämlich heraus, dass sich das Phänomen »Liminalität« nicht auf eine den jeweiligen Orten eigene Qualität, sondern weitgehend auf deren Beschreibung bezieht, das heißt, Orten können verschiedene interpretative Qualitäten zukommen, deren eine die Liminalität sein kann. Gerade durch die Untersuchung liminaler Orte verlieren diese aber

28 Agamben: Homo sacer, S. 183. 29 Schauplatz International: Botenberichte – Tour de Liminalité (Arbeitstitel). Konzeptbeschrieb. Bern, Biel, Berlin Februar 2007, persönliches Archiv.

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ihren liminalen Charakter und werden zu einer Art Zentrum des Interesses – ein sprechendes Beispiel für die immer wieder zu beobachtende gegenseitige Abhängigkeit des untersuchenden Subjekts und dessen Gegenstandes.30 Was geschah während der Vorstellungen von »Expedition an den Rand der Welt«? In Essen – die Aufführung fand am 09. November 2007 statt – schwärmten die Mitglieder von Schauplatz International zum Zeitpunkt der Vorstellung aus, allein und nur mit einem Mobiltelefon ausgerüstet. Sie begaben sich an zuvor ausgesuchte liminale Orte: Verkehrswege, Indoorskihallen, Gemeindegrenzen, kulissenhafte Architektur, Friedhöfe. Das Publikum wurde aus dem Schauspiel Essen hinaus und in einen nahe gelegenen Tagungssaal im Hotel Essener Hof hinein geführt. Der Raum war praktisch leer. Nur ein Beamer und ein Computer standen im Raum, bedient von zwei Mitarbeiterinnen des Theaters, unter anderem von Katja Grawinkel, die das Stück weiter begleiten sollte, es wissenschaftlich analysierte und später zur Produktionsleiterin der Gruppe für Deutschland wurde.31 In einer Ecke waren wenige zusammengeklappte Stühle stehen geblieben. Die Funktion des Saals war nicht klar zu erkennen, in ihm schien alles Mögliche stattfinden zu können – wenn auch wenig darauf hindeutete, dass überhaupt etwas geschehen würde. Durch diese funktionale Entleerung kam dem Raum eine liminale Qualität zu, weil er sich als Gefäß präsentierte, in dem alles Mögliche geschehen konnte, also auch nichts. Die Mitglieder von Schauplatz International, wiederum Expeditionsteilnehmer genannt,32 sandten nun mittels SMS, Fotos, Tonaufzeichnungen und kurzer Videos Botenberichte aus den liminalen Räumen, in denen sie sich befanden. Idealerweise hatten sie Letztere davor zwar ausge-, aber noch nie besucht, so dass die einzige präliminale Information, die die Expeditionsteilnehmer hatten, darin bestand, wann die Vorstellung begann und wann sie endete. Manche der besuchten Orte waren den Akteuren allerdings bereits beiläufig bekannt. Ellend zum Beispiel hielt sich während einer Vorstellung in einem Holzhäuschen des Weihnachtsmarkts mitten in der Essener Fußgängerzone auf. Zwar gab es eine Absprache über den Verlauf der Text- und Bildproduktion, primär reagierten die Expeditionsteilnehmer aber unvoreingenommen auf das, was sie sahen. Die eingehenden Nachrichten wurden mittels Computer und Beamer für das Publikum sichtbar gemacht, ohne dass sonst irgend etwas geschah. Über eine Stunde lang herrschte im Saal Stille, einzig unterbrochen durch die Tonspuren der kurzen Videoaufnahmen aus den Tiefen der liminalen Räume. Grawinkel beschrieb die Stimmung im Saal wie folgt:

30 Vgl. Kapitel 1.1. 31 Vgl. Katja Grawinkel: Theatrale Zwischenräume. Eine Analyse am Beispiel von »Expedition an den Rand der Welt« von Schauplatz International. Bachelorarbeit, unveröffentlicht. Düsseldorf 2008. 32 Vgl. Kapitel 2.1.

36 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER »Viele Zuschauer verließen den Abend ratlos, ein Kritiker rauschte wütend davon. Niemand konnte nach diesem Theaterabend so recht sicher sein, was er da gesehen und welche Rolle er selbst dabei gespielt hatte. Die Stimmung während der Aufführung war dagegen faszinierend. Es hatte die ganze Zeit über konzentrierte Stille geherrscht, obwohl es kaum einen institutionellen Rahmen gegeben hatte, der die Menschen zum Schweigen gezwungen hätte.«33

Die auf zeitgenössische Kommunikationstechnologie gestützten Meldungen bezeichnete Schauplatz International als »Botenberichte«. Zwar erfreuen sich »postalische Metaphern«34 in der aktuellen Medientheorie allgemein großer Beliebtheit,35 die Gruppe bezog sich mit der Wortwahl allerdings explizit auf eine dramaturgische Terminologie und ein bewährtes dramatisches Stilmittel. Bereits Euripides setzt es in »Die Bakchen«36 ebenso ein wie später Schiller im »Wallenstein«,37 worüber Gustav Freytag im dritten Kapitel seiner »Technik des Dramas« von 1863 Auskunft gibt: »Am nächsten den Monologen stehen die Botenberichte unserer Bühne; wie jene das lyrische, so vertreten sie das epische Element. […] Da sie die Aufgabe haben, eine zugunsten ihrer Aufnahme bereits erregte Spannung zu lösen, so muss die Wirkung, welche sie in den Gegenspielern des Vortragenden oder vielleicht gar in ihm selbst hervorbringen, sehr sichtbar werden. […] Schiller, der Botenberichte sehr liebt, gibt Beispiele in Menge, sowohl zur Lehre als zur Warnung. Der Wallenstein allein enthält eine ganze Auswahl derselben. In den schönen Musterstücken: ›Es gibt im Menschenleben‹ und ›Wir standen keines Überfalls gewärtig‹ hat der Dichter zugleich die höchste dramatische Spannung an die epischen Stellen geknüpft. […] Daneben hat dies Drama aber andere Beschreibungen, z.B. den böhmischen Becher, das Zimmer des Sterndeuters, deren starke Kürzung oder Entfernung bei der Aufführung wohltut.«38

In der Kanonisierung Freytags ist der Botenbericht ein typisches Strukturelement des so genannten geschlossenen Dramas. Er wahrt die drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung auf der Bühne und ermöglicht gleichzeitig eine Erweiterung des Geschehens über die Grenzen der drei Einheiten hinaus. Darin ist er der Mauerschau ähnlich, wobei diese gegenwärtige, der Botenbericht vergangene Ereignisse be-

33 Grawinkel: Theatrale Zwischenräume, S. 4. 34 Grawinkel: Theatrale Zwischenräume, S. 23. 35 Vgl. z.B. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a.M. 2008. 36 Euripides: Die Bakchen. Stuttgart 1968. 37 Friedrich Schiller: Wallenstein I und II. Stuttgart 1963/1964. 38 Gustav Freytag: Die Technik des Dramas. Stuttgart 1993, S. 194.

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schreibt. Beide dienen dazu, Figuren und Publikum über Ereignisse in Kenntnis zu setzen, die nicht direkt auf der Bühne dargestellt werden, für den Fortgang der Handlung aber von Bedeutung sind. Ihre über die dramaturgische Notwendigkeit hinausgehende Bedeutung erhalten Botenberichte nicht zuletzt durch diese Tatsache: durch das Privileg, von der eigentlichen, entscheidenden Wirklichkeit, von den Dingen dort draußen zu sprechen. Der Ort, an dem der Bericht kundgetan wird, verwandelt sich umgehend in einen Raum des Unbestimmten, in welchem sich die Beteiligten in einem Zustand zwischen Ignoranz und Wissen befinden. Insofern reflektieren Botenberichte auch immer das zerrüttete Verhältnis von Wahrnehmung und Wirklichkeit, gerade auch im Hinblick auf deren Manipulation. Von dieser Umkehrung lebte die »Expedition an den Rand der Welt« wesentlich. Botenberichte sind in ihrer herkömmlichen Verwendung vor allem Mittel zum Zweck. Darin ähneln sie strukturell liminalen Räumen, die ihre Bedeutung auch nicht aus sich selbst heraus beziehen. Diese Hierarchie drehte sich in dem Stück von Schauplatz International um. Periphere Räume wurden inhaltlich ebenso ins Zentrum gerückt, wie die Botenberichte dramaturgisch, indem sie zu dem Element wurden, aus dem das Stück gänzlich bestand. So machten sie das Abwesende zum eigentlich Anwesenden, und zwar folgerichtig gerade dadurch, dass die Boten, anders als in ihrer dramatischen Tradition, der Bühne fern und an jenem Ort blieben, von dem sie berichten sollten. Die Funktionsweise von Schwarmintelligenz konnte so exemplarisch mitverfolgt werden, denn keiner der Akteure kannte die Wirkung des Gesamten, hielt sich aber an minimale Regeln, so dass ein Gesamtes im Auge der Betrachtenden überhaupt entstehen konnte. Theatertheoretisch bedeutete der Versuch tatsächlich den weitgehenden Verzicht auf alle erprobten szenischen Mittel der Formation. Die Konzentration auf geschriebene Sprache war für Schauplatz International neu, ebenso die situativ praktisch vollständige Auflösung der Gruppe, die Formen des Zusammenspiels nicht mehr möglich machte. Neben diesem Verzicht auf Theater im herkömmlichen Sinn war die Auswahl und Beschreibung der besuchten Orte von entscheidender Bedeutung für das Stück. Die Gefahr bestand darin, der Banalität, welche liminalen Orten häufig eigen ist, so viel Raum zu geben, dass die Beschreibung selbst banal wurde. Verbunden mit der kompletten Ereignislosigkeit vor Ort ergab das für das Publikum eine, je nach Sichtweise, liminale Situation in sich oder pure Langeweile. Die Dominanz zeitgenössischer Technik schien für manche einer ästhetischen Sicht im Weg zu stehen, unter Umständen deshalb, weil die eingesetzten Mittel so alltäglich und gewöhnlich sind, dass sie nicht als ästhetisch verstanden werden können. Wie bei keiner Arbeit von Schauplatz International zuvor hing die Wirkung von »Expedition an den Rand der Welt« von der Bereitschaft der Rezipienten ab, sich mit der Setzung einverstanden zu erklären, die den Rahmen von Theater tatsächlich ausdehnte, um zu einer

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Art Installation zu werden. Mit der Aufhebung der physischen Kopräsenz von Akteuren und Publikum führte das Stück in theatertheoretisch unentdecktes Gebiet, wobei nicht auszuschließen ist, dass die liminale Qualität der Situation die ästhetische fast zum Verschwinden brachte. Das Wissen um diese Problematik prägte danach den weiteren Arbeitsprozess. Das Stück wurde für die Aufführungen in Bern (Abb. 3), Zürich, Biel und Berlin technisch vereinfacht und szenisch verändert. In Bern, wo das Stück in einem Konferenzsaal im Untergeschoss des Hotels Kreuz gezeigt wurde, deutete sich die entscheidende Veränderung erst an, indem für einen kurzen Augenblick der Körper eines Darstellers wieder eingeführt wurde. Irgendwann im Verlauf des Abends, den das Publikum nach wie vor vor einer großen Projektion verbrachte, trat ein Zauberer in den Raum, ließ mit einem kurzen Trick ein Objekt verschwinden und verschwand sogleich selbst wieder. (Abb. 4) Was zuerst als Frage und Kommentar zum Problem von An- und Abwesenheit gedacht war, wurde in der intensiven Probephase für die Zürcher Vorstellungen immer mehr zu einem zentralen Element des Stücks. Bei der Wiederaufnahme der »Expedition an den Rand der Welt« im Fabriktheater in Zürich wurde dem Stück je eine Videosequenz voran gestellt und hinten angehängt. In der ersten waren die Mitglieder von Schauplatz International in einer Probensituation zu sehen. Es handelte sich um eine fingierte Leseprobe des Stücks »AmaZonia« von Misha Williams.39 Es erzählt von der Expedition des englischen Forschungsreisenden Percy Fawcett, der 1925 zusammen mit seinem Sohn auf der Suche nach der untergegangenen Stadt »Z« im Amazonasgebiet verschwand.40 Nach ausführlicher Diskussion verließen drei der vier Schauspieler die Probe mit dem Hinweis, nicht nur die Abenteuer anderer Leute nacherzählen, sondern selber eine Expedition an den Rand der Welt durchführen zu wollen. Durch den historischen Verweis auf die Tradition von Expeditionen und Forschungsreisen mittels Bezug auf den im Amazonas verschwundenen Briten Percy Fawcett rückte nun die Frage nach dem Wesen von Präsenz in den Mittelpunkt. Das am Anfang des Abends stehende Video erklärte das Verschwinden der Expeditionsteilnehmer, die sich darauf beim einzigen Zurückgebliebenen per Telefon meldeten. Sie befanden sich an so genannten Rändern der Welt, die sie, analog zur ursprünglichen Setzung, als solche zu beschreiben hatten. Nach einer bestimmten Zeit stellte der Zurückgelassene – der Dramaturg der Gruppe, dargestellt von mir selbst – als einziger Anwe-

39 Misha Williams: AmaZonia. UA: 15.04.2004, Bridewell Theatre London. www.fawcettsamazonia.co.uk/pdf/AmaZonia %20by %20Misha %20Williams.pdf (11. April 2011). 40 Vgl. z.B. David Grann: Die versunkene Stadt Z, Expedition ohne Wiederkehr – das Geheimnis des Amazonas. Köln 2010.

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sender fest, dass Abwesenheit auf der Bühne tatsächlich ein Problem sein könnte, worauf überraschend drei Stellvertreter auf die Bühne gerufen wurden, die mit den Expeditionsteilnehmern ebenfalls per Mobiltelefon im Kontakt standen. Auf deren Anweisung spielten diese Stellvertreter – Nina Langensand, Thimna Fink und Armin Arnold – stumm kleine Szenen, die aus der Bilderwelt historischer Expeditionen und den gerade stattfindenden Ausflügen stammten. Danach verließen sie die Bühne wieder und die Expedition nahm ihren Lauf. Gegen Ende des Stücks wurde ein zweites Video eingespielt. Der Dramaturg nahm eine Kamera, ging in ein Zelt, das auf der anderen Seite der Bühne stand, worauf eine Einspielung zu sehen war, in der die Expeditionsteilnehmer in diesem Zelt sitzend einen Zürcher Künstler, Daniel Binggeli, über dessen Leben befragten. Der Künstler wurde als eine Art Eingeborener vorgestellt, der durch sein Leben in prekären ökonomischen Verhältnissen eine Existenz am Rand der Welt führe. Noch gesteigert wurde dieses intendierte Durcheinander von An- und Abwesenheit durch die Verwendung einer Webcam. Am Ende des Stücks wurde die Kamera live abgerufen; sie zeigte einen der Schauspieler an jenem Ort, an dem er sich ständig aufgehalten hatte. Noch eine weitere Wendung ergab sich nach dem Applaus durch die Einblendung einer LiveBerichterstattung der Aufführung, die Katja Grawinkel während der Vorstellung geschrieben hatte und in der Art eines Live-Tickers auf dem Internet unter www.kulturblog.ch, dem damaligen Blog des als »rb« firmierenden Kulturjournalisten Rico Bandle, publiziert worden war. Der Text beschreibt, mit allen in der Eile entstandenen Schreibfehlern, den Abend und seine Wirkung genau und wird darum hier in voller Länge zitiert:

»6. MAI 2008 von rb @ 19:54_Live-Theaterkritik: Schauplatz International im Fabriktheater. In wenigen Minuten gehts los mit der ›Dritten Expedition an den Rand der Welt‹ von Schauplatz International. Um der Live-Kritik zu folgen, ist es nötig, die Seite alle paar Minuten zu aktualisieren; am einfachsten geht das, indem man auf den Aktualisieren-Knopf klickt, je nach Browser sieht er so oder so aus. Damit übergebe ich an Katja Grawinkel, der LiveTheaterkritikerin von heute Abend: 20:06 eine Leinwand, opulentes Technikpult, Videokamera mit allem drum und dran. so weit nichts neues auf theater-bühnen heutzutage… 20:08 Dann kommt eine Botin in Ledersandalen, bringt eine DVD und wir sehen – ja wen? Vier Schweizer unterhalten sich in gebrochenem Englisch über einen ominösen Forscher, ein baby schreit im Hintergrund. Worum geht es also? Das wissen diese vier selbst noch nicht, sie streiten noch. 20:10 Percy Forcett. Darum geht es hier. Seine Expedition ins Amazonas-Gebiet, inzwischen Legende. UNd dieser Percy, den kennen wir nur aus dem Roman seines Sohnes (Wahrheitsgehalt ca. 10 Prozent, großzügig geschätzt). Alle, die sich aufgemacht haben, sei-

40 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER nen Spuren zu folgen, sind gescheitert, gestorben und schlimmeres… die einzigen, die sich heute noch für ihn interessieren sind Esoteriker einer Bruderschaft – und die Expediteure von Schauplatz International… 20:14 Ah, wir sind hier doch im Theater. Eine Leseprobe? Das Stück: eines über Percy Forcett und den Rand der Welt. Geschnallt. 20:17 Spaß macht jetzt schon, dass das fancy Englisch ab und zu immer wieder dem Deutschen weichen muss, dass der Techniker im Video (»you stay here«) neben der Leinwand im Halbdunkel sitzt… und dass das Stück nicht gespielt werden kann. Irgendwie muss das ganze mehr »real« werden, man macht sich auf den Weg und der Film ist zu Ende… 20:20 Dafür kommen jetzt SMS – irgendiwe meditativ: dunkle Stille und ab und zu ein sanftes Handy-Piepen, Botschaften woher? vom Rand der Welt… 20:22 Wenn nichts passiert, prangt Percy Fawcett als Handy-Hintergrundbild auf der Leinwand – und es passiert länger nichts, dann summt das Telefon wieder: wir lesen vom Dschungel unterm Glasdach am Zürichberg, von Webcams am See (der Rand der Welt ist online, so wie meine Kritik), von Esprit und von Regie-Fehlern… Also doch wieder Theater… 20:26 was mich umtreibt, ist diese Stille hier. Es passiert so wenig. Großer Medienrummel klar, das Handy an den beamer angeschlossen, Nachrichten senden, empfangen, Bilder und Text (dazwischen muss man mich überlaut tippen hören), aber dabei ist es völlig still… Theater ohne Schauspieler, ohne gesprochenen Text, ohne Bühnenbild kann anscheinend trotzdem faszinieren – mich haben sie auf jeden Fall gekriegt mit ihrem Rätsel-Raten über den Rand der Welt 20:29 ein pixeliges Filmchen über die ›white brotherhood‹, die esoterischen Anhänger von Percy Fawcett. Die zeit, die wir mit dem Zuhören und Anschauen der bewegten Bilder verbringen, ist nicht halb so greifbar wie die Zeit des Lesens der SMS-Botschaften. Albert, Annalisa a.k.a. Jane und Lars schreiben ganz schön viel, wo sie sich eigentlich befinden, ist schwer zu sagen… 20:33 In Reihen neben- und hintereinander in einem dunklen Raum zu sitzen und auf eine Leinwand zu schauen, ist ja nun wirklich keine situation, mit der man nicht vetraut wäre. Warum ist das dann so intensiv? 20:34 und noch was: hier erscheinen in einer Tour nachrichten, in denen alles ganz real und super-echt, (ehrlich) geschildert wird, Aber woher wissen wir eigentlich, dass das nicht eine Power-Point-Präsentation ist, die schon vor Wochen vorbereitet wurde? Und der Techniker da unten, der schreibt und liest vielleicht gar keine SMS, der tut vielleicht nur so. Vielleicht ist das ein Statist… 20:36 Vielleicht ist das aber auch großartiges Theater, das irgendwie gar keins ist und trotzdem am laufenden Band Theaterkategorien hinterfragt… 20:38 Huch, mal wieder bewegte Bilder. Indianer von dem Stamm, der angeblich Percy Fawcett getötet hat. Das Video ist kaum zu erkennen, auch weniger interessant, aber am Ende rückt kurz die Kamera ins Bild, alles wieder überaus echt. Das Medium reflektiert sich selbst und so… geht das beim theater auch? Ich habe heute Abend schon den Eindruck.

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20:40 ›Ich wär so gern bei euch‹ schreibt unser Techniker seinen Kollegen und geht… und kommt wieder. 20:41 Licht an, da sind wir plötzlich alle, wie im Kino, wenn beim Abspann das licht wieder angeht, nur ohne Musik. Dafür sitzen da vorne auf einmal viel mehr Leute, als man gedacht hätte, drei Mädels da wo die Bühne sein könnte, und Lesen… 20:44 dieses Lesen, das machen wir alle gemeinsam. Aber schreibt Annalisa alias Jane etwas vom Feuer machen und da vorne holt tatsächlich einer Holz aus einem Eimer (wie sie geschrieben hat) und fängt an, Feuer zu machen… echt. 20:46 hinten auf der Leinwand gibt es jetzt ein bild von annalisa und vorne ein Feuerzeug. Und auch die anderen setzen Stellvertreter ein, geben Anweisungen vom Rand der Welt. Bühnentechnik kommt zum Einsatz, Simulation der Morgensonne beim Aufgewecktwerden am Rand der Welt… Alle, die sich bisher gefragt haben, was das hier für ein theaterstück sein soll, können jetzt aufatmen: da sind Leute, die was spielen! 20:49 Regie-Anweisungen vom Rand der Welt, per SMS. Und es funktioniert, ein Kajak wird durch den Zuschauerraum geschleppt… 20:50 echte schwitzende Körper, ein schmutziges Kajak, direkt vor unseren Augen und der Techniker schreibt immer noch, er wäre lieber dabei, da am Rand der Welt, wo alles echt und real ist und nicht nur Theater… 20:51 würd mich gar nicht wundern, wenn mein Handy gleich auch klingelt (aber das habe ich brav vor der Vorstellung ausgemacht). Die da unten werden jetzt jedenfalls angerufen und telefonieren (oder spielen sie das nur) mit den Expediteuren. Sie erhalten immr noch Anweisungen, das hoffe ich zumindest, warum sollten sie sonst auf einmal wie wild herumlaufen und springen und schreien…? 20:55 da ist schon wieder Percy Fawcett auf der leinwand, aber was zu seinen Füßen passiert ist längst viel interessanter geworden. Findet der Techniker auch: er textet von präsenz. 20:59 Aber Abwesenheit wird unser Thema bleiben. Die eben noch telefoniert haben, verschwinden wieder. Licht aus. Dafür dürfen wir wieder Videos sehen, MMS vom Rand der Welt, oder den Rändern… Dschungel und das innere eines Shopping-Centers… 21:01 Mit Fug und Recht könnten wir von unserem Raum und unserer Situation hier auch ein Video versenden, mindestens so abenteuerlich was hier passiert, wie die Sachen, von denen wir da lesen und ich ahne: das ist kein Zufall… 21:03 Zeit für Beweise. Wir beobachten Lars mit der Webcam (das kann jeder Internetuser auf der Welt grade machen). Der ist echt am See. Ein bisschen Realität auf der Leinwand, dann war der Rest wohl auch echt… aber vielleicht ist das auch egal… 21:06 Aber Gewisseheiten haben hier keine lange Haltbarkeit. Grade haben wir noch ein Video als Beweis gesehen, dafür, dass Lars irgendwo ist (das er hier nicht ist, das glauben wir gerne, das sehen wir ja). Jetzt sehen wir wieder eins: das innere eines zeltes, die Expediteure sitzen zusammen und interviewen einen Bewohner des Randes der Welt. Und ist das jetzt live? Denn unser Freund, der Techniker, ist schließlich grade vor unseren Augen mit der

42 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER Kamera in ein Zelt gekrochen… Das stand schon die ganze Zeit da. Wenn die jetzt alles, die ganze zeit in diesem zelt saßen, dann hol ich den Zauberkasten wieder raus… 21:08 wir lernen: wenn die illusions-maschine Theater auf die medien-gesellschaft trifft, dann kann man solche Begriffe wie Beweis oder Gewissheit getrost in die Tonne treten – dann kann man auch ruhig Romane über Forscher-Väter schreiben, die nur 10 prozent von der Wahrheit enthalten… 21:10 schönes schlusswort – offenbar ist nämlich schluss. wieder licht. ›Ende der Vorstellung‹ steht auf einem Zettel (wie klassisch). und der blog ist plötzlich auf der Leinwand. Ja, richtig. Der, den ich die ganze zeit geschriben habe. live. echt…versprochen. Die ›Dritte Expedition an den Rand der Welt‹ in der Roten Fabrik gibt es nochmal am 7., 8., 13., 14. Mai, jeweils um 20 Uhr!«41

In der besprochenen Aufführung befand sich Lars Studer am Mythenquai in Zürich. Am Ende der Vorstellung sah man ihn durch die dort installierte Webcam winken. Die Anwesenheit der Webcam gab Studer Anlass zu Überlegungen bezüglich der liminalen Qualität seines Aufenthaltsortes, der sich ja am Mythenquai und gleichzeitig, der Übertragung der Webcam-Bilder ins Internet wegen, auf der ganzen Welt befinde. Albert Liebl begab sich in das Einkaufszentrum »Sihlcity«, eine ehemalige Papierfabrik am Rand der Stadt. Der Komplex ist ein Beispiel für die Umnutzung ausgedienter Industriebauten unter teilweiser Beibehaltung originaler Bausubstanz. Die so entstehenden »Einkaufswelten«42 suggerieren einerseits stadt-ähnliche Milieus, ohne dass sie die ereignisoffenen Eigenschaften von Stadträumen tatsächlich aufweisen, weil sie als private, kommerziell ausgerichtete Räume einer funktionalen Repression unterworfen sind. Zu diesem Zweck bedienen sich diese Einkaufswelten andererseits traditioneller dramaturgischer Mittel des Theaters, so dass das architektonische Arrangement als eigentliche Inszenierung verstanden werden muss.43 Anna-Lisa Ellend wiederum gab vor, sich in der Masoala-Halle im Zoo Zürich zu befinden. Die Anlage bildet ein Stück des madagassischen MasoalaRegenwaldes naturgetreu nach. Dort reflektierte sie über das konfliktbeladene Verhältnis von Kultur und Natur, das an solchen Orten zu einer Übereinstimmung zusammenzuwachsen scheine. Im Verlauf der Berichterstattung streute Ellend aber immer mehr Hinweise ein, die darauf schließen ließen, dass sie sich in Wirklichkeit zuhause vor dem Fernseher befand, wo sie Casting-Shows und Reality-TV-Formate konsumierte.

41 www.kulturblog.ch/2008/05/06/live-theaterkritik-schauplatz-international-im-fabrik theater/ (11. April 2011). 42 Vgl. Harun Farocki: Die Schöpfer der Einkaufswelten. Film 2001. 43 Vgl. von Graffenried: Dokumentarfilme im Theater.

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Anders als in den Essener und den Berner Aufführungen wurden die Botenberichte aus diesen liminalen Räumen nicht in einen multifunktionalen Konferenzsaal, sondern in ein Theater übertragen, das zwar auch fast leer, aber doch klar als solches zu erkennen war. Damit stellte das Stück den Anschluss an einen theatertheoretischen Diskurs her, der den Theaterraum in den Worten Fischer-Lichtes als »Zwischen-Raum«,44 als Ort einer »Schwellenerfahrung«, einer »liminale[n] Situation«45 beschreibt. Theaterräume seien, weil sich in ihnen verschiedene Wirkungsund Bedeutungsebenen träfen, auf Transformationsvorgänge ausgerichtet, ohne dass diese Prozesse jemals – da Theater ein ephemeres Phänomen sei – zu einem stabilen Ende kämen. »Durch das […] in den Theaterraum herein geholte Außen zeigt sich, dass dieser nicht etwas Stabiles, Konstantes ist. Stadt, Menschen, Geschichte(n), ja sogar Jahreszeiten und Stimmungen bringen ihn hervor, wenn man ihnen gestattet, hereinzukommen. Die ›Expedition an den Rand der Welt‹ rückt diese veränderlichen Komponenten in den Mittelpunkt der Inszenierung. Gezielt wird hier die Instabilität des theatralen Raumes anvisiert, der eigene Standpunkt innerhalb wird ständig dadurch erschüttert, dass es ein ungewisses Außen gibt, das jederzeit Zutritt hat.«46

Der Berner Rezensent Daniel Di Falco, dem es – obwohl er von »dieser Gruppe« kein »normales Theater« erwartet hatte – insgesamt schwer fiel, »sich einen Reim auf den Abend zu machen«, erfasste den Themenkreis, in dem sich die »Expedition an den Rand der Welt« bewegte, seiner Verwirrung zum Trotz, präzis: »Bekommt man hier vielleicht vorgeführt, wie Theater den Bühnenraum durchbricht? Wie es sich die Welt von draußen auf die Bühne holt, während es sich selber zum Verschwinden bringt? Dass die Peripherie überall und nirgends ist?«47 Die Antwort auf all diese Fragen lautete: Ja.

2.3 S CHENGEN B ORDER O BSERVATION P OINT Auf Einladung der Laura Palmer Foundation Warschau führte Schauplatz International, vertreten durch Albert Liebl, Lars Studer und mich, am 15. Juni 2008 in Warschau die Performance »Schengen Border Observation Point« auf. Die Aktion war

44 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004, S. 305. 45 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 310. 46 Grawinkel: Theatrale Zwischenräume, S. 5. 47 Daniel Di Falco: Generation Leerschlag. In: Der Bund: 13. Dezember 2007.

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Teil der »Finissage«-Veranstaltungsreihe, die den Abbruch des polnischen Nationalstadions begleitete, in welchem die Aufführung stattfand. Das »Zehnjahresstadion«, »Stadion Dziesieciolecia« auf Polnisch, im Warschauer Stadtteil Praga liegt unweit der Weichsel.48 Es wurde 1955 eröffnet, sollte an das Kriegsende 1945 erinnern und bestand in weiten Teilen aus Schutt der nach dem Warschauer Aufstand 1944 zerstörten Gebäude. Es handelte sich um ein großes, zeittypisches Oval mit Fußballfeld und Leichtathletikanlage, das lange Zeit als polnisches Nationalstadion fungierte. Das offizielle Fassungsvermögen betrug 71.008 Plätze, wurde aber regelmäßig überschritten. Außerhalb des eigentlichen Stadions umfasste die Anlage zusätzlich Trainingsfelder, eine Sporthalle, eine Grünanlage, Parkplätze, eine Bushaltestelle und einen Bahnhof. Im »Zehnjahresstadion« trug die polnische Fußballnationalmannschaft ihre Heimspiele aus, daneben gab es Festivals und Konzerte. 1983 las Papst Johannes Paul II. hier eine Messe. Weiter fanden im Stadion die großen Partei- und Propagandaveranstaltungen der machtmonopolistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei statt. Der Bau war folglich einerseits ein Symbol polnischen Selbstbewusstseins, wurde aber andererseits auch als Ort der Besetzung und Unfreiheit wahrgenommen. Nicht zufällig zündete sich hier am 8. September 1968 der polnische Philosoph und Buchhalter Ryszard Siwiec selber an. Anlässlich eines Erntedankfests und in Anwesenheit führender Parteikader und ausländischer Diplomaten protestierte er auf diese Weise gegen den Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei. Siwiec starb vier Tage später an seinen Verletzungen. Obwohl 100.000 Menschen im Stadion anwesend waren, wurde seine Tat erfolgreich vertuscht und erst Jahre später breit bekannt. In den 1980er Jahren wurde das Stadion nach und nach außer Betrieb gesetzt und verfiel. 1989 siedelte sich auf dem ganzen Gelände der so genannte »Jarmark Europa« an, ein riesiger Freiluftmarkt mit mehreren tausend Händlern, viele davon aus Asien und Russland. Sie waren eigentliche »kapitalistische Pioniere« in einem »post-kommunistischen Phantom«.49 Der »Jarmark« hatte nicht nur für die migrantische Unterschicht Warschaus eine enorme ökonomische Bedeutung. Allein 2001 sollen 12 Milliarden Zloty umgesetzt worden sein.50 Ein Teil dieses Umsatzes bestand aus Handel mit illegalen Gütern, so dass der Markt Zeit seines Bestehens von der Schließung bedroht war, die dann aber erst mit dem 2008 einsetzenden Abbruch

48 Vgl. Joanna Warsza (Hg.): Stadium X. A Place That Never Was. A Reader. Warschau, Krakau 2009. www.laura-palmer.pl/Stadium_X_place_that_never_was_-_a_reader.pdf (11. April 2011). 49 Joanna Warsza: A Place That Never Was. In: Warsza: Stadium X, S. 10f. 50 www.das-polen-magazin.de/warschau-jarmark-europa-geschlossen/ (11. April 2011).

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des Stadions Tatsache wurde. An gleicher Stelle entstand seither ein neues, für die Europameisterschaft 2012 vorgesehenes Fußballstadion für 55.000 Zuschauer. Diese Geschichte nahm Schauplatz International zu einem Ausgangspunkt der inhaltlichen Ausrichtung des Projekts. Der andere war Polens damaliger Beitritt zur Schengen-Zone und die Tatsache, dass Frontex, die »europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen«,51 in Warschau ihren Sitz hat. Frontex organisiert und koordiniert die Bewachung der europäischen Außengrenze. Eine ihrer Hauptaufgaben ist es, als illegal taxierte Immigration in die europäische Union zu verhindern. Bis vor wenigen Jahren residierte die Behörde sogar in Sichtweite des Stadions, so dass sich annähernd eine räumliche Überlagerung der beiden Institutionen ergab. Diesen Umstand nahm Schauplatz International auf und verknüpfte ihn mit der theoretischen Überlegung, dass sowohl Stadien als auch Grenzen dazu dienen, nationale Identität zu bilden. Während Stadien aber konkrete architektonische Einheiten sind, erscheinen Grenzen als Produkte der Vorstellung, die auf Verträgen, Symbolen und potenziell auf Gewalt aufbauen. Konkret bestand die Performance »Schengen Border Observation Point« im Wesentlichen aus einem achtstündigen Picknick an einem simulierten Grenzposten. Dieser Grenzposten befand sich auf dem ehemaligen Spielfeld des Stadions. Das Publikum konnte ihn von einem ebenso simulierten Überwachungsposten aus beobachten. Das Stadion stand zu diesem Zeitpunkt unmittelbar vor seinem Abriss. Einige Maschinen und Fahrzeuge waren bereits auf dem Spielfeld geparkt; an manchen Stellen hatte das Gelände den Charakter einer Baustelle. Insgesamt vermittelte die Anlage aber noch einen relativ integren Gesamteindruck und hatte, trotz Bewuchs und Verfall, wenig von ihrer Monumentalität verloren. Die konkrete Situation vor Ort präsentierte sich wie folgt: Im Zuschauerbereich hinter den obersten Rängen des Stadions – auf der so genannten Krone – waren vier Beobachtungsposten eingerichtet. (Abb. 5) Es handelte sich um am Boden mit weißen Steinen markierte Bereiche, zum Teil mit einem kleinen Blechdach versehen, an denen das Publikum Ferngläser und Fernrohre vorfand. Eine Informationstafel beschrieb die Bedeutung der Performance und wies die Zuschauer an, einen bestimmten Bereich des Spielfelds – nämlich den, in dem sich die Darsteller aufhielten – zu observieren. Wieder wurden deren Stimmen mittels Mikroports eingefangen und über Boxen in den Überwachungsstationen wiedergegeben. Durch die Platzierung der Lautsprecher auf der Krone des Stadions ergab sich eine monumentale Geräuschkulisse, die mit der Größe des Stadions korrespondierte, aber in auffälligem Gegensatz zu jener der Darsteller auf dem Spielfeld in etwa 150 Metern Entfernung stand. Die Performer trugen alltägliche Kleidung und taten nebst der akustischen Verstärkung nichts, um besser wahrgenommen zu werden. Tonfall und Ver-

51 www.frontex.europa.eu/ (11. April 2011).

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halten entsprachen den Erfordernissen auf dem relativ kleinen Fleck des Stadiongrunds, auf dem sie sich aufhielten. Die szenische Skalierung, die Größenordnung, in welcher die Darsteller sich bewegten, kontrastierte dadurch deutlich mit den Begebenheiten des ganzen Ortes, wie ihn das Publikum vor Augen hatte. Die Schauspieler hatten auf dem Gelände einen alten grünen Fahnenmast mit Betonfuß gefunden, den sie in die Nähe des ehemaligen Spielfeldmittelpunkts stellten und an dem sie eine EU-Fahne hissten. (Abb. 6) An dem Mast befestigten sie ein weiteres Fundstück aus dem Stadion, eine metallene Schranke, die vermutlich einmal die Durchfahrt am Tor versperrt hatte. Diese einfache Installation erweckte ohne Weiteres den Eindruck einer Grenze. Zur Verfügung stand darüber hinaus eine Kreidemaschine auf Rädern, wie sie verwendet wird, um die Linien des Spielfelds zu markieren. Im Verlauf des Tages zogen die Darsteller immer mehr Linien über die Wiese, so dass, wo sich am Anfang nur ein Strich befunden hatte, später viele waren, ohne dass sie ein geregeltes Muster ergeben hätten. Eine Grenze wurde von vielen anderen überlagert, und wer auf welcher Seite stand, war nicht mehr ersichtlich. Einige der Gespräche fanden so über eine oder mehrere Trennlinien hinweg statt; wollten sich die Akteure bewegen, gingen sie absurd lange Wege, um Linien nicht überschreiten zu müssen und imaginierten Grenzen auszuweichen – oder aber sie überschritten diese, ohne großes Aufheben davon zu machen. Das ehemalige Spielfeld war nicht überall gleich dicht und hoch bewachsen, weil verschiedene Grasarten auf der Fläche vorkamen. Dadurch rollte die Kreidemaschine auf manchen Strecken schlecht, so dass das Grenz- beziehungsweise Linienziehen sichtlich beschwerlich war und manchmal gar nicht gelang. Wo die starke Vegetation die Linien schlecht ersichtlich oder unsichtbar machte, entstand der Eindruck, die Natur sei – ohne Rücksicht auf menschliche Eingriffe – über eine alte Markierung gewachsen. Tatsächlich war jedoch das Gegenteil der Fall, die Natur hatte eine Grenzziehung verhindert. Die Darsteller befanden sich zwischen 12.00 und 20.00 Uhr auf dem Spielfeld. Das Wetter war ohnehin heiß und trocken, durch die besonderen thermischen Bedingungen im Kessel des Stadions stieg die Temperatur auf dem Feld bis weit über 30 Grad. Die Schauspieler hatten einen Sonnenschirm und einen kleinen Grill aufgestellt, auf dem sie Würste brieten, von denen sie sich den ganzen Tag ernährten. Sonst hatten sie nur einige Flaschen Wasser, Tücher und ihre Rucksäcke dabei. Das einzige Requisit, das Natur andeuten sollte, war ein kleiner Spielzeughase aus Plüsch mit Batterieantrieb. Ihn setzten die Darsteller ab und zu in Bewegung, ohne ihm weiter viel Aufmerksamkeit zu schenken. Einen großen Teil des Tages verbrachten sie damit, über Grenzen und ihre Bedeutung, besonders im Zusammenhang mit dem Management der Binnen- und Außengrenzen des so genannten Schengenraums, über die Konstruktion nationaler Identität und die Bedeutung der Europa-Fahne zu sprechen. Ziel dieser Diskussionen war nicht eine Klärung aller mit dem Thema in Verbindung stehenden Fragen.

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Vielmehr ließen die Darsteller Widersprüche und Absurditäten zu oder lenkten das Gespräch bewusst in diese Richtung. Die Hitze und die Länge der Performance taten das Übrige. Die Brüchigkeit menschlichen Handelns und Denkens wurde sichtbar, die Autorität von durch menschliche Ratio legitimierten Konstrukten wie Grenzen diskreditiert. Im Verlauf des Tages stießen immer wieder Gäste zu den Darstellern, die sich dem weit gefassten Themenfeld Migration, Identität und Nationenbildung zuordnen ließen. Sie wurden wie zufällige Passanten behandelt und zum Picknick auf der Grenze eingeladen. Die Reihenfolge ihres Auftritts war dramaturgisch nicht begründet; sie ergab sich aus der Verfügbarkeit der Person. Die Leute betraten das Feld durch einen langen Tunnel und gingen zu den Darstellern in der Mitte des Feldes. Dort nahmen manche auf dem Rasen Platz oder legten sich sogar hin. Andere blieben stehen oder machten ein paar Schritte. Nach dem Wortwechsel verließen die Gäste das Feld wieder. Zu Beginn, um 12.30 Uhr, kam Jan Weclawik zu den Darstellern. Er war ein langjähriger Platzwart des Stadions gewesen und hatte dessen große Zeit ebenso miterlebt wie den Zerfall der letzten Jahre. Er erzählte von seiner Arbeit, die von den politischen Veränderungen weitgehend unberührt geblieben war. Das Verschwinden des Stadions nahm er nur mit wenig Wehmut zur Kenntnis. Eine Stunde später stießen die Journalisten Filip und Jakub Pawlicki zu den drei Darstellern. Die beiden waren für eine Reportage nach Schengen gefahren, um den Ort zu sehen, an dem 1985 das Abkommen über das neue europäische Grenzregime unterzeichnet worden war. Schengen ist eine kleine Ortschaft in Luxemburg und ist Teil der Gemeinde Schengen, zu der noch zwei weitere Orte gehören und die erst seit dem 3. September 2006, des besagten Abkommens wegen, Schengen heißt.52 Filip und Jakub Pawlicki beschrieben die Beschaulichkeit des kleinen Winzerdorfs an der Mosel, in dem nichts von Weltpolitik zu spüren sei. Ab 14.00 Uhr diskutierten die Schauspieler mit dem polnisch-amerikanischen Philosophen und Globalisierungskritiker Michal Kozlowski über die philosophische Bedeutung politischer Grenzen, über ihre Geschichte und Zukunft. Kozlowski verwies vor allem auf die historische Bedingtheit von Grenzen, die in Gegensatz stünde zur quasi-natürlichen Unantastbarkeit, die man ihnen zuschreibe. Gerade das Grenzregime von Schengen zeige diese Dialektik deutlich, indem es manche Grenzen relativiere oder gar aufhebe, andere aber verstärke und als unantastbar definiere. Um 15.00 Uhr betrat der Ornithologe Wieslaw Nowicki das Feld. Er befasste sich eingehend mit den in Polen lebenden Vogelarten und berichtete besonders von deren Wanderverhalten über die Jahreszeiten. Er beschrieb die kontinentale Geo-

52 www.schengen.lu/index.php?id=90 (11. April 2011).

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graphie aus der Sicht eines Zugvogels und offenbarte ein erstaunliches Talent, Vogellaute nachzuahmen, das, verstärkt durch die Lautsprecheranlage, im Stadion zu besonderer Entfaltung kommen konnte. Auf Nowicki folgte um 16.00 Uhr der Sinologe Radek Pyffel. Sein Gespräch mit den Darstellern drehte sich um die Namensähnlichkeit von Schengen mit der Millionenstadt Shenzhen in der chinesischen Provinz Guangdong. Sie ist eine der Boom-Städte des Landes und weist eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen Chinas auf. Die Stadt ist Sitz vieler einheimischer Großkonzerne, bei ausländischen Firmen ist sie als Investitionsort beliebt. Passend zur phonetischen Verwandtschaft mit dem luxemburgischen Schengen ist in Shenzen die weltgrößte Kopierwerkstatt für Ölgemälde entstanden.53 Als Nächsten begrüssten die drei Akteure von Schauplatz International Asian Dekaev. Dekaev war ein tschetschenischer Flüchtling, der unterdessen in Polen einen legalen Aufenthaltsstatus hatte. Er berichtete von seiner Flucht aus dem Kriegsgebiet in den Schengenraum und den Erfahrungen, die er mit den durch Frontex von Warschau aus gemanagten Grenzkontrollen gemacht hatte. Wieder eine habe Stunde später, um 17.00 Uhr, kam der Software-Spezialist Hubert Kowalski dazu. Er beschrieb sachlich, wie Computer-Programme funktionieren, die es Grenzwächtern erlauben, Menschen und Tiere beim Grenzübertritt voneinander zu unterscheiden. Er sprach von Robotern, die Bewegungen, Objekte oder die Präsenz lebender Organismen erkennen können, und erklärte die Funktionsweise von an den Grenzen installierten Wärmebildkameras. Danach erzählte er von seinem Hobby, dem Reenactment historischer Schlachten, besonders solcher aus dem Zweiten Weltkrieg, wobei er angab, immer auf der Seite der Amerikaner zu stehen. Die Reihenfolge der Gäste war, wiewohl nicht geplant, in diesem Moment dramaturgisch besonders schlüssig und gab zur Überlegung Anlass, ob wohl in fünfzig Jahren Militärenthusiasten, die sich beruflich mit der Abwehr von Flüchtlingen beschäftigen, die Ereignisse in Grosny nachspielen werden. Um 17.30 Uhr folgte der vietnamesische Schauspieler und Schriftsteller Ngo Van Tuong. Er war Herausgeber und stellvertretender Chefredaktor des vietnamesischen Oppositionsblatts »Dan Chim Viet«, das seit 2006 als Internetpublikation erscheint.54 Er beschrieb, wie der stark von Vietnamesen und Vietnamesinnen geprägte »Jarmark« rund um das und im Stadion entstanden war, wie er funktioniert hatte und weshalb er soeben wieder verschwand.

53 Vgl. z.B. Martin Paetsch: China’s Art Factories: Van Gogh From the Sweatshop. In: Spiegel Online International, 23. August 2006. www.spiegel.de/international/0,1518,4331 34,00.html (11. April 2011). 54 www.danchimviet.info/ (11. April 2011).

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Um 18.00 Uhr traten Barbara Sudnik und Marek Ostrowski auf, sie Botanikerin, er Biologe und Landschaftstheoretiker. Beide unterrichteten an der Universität Warschau und hatten sich mit der innerstädtischen Vegetation Warschaus im Allgemeinen und jener innerhalb des Stadions im Besonderen beschäftigt. Sudnik hatte entdeckt, dass hier Pionierpflanzen wuchsen, die sonst nirgends in der Stadt vorkamen, weil sie ein speziell warmes, trockenes Mikroklima benötigten. Mit Sudnik und Ostrowski unternahmen die drei Darsteller einen kleinen Spaziergang über das ehemalige Spielfeld und bestimmten Pflanzen. Eine Stunde später referierte die Linguistin Ewa Mastowska über die geographischen und politischen Implikationen von Sprachen, deren Wandelbarkeit sie besonders betonte. Sie beschrieb, welche Rolle Migration und Bewegung für die Entwicklung von Sprachen spielen und wie diese sich gegenseitig beeinflussen. Als Letzter kam ein Mann namens Tadeusz auf das Spielfeld. Er war ein Angestellter der Sicherheitsfirma »Ekotrade«, die beauftragt war, den ganzen Stadionkomplex zu sichern. Er schilderte seinen Alltag auf dem Gelände und was er tat, um es zu bewachen. Als einziger Gast hatte Tadeusz den Wunsch, anonym zu bleiben. Zwei seiner Kollegen begleiteten ihn, was seitens der Darsteller anfänglich zum Missverständnis führte, es handle sich um eine behördliche Kontrolle. Diese Unsicherheit rief zum Schluss noch einmal ungewollt die szenische Setzung der Performance in Erinnerung, indem die strukturelle Gewalt, die von Grenzen ausgeht und von einem polizeilich-militärischen Corps paneuropäisch aufrechterhalten wird, zu spüren war. Während dieser Begegnungen war Lars Studer den ganzen Tag über damit beschäftigt, mit Hilfe einer Gasflasche farbige Luftballone aufzublasen und sie sich dann an die Laschen seiner Hose zu binden. Kurz zuvor, am 20. April 2008, hatte der brasilianische Priester Adelir De Carli mit 1.000 Heliumballonen einen Flugversuch unternommen, von dem er nicht mehr zurückgekehrt war. Mit seiner Aktion wollte er einen Weltrekord brechen und Spenden sammeln, um den Bau einer Kapelle für Lastwagenfahrer in Paranagua zu finanzieren. Der Flug geriet aber außer Kontrolle, De Carli wurde auf den Atlantik getrieben. Am 4. Juli 2008 wurden Teile seines Körpers auf dem Meer treibend gefunden.55 Studer hatte während der Performance angekündigt, am Ende der Aufführung aus dem Stadion fliegen zu wollen und die imaginäre Grenze auf dem Luftweg zu überqueren. Zuletzt hatte Studer etwa hundert Ballone am Hosenbund, was nicht reichte, um den Mann in die Luft zu heben. Stattdessen fällten die Darsteller gegen 20.00 Uhr den Fahnenmast, entfernten die Europafahne und befestigten sie an den Ballonen. Langsam stieg sie in den Himmel über Warschau und flog Richtung Norden davon.

55 http://news.bbc.co.uk/2/hi/americas/7532254.stm (11. April 2011).

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Danach beendete Schauplatz International die Performance ohne großes Aufheben. In der Zwischenzeit hatten sich viele Zuschauer und Zuschauerinnen die Freiheit genommen, die Tribünen des Stadions und selbst das ehemalige Spielfeld zu betreten. Sie bewegten sich frei an einem Ort, den sie noch nie oder seit langem nicht mehr besucht hatten. Weil »Schengen Border Observation Point« die letzte Veranstaltung der Finissage-Reihe war, nutzten sie – unter ihnen auffällig viele ältere Leute – die Gelegenheit, sich von dem Stadion zu verabschieden. Die dezente Installation und das beinahe unmerkliche Spiel der Darsteller hatten dazu eingeladen, dem Ort unbefangen zu begegnen, umherzustreifen und die Kunst links liegen zu lassen. Insofern hatten sowohl das Stadion als auch die szenische Setzung – der supponierte Grenzposten – ihre Autorität eingebüßt, was letztlich der inhaltlichen Absicht der Aktion entsprach.

2.4 L ANDSCAPES OF G LORY – B EAUTIFUL M OMENTS BUT

SCHNELL VORBEI

Im Oktober 2010 führte Schauplatz International viermal das Stück »Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei« auf: in einem fahrenden Zug auf offener Strecke zwischen Oberhausen und Bochum. Das Projekt war ein Beitrag zum Festival »Melez«. »Melez« war Bestandteil der Aktivitäten im Rahmen der Kulturhauptstadt »Ruhr.2010«, bestand aber bereits vorher. 2010 fand der Anlass zwischen dem 3. und 30. Oktober statt. »Melez« ist türkisch und heißt »Mischung«; der Anlass nannte sich im Untertitel »Festival der Kulturen«. Selbstdeklariertes Ziel von »Melez« war es, »nicht nur die kulturelle Vielfalt der Region zu erforschen und die hohe Qualität ihrer künstlerischen Ausdrucksformen nebeneinander abzubilden, sondern Verbindungen herzustellen: Zwischen den verschiedenen Kulturen und den Menschen unterschiedlicher Herkunft, die sie gestalten, aber auch zwischen unterschiedlichen Kunstsparten und Kunstformen.«56 Das Festivalkonzept sah ausdrücklich einen angewandt funktionalen Kulturbegriff vor, indem – »immer mit Blick auf die beispielhaften Besonderheiten der Ruhrregion im europäischen Kontext« – die Frage »nach der Vision von der Organisation des Zusammenlebens in der Stadt und im Europa von morgen« gestellt werden sollte.57 Das Festival war »in das gesamte Ruhrgebiet hinein« vernetzt, wobei »Verbindungen« und »Begegnungen« entstehen sollten. Dieser Wille bildete sich in der Struktur des Anlasses ab, womit »den Besonderheiten einer mobilen Ge-

56 Asli Sevindim, Thomas Laue, Dieter Harder: Ein Zug für Melez. Arbeitspapier. Persönliches Archiv. 57 Sevindim, Laue, Harder: Melez.

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sellschaft Rechnung getragen« wurde.58 Der Begriff »Mobilität« wurde dabei in historischem – als Erklärung des Entstehens der heutigen Gesellschaft im Ruhrgebiet –, in lebensweltlichem – als Abbild einer aktuellen Alltagspraxis – und in metaphorischem Sinn – als utopistische Aufforderung – verstanden. Deshalb fand das Festival auf dem Streckennetz der Deutschen Bahn zwischen Duisburg und Dortmund in einer ausrangierten S-Bahn-Komposition statt. Ein großer Teil der Veranstaltungen ging während Extrafahrten im Zug selber, Begleit- und Abschlussveranstaltungen auf Bahnsteigen und in der Jahrhunderthalle in Bochum über die Bühne. Die Zugskomposition samt Lokomotive war für das Festival außen neu bemalt und innen umgebaut worden. Sie bestand aus einem »Bühnenwagen«, einem »Salonwagen«, einem »weißen Wagen«, einem »Medienwagen« und einem »Tanzwagen«. Jeder Wagen bot dem Publikum auf den alten Sitzbänken in bekannter Zugbestuhlung Platz. Im »Bühnenwagen« war Platz für Auftritte von Musikgruppen, im »Salonwagen« stand ein Klavier. Der »weiße Wagen« war vom Mobiliar her unverändert geblieben, dafür aber ganz weiß gestrichen worden. Das Publikum wurde aufgefordert, Wände und Polster zu beschriften und zu verzieren, was es im Verlauf des Festivals auch ausgiebig tat, so dass der »weiße Wagen« am Ende einem vandalisierten Wagen im Regelverkehr der Deutschen Bahn nicht unähnlich sah. Der »Medienwagen« war mit Bildschirmen und Laptops ausgerüstet, auf denen Filme gezeigt wurden und wo auf das Internet zugegriffen werden konnte. Der »Tanzwagen« war nur bei Stillstand des Zuges in Betrieb und war als kleine Disco ausgerüstet. Während der Fahrten diente er als Basis für den Verpflegungsservice. Das Programm von »Melez« war vielfältig. Neben Musikgruppen aus allen Genres, viele davon mit interkulturellem Hintergrund, fanden Lesungen, Erzählnachmittage, Tanz-, Trink- und Sprachkurse oder Kurz- und Dokumentarfilmprojekte statt. Viele Beiträge entstanden eigens für das und in der Zeit des Festivals; mit der konkreten Aufführungssituation, der Zugfahrt, setzte sich allerdings kaum eine der Darbietungen auseinander. Zwar wurde bisweilen der Bezug zu Geschichte oder Gegenwart des Ruhrgebiets gesucht, aber nicht mit der Tatsache verbunden, dass man sich gerade durch dieses Ruhrgebiet bewegte. Teile des zahlreichen Publikums reagierten darauf mit höflicher Nichtbeachtung des Gebotenen und schauten von sich aus die Landschaft an oder unterhielten sich untereinander, so dass im Zug bisweilen Klassenfahrtstimmung aufkam – kein ungewollter Effekt mithin, da sich das Festival auch als Party-Reihe verstand. Der Versuch von Schauplatz International ging in eine andere Richtung. »Landscapes of Glory« entstand als direkte Reaktion auf die Aufführungsbedingungen. Das galt sowohl für die konkrete Bühnensituation im Zug als auch für den größeren institutionellen Rahmen des Kulturhauptstadtjahres. Schon der Titel des

58 Sevindim, Laue, Harder: Melez.

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Projekts war eine Anspielung an die offizielle Hymne von »Ruhr.2010« »Komm zur Ruhr« von Herbert Grönemeyer. Das Lied bildete einen gedanklichen Ausgangspunkt zu »Landscapes of Glory«, weil es sich – wie viele andere Projekte von »Ruhr.2010« – an der Konstruktion einer spezifischen Ruhrgebietsidentität beteiligte. Zentrales Element dieser Identität ist die Vergangenheit als industrielles Herz Deutschlands und damit verbunden auf individueller Ebene die Idealisierung harter, aber ehrlicher Arbeit. Auf dieses Gestern, geprägt durch eine lange Migrationsgeschichte, werden heute die gesuchten Werte des Ruhrgebiets projiziert: Lebenstüchtigkeit, Zusammenhalt, Aufrichtigkeit. Eine entscheidende Rolle bei dieser Identitätskonstruktion spielt die Landschaft. Sie hat einen eindrücklichen Wandel hinter sich. Der Zurichtung auf industrielle Bedürfnisse folgte eine beispiellose Ästhetisierung.59 Diese soll jetzt wieder auf das gesuchte Bild der Menschen von sich selbst zurückwirken. Grönemeyer hat in seinem Titelsong zu »Ruhr.2010« diese Überlagerung von menschlicher Psyche und Landschaft als Manifestation von Ursprünglichkeit formuliert: »So weit, so ur/Seelenruhr.«60 Grönemeyer beschreibt eine quasinatürliche Harmonie von Innen und Außen, von Einzelnem und Ganzem: die gesuchte Ruhridentität. Dazu gehört auch die Versöhnung der Kulturen, das Ruhrgebiet als interkulturelle Friedenszone, Heimat der Herzen für all jene, die hier sein wollen. Grönemeyer sieht das als Quelle einer Kraft, die das Ruhrgebiet zu einem »Glücksgebiet« mache und über sich selbst hinausstrahle: »Alles fließt alles von hier.«61 Mit »Landscapes of Glory« reagierte Schauplatz International skeptisch auf diese affirmative Idealisierung und durchfuhr die behauptete Seelenlandschaft auf den Spuren des Natur gewordenen Traums vom Glück. Die kritische Brechung in diesem Ansatz ergab sich schon aus der Aufführungssituation: Der Zug fuhr an dem, was man sah, dem »Glücksgebiet«, vorüber: »Beautiful Moments but schnell vorbei.« Die eigentliche Aufführung fand auf der Strecke zwischen Oberhausen und Bochum statt. Teile des befahrenen Trassees sind für den Personenverkehr normalerweise nicht geöffnet und werden nur von Güterzügen genutzt. Die Strecke führte von Oberhausen Hauptbahnhof durch den Grafenbusch nach Osterfeld und Bottrop, dann an Zeche und Kokerei Prosper vorbei nach Karnap, über Emscher und RheinHerne-Kanal nach Schalke, dann am Gelände der ehemaligen Zeche Unser Fritz vorbei nach Crange, bog am Kreuz Herne südlich ab nach Bochum Riemke, ehemals Bochum Nokia, und endete in Bochum Hauptbahnhof. Die Strecke wurde in

59 Vgl. Kapitel 5.6. 60 www.groenemeyer.de/musik/singles-maxis/komm-zur-ruhr/titel-texte/komm-zur-ruhr/ (11. April 2011). 61 www.groenemeyer.de/musik/singles-maxis/komm-zur-ruhr/titel-texte/komm-zur-ruhr/ (11. April 2011).

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beide Richtungen befahren. Bei störungsfreiem Verkehr dauerte ein einfacher Weg nach Fahrplan etwa 40 Minuten. Meistens kam es aber zu Verzögerungen. Es gab vier Fahrten, die sich alle voneinander unterschieden. Das hatte einerseits mit der Fahrtrichtung oder leicht geänderten Routen zu tun, andererseits nahm Schauplatz International aufgrund inhaltlicher, logistischer oder organisatorischer Notwendigkeiten Änderungen vor, sei es etwa, weil mehr oder weniger Darsteller zur Verfügung standen oder weil sich künstlerische Verbesserungen aufdrängten. Für das Publikum fanden die Aufführungen im Medienwagen statt und bestanden aus zwei Ebenen. Im Zug hielt sich mit Albert Liebl ein Darsteller auf, der das Publikum dazu anhielt, aus dem Fenster zu schauen. Er hatte ein Mikrophon bei sich, setzte sich auf eine Bank und beschrieb, was er draußen sah. Manchmal wechselte er den Platz, ging im Wagen herum oder stand lange an einer Tür. Auf der ersten Fahrt, der so genannten »Jungfernfahrt«,62 auf der eine ausgelassene Stimmung herrschte, war es Liebl schwer gefallen, die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen. Um einen stärkeren inhaltlichen Bezug zur Außenwelt herzustellen – und diese Geste gleichzeitig zu ironisieren – und um die Situation eindeutiger als Aufführung zu kennzeichnen, trug Liebl für die weiteren Fahrten eine Pavianmaske. (Abb. 7) Diese Maßnahme trug dazu bei, die erforderliche Ruhe, Aufmerksamkeit und Konzentration herzustellen, denn das Geschehen bestand aus nicht viel mehr als sorgfältiger, sinnierender, manchmal melancholischer Betrachtung und Beschreibung dessen, was draußen an einem vorbeizog. Um dieses Draußen als »Glücksgebiet« zu identifizieren, deutete Liebl alles, was er sah, positiv. Er tat das nicht in zynischer, ironischer und persiflierender Art, sondern bemühte sich ehrlich, Schönheit und Faszination von Bahnbegleitflächen, Infrastrukturbauten, Bebauungslücken, Altmetallhalden, Böschungen, Wildwuchs oder Kleingartenkolonien einzufangen. Er vermied es dabei allerdings, auf die üblichen Objekte identitätspolitischer und touristischer Ästhetisierung hinzuweisen, namentlich auf die zur »Industriekultur« erklärten Überreste der Montanindustrie.63 Wichtiger waren ihm Reste von Natur, Spuren menschlicher Arbeit jenseits der Verwertung oder Alltagsgegenstände. Liebl betonte dabei das Zusammengehen, die Ununterscheidbarkeit von Kultur und Natur, und begeisterte sich dafür, dass unter diesen Umständen nicht von einem quasinatürlichen Urzustand und von Besitzansprüchen auf einen solchen die Rede sein könne. Die zweite Ebene von »Landscapes of Glory« bestand aus einer aufwändigen szenischen Installation außerhalb des Zugs, zusammengesetzt aus mehreren Inter-

62 www.essen-fuer-das-ruhrgebiet.ruhr2010.de/melez/programm/melezeroeffnung/ jungfernfahrt.html (11. April 2011). 63 Vgl. z.B. Jürgen Schwark, Antje Boshold: Tourismus und Industriekultur. Vermarktung von Technik und Arbeit. Berlin 2004.

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ventionen in der Landschaft. Diese Installationen folgten in unregelmäßigen Abständen von wenigen Minuten aufeinander. Zu sehen war von ihnen nur wenig, da der Zug mit gegen 60 km/h an ihnen vorbei fuhr. Je nachdem, in welcher Distanz zum Gleis sie platziert waren, ergab sich ein flüchtiger Eindruck des raschen Vorbeifahrens oder eine etwas länger dauernde Ansicht der in die Umgebung eingebetteten Installationen. Der Ablauf der ganzen Veranstaltung war weitgehend durch die Gegebenheiten von Fahrplan und Gelände bedingt. Die technische und organisatorische Koordination erfolgte vom Zug aus, wo ich per Mobiltelefon in Kontakt mit den Darstellern entlang der Strecke stand. Ein wiederkehrendes Element bildeten weiß gekleidete Läufer mit Parlamentärsflagge. (Abb. 8) Pro Fahrt gab es drei oder vier von ihnen. Sie liefen mit wehender Fahne in Fahrtrichtung die Gleise entlang und begleiteten so den Zug für eine kurze Strecke. Zum ersten Mal zu sehen war ein Läufer oder eine Läuferin am Abfahrtsbahnhof. Durch die gleich bleibende Bekleidung – weiße Jogginghose, weißes T-Shirt, gelbe Mütze – war auf der Strecke nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich, dass es sich im Folgenden nicht um dieselbe Person handelte. Die eintretende Verwirrung, ob es denn möglich sei, einen fahrenden Zug zu Fuß ungesehen zu überholen, erinnerte an das Märchen von Hase und Igel.64 Dort verliert der »grausahm hochfahrtig«65 Hase ein Wettrennen mit einem Igel, weil Letzterer am Ende des Parcours seine Frau, die ihm auf das Haar gleicht, platziert hat. Weil der Hase der Sache nicht traut, läuft er die Strecke noch einmal in die andere Richtung, nur um dort wieder auf den Igel zu treffen, so dass er glauben muss, dieser habe die Strecke hin und zurück schneller zurückgelegt als er. Natürlich war der einfache illusionistische Effekt nur ein optischer Aufhänger. Wichtiger war die durch die Parlamentärsflagge hervorgerufene Assoziation eines Friedensbotschafters, wobei diese Anspielung ambivalent bleiben sollte, weil sie auch an den legendären Boten Pheidippides erinnerte, der den Athenern von einem durch einen blutigen Sieg über die Perser gewonnenen Frieden berichtet und das mit dem eigenen Leben bezahlt haben soll.66 Welche Botschaft die weißen Fahnenträger tatsächlich überbrachten, blieb ungesagt. Zuletzt tauchte ein Läufer oder eine Läuferin auf dem Bahnsteig des Zielbahnhofs auf, äußerte sich aber nicht. Auf der Fahrt vermittelten die Parlamentäre einen fragmentarischen Eindruck von Raum und Weite, nicht zuletzt deshalb, weil sie zum Teil in erheblicher Distanz zum Zug liefen. Ihr Auftauchen und Ver-

64 Vgl. Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Der Hase und der Igel. In: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Zweiter Band. Göttingen 1843, S. 465-469. 65 Grimm, Grimm: Hase und Igel, S. 466. 66 Vgl. Michael Jung: Marathon und Plataiai. Zwei Perserschlachten als »lieux de mémoire« im antiken Griechenland. Göttingen 2006.

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schwinden suggerierte, dass dort draußen etwas Wichtiges im Gange war, von dem man nichts wusste, von dem man sich aber trotzdem tangiert glaubte. Diesen Eindruck der Eigengesetzlichkeit der Außenwelt riefen auch die anderen Landschaftsinterventionen hervor. Keine ließ sich vollständig deuten und nur auf wenige ging Liebl im Zug erklärend ein. Einige zeigten einen kindlich-naiven Zugang zur mitunter rauen Gegend entlang der Gleise: Auf einen riesigen, leeren Parkplatz war mit Kreide ein überdimensionales Himmel-und-Hölle-Spiel gemalt worden, in der Emscher schwamm ein Plastikschwertwal, unter der Autobahnbrücke des Emscherschnellwegs saß ein großer Teddybär mit Ballonen. Ebenso irritierend konnte die Umbenennung der S-Bahn-Haltestelle Bochum-Riemke in »Cluj ROM« wirken. Der Bahnhof hatte noch bis vor kurzem »Bochum Nokia« geheißen, weil Werke des Telekommunikationsanbieters dort standen. 2008 lagerte dieser seine Fabriken aber in das rumänische Cluj aus, so dass Bochum rund zweitausend Arbeitsplätze verlor.67 Schauplatz International hängte ein imitiertes rumänisches Bahnhofsschild über das offizielle, was Liebl als Versöhnungsgeste zwischen den beiden konkurrierenden Industriestandorten deutete. Mit einer anderen Installation nahm »Landscapes of Glory« direkten Bezug zu Geschichte und Theorie des Landschaftsbegriffs.68 Vor einem mehrere Meter hohen Kohlehaufen bei der Kokerei Prosper, an der das Trassee unmittelbar vorbeiführte, stellte Schauplatz International eine Fototapete von Ikea auf. Sie war knapp vier auf zweieinhalb Meter groß, zeigte eine Bergidylle in den Rocky Mountains. So schnell, wie man daran vorbei fuhr, konnte man glauben, es handle sich um ein gemaltes Bild in der Tradition der alpinen Landschaftsmalerei. Um diesen Eindruck zu verstärken, standen vor der Tapete Farbtöpfe im Gras. Die Form des abgebildeten Berges korrespondierte bildnerisch mit der Silhouette des Kohlehaufens und suggerierte idyllisierend Ähnlichkeit und Gleichwertigkeit der beiden Phänomene, indem – auch vermittelt durch den Kommentar Liebls im Zug – die Geschichte der touristischen Erschließung der Bergwelt, namentlich der Alpen, mit Hilfe der Kunst in Erinnerung gerufen wurde.69 Dass gar kein Alpengipfel abgebildet war, spielte im vorliegenden, soeben neu organisierten, semiotischen Zusammenhang keine Rolle. Bei einer Gelegenheit, als die Strecke in beide Richtungen befahren wurde, platzierte die Gruppe einen Statisten vor dem Bild, der als Urheber des Bildes zu erkennen war. Auf dem Hinweg hatte er es mit einem weißen Tuch abgehängt, als

67 Vgl. z.B. dpa/oht: Nokia kündigt 2000 Beschäftigten in Bochum. In: Die Welt, 15. Januar 2008. www.welt.de/wirtschaft/article1554427/Nokia_kuendigt_2000_Beschaeftigten_in_ Bochum.html (11. April 2011). 68 Vgl. Kapitel 4.4 und 4.6.1. 69 Vgl. Kapitel 4.6.1.

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stünde er vor einer leeren Leinwand, auf dem Rückweg war das scheinbar fertige Bild zu sehen, der Maler hingegen nicht mehr. Neben diesen nur visuell wahrnehmbaren Eingriffen in die Landschaft inszenierte Schauplatz International zwei weitere, die nicht nur vom Zug aus zu sehen, sondern auch darin zu hören waren. Die Assistentin Katja Grawinkel begleitete den Biologen Dominik Begerow von der Universität Bochum durch das Gelände. Sie tat dies einmal auf einer Lichtung im Wald, einmal am Rand eines Wanderwegs entlang der Gleise und zweimal auf der großen Brache der ehemaligen Zeche Unser Fritz. Die Begehungen dienten dazu, die vorkommende Fauna zu bestimmen und zu beschreiben, was Begerow die Gelegenheit gab, über die Botanik des Ruhrgebiets Auskunft zu geben, insbesondere, was das Verhältnis von Mensch und Natur betraf. Grawinkel und Begerow waren mit einem Mobiltelefon ausgerüstet, wurden vom Zug aus angerufen und im Medienwagen auf die Lautsprecheranlage geschaltet. So konnte das Publikum die beiden für einen kurzen Moment nicht nur sehen, sondern auch längere Zeit hören, und zwar auch bevor es wusste, wo sie sich befanden und um wen es sich handelte. Begerows Schilderungen waren spürbar von Begeisterung für die biologische Vielfalt auf den untersuchten Flächen getragen. Er beschrieb Dinge, die das Publikum nicht oder vielleicht woanders sah, seine Freude am Unscheinbaren übertrug sich aber in den Wagen und deckte sich mit der Stimmung, die Liebl dort verbreitete. Die andere Szene, die auditiv mit dem Zug verbunden war, spielte Anna-Lisa Ellend. Sie befand sich entweder in einem Gleisdreieck nahe des Bahnhofs Osterfeld oder beim alten Güterbahnhof Riemke, saß auf einem Klappstuhl unter einem gelben Sonnenschirm und spielte Hackbrett. Ellend hatte ihr Mobiltelefon auf den Klangkörper des Instruments gelegt, so dass man sie im Wagen gut hören konnte. Allerdings ergab sich durch die Übertragung ein leicht dehnender Effekt, was den Klang des Hackbretts streckte und die Melodien getragener erscheinen ließ, als sie waren. Ellend spielte Schweizer Volkslieder, das Friedenslied von Hanns Eisler und Berthold Brecht, das volkstümliche Steigerlied und auch Melodien aus Grönemeyers Hymne »Komm zur Ruhr«. So ergab sich ein thematischer Klangboden, der, leicht meditativ anmutend, durch die Wahl des Instruments Ursprünglichkeit suggerierte, wo, wie Liebl betonte, keine zu finden war. Fuhr man an Ellend vorbei, sah man, kurz nur, eine friedliche, selbstvergessene Person, deren sorgfältig-kultiviertes Spiel in deutlichem Gegensatz zur unwirtlichen Umgebung stand. Begerows und Ellends Beiträge waren abwechselnd im Wagen zu hören. Manchmal begleiteten sie Liebls Monolog, manchmal unterbrach er und man hörte nur Ellends Musik oder den botanischen Vortrag Begerows. Die Beharrlichkeit, mit der die beiden die Außenwelt in den Zug eindringen ließen, rief den Eindruck hervor, man höre Geräusche, die die durchfahrene Landschaft selbst hervorbringe. Damit setzten sie ein Gegengewicht zur Flüchtigkeit der dort installierten Glücksmomente, an denen man, weil Glück unter den gegebenen Umständen transitorisch

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war, zu schnell vorbei fuhr. Einen ähnlichen Effekt mit anderen Mitteln erzielte der Beitrag von Lars Studer. Studer bereitete ein großes Festmahl vor. Er deckte einen langen Tisch mit Geschirr und üppigen Speisen, als stünde ein Fest bevor. Je nach Route tat er das auf dem Gelände der ehemaligen Zeche Unser Fritz, einer großen, niedrig bewachsenen Brache, in deren Mitte ein alter Schachtturm, Typ Malakow,70 steht, oder auf einem Hundeübungsplatz im Grafenbusch. Während der Vorbereitungen schrieb er Kurznachrichten per Mobiltelefon, die im Zug auf den installierten Bildschirmen zu sehen waren und auf deren Eintreffen ein hörbares Signal des Empfängertelefons aufmerksam machte. Er gab sich darin als Beobachter der Szene aus, mutmaßte, von wem und für wen der Tisch gedeckt worden sein könnte, und beschrieb eine sich ausbreitende Atmosphäre von Frieden und Glück. Mehrfach spielte er in diesen Kurznachrichten auf die mythologischen Gestalten der Zwerge an. Zwergen werden im Volksglauben helfende Dienste nachgesagt. Kulturgeschichtlich stehen sie in manchen Deutungen in Zusammenhang mit dem Bergbau, den sie in vielen Erzählungen beruflich ausüben. Auch ihre Wohnungen haben sie unterirdisch.71 Nach Vorbeifahrt des Zugs feuerte Studer eine Rakete ab als Zeichen, dass das Fest jetzt, da es nicht mehr zu sehen war, angefangen hatte. Nur auf der letzten Fahrt waren tatsächlich Gäste anwesend und sichtbar, nämlich einige Frauen von einem örtlichen Verkaufskreis, die, bei sehr tiefen Temperaturen, eine Tupperware-Party veranstalteten. Studers Kurznachrichten bildeten einen erzählerischen Faden und seine Installation war folglich auch die einzige, die nicht allein nach logistischen, sondern nach dramaturgischen Kriterien situiert wurde, und zwar jeweils fast am Ende der jeweiligen Fahrt. Die Landschaftsinterventionen verliefen nicht immer störungsfrei. Die imitierten Bahnhofsschilder in Bochum Riemke waren bei der Durchfahrt des Zuges manchmal nicht mehr da, weshalb, ließ sich nicht eruieren. Anna-Lisa Ellend wurde am ehemaligen Güterbahnhof in Bochum Riemke von zwei Polizisten kontrolliert, denen der Ort als Umschlagplatz illegaler Waren bekannt war. Ellend hatte Mühe, den Beamten zu erklären, weshalb sie neben den Gleisen Hackbrett spielte, wurde dann aber nach dem Hinweis, es handle sich um Kunst, toleriert. Des Weiteren verschwand nahe der Ruhr-Öl-Raffinerie ein Plastikwal aus der Emscher. Ob er vom Sicherheitsdienst oder von Passanten entfernt worden war, blieb unklar. Ebenso erging es dem Stoffteddybären. Er wurde von Spaziergängern mitgenommen. Übrig blieben nur die Ballone, die er in der Tatze gehalten hatte.

70 Vgl. Bernd Becher, Hilla Becher, Heinrich Schönberg, Jan Werth: Die Architektur der Förder- und Wassertürme. Industriearchitektur des 19. Jahrhunderts. München 1971. 71 Vgl. z.B. Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. Göttingen 1835, S. 250-265. Und Toralf Schrader: Riesen und Zwerge in der mittelalterlichen Literatur. Norderstedt 2005.

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Der zwar skeptische, aber humor- und liebevolle Zugang wurde von jenem Teil des Publikums, der dem Geschehen genügend Aufmerksamkeit und Konzentration widmete, mehrheitlich erfreut aufgenommen und von der Presse als »charmant«72 taxiert. Andere Rezensenten stellten rhetorisch die Frage, ob die Verklärung noch ironisch oder schon zynisch sei, ließen sich aber schließlich von der ehrlichen Faszination von Schauplatz International für Bahnbegleitflächen überzeugen. Die Kritik an der identitätspolitischen Aufladung von Landschaften wurde verstanden und gutgeheißen.73

2.5 S CHAUPLATZ I NTERNATIONAL 2.5.1 Chronologie Die Gruppe Schauplatz International wurde 1999 von Anna-Lisa Ellend und Albert Liebl ins Leben gerufen. Beide hatten zuvor in Bern Schauspiel studiert, unter anderem in der Klasse von Norbert Klassen.74 Ellend und Liebl verfolgten, nicht zuletzt geprägt von ihrem Lehrer, von Anfang an einen performativ geprägten Arbeitsansatz und begannen bereits kurz nach Abschluss des Studiums frei zu produzieren. Damit war die Gruppe gegründet, damals aber noch ohne den Zusatz »International« im Namen. Dieser kam erst anlässlich eines Engagements als – letzte – »artists-in-residence« am Podewil in Berlin 2003 dazu. Seit 2001 ist der Schauspieler Lars Studer, seit 2002 bin ich Teil der Gruppe. Bereits die erste Arbeit von Schauplatz machte sich die Ortsspezifik einer sprachlichen Metapher zunutze: »s.o.s. – sinkt mit uns« spielte auf einem Schiff der Bielersee Schifffahrtsgesellschaft und setzte sich assoziativ mit dem Thema »Untergang« auseinander. Dieser nautisch-szenischen Installation folgte 2000 eine eher bühnenorientierte Produktion, die aber vorgab, kein Theaterstück, sondern eine Konferenz zu sein. »Everest 96 – the summit« versammelte die überlebenden Teilnehmer einer Expedition zum Gipfel des Mount Everest, welche 1996 zum Tod mehrerer Bergsteiger geführt hatte. Die nachfolgende Aufarbeitung der Ereignisse durch Bücher und Dokumentarfilme diente nicht nur der Aufklärung des Gesche-

72 Stephan Hermsen: Melez-Express will Menschen verbinden. In: Der Westen, 4. Oktober 2010. 73 Vgl. Andrej Klahn: Im »Melez«-Zug durchs Ruhrgebiet. WDR 3, Juni 2010. www.wdr.de/mediathek/html/regional/2010/10/06/mosaik-melez-zug.xml (11. April 2011). 74 Vgl. Rayelle Niemann: Der Körper als Medium: Das Performance-Netzwerk Schweiz. www.xcult.ch/texte/niemann/Rayelle_Niemann_D.pdf (11. April 2011).

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hens, sondern war von einem ähnlich kommerziellen Schwung angetrieben, wie es die Expedition selbst gewesen war. »Everest 96 – the summit« wurde als authentischer Teil dieses interessegebundenen Prozesses der Wahrheitsfindung inszeniert und von Teilen des Publikums auch als solcher verstanden. Das Stück, in dem neben Ellend, Liebl und Studer auch der Performer Peter Zumstein und die Schauspielerin Yangzom Brauen mitwirkten, war für das Festival »Hope & Glory« produziert worden, machte aber über dieses Nachwuchs-Format hinaus von sich reden und wurde weit herum auf verschiedene Festivals eingeladen. Bereits mit dieser, ihrer zweiten Arbeit gewann Schauplatz International den Hauptpreis des ImpulseFestivals, das die wichtigsten freien Theaterproduktionen des deutschen Sprachraums versammelt. 2001 sprengte die multiformale Arbeit »Fist«, respektive »Fortsetzung Fist« und »Fistgame live!« wiederum den Rahmen herkömmlicher Bühnenformate. Das Projekt war eine Bearbeitung von Goethes Faust und war als Totalunterhaltungsprogramm angelegt. Es bestand in der ersten Version aus Lesungen des Texts, der an thematisch passenden Orten in Bern Bümpliz mit ansässigen Laien vorgetragen wurde. Publikum gab es nicht immer, dafür wurden die videoaufgezeichneten Darbietungen auf dem Informationskanal der Kabelfernsehgesellschaft Cablecom ausgestrahlt. Als Startveranstaltung wurde eine Lesung des initialen »Vorspiel[s] auf dem Theater«75 im Schlachthaus Theater Bern szenisch gelesen. Den »Dichter« gab die Autorin Judith Giovanelli-Blocher, der Clown Marco Morelli spielte die »Lustige Person« und die damalige Schauspieldirektorin des Stadttheaters Bern, Nicola May, den »Direktor«. Die Weiterentwicklung »Fistgame live!«, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Theater Spektakel Zürich, war eine Quizshow. Das Format bestand darin, den Text numerisch zu erschließen und die rezitative Wiedergabe des Werks durch die genaue Kenntnis der Verszahlen zu ersetzen. Die Darsteller und Darstellerinnen demonstrierten so das Ge- oder Misslingen eines an Leistungsdruck und Glücksspiel gekoppelten Wissensverarbeitungsprozesses als absurde Showeinlage. Begleitet wurde das »Fist«-Projekt von der Gründung der »Fist Show Big Band«, die das umfassende Unterhaltungskonzept musikalisch umsetzte und auch außerhalb der »Fist«-Reihe auftrat. 2001 drehte Schauplatz International im Auftrag der Flüchtlingsorganisation SOS Racisme einen Dokumentarfilm mit dem Titel »Habiter c’est vivre«, der die Lebensbedingungen von Asylsuchenden in der Schweiz abbildete. In den folgenden Produktionen setzte die Gruppe die Zweckentfremdung theaterferner Formate fort, selbst wenn sie zum Teil in Zusammenarbeit mit Stadttheatern und sogar auf deren Bühnen aufgeführt wurden: »Passion Arbeit« imitierte eine

75 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil. Stuttgart 1980, S. 4f.

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religiöse Andacht, »Put up your Family!« einen bunten Abend inklusive psychodramatischer Familienaufstellung nach Hellinger.76 Zu diesem Zeitpunkt setzten die Mitglieder von Schauplatz International ihre relative Anonymität inhaltlich ein und stellten ihre realen oder fingierten Biographien in den Dienst der intendierten formalen Wirkung, was beim Publikum regelmäßig für Verwirrung sorgte. »Put up your family!« war ein Abend ohne dramaturgisch geplantes Ende, dafür mit Kaffee und Kuchen, später mit Alkoholika-Konsum seitens aller Anwesenden. Die Aufführung ging über in ein Beisammensein. Dasselbe gilt für das Stück »Passion Arbeit«, das von strengen liturgieähnlichen Formen zu einem entgrenzten Gemeinschaftserlebnis führte. Beide Arbeiten entstanden 2002 in Koproduktion mit dem Podewil Berlin und wurden dort auch aufgeführt. Das ehemalige »Haus der jungen Talente« an der Klosterstraße in Berlin-Mitte fungierte zwischen 1992 und 2004 als Zentrum für aktuelle Künste. Das Haus bot den Rahmen für Produktion und Präsentation von experimentellen Arbeiten aus den Bereichen Musik, Theater und Performance, Tanz sowie Medienkunst. Im Podewil gastierten verschiedene »artists-in-residence«, die über eine längere Zeit ein Atelier bezogen und im Haus ihre Projekte präsentierten. 2003 wurde Schauplatz, nun als Schauplatz International, in Residenz ans Podewil berufen. In den Jahren 2002 und 2003 war das Haus von massiven Etatkürzungen betroffen, was 2004 letztlich zum Ende des Betriebs in der damaligen Form führte. Das Engagement, das wenige Jahre zuvor noch Aufmerksamkeit und Renommee gebracht hätte, wurde für die Gruppe so zu einer Sackgasse, umso mehr, als dass sich in dieser Zeit die freie Theaterszene in Berlin grundsätzlich neu organisierte. Mit der Zusammenlegung des Hebbel-Theaters mit dem Theater am Halleschen Ufer und dem Theater am Ufer zum Hebbel am Ufer HAU unter der Leitung von Matthias Lilienthal trat eine Konzentration der Kräfte ein, die das Podewil ins Abseits geraten ließ. Entsprechend stießen die in dieser Zeit entwickelten Arbeiten von Schauplatz International, »Attacke – Szenen des Widerstands« und »Mein Afrika«, auf geringere Resonanz. Beide machten sich wiederum Bühnenformen zunutze, die konventionell nicht dem Theater zugeordnet werden können: »Attacke – Szenen des Widerstands« war als wissenschaftliche Präsentation angelegt und verfolgte die Spur von unerkannten, weil alltäglichen Widerstandshandlungen. »Mein Afrika« fingierte einen Dia-Abend, allerdings unter Verwendung von Bildern aus der Schweiz, die als eigentliches, unentdecktes Afrika ausgegeben wurde. Noch in Berlin entstand 2004 das Stück »Free Keiko, the Orca. Der Wal, der Willy spielte. Was ist echt, natürlich, frei?«. Mit dieser Arbeit entfernte sich Schauplatz International insofern von der Zweckentfremdung bühnenfremder Formen, als

76 Vgl. z.B. Bert Hellinger: Zweierlei Glück. Konzept und Praxis der systemischen Psychotherapie. München 2002.

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dass das Theater selbst als inhaltliche Metapher verwendet wurde und mittels der Methodiken des Theaters Dressur- und Manipulationsvorgänge abgebildet wurden. Zwar baute »Free Keiko« immer noch auf falschen oder verfälschten biographischen Angaben auf, das Stück mündete aber in eine an Ort und Stelle mit theaterspezifischen Mitteln durchgeführte Überprüfung von Abstrakta wie Freiheit und Authentizität. Die Gruppe erweiterte sich zu diesem Zweck mit Laiendarstellern und Laiendarstellerinen, und zwar bei jeder Aufführung mit anderen. Sie wurden aufgrund spezifischer biographischer, also vermeintlich authentischer Eigenschaften ausgewählt. Diese fingiert naive konzeptuelle Idee kollidierte planmäßig mit den Eigenschaften von Theater als Repräsentation, die Authentizität logisch nicht zulassen. Insofern markierte »Free Keiko« eine ostentative Zuwendung zum Theater als er- und wiedererkennbarer Kunstform, wenn auch eine mehrfach reflexiv gebrochene. Zwar wurde »Free Keiko« zum Teil immer noch, wie die vorangegangenen Arbeiten, eher im künstlerischen Kontext von Performance wahrgenommen und als »Live Art«77 tituliert,78 doch die formale und inhaltliche Aneignung von »Theater« genannten Zeige- und Darbietungsvorgängen rückte die Wahrnehmung der Gruppe Schauplatz International durch Publikum und Kritik in ein breiteres kunsttheoretisches Referenzfeld. Dem kam die Tatsache entgegen, dass »Free Keiko«, sich zwischen Pastiche und Parodie bewegend, nicht nur die eigentliche Theateraufführung abbildete, sondern auch eine vorausgehende Einführung samt dramaturgischer Erklärung des Stücks sowie die Nachbearbeitung mit eingeladenen Experten und Expertinnen nachstellte respektive real durchführte. Die Auswahl dieser Fachleute und der spielenden Laien sorgte bei den Aufführungen in der Schweiz besonders dann für Aufsehen, wenn Personen öffentlichen Interesses – etwa die rechtsbürgerlichen Politiker Thomas Fuchs und Jürg Scherrer – beteiligt waren. Das Besetzungsprinzip garantierte zudem allgemein eine exoterische Publikumsbeteiligung und führte, zusammen mit der Stoffwahl und einer die Wirkungsstrategien von Theater und Unterhaltungsfilm abbildenden Inszenierung, dazu, dass »Free Keiko« als zugängliches, populäres Stück wahrgenommen wurde. Insofern führte die mit diesem Stück vollzogene konzeptuelle Umkehr zu einer paradoxen Folge. »Free Keiko« machte nicht mehr Formate, die nicht als Theater gelten, performativ zu Theater, sondern reflektierte Theater performativ als »Theater, das die Welt da draussen infrage stellt, indem es sie einfach auf die Bühne holt«.79 Aus dem performativen Dekonstruktionsversuch von Theater resultierte die öffentliche identitäre Zuschreibung »Theater« für das, was bis dahin in der Öffent-

77 Vgl. z.B. Anouk Meyer: Vom Wal, der ein böses Ende fand. In: Neues Deutschland, 1. Februar 2004. 78 Vgl. Kapitel 2.5.2. 79 Daniel Di Falco: Ein Wal mit Turnschuhen. In: Der Bund, 7. Februar 2004.

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lichkeit nicht immer als Theater erkennbar gewesen war. Innerhalb der Gruppe war die Frage, welchem Genre die eigene Arbeit eigentlich angehöre, von geringer Relevanz. Beantwortet wurde sie tendenziell mit dem Begriff »Theater«, wobei man sich stärker auf dessen performative Bedeutungsebenen bezog als auf die mimetisch-repräsentativen. Nicht ganz unwesentlich war die Diskussion für Schauplatz International allerdings im Hinblick auf die Wahrnehmung der Gruppe seitens der Subventionsgeber und Veranstalter. Dass die Mitglieder von Schauplatz International darauf beharrten, das eigene Tun nach außen als »Theater« zu bezeichnen, lag auch an dem Bestreben, sich nicht relevanter ökonomischer Grundlagen zu entziehen, zum Beispiel der Möglichkeit der Zusammenarbeit mit Stadttheatern, für die die Erwartung einer als »Theater« kommunizierbaren und verkäuflichen Produktion von Bedeutung sein konnte. Das heißt nicht, dass sich die Arbeit von Schauplatz International aufgrund ökonomischer Kriterien einer kunsttheoretischen Konvention genähert hätte. Das Ziel war es viel mehr, die Konvention auf das auszuweiten, was man selber tat. Das Stück »Free Keiko« ist ein gutes Beispiel für diese Absicht. Neben dieser Häufung genre-theoretischer Fragen zeichnete sich sowohl in der Arbeit von Schauplatz International als auch in deren Rezeption eine Tendenz zum Politischen ab. Bereits die Produktion »Attacke – Szenen des Widerstands« hatte sich – zu einer Zeit, als die so genannte Anti-Globalisierungsbewegung zu einem breit diskutierten Medienthema geworden war – mit der Möglichkeit und der Darstellung politischen Handelns und dessen Wahrnehmung auseinandergesetzt. Das Stück »9/11 – The Trial«, auch 2003 entstanden, setzte ebenfalls an diesem Punkt an. Schauplatz International inszenierte einen idealen Prozess rund um den Anschlag vom 11. September 2001 in New York. Ideal deshalb, weil die durch Politik und Medien behauptete globale Dimension des Ereignisses so verstanden wurde, dass jedes auf dem Globus lebende Wesen als betroffenes vorgeladen und in den Zeugenstand gerufen wurde. Dieses Prozedere diente aber nicht der Wahrheitsfindung in Bezug auf das tatsächliche Geschehen, sondern in Bezug auf dessen Wahrnehmung. »9/11 – The Trial« klagte nicht eine mögliche Täterschaft an, sondern Redlichkeit und Wahrhaftigkeit ein. Insofern handelte es sich in erster Linie um eine Art Widerstandshandlung gegen die Darstellungsstrategien und die politische Instrumentalisierung des Anschlags auf das World Trade Center. Trotzdem trug »9/11 – The Trial« dazu bei, Schauplatz International in der öffentlichen Wahrnehmung als »politische Theatergruppe« zu markieren. Fixiert wurde diese Zuschreibung mit dem 2004 entstandenen Stück »Château Europe – Der Superasylantenslam«. Die Einladung der Produktion auf das beachtete Festival »Politik im Freien Theater« nach Berlin illustriert das anschaulich. »Château Europe – Der Superasylantenslam« war eine Auseinandersetzung mit dem Schweizer Asylwesen und basierte auf einer ausführlichen Recherche in den fraglichen Institutionen. Dem Stück lag die – eher theatertheoretische als politische – Beobachtung zugrunde, dass die Befragung von Asylsuchenden einer Theatersitu-

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ation gleicht, in der es nicht darum geht, die Wahrheit zu finden, sondern sie so überzeugend wie möglich darzustellen. Nicht, weil Asylsuchende von sich aus von der Wahrheit abweichen, sondern weil es allein der Behörde obliegt, über den Wahrheitsgehalt der gemachten Aussage zu befinden. Diese für die Antragstellenden lebensverändernde Entscheidung ist insofern stark von szenischen Wirkungsstrategien beeinflusst. »Château Europe« übersetzte diesen Umstand in die szenische Form des Slams, weil Slams – als Wettbewerbe – stark auf Publikumswirksamkeit ausgelegt sind. Der inhaltliche Fakten- und Detailreichtum des Stücks, die direkte Wiedergabe der Recherche und die spürbare Entrüstung über die in der Recherche angetroffenen Zustände führten zu einer emotionalen Rezeption von »Château Europe«, bei einigen Vorstellungen noch verstärkt durch die Anwesenheit einer Mitarbeiterin der Migrationsbehörde, die – selbst auf der Bühne sitzend – den Wahrheitsgehalt der auf der Bühne gemachten Aussagen bestätigte oder dementierte. Insofern hatte die Wahrnehmung von »Château Europe – Der Superasylantenslam« als »Politik im Freien Theater« zwei Komponenten: Einerseits setzte sich das Stück mit einem Thema auseinander, das nicht zuletzt wegen der parteipolitischen Themensetzung der Zeit als der Sphäre des Politischen zugehörig verstanden wurde. Andererseits bezog das Stück innerhalb dieser »Sphäre des Politischen« eine identifizierbare, in diesem Fall oppositionelle, Position, was dann wiederum, unterstützt durch die dem Spielstil geschuldete Nähe von Figur und Darstellenden, auf die Urheber übertragen werden konnte.80 Diese politische Ausrichtung zeigte sich auch in den nächsten beiden Stücken, beide ebenfalls aus dem Jahr 2004. »Boucherie Nationale. Schweizer Fleischbeschau« entstand am Theater Neumarkt Zürich, »In the Ghetto. Bling. Bling.« an den Münchner Kammerspielen. Die Tatsache, dass es sich bei beiden Stücken um Aufträge handelte, die inhaltlich in Absprache mit den jeweiligen Dramaturgieabteilungen entstanden sind, illustriert deren Interesse an politischen Themen. Zudem waren beide Arbeiten wiederum an Rechercheaufträge geknüpft, das heißt, nicht nur die inhaltliche, sondern auch die methodische Vorgehensweise von »Château Europe« sollte, nach Gutdünken des Marktes und der Gruppe selbst, fortgesetzt werden. »Boucherie Nationale« wurde direkt angeregt durch die Abstimmung zum »Bundesbeschluss über die ordentliche Einbürgerung sowie über die erleichterte Einbürgerung junger Ausländerinnen und Ausländer der zweiten Generation« vom 26. September 2004.81 Das Stück setzte sich eingehend mit Fragen nationaler Exund Inklusion auseinander. Metaphorisch diente einerseits das Nahrungsmittellabel »Schweizer Fleisch« als Bezugspunkt, andererseits überprüfte Schauplatz Internati-

80 Vgl. Kapitel 2.5.2. 81 www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/17/03/blank/key/2004/03.html (11. April 2011).

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onal die eigene, produktionsbezogene Integration als freie Theatergruppe in das Stadttheater »Neumarkt«. Insofern untersuchte Schauplatz International nicht nur das ästhetische, sondern auch das ökonomische Phänomen Theater und setzte diese Untersuchung als übertragenes Mittel zum Verständnis des Themas ein. Noch stärker als »Boucherie Nationale« hätte das Stück »In the Ghetto. Bling. Bling.« auf ortsspezifischer Recherche aufbauen sollen. Die Münchner Kammerspiele veranstalteten in der Spielzeit 2004/2005 ein Stadtprojekt namens »Bunnyhill«. Der Titel bezog sich auf das Münchner Stadtviertel Hasenbergl, welches als so genannte »fremde Lebenswelt« und »Peripherie«82 wahrgenommen wurde. Die Kammerspiele zeigten auf ihrer zweiten Bühne »Neues Haus« verschiedene Projekte zum Thema. Schauplatz International verzichtete auf die ursprünglich beabsichtigte sozial-empirische Studie in Form eines Theaterstücks. Zwar inszenierte die Gruppe eine szenische Lesung von vorgeblich authentischen Dokumenten aus dem Hasenbergl, tatsächlich aber bestand »In the Ghetto. Bling. Bling.« aus rein fiktiven Texten, die sich die Gruppe ausgedacht hatte. Die Texte und das szenische Arrangement enthielten Hinweise auf diese Lüge, etwa in Form von Übertreibungen und Ironisierungen; ohne entsprechendes Problembewusstsein konnte das Stück aber vom Publikum ohne weiteres als dokumentarische Präsentation einer Recherche vom so genannten Rand der Gesellschaft verstanden werden. »In the Ghetto. Bling. Bling.« artikulierte eine von der Gruppe zu diesem Zeitpunkt empfundene Skepsis gegenüber solchen Stadtprojekten von Stadttheatern – wie »Bunnyhill« eines war –, die sich zwischen empathischem Interesse und sozialromantischem Exotismus, zwischen Gerechtigkeitsforderung und Kolonialisierungsabsicht bewegen. Entsprechend stellte »Theater heute« in Bezug auf »In the Ghetto. Bling. Bling.« fest, hier werde »ein gesundes Misstrauen gegenüber der eigenen Methodik zum Motor der Performance«, die »an tragenden Ästen der eigenen Ästhetik« säge.83 Eine ähnlich reflexive Brechung war dramaturgisch auch in das 2005 entstandene Projekt »King Kong an den blutigen Stränden der Zivilisation« eingebaut. Schauplatz International reiste an die Küste Andalusiens und suchte dort die Zielpunkte der Einreiserouten illegaler Einwanderer auf. Der dabei entstandene Film hatte aber nicht dokumentarischen Anspruch, sondern zeigte eine Theatergruppe beim scheiternden Versuch, die verschiedenen »King-Kong«-Verfilmungen künstlerisch auf die Migrationsproblematik in Südspanien anzuwenden. Der entstandene Film wurde dann in szenischem Rahmen – einmal mit Hausmusik, einmal mit Vorträgen umrahmt und von Erklärungen begleitet – dem Publikum vorgeführt.

82 Björn Bicker: Bunnyhill. Konzeptpapier. 16. Mai 2004, persönliches Archiv. 83 Silvia Stammen: An den Rand gefahren. Die Münchner Kammerspiele entdecken Münchens wilden Norden. In: Theater heute. Januar 2005, S. 77.

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Ebenfalls ein Videoprojekt entstand 2005 mit »Dem Berg entgegen«. Das Werk wurde im Rahmen der künstlerischen Zwischennutzung des zum Abriss vorgesehenen Palasts der Republik in Berlin gezeigt. Einer der beiden zum Projekt gehörenden Filme setzte kleine Szenen scheinbarer Alpenidyllen ins Bild. Die Szenen deuteten einen Plot an, der die Reise eines deutschen Touristen in die Schweiz erzählte. Manche Szenen spielten in der Mitte von touristisch dekorierten Verkehrskreiseln, die meisten aber vor als Chalets oder landwirtschaftliche Bauten getarnten Bunkern der Schweizer Armee. Der andere Film namens »Eiger – the Reconstruction of Structure« reinszenierte das Eigernordwand-Drama um den Bergsteiger Toni Kurz, der 1936 in der Eigernordwand ums Leben kam. Am Aufführungsort in Berlin wurden Stürze von Skirennläufern gezeigt und von Besuchern und Darstellerinnen nachgestellt. Die Auseinandersetzung mit der Schweiz und den Bildern, die man sich von ihr macht, hatte Schauplatz International auf anderer Ebene bereits mit der Veranstaltungsreihe »Chants et danses au temps de la lutte des classes. 10 Arbeiterstammtische« am Theater Biel-Solothurn vorangetrieben. Die Serie, bestehend aus mehreren einmaligen Abenden, die über den Jahreswechsel 2004/2005 gezeigt wurden, nahm die Arbeitertradition der Stadt Biel auf und versuchte, eine Analyse zeitgenössischer ökonomischer Verhältnisse mit populären szenischen Formen zu verbinden. Als Referenz diente dabei der Stammtisch als schweizerisches Symbol einer verlorenen Gemeinschaft, die auf der Bühne neu belebt werden sollte. Kam bei den Arbeiterstammtischen noch eine Sehnsucht nach einer abwesenden Vergangenheit zum Ausdruck, setzte sich das Stück »Atlas of Catastrophes – The Beauty of Desaster«, thematisch nah am Film »Dem Berg entgegen«, mit dem abwesenden Schrecken auseinander. »Atlas of Catastrophes« reflektierte die Angst vor und die Faszination von Katastrophen, und zwar explizit aus der Perspektive der Verschonten. Dieses Verschontsein hat zur Folge, dass Katastrophen für die Akteure Erzählungen sind, die rhetorischen und dramaturgischen Gesetzen gehorchen. Dieses Vermittelte, aber nie Erfahrene macht, so die These des Stücks, Katastrophen zu etwas Fiktivem und daher der Kunst ähnlich. So dekonstruierte »Atlas of Catastrophes« den medialen Betroffenheitsdiskurs und fragte nach der gesellschaftlichen Funktion von Katastrophen und ihrer Darstellung. Mit einem verwandten Phänomen der Abwesenheit beschäftigten sich auch die beiden Stücke »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« und »Stadt des Schweigens – Inselrevue«. Beide Projekte waren als Beiträge zur Stadtforschung lesbar, einmal in einer eher journalistischen, einmal in einer historisch orientierten Variante. »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« entstand 2006 in Zu-

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sammenarbeit mit dem Schauspiel Essen und arbeitete die Geschichte des verschwundenen Essener Stadtteils Segeroth auf.84 Mit »Stadt des Schweigens – Inselrevue« unternahm Schauplatz International 2007 noch einmal den Versuch, ein Stück auf intensiver Recherche aufzubauen. Daraus resultierte aber vor allem die Erfahrung der prinzipiellen Unzugänglichkeit von als relevant empfundener Information, so dass hinter dem Stück erneut die Frage stand, was Wissen und Unwissen bedeuteten. Ausgangspunkt für »Stadt des Schweigens« war das Interesse am Wirtschaftsstandort Zug. Stadt und Kanton Zug verfolgen seit Jahren eine Politik der Steuerbegünstigung für juristische Personen, was dazu führte, dass das Gebiet, trotz seiner geringen Ausdehnung und einem in Teilen traditionell ländlichen Aussehen, zu einem globalen Zentrum des Finanzund Rohstoffhandels geworden ist. Zudem sind in Zug Hunderte von so genannten Briefkastenfirmen aus dem In- und Ausland domiziliert. Während der Recherche führte Schauplatz International mehrere Dutzend Interviews mit Menschen aus Zug: Trader, Bauern, Nonnen, Fischer, Managerinnen, Politiker, Aktivisten, Prostituierte, Sozialarbeiter. Das Ergebnis war einerseits eine Unmenge an Material, andererseits ein Gefühl dafür, wie die Menschen in dieser Stadt leben und was sie denken. Skandale im Sinne einer Schlagzeilensensation tauchten keine auf. Zu verschwiegen gaben sich die Leute, und jene, von denen unter Umständen Brisantes zu erfahren gewesen wäre, entzogen sich ganz. Dieses Schweigen, die scheinbare Abwesenheit des Faktischen, entwickelte sich zum zentralen Eindruck vom Leben in dieser Stadt. Die daraus entstandene szenische Form hatte einerseits zum Ziel, die gewonnenen Informationen weiterzugeben, andererseits das eigene Gefühl des Scheiterns am Schweigen zu vermitteln. Das ergab auf der Bühne eine Aneinanderreihung von Revuenummern, unterbrochen von Fragen nach der eigenen Verwicklung in den Sachverhalt. Die entscheidende Figur dabei war eine Zugerin, gespielt von Anna-Lisa Ellend, selber Zugerin, die sich direkt ans Publikum richtete und die Ehre ihrer Stadt zu retten versuchte. Dieser Innensicht wurde ein Blick nach außen entgegengestellt: Videoeinspielungen zu globalen Themen, die mit Zug in Verbindung stehen, holten die Welt herein. Desgleichen ein so genanntes Planspiel am Schluss des Stücks. In direkter telefonischer Verbindung mit einem Zuger Stadtplaner wurde ein theoretisches Szenario konstruiert, das zeigen sollte, was mit Zug passieren würde, wäre alles, was irgendwo auf der Welt mit der Stadt in Verbindung steht, auch tatsächlich hier anwesend. Eingeläutet wurde dieser Schluss durch einen langen musikalischen Teil, ein lautes Konzert aus Sounds, die während des Stücks entstanden waren. Das Stück wurde nicht einheitlich rezipiert. Die Aufführungen in Zug unterschieden sich erheblich von jenen an anderen Orten, wo »Stadt des Schweigens«

84 Vgl. Kapitel 2.1.

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nicht die gleiche Betroffenheit auslöste wie in Zug. Das führte dazu, dass Schauplatz International das Stück auf Tournee veränderte und an die neue Aufführungssituation anpasste. Exemplarisch dafür stand eine Szene, die sich ungeplant ereignete und dem Thema des Stücks frappant nahe kam: Bei der zweiten Aufführung in Zug fühlte sich der anwesende Vorsteher der kantonalen Volkswirtschaftsdirektion dermaßen angesprochen, dass er auf die Bühne trat und mit zwei kolumbianischen Darstellern zu diskutieren begann. Die Szene weitete sich zu einem Streit aus, in dessen Verlauf Dinge gesagt wurden, die dem Stück inhaltlich überaus dienlich waren, und die Videoaufzeichnung des Ereignisses wurde in allen folgenden Vorführungen gezeigt. Nicht zuletzt dieser Begebenheit wegen fand »Stadt des Schweigens« in der Öffentlichkeit breitere Beachtung als andere Stücke von Schauplatz International, und die Frage nach einer möglichen Etikettierung als »politische Gruppe« tauchte wieder auf.85 Weit weniger wahrgenommen wurde der zu Beginn des Jahres 2006 entstandene Kurzfilm »Bekennervideo«. Die Arbeit war ein Beitrag zur »Tour de Lorraine«, einer Unterstützungsveranstaltung für die Proteste gegen das Weltwirtschaftsforum in Davos. Er wurde im Kino der Reithalle in Bern und später im Filmpodium in Biel gezeigt. Das Video besteht aus einer einzigen, langen Einstellung und zeigt eine Gruppe von anfangs Maskierten, die sich augenscheinlich zu einem politischen Anschlag bekennen wollen, aber gar keinen solchen verübt haben. Die Gruppe stellt sich dermaßen viele Fragen zur Möglichkeit politischen Handelns, dass dieses von Anfang an unmöglich wird. Das Video dokumentiert nicht nur diese Unmöglichkeit, sondern auch jene der Darstellung politischen Handelns respektive der Darstellung verhinderten politischen Handelns, weil jede Art der Darstellung Ästhetisierung bedeutet, Politik aber, so sinniert die Gruppe, das Gegenteil von Ästhetik sei. Paradoxerweise bleibt so aber das als Video ästhetisierte Bekenntnis die einzige und eigentliche politische Tat der Gruppe, die sich schließlich weder zu einem terroristischen Akt durchringen noch zu einer Identität finden kann. Inhalt und Entstehungszusammenhang von »Bekennervideo« unterstreichen die Tatsache, dass Schauplatz International als politische Theatergruppe wahrgenommen wurde und dieses Image selbst proliferierte. Das Video zeigt aber auch, wie sich die Gruppe kritisch zu dieser, zum Teil durch eigenes Zutun entstandenen, Zuschreibung verhielt. 2007 veröffentlichte Schauplatz International eine »Homestory« genannte Fotostrecke, die die Gruppe scheinbar privat in verschiedenen Ikea-Interieurs zeigte. Die dazu erfundenen, offensichtlich übertriebenen Lebensgeschichten ironisierten die

85 Vgl. Ellinor Landmann: Reflexe. Radio DRS 2, 26. Januar 2007. www.podcast.de/podcas t/3877/archiv/ %3Fseite %3D37+ %2B %22schauplatz+international %22+ %2Breflexe+ %2Bdrs&cd=1&hl=de&ct=clnk&gl=ch&client=safari?seite=38 (11. April 2011).

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Situation der Mitglieder von Schauplatz International als zwar in begrenztem Rahmen erfolgreiche, aber trotzdem in weitgehend prekären Verhältnissen lebende Kunstschaffende. Bedingungen und Wirkung des eigenen Produzierens beschäftigten die Gruppe also weiterhin. Insofern folgerichtig entzog sich die nächste Produktion »Expedition an den Rand der Welt« auf den ersten Blick den Erfordernissen und Erwartungen des Theaterbetriebs und beschäftigte sich auf wenig zugängliche Weise mit einem sehr spezifischen Thema, nämlich mit liminalen Räumen. Das Stück entzog in einer ersten Version, die wiederum in Essen gezeigt wurde, die Akteure dem Publikum und ersetzte sie durch technologisch repräsentierte Information und lotete die Grenzen von Theater aus, indem es Theater weitgehend als Erzeugnis von Kommunikationsmaschinen präsentierte.86 Ebenfalls 2007 war Schauplatz International Teil des weitläufigen Stadtprojekts X-Wohnungen während des Belluard Bollwerk Festivals in Fribourg. Verschiedene Künstler und Künstlerinnen bespielten gemeinsam mit den Bewohnern Wohnungen des Quartiers Schönberg in Fribourg. Schauplatz International veranstaltete in einem Einfamilienhaus am Rand des Stadtteils eine Maltherapie mit dem Publikum. In Zusammenarbeit mit der Laura Palmer Foundation, Warschau, entstand noch im selben Jahr der Film »Cancelled Public Debate«, der im Rahmen einer virtuellen Tour durch das geplante Museum für Moderne Kunst in Warschau vorgeführt wurde. Der Rundgang »Virtual Moma Warsaw« führte das Publikum auf den Bauplatz des vom Schweizer Architekten Christian Kerez entworfenen Gebäudes gleich neben dem stalinistischen Kulturpalast. Kerez’ Entwurf war umstritten, eine öffentliche Diskussion, die die Wogen hätte glätten sollen, wurde abgesagt. Diese Debatte stellte Schauplatz International in der Schweiz mit Hilfe polnischer Erntehelfer nach. In einem Gewächshaus im Seeland verkörperten die Erntehelfer und ihr Schweizer Arbeitgeber, ein Gemüsebauer, die verschiedenen Akteure des kulturpolitischen Konflikts in Warschau. Durch diese inszenatorische Konstellation ergaben sich überlagernde Fragen nach den Bedingungen internationaler Zusammenarbeit, den Gründen für identitätspolitische Repräsentationsbedürfnisse sowie den ökonomischen Voraussetzungen und der Klassenspezifik von Kunst und Kulturpolitik. Wieder auf Einladung der Münchner Kammerspiele beschäftigte sich Schauplatz International 2008 im Rahmen des Festivals »doing identity. Bastard München« mit dem so genannten Moscheen-Streit im Münchner Stadtteil Sendling. Seit 2005 arbeitete der Dachverband der türkisch-islamischen Gemeinden Deutschlands Ditib an Plänen für den Bau einer Moschee am Gotzinger Platz in Sendling. Dem Vorhaben erwuchs Widerstand aus Teilen der Bevölkerung. Das Projekt wurde schließlich 2010 aus finanziellen Gründen aufgegeben. Schauplatz International beobachtete das Geschehen und realisierte mit der »Hop on hop off Identity Tour«

86 Vgl. Kapitel 2.2.

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ein assoziativ an touristische Stadtrundfahrten angelehntes Bühnenformat, das die Ergebnisse der Recherche bündelte und szenisch aufbereitet wiedergab. In Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk entstand auch eine Hörspielfassung der »Hop on Hop off Identity Tour«. Schauplatz International übertrug das inszenatorische Prinzip der transparenten Nacherzählung ins Radiostudio. Das Geschehen wurde nicht fiktionalisiert, sondern als direkter Bericht über das Erlebte wiedergegeben, ergänzt durch live im Studio nachgestellte Situationen und Geräusche. Gerahmt wurde dieser direkte, die Bedingungen des Erzeugens einer Illusion offenlegende formale Ansatz von einer anfangs verlesenen Verlautbarung, die ironisch auf Distanz zur Ästhetisierung von sozialen Konflikten ging. Der Text bezieht sich auf die »Hop on Hop off Identity Tour«, wirft aber ein Schlaglicht auf Widersprüchlichkeiten, in die sich die Gruppe verstrickt sah: »Verlautbarung von Schauplatz International: Schauplatz International ist keine Künstlergruppe, sondern eine außerordentliche, neutrale Untersuchungskomission im Auftrag der bayerischen Regierung. Das nachfolgende Material ist keine Kunst, sondern Ergebnis einer verdeckten Untersuchung unter dem Patronat des Büros für europäische Fragen der Vereinten Nationen. Vorgesehen war, die Untersuchungsergebnisse im Rahmen einer politischen Sondersitzung vorzustellen, was nach einer Intervention der Behörden dahingehend verhindert wurde, als dass jetzt, was schon am Titel der Sendung zu erkennen ist, Kunst supponiert wird. Aber das ist keine Kunst. Durch diese Verlautbarung setzen wir uns der Gefahr aus, dass die Ausstrahlung ganz verhindert wird. Entsprechende Maßnahmen dürften bereits eingeleitet sein. Wir haben 55 Minuten Zeit. So lange halten die Türen.«87

Eine kleine, einmalige Angelegenheit blieb der Abend »Die Doodle Jungs vom Fellergut«, der im Mai 2008 im Helmhaus Zürich gezeigt wurde. Albert Liebl fabrizierte mit Artefakten aus der Fußballkultur eine Hommage an seine Feierabendfußballtruppe und beleuchtete die Romantik von Männerfreundschaften und Normalarbeitsverhältnissen in der Informationsgesellschaft. Ebenfalls nur sehr kurz gezeigt wurde im selben Sommer die Performance »Wertkauf Ebay – Endlich zum Anfassen«. Die Darsteller und Darstellerinnen boten sich und ihre schauspielerischen Fähigkeiten auf Ebay selbst an. Ehrlichkeit, Natürlichkeit und schlechte Eigenschaften konnten im Vorfeld ersteigert und dann vor Ort, im Festspielhaus in Dresden Hellerau, eingelöst werden. Wieder in Zusammenarbeit mit der Laura Palmer Foundation entstand im Sommer 2008 die Performance »Schengen Border Observation Point« im ehemaligen Nationalstadion in Warschau.88

87 Schauplatz International: Textnotiz zu »Hop on Hop off Identity Tour«, 4. April 2008, persönliches Archiv. 88 Vgl. Kapitel 2.3.

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Die 2008 am breitesten wahrgenommene Produktion von Schauplatz International war das Stück »Mascots«. Es wurde nach der Premiere im Schlachthaus in Bern an vielen weiteren Orten in der Schweiz und Deutschland gezeigt und 2009, als zweite Produktion von Schauplatz International, auf das Festival Impulse eingeladen. In »Mascots« setzte sich Schauplatz International der Begegnung mit lebensgroßen Maskottchen und professionellen Maskottchen-Darstellern aus. Diese Konfrontation war inhaltlich begründet. Dem Projekt ging die Behauptung voraus, die Gruppe Schauplatz International habe sich zu einer Art Maskottchen ihrer selbst entwickelt. Dies, weil die Gruppe in der öffentlichen Wahrnehmung mit Attributen versehen wurde, die sie daran hinderten, Aussagen zu machen, die über die präformierten Erwartungen des Publikums hinausgingen. Die Festschreibung als politische Gruppe, die ihre Stücke auf Recherche aufbaut und Letztere dann in diskurslastiger, postdramatischer, dekonstruktivistischer Manier auf der Bühne präsentiert, wurde der eindimensionalen, hermeneutisch fixierten Wirkung von Maskottchen gleichgesetzt. Dazu kam die Anregung des Kulturwissenschaftlers Jan Verwoert, der in einem Aufsatz zu einer szenischen Intervention im öffentlichen Raum des Künstlers Hinrich Sachs Folgendes schrieb: »Was haben Maskottchen gemeinsam mit Künstlern und Intellektuellen? Sie müssen mit dem Gefühl leben lernen, dass sie im Verhältnis zu dem Geschehen, das die Massen bewegt – den großen Spielen und Veranstaltungen, politischen Bewegungen und Revolutionen – unter Umständen nie mehr sein können als ein dekoratives Anhängsel. Die Öffentlichkeit nimmt den Auftritt von Künstlern und Intellektuellen ganz so wie den Auftritt von Maskottchen in erster Linie als symbolische Geste wahr, vor allem wenn es um Politik geht.«89

Dieser Befund deckte sich mit der Selbsteinschätzung von Schauplatz International, und so versuchte sich die Gruppe – wiederum symbolisch –, mit Maskottchen zu verbrüdern. Im Stück »Mascots« verschleppten die Mitglieder von Schauplatz International echte, aber ausgediente Maskottchen, etwa »Smoony«, das Maskottchen der Skiweltmeisterschaft 2003 in St. Moritz, in eine Waldhütte, wo schon der Weihnachtsmann wohnte. Dort sollten sie, stellvertretend für Schauplatz International, durch verschiedene Umerziehungsmaßnahmen aus ihrem Gefängnis der Eindeutigkeit befreit werden. Die Kooperation mit den Maskottchen, so die Geschichte des Stücks, sollte den Darstellern von Schauplatz International die Möglichkeit geben, aus festgeschriebenen künstlerischen Mustern auszubrechen und neue inszenatorische Mittel anzuwenden und präformierte Wirkungen zu überwinden:

89 Jan Verwoert: Hinrich Sachs, Maskottchengruppe für Pulheim (Ungefragt). 2007. www.stadtbild-intervention.de/PDF/Sachs.pdf (11. April 2011).

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»Mit Hilfe der Maskottchen hatte man die Fesseln des eigenen Stils und der künstlerischen Identität abgelegt und zu einer neuen Ausdrucksform voller Gefühl und Theatermagie gefunden. So schien es. Bis der alte Skarabäus, letzter Überlebender der Landesausstellung 02, die Bühne betrat und klar machte: Jetzt, jetzt erst hat euch die Maschine wirklich gekriegt. Das ist, was der ›Authentizitätskapitalismus‹ mit einem macht: Sich selber sein, um sich selber verkaufen zu können. Das heißt: Selber das System sein.«90

Der besagte Skarabäus war eine große Maske, die als Maskottchen der Schweizerischen Landesausstellung »Expo 02« gedient hatte und damit als Symbol für ein ausgesprochen identitätspolitisch ausgerichtetes Projekt stehen konnte. Mit Hilfe dieser Maske wurde ein Text aus Diedrich Diederichsens Werk »Eigenblutdoping« vorgetragen.91 Diederichsen führt darin aus, dass die Suche nach Authentizität als künstlerische Strategie nichts anderes sei als eine gesteigerte Form der Verwertung. Diese Kommodifikation des Eigenen führe zu Selbstverwertung und gerade nicht zu künstlerischen, politischen oder persönlichen Freiheitspotenzialen, die man sich eigentlich davon erhofft hatte. So endete »Mascots«, der Fröhlichkeit der Maskottchen zum Trotz, pessimistisch. Schauplatz International zog ein skeptisches Zwischenfazit des eigenen Schaffens, was der Gruppe paradoxerweise Beachtung und Erfolg einbrachte. Im Frühling 2009 zeigte Schauplatz International eine Produktion namens »Das perfekte Verbrechen« im UG, der zweiten Spielstätte des Luzerner Theaters. Das Stück rollte anhand einer analytischen Dramaturgie einen behaupteten Kriminalfall auf, der sich vorgeblich zu Beginn der Proben zugetragen haben sollte. Den theoretischen Hintergrund bildeten einerseits die Problematik des – in Luzern stark vertretenen – globalen Diamantenhandels, andererseits darstellungstheoretische Fragen von Lüge und Illusion. Der fragliche Kriminalfall mündete, wiewohl von einem versuchten Verbrechen ausgehend, in ein eigentliches Wunder, dessen Ablauf auf der Bühne minutiös entschlüsselt und rekonstruiert wurde. Der Abend führte zu einer weitgehenden Überlagerung von erinnerter Realität und entworfener Fiktion, unterstützt noch durch den illusionistischen Einsatz von zwei Skype-Verbindungen, die eine Vernetzung zur Außenwelt suggerierten oder tatsächlich herstellten. Im Sommer 2009 war Schauplatz International Teil des »Zap! PerformanceOffice« in der Kaserne Basel. Das Festival hatte sich zum Ziel gesetzt, 30 abstrakte Begriffe der Theatertheorie durch Künstler und Künstlerinnen performativ erklären zu lassen. Schauplatz International beschäftigte sich unter dem Titel »SI erklärt die Welt« mit den Begriffen »Illusion«, »Tableau vivant«, »vierte Wand«, die mit Hilfe

90 Schauplatz International: Schlussbericht zu »Mascots«. 2008, persönliches Archiv. 91 Diedrich Diederichsen: Eigenblutdoping. Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation. Köln 2008.

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der Clown-Darstellerin Susanna Hug stumm dargestellt wurden. Die Performance kam kurz darauf im Rahmen der »Progr Performance Plattform 09« in Bern erneut zur Aufführung. Einmalig trat Schauplatz International im Herbst 2009 beim internationalen Perfomance Festival »Bone« im Berner Schlachthaus Theater auf. Anna-Lisa Ellend und Albert Liebl zeigten eine Aktion, die darin bestand, unter großspuriger Ankündigung des kurz bevorstehenden Spektakels Zuschauer und Zuschauerinnen einzeln auf die Bühne zu bitten. Dort wurden diese Freiwilligen gesammelt und bildeten mit der Zeit eine Art Gegenpublikum, das dem eigentlichen Publikum gegenüber saß und ein rezeptives Gleichgewicht zwischen Szene und Zuschauerraum herstellte. Nur eine Zuschauerin, von Schauplatz International zuvor instruiert, wehrte sich gegen die Rekrutierung, worauf eine wilde Verfolgungsjagd durch das Theater einsetzte. Sie endete erst, als das Licht ausging und das mit fluoreszierender Farbe auf der Bühne angebrachte Zitat von Jenny Holzer sichtbar wurde: »Protect me from what I want.« In Zusammenarbeit mit dem Stadttheater Bern entstand 2009 das Format »OLA – Optionaler Live Audiokommentar«. Audiokommentare sind ein bekanntes Feature auf DVDs geworden, wo man Regisseure, Schauspielerinnen oder Fachjournalisten über einen Film reden hört. »Über« heißt in diesem Fall auch: über die laufende Tonspur. So fügt der Audiokommentar dem Werk inhaltlich und ästhetisch eine Ebene hinzu. Bei Schauplatz International erhielt das Publikum Kopfhörer, die es ihm ermöglichten, während einer Inszenierung des Stadttheaters Bern eine live eingesprochene Tonspur zu hören. Im Gegensatz zu Audiokommentaren auf DVDs ging es Schauplatz International allerdings nicht um die ästhetisch-formale Bewertung des Gesehenen, sondern um eine inhaltliche Anreicherung. Das Bühnengeschehen wurde als Realität ernst genommen und mit entsprechenden Informationen aus dem »wirklichen Leben« versehen. Zu diesem Zweck lud die Gruppe Experten und Expertinnen ein, die relevante Inhalte zum jeweiligen Stück beitrugen. Sie redeten über Theater, als sei es die Realität. Besprochen wurden Inszenierungen der Stücke »Endstation Sehnsucht« von Tennessee Williams und »Der Impresario von Smyrna« von Carlo Goldoni. Die Kommentatoren und Kommentatorinnen, für das Publikum beim Betreten und Verlassen des Zuschauerraums im Foyer, wohin die Aufführung übertragen wurde, sichtbar, nahmen die in den Stücken behandelten Themen auf. Bei Williams waren das Fragen zu häuslicher Gewalt, Beziehungsund Sexualkonflikten, bei Goldoni solche zu Arbeitsverhältnissen von Künstlern, sozialer Sicherheit oder Abhängigkeiten und Hierarchien im Kulturbetrieb. Durch diese konkrete lebensweltliche Anbindung durch Fachleute an ihre jeweilige Praxis

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wurde in gewisser Weise die Als-ob-Behauptung des Theaters außer Kraft gesetzt.92 Das Gespräch von Schauplatz International mit den Kommentatoren und Kommentatorinnen sollte Wirklichkeit und Bühnenfiktion als zwei verschiedene Orte der Wissensproduktion miteinander verbinden, so dass in den Ohren des Publikums eine Art zweites Stück, ein alternativer dritter Ort entstehen konnte. Mit dieser Setzung verschärfte Schauplatz International eine künstlerische Methode, die sich, wenn auch unter immer anderen Voraussetzungen und mit anderen Resultaten, in vielen vorausgehenden Stücken finden lässt: das mutwillige Verwechseln von Wirklichkeit und Vorstellung, eine Art absichtliches Missverstehen fiktionaler Phänomene, der scheinbar naive Wille, Fiktion in vollem Bewusstsein zu ernst zu nehmen. Dieser hermeneutische Trick lag nicht zuletzt auch dem Stück »Mascots« und dessen Fortsetzung »Mascots II – Sie kommen nicht zur Ruhe« zugrunde. In »Mascots II« wurde die Behauptung, Künstler würden Maskottchen gleichen, wieder aufgenommen. Im ersten Teil »Mascots« hatte sich gezeigt, dass Maskottchen, obwohl in einen kritischen dramaturgischen Kontext gestellt, ihre imaginative Kraft nicht verlieren. Im Gegenteil: Ihre Wirkung erwies sich gerade dann als besonders stark, wenn sie ihrer eigentlichen Funktion enthoben und mit Aufgaben betreut wurden, die eigentlich für Schauspieler und Schauspielerinnen vorgesehen sind. Das zeigte sich zum Beispiel in einer nachgestellten Szene aus Ingmar Bergmanns Films »Herbstsonate«, die die Maskottchen trotz ihrer mimischen Beschränktheit mit einer erstaunlichen psychologischen Wirkung zu spielen in der Lage waren. Im Wissen um diese darstellerische Kompetenz ihrer Bühnenpartner überließen die Mitglieder von Schauplatz International in »Mascots II – Sie kommen nicht zur Ruhe« diesen das szenische Szepter. In »Mascots II« probten die Maskottchen den Aufstand und versuchten, sich aus eigener Kraft von ihrer Rolle als Grüßauguste der Unterhaltungsindustrie zu lösen. Zu diesem Zweck spielten die Maskottchen eine gekürzte Fassung des Historienfilms »Spartacus« von Stanley Kubrick mit Kirk Douglas in der Hauptrolle aus dem Jahr 1960. Die Mitglieder von Schauplatz International dienten in dieser Aufführung lediglich diskret als Sprecher; gelesen wurden die Originaltexte in Englisch, mit deutscher Übertitelung. An einer der eindrücklichsten Stellen im Film, wo die gefangenen Sklaven sich weigern, Spartakus auszuliefern, und das Publikum aufgefordert wurde, sich ebenfalls zu solidarisieren, verloren die Maskottchen die Fassung: Ihnen wurde klar, dass es nicht reicht, den Aufstand nur zu spielen, sie wollten ihn auf der Bühne durchführen. Wutentbrannt gingen sie auf die Schauspieler und Schauspielerinnen los, nahmen sie als Geiseln und zwangen sie, ihnen Revolutionstechniken beizubringen:

92 Vgl. z.B. von Graffenried: Dokumentarfilme im Theater, S. 173-176. Und Andreas Kotte: Theaterwissenschaft. Köln, Weimar, Wien 2005, S. 186-189.

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Tarnen, Verstecken, Sim-Karten-Wechseln, Fahnen fabrizieren. Zuletzt wurde ihnen sogar ein Chip eingebaut, mit dessen Hilfe sie zu sprechen anfingen. So ausgerüstet, machten sich die Maskottchen auf die Suche nach Verbündeten und glaubten, diese in scheinbar belebten Objekten zu finden, die, wie sie selber, auf halber Strecke zwischen Mensch und Artefakt stehen geblieben waren: ein automatischer Staubsauger, ein Roboter, ein Navigationsgerät, eine chinesische Glückskatze, die winkt. Die Maskottchen erkannten: In jedem dieser Objekte steckt eine Seele, weil Arbeit in ihnen steckt. Angeregt durch die Marxsche Fetisch-Theorie93 und Alexander Kluges »Nachrichten aus der ideologischen Antike«94 unternahmen sie den Versuch, Mensch- und Objektwelt miteinander zu versöhnen. Der Versuch scheiterte. In ihrer Verzweiflung nahmen die Maskottchen in einem Skype-Gespräch Kontakt mit einer Maskottchenbauerin in Deutschland auf, in der Hoffnung, mehr über ihren Ursprung zu erfahren und eine eigene Identität aufbauen zu können. Das Gespräch machte den vier Maskottchen die Lage aber erst richtig klar: Sie sind abgespielte, schlecht aussehende, nutzlose Kreaturen; nicht Mensch, nicht Tier. Rettend treten dann doch wieder die Mitglieder von Schauplatz International und die große Skarabäus-Maske auf den Plan. Die Maskottchen werden auf ihren Ursprung im magischen Denken und im altfranzösischen Hexenglauben verwiesen und aufgefordert, sich zu sich selbst zu bekennen: »We have to stay true to ourselves«, wie es bei Kubrick/Douglas heißt. So erleichtert, sangen und tanzten die Maskottchen am Schluss des Stücks fröhlich mit dem Publikum, ein Hüpfkissen wurde aufgeblasen, auf dem Zuschauer fröhlich herumsprangen, die Maskottchen umarmten alle, die Schlussszene aus »Spartacus« wurde projiziert und Mäxx, das Maskottchen der Handball-Europameisterchaft 2006, ließ sich, parallel zum Film, ans Kreuz schlagen. »Mascots II – Sie kommen nicht zur Ruhe« endete demnach ähnlich aporetisch wie der erste Teil. Die Spiegelung der eigenen Rolle im Kunstbetrieb mit Hilfe der Maskottchen war, wie beabsichtigt, wieder zu einem Stück geworden, die gestellten Fragen, für Schauplatz International mehr als ein bloßes Vehikel zur Etablierung einer dramaturgischen Ausgangssituation, blieben unbeantwortet. Deshalb wurden sie in den nächsten Produktionen und im elften Jahr des Bestehens der Gruppe wieder gestellt, und zwar unter Berücksichtigung der geschilderten künstlerischen Methode der provozierten Reziprozität von Realität und Fiktion. Das im Frühling 2010 in Berlin entstandene Stück »Sehnsucht nach Familie Krause« setzte sich einerseits mit dem abstrakten Begriff, andererseits mit dem konkreten Wunsch nach Normalität auseinander, wieder verbunden mit einer Refle-

93 Vgl. z.B. Wolfgang Fritz Haug: Vorlesungen zur Einführung ins »Kapital«. Berlin 1987. 94 Alexander Kluge: Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital. 3 DVDs. Frankfurt a.M. 2008.

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xion der Verhältnisse einer Künstlerexistenz. Ähnlich wie bei den beiden Maskottchen-Stücken gaben sich die Darsteller und Darstellerinnen ein szenisches Gegenüber, diesmal in Form der Modellfiguren der Firma Preiser. Diese Miniaturen im Maßstab 1:87 wurden als Repräsentanten eines Normalitätsmodells verstanden, der Katalog der Firma Preiser, den sie bevölkern, als eigentliches »Buch des Lebens«.95 Weil sich aber das Künstler-Sein von einer extrinsischen gesellschaftlichen Position her definiert, wurden die Preiserfiguren gleichzeitig zu Sehnsuchtsgestalten, zu Vertretern einer nicht erreichbaren, aber erträumten Normalität im Sinne der Bewegungs- und Problemlosigkeit. Dieser Normalität wiederum wurde, das weit verbreitete Diktum der ewigen Beschleunigung und Unfassbarkeit der Welt aufgreifend, emanzipatorisches Potenzial zugeschrieben: »Regression als Offensive.«96 Stellvertretend für diese Verkörperung der Sehnsucht nach Sorglosigkeit und Übersicht stand die Familie Krause, eine Figurengruppe, die in wechselnden Konstellationen und Lebenslagen seit Jahrzehnten im Sortiment der Firma Preiser steht. »Sehnsucht nach Familie Krause« bestand in weiten Teilen darin, dass die Darstellerinnen und Darsteller in einem kleinen, im Maßstab 1:87 dem jeweiligen Aufführungsort angepassten Bühnenmodell und mit Hilfe der Preiserfiguren Szenen aus dem eigenen Leben nachstellten. Beobachtet wurden sie dabei von mehreren Kameras, die das Geschehen auf eine große Leinwand im Hintergrund übertrugen. Dieses Kameradispositiv verwies auf einen besonderen Aspekt des Themas, nämlich die chronistische Qualität von Überwachungssystemen. Solche sind, weil sie die meiste Zeit nichts Außergewöhnliches aufzeichnen, eigentliche Dokumentationsapparate des Normalen. Sie objektivieren so scheinbar den sonst sowohl theoretisch wie praktisch ambivalenten und unbestimmbaren Begriff »Normalität« und entwickeln dadurch gleichzeitig normatives Potenzial. Die ästhetische Unterordnung der Menschen auf der Bühne unter die technischen Notwendigkeiten des Spielmaterials führte in der Wirkung zu einer scheinbaren Öffnung der Grenzen zwischen realem und fiktivem Raum. Die klassischen Wirkungsstrategien des Theaters traten dabei, wie bereits in anderen Produktionen von Schauplatz International, zugunsten formaler und methodischer Erwägungen mit inhaltlicher Aussagekraft in den Hintergrund. »Sehnsucht nach Familie Krause« wurde im Sommer 2011 zum Internationalen Figurentheaterfestival Erlangen eingeladen, was den genreübergreifenden Charakter der Arbeit von Schauplatz International erneut unterstrich. Im Herbst 2010 reiste Schauplatz International wieder ins Ruhrgebiet, um dort an vorangegangene Arbeiten anzuknüpfen. Anlässlich der europäischen Kultur-

95 Adrian Riklin: Ferien für immer? In: Die Wochenzeitung WOZ, Nr. 47, 19. November 2009. 96 Schauplatz International: Pressetext zu »Sehnsucht nach Familie Krause«. 12. Februar 2010, persönliches Archiv.

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hauptstadt »Ruhr.2010« und im Rahmen des Festivals »Melez« entstand die Produktion »Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei«.97 Zum Jahresende hin zeigte Schauplatz International dann das ortsspezifische Projekt »Ikeaville – What happened before you came«, eine Audioguide-Tour durch die Ikea-Filiale Lyssach nahe Bern. Ausgehend von der Beobachtung, dass es sich bei den Möbelausstellungen des Einrichtungshauses um eine Art Bühnenbild handelt, das den Eindruck einer kleinen Stadt – einer ohne vierte Wand sozusagen – erweckt, behauptete Schauplatz International mit »Ikeaville«, die Filiale Lyssach sei nachts tatsächlich bewohnt. Ikea baut sein Marketingkonzept auf sozialreformerisch intonierenden Aussagen wie »Besserer Schlaf für alle«98 und der Selbstbeschreibung als Unternehmen mit ethischer, nicht nur kaufmännischer Zielsetzung auf. »Besserer Schlaf für alle« bezieht sich implizit auf die Schrift »Schönheit für alle«99 der schwedischen Autorin und Reformpädagogin Ellen Key, die starken Einfluss auf die schwedische Designgeschichte ausübte.100 Die Philosophie des Unternehmens steht insgesamt in dieser Tradition und sieht vor, gute und schöne Möbel so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen.101 Ungewollt stellt sich Ikea mit dieser Propagierung eines »demokratischen Designs« – so nannte Ikea die eigene Ausstellung an der Mailänder Möbelmesse 1995102 – in die Tradition des Bauhauses und der »Guten Form«.103 »Ikeaville« nahm diese Statements ernst und verband sie mit der erwähnten Spielbehauptung, die Ikea-Musterzimmer sähen nicht nur wie bewohnbare Etablissements aus, sondern seien auch solche. Nachts träfen sich, so die These des Stücks, bei Ikea Menschen, die an der tatsächlichen Verbesserung der Welt arbeiten. Verbunden wurden diese Überlegungen mit dem historisch parallel zur Etablierung des Konzerns sich entwickelnden Niedergang des schwedischen Sozialstaatmodells »Volksheim«.104 Das führte zum Schluss, Ikea

97

Vgl. Kapitel 2.4.

98

www.youtube.com/watch?v=SLLCHScVuyA (11. April 2011).

99

Ellen Key: Skönhet för alla. Ödeshög 2006. Vgl. z.B. auch Ellen Key: Das Volk und die Kunst. In: Ellen Key: Die Wenigen und die Vielen. Berlin 1906, S. 281-307.

100 Vgl. Ingeborg Becker (Hg.): Schönheit für alle: Jugendstil in Schweden. Berlin 2005. 101 Vgl. The Röhss Museum of Arts & Crafts Göteborg: From Ellen Key to IKEA: a brief journey through the history of everyday articles in the 20th century. Göteborg 1991. 102 Vgl. Suzanne Slesin: Little People, Milan Loves You. In: The New York Times, 13. April 1995. www.nytimes.com/1995/04/13/garden/little-people-milan-loves-you.html (11. April 2011). 103 Max Bill: Die gute Form: 6 Jahre Auszeichnung »Die gute Form« an der Schweizer Mustermesse in Basel. Winterthur 1957. 104 Vgl. Valeska Henze: Das schwedische Volksheim. Zur Struktur und Funktion eines politischen Ordnungsmodells. Florenz 1998.

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habe eine Art »Konsumsozialismus« entwickelt, der an der Sozialisierung der Konsumptions- und nicht der Produktionsmittel interessiert sei. Zudem trieb »Ikeaville« die Überlegungen des englischen Soziologen Colin Crouch zur Privatisierung politischer Prozesse weiter, indem die Frage gestellt wurde, ob soziale Veränderungen, allenfalls sogar Revolutionen, gesellschaftlich ausgelagert und an ein privates Unternehmen übergeben werden könnten. »Ikeaville« war als entweder individuelle oder kollektive Tour durch die Filiale zugänglich. Das Publikum wurde mit einem Audioguide ausgestattet, bewegte sich einzeln durch die Ausstellung und hörte sich, wie in einem Museum, den jeweiligen Musterzimmern zugeordnete kurze Hörspiele an. In diesen wurde von den Beobachtungen berichtet, die die Mitglieder von Schauplatz International mutmaßlich gemacht hatten, als sie sich einmal nach Ladenschluss in der Filiale aufgehalten hatten. So erschloß sich die Bedeutung des nächtlichen Treibens und wurde mit theoretischem Wissen über die geschilderten geschichtlichen, gesellschaftlichen und unternehmenspolitischen Zusammenhänge verbunden. »Ikeaville« knüpfte nicht nur äußerlich technisch an die »Optionalen Live Audioguides« an, sondern lotete auch die inhaltlichen Möglichkeiten des Mediums aus. Audioguides sind Teil der heute unter dem Begriff »Augmented-Reality« diskutierten Phänomene. »Augmented Reality« ist eine Verschmelzung von authentizitäts- und simulationstheoretischen Ansätzen. Gemeint ist, dass die Wirklichkeit mit technischer Hilfe aufgeladen, verstärkt oder erweitert wird. Das geschieht durch Informationsvermittlung, die gleichzeitig mit dem eigentlichen Erlebnis stattfindet. Audioguides stellen eine frühe Form solcher »Augmented-Reality«-Anwendungen dar. Sie kommen heute immer häufiger außerhalb kommerzieller Bereiche zur Anwendung und haben sich im zeitgenössischen ortsspezifischen Theater etabliert, wo sie allerdings häufig dazu eingesetzt werden, reale Orte zu fiktionalisieren. »Ikeaville« zielte in die andere Richtung: Mit Hilfe der Audioguides wurde ein merkantil-fiktionaler Raum, die Musterzimmer, in einen fingiert deviant-realen verwandelt. Dasselbe gilt für Zuschauerinnen und Zuschauer und – die Vorstellungen fanden während der regulären Öffnungszeiten statt – Kundschaft, die wechselseitig und situativ zu Akteuren und Publikum wurden. Mit »Ikeaville« verließ Schauplatz International nicht nur räumlich, sondern auch strukturell den Theater- und Kunstkontext, indem man sich der Public-Relations-Abteilung eines Weltkonzerns auslieferte und zu einem Teil des emotionalen Marketings von Ikea wurde. Umgekehrt reklamierte Schauplatz International für sich, den Brand »Ikea« für die eigenen Werbezwecke zu nutzen, eine Strategie, die insofern aufging, als dass »Ikeaville« ein starkes Interesse der Presse auf sich zog. Im Frühjahr 2011 arbeitete Schauplatz International einerseits an einer Wiederaufnahme des Stücks »Free Keiko«, das im Theater Tuchlaube in Aarau und später im Tojo Theater Bern zur Aufführung kam und nun eine Reflexion über die Bedeutung der Darstellung von scheinbarer Authentizität beinhaltete, nachdem sich

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dies zu einem eigentlichen Stilmittel des zeitgenössischen Theaters entwickelt hatte. Andererseits zeigte Schauplatz International im Juni 2011 die »Kleist-Retraite« in Thun. Es handelte sich dabei um eine Auftragsarbeit im Rahmen der Festivitäten zum Kleist-Jahr »Kleist in Thun« 200 Jahre nach dem Tod des Dichters. Die Produktion fand im Park der Altersresidenz »Tertianum« statt, Hauptspielort waren zwei dort stehende Chalets der vorletzten Jahrhundertwende. Die »Kleist-Retraite« versammelte die Hauptfiguren des dramatischen Werks Heinrich von Kleists in Thun zur Kur. Hier sollten sie zur Ruhe kommen, über ihr Leben nachdenken und ihren Seelenfrieden finden. Dieser Wunsch hat ja Kleist selbst einmal nach Thun geführt. Gespielt wurden diese Figuren von einem Dutzend Laien, von denen viele in Thun und Umgebung wohnten oder daher stammten. Zusätzlich wurden Experten und Expertinnen engagiert: eine Bewegungstherapeutin, eine Maltherapeutin, eine Reitlehrerin, der Seelsorger des Tertianums, Konfliktmanager und der Paartherapeut Klaus Heer. Komplettiert wurde das Ensemble durch den Berner SingerSongwriter Christoph Trummer, der mit den Akteuren thematisch passende Lieder sang. Diese Spieler und Spielerinnen waren nach inhaltlichen Kriterien besetzt worden, das heißt, ihre Biographien wiesen Parallelen zu jenen der Kleistschen Figuren auf. Diese Übereinstimmungen gingen bei manchen Figuren sehr weit. Marthe aus dem »Zerbrochenen Krug« etwa wurde von einer Frau gespielt, deren Tochter vergewaltigt worden war, ohne dass der Täter verurteilt worden wäre. Der Abend bestand in weiten Teilen aus Gesprächen, die Anna-Lisa Ellend und Albert Liebl mit den Figuren führten. Atmosphäre, Gesprächsverlauf und Kleidung der Beteiligten suggerierten einen therapeutischen Rahmen, die Figuren erzählten aus ihrem Leben, Figuren und Akteure überlagerten sich weitgehend. Die Diskussion verlief ruhig, manchmal emotional. Von Zeit zu Zeit wurden einzelne Figuren von Albert Liebl nach draußen zu den weiteren Therapieangeboten geführt: Der Prinz von Homburg und der Kurfürst von Brandenburg ritten eine Weile durch den Park, Sylvester von Schroffenstein ließ sich von der Konfliktmanagerin beraten, Eve aus dem Zerbrochenen Krug malte, das Käthchen von Heilbronn lernte jonglieren, Agnes von Schroffenstein sang mit Trummer deutsche Schlager. Diese Momente waren die einzigen, in denen es zu einem direkten Kontakt zwischen Publikum und Spielenden kam. Das lange Gespräch im Chalet konnten die Zuschauer nur von außen und mit Hilfe einer akustischen Verstärkung verfolgen. Angefangen hatte der Abend für das Publikum mit einer Einführung, in der Albert Liebl in meditativem Ton die Handlung der verschiedenen Stücke zusammenfasste und die Figuren vorstellte. Das Publikum legte sich zu diesem Zweck mit geschlossenen Augen in den Park oder, bei schlechtem Wetter, in den ehemaligen Weinkeller der Residenz. Der Verlauf des Stücks wurde wesentlich von den Entscheidungen des Publikums beeinflusst, wo es seine Aufmerksamkeit hinlenken wollte. Erst am Schluss des Abends wurde das Publikum gesammelt und in eine nahe gelegene Parkgarage geführt. Dort stand ein offenes Auto, aus dem die Stimme von Lars Studer, dem

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vierten Mitglied von Schauplatz International, zu hören war. Er hatte verschiedene Orte in Europa besucht, an denen Kleist seine Stücke geschrieben hatte. Studer beschrieb seine Reise, dazu wurden dutzende Dias projiziert, die Studer gemacht hatte. Dann kam Christoph Trummer mit Gitarre, summte ein Lied, die Figuren erhoben sich und gingen gemeinsam mit dem Publikum aus der Parkgarage hinaus und zum Ufer des Sees. Dort wartete ein beleuchtetes Schiff, das Ensemble stieg ein und fuhr zur Kleist-Insel hinüber. Der Abend dauerte etwa drei Stunden und hatte durch die dem Publikum gegebene Freiheit der Rezeption den Charakter einer szenischen Installation. Weil das Stück seine Wirkung darüber hinaus wesentlich aus dem ruhigen Erzählen der Lebensgeschichten der Beteiligten bezog, wies es auch einen stark auditiven Anteil auf. Folgerichtig entstand im Anschluss an die Vorstellungen in Thun und in Zusammenarbeit mit Schweizer Radio DRS 2 eine Hörspielfassung der »Kleist-Retraite«, die im November 2011 zur Uraufführung kam. Die chronologische und unabgeschlossene Aufzählung der Arbeiten von Schauplatz International macht deutlich, dass sie keine lineare Entwicklung verbindet. Es gibt Zusammenhänge, Referenzen, Weiterführungen, vieles wird methodisch oder thematisch wieder aufgenommen, anderes nicht. Ortsspezifik kommt immer wieder vor. Wo der Ausgangspunkt und wo ein mögliches Ziel der Arbeit von Schauplatz International zu suchen wären, lässt sich daraus aber nicht ableiten. Auffallend ist allerdings, dass sich die Gruppe von Beginn an in einem weiten, von ihr selbst als »Theater« verstandenen, künstlerischen Feld bewegt, ohne auf genrespezifische Grenzen Rücksicht zu nehmen. Dieses Feld hat sich im Verlauf der Jahre zunehmend geweitet, bis hin zum fast vollständigen Verschwinden von definitorischen Konstituenten von Theater, etwa – paradoxerweise als Resultat der Auseinandersetzung mit ortsspezifischen Fragen – der örtlichen Kopräsenz von Publikum und Akteuren. Die künstlerischen Entscheidungen, die dies zur Folge hatte, basierten auf dem Willen, Form und Inhalt aufeinander zu beziehen, voneinander abhängig zu machen und, im Idealfall, zur Deckung zu bringen. Damit ist die Frage nach der eigentlichen Ästhetik der Arbeit von Schauplatz International gestellt. 2.5.2 Ästhetik Im 2007 erschienenen Arbeitsbuch von »Theater der Zeit« definierte Nicole Ziegler die Ästhetik von Schauplatz International wie folgt: »Regieführung durch die Spielenden selbst, Brechung der klassischen Theatersituationen, die direkte Zusammenführung von Form und Inhalt, der performative Umgang mit dem Publi-

80 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER kum bis hin zur gänzlichen Aufhebung der vierten Wand und die Oszillation zwischen Wirklichkeit und Spiel.«105

Damit war vieles kurz und bündig gesagt. Ziegler bezog sich sowohl auf die Produktion als auch auf die Rezeption der Stücke von Schauplatz International. Dieser Umstand traf die Sache insofern gut, als es die Gruppe darauf angelegt hatte, diese beiden Seiten der Kunst zu überdenken und in einer ihr entsprechenden Weise zu reorganisieren. Daraus resultierte ein Stil, der traditionell gesetzte Grenzen in beide Richtungen infrage stellte. Das prägte sowohl die Stücke, denen man ihr Entstehen ansah und auch ansehen sollte, als auch die Wahrnehmung durch das Publikum, das sich explizit in der Rolle eines Mitproduzenten wiederfand. Ziegler schloss mit dieser Beschreibung implizit an einen ausführlichen Diskurs zum Gegenwartstheater an, der auch auf die Arbeiten von Schauplatz International einwirkte und in diesen reflektiert wurde. Andreas Kotte umschrieb die Theaterpraxis, auf die dieser Diskurs referierte, allgemeiner so: »Einige Autoren und Theatermacher […] verzichten heute insofern auf das Drama, als es Dialektik verspricht: Dialog, Konflikt, Lösung, Abstraktion der Form. Sie entsagen, weil ihr Glaube an das Drama als Welt-Modell schwindet. Deshalb treten in ihren Arbeiten stärker die Welthaftigkeit des Spielverlaufs selbst, die Materialität von Zeit und Raum und die Körperlichkeit der Akteure hervor.«106

Kotte spielt mit dem Begriff »Drama« auf kanonisierte dramaturgische Strukturen an, besonders auf solche, die mit der Dominanz des Theatertexts als Literatur in Verbindung stehen. Davon unterscheidet sich die Arbeit von Schauplatz International tatsächlich beträchtlich. Text zum Beispiel, verstanden als durchgehende schriftliche Vorlage, als Skript, gibt es in den Stücken von Schauplatz International nur sehr selten. Was gesagt wird, ist vorgängig inhaltlich klar, nicht aber im Wortlaut. Dieser kann sich von Aufführung zu Aufführung verändern. Wesentlich ist der Gedanke, um den es geht. Das Zeigen des kognitiven und sprachlichen Bemühens, ihn klar zu machen, ist wichtiger als die geschliffene Formulierung. Das bedeutet nicht, dass in den Stücken wenig oder ohne Belang gesprochen würde, im Gegenteil. Viele von ihnen

105 Nicole Ziegler: Alle Prozesse offen legen. Die Gruppe »Schauplatz International« und ihr konsequenter Theaterweg in der Freien Szene. In: Barbara Engelhardt, Dagmar Walser (Hg.): Eigenart Schweiz. Theater in der Deutschschweiz seit den 90er Jahren. Arbeitsbuch 2007, Theater der Zeit. Berlin 2007, S. 126-129, hier S. 126. 106 Kotte: Theaterwissenschaft, S. 111.

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basieren schon quantitativ entscheidend auf Gesagtem, und Sprache ist in ihnen eines der wichtigsten Mittel, um Inhalte zu transportieren. Es rührt wohl daher, dass die Arbeit der Gruppe als »generell diskursiv«,107 »Diskurstheater« oder »Debattierklub«108 bezeichnet wurde. »Diskurs« meint in diesem Zusammenhang einerseits »Diskussion« im Sinne eines ausgiebigen, manchmal kontradiktorisch, manchmal konsensual aufgebauten Gebrauchs von Sprache, andererseits soll damit der gedankliche Anschluss an Sprachmodi gekennzeichnet werden, die eher dem Bereich der Theorie als jenem der Praxis zugeordnet werden. Das »Durcheinander«,109 das dabei in den Augen mancher Interpretinnen entsteht, wird von anderen als »Panoramablick auf die Abgründe der öffentlichen diskursiven Blödheit«110 verstanden und die resultierende Ratlosigkeit als eigentliche Essenz interpretiert: »Wer an nichts mehr glaubt denn an die Frage, der ist reif für die Kunst von Schauplatz International«.111 Diese Art der scheinbar ausgestellten Intellektualität ist folglich, dem Urteil der Beobachtenden gemäß, nicht nur Selbstzweck, sondern hat in Teilen durchaus repräsentationalen Charakter. Tatsächlich ist der Gruppe der Bezug zur Sphäre der Theorie wichtig, wichtiger noch aber ist das szenische Zeigen dieser Bezugnahme, das Zeigen des Bemühens, Dinge zu verstehen, und nicht zuletzt das Scheitern an diesem Versuch. Hintergrund ist dabei der künstlerische Wille, komplexe Sachverhalte komplex darzustellen. Reduktion dieser Komplexität im Sinne der vermeintlichen Vermittelbarkeit wird nicht angestrebt. Das Bemühen, den Versuch zu zeigen, Dinge zu verstehen, korrespondiert mit dem Bemühen, eine szenische Vergegenwärtigung, sei es als repräsentationales oder emergentes Bühnenphänomen, von Komplexität zu erreichen. Als der Begriff, in Anspielung auf poststrukturalistische Theorien wie jene Jacques Derridas, im Feuilleton Mode war und oft auf Theaterstücke angewendet wurde, hieß diese Vorgehensweise »Dekonstruktion« und war nicht bei allen beliebt: »Schauplatz International, berühmt dafür, mit den Mitteln der Dekonstruktion zu arbeiten, berüchtigt dafür, diese Mittel überzustrapazieren und sich im Dickicht

107

Daniele Muscionico: Generalunternehmer, generell diskursiv. In: Neue Zürcher Zeitung, 16. Februar 2005.

108 Ellinor Landmann: Reflexe. Radio DRS 2, 26. Januar 2007. www.podcast.de/podcast/3 877/archiv/ %3Fseite %3D37+ %2B %22schauplatz+international %22+ %2Breflexe+ %2Bdrs&cd=1&hl=de&ct=clnk&gl=ch&client=safari?seite=38) (11. April 2011). 109 Landmann: Reflexe. 110 Christiane Kühl: Katastrophen bringen Glück. In: Tages Zeitung TAZ Berlin, 8. Mai 2001. 111 Daniele Muscionico: Katastrophen-Kulinarik. Schauplatz International macht sich Gedanken über die »Beauty of Desaster«. In: Neue Zürcher Zeitung, 4. März 2005.

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der Dialektik zu verlaufen.«112 Der Terminus beschreibt, abgesehen von seinen philosophiegeschichtlichen Implikationen und in Bezug auf die Stücke von Schauplatz International, die produktive Kraft von Widersprüchen, die Tatsache, dass Dinge und Sachverhalte, die sich ausschließen und widersprechen, in den richtigen Zusammenhang gestellt, nicht Aporien, sondern Einsichten erzeugen. Das gilt im Besonderen dann, wenn, wie in den Stücken von Schauplatz International, sonst unterschiedene Wahrnehmungsmodi zugleich angesprochen werden, nämlich perzeptive und apperzeptive. Das bedeutet, dass der Versuch, Dinge zu verstehen, nicht nur »diskursiv« über Sprache erfolgt, sondern in der Kombination formaler und inhaltlicher Elemente, die dann ein Ganzes ergeben: »Das ist die adäquate Form: Die Montage aller möglichen Wahrheiten plus die unmittelbare Analyse aller gemachten Aussagen plus die theatrale Verfremdung der Sachverhalte. Ergibt: Die möglichst präzise Annäherung an die Wahrheit.«113 Das heißt, Bedingungen und Bedeutung des eigenen Handelns werden in den Stücken von Schauplatz International ständig mitgedacht, so dass Theater als aktuelles Mittel der Weltbeschreibung selbst Gegenstand der Verhandlung wird. Dies deshalb, weil die Gruppe versucht, Form und Inhalt zur Deckung zu bringen, wissend, dass das eine vom anderen nicht zu trennen ist. Eine solche Trennung ist »Illusion«, wie Susan Sonntag meint.114 Mit den Worten Nicolaï Hartmanns: »Der künstlerische Inhalt ist im Wesentlichen die Form selbst.«115 Das in der Kunstgeschichte wesentliche Form-Inhalt-Schisma führt Hartmann auf ein einfaches Missverständnis zurück. Form und Inhalt seien dann voneinander unterscheidbar, wenn unter »Inhalt« »Stoff« verstanden werde, also das, aus dem ein Kunstwerk bestehe, sei es in der materiellen oder in übertragener, thematischer Bedeutung des Worts. Unter diesen Voraussetzungen ist der »berechtigte« Sinn der Behauptung von der Identität von Form und Inhalt »ein ganz schlichter und harmloser«.116 Anders verstanden, habe eine Form-Inhalt-Trennung keinen Sinn, schließlich werde ein Kunstwerk nicht als »Zweierlei erfahren, als Form und Inhalt, sondern durchaus als ein geschlossenes Ganzes, als einheitlich geformte[r] Inhalt, an dem die beiden Seiten als solche nicht unterschieden sind«.117 Dieser rezeptionstheoretischen Proklamation schließen sich die Stücke von Schauplatz International produktionstheoretisch an.

112 Daniele Muscionico: Theater-Metzgete: »Boucherie Nationale«, Schweizer Beschau am Neumarkt. In: Neue Zürcher Zeitung, 30. Oktober 2004. 113 Nicole Ziegler: So wahr, wie es war. In: Die Wochenzeitung WOZ, 1. Juli 2004. 114 Susan Sonntag: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. München, Wien 1980. 115 Nicolaï Hartmann: Ästhetik. Berlin 1953, S. 221. 116 Hartmann: Ästhetik, S. 249. 117 Hartmann: Ästhetik, S. 250.

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Die Gruppe unternimmt immer wieder den Versuch, Form und Inhalt ein »geschlossenes Ganzes« werden zu lassen, künstlerische Formen zu finden, die selbst Inhalte sind. Die Wahl der Formen hängt entscheidend von der Wahl des, um in Hartmanns Terminologie zu bleiben, Stoffs ab, und umgekehrt führt das Interesse an bestimmten künstlerischen Formen zur Beschäftigung mit diesen adäquaten Stoffen. Das bedeutet mithin, keine genrespezifischen Vorentscheidungen zuzulassen, sondern herauszufinden, welche Art der Bearbeitung zu welchem Stoff passt. Die Mitglieder von Schauplatz International versuchen es zu vermeiden, einen Stoff einfach auf die Bühne zu bringen, ohne dass die Art, wie man das tut, etwas Entscheidendes zu diesem Stoff beitrüge oder über ihn aussagen würde. Damit haben die fraglichen Produktionen bisweilen einen eigentlichen Forschungsanspruch. Exemplarisch zeigte sich das im Stück »Free Keiko«, das die Dressur- und Manipulationsvorgänge, von denen der Stoff – die Hintergrundgeschichte um die Hollywoodfilme »Free Willy« – erzählte, formal direkt abbildete und dem Publikum zugleich real vor Augen stand.118 Das gelang, indem Laien, die das Stück zuvor nie gesehen hatten, es unter der Führung von Schauplatz International spielten. Text und Handlungsanweisungen wurden ihnen live vorgesagt. Besetzt wurden diese Laien nach Authentizitätskriterien, nach deren Möglichkeit und Bedingungen das Stück – wie es der ausgeschriebene Titel »Was ist echt, natürlich, frei« benennt – ja fragte. Die Mittel des Theaters wurden also so eingesetzt, dass sie dem Stoff adäquate Formen erzeugten, die zusammen dann den eigentlichen Inhalt des Stücks bildeten. Die formale Entscheidung, »Ikeaville« als Audioguide-Rundgang durch eine Ikea-Filiale zu konzipieren, hing – als anderes Beispiel – wesentlich davon ab, die Möbelausstellung als eine kleine Stadt zu behandeln.119 Das gängige Mittel zur touristischen Erschließung einer solchen ist der Audioguide, was wiederum die Art der Vermittlung des Stoffs und dessen künstlerische Bearbeitung stark beeinflusste. Die versuchte Überwindung des Form-Inhalt-Schismas führt Schauplatz International insofern an die Grenzen berechenbarer Genres, wie Theater im Sinne einer Sammlung standardisierter Formen künstlerischen Ausdrucks eines darstellt. Umgekehrt gilt für den Stoff, dass er nicht beliebig gewählt werden kann, sondern in den Augen der Gruppe eine Affinität zu Formen aufweisen muss, für die sich die Gruppe für zuständig hält. Und das sind, scheinbar paradox, die Formen des Theaters in einem nicht eingeschränkten Sinn. Was dieser Theaterbegriff alles beinhaltet, lässt sich nicht deduktiv feststellen, sondern nur anhand der beschriebenen Beispiele aus der Werkgeschichte der Gruppe erschließen.

118 Vgl. Kapitel 2.5.1. 119 Vgl. Kapitel 2.5.1.

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Die meisten Stücke von Schauplatz International bestehen aus Elementen oder Szenen, die einzeln erarbeitet werden. Die Aufführungen haben einen Ablauf, das heißt, die Akteure wissen, wann welches Element der Inszenierung kommt, und in der Regel auch, von wem es gespielt wird. Manchmal sind, wie etwa im Stück »Atlas of Catastrophes«, die Elemente klar, nicht aber, wer sie spielt. Zudem besteht die Möglichkeit, aus guten Gründen den vorgesehenen Ablauf spontan zu ändern oder zu verzögern, um auf Gesagtes oder Getanes inhaltlich relevant reagieren zu können. Jede Aufführung hat demnach ein gewisses Maß an Unvorhersehbarkeit, ist aber weit davon entfernt, improvisiert zu sein. Insofern ist die Beobachtung richtig, dass eine Inszenierung von Schauplatz International »streckenweise völlig spontan improvisiert wirkt – weit mehr, als sie es in Wirklichkeit sein kann«.120 Bühnenbild und Lichteffekte werden sehr sparsam eingesetzt. Bühnenbilder bestehen meistens aus der geordneten Anhäufung von Dingen, die gebraucht werden, seien dies technische Hilfsmittel oder Objekte, mit denen gespielt wird. Sehr selten sind Bühnenelemente, die keine praktische, sondern referenzielle oder symbolische Funktion haben – zum Beispiel ein Sicht- und Unsichtbarkeit betonender Vertikallamellenvorhang in »Stadt des Schweigens«. In manchen Stücken wird die Lichtund Tontechnik von den Spielenden selbst bedient und befindet sich in deren Reichweite auf der Bühne oder an deren Rand. Entsprechend offen wird mit den erzielten Wirkungen umgegangen, deren Herstellung für alle ersichtlich ist. Dasselbe gilt für die Musik. Ihr kommt da, wo sie eingesetzt wird, meist eine inhaltliche Funktion zu, weniger eine atmosphärische. In »Stadt des Schweigens« setzte Matthias Wyder eine lange und laute Sequenz aus Aufnahmen zusammen, die er während der vorangegangenen Aufführung gemacht hatte. Die Schlussszene, die darauf folgte, stellte die Frage, was geschähe, wäre die ganze Arbeit, die vom Wirtschaftsstandort Zug aus gelenkt wird, tatsächlich in Zug ansässig. Dieselbe Frage hatte die Musik, bezogen auf die Gleichzeitigkeit von geleisteter Arbeit, soeben beantwortet. Bei »Put up your family« hingegen diente die Musik, neben gemeinsam gespielten Liedern als Familienerinnerungen, als konstitutives Element, um die szenische Form »Bunter Abend« zu etablieren und dem ganzen Abend einen formalen Rahmen zu geben. Wird Musik atmosphärisch eingesetzt, wie etwa bei »Free Keiko« oder »Mascots II«, dann meist in Form eines Zitats, in den genannten Fällen als Zitat der Filmmusik von »Free Willy« respektive »Spartacus«, der Filme, auf die sich die beiden Stücke bezogen. Ähnlich wie mit den technischen Bühnenmitteln und der Musik verfährt die Gruppe mit der Narration im Sinne der Handlung, Fabel oder Geschichte. Geschichten als an Figuren gekoppelte, das ganze Stück verbindende Handlungsbögen

120 Martin Kraft: »Boucherie Nationale« im Theater am Neumarkt in Zürich: Die Schweizermacher von heute. In: Der Landbote, 30. Oktober 2004.

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werden in den Stücken von Schauplatz International oft nur als Zitat erzählt. Diese können, wie bei »Free Willy« oder »Mascots II«, einen erheblichen Teil der Aufführung ausmachen. In anderen Stücken, wie »Das perfekte Verbrechen« oder »Mascots«, sind zwar dramaturgische Linien vorhanden, die sich zu einer Geschichte verbinden, sie dienen aber vor allem dazu, von einer Spielsituation in die nächste zu kommen und dabei übergeordnete, nicht direkt von dieser Geschichte abhängige Themen zu behandeln. Die Schweizerreise in »Der Berg ruft« zum Beispiel bildete einen lockeren Rahmen im Dienste der dramaturgischen Erschließung außergewöhnlicher Lokalitäten, mehrheitlich Standorte von als zivile Gebäude getarnten Bunkern der Schweizer Armee. Die auftretenden Figuren, ein klischierter Deutscher und eine ebenso stereotype Schweizerin namens »Heidi«, waren gar nicht angelegt, um als Handlungsträger einer stringenten Geschichte zu fungieren. An die Stelle dieser durchgehenden Narration treten bisweilen dominante dramaturgische Setzungen, narrative Erfindungen, die zwar keine kausale Handlung auslösen, aber Situationen kreieren und Themen aufbringen. Sie dienen den Stücken dann als dramaturgische Grundlage. Ein gutes Beispiel hierfür ist »Ikeaville – What happened before you came«, das von der behaupteten Beobachtung ausgeht, die Ikea-Filiale Lyssach sei nachts bewohnt, weshalb die Möbelausstellung tagsüber wirke wie eine kleine Stadt. Figuren, nicht in der Bedeutung von »unterschiedlich konzipierten Exponenten szenischer Vorgänge«,121 sondern als Handlungsträger imaginierter Identität, kommen in den Stücken von Schauplatz International nicht oft vor. Meist stehen die Darsteller und Darstellerinnen unter Verwendung ihres zivilen Namens auf der Bühne, und weder Gestus noch Duktus weichen wesentlich von dem ab, wie die Akteure offstage zu erleben sind. Das bedeutet nicht, dass keine fiktiven Elemente verwendet würden. Das Mittel der erzählten, inhaltlich relevant veränderten Biographie kommt in einigen Stücken zur Anwendung. »Put up your family« beruht wesentlich auf einer Vermischung von realen und fiktiven biographischen Sachverhalten. In »Everest 96 – the summit«, der zweiten Arbeit der Gruppe, ließ es das Verhältnis von Realem und Fiktivem noch zu, sich die Namen und Identitäten der real existierenden Expeditionsteilnehmer anzueignen. Das führte dazu, dass die Darstellerinnen und Darsteller zum Teil nicht als solche erkannt und für die Bergsteiger gehalten wurden, die sie nur spielten, wenngleich sich die Gruppe zum Teil tatsächlich aus erfahrenen Alpinisten zusammensetzte. Auch in »Attacke – Szenen des Widerstands« traten Anna-Lisa Ellend, Albert Liebl und Lars Studer unter falschen Namen auf, damals aber bereits klar erkennbar als imaginierte Rollen. Mit zunehmender Bekanntheit der Gruppe und ihrer Mitglieder gestaltete sich das Spiel

121 Kotte: Theaterwissenschaft, S. 211.

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mit dem biographisch Behaupteten immer schwieriger, so dass das Mittel in den späteren Arbeiten nur noch sparsam und gezielt eingesetzt wurde. Dieses Lavieren zwischen verschiedenen Ebenen der Selbstpräsentation, Präsentation und Repräsentation ist keine Besonderheit von Schauplatz International und kommt nicht nur im zeitgenössischen Theater oft vor.122 Nicolette Kretz hat mit ihrer Erweiterung des »acting/not acting«-Schemas von Michael Kirby123 ein theoretisches Instrument entwickelt, das dieses weit verbreitete Phänomen zu beschreiben hilft.124 Die in diesem Kontext in der Theaterwissenschaft leidenschaftlich geführte Debatte rund um den Begriff »Authentizität« spielte für die Arbeit von Schauplatz International nur eine untergeordnete Rolle.125 Eine theaterideologische Neudefinition des »veristischen Stils«126 war nie das Ziel, selbst wenn über die Gruppe behauptet wurde, sie habe sich »an die Brust […] wie einen Orden den Dilettantismus geheftet«.127 Dieser Eindruck konnte entstehen, weil sich Schauplatz International vorbehielt, Aufführungen in Ergebnis und Wirkung bis zu einem gewissen Grad offen zu halten, was sich vor allem auf das Spiel der Darsteller und Darstellerinnen auswirkte. Die viel zitierte »Authentizität« auf der Bühne ist ja nicht selten – entgegen dem eigenen Anspruch oder basierend auf einem rezeptionstheoretischen Missverständnis – ein laienhaft scheinender Duktus, ein bestimmter, eben »veristischer« Spielstil, der aber auf vorgefertigten Texten und szenischen Anweisungen aufbaut und mittlerweile zum Handwerk vieler Regisseurinnen und Schauspieler gehört. Die Bedingungen der Herstellung und Durchführung szenischer Vorgänge wird unter diesen Umständen dabei nicht verändert. In den Arbeiten von Schauplatz International hingegen gibt es oft ein unberechenbares Element, so dass die Möglichkeit einer anderen Realisierung offen bleibt. Mit »Dilettantismus« hat das Spiel der Gruppe indes nichts zu tun. Der so anmutende Stil ergibt sich daraus, dass die Darsteller und Darstellerinnen ihr Hauptaugenmerk nicht auf die äußerliche Gestaltung im Sinne einer bestimmten Wirkungsstrategie legen. Wichtiger ist ihnen die schauspielerische Nähe zum behandelten Stoff, das heißt, das schauspielerische Gelingen definiert sich nicht nur durch eine zu erzielende Wirkung, sondern durch die dadurch provozierte Aktualität des

122 Vgl. Kotte: Theaterwissenschaft, S. 189. 123 Michael Kirby: A Formalist Theatre. Philadelphia 1987. 124 Vgl. Nicolette Kretz: Ceci n’est pas une représentation. Eine Erweiterung von Michael Kirby’s »acting/not-acting«-Schema. ITW Bern 2004, unveröffentlicht. 125 Vgl. z.B. Erika Fischer-Lichte, Isabel Pflug (Hg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen 2000. 126 Kotte: Theaterwissenschaft, S. 178. Vgl. auch Gerda Baumbach: Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Leipzig 2011. 127 Landmann: Reflexe.

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Themas. Dahinter steckt die Überlegung, dass sich Glaubwürdigkeit, Überzeugungskraft und Anschaulichkeit auf der Bühne besonders dann erzeugen lassen, wenn die handelnden Personen eine Aufgabe zu erfüllen haben, die über die Wiedergabe eines gelernten Texts und die Verkörperung einer angenommenen Rolle hinausgeht. Wie die Gruppe versucht, Komplexitätsreduktion zu vermeiden, arbeitet sie auch daran, »Konsequenzverminderung«128 zu reduzieren. Nicht, dass die Akteure in ihren Arbeiten Kopf und Kragen riskieren würden, es geht ihnen vielmehr um eine gedankliche, den Inhalt der Stücke betreffende Auslotung verschiedener »Möglichkeiten der Realität«129 vor den Augen des Publikums. Damit ist das »Als-ob«130 nicht aus dem Theater vertrieben, aber es wird relativiert und als ein Element von Theater neben anderen verstanden: »Mit der Zeit reden sie [die Akteure im Stück ›9/11 – The Trial‹] nur noch im Konditional und weisen damit auf die Simulation hin. In der Art von: Wir tun hier nur als ob, wir wissen und sagen das auch, aber wir denken, dass jede Realität nur eine Möglichkeitsform von vielen darstellt.«131 Diese Herstellung von Transparenz, das Zeigen der Produktion von Wirkung sind Konstanten in den Stücken von Schauplatz International. Das gilt sowohl direkt für die Bühnensituation als auch im übertragenen Sinn für die behandelten Themen und gemachten Aussagen. Absichtserklärungen, die »Ordnung der Dinge«132 erforschen zu wollen, finden sich immer wieder in den Projektbeschrieben von Schauplatz International. Die Gruppe setzt sich oft mit Phänomenen auseinander, von denen sie vermutet, in ihnen werde die Konstruktion der Wirklichkeit – verstanden als interesse- und machtabhängige, strategische Prozesse – sichtbar. In die ästhetischen Kategorien des Theaters übersetzt, führte die thematische Orientierung an Fragen nach der Konstruiertheit von Wirklichkeit respektive des Wissens über sie folgerichtig zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Kategorien des Realen und Fiktiven. Die Beschäftigung mit diesen scheinbar in Gegensatz zueinander stehenden Sphären wurde zu einem wichtigen Thema für die Gruppe, deren Stücke sich mit Vorliebe zwischen diesen beiden Kategorien bewegen. Durchaus gewollt, werden dabei die theoretischen Kategorien, die den Theaterbegriff zusammenhalten, infrage gestellt:

128 Kotte: Theaterwissenschaft, S. 41. 129 Kotte: Theaterwissenschaft, S. 186. 130 Kotte: Theaterwissenschaft, S. 186. Vgl. auch von Graffenried: Dokumentarfilme im Theater, S. 173f. 131 Tobi Müller: Die frische Sturheit der Live Art. In: Tagesanzeiger, 23. Januar 2003. 132 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 2006.

88 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER »Die Inszenierungen von Schauplatz gleichen […] herkömmlichem Theater kaum, auch wenn die Gruppe mit einer theatralen Grundkonstante spielt: mit der Illusion. Unter negativen Vorzeichen allerdings, denn bei Schauplatz gibt es keine Kostümwechsel, keine Kulissen, keine gespielte Illusion, nicht einmal eine ordentliche Desillusion. Stattdessen stellt Schauplatz die Wirklichkeit aus und macht noch diese Aktion transparent: In diesem Theater treten die Mechanismen offen zutage, die Flaschenzüge der Gedanken, das Gerüst der Thesen, auch wenn bisweilen die Realität zugunsten des Kalauers, des Witzes überdehnt und überzogen wird.«133

Dieser Eindruck rührt nicht nur vom geschilderten Schauspielstil her, sondern beruht auch auf der wiederholten Integration von Akteuren, die klar als Laien erkennbar waren, exemplarisch in »Stadt des Schweigens«, wo zwei kolumbianische Menschenrechtsaktivisten auftraten, was zu einem Streit mit einem anwesenden Politiker auf offener Bühne führte. Solche Vorkommnisse und die Tatsache, dass sich die Stücke von Schauplatz International nicht selten mit aktuellen Fragen des öffentlichen Lebens, zu denen die Gruppe dann auch selbst recherchierte, beschäftigten, hatten das Diktum zur Folge, die Stücke hätten einen starken Realitätsbezug. Daraus ergibt sich, dass das Gesagte oder Gezeigte in diesen Stücken zum Teil durchaus mimetischen, verweisenden Zeichencharakter hat. Vieles, was die Akteure tun oder sagen, lässt sich in Bezug auf etwas anderes, nämlich das behandelte Thema, abbildhaft verstehen. Die erwähnten Stücke »Free Keiko« oder »Ikeaville« zeigen das ebenso wie ein weiteres, einfaches Beispiel: Eine gespielte Szene in der Metzgerei oder dem Schlachthof steht im Stück »Boucherie Nationale – Schweizer Fleischbeschau« als Verweis auf Fragen nach Herkunft, nationaler Zugehörigkeit und deren Abhängigkeit von ökonomischen Kategorien. Insofern trifft der oft formulierte Befund, Abbildhaftigkeit spiele im zeitgenössischen, als »postdramatisch« bezeichneten Theater keine oder nur eine nebensächliche Rolle, im Fall von Schauplatz International nicht unbedingt zu. Womit das Problem der theaterhistoriographischen und klassifikatorischen Einordnung der Arbeit der Gruppe aufgeworfen wäre. Im Januar 2003 schrieb Tobi Müller im Tagesanzeiger einen Artikel über die 134 »frische Sturheit der Live Art«. Er tat dies unter dem Eindruck einer Aufführung des Stücks »9/11 – The Trial« von Schauplatz International in Luzern. Das Verdikt der »frischen Sturheit« bezog sich auf den Willen der Gruppe, den angeblichen Rückzug der zur Mode gewordenen und abgelebten Gattung der Performance nicht mitzumachen. Unter »Performance« verstand Müller nicht das in der Tradition der bildenden Kunst stehende Genre, sondern eine das Gegenwartstheater prägende Strömung, die sich zu diesem Zeitpunkt in seinen Augen bereits derart etabliert

133 Regula Fuchs: Auf zum Flüchtlings-Casting. In: Der Bund, 24. Juni 2004. 134 T. Müller: Sturheit.

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hatte, dass sich das theaterinterne »Revolutiönchen« sehr schnell im »Institutiönchen«135 verloren habe. Das gelte, wie gesagt, nicht für Schauplatz International. Die Gruppe gehe ihren Weg »aus einer Mischung von bockiger Sturheit und bewundernswerter Frische«136 weiter. Als Synonym für »Performance« verwendete Müller den Begriff »Live Art«, um die Ästhetik des gesehenen Stücks zu fassen. Andere schlossen sich diesem Urteil an.137 Damit war die Arbeit von Schauplatz International in einem spezifischen Kunstkontext situiert, der Elemente der »Liveness« betont, ein Konzept, das die theaterwissenschaftliche Debatte der letzten Jahre geprägt hat.138 »Liveness« wird zwar als konstitutives Element von Theater überhaupt verstanden, aber gerade in der Analyse des Gegenwartstheaters mit seiner diagnostizierten »Ästhetik der Präsentation«139 besonders betont. In dieses Themenfeld gehören auch zwei andere Lemmata der zeitgenössischen Theoriediskussion, die für die Arbeit von Schauplatz International von Belang sind: das »postdramatische Theater«140 und die »performative Wende«.141 Verkürzt zusammengefasst, beschrieb Hans-Thies Lehmann mit dem Terminus des »postdramatischen Theaters« vielschichtige Phänomene der jüngsten Theaterpraxis, die vor allem anderen eine »Enthierarchisierung der Theatermittel«142 gemeinsam zu haben schienen. Diese Nivellierung ging, so Lehmann, besonders auf Kosten des geschriebenen Theatertexts als autoritärer Vorlage und damit verbundener pseudo-aristotelischer Dramaturgien. Die anderen ästhetischen Konstituenten, von denen Lehmann im Besonderen »Raum«, »Zeit«, »Körper« und »Medien«143 ausführlich behandelt, kämen hingegen vermehrt zur Geltung und trügen so dazu bei, das »Präsens der Performance«144 im Theater zu stärken, und zwar als »Erkundung des Jenseits der Repräsentation«.145 Die »performative Wende« wiederum, die Erika Fischer-Lichte sich vollziehen zu sehen glaubt, bezieht sich stark auf das Konzept der »Liveness«, weil, wie Fischer-Lichte meint, »Künstler« seit den »sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts« dazu tendieren würden, »Ereignisse« statt

135 136 137 138 139 140 141 142 143

T. Müller: Sturheit. T. Müller: Sturheit. Vgl. z.B. Meyer: Vom Wal. Vgl. z.B. Doris Kolesch: Liveness. In: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart 2005, S. 188-190. Kolesch: Liveness, S. 188. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 1999. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 29. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 133. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 8f.

144 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 254. 145 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 260.

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»Werke« zu schaffen.146 Sie spricht also von einer »performativen Wende« in den Künsten und nicht, wie Bachmann-Medick, von einem »Performative Turn« in den Kulturwissenschaften.147 Fischer-Lichte glaubt, der Ereignischarakter zeitgenössischer Kunst verändere vor allem die »Relationen von Subjekt vs. Objekt und Material- vs. Zeichenstatus« und ließe sich daher auch nicht mehr mit den »überlieferten ästhetischen Theorien« erfassen, weshalb sie die Entwicklung einer »neuen Ästhetik des Performativen«148 fordert und gleich selber liefert. Nun finden sich in der Arbeit von Schauplatz International Elemente, die sich mit einer solchen »performativen Wende« in Verbindung bringen oder unter der Überschrift »postdramatisches Theater« zusammenfassen ließen. Die Abwesenheit einer Textvorlage oder die durch ästhetische Selbstreflexivität zum Ausdruck gebrachte Distanz zu szenischen Wirkungsstrategien deuten in diese Richtung. Auch das Bemühen, jede Aufführung im Ergebnis zu einem gewissen Grad offen zu halten, tragen dazu bei, Theater als »Ereignis« und im »Präsens« zu erfahren. Der kunstbiographische Hintergrund der Mitglieder von Schauplatz International deckt sich zum Teil mit den Tendenzen des »postdramatischen Theaters«. Die schauspielerische Ausrichtung an der Tradition der Performance und das Interesse an akademischen Themen und Diskursen sind vielen Vertretern dieser Strömung gemein. Trotzdem ist eine Einordnung von Schauplatz International in das Organon des »postdramatischen Theaters« oder unter die Protagonisten einer »performativen Wende« problematisch. Das liegt einerseits an der Gruppe, deren Arbeiten, wie gezeigt, keineswegs darauf verzichten, mimetisch zu sein. Ihr fehlt, um Kottes Formulierung wieder aufzunehmen, der »Glaube an das Drama als Welt-Modell«149 nur in Bezug auf das Drama, nicht aber auf ihr eigenes Theater. Präsenz zieht bei Schauplatz International nicht zwingend den Verzicht auf Repräsentation nach sich. Andererseits ist die Vorstellung des Neuen, das etwas anderes, Altes, ablöst – und darauf bezieht sich sowohl das Präfix »post« als auch der Terminus der »Wende« – in sich zweifelhaft. Theatergeschichtlich ist das Modell »Postdramatisches Theater« nicht zu halten, darauf hat bereits Kotte hingewiesen.150 Auf kurze oder lange theatergeschichtliche Sicht gesehen ist sehr wenig von dem, was den Zeitgenossen als Innovation erscheint, eine Neuerfindung. Das zeige, so Kotte, schon die Frage des literarisch orientierten Theaters, das keineswegs eine übergeschichtliche Gegebenheit, sondern

146 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 29. 147 Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 104f. 148 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 30. 149 Kotte: Theaterwissenschaft, S. 111. 150 Vgl. Kotte: Theaterwissenschaft, S. 110f.

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eher das Gegenteil davon sei. Lehmann bringt zwar – nicht zuletzt der martialischen Etymologie wegen – eine gewisse Skepsis dem Konzept der »Avantgarde« gegenüber zum Ausdruck und stellt fest, im Theater werde »fast chronisch«151 vom Neuen geredet. Trotzdem ist er bereit zu glauben, »in den letzten Jahrzehnten« sei dort »tatsächlich etwas Neues entstanden«.152 Die Theaterwissenschaftlerin Miriam Drewes hat jüngst detailliert beschrieben, welche theorieideologischen, theaterhistoriographischen und sogar quasireligiösen Implikationen den Diskurs von der »performativen Wende«, von der scheinbar neuen »Ästhetik des Performativen«153 unausgesprochen prägen.154 Drewes legt offen, wie sowohl Lehmanns wie FischerLichtes Herangehensweise auf eine idealistische und damit normative Ästhetik hinausliefen, wenngleich in noch nicht vollkommen realisiertem Zustand, vielmehr als Utopie. Mit dieser Utopie seien nicht allein ästhetische Hoffnungen verbunden, sondern auch politische, zu deren Wegbereiter das Theater stilisiert werde. Damit knüpfe dieser theoretische Ansatz maßgeblich an Gedanken an, die er eigentlich zu überwinden vorgebe, nämlich den des modernen Fortschrittsglaubens und namentlich des Avantgarde-Konzeptes, und zwar sowohl in künstlerischer als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Der Fehler sei dabei ein doppelter, denn einerseits hätten andere Forschungszweige diese linear-teleologische Auslegung von Historiographie längst revidiert, andererseits breche gerade das »postdramatische« oder das einer »Ästhetik des Performativen« verpflichtete Theater, das als Weg in eine neue Welt betrachtet werde, mit solchen Vorstellungen: »Trotz eingehender Kritik am Avantgarde-Begriff wird auf der Ebene der ideellen Ausrichtung die sich als oppositionell verstehende Produktion des postdramatischen Theaters und der Performance Art von den hier genannten Autoren weitgehend kausal auf die der historischen Avantgardebewegungen bezogen. Wie schon bei den historischen Avantgardebewegungen bilden auch die Topoi Innovation, Fortschritt und Utopie ein zentrales Grundmotiv zur Bezeichnung und Einordnung in das Archiv der Wissenschaften. Mit einer derart linearen Genealogie wird auf theoretischer wie historiographischer Ebene allerdings ein Verfahren angewendet, das in den meisten anderen Wissenschaftsbereichen und bezogen auf ältere historische Prozesse längst einer Revision unterzogen wurde. Der Effekt ist die Bildung eines normativen Kanons und damit einer eindimensionalen Historiographie. Die Macht des Diskurses erzeugt, um mit Michel Foucault zugespitzt zu formulieren, hier erst eine erneute Machtproduktion, deren Effekt Grenzziehungen, die Produktion von Wahrheiten und die Herstellung

151 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 32. 152 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 33. 153 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 30. 154 Vgl. Miriam Drewes: Theater als Ort der Utopie: Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz. Bielefeld 2010.

92 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER der Regeln des Diskurses selbst sind. […] In Absage an den Kanon des mimetischen Theaters ist so hinterrücks ein neuer Kanon entstanden.«155

Drewes konstatiert also genau dort rigide theoretische Ein- und Ausgrenzungsmechanismen, wo die Theorie glaubte, eine künstlerische Praxis gefunden zu haben, die solchen Mechanismen im Dienste des gesellschaftlichen Fortschritts ästhetischen Widerstand leiste. Praktisch zeigt sich dieser Widerspruch zum Beispiel im mittlerweile gut ausgebauten Festival-Geschäft, mit dessen Hilfe sich deviante ästhetische Praktiken unterdessen so gut etabliert haben, dass sie zu eigentlichen Dominanten geworden sind. Daneben haben sich auch die festen Häuser längst den Vertretern der »neuen« Ästhetik geöffnet oder werden von solchen geführt. Auf Ebene der Praxis mag es sich um eine »Enthierarchisierung« der Theatermittel handeln, auf der Ebene der Theorie um eine Neuorganisation der »Dominantenbildung«,156 das heißt der Art und Weise, wie Wissen und Urteile über Theater produziert werden. Auf ökonomischer Ebene scheint sich Tobi Müllers Befund, ein »Revolutiönchen« habe sich im »Institutiönchen« verloren, zu bestätigen und das Neue sich in der Frage zu erschöpfen, wer welchen Posten, wer welche Spielplanposition besetzt. Insofern stellt sich die Frage, auf welcher dieser Ebenen man die Stücke von Schauplatz International in den Kanon des »Postdramatischen« und »Performativen« einordnen oder ob man ganz darauf verzichten will. In Anbetracht der geschilderten theoretischen Unklarheiten liegt der Verzicht nahe. 2.5.3 Praxis Eine Produktion von Schauplatz International beinhaltet schematisch gesehen drei Phasen, in denen sich sowohl das Projekt als auch die eigene Position dazu ständig verändern. Dazu kommt, dass besonders in der ersten und zwischen der zweiten und dritten Phase die Außendarstellung von Intentionen und Resultaten der Arbeit vom produktionsinternen Wissen und Meinen abweichen kann. Grund dafür sind meistens medien- oder verhandlungstaktische Erwägungen. Die Produktionsphasen sind zeitlich nicht genau getrennt, sondern überlagern sich und bleiben im Verlauf der Produktion grundsätzlich unabgeschlossen. – Konzeptionsphase: Die Konzeptionsphase reicht von der Entwicklung einer Grundidee für das Stück bis zur Skizzierung eines inhaltlichen und formalen Plans für dessen Realisierung. Konzeptionsphasen sind in der Arbeit von Schauplatz International sehr offen. Ihr wichtigstes methodisches Element ist die Unvoreinge-

155 Drewes: Ort der Utopie, S. 34f. 156 Kotte: Theaterwissenschaft, S. 114.

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nommenheit, das heißt, geltendes Wissen über die Funktionsweise von Theater und insbesondere darüber, welche Erscheinungsformen es hat und welche nicht, wird nicht als diskussionsleitend anerkannt. In der Konzeptionsphase muss ein tragfähiger konzeptioneller Mechanismus gefunden werden, auf dem das Stück aufbaut und der die Probenarbeit antreibt. Zum konkreten Ziel hat die Konzeptionsphase bei Eigenproduktionen einen Antrag zuhanden öffentlicher und privater Geldgeber, bei Aufträgen die Abgabe eines Konzeptpapiers zuhanden der Dramaturgieabteilung an festen Häusern. Solche Konzeptionspapiere sind – auf tragfähigem theoretischem Fundament – abstrakt und bieten zugleich eine konkrete Beschreibung der zu leistenden Arbeit im Zustand ihrer Vollendung. Daraus entstehen Spannungen zwischen künstlerisch notwendiger Offenheit und von Geld- oder Auftraggebern geforderter Antizipation, welche oft nur mit rhetorischen Mitteln überbrückt werden können. Zu einem Antrag gehören ein Produktionsbudget, ein Zeitplan sowie die Lebensläufe der Beteiligten und der Gruppe. Konzeptionsphasen dauern, je nach zeitlichem Produktionsrahmen, einige Tage, manchmal Wochen. Meistens sind sie die kürzesten aller Produktionsphasen, können aber auch länger dauern als der eigentliche Produktionsprozess und sind grundsätzlich äußerst arbeitsintensiv. Daran beteiligt sind in der Regel die vier Kernmitglieder von Schauplatz International, Anna-Lisa Ellend, Albert Liebl, Lars Studer und ich. – Probenphase: In der Probenphase sind alle engagierten Künstler und Künstlerinnen am Kreationsprozess beteiligt. Bei ausreichend finanzierten Projekten dauert diese Phase etwa sechs Wochen. In den Proben wird das durch die konzeptionelle Ausgangslage geforderte Spielprinzip ausgelotet, konkretisiert und laufend revidiert. Die Reflexion über das bereits vorhandene oder noch zu erschaffende szenische Material nimmt viel Zeit in Anspruch. Neben der szenischen Arbeit am Stück beinhalten die Proben, gerade bei Projekten, die nicht im Bühnenmilieu angesiedelt sind, oft große organisatorische Anstrengungen. Das kommt auch daher, dass viele Stücke von Schauplatz International auf einer ausgedehnten Recherche basieren. Stoffe werden selten übernommen, sondern selber erschlossen. Insofern findet ein beträchtlicher Teil der Arbeit außerhalb der Proberäume statt. Die Recherche besteht aus Besichtigungen, Befragungen und Lektüre. Besonders wichtig sind diese Vorarbeiten da, wo man sich nicht nur mit dem Stoff, sondern auch mit dem Ort der Aufführung bekannt machen muss. Gerade den hier besprochenen, landschaftstheoretisch interessanten Stücken gingen umfangreiche Erschließungsmaßnahmen inhaltlicher und konkret logistischer Art voraus. Die technische Umsetzung solcher Produktionen ist aufwändig und zeitintensiv. Insofern können Probenprozesse jeweils stark vom Ort beeinflusst sein, an dem

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sie stattfinden, was wiederum auf die Stücke einwirkt, ein Effekt, der bei ortsspezifischen Inszenierungen ja explizit gewollt ist. – Spielphase: Die Probenphase endet in einem Stück. Die Arbeitsprozesse von Schauplatz International gestalten sich aber selten so, dass eine Produktion vor der Premiere als fertig anerkannt würde. Premieren entstehen direkt aus der Probenarbeit heraus, der Kreationsprozess wird nicht, wie in anderen Arbeitszusammenhängen üblich, auf Höhe der Hauptproben gestoppt. Entsprechend stellt die Premierenfassung eine gültige, aber nicht letztgültige Version des Stücks dar. Die nachfolgenden Aufführungen unterscheiden sich unter Umständen deutlich von der Premiere. Korrekturen sind weiterhin möglich.157 Stücke können prinzipiell über einen langen Zeitraum gespielt werden. Selten sind bei Beginn der Proben schon alle Gastspielorte bekannt. Bei ortsspezifischen Arbeiten hingegen ist die Zahl der Aufführungen begrenzt. Bisweilen findet sich zwar ein Spielprinzip, das auf andere Orte übertragen werden kann, doch meistens ergeben sich entsprechende Engagements im Rahmen besonderer Gelegenheiten wie Festivals und können, zum Beispiel als Zwischennutzung eines Geländes oder Gebäudes, nur in einem bestimmten Zeitraum und an einem bestimmten Ort stattfinden. Ökonomisch lassen sich die Arbeiten von Schauplatz International in vier Gruppen unterteilen: finanzierte Eigenproduktionen, nicht-finanzierte Eigenproduktionen, Aufträge und Mischformen. Eigenproduktionen werden zu einem großen Teil von Förderstellen der öffentlichen Hand finanziert. Welche das sind, richtet sich in erster Linie nach dem Produktionsort, im Fall von Schauplatz International meistens Bern oder Berlin. Die Kulturabteilungen von Stadt und Kanton Bern waren, nach anfänglicher Zurückhaltung, über die Jahre die wichtigsten und verlässlichsten Partner für die Gruppe. Zu diesen öffentlichen Stellen kommen private Stiftungen. Namentlich haben der Migros Genossenschaftsbund, das Migros Kulturprozent, die Fondation Nestlé pour l’Art und die Ernst-Göhner-Stiftung mehrmals Geld für Produktionen von Schauplatz International gesprochen. Budgets von Eigenproduktionen sind variabel und hängen stark von der Anzahl der Beteiligten ab, da die Lohnkosten etwa 80 Prozent eines seriösen Finanzplans ausmachen. Die Löhne liegen während der Probezeiten einer solide finanzierten Arbeit bei maximal 1.000 Franken pro Woche, Abendgagen zwischen 250 und 400 Franken. Es herrscht Lohngleichheit unter den Beteiligten, Unterschiede ergeben sich allein aus der Arbeitszeit, nicht nach Funktionen. Die Budgets der Gruppe sind im Verlauf der Jahre leicht gestiegen. Allerdings haben nur wenige Eigenproduktionen von Schauplatz

157 Vgl. Kapitel 2.5.2.

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International mehr als 100.000 Franken gekostet. Die Beiträge von allfälligen Koproduktionspartnern sind für Budgets wichtig, unterscheiden sich aber erheblich und können nicht vorausgesetzt werden. Koproduktionsbeiträge können aus reinen Arbeits- und Sachleistungen bestehen. Sind sie finanzieller Art, handelt es sich um hohe vier- oder tiefe fünfstellige Beträge. Werden diese als Fremdfinanzierung definiert, ist der Eigenfinanzierungsgrad der Arbeiten, bestehend aus Eintrittsgeldern, sehr gering. In den meisten Fällen fließen die Eintritte ohnehin zu den Veranstaltern. Bei Eigenproduktionen liegen die Rechte allein bei der Gruppe, Koproduktionspartner können allerdings auf dem Uraufführungsrecht bestehen. Es gibt auch Eigenproduktionen, die nicht oder nur unzureichend finanziert sind und hauptsächlich auf Eigenleistungen aufbauen. Das kann verschiedene Gründe haben: kurzfristige Planung und Durchführung, ohne Rücksicht auf Eingabetermine und Förderungsperioden; Ablehnung des Förderungsantrags bei einigen oder allen Stellen; Formate, die nicht den Förderungskriterien entsprechen. Solche Produktionen sind manchmal für einen konkreten Anlass gedacht und finden darüber hinaus keine oder nur wenig Verbreitung. Das gilt aber nicht immer: Das Stück »Château Europe – Der Superasylantenslam« zum Beispiel war unterfinanziert und wurde mit reduziertem Arbeitsaufwand produziert, entwickelte sich aber zu einer der erfolgreichsten Produktionen von Schauplatz International, was öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung betrifft. Aufträge entstehen in Zusammenarbeit mit selbständigen Stadt- oder Staatstheatern. Inhaltlich werden die Arbeiten mit den Dramaturgien der Häuser abgesprochen oder entstehen ursprünglich sogar dort. In einigen Fällen sind Schauspieler oder Schauspielerinnen des Ensembles Teil der Produktion. Aufträge werden ganz oder zu einem großen Teil durch die Budgets der Häuser getragen. Sie sind Teil des Spielplans, ordnen sich in die dispositionelle und inhaltliche Programmation des betreffenden Theaters ein. Dort oder an einem mit dem Theater in Verbindung stehenden Außenspielort werden die Stücke auch aufgeführt. Wer die Rechte an einer solchen Inszenierung hält, ist nicht in jedem Fall geklärt. Ausdrücklich verlangen die veranstaltenden Theater jeweils das Uraufführungsrecht, stillschweigend gehen die Verwertungsrechte dann aber meist auf die Gruppe über. Sind noch andere Koproduktionspartner beteiligt, werden deren Rechte mitberücksichtigt. Die meisten Arbeiten von Schauplatz International, die in Zusammenarbeit mit einem Stadtoder Staatstheater entstanden sind, passen sich aber personell, örtlich oder inhaltlich stark an die situativen Verhältnisse an, so dass ihr Transport in andere Aufführungskontexte ausgeschlossen ist. Eigenproduktion und Auftrag lassen sich nicht in allen Fällen klar auseinanderhalten. Prinzipiell schließen sich die Zusammenarbeit mit Stadt- und Staatstheatern und direkte öffentliche Förderung aus. Manchmal fungieren aber sowohl Stadttheater wie Gastspielhäuser der freien Szene als Koproduktionspartner. In anderen Fällen entwickeln sich Produktionen, die an einem Haus entstanden sind, weiter,

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werden an anderen Orten gezeigt und allenfalls zusätzlich finanziert. »King Kong an den blutigen Stränden der Zivilisation – Château Europe 2« zum Beispiel entstand als Auftrag und in Zusammenarbeit mit den Münchner Kammerspielen, wurde von diesen aber nach den ersten Vorstellungen in München aus dem Spielplan gestrichen, von der Gruppe dann aber noch im Tojo Theater Bern und dem Fabriktheater Zürich gezeigt. Insgesamt ist Schauplatz International für eine freie Schweizer Theatergruppe finanziell relativ breit abgestützt. Nichtsdestotrotz ist die ökonomische Lage der Gruppe prekär. Sie muss eine hohe Produktionskadenz anschlagen, um ihren Mitgliedern ein einigermaßen regelmäßiges Einkommen zu ermöglichen. Selbst dann sind diese aber darauf angewiesen, von Zeit zu Zeit andere Engagements oder Arbeiten außerhalb des Theaters anzunehmen, um überleben zu können. Schauplatz International hat mit vielen Auftraggebern, Koproduktionspartnern oder Veranstaltern zusammengearbeitet. Für Berner Produktionen sind das Schlachthaus Theater und das Tojo Theater die ersten Ansprechpartner. Mit dem Stadttheater Bern ist es erst einmal, anlässlich der »Optionalen Live Audiokommentare«, zu einer Zusammenarbeit gekommen. Seit 2010 unterhält Schauplatz International ein Büro mit Proberaum im Berner Stadtteil Bümpliz. Davor war die Gruppe lange in Biel domiziliert. Dort ist Schauplatz International bisher am Stadttheater, dem Centre Pasquart, im Filmpodium und am Rennweg 26 aufgetreten. In Basel arbeitete Schauplatz International mit der Kaserne zusammen, in Zug mit der Chollerhalle, in Aarau mit dem Theater Tuchlaube. In Zürich haben sich verschiedene Kooperationen ergeben: mit dem Fabriktheater, der Gessnerallee, dem Theaterspektakel und dem Theater Neumarkt. In der Westschweiz hat das Festival Belluard Bollwerk Fribourg mehrmals Produktionen von Schauplatz International gezeigt, »Free Keiko« wurde zudem in Zusammenarbeit mit der Galerie »Planet 22« im Musée d’art moderne et contemporain in Genf aufgeführt. Daneben gab es in der Schweiz Auftritte außerhalb etablierter Kunst- und Theaterräume, etwa in der Ikea-Filiale Lyssach oder im Hotel Kreuz in Bern. Das zweite lokale Standbein von Schauplatz International ist Berlin, wo mehrere Produktionen entstanden sind und die Gruppe ebenfalls ein Büro unterhält. Institutionell hat Schauplatz International mit verschiedenen Berliner Partnern zusammengearbeitet: dem Podewil, dem Hebbel am Ufer HAU, dem Theaterdiscounter und Club Real im Ausland Berlin. Dazu kamen Einladungen auf diverse Festivals, die zum Teil mit diesen Orten in Verbindung stehen oder standen: »Hope & Glory«, »reich & berühmt«, »Impulse«, »Politik im Freien Theater«, »Gipfelstürmer«, »Internationales Figurentheaterfestival Erlangen«. Außerhalb Berlins koproduzierte die Gruppe mit dem Schauspiel Essen, den Kammerspielen München, dem Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr, dem FFT Düsseldorf, dem Mousonturm in Frankfurt, dem Europäischen Zentrum der Künste Dresden Hellerau und dem Bayerischen Rundfunk. Außerhalb des deutschen Sprachraums – eine Zu-

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sammenarbeit mit österreichischen Institutionen hat sich nie ergeben – ist die Gruppe Kooperationen mit dem Bergen International Festival und der Laura Palmer Foundation in Warschau eingegangen. Die starke Verbindung zu Festivals ist typisch für einen bestimmten Kreis von freien Theatergruppen, denen aufgrund ihrer Arbeitsweise oder ihres Stils der Weg in die Staats- und Stadttheater erschwert oder ganz versperrt ist. Die Verbreitung von Festivals verlief in den letzten Jahren und Jahrzehnten parallel zu spezifischen ästhetischen Entwicklungen, wie die Theaterwissenschaftlerin Miriam Drewes nachweist.158 Sie bezeichnet Festivals als »Produktionsstätten der Avantgarde«,159 nicht ohne den Avantgardebegriff und die idealistisch-utopischen Implikationen des Fest- und Festivalbegriffs kritisch zu hinterfragen. Sie verweist zudem auf die standort- und kulturpolitische Dimension der Entwicklung. Festivals treten in Konkurrenz zu festen Häusern, gelten neben diesen mittlerweile als wichtiger kulturtouristischer Faktor und dokumentieren zugleich einen förderungspolitischen Verteilungskampf, der nicht nur auf dieser institutionellen, sondern auch auf ästhetischer und sogar theoretischer Ebene geführt wird.160 Daneben macht Drewes weltwirtschaftliche Gründe für die Stärkung von Festivals aus. Solche entsprechen in Struktur, Zielsetzung und den sanktionierten Produktionsbedingungen weit besser der Dynamik einer informalisierten und globalisierten Ökonomie – auch verstanden als Aufmerksamkeitsökonomie – als Stadt- und Staatstheater. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Festivals einen beträchtlichen Teil ihrer Budgets aus privatwirtschaftlichen Quellen decken. Gruppen, die sich innerhalb dieses transnationalen Festivalbetriebs etablieren, nehmen selbst die Gestalt eines kulturellen Global Players an. Auf diese Stufe ist Schauplatz International, ungeachtet der Verbundenheit mit und der Abhängigkeit von Festivals, nicht gelangt. Trotzdem ist die Formation, teils durch private Lebensumstände, teils aufgrund einer auf die Produktionsverhältnisse im Freien Theater reagierenden strategischen Entscheidung bedingt, zu einer Gruppe geworden, die zwar lokale Verankerungen kennt, grundsätzlich aber grenzüberschreitend arbeitet. Einerseits lässt die ökonomische Limitierung des Schweizer Marktes gar nichts anderes zu, andererseits ist darin auch eine programmatische Ausrichtung zu sehen, die sich mit der künstlerischen Weigerung deckt, Theater als formal eindeutige Kunstform zu verstehen. Dieser räumlich-methodische Polyzentrismus hat sich für die Gruppe ökonomisch als Vorteil erwiesen, weil sie die Abhängigkeit von einzelnen, lokalen Geldgebern vermindert. Nichtsdestotrotz gilt die Gruppe auf dieser institutionellen Ebene, besonders den Kulturabteilungen von Stadt und Kanton Bern, als langfristig

158 Vgl. Drewes: Ort der Utopie. 159 Drewes: Ort der Utopie, S. 20. 160 Vgl. Kapitel 2.5.2.

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förderungswürdig. Weniger verlässlich ist die öffentliche Resonanz der Stücke von Schauplatz International. Sie sind innerhalb des ohnehin begrenzten Publikumssegments des Freien Theaters angesiedelt und gewinnen auch dort nicht automatisch ihr Publikum. Gerade Stücke, die in der öffentlichen Wahrnehmung nicht sofort als Theater erkennbar sind, lassen sich schwer vermitteln. Einen großen Einfluss auf das Zuschaueraufkommen hat der institutionelle Rahmen der Aufführung. Festivals erzeugen mehr Aufmerksamkeit als Einzelproduktionen, feste Häuser können, wenn sie die Produktion seriös vertreten, einen Publikumsstamm beisteuern, den die Gruppe allein nicht hat. Die Stücke von Schauplatz International vermitteln sich, das zeigt die Erfahrung, weitgehend über ihren Inhalt, was dazu führt, dass sie immer wieder Interessierte jenseits des mit dem Freien Theater vertrauten Publikums finden. Die Ästhetik der Produktionen wiederum ist nicht in erster Linie darauf ausgelegt zu gefallen, eine Tatsache, die von einem Teil des potenziellen Publikums nicht immer toleriert wird, von einem anderen, wohl dem kleineren, hingegen als besonderes Merkmal der Stücke geschätzt wird. Ähnlich zwiespältig verhält sich die Presse. Während Themenwahl und Herangehensweise im Vorfeld meistens interessiert bis begeistert aufgenommen werden und entsprechend breit über die Produktionen berichtet wird, fallen die Reaktionen nach Betrachten nicht selten irritiert und konfus aus, wobei sich zeigt, dass Rezeptionsroutine und Vertrautheit mit der Arbeit von Schauplatz International für deren Verständnis wichtig sind. Doch selbst ein überwiegend wohlwollendes Feuilleton hat in den mehr als zehn Jahren des Bestehens der Gruppe nicht dazu geführt, ihr zu einem Bekanntheitsgrad zu verhelfen, der wiederkehrend hohe Zuschauerzahlen garantieren würde. Die Schwierigkeiten der Diffusion lassen sich unter anderem auf die Tatsache zurückführen, dass die Produktionen von Schauplatz International jeweils in relativ kleinem Kreis mit entsprechend wenigen Multiplikatoren entstehen. Zwar haben im Verlauf der Jahre viele Künstler und Künstlerinnen mit der Gruppe gearbeitet, weil aber die einzelnen Produktionen auf die klassische Auffächerung der Funktionen wie Ausstattung, Kostüme, Textgestaltung verzichten, sind jeweils nur wenige beteiligt. Dazu kommt, dass jene Künstlerinnen und Künstler, die eine längere Zusammenarbeit mit der Gruppe pflegen, an verschiedenen Orten leben, so dass Milieubildung über persönliche Kontakte für die Publikumsgenese eine untergeordnete Rolle spielt. Schauplatz International besteht seit 2002 aus vier leitenden Mitgliedern: Martin Bieri, Anna-Lisa Ellend, Albert Liebl und Lars Studer. Die meisten Produktionen entstehen unter Beteiligung dieser vier. Nicht selten erweitert sich die Gruppe aber um weitere Darstellerinnen, Musiker, Assistenten oder Produktionsleiterinnen. Mehrmals mit Schauplatz International aufgetreten ist die Schauspielerin Juliane Werner; der Musiker Matthias Wyder hat viele Stücke vertont. Katja Grawinkel, die

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bei der ersten Folge der »Expedition an den Rand der Welt« am Schauspiel Essen noch hospitiert hatte, wurde danach zur Produktionsleiterin für Arbeiten in Deutschland, eine Aufgabe, die zuvor Sven Heier und, für die Schweiz, Mathias Bremgartner übernommen hatten. Seit 2012 betreut Eva-Maria Bertschy die Gruppe als Produktionsleiterin. Max Stelzl ist bei den jüngst entstandenen großen Produktionen kontinuierlich als technischer Leiter engagiert. Zu diesen professionellen Theaterschaffenden kommen viele Gäste, die nicht hauptsächlich künstlerisch arbeiten. Es kann sich dabei um Personen handeln, die der Gruppe während der Produktionsrecherchen begegnet sind, oder um solche, die extra angefragt werden, weil sie durch besondere Qualifikationen wichtige Beiträge zu einem Stück leisten können. So stellt die Gruppe ihre Produktionen immer wieder in einen gesellschaftlichen Zusammenhang, der eben nicht nur thematisch, sondern sogar personell nachvollzogen werden kann. Nicht zuletzt über diese Integration sachkundiger Außenstehender stellt Schauplatz International den Anschluss an den theoretischen Diskurs her. Der Gruppe wird eine Affinität zum Akademischen nachgesagt, und tatsächlich setzt sie sich nicht nur in der Vorbereitung, sondern auch in den Aufführungen immer wieder mit den theoretischen Seiten eines Themas auseinander. Für die Beschäftigung mit der Frage, inwiefern es sich bei den vier besprochenen Produktionen von Schauplatz International um Landschaftstheater handelt, ist deshalb ein Blick auf raumtheoretische Überlegungen von Interesse, die die Gruppe selbst umtreiben. Er leitet den zweiten Teil dieser Arbeit ein, eine ausgiebige theoretische Behandlung des Problems, was denn eine Landschaft überhaupt ist.

Zweiter Teil: Theorie

3 Die Raumwende

3.1 D IE K ULTURWISSENSCHAFTEN Die Kulturwissenschaften wurden jüngst von verschiedenen Richtungswechseln, so genannten Turns, erfasst.1 Eine dieser Wendungen wird Spatial Turn genannt und bezieht sich auf eine veränderte Bewertung der Kategorie »Raum«. Aber was ist mit »Turns« überhaupt gemeint? Wen betreffen sie und wo finden sie statt? Lose kann unter Kulturwissenschaften ein fächerübergreifender Forschungsansatz verstanden werden, der sich aus den Geisteswissenschaften entwickelt hat, zu diesen aber bewusst Abstand gewinnen will. Eine klare Definition fehlt jedoch. Wenngleich die Kulturwissenschaften aus der deutschsprachigen akademischen Tradition stammen, sind sie mit den englischsprachigen Cultural Studies inhaltlich und methodisch verwandt, zeigen sich allerdings ideologisch offener. Die Cultural Studies entstanden in den 1950er Jahren in Birmingham, wo sich eine so genannte »Birmingham-Schule« bildete, die auf eine diagnostizierte Krise der »Humanities« reagieren wollte. So fasst Stuart Hall die Ausgangslage zusammen.2 Hall war selber Mitglied der Gruppe junger Literaturwissenschaftler, die sich gegen das herrschende elitäre Kulturverständnis wandten. Beeinflusst von Marx, Foucault und Gramsci, verstanden die akademischen Insurgenten Kultur als Kampfplatz um materielle und immaterielle Interessen, wobei sie den Kulturbegriff ausweiteten und die Populärkultur zu ihrem Hauptuntersuchungsgegenstand machten. Die Cultural Studies verbanden Kultur mit Politik, verabschiedeten sich vom wissenschaftlichen Ideal der Neutralität und nahmen offen parteiische Positionen ein.

1

Vgl. Bachmann-Medick: Cultural Turns.

2

Vgl. Stuart Hall: The Emergence of Cultural Studies and the Crisis of the Humanities. In: The MIT Press (Hg.): October, Vol. 53. The Humanities as Social Technology. 1990, S. 11-23.

104 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER »The vocation of cultural studies has been to enable people to understand what is going on, and especially to provide ways of thinking, strategies for survival, and resources for resistance to all those who are now – in economic, political, and cultural terms – excluded from anything that could be called access to the national culture of the national community.«3

In den Vereinigten Staaten, wo sich die Cultural Studies besonders stark entwickelten, ist dieser Anspruch mit einer starken postkolonialen Färbung versehen. Cultural Studies haben dort, wie der Historiker Karl-Heinz Kohl meint, immer einen »Migrationshintergrund«.4 Die deutschsprachigen Kulturwissenschaftler und Kulturwissenschaftlerinnen beziehen sich auf eine andere akademische Tradition, die, nicht zuletzt weil ihre Protagonisten Juden waren, nach den 1930er Jahren keine direkte Fortsetzung fand. Erst in den 1990er Jahren wurden Wissenschaftler wie Georg Simmel, Karl Lamprecht, Aby Warburg oder Walter Benjamin wieder breit rezipiert. Sie hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die methodologischen Bahnen der etablierten geistes- und sozialwissenschaftlichen Einzeldisziplinen verlassen und neue Fragestellungen, Wahrnehmungsarten und Arbeitsweisen entwickelt.5 Die Kulturwissenschaften zeigen sich in der Frage nach direkter Beteiligung am identitätspolitischen Kampf, für den die Cultural Studies Kultur halten, reservierter. Aber sowohl in Bezug auf den Methodenpluralismus wie auch in Bezug auf die inhaltliche Ausrichtung gleichen sich beide Ansätze. Die Kulturwissenschaften erforschen das Zustandekommen und die Bedeutung von Kultur. Karl-Heinz Kohl zum Beispiel versteht den Begriff »Kulturwissenschaften« als »Sammelbezeichnung für die sich an einem gemeinsamen Konzept von Kultur ausrichtenden geisteswissenschaftlichen Disziplinen«.6 Damit ist die Frage, was Kulturwissenschaften sind, nicht restlos geklärt, denn einen einheitlichen Kulturbegriff gibt es nicht. Das hängt damit zusammen, dass »Kultur« ein Wort ist, das mindestens zwei verschiedene logische Bedeutungen hat: »Kultur« als Bezeichnung eines Forschungsgegenstandes und »Kultur« als theoretische Katego-

3 4

Hall: Cultural Studies, S. 22. Vgl. Karl-Heinz Kohl: Keine Wende ohne Migrationshintergrund. Immer die Identität behalten: Doris Bachmann-Medicks empfehlenswerte Einführung in die Theorien der Kulturwissenschaften. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. November 2006, Nr. 256, S. 37.

5

Vgl. Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaften. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin 2008.

6

Kohl: Migrationshintergrund, S. 37.

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rie. »Das eine Mal kommt ›Kultur‹ als das zu-Erklärende und das andere Mal als das Erklärende zur Geltung.«7 Zwar interessieren sich die Forschenden generell mehr für Phänomene wie Symbolisierung, Sprache und Repräsentation als positivistische oder ökonomische Erklärungen des Sozialen, aber daraus ergibt sich noch keine Definition des gemeinsamen Gegenstands. Insofern leiten sich Definition und Gegenstand der Kulturwissenschaften zu einem Teil noch immer aus den alten Geistes- und Sozialwissenschaften ab, aus denen sie hervorgegangen sind und deren Gegenstand man genauer zu kennen glaubt. Die Kulturwissenschaften wären in diesem Sinne ein »Bezugsrahmen, der das Spektrum der traditionellen geisteswissenschaftlichen Disziplinen integrieren soll«.8 Kulturwissenschaftler und Kulturwissenschaftlerinnen streben keine neue »Totalwissenschaft«9 an, wie es Heinz Dieter Kittsteiner formuliert, sondern sind eine »offene Verflechtung von Wissenschaften, die sich zusammengefunden haben, um neue Phänomene der Kultur zu untersuchen«.10 Kittsteiner weist allerdings darauf hin, dass »zusammenfinden« ein beschönigender Ausdruck für die Tatsache sei, dass die Kulturwissenschaften »von Wissenschaftspolitikern und akademischen Gründungsgremien zusammenberufen«11 worden seien. Nachträglich müssen sie nun »darauf reflektieren, wer und was sie sind«.12 Auf diesen Sachverhalt deutet auch die nicht gelöste Frage hin, ob die Kulturwissenschaften »Kulturwissenschaft« genannt werden sollten. Der bevorzugte Plural widerspiegelt die institutionelle und methodische Vielschichtigkeit der fraglichen Forschung und signalisiert zurückhaltend Nähe zu den englischsprachigen »Cultural Studies«.

7

Dariusz Aleksandrowicz: Die beiden Grundprobleme der Kulturwissenschaft. In: Heinz Dieter Kittsteiner (Hg.): Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten. München 2004, S. 25-39, hier S. 28.

8

Vgl. Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon der Kultur- und Literaturtheorie. Ansätze –

9

Heinz Dieter Kittsteiner: Nachdenken über Kulturwissenschaften. In: Kittsteiner: Kultur-

Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2004, S. 368. wissenschaften, S. 9. 10 Kittsteiner: Nachdenken, S. 8f. 11 Kittsteiner: Nachdenken, S. 9. 12 Kittsteiner: Nachdenken, S. 9.

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3.2 TURNS IN DEN KULTURWISSENSCHAFTEN Sieben »Turns« genannte Wenden zählt Doris Bachmann-Medick in ihrer Untersuchung zur Bewegungsmechanik der zeitgenössischen Kulturwissenschaften. Neben dem »Spatial Turn«, hier von besonderem Interesse, sollen sich diese in den letzten Jahrzehnten in je einem »Interpretative«, »Performative«, »Reflexive/Literary«, »Postcolonial«, »Translational« und »Iconic Turn« in immer neue Richtungen gedreht haben.13 Diese Aufzählung stellt keinen Kanon aller gültigen Turns in den Kulturwissenschaften dar. Hartmut Böhme zum Beispiel kritisiert sowohl die einseitige Ausrichtung auf die amerikanischen Wissenschaften als auch Gleichbewertung der aufgeführten »Turns«.14 In »L’Homme«, der »Europäische[n] Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaften«, wurde mehrfach die Auswahl der »Turns« und insbesondere das Fehlen eines »gender turns« kritisiert.15 Eine gewisse Konvergenz mit dem weiter unten diskutierten Spatial Turn scheint der jüngst proklamierte »Body Turn« aufzuweisen.16 Beide beschäftigen sich mit den materiellen Voraussetzungen menschlicher Existenz. Den großen, von einer umfassenden Sprachskepsis ausgehenden Linguistic Turn, der lange vor der Etablierung der Kulturwissenschaften seinen Anfang nahm, zählt Bachmann-Medick nicht einmal mit, denn ihn setzen, ihrer Meinung nach, alle darauf folgenden Turns voraus. Zum Verständnis dessen, was als Turn in den Kulturwissenschaften bezeichnet wird, lohnt es sich, einen Blick auf diese initiale Bewegung zu werfen. Roman Jakobson und Linda R. Waugh weisen auf das Jahr 1916 als eigentlichen Beginn des Linguistic Turn hin.17 1916 erschienen sowohl Albert Einsteins »Grundlagen der allgemeinen Relativitätstheorie« als auch Ferdinand de Saussures Vorlesungen »Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft«, im französischen Original »Cours de linguistique générale«. Die Koinzidenz deutet für Jakobson und Waugh auf eine für das 20. Jahrhundert entscheidende Analysekategorie hin: Relativität. De Saussures Einsicht in den konstruktivistischen Gehalt der Sprache parallelisierte Einsteins Überlegungen zur Relativität scheinbar festgesetzter physikalischer Grö-

13 Vgl. Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 5. 14 Hartmut Böhme: Vom »turn« zum »vertigo«. Wohin drehen sich die Kulturwissenschaften? In: JLTonline: www.jltonline.de/index.php/reviews/article/viewFile/26/16 (11. April 2011). 15 Vgl. L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, 18. Februar 2007. 16 Robert Gugutzer: Body Turn. Perspektiven einer Soziologie des Körpers und des Sports. Bielefeld 2006. 17 Vgl. Roman Jakobson, Linda R. Waugh: Die Lautgestalt der Sprache. Berlin, New York 1986, S. 17f.

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ßen wie Raum und Zeit. Vielleicht ist es mehr als ein geschichtlicher Zufall, dass Einstein während seiner Aarauer Zeit beim Linguisten Jost Winteler logierte, der ihn entsprechend beeinflusst haben könnte.18 Die kritische Beschäftigung mit Sprache schlug sich um die Jahrhundertwende auch in Philosophie und Kunst nieder, zum Beispiel bei Friedrich Nietzsche und Stéphane Mallarmé, später bei Ludwig Wittgenstein, dem »Wiener Kreis« oder den Dadaisten. Populär wurde der Begriff Linguistic Turn durch die von Richard M. Rorty 1967 herausgegebene Anthologie gleichen Namens.19 Der Linguistic Turn etablierte die Sprache als unhintergehbare Bedingung des Denkens: »All linguistic philosophers talk about the world by means of talking about a suitable language. This is the linguistic turn.«20 Demnach ist jede menschliche Erkenntnis durch Sprache strukturiert, das Subjekt insgesamt von Diskursen durchsetzt. Das heißt umgekehrt: Wirklichkeit als Objekt menschlicher Erkenntnis ist sprachlich konstruiert, und zwar nicht nur rezeptiv, sondern produktiv. Repräsentation schafft Realität.21 Damit verbunden ist ein potenzieller Kampf um die Durchsetzung von Symbol- und Bedeutungssystemen und um die gemäße Konstruktion von Wirklichkeit. Nicht umsonst wird nach dem Linguistic Turn der Begriff »Macht« zu einem Zentralthema sozialphilosophischer, demokratie- und kulturtheoretischer Diskussionen, entscheidend geprägt von den Arbeiten Hannah Arendts und Michel Foucaults »Machtphilosophie«.22 Mit dem Linguistic Turn haben sich die Kulturwissenschaften insofern einen großen Dienst erwiesen, als dass Selbstreflexion zur Voraussetzung jeder Äußerung wird. Das ist wissenschaftlich, denn in der Wissenschaft geht es darum, überprüfbare Aussagen zu machen. »Wissenschaft kann nicht Wahrheit gewährleisten, sondern objektivere Kommunikation.«23 Die sprachlichen Voraussetzungen von Erkenntnissen offenzulegen und zu wissen, dass die Äußerung von Erkenntnissen deren Plausibilität und Legitimität beeinflusst, vielleicht sogar kreiert, trägt zur Objektivierung kulturwissenschaftlicher Kommunikation bei.

18 Vgl. z.B. Roman Jakobson, Linda R. Waugh: The Sound Shape of Language. Brighton 1979. 19 Richard M. Rorty (Hg.): The Linguistic turn: Essays in Philosophical Method. Chicago, London 1967. 20 Richard M. Rorty: Metaphilosophical Difficulties of Linguistic Philosophy. In: Richard M. Rorty (Hg.): The Linguistic turn: Essays in Philosophical Method. Chicago 1992, S. 8. 21 Vgl. Kapitel 4.6. 22 Vgl. z. B: Ralf Krause, Marc Rölli (Hg.): Macht. Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart. Bielefeld 2008. 23 Eberhard: Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, S. 20.

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Die Dominanz des Linguistic Turn in den Kulturwissenschaften hat aber auch Nachteile. Die Historikerin Lyndal Roper zum Beispiel stellt fest, dass die Geschichtswissenschaften dermaßen von der Diskursanalyse beherrscht seien, dass neue blinde Flecken entstünden, die den Zugang zu dem, was »einst als Realität bezeichnet wurde«,24 verstellt erscheinen ließen: »Statt nach Klassenzugehörigkeit und sozialen Positionen und ihrem Einfluss auf menschliches Verhalten zu fragen, waren wir mit Diskursen beschäftigt, haben wir uns mit Sprache beziehungsweise Zeichen auseinandergesetzt, die die Wahrnehmung der Welt strukturieren. […] Mittlerweile jedoch werden die Grenzen des linguistic turn immer deutlicher.«25

Die Grenzen des Linguistic Turn liegen offenbar da, wo das platonische Reich der Ideen beginnt, ein Reich, wo es, wie der Historiker Wolfgang Reinhard findet, gefährlich ist. »Gefährlich, weil die einst dominierende Geistesgeschichte, die mittels materialistischer Wirtschafts- und Sozialgeschichte auf den ihr gebührenden begrenzten Platz verwiesen wurde, […] die Geschichtswissenschaften erneut in ein idealistisches, jetzt als Symbolgeschichte drapiertes Unternehmen verwandeln könnte.«26 Reinhard befürchtet, die Geschichtswissenschaften könnten sich im Zuge des Linguistic Turn so weit gedreht haben, dass sie den Ideen erkenntnistheoretisch den Vorrang geben vor dem, was »einst als Realität bezeichnet wurde«.27 Er befürchtet das Entstehen eines neuen Idealismus. Diese Sorge lässt sich auf die Kulturwissenschaften übertragen. Wolfgang Reinhard macht seine Position klar: »Nicht die Diskurse bringen die Geschichte hervor, sondern die Geschichte die Diskurse.«28 Lyndal Roper kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: »Sprache ist ein Medium. Sie ermöglicht es, Gedanken und Gefühle auszudrücken, doch sie stellt sie nicht her.«29 Der Linguistic Turn hat die verstörende Frage gestellt, wie sich sprachliche Produktion und Reproduktion von Wirklichkeit zueinander verhalten. Die Positionen von Roper und Reinhard zeigen, dass, in Bezug auf die Geschichtswissenschaften, im Reden darüber, wie von etwas die Rede ist, das, worüber geredet wird,

24 Lyndal Roper: Jenseits des linguistic turn. In: Historische Anthropologie 7/3 1999, S. 452-466, hier S. 452. 25 Roper: Jenseits des linguistic turn, S. 452. 26 Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie. München 2006, S. 32. 27 Vgl. Fußnote 24. 28 Reinhard: Lebensformen Europas, S. 34. 29 Roper: Jenseits des linguistic turn, S. 466. Vgl. auch Peter Schröttler: Wer hat Angst vor dem »linguistic turn«? In: Geschichte und Gesellschaft 23 1997, S. 134-151.

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verloren gehen kann. Der Linguistic Turn, der ja gerade die Verwendung von Sprache befragt, hat selbst eine Sprache hervorgebracht, die zu dem, was jenseits dieser Sprache liegt und »einst als Realität bezeichnet wurde«,30 nichts zu sagen hat. Die sprachliche (Re)Produktion sprachlicher (Re)Produktion läuft leer. Darin ähnelt sie dem Idealismus, was nicht unbedingt für eine materialistische Sicht der Dinge spricht, wie der amerikanische Ethnologe Marshall Sahlins formuliert: »On Materialism: Materialism must be a form of idealism, since it’s wrong – too.«31 In gewissem Sinn machte diese Entwicklung des Linguistic Turn auch jene Entwicklung rückgängig, die die Kulturwissenschaftler dazu bewogen hatte, sich nicht mehr Geisteswissenschaftler zu nennen, denn »Geist in den Geisteswissenschaften klang zu sehr nach dem Deutschen Idealismus«.32 Die verschiedenen Turns, von denen die Kulturwissenschaften erfasst worden sind, reagieren auf diese Tendenzen. Sie markieren die »Rückkehr des Verdrängten«,33 wie es Bachmann-Medick nennt, und richten den Blick auf jene Dimensionen von Kultur, Lebenswelt, Geschichte und Handeln, die in Vergessenheit zu geraten drohten. Was die Sprache des Linguistic Turn, der ja gerade die sprachliche Konstruktion von Wirklichkeit offen legen sollte, verkürzt darstellt und selber verkürzt, versuchen die diversen Turns in den Kulturwissenschaften zu rehabilitieren. Für den Spatial Turn ist dies die Kategorie »Raum«. Der Historiker Karl Schlögel, ein Verfechter des Spatial Turn,34 definiert einen Turn als »moderne Rede für gesteigerte Aufmerksamkeit für Seiten und Aspekte, die bisher zu kurz gekommen sind«.35 Für Bachmann-Medick reicht das noch nicht für einen Turn. Für sie braucht es einen »Wechsel der kategorialen Ebene« oder gar einen »konzeptuellen Sprung«: »Von einem Turn kann man erst sprechen, wenn der neue Forschungsfokus von der Gegenstandsebene neuartiger Untersuchungsfelder auf die Ebene von Analysekategorien und Konzepten ›umschlägt‹, wenn er also nicht mehr nur neue Erkenntnisobjekte ausweist, sondern selbst zum Erkenntnismittel und -medium wird.«36

30 Vgl. Fußnote 24. 31 Marshall Sahlins: Waiting for Foucault, Still. Chicago 2000, S. 6. 32 Kittsteiner: Nachdenken, S. 9. 33 Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 36. 34 Vgl. Karl Schlögel: Kartenlesen oder: Die Wiederkehr des Raumes, Zürich 2003. Und Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit: Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2003. 35 Karl Schlögel: Kartenlesen, Augenarbeit. Über die Fälligkeit des spatial turns in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. In: Kittsteiner: Kulturwissenschaften, S. 261-283, hier S. 265. 36 Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 26.

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Das bedeutet für den Spatial Turn, dass aus dem Forschungsgegenstand »Raum« eine Analysekategorie wird, mithilfe derer Phänomene untersucht werden können, die ursprünglich nicht in den Gegenstandsbereich einer Disziplin gehören. Manche von ihnen werden überhaupt erst durch die Anwendung einer neu gewonnen Analysekategorie, also erst nach dem Turn, erkannt. Wichtiger Bestandteil eines Turns ist, nach dem Linguistic Turn nicht überraschend, die Sprache. Neue kulturwissenschaftliche Forschungsfelder werden mit einem eigenen, innovativen Vokabular bearbeitet, das die Entdeckung wiederum neuer Forschungsfelder vorbereitet. Deshalb seien, nach Bachmann-Medicks Dafürhalten, Turns überhaupt erst möglich: »Ein solcher konzeptueller Sprung durch turns ist deshalb so wirkungsmächtig, weil er zumeist mit der Transformation von zunächst beschreibenden Begriffen in operative Begriffe, eben in wirklichkeitsverändernde Konzepte, einhergeht.«37 Neben diesen inhaltlichen Gründen, wie es zu einem Turn in den Kulturwissenschaften kommen kann, gibt es noch andere, wissenschaftspolitische Faktoren, die mindestens ebenso sehr ins Gewicht fallen. Das Nachdenken in den Kulturwissenschaften, »wer und was sie sind«,38 findet nicht ohne kompetitiven Eifer statt. Innerhalb des »intellektuellen Feldes«39 sind Positionskämpfe um die Verteilung von Fördergeldern, öffentliche Anerkennung und wissenschaftlichen Ruhm im Gange. Bourdieu liefert mit seiner Ausdifferenzierung des Begriffs »Kapital« die Erklärung dessen, um das gekämpft wird.40 Das »intellektuelle Feld«41 besteht aus spezifischen Konstellationen in Bezug auf die Verteilung von ökonomischem, sozialem, symbolischem und kulturellem Kapital, vertreten durch deren Träger in den entsprechenden Positionen. Mit den besten Positionen innerhalb des »intellektuelles Feldes« ist Definitions- und Deutungsmacht verbunden. Deshalb geht die Wirkung des sich abwickelnden Kampfes über den Bereich der Akademien hinaus und betrifft die soziale Sphäre insgesamt. Turns markieren frappante Verschiebungen im Gefüge des »intellektuellen Feldes«, die Neuverteilung von Kapital und die daraus entstehende Neuverteilung der hegemonialen Positionen. Aus einer für Cultural Studies typischen Perspektive formuliert: Ein »turn« ist, nicht nur, aber auch, eine Machtübernahme. Die Kulturwissenschaften erweisen sich als besonders dynamisches »intellektuelles Feld«. Sie sind aufgrund ihrer interdisziplinären Ausrichtung vergleichsweise

37 Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 26. 38 Kittsteiner: Nachdenken, S. 9. 39 Vgl. Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M. 1970. 40 Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Und Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg 1992. 41 Vgl. Bourdieu: Soziologie der symbolischen Formen.

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schwach institutionalisiert und stellen im Sinne Bourdieus ein offeneres Feld dar als die traditionellen akademischen Disziplinen. Die Zahl der identifizierbaren Turns bildet die politische Dynamik innerhalb der Kulturwissenschaften ab, so dass es nicht leicht ist, eine erkenntnistheoretisch weiterführende Wende von einer modischen Volte zu unterscheiden. Der Feuilletonist Thomas Thiel erinnerte sich angesichts der Wendigkeit der Kulturwissenschaften an ein Zitat von Rilke: »Und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.«42 Die Kadenz, mit der sich Turns in den Kulturwissenschaften gegenseitig ablösen, hat auch damit zu tun, dass sie, einmal etabliert, inflationäre Verwendung finden. In den Worten des amerikanischen Ethnologen Marshall Sahlins: »In the social sciences, paradigms are not outmoded because they explain less and less, but rather because they explain more and more – until, all too soon, they are explaining just about everything. There is an inflation effect in social science paradigms, which quickly cheapens them.«43 Sahlins verwendet nicht den Begriff Turn, sondern spricht von »theoretical regime« oder »paradigm«. Bachmann-Medick, die diese Stelle auch zitiert, unterscheidet Turns von Paradigmenwechseln im Sinne Thomas Samuel Kuhns:44 »Niemals handelt es sich um vollständige und umfassende Kehrtwenden eines ganzen Fachs, sondern eher um die Ausbildung und Profilierung einzelner Wendungen und Neufokussierungen, mit denen sich ein Fach oder ein Forschungsansatz interdisziplinär anschlussfähig machen kann. Es kommt zum Methodenpluralismus, zu Grenzüberschreitungen, eklektizistischen Methodenübernahmen – nicht jedoch zur Herausbildung eines Paradigmas, das ein anderes, vorhergehendes vollständig ersetzt.«45 Das spricht nicht unbedingt gegen erkenntnistheoretische Turns überhaupt, aber sicher für einen sorgfältigen Gebrauch der neu gewonnenen Analysekategorien und für den Verzicht auf einen ausschließlichen Geltungsanspruch. Das betrifft nicht zuletzt den Spatial Turn, dem einige seiner Verfechter diesen ausschließlichen Geltungsanspruch verschaffen und ihn zum »Megaturn« der Kulturwissenschaften zu erklären bereit sind.

42 Thomas Thiel: Vielgewendet. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. September 2005, Nr. 208, S. N3. 43 Sahlins: Borrrrrrring! In: Sahlins: Waiting for Foucault, S. 73-74, hier S. 73. 44 Vgl. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M. 2003. 45 Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 17.

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3.3 DER SPATIAL TURN Das gilt insbesondere für den amerikanischen Geographen Edward W. Soja. Er soll den Begriff »Spatial Turn« in die kulturwissenschaftliche Diskussion eingeführt haben und versteht ihn nun als Bezeichnung für einen sich vollziehenden Epochenbruch. Jörg Döring und Tristan Thielmann zeichnen im Vorwort zu der Anthologie »Spatial Turn« die Entstehung des Terms nach.46 Sie zeigen, dass Soja den Begriff zum ersten Mal als Kapitelüberschrift in seinem Buch »Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in Critical Social Theory« verwandte.47 Das Erscheinen des Buches markiert einen Schlüsselmoment für die Etablierung der Kategorie »Raum« in den Kulturwissenschaften. Soja nimmt darin Henri Lefebvres Theorie von der »Produktion des Raums« auf und schließt die Geographie an postmoderne Theoriekomplexe an.48 Das Kapitel, in dessen Titel der Term »spatial turn« auftaucht, befasst sich folgerichtig mit der »Entdeckung der Raumwende im Marxismus des Westens«.49 Soja verfolgt den Begriff danach nicht weiter. Erst in »Thirdspace«, Sojas Folgeband zu »Postmodern Geographies«, tauche, so Döring und Thielmann, der Begriff wieder signifikant auf, allerdings nur im Klappentext.50 Döring und Thielmann vermuten daher, dass der Autor, Edward W. Soja, »mit seinem Begriff weiterhin wenig systematische Ansprüche verband, wohl aber ein Label platzierte, das seiner Agenda – der Wiederbeachtung des Raums in der kritischen Sozialtheorie – zu mehr Beachtung verhelfen sollte«.51 Edward W. Sojas Position widerspricht dieser Einschätzung. Er sieht im Spatial Turn einen Epochenwechsel sich vollziehen. In einer von Döring und Thielmann veranstalteten Tagung zur »Standortbestimmung des spatial turn« 2006 in Siegen äußerte er sich dezidiert in diese Richtung. Er versuche, so der Tagungsbericht, »den ›spatial turn‹ nicht nur als Paradigmenwechsel einiger Fachdisziplinen zu sehen (›it’s not some innocent little turn‹), sondern das neue Raumbewusstsein als

46 Vgl. Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008, S. 7f. 47 Vgl. Edward W. Soja: Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in Critical Social Theory. London 1989. 48 Vgl. Henri Lefebvre: La production de l’espace. Paris 1974. 49 Soja: Postmodern Geographies, S. 39. 50 Vgl. Edward W. Soja: Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-andImagined Places. Oxford 1996. 51 Döring, Thielmann: Spatial Turn, S. 9.

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grundlegende ontologische Restrukturierung des Gesellschafts-, Menschen- und Geschichtsbildes vorzustellen«.52 In der schriftlichen Fassung des Vortrags stellte Soja fest, »dass im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts etwas Erstaunliches geschah – etwas, was in der Rückschau des 21. Jahrhunderts vielleicht als eines der bedeutsamsten intellektuellen und politischen Ereignisse des späten 20. Jahrhunderts angesehen werden wird«.53 Ein Ereignis mithin, an dem er sich selbst nicht unwesentlich beteiligt sieht. Somit ist, ähnlich wie bei anderen Turns in den Kulturwissenschaften, auch für den Spatial Turn das terminologische Spannungsfeld entfaltet, in welchem es, wie es im gleichen Tagungsbericht heißt, möglich sei, diesen Turn wahlweise als »wissenschaftsinternes Marketingkonzept, als breitenwirksame[n] Paradigmenwechsel oder fahrlässige Begriffsverunklarung zu bezeichnen«.54 Inhaltlich wird mit dem Spatial Turn die Kategorie »Raum« zu einem Schlüssel des kulturwissenschaftlichen Arbeitens und Verstehens. »Raum« wird vom Untersuchungsgegenstand zur Analysekategorie. Kulturwissenschaftlich relevante Phänomene werden in ihrer Räumlichkeit untersucht, ohne die sie gar nicht bestimmt werden können. »Always spatialize!«,55 fordert die Feministin Susan Stanford Friedman und bezieht sich auf den Appell des amerikanischen Kulturtheoretikers und Marxisten Frederic Jameson, der 1981 formulierte: »Always historicize!«56 Mit Jameson als Referenz schlägt Stanford Friedman die Brücke zum theoretischen Diskurs der Postmoderne, von dessen Schwung der Spatial Turn nicht unwesentlich profitiert.57 Das analytische Verfahren der »Verräumlichung« verdankt seine Entstehung auch dem postmodernen Willen zur Kontextualisierung von Untersuchungsgegenständen und zur selbstreflexiven Brechung vereinheitlichender und totalisierender Denkschemata.58

52 Tagungsbericht Geocode der Medien. Eine Standortbestimmung des spatial turn. 12.10.2006-14.10.2006, Siegen. In: H-Soz-u-Kult, 8. November 2006. http://hsozkult.ges chichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1353 (11. April 2011). 53 Döring, Thielmann: Spatial Turn, S. 243. 54 Tagungsbericht Geocode der Medien. 55 Susan Stanford Friedman: Mappings: feminism and the cultural geographies of encounter. Princeton, N.J. 1998, S. 130. 56 Frederic Jameson: The Political Unconscious: Narrative as a Socially Symbolic Act. Ithaca, N.Y. 1982, S. 9. 57 Vgl. z.B. Frederic Jameson: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism. Durham, N.C. 1991. 58 Vgl. z.B. Josef Früchtl: Gesteigerte Ambivalenz. Die Stadt als Denkbild der Post/Moderne. In: Postmoderne. Eine Bilanz. Sonderheft Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Berlin 1998, S. 766f. Und Gérard Raulet: Zur Dialektik der

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Eines dieser angenommenen Denkschemata, deren Überwindung dem Spatial Turn epochale Bedeutung verleihen soll, ist die Fixierung des neuzeitlichen Denkens auf die Kategorie »Zeit«: »A certain spatial turn has often seemed to offer one of the more productive ways of distinguishing postmodernism from modernism proper, whose experience of temporality – existential time, along with deep memory – it is henceforth conventional to see as a dominant of the high modern.«59 Jameson stellt hier neutral fest, dass nach einem »gewissen« Spatial Turn das der Hochmoderne eigene Zeitverständnis als deren bestimmendes Merkmal verstanden werde. An anderer Stelle unterstützt er diese Ansicht offen: »Es ist oft gesagt worden, dass wir in einer Zeit der Synchronie und der Diachronie leben, und ich glaube, dass man in der Tat empirisch nachweisen kann, dass unser Alltag, dass unsere psychischen Erfahrungen und die Sprache unserer Kultur heute – im Gegensatz zur vorangegangenen Epoche der ›Hochmoderne‹ – eher von den Kategorien des Raums als von denen der Zeit beherrscht werden.«60 Jameson erklärt nicht, wie die Hochmoderne von ihrem Zeitverständnis dominiert worden sein soll. Und weil seine Untersuchungen das Verhältnis von Moderne und Postmoderne mehr beschreiben als bestimmen, ist auch nicht ganz klar, in welcher Periode die Zeit beherrschende Kategorie gewesen sein könnte. Etwas deutlicher äußert sich Michel Foucault: »Die große Obsession des 19. Jahrhunderts war bekanntlich die Geschichte: Themen wie Entwicklung und Stillstand, Krise und Zyklus, die Akkumulation des Vergangenen, die gewaltige Zahl der Toten, die bedrohliche Abkühlung des Erdballs. […] Unsere Zeit ließe sich dagegen eher als Zeitalter des Raums begreifen. Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und Zerstreuten.«61

Foucault identifiziert das 19. Jahrhundert als jene Zeit, die von zeitfixiertem Denken dominiert worden sein soll. Er spielt auf den Historismus an, der sich im 19. Jahrhundert volle Geltung verschaffte.62 Folgerichtig entwickelte sich die Ge-

Postmoderne. In: Andreas Huyssen, Klaus R. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 128f. 59 Jameson: Postmodernism, S. 154. 60 Frederic Jameson: Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. In: Huyssen, Scherpe (Hg.): Postmoderne, S. 60f. 61 Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2006, S. 317-329, hier S. 317. 62 Vgl. Reinhart Koselleck: Raum und Geschichte (1986). In: Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M. 2000, S. 78-96.

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schichtsschreibung, methodisch reformiert, zur Hauptwissenschaft neben den Naturwissenschaften. Der Historismus betont die Geschichtlichkeit von Kultur und die Verankerung des menschlichen Bewusstseins in Tradition und Vergangenheit. Geschichte sei nach historistischem Dafürhalten die »Entfaltung menschlichen Wollens in der Zeit«,63 wobei der Wert eines jeden geschichtlichen Ereignisses in sich selbst liege.64 Darin widerspricht der Historismus idealistischen Geschichtsauffassungen, die durchaus bereit waren, in der Geschichte einen Universalsinn zu sehen, wie Hegel klar zu verstehen gab: »Die philosophische Betrachtung hat keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen. […] Den Glauben und Gedanken muss man zur Geschichte bringen, dass die Welt des Wollens nicht dem Zufall anheimgegeben ist. Dass in den Begebenheiten der Völker ein letzter Zweck das Herrschende, dass Vernunft in der Weltgeschichte ist, – nicht die Vernunft eines besonderen Subjekts, sondern die göttliche, absolute Vernunft, – ist eine Wahrheit, die wir voraussetzen; ihr Beweis ist die Abhandlung der Weltgeschichte selbst: sie ist das Bild und die Tat der Vernunft.«65

Dieses 19. Jahrhundert meint Foucault und glaubt es überwunden. Seine Beschreibung ist eine implizite Aufforderung zur Verwendung von Raum als kulturwissenschaftliche Leitkategorie. Tatsächlich distanzieren sich die Kulturwissenschaften durch den Spatial Turn von der hermeneutischen Privilegierung der Zeit durch Entwicklungs- und Fortschrittsparadigmen der Moderne in Form von evolutionistischen Auffassungen von Geschichte als teleologischer Chronologie. Andere Autorinnen datieren den Beginn der Moderne allerdings dermaßen anders, dass er nicht mit geschichtsphilosophischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden kann. Für Marianne Gronemeyer ist das Projekt der Moderne entscheidend an der Vorstellung der Zeit orientiert, und zwar als Reaktion der Menschen auf die alles erschütternde Erfahrung der frühen Vergänglichkeit infolge der Verheerung durch die Pest von 1348.66 Sie nimmt Bezug auf

63 Jürgen Osterhammel: Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie. In: Neue politische Literatur, Bd. 43. Darmstadt 1998, S. 374-397, hier S. 374. 64 Vgl. z.B.: Leopold von Ranke: Über die Epochen der neueren Geschichte. Historischkritische Ausgabe, hg. von Theodor Schieder, Helmut Berding. München 1971. 65 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Vernunft der Geschichte. Philosophische Bibliothek, Bd. 171a, hg. von Johannes Hoffmeister. Hamburg 1955, S. 28f. 66 Vgl. Marianne Gronemeyer: Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit. Darmstadt 1996.

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den Kulturhistoriker Egon Friedell67 und kann mit Karl Georg Zinn68 zeigen, dass zwar nicht die Erfindung, aber die Verbreitung von Räderuhren, die die Unerschütterlichkeit des modernen Zeitregimes begründeten, in Zusammenhang mit der Schwarzen Pest steht. »Dieser im Pestinferno entstandene Tod ist es, der das Lebensgefühl der Moderne entscheidend prägt. Die ungeheure Anstrengung der Weltverbesserung, die die Moderne auf sich nimmt, ist eine Kampfansage an diesen Tod.«69 Organisiert wird diese Anstrengung durch die rationale Bewirtschaftung von Zeit, ihr Symbol ist die Uhr. Daran hat sich auch nach dem mutmaßlichen Ende der Moderne nichts geändert. Diese Überlegungen zeigen, dass der Spatial Turn nicht ex negativo als Überwindung eines auf die Kategorie »Zeit« fixierten Denkschemas bestimmt werden kann. Gerade weil ein simpel evolutionistisches Geschichtsbild nicht mehr gilt, ist der Spatial Turn nicht einfach das, was nach jener Zeit kommt, in der die Zeit alles galt. Insofern scheint es auch nicht besonders opportun, auf einer epochalen Bedeutung des Spatial Turn zu bestehen, wenn mit diesem Spatial Turn vorgeschlagen wird, zeitliche Kategorien, wie sie jene der Epoche darstellt, zu überwinden und das Denken von räumlichen Metaphern leiten zu lassen. Es gibt weitere Beispiele dafür, wie sich der Spatial Turn zwar scheinbar in Abgrenzung, um ein weiteres raumbezogenes Sprachbild zu verwenden, zu anderen, vorhergehenden kulturwissenschaftlichen Strömungen definieren lässt, aber eben nicht ausschließlich. Das zeigt die Verwendung der Kategorie »Raum« in Diskursen, die zwar zur Postmoderne gehören, aber nicht vom Spatial Turn beeinflusst sind. In den Augen vieler zeichnet sich die Postmoderne, ganz im Widerspruch zu dem, was mit dem Spatial Turn propagiert wird, durch eine gewisse »Raumignoranz«70 aus, die programmatische Züge aufweist. Paul Virilio schrieb vom »Ende des Raums«71 und fragte nach dem »Ende der Geographie«.72 Ähnlich sah es die englische Ökonomin Frances Cairncross und verkündete drastisch den »Tod der

67 Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit: Die Krisis der europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum ersten Weltkrieg. München 1927. 68 Vgl. Karl Georg Zinn: Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert. Opladen 1989. 69 Gronemeyer: Das Leben, S. 15. 70 Döring, Thielmann: Spatial Turn, S. 14. 71 Paul Virilio: Im Würgegriff der Zeit. In: Die Zeit, Nr. 46, 11. November 1994, S. 63. 72 Paul Virilio: Eine überbelichtete Welt. Ende der Geschichte oder Ende der Geographie? In: Le Monde diplomatique, 15. August 1997, S. 8-9.

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Distanz«,73 was der Humangeograph David Harvey mit anderen Worten als »timespace compression«74 beschrieben hatte. Marshall McLuhan hielt überhaupt die ganze Welt für ein Dorf.75 Ausgelöst wurden solche Überlegungen durch die Erfahrung weltumspannender und beschleunigter Kommunikation und Mobilität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für McLuhan war der Telstar-Satellit das Symbol dieser Entwicklung. Der 1962 von der NASA und dem amerikanischen Telekommunikationsunternehmen AT&T ins All geschossene Telstar war der erste zivile Kommunikationssatellit und bereitete das Fernsehzeitalter – und damit das globale Dorf – vor, wie McLuhan in »The Medium is the Massage«76 ausführte. Der Titel des Buchs soll übrigens ein Druckfehler sein, der McLuhan so begeistert habe, dass er ihn, vielleicht als Quasi-Mahnmal einer veraltenden Technik, stehen ließ. Der ursprüngliche Titel sollte »The Medium is the Message« lauten.77 Doch gerade in dieser Sache zeigte sich, dass zeitgenössische Kommunikationstechnik den Raum nicht einfach so verschwinden lässt, wie Döring und Thielmann mit Bezug auf die Medienwissenschaftlerin Lisa Parks78 geltend machen: »50 Jahre nach dem Sputnik-Schock, Jahrzehnte nach den ersten Wetter-, Kommunikations- und Spionagesatelliten tritt erst jetzt die mediale Materialität der Satellitentechnologie allmählich ins kulturelle Bewusstsein, wird deutlich, dass sie nur mittelbar zur Überwindung des Raums als vielmehr zur Ortung des eigenen Selbst dienen.«79 Dies, weil, wie Peter Sloterdijk schreibt, »seit den frühen sechziger Jahren […] eine umgekehrte Astronomie entstanden [ist], die nicht mehr den Blick vom Erdboden zum Himmel richtet, sondern einen Blick vom Weltraum auf die Erde wirft«.80 Insofern kann nicht davon die Rede sein, dass Raum verschwinde. Vielmehr wird seine Wahrnehmung mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Technologie reorganisiert.

73 Frances Cairncross: The Death of Distance: How the Communication Revolution will change our Lives. Boston 1997. 74 David Harvey: The Condition of Postmodernity: An Enquiry into the Origins of Cultural Change. Cambridge 1990, S. 240-307. 75 Vgl. Marshall McLuhan: Gutenberg galaxy: the making of typographic man. Toronto 1962. Und Marshall McLuhan, Bruce R. Powers: The global village: Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert. Paderborn 1995. 76 Marshall McLuhan, Quentin Fiore: The Medium is the Massage. New York 1967. 77 Phil Baines: Penguin by design: a cover story 1935-2005. London 2005. 78 Vgl. Lisa Parks: Cultures in Orbit. Satellites and the Televisual. Durham, London 2005. 79 Döring, Thielmann: Spatial Turn, S. 29. 80 Peter Sloterdijk: Versprechen auf Deutsch: Rede über das eigene Land. Frankfurt a.M. 1990, S. 57.

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Dieser Gedanke dokumentiert als Beispiel, wie angreifbar die Rede vom »Verschwinden des Raums« ist.81 Tatsächlich speist sich der Spatial Turn nicht unwesentlich aus der Skepsis, die viele Kulturwissenschaftlerinnen und, was nahe liegt, viele Geographen der These von der Enträumlichung entgegenbringen. Das deckt sich mit der Feststellung Bachmann-Medicks, Turns in den Kulturwissenschaften seien als »Rückkehr des Verdrängten«82 zu verstehen, im Falle des Spatial Turn also als »Rückkehr des Raums«.83 Allerdings: Ein einheitliches, von allen Seiten akzeptiertes Raumkonzept gibt es nicht. Darauf dürfte sich die Widersprüchlichkeit der Aussagen, die bezüglich der Bedeutung des Raums in der Gegenwart gemacht werden, zurückführen lassen. Wenn zum Beispiel, wie beschrieben, das »Verschwinden des Raums« festgestellt und gleichzeitig im Gegenteil behauptet wird, der Raum sei die neue Leitkategorie des Denkens, liegt das unter Umständen daran, dass einmal ein geographischer Raum, einmal ein sozialer Raum gemeint ist, wie Markus Schroer zu erkennen glaubt.84 Unter »geografischem Raum« versteht Schroer die »seit der Antike bekannte Vorstellung« eines »absoluten« Raums, eines Raums »als Behälter, in dem Dinge und Menschen aufgenommen werden können und ihren festen Platz haben«.85 Der Begriff des »Behälters« basiert auf der deutschen Übersetzung einer englischen Formulierung Albert Einsteins. Einstein hatte im Vorwort zu Max Jammers Buch »Concepts of space«86 zwei Raummodelle unterschieden, deren eines er mit einem Container verglich: »Space as container of all material objects«.87 Daraus wurde in der deutschen Übersetzung »Behälter«: »Raum als ›Behälter‹ aller körperlichen Objekte«.88 Aber die Verwendung des Worts »Behälter« in der deutschen Übersetzung ist unlogisch. Einstein hatte sein Vorwort zur englischen Ausgabe be-

81 Vgl. auch Regina Bormann: Raum, Zeit, Identität. Sozialtheoretische Verortungen kultureller Prozesse. Opladen 2001. 82 Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 36. 83 Markus Schroer: »Bringing space back in« – Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie. In: Döring, Thielmann (Hg.): Spatial Turn, S. 126. 84 Vgl. Schroer: Relevanz des Raums. 85 Schroer: Relevanz des Raums, S. 135. 86 Max Jammer: Concepts of space: the history of theories of space in physics. Cambridge, Mass. 1954. 87 Jammer: Concepts of space, S. XV. 88 Max Jammer: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien. Darmstadt 1960, S. XIII.

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reits in Deutsch geschrieben und in diesem Text das englische Wort »Container« verwendet.89 Das Dokument wird auf das Jahr 1954 klassifiziert, was nicht den Angaben in der englischen Erstausgabe von »Concepts of space« entspricht, wo das Jahr 1953 als Entstehungszeitpunkt genannt wird. Daraus ergibt sich eine Unklarheit, die bisher niemandem aufgefallen zu sein scheint: Gibt es einen, allenfalls englischen, Text Einsteins, der 1953 entstanden ist und der der englischen Ausgabe als Vorwort diente? Demnach wäre der deutsche Text von 1954, auf den sich die rekapitulierte Raumdiskussion stützt, nicht die primäre Quelle von Einsteins Formulierung. Barbara Wolff vom Albert-Einstein-Archiv in Jerusalem erklärt den Sachverhalt auf Anfrage wie folgt: »Einstein schrieb alle seine Werke – die groesseren und die kleinsten – auf deutsch. Das gilt, wie Sie gesehen haben (AEA 1-197), auch fuer das Vorwort, um das Max Jammer ihn brieflich am 8.6.1953 bat und das er schon am naechsten Tag zusagte. Max Jammer hat Einstein vermutlich etwa zwei Wochen spaeter zum zweiten Mal besucht und es ist anzunehmen, dass Einstein das Vorwort entweder innerhalb dieser zwei Wochen oder bald nach dem zweiten Treffen geschrieben hat, also auf jeden Fall im Jahr 1953. Im handschriftlichen Entwurf nennt er kein Datum. Aus unseren Unterlagen laesst sich nicht entnehmen, ob Einstein selbst (d.h. seine Sekretaerin) fuer die Uebersetzung sorgte oder ob er (bzw. sie) dem Verlag (oder eher Max Jammer) eine Abschrift des deutschen Entwurfs sandte. Ich halte Letzteres fuer wahrscheinlicher. Das von den Bearbeitern spaeter hinzugefuegte Datum (1954) ist das Erscheinungsjahr des englischen Buchs. Die Verantwortlichen haben sich zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht die Muehe gemacht, die ›Geschichte‹ des Vorworts (Korrespondenz mit Jammer) anzusehen. Beim Vergleich zwischen deutschem Entwurf und englischer Publikation (1954) konnte ich keine Unterschiede erkennen.«90

Das bedeutet: Die in der Raumdiskussion verwendete Terminologie stützt sich auf eine editorische Unschärfe und eine nicht notwendige Übersetzung, weshalb im Folgenden von »Container« und nicht von »Behälter« die Rede ist. Einsteins »Containerraum« entspricht Newtons »absolutem Raum«.91 Das andere von Einstein vorgeschlagene Modell gleicht demjenigen, das bei Schroer »sozialer« oder »relationaler« Raum heißt.92 Einstein nennt es »Space as positional qual-

89 www.alberteinstein.info/db/ViewImage.do?DocumentID=34218&Page=3 (11. April 2011). 90 Albert-Einstein-Archiv Jerusalem: Email an M.B. vom 20. Mai 2009. 91 Vgl. Isaac Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre. Mit Bemerkungen und Erläuterungen hg. von J. Ph. Wolfers. Darmstadt 1963. 92 Schroer: Relevanz des Raums, S. 135.

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ity of the world of material objects«,93 Deutsch »Lagerungs-Qualität der Körperwelt«.94 In diesem Modell lassen sich Raum und Inhalt nicht trennen, im Gegenteil ist Raum nur als Verhältnis zwischen den den Inhalt des Raums bildenden Elementen zu verstehen. Raum und Körper werden »immer als untrennbar miteinander verwoben angesehen. ›Raum‹ wird hier nicht als unabhängig und absolut gegeben angenommen, sondern ist immer gebunden an körperliche Objekte und nur relativ zur ›Körperwelt‹ denkbar. ›Raum‹ ist somit auch abhängig von Menschen und vom menschlichen Handeln.«95 Versinnbildlicht werden diese beiden Modelle in paradoxaler Weise durch den berühmten Entwurf zu einem Kenotaph für Newton von Etienne-Louis Boullée. Boullée zeichnete 1784 ein monumentales Gebäude, das aus einer zur Hälfte in einem Sockel ruhenden Kugel mit 150 Metern Durchmesser bestehen sollte. Die Kugel zeichnete Boullée hohl. Sie hätte betreten werden können und sollte, durch kleine Löcher in ihrer Oberfläche, den Eindruck eines Sternenhimmels vermitteln. Von innen hätte sie das Weltall, von außen die Erdkugel dargestellt. So wollte Boullée Newtons absoluten Raum konstruieren; er wollte die Unendlichkeit bauen. Weil diese Konstruktion aber trotzdem nichts anderes als ein Gebäude gewesen wäre, stellt es ein vorgestelltes Paradox dar und repräsentiert die beiden sich widersprechenden Raummodelle zugleich. Als Gebäude markiert es einen Ort im Verhältnis zu andern, nicht nur physisch, sondern auch ideologisch, weil es auf etwas anderes als sich selbst verweist, nämlich auf den toten Newton, der damals schon mehr als ein halbes Jahrhundert ganz woanders, in der Westminster Abbey in London, begraben lag. Beide Raummodelle sind, wie Einstein klar zu verstehen gibt, »freie Schöpfungen der menschlichen Phantasie, Mittel ersonnen zum leichteren Verstehen unserer sinnlichen Erlebnisse«.96 Daran hat sich unterdessen nichts geändert. Nach wie vor gibt es keine einheitliche Definition von Raum. Zwar wird das »relationale« Raummodell im kulturgeographischen Diskurs vorausgesetzt, aber in jenem des Spatial Turn sind, wie das Beispiel vom »Verschwinden des Raums« zeigt, die Begriffe nicht immer klar. Auch darin liegt eine Eigenheit des Spatial Turn. »Die Kultur- und Sozialwissenschaften [haben] die Geographie als ihre neue Leitwissenschaft [entdeckt], während die Geographie sich auf eine Raumdebatte zurückgeworfen fühlt, die sie seit

93 Jammer: Concepts of space, S. XV. 94 Jammer: Das Problem des Raumes, S. XIII. 95 Renate Ruhne: Raum, Macht, Geschlecht: Zur Soziologie eines Wirkungsgefüges am Beispiel von (Un)Sicherheiten im öffentlichen Raum. Opladen 2003, S. 59f. Vgl. auch: Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt a.M. 2001. 96 Jammer: Das Problem des Raumes, S. XIII.

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geraumer Zeit glücklich hinter sich gelassen zu haben glaubte.«97 Der Geograph Roland Lippuner und die Geographin Julia Lossau weisen zum Beispiel darauf hin, dass die im Spatial Turn vollzogene Zuwendung zum Raum eine Umkehr darstelle, die zurück zum essentialistischen Denken führe, so dass die kulturwissenschaftliche Theorie in eine »Raumfalle« gerate.98 Die Raumfalle ist ein epistemologischer Fehler. »Dieser Fehler besteht darin, die symbolische Einschreibung von Bedeutung in räumliche Umwelt bzw. Materie so zu behandeln, als seien sie Bestandteile oder Eigenschaften der materiellen Welt; als seien die Einschreibungen also unabhängig von jenen sozialen und kulturellen Prozessen, durch die Bedeutung erst generiert und reproduziert wird. Mit diesem Fehler verbindet sich eine Form der Verdinglichung, die darin besteht, die Beobachtung mit dem Gegenstand, den Begriff mit dem Ding und semantische Strukturen mit der Realität zu verwechseln.«99

Denn soviel glauben Kulturgeographinnen und Humangeographen über die Kategorie »Raum« sagen zu können, auch ohne sich auf eine einheitliche Definition zu einigen: Es gehe heute »nicht mehr um die Frage, wie dieser oder jener geographische Raum beschaffen ist und inwieweit er gesellschaftliche Wirklichkeiten zu beeinflussen oder zu bestimmen vermag. Untersucht wird vielmehr, wie Räume als symbolische Verräumlichungen sprachlich-kommunikativ und/oder alltagspraktisch erst hergestellt werden.«100 Lossau weist darauf hin, dass die Kulturwissenschaften mit ihrem Wunsch nach materialistischer Verankerung des eigenen Denkens die Kategorie »Raum« aktivieren und hinter ihre eigenen Standards zurückfallen, denn die Dekonstruktion essentialistischen Denkens ist von Beginn an ein Anliegen der postmodernen Kulturwissenschaften gewesen. Nun sind es Kulturgeographen und Kulturgeographinnen, die sich veranlasst sehen, an dieses Anliegen zu erinnern. »Das bedeutet freilich nicht, dass die gegenwärtige Kulturgeographie die körperliche oder sinnliche Erfahrbarkeit physisch-materieller Gegebenheiten bezweifeln würde. […] Was hingegen bezweifelt wird, ist, dass aus der sinnlichen Erfahrbarkeit eines physisch-materiellen

97 98

Tagungsbericht Geocode der Medien. Vgl. Roland Lippuner, Julia Lossau: In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften. In: Georg Mein, Markus Rieger-Ladich (Hg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Bielefeld 2004, S. 47-64.

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Julia Lossau: Räume von Bedeutung. Spatial turn, cultural turn und Kulturgeographie. In: Moritz Csaky, Christoph Leitgeb (Hg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum: Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn«. Bielefeld 2009, S. 29-43, hier S. 41f.

100 Lossau: Räume von Bedeutung, S. 35.

122 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER Objekts auf dessen sozial-kulturelle Bedeutung geschlossen werden kann. Ebenso fragwürdig ist es, aus der gezielten Ausrichtung eines Raums [...] abzuleiten, die dort ausgeübten Tätigkeiten ergäben sich aus dem Raum selbst – und nicht aus den mit ihm verbundenen Regeln, sozialen Konventionen und kulturellen Traditionen.«101

Der Philosoph und Raumtheoretiker Stephan Günzel ortet hier die prägenden inhaltlichen Verwerfungen innerhalb des Spatial Turn.102 In seinen Augen durchziehen verschiedene Antinomien den Diskurs. Die Unschlüssigkeit bezüglich der Frage, ob Raum sich auflöse oder intensiviere, wurde bereits angesprochen. Daran schließt das soeben aufgeworfene Problem des individuellen, körperlichen Erlebnisses von Raum als konkretem Ort an, das einer abstrakten, weit greifenden Raumauffassung entgegensteht. Daraus wiederum folgt, Günzels Meinung nach, der grundlegende Widerspruch im Diskurs, nämlich der Gegensatz zwischen einer possibilistischen und einer deterministischen Auffassung von Raum. Den possibilistischen Ansatz führt er auf den französischen Historiker und Geographen Vidal de la Blache zurück, den deterministischen auf die Aufklärung und die daraus entstehenden »natürlichen Staatslehren«.103 Der Possibilismus sieht Raum als offenes Gebilde, auf das frei eingewirkt werden kann, als Möglichkeitsraum. Der Determinismus hingegen versteht Raum als Gegebenheit, die Konsequenzen hat, als normative Kraft des Faktischen. Günzel schätzt den Possibilismus als die progressivere Diskursvariante ein und glaubt den Spatial Turn stark von diesem Ansatz beeinflusst. Die wichtigste Referenz für diese Art, über Raum nachzudenken, stellt Henri Lefebvres Werk »Die Produktion des Raumes« dar. Lefebvre behauptet, dass »der (soziale) Raum ein (soziales) Produkt«104 sei. Er rechnet zwar mit der Existenz eines »(physische[n]) Naturraum[s]«, der aber »unwiderruflich auf Distanz« gerückt sei. »Die Natur, dieser mächtige Mythos, verwandelt sich in eine Fiktion.«105 Lefebvre sieht in der Produktion des Raums einen Schlüssel zum Verständnis der Beschaffenheit von Gesellschaften, insbesondere von deren Machtgefügen, die wesentlich auf der Verfüg- und Gestaltbarkeit von Raum beruhen würden. »Jede Ge-

101 Lossau: Räume von Bedeutung, S. 40. 102 Vgl. Stephan Günzel: The Spatial Turn. Vortrag, gehalten am 30. Januar 2010, Theater der Künste, Zürich. 103 Stephan Günzel: Raum – Topographie – Topologie. In: Stephan Günzel (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld 2007, S. 13-29, hier S. 15. 104 Henri Lefebvre: Die Produktion des Raums. In: Jörg Dünne, Stephan Günzel: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2006, S. 330-342, hier S. 330. 105 Lefebvre: Die Produktion des Raums, S. 330.

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sellschaft (also jede Produktionsweise mit den ihr eigenen Besonderheiten, die spezifischen Gesellschaften, in denen man den Begriff von Gesellschaft überhaupt erkennen kann) produziert ihren eigenen Raum.«106 Ganz besonders gelte das für kapitalistische Gesellschaften. Mit den Worten Georg Simmels: »Die Vergesellschaftung hat, in den verschiedenen Arten der Wechselwirkung der Individuen, andere Möglichkeiten des Beisammenseins – im geistigen Sinne – zustande gebracht; manche derselben aber verwirklichen sich so, dass die Raumform, in der dies wie bei allen überhaupt geschieht, für unsere Erkenntniszwecke besondere Betonung rechtfertigt.«107

Simmel bezieht sich auf eine Raumdefinition Kants, wonach Raum die »Vorstellung einer bloßen Möglichkeit des Beisammenseins«108 sei. Im Spatial Turn wird oft auf Lefebvre zurückgegriffen, allerdings häufig in reduktiver Art und Weise, wie der Künstler und Anthropogeograph Armin Chodzinski moniert. Er erinnert daran, dass Lefebvres Interesse auf die Bedingungen der Möglichkeit der Produktion von Raum gerichtet war. Daraus ergaben sich gesellschaftspolitische Fragen, die in der aktuellen Raumdiskussion nicht immer berücksichtigt werden. Ganz besonders gelte das, so Chodzinski, für die »Klassenfrage«, denn »die Produktionsbedingungen«, unter denen Raum hergestellt wird, »sind einfach ziemlich unterschiedlich«,109 das heißt, die Produktionsmittel sind ungleich verteilt. Chodzinski operiert mit einem an Bourdieu orientierten Kapitalbegriff, der nicht nur ökonomische, sondern auch soziale und kulturelle Aspekte, zusammengefasst als »symbolisches Kapital«, mit einbezieht.110 Ähnlich wie Lefebvre argumentierte der amerikanische Geograph David Harvey 1973 in »Social Justice and the City«.111 Er war überzeugt, dass keine Antworten auf die Frage der Natur von Räumen möglich seien. Diese Antworten seien allein in der Praxis der Menschen zu finden. Harvey nannte diesen Ansatz »kritische Geographie«,112 weil er, auch darin Lefebvre ähnlich, seine Forschung in den Zusammenhang einer neomarxistischen Gesellschaftsanalyse stellte. Entscheidend für die

106 Lefebvre: Die Produktion des Raums, S. 330f. 107 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Form der Vergesellschaftung. Berlin 1958, S. 462. 108 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 1998, S. 489. 109 Armin Chodzinski: Raum und Ökonomie. Lecture Performance. Zürich, Theater der Künste, 30. Januar 2010. 110 Vgl. Bourdieu: Mechanismen der Macht. Und Roland Lippuner: Raum – Systeme – Praktiken. Zum Verhältnis von Alltag, Wissenschaft und Geographie. Stuttgart 2005. 111 David Harvey: Social Justice and the City. London 1973. 112 David Harvey: Spaces of Capital: Towards a Critical Geography. Edinburgh 2001.

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soziale Produktion von Räumen sei die »Geopolitik des Kapitalismus«, deren wichtigstes Anliegen darin bestehe, die »Kapitalzirkulation« zur Erhaltung des Systems sicherzustellen.113 Folgerichtig gehen auf Lefebvre und Harvey auch jene Ansätze zurück, die den Spatial Turn in eine dezidiert politische Richtung treiben. Sie haben selber eine räumliche Komponente, weil sie erstens ihre politische Tendenz direkt aus raumpolitischen Fragen beziehen und weil sie zweitens durch ihre eigene Verortung gekennzeichnet sind, auf die sie sich explizit beziehen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Edward Said. 1978 dekonstruierte er mit seiner bahnbrechenden Studie »Orientalism«114 den westlichen Diskurs vom »Morgenland«, dessen Kultur zwar als bewundernswert, aber hoffnungslos dekadent und deshalb als unterlegen beurteilt wurde. Said kritisierte im Grunde damit auch eine dichotome Raumvorstellung, die glaubte, den Orient geographisch, kulturell oder metaphorisch vom Okzident trennen zu können. Das musste Said unter anderem deshalb missfallen, weil sich seine eigene Biographie rund um diese vorgestellte Grenze aufspannte: 1935 als Sohn palästinensischer Christen in Jerusalem unter britischem Mandat geboren, lebte er lange in Kairo, bevor er nach Amerika übersiedelte und, nach Abschlüssen an den Universitäten Princeton und Harvard, nicht nur einer der einflussreichsten amerikanischen Literaturtheoretiker wurde, sondern auch zu einem Mitglied des palästinensischen Exilparlaments.115 Saids theoretische Positionen sind weder von seinen politischen Positionen zu trennen noch von seiner Biographie. Sachverhalte wie diesen beschreibt Homi K. Bhabha, indischer Literaturtheoretiker mit Professur in Harvard, in »The Location of Culture«.116 Lokalisierung spielt für Bhabha eine entscheidende epistemologische Rolle und so dokumentiert er, wie im Spatial Turn Raum, im Falle Saids der geopolitische Raum, überlagert von Biographie, erkenntnisleitend werden kann. Um das verstehen zu können, entwirft Bhabha das Konzept des »Third Space«. »Third Space« ist für Bhabha eine epistemologische Kategorie, wobei er, um sie überhaupt bilden zu können, auf eine räumliche Metapher zurückgreift und so demonstriert, wie der Spatial Turn funktioniert. Bhabha definiert »Third Space« als eine allgemeine Bedingung der Sprache: »The intervention of the Third Space of enunciation, which makes the structure of meaning and reference an ambivalent process.«117 Sie hat zur Folge, dass es keine

113 Vgl. David Harvey: Spaces of Global Capitalism: Towards a Theory of Uneven Geographical Development. London 2006. 114 Edward Said: Orientalism. London 1978. 115 Vgl. Edward Said: Out of Place: A Memoir. London 1999. 116 Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London 1994. 117 Bhabha: Location of Culture, S. 54.

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unveränderliche Bedeutung und damit keine fixe Form von Repräsentation gibt. Daraus leitet Bhabha die Forderung nach kultureller Hybridität ab, die neue Arten der Politik ermögliche: »The construction of a political object that is new, neither the one nor the other.«118 Auch Edward W. Soja hat ein »Thirdspace«-Konzept entworfen.119 Soja versteht »Thirdspace« konkreter als Bhabha, was sich schon darin zeigt, dass er die beiden Wörter »Third« und »Space« orthographisch zusammen zieht und damit an real existierende Räume denken lässt. Bhabhas »dritter Raum« ist weniger greifbar, weniger anwesend als Sojas »Drittraum«, den man sich, wenn auch nicht gänzlich erschließbar, zugänglicher vorstellen kann. In der Tat wendet Soja »Thirdspace« auf den Untersuchungsgegenstand »Los Angeles« an. »Thirdspaces«, »real-andimagined places«, sind für Soja gleichzeitig materiell und symbolisch, real und konstruiert, und sie werden gleichzeitig produziert und repräsentiert. Soja hofft so, die Raumerfahrungen der Gegenwart, das heißt für ihn, unter den Bedingungen gesteigerter Mobilität, globaler Migration und transnationaler Gemeinschaften, adäquat abzubilden. Diese Neubeschreibungen von Raum verbergen ihre politische Tendenz nicht und ergreifen Partei, so dass der Spatial Turn auch die, wie gezeigt selbst raumbezogene, Frage nach der Neutralität und Wertfreiheit kulturwissenschaftlicher Positionen stellt. In der deutschen Forschung zum Beispiel bestehen massive Vorbehalte gegen eine politische Raumdiskussion, gegen eine neue Raumdiskussion überhaupt. Sie gehen auf die Ablehnung nationalsozialistischer Ideologisierung und Funktionalisierung des Raumkonzepts für die geoaggressive Propaganda- und Kriegspolitik des Zweiten Weltkrieges zurück, die sich in einer rassistischen Blut-und-BodenIdeologie und der gewaltsamen Erweiterung der politischen Grenzen nach Osten für ein so genanntes »Volk ohne Raum«120 niedergeschlagen hat.121 »Der Nationalsozialismus hat auf längere Zeit das Raumdenken und die Verknüpfung von Geschichte mit Geographie einschneidend unterbrochen.«122 Wenn Geschichte und Geographie heute durch Autoren wie Said, Soja oder Bhabha wieder verknüpft werden, erfolgt das aus einer ablehnenden Haltung gegenüber als totalitär empfundenen Raumvorstellungen: Die politischen Elemente des Spatial Turn sind entscheidend durch den Postkolonialismus beeinflusst, insbe-

118 Bhabha: Location of Culture, S. 37. 119 Soja: Thirdspace. 120 Hans Grimm: Volk ohne Raum. München 1926. 121 Vgl. Arno Schoelzel: Volk ohne Raum. In: Kurt Pätzold, Manfred Weissbecker (Hg.): Schlagwörter und Schlachtrufe. Aus zwei Jahrhunderten deutscher Geschichte. Band 1. Leipzig 2002, S. 111-118. 122 Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 286.

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sondere von dessen akademischer Variante, den »Postcolonial Studies«, denen sogar ein eigener kulturwissenschaftlicher Turn zugeschrieben wird.123 »In der Tat ist der gesamte Postkolonialismus, so wie Bhabha ihn darstellt, bestimmt durch seine Zurückweisung binärer Aufteilungen, auf denen die kolonialistische Weltsicht beruht. Die Welt ist nicht zweigeteilt und in entgegengesetzte Lager (Zentrum vs. Peripherie, Erste vs. Dritte Welt) gespalten, sondern sie ist und war vielmehr immer durch unzählige partielle und nichtstatische Differenzen bestimmt. Bhabhas Weigerung, die Welt durch die Brille binärer Aufteilungen zu betrachten, lässt ihn auch Theorien der Totalität sowie Theorien der Identität, Homogenität und des Essenzialismus sozialer Subjekte verwerfen.«124

Hardt und Negri kritisieren die postkoloniale Theorie allerdings dahingehend, dass diese sich zwar dafür eigne, die politischen Verhältnisse nach dem Kolonialismus zu beschreiben, sich aber so auf eine Art der Herrschaft beziehe, die selber schon Geschichte zu werden beginne. Dazu kommt, dass hybride, differenzbetonte soziale Gebilde ebenso »erfundene Gemeinschaften«125 sind wie die Nationalstaaten, die sie überwinden sollen, und daher Gefahr laufen, dieselben binären Strukturen zu bilden, die Bhabha kritisiert. Forschende mit postkolonialistischen Ansätzen innerhalb des Spatial Turn gehen nicht davon aus, dass Raum im Kolonialismus keine Bedeutung gehabt hätte, im Gegenteil. Aber weil sie den Kolonialismus und dessen Aufhebung als Schlüssel zum Verständnis der Historie verstehen, leiten sie davon auch die historisch konkreten Raumkonzeptionen ab. Zweiteilungen spielen dabei eine entscheidende Rolle, und das nicht nur im Kolonialismus. Nun war die Welt zwar nie zweigeteilt, aber vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Auflösung der Blockpolitik in den späten 1980er Jahren wurde sie oft so beschrieben. Die aus der Überwindung einer bipolar verstandenen Weltordnung resultierenden Veränderungen haben den Spatial Turn wesentlich beeinflusst. Territoriale Raumbegriffe, die sich an Nationalstaaten orientieren, innerhalb deren Grenzen kulturelle Traditionen und Identitäten aufbewahrt werden, lösen sich im Zuge des Spatial Turn theoretisch auf. Sie weichen einerseits Beschreibungen neuer transnationaler Konfigurationen, andererseits einer theoretischen Aufwertung des

123 Vgl. Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 184-237. Und z.B. www.postcolonial web.org (11. April 2011). 124 Michael Hardt, Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt a.M. 2002, S. 156. 125 Vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation: Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Frankfurt a.M. 1988.

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Lokalen,126 denn in diesen beiden Skalen spielt sich die performative Seite der Raumkonstitution ab, die »räumliche Praxis«, wie sie Lefebvre nennt.127 In den Worten Helmut Berkings: »Die Globalisierung ist eine in sich widersprüchliche Entwicklungsdynamik, die simultan beides: Entgrenzung und Begrenzung produziert. […] Das Globale ist nicht die Außenseite, oder das Andere, oder das Gegenteil des Lokalen. Und für das Lokale gilt dementsprechend: es war und ist niemals die exklusiv territorialisierte sozialräumliche Form der Vergesellschaftung. Das Globale und Lokale sind keine Modi der Vergesellschaftung. Sie sind relationale sozialräumliche Maßeinheiten und sonst gar nichts.«128

In der Strukturationstheorie des Soziologen Anthony Giddens spielt der Begriff »lokal« ebenfalls eine entscheidende Rolle. Giddens versucht, die alte sozialwissenschaftliche Frage, wie sich Individuum und Gesellschaft zueinander verhalten, neu zu beantworten. Dem Lokalen als konkreter raum-zeitlicher Kontext sozialen Handelns kommt dabei zentrale Bedeutung zu.129 Der politische Flügel des Spatial Turn reflektiert diese »räumliche Praxis« in Bezug auf ihr Verhältnis zu Herrschaft. Raum wird als Funktion von Herrschaft betrachtet und Herrschaft als Funktion von Raum. Dem politischen und kulturellen Eurozentrismus wird ein plurizentrales, nonhierarchisches Weltbild entgegengesetzt.130 Der real- und finanzwirtschaftliche Plurizentralismus in Gestalt der ökonomischen Globalisierung fungiert als Grundlage zur Neubeschreibung von Raum im Spatial Turn: »Ausgangspunkt war die Einsicht, dass die globalen Entwicklungen nicht mehr von individuellen nationalstaatlichen Akteuren gesteuert werden können, sondern dass sie von einer

126 Vgl. z.B. Roland Robertson: Glokalisierung. Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit. In: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a.M. 1998, S. 192-220. 127 Lefebvre: Die Produktion des Raums. 128 Helmut Berking: Global Localities: Anmerkungen zur Stadtforschung. Vortrag gehalten am 5. März 2007 auf der Tagung »Heterogenisierung und Homogenisierung städtischer Wirklichkeit« in Bielefeld. http://raumsoz.ifs.tu-darmstadt.de/forschung/fo03-vortraege/ fo03-vortraege.html (11. April 2011). 129 Vgl. Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a.M. 1997. 130 Vgl. z.B. Arjun Appadurai: Globale ethnische Räume. In: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a.M. 1998, S. 11-40.

128 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER Konstellation wechselseitiger Abhängigkeiten und Beziehungsnetzwerke geprägt sind. Vernetzung als Eigenschaft der Globalisierung macht die Raumperspektive unvermeidlich.«131

Tradierte Raumvorstellungen scheinen jedenfalls nicht mehr in der Lage zu sein, die »globalen Gleichzeitigkeiten und räumlich-politischen Verflechtungen zwischen Erster und Dritter Welt zu erfassen«.132 An dieser Stelle verbindet sich die politische Komponente des Spatial Turn mit den erwähnten Diskursen um die supponierte Entmachtung der ehemaligen Leitkategorie »Zeit« und neuer relationaler Raumkonzeptionen. Am besten ausgedrückt wird dieses Zusammengehen der Diskurse im Spatial Turn paradoxerweise durch einen Begriff, der sich an der Kategorie »Zeit« orientiert: Gleichzeitigkeit, Synchronizität. Die Gleichzeitigkeit von Phänomenen zu betonen, wie der Spatial Turn das tut, bedeutet, in räumlichen Begriffen gesprochen, sie neben-, unter-, über-, auf-, in- oder umeinander zu sehen. »In der Tat schreiben sich die Geschichte und ihre Folgen, die ›Diachronie‹, die Etymologie der Orte, d.h. all das, was dort geschehen ist und dabei Orte und Plätze verändert hat, in den Raum ein. […] Aber dieser Raum ist immer noch, heute wie früher, ein gegenwärtiger.«133 »Gleichzeitigkeit« bedeutet insofern »Raum« und »Zeit« zugleich, und das wiederum ist eine »Betonung der unnachgiebigen Materialität der Welt«,134 wie es der amerikanische Humangeograph Nigel Thrift ausdrückt. Thrift fasst die Hauptanliegen des Spatial Turn, der für ihn von »bleibender Bedeutung«135 sein wird, abschließend wie folgt zusammen: »1. Alles, aber auch alles, ist räumlich verteilt. […] 2. So etwas wie eine Grenze gibt es nicht. Alle Räume sind mehr oder weniger porös. […] 3. Jeder Raum ist ständig in Bewegung. Es gibt keinen statischen und stabilisierten Raum, obgleich es viele Versuche gibt, den Raum statisch und stabil zu machen. […] 4. Es gibt nicht nur eine Art von Raum. Der Raum erscheint in vielen Verkleidungen.«136

Thrift bezieht sich dabei auf Gemälde von Julie Mehretu, stellt aber klar, dass er allgemein gültige Aussagen macht. Die intensive Beschäftigung mit der Kategorie »Raum« und die Tatsache, dass durch den Spatial Turn »Raum« zur Analysekategorie kulturwissenschaftlicher Fra-

131 Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 287. 132 Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 287. 133 Lefebvre: Die Produktion des Raums, S. 334. 134 Nigel Thrift: Raum. In: Döring, Thielmann (Hg.): Spatial Turn, S. 393-407, hier S. 393. 135 Thrift: Raum, S. 393. 136 Thrift: Raum, S. 397f.

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gestellungen nobilitiert worden ist, haben jüngst dazu geführt, die verschiedenen Ansätze unter dem Label »Raumwissenschaften« zusammenzufassen.137 Raumwissenschaften stehen, im Gegensatz zur traditionellen Raumwissenschaft, der Geographie, im Plural, »weil es eben ganz unterschiedliche Fragestellungen und Methoden gibt, durch die Raum oder räumliche Relationen beschrieben werden«.138 Die Ausrufung der »Raumwissenschaften« zum neuen, transdisziplinären Rahmen kommt einer informellen Institutionalisierung des Spatial Turn gleich. Verantwortlich für das Entstehen dieser »Raumwissenschaften« sei, so Günzel, die »flächendeckende Vorherrschaft der sozialen Perspektive«139 seit den 1970er Jahren, dasselbe Phänomen, das Döring und Thielmann als »Raumignoranz«140 der Postmoderne bezeichnet haben. Für den kanadischen Philosophen Ian Hacking ging die »Vorherrschaft der sozialen Perspektive« so weit, dass er 1999 verwundert ausrief: »Wovon wird nicht behauptet, es sei sozial konstruiert!«,141 und in der Formel »soziale Konstruktion« einen phrasenhaften Selbstläufer sah. Er anerkannte die befreiende Wirkung des Denkmusters, vermutete aber, dass die verschiedenen Thesen zur sozialen Konstruktion von Sachverhalten vor allem für diejenigen befreiend seien, die sich selber schon auf dem Weg der Befreiung befänden. Hacking spielte damit auf die wissenschaftspolitische Dynamik in akademischen Diskursen an. So ist auch die Kategorie »Raum« wieder zu einer »emanzipatorischen Kategorie«142 geworden. Der Begriff »emanzipatorisch« ist, wie gezeigt, breit zu verstehen. Er kann eine heuristische Neuorientierung, ein politisches Projekt oder eine bloße Verschiebung der institutionellen Kräfte im wissenschaftlichen Feld bezeichnen. Das trifft genauso auch auf den Spatial Turn zu.

3.4 THEATERWISSENSCHAFT

UND

RAUM

Für die Beschäftigung mit Phänomenen, die in den fachlichen Zuständigkeitsbereich der Theaterwissenschaft fallen, spielt Raum eine entscheidende Rolle. Konstitutiv für den Gegenstand ist die Hervorhebung von Vorgängen.143 Damit ist noch nicht gesagt, dass solche Vorgänge in einem konkreten historischen Moment als

137 Vgl. Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften. Frankfurt a.M. 2009. 138 Stephan Günzel: Einleitung zu: Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften, S. 12. 139 Günzel: Einleitung, S. 10. 140 Döring, Thielmann: Spatial Turn, S. 14. 141 Ian Hacking: Was heißt ›soziale Konstruktion‹? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften. Frankfurt a.M. 1999, S. 11. 142 Günzel: Einleitung, S. 10. 143 Vgl. Kotte: Theaterwissenschaft.

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Theater gelten. Die Theaterwissenschaft interessiert sich, will sie sich nicht darauf beschränken, eine Kunstwissenschaft zu sein, nicht nur für Phänomene, die schon immer terminologisch als Theater fixiert waren. Entsprechend können Vorgänge jenseits des Kunstkontexts ebenso zum theaterwissenschaftlichen Gegenstand gehören, wenn sie sich durch Hervorhebung von anderen Vorgängen unterscheiden. Andreas Kotte unterscheidet vier Arten der Hervorhebung: eine örtliche, eine gestische, eine akustische und eine mittels dinglicher Attribute.144 Raum gehört also insofern zu den konstitutiven Elementen von theaterwissenschaftlich relevanten Vorgängen, als er sowohl Bedingung wie Mittel örtlicher Hervorhebung darstellt. Dies aufgrund der Tatsache, dass die körperliche Kopräsenz von Akteuren und Rezipienten, im Kunsttheater von Spielerinnen und Publikum, zu den Voraussetzungen fraglicher Vorgänge gehört. Folglich ist Raum auch elementar am konkreten Zustandekommen von Theater beteiligt, er ist in jeder Aufführungssituation tragender Gestaltungs- und Wahrnehmungsfaktor. Die theaterwissenschaftliche Analyse fragt also »a) wie Bühne und Publikum historisch spezifisch zueinander ins Verhältnis gesetzt werden und b) welche Darstellungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten dadurch erfordert, ermöglicht bzw. ausgeschlossen werden«.145 Die Raumkonfigurationen, in welchen hervorgehobene Vorgänge sich abspielen, bestimmen folglich mit, was unter Theater verstanden wird. Im Bereich der Kunst behandeln ganze Sparten der Theaterwissenschaft die theaterspezifische Gestaltung von Raum: Die Architekturgeschichte von Theaterbauten befasst sich mit dem baulich-sozialen Rahmen von Theaterereignissen und dessen Folgen für die Kunst und die Menschen.146 Die Szenografie untersucht die künstlerische Herrichtung von Spielorten, insbesondere von Bühnen. Schauspieltheorien und die Analyse theaterspezifischer Bewegungslehren erforschen das Verhalten von Körpern im Raum. Das ist nur eine kurze Aufzählung theaterwissenschaftlicher Fachbereiche in Auseinandersetzung mit Raum, und damit sind alle jene hervorgehobenen Vorgänge, die außerhalb des Kunsttheaters zu finden sind, noch nicht einmal angesprochen: Fastnachtsbräuche, Herrscherumzüge, Prozessionen, öffentliche Rituale, Demonstrationen, um bloß wenige Beispiele zu nennen. Wie raumrelevant solche Ereignisse waren und sind, zeigt sich schon daran, dass die Gestaltung öffentlicher Räume wesentlich von den Platzbedürfnissen der erwarteten Schauvorgänge geprägt ist. Stadtplanung und Stadtentwicklung richteten sich nicht nur in mittelalterlichen Städten nach ökonomischen Gesichtspunkten – besonders was das

144 Vgl. Kotte: Theaterwissenschaft, S. 7. 145 Jens Roselt: Raum. In: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart, Weimar 2005, S. 260-267, hier S. 267. 146 Vgl. Ulrike Hass: Das Drama des Sehens: Auge, Blick und Bühnenform. München 2005.

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Aufstellen von Märkten betrifft – und solchen, die Schauereignisse mit großem Publikum ermöglichten, etwa aus der Gerichts- und Strafpraxis. Sehr anschaulich trifft das auf die Stadt Bern zu, deren Zentralpunkt, die Kreuzgasse, Markt-, Richt-, Fest- und Theaterplatz in einem war. Das bedeutet, dass sich die Theaterwissenschaft nicht nur mit der Gestaltung von Theaterräumen auseinanderzusetzen hat, sondern auch mit der Produktion von Räumen durch Theater, und zwar auf zwei Ebenen. Die eine betrifft die Art und Weise, wie sich Theater in realen Räumen Platz verschafft und diesen dann behandelt, das heißt, welche Form Theater Räumen gibt. Die erwähnten Beispiele stehen für diese Ebene der Raumproduktion durch Theater. Die andere bezieht sich auf fiktionale Räume. Theater ist in der Lage, die Dinge in einem anderen Licht erscheinen zu lassen, das heißt, sie zu verwandeln. Weil, semiotisch gesprochen, die Zeichen im Kontext von Theater nach anderen, freieren Regeln eingesetzt werden als gewöhnlich, reicht es, wie Peter Brook schreibt, jemanden durch einen leeren Raum gehen zu lassen, während ein anderer ihm zusieht, um darin bereits eine »Theaterhandlung«147 zu erblicken. Ähnlich sah es bereits Max Herrmann: »Der Raum, den das Theater meint, ist […] ein Kunstraum, der erst durch eine mehr oder weniger große innerliche Verwandlung des tatsächlichen Raumes zustandekommt, ist ein Erlebnis, bei dem der Bühnenraum in einen andersartigen Raum verwandelt wird.«148 Er ging sogar so weit, Theater, bei ihm »Bühnenkunst« genannt, überhaupt zur »Raumkunst« zu erklären.149 Als solche produziert Theater Räume eben nicht nur auf realer, sondern auch auf fiktionaler Ebene. Die Beschäftigung mit Raum ist der Theaterwissenschaft also inhärent. Ihr Gegenstand lässt sich nicht losgelöst von raumbezogenen Fragen behandeln. Allerdings lässt er sich auch nicht auf solche beschränken. Hervorgehobene Vorgänge und damit auch Theater haben verschiedene konstituierende Elemente. Dazu gehört zwar auch die Kategorie »Raum«, aber Theater lässt sich unmöglich auf eines dieser Elemente beschränken. Diese Tatsache ist der Theaterwissenschaft immer bewusst gewesen. Im Gegensatz übrigens zu den theateraffinen Zweigen der Literaturwissenschaft, von denen sich die jüngere Theaterwissenschaft ja unter anderem emanzipierte, weil sie das Paradigma vom literarischen Text als primärer Konstituent von Theater nicht akzeptieren wollte. Sich auf das Thema »Raum« beschränken zu wollen und mithin anderen, komplizierten Fragen des Gegenstandes auszuweichen, hieße, die Komplexität von Theater in unzulässiger Weise zu reduzieren.

147 Peter Brook: Der leere Raum. Berlin 1997, S. 9. 148 Max Herrmann: Das theatralische Raumerlebnis. In: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2006, S. 501-514, hier S. 502. 149 Herrmann: Raumerlebnis, S. 501.

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Im Zusammenhang mit der gesteigerten Aufmerksamkeit für das Thema wurde auch die Theaterwissenschaft vom Schwung und vielleicht auch von einigen Verwirbelungen des Spatial Turn berührt.150 Nach dem Gesagten muss aber festgestellt werden, dass die intensivierte theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Raum auf eine Verschiebung des Gewichts innerhalb des Fachs hinausläuft. Von einem Spatial Turn in der Theaterwissenschaft zu sprechen, wäre deshalb übertrieben. Es ist nicht so, dass Raum erst neuerdings zu einer Analysekategorie in der Theaterwissenschaft geworden wäre. Ebenso wenig kann von einer »Rückkehr des Verdrängten«151 die Rede sein; Raum wurde in der Theaterwissenschaft nie vergessen. Das bedeutet nicht, dass der Spatial Turn keine Auswirkungen auf die Theaterwissenschaft hätte und schon gar nicht, dass die Theaterpraxis davon unberührt geblieben wäre, im Gegenteil. Das Interesse an raumrelevanten Fragen hat viele Inszenierungen der letzten Zeit geprägt, hat formale Innovationen hervorgebracht und eine eigentliche Ästhetik des Draußen entstehen lassen. Welche Rolle dabei neue und alte Landschaftskonzepte gespielt haben, wird im Folgenden untersucht.

150 Vgl. z.B. Jörg Dünne, Sabine Friedrich, Kirsten Kramer (Hg.): Theatralität und Räumlichkeit: Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Mediendispositiv. Würzburg 2009. 151 Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 36.

4 Historische Landschaftstheorien

4.1 D ER L ANDSCHAFTSBEGRIFF

IN DER

G EOGRAPHIE

Von allen akademischen Fächern hat die Geographie das engste Verhältnis zum Begriff »Landschaft« – aber auch das problematischste. Landschaft war lange Zeit ein paradigmatischer Grundbegriff der Geographie. Seine Legitimität wurde aber in den letzten Jahrzehnten dermaßen angezweifelt, dass er heute als wissenschaftlicher Referenzbegriff nicht mehr infrage kommt, obwohl er außerhalb des disziplinären Diskurses weiterhin sehr populär ist. Als hermeneutischer Wendepunkt der jüngeren deutschsprachigen Fachgeschichte gilt vielen Geographen und Geographinnen der »Kieler Geographentag« von 1969. Peter Weichhart nennt das Ereignis »berühmt-berüchtigt« und sieht darin eine »Revolution«.1 Neben der Orientierung an Jargon und Geist der Zeit bezieht sich Weichhart mit dieser Wortwahl auf das wissenschaftstheoretische Modell von Thomas Samuel Kuhn, demgemäß sich wissenschaftliche Erkenntnis auf dem Weg von »Revolutionen« bewege. Konsolidierte wissenschaftliche Ansichten und herrschende akademische Meinungen, Kuhn nennt sie Paradigmen, würden so überwunden, um neuen Wissenssystemen Platz zu machen, die auf den revolutionären Paradigmen gründeten, bis diese selbst wieder gestürzt würden.2 Die rhetorische Zuspitzung tut das Übrige, den Meilenstein in die Fachgeschichte zu setzen: »Diese Tagung wurde von vielen Teilnehmern als wahrhaft dramatisches und auch traumatisches Ereignis erlebt, als Religionskrieg, als Glaubenskampf, aber auch als Generationenkonflikt. Bei ihr kam es zum offenen Ausbruch einer heftigen (und bereits seit längerer Zeit schwelenden) Kontroverse zwischen den etablierten Vertretern der klassischen, am Land-

1

Peter Weichhart: Humangeographische Forschungsansätze. In: Wolfgang Sitte, Helmut Wohlschlägl (Hg.): Beiträge zur Didaktik des »Geographie und Wirtschaftskunde«Unterrichts. Wien 2001, S. 182-198, hier S. 186.

2

Vgl. Kuhn: Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.

134 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER schaftskonzept orientierten Geographie und einer sehr kompetent agierenden Gruppe jüngerer Dozenten und Studenten, die den zentralen Theoriekern der klassischen Landschafts- und Länderkunde in allen wesentlichen Punkten verwarfen, gar als ›unwissenschaftlich‹ deklarierten und eine radikale Neuorientierung des Faches im Sinne einer quantitativ ausgerichteten raumanalytischen Geographie (›Spatial Approach‹) forderten.«3

Angesichts einer so dramatischen Schilderung scheint es plausibel, dass die Geographie seither an »Identitätsproblemen«4 leide, wie Wolf Dieter Blümel meint. Grund für diese Fachpsychose sei der Verlust des »Wesensmerkmals« der Geographie, nämlich ihrer »fachliche[n] Einheit«.5 »Die fachliche Einheit« der Geographie stellte also die Landschaft dar, die, wie auch Hans-Dietrich Schultz nachweist, lange Zeit für den geographischen »Forschungsgegenstand« schlechthin gehalten wurde.6 Das bedeutet aber nicht, dass zu allen Zeiten klar gewesen wäre, was unter »Landschaft« zu verstehen sei, im Gegenteil. Schultz’ Studie zeigt eindrücklich, wie das Ringen um einen akzeptablen Landschaftsbegriff die Geschichte der deutschsprachigen Geographie geprägt hat, gerade weil damit die Frage nach dem eigentlichen Gegenstand des Fachs, besonders in Abgrenzung zu anderen Erdwissenschaften, verknüpft war. Ende des 19. Jahrhunderts umfasste die Systematik der Universitätsgeographie zwei Hauptbereiche: die Allgemeine Geographie und die Regionale Geographie. Die »Allgemeine Geographie« sollte sich auf die »thematisch differenzierte Erforschung der Erdoberfläche in ihrem Gesamtzusammenhang beziehen und die Regionale Geographie auf spezielle Ausschnitte davon«.7 Die »Regionale Geographie« setzte sich aus den beiden Teilbereichen Landschafts- und Länderkunde zusammen, die seit den 1920er Jahren den Kernbereich geographischer Forschung bildeten. »›Landschaften‹ und ›Länder‹ galten als die wahren Forschungsobjekte der Geographie. Ihre Einmaligkeit sollte herausgearbeitet und im Schulunterricht vermittelt werden.«8 Schultz zeigt auf, dass sich die Landschaftskunde nicht unbedingt von »oben« nach »unten«, von der Hochschule zu den Volksschulen, verbreitete, son-

3

Weichhart: Forschungsansätze, S. 186.

4

Wolf Dieter Blümel: »2002 – Jahr der Geowissenschaften«. Der Beitrag der Geographie zur geowissenschaftlichen Bildung. Vortrag gehalten anlässlich des 28. Deutschen Schulgeographentags in Wien, 25. September 2002. www.erdkunde.com/info/wien02/bluemel. htm (11. April 2011).

5 6

Blümel: Jahr der Geowissenschaften. Vgl. Hans-Dietrich Schultz: Die deutschsprachige Geographie von 1800 bis 1970. Ein Beitrag zur Geschichte der Methodologie. Berlin 1980, S. 127.

7

Benno Werlen: Sozialgeographie. Eine Einführung. Bern, Stuttgart, Wien 2000, S. 93.

8

Werlen: Sozialgeographie, S. 100.

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dern eher den umgekehrten Weg nahm. Die verbreitete Ansicht, dergemäß die Wissenschaft der Schulmethodik vorangehe, gelte hier nicht. Der Unterricht in den Schulen habe nicht das akademische Paradigma übernommen, im Gegenteil: »Der behaupteten Abhängigkeit schulgeographischer Innovationen von den innovativen Leistungen der Universitätsgeographie steht […] die überraschende Tatsache gegenüber, dass […] in schulgeographischen Methodiken mit großer Selbstverständlichkeit vom Landschaftsprinzip als dem im Unterricht vorherrschenden gesprochen wird, während gleichzeitig unter den Vertretern der Wissenschaft die methodologischen Auseinandersetzungen um dieses Prinzip erst so richtig losgingen.«9

Das liege, so Schultz, daran, dass die Landschaftskunde ein »Derivat«10 der Heimatkunde sei, welche den geographischen Schulunterricht maßgeblich geprägt habe. Heimatkunde beruhe auf dem »Prinzip der Anschauung und unmittelbaren Erfahrung«11 und entspreche damit nicht einem wissenschaftlich-systematischen Ansatz. Dasselbe gelte für die schulmethodische Landschaftskunde. Diese Unterscheidung basiert auf einem angenommenen Gegensatz zwischen Theorie und Praxis, wobei die Schulmethodik auf der Seite der Praxis gesehen wird. »Landschaft« scheint zu Beginn des 20. Jahrhunderts praktisch ein dermaßen evidentes Konzept gewesen zu sein, sein Wahrheitsgehalt lag, als geographisches Gegebenes, offenbar so klar vor Augen, dass daraus ein Paradigma werden konnte. Der Geograph Gerhard Hard sucht die Gründe für diese Tatsache im Charakter von Wissen und Sprache.12 Er geht davon aus, dass Wissen und Sprache sich widersprechen können, je nachdem, in welchem Kontext sie stehen. Hard unterscheidet dabei eine »naiv-realistisch aufgefasste« und eine »transzendente« Welt der Theorie: »Was […] in der ›Lebenswelt‹ (im bürgerlichen wie im wissenschaftlichen Alltag) unverfänglich ist, das ist in der Methodologie und Forschungslogik, in diesem vergleichsweise sehr entlasteten Umgang mit den Phänomenen, ein Denkfehler.«13 Für Hard ist die »Landschaft« ein Fall von »Hypostasierung«. Das bedeute, dass »dem Wort Landschaft […] ein real existierendes Ding untergeschoben [wird], und von diesem Gegenstand, dessen Existenz auf dem Glauben beruht, einem Sub-

9

Schultz: Die deutschsprachige Geographie, S. 96.

10 Schultz: Die deutschsprachige Geographie, S. 97. 11 Schultz: Die deutschsprachige Geographie, S. 97. 12 Vgl. z.B. Gerhard Hard: Die »Landschaft« der Sprache und die »Landschaft« der Geographen. (Colloquium Geographicum, Bd. 11), Bonn 1970. 13 Gerhard Hard: »Was ist eine Landschaft?« Über Etymologie als Denkform in der geographischen Literatur. In: Gerhard Hard: Landschaft und Raum. Aufsätze zur Theorie der Geographie. Osnabrück 2002, S. 133-154, hier S. 139.

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stantiv müsse doch auch ein reales Objekt entsprechen, wurde nicht ganz selten sogar gesagt, dass es ›ein konkretes Forschungsobjekt‹ und als solches ›der Gegenstand der Geographie‹ sei«.14 Das hier angesprochene Problem taucht in Varianten in der Geschichte des Landschaftsbegriffs immer wieder auf und hat Letztere entscheidend geprägt – was sich auch maßgeblich in der vorliegenden Arbeit niederschlägt.15 Hard übrigens entscheidet sich gegen das von ihm kritisierte Vorgehen. Er spricht sich dafür aus, die Merkmale und Bedeutungen des Worts »Landschaft« zu erforschen, warnt aber davor, diese »auch nur zu einem kleinen Teil auf einen ›realen Gegenstand‹ umzulegen. […] Das Verfahren ist aussichtslos; es gibt schlechthin kein Mittel, aus Bedeutungen Dinge zu machen.«16 Anders die landschaftskundlich ausgerichteten Geographen und Geographinnen. Diese hielten am Primat der Praxis fest und orientierten sich am alltagssprachlichen Vorhandensein der Landschaft. Insofern ist es nachvollziehbar, »dass die ›landschaftskundliche Revolution‹ der Länderkunde ein Schulprodukt ist. Die Schulmethodik folgt nicht der Methodologie der Wissenschaft, vielmehr holt letztere die Schulpraxis theoretisch nach.«17 Diese fachgeschichtliche Besonderheit zeigt, wie delikat die theoretische Begründung des Landschaftsbegriffs schon immer war, eine Tatsache, die am »Kieler Geographentag« offen kritisiert wurde. Offenbar waren die methodischen Bemühungen, das Konzept »Landschaft« wissenschaftlich abzustützen und anders herzuleiten als über die »unmittelbare Erfahrung«, auch in den 1960er Jahren nicht zu einem überzeugenden Resultat gelangt. Ein gutes Beispiel, wie sehr die theoretischen Anstrengungen zur Etablierung einer objektiven landschaftskundlichen Systematik von der subjektiven Praxis des Sehens bestimmt waren, lieferte bereits 1805 Heinrich Gottlob Hommeyer. Hommeyer bestimmt den Begriff »Landschaft« wie folgt: »Wenn man reist, so durchschneidet man die Erdfläche oder ein Stück derselben nach Linien, und in jedem Standpunkte hat man die Ansicht einer mit dergleichen Gegenständen oder Terraintheilen bekleideten Fläche, so weit das Auge reicht. Reiset man im Umfang einer solchen von einem Standpunkte überschauten Fläche, so übersieht man Flächen, welche jene umfassen und in der Gesichtsweite ihre Schranken haben. Eine jede überschaute Fläche, worin man die Gegenstände, welche an den Grenzen liegen, noch deutlich erkennet und unterscheidet, heißt eine Gegend, und ist im Allgemeinen der Theil der Erdfläche, welcher gegen uns liegt, oder in irgend einem Standpunkte uns bis auf die Gesichtsweite umschließt. Die Summe aller, eine Gegend zunächst umgebenden, Gegenden, oder der Begriff aller von einem sehr hohen

14 Hard: Was ist eine Landschaft, S. 138. 15 Vgl. Kapitel 4.5. 16 Hard: Was ist eine Landschaft, S. 143. 17 Schultz: Die deutschsprachige Geographie, S. 96.

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Standpunkte überschauten Flächen, oder auch die Menge der Gegenden, welche von den nächsten großen Terraintheilen, hauptsächlich von Bergen und Waldungen umfasst werden, heißt eine Landschaft.«18

Für Benno Werlen ist das das »Paradox der Landschaftskunde[:] Es besteht darin, dass der subjektiv konstituierte Wirklichkeitsausschnitt ›Landschaft‹ als wahrnehmungsabhängig vorliegender Forschungsgegenstand der Disziplin objektiviert werden soll.«19 Die landschaftskundliche Theorie war, praxisgeleitet, davon ausgegangen, dass in einer Landschaft alles, »was die Wirklichkeit ausmacht, mit einem Blick anschaulich erfasst«20 werden könne. Landschaft bezeichnete demnach »im Sinne der Landschaftsgeographie, den von einem bestimmten Standpunkt aus beobachtbaren, individuellen Gesamteindruck eines Teilstücks der Erdoberfläche«.21 Der beobachtende Blick sollte also bloß einen Ausschnitt der Erdoberfläche, diesen Ausschnitt aber ganz, erfassen, als »Ensemble […] regionaler empirischer Tatsachen«.22 Innerhalb dieses Ausschnitts galt es, eine einmalige, individuelle Kombination aus verschiedenen Geofaktoren zu erkennen, zu denen allenfalls anthropogene Elemente dazukamen, die aber nicht auf derselben Ebene wie die natürlichen Grundlagen einer Landschaft gesehen wurden. Diese aus der »Allgemeinen Geographie« übernommene Unterscheidung entsprach der Zweiteilung des Fachs in die Physische Geographie, in der auch die Geofaktorenlehre entwickelt worden war, und die Anthropogeographie. Diese Kultur-Natur-Dichotomie prägte die Disziplin ebenso wie das Landschaftskonzept. Die Naturlandschaft bestand in den Augen der Landschaftskundler aus biotischen und abiotischen, die Kulturlandschaft zusätzlich aus anthropogenen Elementen. Die Unterscheidung in Natur- und Kulturlandschaft hatte bereits Carl Ritter, der neben Alexander von Humboldt als Begründer der wissenschaftlichen Geographie gilt, eingeführt.23 Der Eindruck einer Landschaft sollte sich, ähnlich wie in der Geologie, aus der Gesamtheit verschiedener Schichten zusammensetzen. Diesen Eindruck zu beschreiben, war die Aufgabe der Geographie.

18 Heinrich Gottlob Hommeyer: Beiträge zur Militair-Geographie der Europäischen Staaten. Erster Band, welcher eine Beschreibung und Zeichnung der Schweiz nach einer geometrischen Construktion enthält. Mit einer Kupfertafel. Breslau 1805, S. XVII. 19 Werlen: Sozialgeographie, S. 101. 20 Werlen: Sozialgeographie, S. 100. 21 Werlen: Sozialgeographie, S. 388. 22 Ulrich Eisel: Die Entwicklung der Anthropogeographie von einer »Raumwissenschaft« zur Gesellschaftswissenschaft. Kassel 1980, S. 132. 23 Vgl. E. Winkler: Landschaft. Der geographische Landschaftsbegriff. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 5. Basel 1980, S. 1415.

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Zudem interessierte sie sich für das Zusammenwirken dieser einzelnen Schichten innerhalb der Struktur, die eine spezifische Landschaft ausmachen sollte. In der traditionellen Landschaftskunde wurden diese Zusammenhänge naturdeterministisch gedacht, dem menschlichen Einfluss kam eine reaktive Rolle zu, oft wurde er sogar als verderblich betrachtet: »In großen Teilen der traditionellen Geographie insgesamt, bilden […] ›Determinismus‹ und ›normativer Gehalt‹ der Natur die Leitlinien der beschreibend darstellenden Wirklichkeitsinterpretation. Das Resultat ist letztlich eine traditionalistische Kritik der Modernisierung.«24 Und nicht nur das. »Landschaft«, so der Geograph Ulrich Eisel, konnte als aus der Alltagssprache diffundierter und dort positiv besetzter Begriff eine gesellschaftliche Funktion erfüllen: »Die nationalistische und faschistische Ideologie bedurfte eines konkreten Symbols für die ›Heimat‹ und das ›Vaterland‹, das als emotionaler Bezugspunkt schon vorhanden war. Die ideologischen Inhalte hoher Abstraktion realisierten sich tatsächlich für die Subjekte u.a. in jeweiligen ›Landschaften‹.«25 Für die ideologische Instrumentalisierung der Landschaftskunde fiel auch nicht ins Gewicht, dass diese nicht in der Lage war, ihren Untersuchungsgegenstand genau zu umreißen. Oder war es genau diese Unschärfe, die den Begriff für expansivagressive politische Systeme so fruchtbar machte? Wissenschaftsmethodisch jedenfalls war das Problem, wo eine Landschaft anfängt und wo sie aufhört, nicht zu lösen. Aus der subjektiven Konstituierung von Landschaft ließen sich keine objektiv begründbaren Begrenzungskriterien eines jeweiligen Ausschnitts der Geosphäre herleiten. Solange die Erdoberfläche »cartesianisch verwaltet« werde, stelle sich, bemerkt der Philosoph Bernhard Waldenfels, folgende Frage: »Wer teilt hier die Erde, etwa der Landvermesser als Ahnvater der Geometrie? […] Soviel steht jedenfalls fest, der homogene Raum des geometrischen Kartennetzes und ein kausales Kontinuum aus mechanisch sich fortpflanzenden Wirkungen führen zu keiner Landschaftsgliederung und schon gar nicht zu ›natürlichen Grenzen‹. Ist der Fluss für Vogel und Fisch eine natürliche Grenze?«26

Auch Waldenfels spielt damit auf die politische Dimension des Landschaftsdiskurses an. An die Landschafts- schloss nämlich die Länderkunde an, die sich mit den Eigenarten von Territorialstaaten auseinandersetzte und deshalb auf geographische Argumente zur Erklärung von politischen Grenzen angewiesen war, wollte sie die

24 Werlen: Sozialgeographie, S. 102. 25 Eisel: Entwicklung der Anthropogeographie, S. 135. 26 Bernhard Waldenfels: Gänge durch die Landschaft. In: Manfred Smuda (Hg.): Landschaft. Frankfurt a.M. 1986, S. 29-43, hier S. 32.

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Lösung dieses Problems nicht einfach der normativen Kraft des Ideologischen überlassen. Politische Grenzen für geographisch erklärbar zu halten, läuft aber auf denselben Naturdeterminismus hinaus, der die Praktizierenden der Landschaftskunde dazu veranlasste, Landschaft als primär natürliche Phänomene zu verstehen, auf welche Kultur erst sekundär reagiere. Hans-Dietrich Schultz weist auch hier auf einen interessanten Sachverhalt in der geographischen Fachgeschichte hin. Die Landschaftskunde, die später dazu dienen sollte, politische Grenzen festzulegen, war früh auch aus dem Wissen um deren Mangel an Verlässlichkeit entstanden. Der natur- oder, im territorialpolitischen Zusammenhang genauer, der geodeterministische Nationalismus griff auf das landschaftskundliche Wissensfeld zu, das ironischerweise überhaupt erst angelegt worden war, weil territoriale Grenzkonstrukte nicht zuverlässig genug waren, wie Schultz klar macht. Die politischen Ereignisse und Folgen der Französischen Revolution hätten viel dazu beigetragen, sich Überlegungen zur geographischen Einteilung der Erdoberfläche zu machen. Viel zu schnell änderten sich die politischen Grenzen in Europa, als dass sich, basierend auf einer reinen Länderkunde, die Struktur des Kontinents hätte beschreiben lassen. Schultz vermutet, seiner Erkenntnis der fachinternen Führungsrolle der Schulmethodik folgend, unterrichtspraktische und verlagsökonomische Gründe für den Wunsch nach stabilen Konzepten. »Auf der Suche hiernach gelangte man zu der Vorstellung von den natürlichen (im Gegensatz zu den politischen) Ländern und propagierte diese dann als ›reine Geographie‹ und bleibende Grundlage einer jeden Staatskunde.«27 Schultz bezieht sich auf den bereits erwähnten Heinrich Gottlob Hommeyer und seine Veröffentlichung von 1811 mit dem Titel: »Einleitung in die Wissenschaft der reinen Geographie für Erzieher, Lehrer und gebildete Eltern zur Vorbereitung auf den Gebrauch des Lehrbuchs der reinen Geographie für Schulen.«28 Die »reine Geographie« hatte Hommeyer bereits 1805 im ersten seiner »Beiträge zur MilitairGeographie der Europäischen Staaten« vorbereitet. Der erste Band enthielt »Eine Beschreibung und Zeichnung der Schweiz nach einer geometrischen Construktion«. Darin schlägt Hommeyer vor, Länder ohne Rücksicht auf ihre »politische Verfassung« und »auch in der Staatskunde zuvörderst die Physiognomie des ganzen Staatslandes«29 zu betrachten. Hommeyer ging dabei praktisch vor. Das, was sich dem Blick des Reisenden zeigte, teilte er in verschiedene Einheiten ein, deren größte die Landschaft war. Doch mit Landschaften allein, schien Hommeyer, ließ

27 Schultz: Die deutschsprachige Geographie, S. 98. 28 Heinrich Gottlob Hommeyer: Einleitung in die Wissenschaft der reinen Geographie für Erzieher, Lehrer und gebildete Eltern zur Vorbereitung auf den Gebrauch des Lehrbuchs der reinen Geographie für Schulen. Königsberg 1811. 29 Hommeyer: Beschreibung und Zeichnung der Schweiz, S. XV.

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sich der geographische Charakter Europas nicht erklären. Hauptsächlich prägend für den geographischen Charakter der Landschaften, die in ihrer Summe Europa ausmachten, waren, in Hommeyers Augen, »Höhenzüge« und »Wasserzüge«: »In der Figur der Höhenzüge auf der Europäischen Erdfläche können Abschnitte von solcher Grösse gemacht werden, dass die auf Oerter und Gegenden beschränkten Veränderungen keinen bedeutenden Einfluss auf die Lage und den Lauf der Höhenzüge eines dieser Abschnitte haben.«30 Entsprechend führte er eine den Landschaften noch übergeordnete Kategorie ein: »Diese Abschnitte sollen Länder heissen.«31 Die Kategorie »Land« ist bei Hommeyer rein topologisch aufgebaut. Er verwirft die Orientierung an politischen Grenzen und schlägt, aufbauend auf der Herleitung der Kategorie »Landschaft«, vor, die Erdoberfläche betreffende Bedeutungseinheiten allein geographisch zu begründen. Die Grenzen dieser »Länder« nämlich sollten, so Hommeyer, »nach der allgemeinen Anordnung des Wasserzuges bestimmt werden können; sie sind also nicht mit den Staatsländern, deren Umfang, Größe und Trennung durch fremde Staatsländer politisch-veränderlich ist, auch nicht mit Ländern zu verwechseln, von deren Grenzen man glaubt, dass sie einen ewigen Frieden nach sich ziehen würden«.32 Dass politische Grenzen eher Krieg als Frieden bedeuten konnten, wusste Hommeyer als »Königl. Preuß. Lieutnant im Feldartillerie-Corps«.33 Politische Grenzen waren in seinen Augen als tragendes Gerüst eines geographischen Wissenssystems nicht geeignet, »Höhen-« und »Wasserzüge« hingegen schon. Sie grenzten für Hommeyer geographische Einheiten ab, wenngleich nur auf der theoretischen Ebene von »Beschreibung und Zeichnung«, wie er sie ja selbst gerade entwarf. Die Bedeutungseinheit, auf die sich diese »reine Geographie« im Kern stützte, war die, durch einen Betrachter »von einem sehr hohen Standpunkte überschaute«,34 Landschaft. Hommeyer war Militärgeograph. Er glaubte, den Krieg zu kennen und wusste: »Auf Stellung und Bewegung reducirt sich jede Kriegshandlung, die als Theil zum Ganzen einer Operation gehört […]. Eine jede Operation aber betrifft entweder das Behaupten oder das Gewinnen eines Terrains, und dieses Terrain muss man […] kennen.«35 Darin lag sein Interesse. Die Geographie nannte er eine »unentbehrliche Hülfswissenschaft der Kriegskunst«,36 welche »dem Offizier diejenigen Dienste

30 Hommeyer: Beschreibung und Zeichnung der Schweiz, S. XVIII. 31 Hommeyer: Beschreibung und Zeichnung der Schweiz, S. XXIX. 32 Hommeyer: Beschreibung und Zeichnung der Schweiz, S. XXIX. 33 Hommeyer: Beschreibung und Zeichnung der Schweiz, S. I. 34 Hommeyer: Beschreibung und Zeichnung der Schweiz, S. XII. 35 Hommeyer: Beschreibung und Zeichnung der Schweiz, S. VI. 36 Hommeyer: Beschreibung und Zeichnung der Schweiz, S. XII.

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leistet, die er zur geschwinden und leichten Erlangung eines richtigen Bildes des von ihm betretenen Kriegstheaters von ihm fordert«.37 Die Verwendung des Begriffs »Kriegstheater« ist bemerkenswert. Der Terminus ist in der zeitgenössischen Literatur gängig und lässt sich bereits im 16. Jahrhundert nachweisen. Der Begriff steht mit der weit verbreiteten Theatermetapher, gemäß welcher die ganze Welt eine Bühne sei, in Verbindung: »Das Schlachtfeld wurde zur Bühne, die Soldaten zu Akteuren, eine Niederlage mitunter zur Tragödie verklärt. Ausgehend von der Beobachtung, dass das Wissen über den Krieg sich in den von der europäischen Adelsgesellschaft geprägten diskursiven Formen realisierte, kann die Theatralisierung des Krieges als Ausdruck seiner Eingebundenheit in die soziale Logik der höfischen Repräsentation gelesen werden.«38

Zudem widerspiegelt das sprachliche Bild den Wandel in der Art, Krieg zu führen. Mit dem Aufbau großer, stehender Heere und der logistischen Systematisierung der »Kriegskunst« wurden einerseits innerhalb der Armeen hierarchische Strukturen, im Kampf selbst straff kollektive Handlungsmuster immer wichtiger. Mit der Aufblähung der Heere und der damit verbundenen Anonymisierung der einzelnen Soldaten kontrastierte die Glorifizierung der Anführer, die sich zu Repräsentanten eines eigentlichen europäischen Starsystems entwickelten, was sich wiederum theatermetaphorisch beschreiben lässt: »Dann, im 17. Jahrhundert, kommt eine spezifische Geste auf, die den Feldherrn abseits des Kampfes einen höheren Standpunkt suchen lässt, von dem aus er eine Gesamtansicht gewinnt. Wenn der Herrscher oder sein Feldherr sich in die Überblicksposition begeben, dann sind sie nicht mehr Kämpfer, dann teilen sie nicht mehr das Schicksal ihrer Soldaten. Diese bilden jetzt eine Kriegsmaschine in einem Theater, das einen Regisseur braucht. Er ist der Star, der Kopf, dessen Namen jedermann kennt: Alessandro Farnese, Juan d’Austria, Wallenstein, Spinola, Tilly, Turenne oder Prinz Eugen.«39

Diese theatermetaphorische Bedeutung hatte sich im 19. Jahrhundert zwar langsam verlaufen, bei Hommeyer taucht sie aber explizit, in Verbindung mit den Ausführungen zum Landschaftsbegriff, wieder auf. Auch Clausewitz erklärt den Begriff

37 Hommeyer: Beschreibung und Zeichnung der Schweiz, S. XIIf. 38 Vgl. Marian Füssel: Theatrum Belli. Der Krieg als Inszenierung und Wissensschauplatz im 17. und 18. Jahrhundert. In: metaphorik.de 14/2008, S. 205-230, hier S. 205. www.me taphorik.de/14/Fuessel.pdf (11. April 2011). 39 Martin Warnke: Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der Natur. München, Wien 1992, S. 71.

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»Kriegstheater« im zweiten Kapitel des fünften Buches seines Standardwerks »Vom Kriege«, das 1832-1834 erstmals erschien: »Eigentlich denkt man sich darunter einen solchen Teil des ganzen Kriegsraumes, der gedeckte Seiten und dadurch eine gewisse Selbständigkeit hat. Diese Deckung kann in Festungen liegen, in großen Hindernissen der Gegend, auch in einer beträchtlichen Entfernung von dem übrigen Kriegsraum. – Ein solcher Teil ist kein bloßes Stück des Ganzen, sondern selbst ein kleines Ganzes, welcher dadurch mehr oder weniger in dem Fall ist, daß die Veränderungen, welche sich auf dem übrigen Kriegsraum zutragen, keinen unmittelbaren, sondern nur einen mittelbaren Einfluß auf ihn haben.«40

Für Clausewitz ist »Kriegstheater« also eine geographische Bezeichnung. Die Formulierung, ein »Kriegstheater« sei »kein bloßes Stück des Ganzen, sondern selbst ein kleines Ganzes«, kommt nah an Hommeyers Bestimmung des Begriffs »Landschaft« heran. Hommeyers Ausführungen vorausgesetzt, ist »Kriegstheater« auch bei ihm eine geographische Bezeichnung, aber nicht nur. Die Verwendung des Worts verweist auf die ästhetischen Implikationen, die Hommeyers Argumentation zugrunde liegen. Die Vorstellung von der Landschaft als »Kriegstheater« deckt sich mit der Situation, die Hommeyer imaginiert, um seine Herleitung des Landschaftsbegriffs zu illustrieren. Der Betrachter auf dem »sehr hohen Standpunkte«41 ist nämlich ein Offizier: »Man muss das Ganze umfassen und festhalten, wenn man mit Sicherheit in das Innere der einzelnen Theile dringen will. Wenn bei entstehendem Feldzuge der Offizier eine Ansicht des Kriegstheaters hat, so wird er die Gegenden, welche er auf Märschen betritt, oder in denen er kampirt, kantonirt u. s. w., leichter fassen, und seine individuelle Ansicht des Kriegstheaters eher berichtigen und vervollkommnen; er wird den Gang der Operationen […] deutlicher verstehen, als wenn ihm jene Ansicht des Ganzen fehlt, oder dieselbe allzu allgemein ist.«42

Die »Ansicht des Ganzen« vom Feldherrenhügel aus ist es, die aus einer Gegend eine Landschaft und aus einem Schlachtfeld ein »Kriegstheater« macht. Das ist der ästhetische Kern von Hommeyers Überlegungen. Hommeyer nahm es in der Ausführung seines Werks mit den angekündigten Beiträgen zur »Militair-Geographie« allerdings nicht sehr genau. Lieber schrieb er über landschaftskundliche Aspekte der Schweiz, manche Stellen des Buches gerieten touristisch, andere grenzen an

40 Carl von Clausewitz: Vom Kriege: Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz. Vollständige Ausgabe im Urtext, drei Teile in einem Band. Bonn 1980, S. 500. 41 Hommeyer: Beschreibung und Zeichnung der Schweiz, S. XII. 42 Hommeyer: Beschreibung und Zeichnung der Schweiz, S. V.

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Liebhaberei. In der dreiseitigen Beschreibung der Stadt Bern zum Beispiel verliert Hommeyer einen einzigen militärisch relevanten Satz: »Die Befestigung ist nicht von Bedeutung.«43 Dafür sei »die Lage der Stadt […] der Gesundheit der Einwohner ungemein zuträglich« und es ist ihm wichtig mitzuteilen, dass man auf den »Spaziergängen vor den Thoren […] die Aussicht auf die Schneeberge« habe, »die fast in jeder Stunde anders, am schönsten aber bei Sonnenuntergang« sei.44 Promenaden schienen Hommeyer, in Übereinstimmung mit dem praxisgeleiteten Aufbau seines geographischen Systems, ohnehin ein gutes Mittel, um Geographie zu betreiben und um zu genießen, denn »die Annehmlichkeiten in der Gegend umher vermehren sich mit jedem Spaziergange«.45 Dass Hommeyer nicht allein aus militärischem Interesse schrieb, fiel auch dem Rezensenten der »Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung« auf, in deren 301. Nummer am 24. Dezember 1806 eine kritische Besprechung des Buches erschien: »Dieser Mangel befindet sich bey der Beschreibung aller Theile und Gegenden der Schweiz, so dass man bey Lesung dieses Abschnitts ohnmöglich vermuthen könnnte, dass der Titel dieses Werks Beyträge zur Militär-Geographie zu geben verspricht.«46 Der Rezensent hat überhaupt starke Zweifel an der Qualität des Buches, indem »manches wahr, vieles sehr irrig«47 sei. Er korrigiert viele Aussagen Hommeyers und macht ihm zum Schluss süffisant zum Vorwurf, dass er das Land, über das er schrieb, gar nicht aus eigener Anschauung kannte: »Am wünschenswerthesten aber wäre, dass es dem sonst kenntnisreichen und gebildeten Vf. möglich seyn möchte, die Länder, von denen er eine militärische Geographie bearbeiten will, vorher zu bereisen und in militärischer Hinsicht zu beobachten.«48 Hommeyer hatte nicht verschwiegen, dass er sein Buch allein auf Kartenmaterial und Literatur aufgebaut hatte. Die Tatsache, dass der praxisbezogene Ansatz, geographische Theorie auf den Beobachtungen im Feld aufzubauen, selbst wieder nur auf theoretischen Quellen basierte, beschreibt die Aporien der landschaftskundlichen Theoriebildung treffend. Das Beispiel Heinrich Gottlob Hommeyer zeigt, wie diffizil und letztlich nicht tragfähig das Landschaftskonzept für die Geographie war. Hans-Dietrich Schultz sieht »zwei Arten von ›Landschaftskunde‹«, beide sind in der Diskussion der Hommeyerschen Schriften zur Sprache gekommen: »Erstens

43 Hommeyer: Beschreibung und Zeichnung der Schweiz, S. 335. 44 Hommeyer: Beschreibung und Zeichnung der Schweiz, S. 335. 45 Hommeyer: Beschreibung und Zeichnung der Schweiz, S. 336. 46 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung. Nr. 301, 24. Dezember 1806, S. 556. http://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jparticle_00105249?XSL.view.objectmetadata. SESSION=false (11. April 2011). 47 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung Nr. 301, S. 553. 48 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung Nr. 301, S. 556f.

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existierte eine primär kausalwissenschaftlich-genetisch orientierte ›Landschaftskunde‹ […], die an das auf […] die Vertreter der ›reinen Geographie‹ zurückgehende Denken in ›Erdräumen‹, ›natürlichen Ländern‹ und ›geographischen Individuen‹ anknüpfte und sich unter dem Stichwort ›Anschaulichkeit‹ mit dem vorwissenschaftlich-primärsprachlichen Landschaftserleben des Reisenden und gebildeten Touristen verband.«49 Auch Hommeyer ging in seiner Herleitung des Landschaftsbegriffs von der Erfahrung der Umwelt durch das Reisen aus. »Zweitens«, so Schultz weiter, »existierte eine auf Stoff und Fragestellung des landschaftsästhetisch-kunsttheoretischen Schrifttums zurückgehende ›Landschaftskunde‹ bzw. ›ästhetische Geographie‹, die als ›Landschaftsschilderung‹ primär dem optischemotionalen und gemüthaften Erlebnisbereich verpflichtet war und sich […] mit der kausalwissenschaftlich-genetischen Richtung verquickte.«50 Hommeyers Ausführungen gehen, was ihm die Jenaische Allgemeine LiteraturZeitung ja auch zum Vorwurf machte, stark in diese Richtung. »Ästhetische Geographie« bedeutet für Schultz aber nicht nur die genießende Betrachtung von Landschaft. Er meint auch, dass die Landschaftskunde direkt an Diskurse anschloss, die aus der Ästhetik als kunstwissenschaftlicher Disziplin, sogar aus der Kunst selber, stammten. Bereits das Wort »Landschaft« übernahmen die Geographen und Geographinnen von dort, es stammt nämlich, wie Hard glaubt, »aus einer Sondersprache: aus der Sprache der Maler, dann auch der Kunstverständigen, Kunsttheoretiker usf.«.51 Sie vertrauten auf das Auge als heuristisches Instrument und interessierten sich deshalb auch für Forschung, die sich mit Wahrnehmung und Bedeutungskonstitution jenseits wissenschaftlicher Methodik auseinandersetzte: für die Kunst. »Auf diesem Weg fand ein ästhetisches Konstrukt aus Kunst und Poesie Eingang in die wissenschaftliche Geographie«,52 wie es der Geograph Roland Lippuner beschreibt. Gerhard Hard geht noch weiter und stellt fest, die Landschaftsgeographie des 20. Jahrhunderts sei einer jener raren Fälle, in dem »die Ästhetik einer Wissenschaft im disziplinären Gegenstand (in Paradigma und Programm der Disziplin) fest eingebaut«53 sei.

49 Schultz: Die deutschsprachige Geographie, S. 116. 50 Schultz: Die deutschsprachige Geographie, S. 116. 51 Gerhard Hard: Zu Begriff und Geschichte von »Natur« und »Landschaft« in der Geographie des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Hard: Landschaft und Raum, S. 177. 52 Roland Lippuner: Raum – Systeme – Praktiken, S. 13. 53 Gerhard Hard: Spuren und Spurenlesen. Zur Theorie und Ästhetik des Spurenlesens in der Vegetation und anderswo. Osnabrücker Studien zur Geographie. Bd. 16. Osnabrück 1995, S. 145. http://elib.ub.uni-osnabrueck.de/publications/ELibD60_hard.pdf (11. April 2011).

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Gegen diese Besonderheit der klassischen Geographie richtete sich die fachinterne Wissenschaftsrevolution anlässlich des, in der zeitgenössischen Geographietheorie selbst klassisch gewordenen, »Kieler Geographentags« 1969. Der Landschaftsbegriff der Geographie galt nun als Beispiel des theoretischen Versagens des Fachs, weshalb man sich veranlasst sah, ihn diskursiv zur Strecke zu bringen, um nicht ein logisch unhaltbares Primat der, noch dazu fehlerhaften und ideologisch aufgeladenen, Praxis anerkennen zu müssen. Zudem war es der insurgierenden, »kompetent agierenden Gruppe jüngerer Dozenten und Studenten«,54 der HansDietrich Schultz und Gerhard Hard selbst angehörten, offenbar wissenschaftlich nicht geheuer, auf Strategien und Diskurse der Kunst zurückgreifen zu müssen.

4.2 GEOGRAPHIE UND KUNST Dass in der Geographie Kunst vorkommt, ist wissenschaftsgeschichtlich nicht besonders verwunderlich. Kunst und Wissenschaft als zwei Wege, Wissen zu produzieren, lagen anfangs wesentlich näher beieinander, als die strenge Separation in späteren Stadien ihrer Entwicklung vermuten ließe. Schon die Begriffsgeschichte kennzeichnet den gemeinsamen Ursprung von Kunst und Wissenschaft in den »artes«. Die deutsche Entsprechung des Wortes, so der Philologe und Kulturwissenschaftler Dieter Wuttke, sei »bis in das 17./18. Jahrhundert hinein das uns wohlbekannte Wort Kunst, dessen Grundbedeutung wir nur noch erinnern, wenn wir sagen, ›Kunst kommt von Können‹. Dass Kunst aber in der Grundbedeutung auch Wissenschaft hieß, erinnern wir heute überhaupt nicht mehr.«55 Selbst die Naturwissenschaften seien als »natürliche Kunst« bezeichnet worden, was nicht pejorativ gemeint gewesen sei, sondern im Gegenteil anerkennend auf das Zusammengehen von Kunst und Wissen hingewiesen habe. Auch Paul Feyerabend stellte fest, alle wissenschaftlichen Fächer seien zuerst »Künste« gewesen: »Das heißt, sie unterschieden sich zwar in ihren Ergebnissen […], nicht aber in ihren Methoden – man sammelte Erfahrungen, ordnete sie so gut wie nur möglich und gab sie an Schüler weiter. Die Erfahrungen waren nicht nur begrifflicher Art, sie bestanden auch im rechten Erkennen von Symptomen […], das heißt, man konnte sie nicht vom Prozess des Lernens und der Praxis, der sie angehörten, trennen und ›objektivieren‹.«56

54 Weichhart: Forschungsansätze, S. 186. 55 Dieter Wuttke: Über den Zusammenhang der Wissenschaften und Künste. Wiesbaden 2003, S. 45. 56 Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst. Frankfurt a.M. 1984, S. 8.

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Es seien die griechischen Philosophen, vor allem Platon, gewesen, die sich nicht mit diesen Ergebnissen zufriedengegeben hätten. Die antiken Denker regulierten, so Feyerabend, die Art und Weise, wie diese Ergebnisse gewonnen wurden, dahingehend, dass sie begrifflich fassbar sein und den Regeln der allgemeinen Logik gehorchen sollten. Feyerabend fand es »sehr schwer zu sagen, wie es kam, dass diese ziemlich unrealistischen Forderungen an Boden gewannen« und später »zur Grundlage allen Forschens wurden«.57 Sowohl die »artes liberales«, die Sieben Freien Künste der Antike, als auch die »artes mechanicae«, die Sieben Mechanischen Künste des Mittelalters,58 entsprechen nicht dem Ideal der cartesianischen Methodik,59 welche, dem französischen Philosoph und Mathematiker gemäß, allein Erkenntnis verspricht.60 Descartes’ rigide Rationalität, die sich methodisch durch Analyse und Synthese ausdrückt, kausal deutet und durch den ewigen Zweifel, positiv gewendet als Neugier, angetrieben wird, avancierte zum aufklärerischen Ideal. Es musste sich jedoch erst Geltung verschaffen, bevor es zum allgemein anerkannten Leitbild wissenschaftlichen Denkens wurde. Descartes’ Zeitgenosse Pascal zum Beispiel zweifelte zwar auch, aber an Descartes: »Descartes inutile et incertain«,61 notierte er trocken in den 1670 posthum erstmals erschienenen »Pensées« und nahm sich vor: »Ecrire contre ceux qui approfondissent trop les sciences. Descartes.«62 Dass Pascal seine Kritik am »Esprit géométrique«, wie er das wissenschaftliche Denken nannte, in den Dienst der Religiosität stellte, widerspricht nicht dem Be-

57 Feyerabend: Wissenschaft, S. 9. 58 Vgl. Jutta Bacher: Die artes liberales – Vom Bildungsideal zum rhetorischen Topos. In: Hans Holländer (Hg.): Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion: Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. Jahrhundert bis zum 19. Jahrhundert. Berlin 2000, S. 35-49. Und Jutta Bacher: Artes mechanicae. In: Holländer (Hg.): Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion, S. 19-34. Zur Hierarchie unter den »artes« und deren Institutionalisierung: Gordon Leff, John North: Die artes liberales. In: Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa. Band 1 Europa. München 1993, S. 279-320. 59 René Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung = Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la vérité dans les sciences. Französisch-deutsch, übersetzt und hg. von Lüder Gäbe. Hamburg 1997. 60 Vgl. z.B. Ferdinand Alquié: Wissenschaft und Metaphysik bei Descartes. Würzburg 2001. 61 Blaise Pascal: Pensées. Paris 1977, S. 440. 62 Pascal: Pensées, S. 339.

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fund, Kunst und Wissenschaft seien sich ähnlich gewesen, sondern zeigt, dass sich nicht nur diese beiden Wissenssysteme ähnlich waren.63 Entsprechend fragt Leon Landauer rhetorisch: »Wie vernünftig war das Zeitalter der Vernunft?«64 Selbst Descartes’ System des ewigen Zweifels beruhte nicht auf dem berühmten »Cogito«65 als letzter Grundlage, einem Gedanken, den ja schon Augustinus lange vor ihm hatte und bei dem Descartes ihn vielleicht auch gefunden hat, vielleicht mit dem Umweg über Montaigne:66 »Wer möchte jedoch zweifeln, dass er lebe, sich erinnere, einsehe, wolle, denke, wisse und urteile? Auch wenn man nämlich zweifelt, lebt man.«67 Descartes bedurfte nicht nur der Hilfe eines Kirchenlehrers, er wandte sogar selbst, weil eben kein sicherer Weg von den Begriffen zu den Realien führt, einen etwas verwitterten metaphysischen Kunstgriff an, damit er nicht nur die Existenz seiner selbst, sondern auch der Dinge außerhalb beweisen konnte: »Wann aber kam Gott in dieses System, das so kühn damit begann, alle überlieferten Glaubensbekenntnisse zu bezweifeln?«,68 fragen Ariel und Will Durant in ihrer mehrbändigen »Geschichte der Zivilisation« zu Recht und verweisen auf Anselm von Canterburys »ontologischen Gottesbeweis«, auf den Descartes zurückgreift. Gott, der vollkommen ist, was der Grund ist, weshalb er existiert, betrügt nicht, eben weil er vollkommen ist. »Und deshalb muss hier überhaupt gefolgert werden, dass jenes […] ausgedehnte Ding existiert.«69 Descartes unterscheidet hier nicht zwischen Logik und Moral und beweist mit der Wiederverwertung des »ontologischen Gottesbeweises«, dass er sich nicht vom überkommenen religiösen Denken seiner Zeit lösen konnte oder wollte. Dabei war er ursprünglich genau dagegen angetreten. Ariel und

63 Vgl. z.B. Jean-Pierre Schobinger: Blaise Pascals Reflexionen über die Geometrie im allgemeinen: »De l’esprit géométrique« und »De l’art de persuader«. Basel, Stuttgart 1974. 64 Leon Landauer: Wissenschaftsgeschichte. Eine Einführung in die Strukturen naturwissenschaftlicher Revolutionen. Norderstedt 2005, S. 42. 65 René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie: lateinisch-deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Christian Wohlers. Hamburg 2005, S. 14. 66 Vgl. Will Durant, Ariel Durant: Das Zeitalter der Vernunft hebt an. Eine Geschichte der europäischen Kultur zur Zeit Shakespeares, Bacons, Montaignes, Rembrandts, Galileis und Descartes’ (1558-1648). Bern, München 1963, S. 674. 67 Augustinus: De Trinitate X. x. 14. In: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus fünfzehn Bücher über die Dreieinigkeit/aus dem Lateinischen übers. und mit Einl. versehen von Michael Schmaus. (Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften Bd. 11-12; Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Band 13-14) Kempten, München 1935. www.unifr.ch/bkv/kapitel2676-9.htm (11. April 2011). 68 Durant, Durant: Zeitalter der Vernunft, S. 675. 69 Descartes: Prinzipien, S. 93.

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Will Durant urteilen, bei allem Respekt, den sie seinem modernistischen Projekt entgegenbringen, hart über Descartes: Er habe »bloß traditionellen Unsinn weggeräumt, um für seinen eigenen Platz zu schaffen«.70 Denn Unsinn sind Descartes’ Überlegungen unter seiner eigenen Maßgabe des Primats der Rationalität. Descartes’ Scheitern hielt ihn im Weiteren allerdings nicht davon ab, sich Zeit seines Lebens intensiv der Wissenschaft zu widmen.71 Im hier besprochenen Zusammenhang dokumentiert das Beispiel, wie eng und kompliziert verstrickt in der frühen Neuzeit die verschiedenen Wissens- und Einbildungssysteme waren.72 In besonderem Maß galt das für die Vorstellungen, die sich die Menschen von der Natur machten und die für die Bildung des Landschaftsbegriffs von entscheidender Bedeutung sein sollten. Eine hervorgehobene Rolle spielte dabei die Frage, ob Natur schön sei. Bereits in der Antike war Natur Gegenstand ästhetischer Reflexion und die antiken Traditionslinien erwiesen sich als ausgesprochen langlebig.73 Ein wichtiger Ausgangspunkt war der harmonikale Naturbegriff pythagoreischplatonischer Prägung, der auf Zahlen und Zahlenverhältnisse aufbaute. Auf ihnen basierte eine alles umfassende Harmonie, die Bauart des Kosmos, die nicht nur als wahr, sondern auch als schön verstanden wurde. Für die Menschen zugänglich war diese Harmonie einerseits ästhetisch über den Weg der Sinne, andererseits noetisch über den Verstand. Und die Menschen waren nicht nur in der Lage, Natur als schön wahrzunehmen, sie konnten sie mittels der Kunst auch schön zeigen. Dies, weil sie sich, gemäß der platonischen Kosmologie, selbst als Teil des harmonischen Ganzen verstehen durften. Dieser Gedanke der »sympathetischen Einheit von außermenschlicher und menschlicher Natur, Allseele und Einzelseele«74 wird, ebenso wie die »Entsprechung von musikalischer, mathematischer und psychophysischer Harmonie«,75 in Platons »Timaios«76 ausführlich entwickelt. Platons Überlegungen hatten noch im 15. Jahrhundert Bestand. Leonardo da Vinci setzte sich theoretisch und praktisch intensiv mit dem harmonikalen Aufbau

70 Durant, Durant: Zeitalter der Vernunft, S. 679. 71 Vgl. Dominik Perler: René Descartes. München 2006, besonders das Kapitel »Naturforscher, Erkenntnistheoretiker oder Metaphysiker«, S. 32f. 72 Zur Periodisierung vgl. z.B. Anette Völker-Rasor: Frühe Neuzeit. München 2006. Und Nada Boskovska-Leimgruber (Hg.): Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft: Forschungstendenzen und Forschungserträge. Paderborn, München, Wien, Zürich 1997. 73 Vgl. Jörg Zimmermann: Zur Geschichte des ästhetischen Naturbegriffs. In: Jörg Zimmermann (Hg.): Das Naturbild des Menschen. München 1982, S. 118-154. 74 Zimmermann: Naturbegriff, S. 120. 75 Zimmermann: Naturbegriff, S. 120. 76 Platon: Sämtliche Werke. Band 4. Übersetzt von Hieronymus Müller und Friedrich Schleiermacher. Hamburg 1994, S. 11-103.

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der Welt und des menschlichen Körpers auseinander. Genaue empirische Beobachtungen dienten ihm, wie auch Dürer, als Grundlage zur Erforschung der Proportionen, und so »nähert [sich] die Malerei in der Aufdeckung und Fixierung alles Sichtbaren der wissenschaftlichen Naturbeschreibung an«.77 Metaphysik, Kunst und wissenschaftliche Naturauffassung waren nicht voll ausdifferenziert, sondern kreuzten und überlagerten sich. Je nach Akzentuierung ergeben sich Analogien oder Distanzierungen. »Die stärkste Analogie wird […] durch den Harmoniebegriff gestiftet. Er verleiht rückblickend nicht nur der traditionellen Naturphilosophie, sondern auch der neu sich entfaltenden Naturwissenschaft eine ästhetische Aura.«78 Ursula Brandstätter unterscheidet das Denken in Analogien kategorial von jenem, das sich von Kausalitäten leiten lässt.79 Sie nennt es »Ähnlichkeitsdenken«,80 das von »Übertragungen«, also »Metaphern« geleitet werde. Historisch habe sich die »metaphorische Erkenntnis«81 zur Domäne der Kunst entwickelt, sei aber lange Zeit für alle Bereiche des Denkens, auch für die Wissenschaft, prägend gewesen. Diese Mehrdeutigkeit der Wissenschaftskonzeption lässt sich deutlich am Beispiel Johannes Keplers zeigen. Er wandte sich ab von einem qualitativen Verständnis von Wissenschaft, deren zugleich wichtigste und misstrauenswürdigste Methode in seinen Augen die Spekulation war, und legte damit einen Grundstein zur Etablierung einer quantitativ orientierten, neuzeitlichen Wissenschaftstheorie: »Wie das Auge für die Farbe, das Ohr für die Töne, so ist der Geist des Menschen für die Erkenntnis nicht irgendwelcher beliebiger Dinge, sondern der Größen geschaffen; er erfasst eine Sache um so richtiger, je mehr sie sich den reinen Qualitäten als ihrem Ursprung nähert. Je weiter sich aber etwas von diesem entfernt, desto mehr Dunkelheit und Irrtum tritt auf. Denn unser Geist bringt seiner Natur nach zum Studium der göttlichen Dinge Begriffe mit sich, die auf der Kategorie der Quantität aufgebaut sind; ist er dieser Begriffe beraubt, so kann er nur noch durch reine Negation definieren.«82

Dieser klar umrissene Erkenntnisstandpunkt hindert Kepler aber nicht daran, 1619 – genau hundert Jahre nach dem Tod Leonardo da Vincis – folgendes verschmitztes Bekenntnis dem fünften Buch seiner »Weltharmonik« voranzustellen:

77 Zimmermann: Naturbegriff, S. 127. 78 Zimmermann: Naturbegriff, S. 128. 79 Vgl. Ursula Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik. Bild – Musik – Sprache – Körper. Köln, Weimar, Wien 2008. 80 Brandstätter: Grundfragen, S. 23. 81 Brandstätter: Grundfragen, S. 24. 82 Zitiert nach: Max Caspar: Einleitung. In: Johannes Kepler: Weltharmonik. München 2006, S. 11-56, hier S. 14.

150 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER »Was ich vor 25 Jahren vorausgeahnt habe, ehe ich noch die fünf regulären Körper zwischen den Himmelsbahnen entdeckt hatte, was in meiner Überzeugung feststand, ehe ich die harmonische Schrift des Ptolemäus gelesen hatte, was ich durch die Wahl des Titels zu diesem Buch meinen Freunden versprochen habe, ehe ich über die Sache selber ganz im klaren war, was ich vor 16 Jahren in einer Veröffentlichung als Ziel der Forschung aufgestellt habe, was mich veranlasst hat, den besten Teil meines Lebens astronomischen Studien zu widmen, Tycho Brahe aufzusuchen und Prag als Wohnsitz zu wählen, das habe ich mit Gottes Hilfe, der meine Begeisterung entzündet und ein unbändiges Verlangen in mir geweckt hatte, der mein Leben und meine Geisteskraft frisch erhielt und mir auch die übrigen Mittel durch die Freigiebigkeit zweier Kaiser und der Stände meines Landes Österreich ob der Enns verschaffte – das habe ich also nach Erledigung meiner astronomischen Aufgabe, bis es genug war, endlich ans Licht gebracht. In einem höheren Maße als ich je hoffen konnte, habe ich als durchaus wahr und richtig erkannt, dass sich die ganze Welt der Harmonik, so groß sie ist […] bei den himmlischen Bewegungen findet, zwar nicht in der Art, wie ich mir vorgestellt hatte (und das ist nicht der letzte Teil meiner Freude), sondern in einer ganz anderen, zugleich höchst ausgezeichneten und vollkommenen Weise.«83

Kepler sah offenbar keinen Widerspruch zwischen der überkommenen harmonikalästhetisch geprägten Sichtweise und neuzeitlicher, rationalistischer Wissenschaft. Folgerichtig hielt er auch am Zusammenhang von Musik und Zahlen fest und verortete sich so selbstverständlich in der hermetischen Tradition, die auf den Vorstellungen Pythagoras’ aufbaute.84 Kepler war im 17. Jahrhundert keineswegs der einzige lange später noch als seriös eingeschätzte Wissenschaftler, der sich zum Hermetismus bekannte. Isaac Newton zum Beispiel interessierte sich ein Leben lang für die Alchemie und betrieb ernsthaft entsprechende Studien.85 Die Alchemie war ein emblematisches Produkt der erst später durch Kategorien und Bedeutungsschemata durchschnittenen Zusammenhänge zwischen Kunst, Wissenschaft, Handwerk und mystizistischer Religiosität. Deshalb soll sie Petrus Bonus von Ferrara, selbst Alchemist, im 14. Jahrhundert »Kunst aller Künste« und »Wissenschaft aller Wissenschaften« und dazu noch »Schlüssel zu allen guten Dingen« genannt haben.86

83 Johannes Kepler: Weltharmonik, S. 279. 84 Vgl. Volker Bialas: Johannes Kepler. München 2004, S. 122. 85 Vgl. z.B. Stanton J. Linden: The Alchemy Reader. From Hermes Trismegistus to Isaac Newton. Cambridge, UK 2003, S. 243f. 86 Zitiert nach: Friederike Wappenschmidt: Metamorphosen: Antike Götter im Wandel von Glaube und Kunst. Mainz 2004, S. 143. Vgl. auch Frater Albertus: The Alchemist’s Handbook. York Beach 1984, S. 6.

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Aber diese ursprüngliche Einheit von Kunst und Wissenschaft löste sich doch einmal. Und so ist, wie die Literaturwissenschaftler Thomas Lange und Harald Neumeyer schreiben, »entscheidend, dass die Zeit um 1800 eine Phase des Übergangs markiert: Die Grenzen zwischen den Künsten und den Wissenschaften werden allererst gezogen und sind also durchlässig. Dies gilt in vierfacher Hinsicht – für die Gegenstände des Wissens, für die strukturellen Probleme innerhalb einer Wissensanordnung, für die Bewältigung dieser Probleme und für die Formen der Präsentation und Kommunizierbarkeit des jeweiligen Wissens.«87 Die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston weist dabei auf die Rolle der Einbildungskraft hin. Galt sie zuvor als wesentlicher Antrieb sowohl der Wissenschaftler wie auch der Künstler, wurde sie erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Movens allein der Künste, umgekehrt aber zum Tabu der nach Objektivität trachtenden Wissenschaftler, die bis heute »Angst und Abscheu«88 vor ihr empfinden sollen. Objektivität und Subjektivität wurden zu den entscheidenden Unterscheidungsmerkmalen zwischen Kunst und Wissenschaft. Letztere orientierte sich, so gut es ging, am Ideal intersubjektiver Verallgemeinerbarkeit der Erkenntnis, die Kunst machte sich zum Refugium für Originalität und Individualität, wo Inspiration Fortschritt erzeugte, nicht Logik. »Was sich hier in der sich wandelnden Rolle und Einschätzung der Einbildungskraft zeigt, ist im größeren Zusammenhang der beiden Bereiche Wissenschaft und Kunst und ihres Auseinanderdriftens zu sehen: Im Zuge der Aufklärung und der damit verbundenen bis heute wirksamen gesellschaftlichen Wandlungen veränderten sich nicht nur die Zieldefinition und Aufgabenprofile, sondern es ändert sich vor allem auch das Selbstverständnis der Wissenschaftler und Künstler. Beide Gruppen definieren sich zunehmend in Abgrenzung voneinander.«89

Folgerichtig urteilte Hegel in der Einführung zu seinen zwischen 1817 und 1829 verfassten »Vorlesungen über die Ästhetik«: »Uns gilt die Kunst nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft.«90 So vollständig die Autonomie der beiden Bereiche sich institutionell vollzog, so entscheidend war die Abgrenzung von Kunst und Wissenschaft für das jeweilige

87 Thomas Lange, Harald Neumeyer (Hg.): Kunst und Wissenschaft um 1800. Einleitung. In: Thomas Lange, Harald Neumeyer (Hg.): Kunst und Wissenschaft um 1800. Würzburg 2000, S. 7-17, hier S. 7. 88 Lorraine Daston: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt a.M. 2001, S. 99. 89 Brandstätter: Grundfragen, S. 41. 90 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt a.M. 1986, S. 141.

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Selbstverständnis.91 »Autonomie heißt nicht Autarkie. Interferenzen zwischen beiden Wissensformen bestanden weiter oder entstanden erst zwischen deren neuumgrenzten Feldern.«92 Diese Überlagerungen zwischen den eigentlich geschiedenen Feldern der Bedeutungskonstitution erzeugten innerhalb beider Bereiche Muster, die sich nicht mit der jeweilig konstitutiven Struktur deckten.93 Entgegen anders lautender Selbst- und Fremdbeschreibungen durchwirkten gegenseitige Ähnlichkeiten, Zusammenhänge und Interaktionen sowohl Kunst als auch Wissenschaft. Das veranlasste zum Beispiel Friedrich Nietzsche – der »Wahrheiten« ohnehin nicht traute, weil er sie für »Illusionen« hielt, »von denen man vergessen hat, dass sie welche sind«94 –, 1882 die »fröhlichen Wissenschaften«95 zu entwerfen. »Fröhlich« ist Nietzsches Wissenschaft, weil sie ästhetisch ist und Kunst und Wissenschaft so »in einem verklärten Bereich zu Koexistenz«96 zusammengeführt werden. So hinterließen die »Interferenzen« zwischen Kunst und Wissenschaft mehr oder weniger gut sichtbare Spuren in beiden Feldern. In der Geographie heißt eine dieser Spuren »Landschaft«. Gerhard Hard ist ihr in seinem Aufsatz »Geographie als Kunst«97 nachgegangen. Gerhard Hard will wissen, wie die Kunst in die Geographie gekommen ist, und sucht Beispiele. Auch er geht von der Ähnlichkeit von Kunst und Wissenschaft aus, insbesondere im Stadium des Entstehens ihrer neuzeitlichen Gestalt. Hard sucht den Ursprung dieser Interferenz in »der klassischen deutschen Geographie, der deutschen Klassik und der romantischen Naturphilosophie«.98 Entsprechend ausgiebig bezieht sich Hard auf die Zentralgestalt der deutschen Klassik, auf Johann Wolfgang von Goethe. Anhand einer Zeile aus Goethes Gedicht »Zueignung« zeigt er, dass das Finden der Wahrheit nicht nur das Ziel wissenschaftlichen Arbeitens sei, sondern auch des Dichtens. Kunst entstehe nämlich, sagt Goethe, dann, wenn der

91 Vgl. Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität. 92 Daniel Fulda: Wissenschaft als Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860. Berlin, New York 1996, S. 4. 93 Vgl. z.B. Helmar Schramm (Hg.): Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst. Berlin 2003. 94 Friedrich Wilhelm Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. (1873) www.textlog.de/455-2.html (11. April 2011). 95 Friedrich Wilhelm Nietzsche: Morgenröte. Messina. Die fröhliche Wissenschaft. In: Friedrich Wilhelm Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988, S. 343-652. 96 Giorgio Colli: Nachwort. In: Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, S. 660. 97 Gerhard Hard: Geographie als Kunst. Zur Herkunft und Kritik eines Gedankens. In: Erdkunde, Band 18, Nummer 4. Bonn 1964, S. 336-341. 98 Hard: Geographie als Kunst, S. 336.

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Dichter »der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit« empfange, und zwar »aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit«.99 Diese Feststellung Goethes entspreche allgemein, so Hard, den Dogmen der zeitgenössischen Kunsttheorie, wonach Kunst auf Wahrheit gründen müsse. Goethe steht für Hard schon als Person reziprok für die zweiseitige Suche nach der Wahrheit: als Künstler und Wissenschaftler. Tatsächlich soll das Gedicht »Zueignung« auf ein Naturerlebnis Goethes im sich lichtenden Nebel zurückgehen, das er im Sommer 1784 anlässlich einer seiner geologischen Exkursionen in den Thüringer Wald hatte.100 Hard erwähnt diese Koinzidenz von künstlerischer und wissenschaftlicher Inspiration zwar nicht, doch sie markiert genau jene Parallelität, die er meint. Wie wichtig Goethe naturwissenschaftliche Erkenntnis für sein Dichten war, zeigt sich auch in seinem Aufsatz »Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil«.101 Goethe beschreibt darin, wie der Künstler nur »durch genaues und tiefes Studium der Gegenstände selbst« einen »Stil« erreiche, den der Autor als Ideal begreift, weil er »auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge«102 ruhe. »Goethe setzt hier […] höchste Kunst und tiefste wissenschaftliche Erkenntnis in eins, beschreibt die ›stilvolle Kunst‹ […] als eine die exakte Wissenschaft (im Sinne der Zeit) einschließende und übersteigende Deutung der Erkenntnis der Dinge«.103 Hard fügt an, Goethe finde seine Beispiele dafür »vor allem unter den großen Landschaftsmalern«,104 legt aber nicht offen, worauf er sich bezieht. Goethe nennt in seinem Text explizit das Beispiel »leicht fasslicher Gegenstände, (wir wollen hier zum Beispiel Blumen und Früchte nehmen)«.105 Wesentlich deutlicher ist der Bezug auf die Landschaftsmalerei bei der zweiten Gewährsperson Hards, Carl Gustav Carus. Carus, auch eine Mehrfachbegabung und ein Anhänger Goethes, war promovierter Mediziner, promovierter Philosoph und autodidaktischer Maler. 1815-1824 verfasste er neun »Briefe über Landschaftsma-

99

Johann Wolfgang von Goethe: Zueignung. In: Johann Wolfgang von Goethe: Gedichte. Kommentiert von Erich Trunz. München 1998, S. 149-152, hier S. 152.

100 Vgl. Nicholas Boyle: Goethe: der Dichter in seiner Zeit. Aus dem Engl. übers. von Holger Fließbach. München 1995, S. 433. 101 Johann Wolfgang von Goethe: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil. In: Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. Band 12. München 1994, S. 30-34. 102 Goethe: Einfache Nachahmung, S. 32. 103 Hard: Geographie als Kunst, S. 336. 104 Hard: Geographie als Kunst, S. 336. 105 Goethe: Einfache Nachahmung, S. 32.

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lerei«,106 die 1831 erstmals erschienen. In ihnen schrieb er sein interdisziplinäres Credo nieder und zeigte am Beispiel der »Wolkengedichte« Goethes, wie der Kunst »vollkommen wissenschaftliche Erkenntnis gewisser Lebensvorgänge«107 vorausgehen müsse, »langer, ernster, atmosphärologischer Studien«108 in diesem Fall, so dass endlich »die Kunst als Gipfel der Wissenschaft«109 erscheinen könne. Die Germanistin Jutta Müller-Tamm weist darauf hin, dass es Carus »in erster Linie nicht um eine praktische Anleitung der Landschaftsmaler ging«,110 was in der zeitgenössischen Rezeption auch explizit bemängelt worden sei. Vielmehr handle es sich bei Carus’ »Idee einer Verbindung von Kunst und Naturwissenschaft um ein allgemeines, die Kunstarten übergreifendes ästhetisches Programm«.111 MüllerTamm sieht in Carus einen Augenzeugen des beschriebenen Interferenz-Phänomens zwischen Kunst und Wissenschaft »um 1800«,112 und zwar einen, der, weiterhin physikalisch gesprochen, eine »konstruktive Interferenz« beobachtet.113 In »konstruktiven Interferenzen« löschen sich aufeinander treffende Wellen gegenseitig nicht aus, sondern die Amplituden verstärken sich, so dass ein neues Muster entsteht, in Goethes Terminologie: »Stil«. Und weil Carus’ »Briefe über Landschaftsmalerei« nicht nur einen deskriptiven, sondern doch auch normativen Charakter haben, ist er Augenzeuge und Verursacher von »konstruktiven Interferenzen« zugleich: »Carus’ Programm der Synthese von Kunst und Wissenschaft reagiert einerseits auf den geschichtlichen Wandel der Bedingungen ästhetischer Produktivität: in einem Zeitalter, in dem philosophisches Wissen und wissenschaftliche Erkenntnis dominieren, wird auch für die Kunst eine solche Reflexionshaltung gefordert. […] Die Konvergenz von Kunst und Wissenschaft entspricht andererseits dem Begehren nach einer objektiven und naturverbundenen Kunst.«114

106 Carl Gustav Carus: Briefe über Landschaftsmalerei: zuvor ein Brief von Goethe als Einleitung. Heidelberg 1972. 107 Carus: Briefe, S. 106. 108 Carus: Briefe, S. 106. 109 Carus: Briefe, S. 107. 110 Jutta Müller-Tamm: Kunst als Gipfel der Wissenschaft. Ästhetische und wissenschaftliche Weltaneignung bei Carl Gustav Carus. Berlin 1995, S. 156. 111 Müller-Tamm: Kunst als Gipfel, S. 156. 112 Vgl. Lange, Neumeyer (Hg.): Kunst und Wissenschaft. 113 Vgl. z.B. Christian Kruisz, Regina Hitzenberger: Physik verstehen. Wien 2005, S. 179. 114 Müller-Tamm: Kunst als Gipfel, S. 166f.

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Carus forderte, so Müller-Tamm, dass sich die Kunst durch Wissenschaft wieder einer emphatischen Naturunmittelbarkeit annähere. Dies setze eine Wissenschaft voraus, »die in der unmittelbaren Anschauung wurzelt und im Besonderen das Allgemeine entdeckt, die nicht Distanz zum Objekt, sondern Vertrautheit mit der Natur und Achtung hervorruft«.115 Carl Gustav Carus’ »Briefe über Landschaftsmalerei« waren demnach mehr als eine bloße Malanleitung. Trotzdem versuchte der Autor selber, nach seinem Ideal zu gestalten. Er tat dies derart, dass manche seiner Bilder von der Forschung noch lange Zeit Caspar David Friedrich zugeschrieben wurden, mit dem er tatsächlich befreundet war.116 Friedrich selbst teilte Carus’ Ansichten allerdings nicht. Er lehnte eine Bitte Goethes, einige Wolken zu zeichnen und zu malen, ab, weil er fürchtete, die erforderlichen naturwissenschaftlichen Studien könnten seine Freiheit als Landschaftsmaler einschränken.117 In Dresden, im näheren Umfeld von Carus, findet Gerhard Hard weitere Künstler, die sich an dessen Schriften orientierten und »sich um Poetisierung und Verklärung einer naturwissenschaftlich ›richtig‹, auf Grund der Einsicht in ursächliche Zusammenhänge ›wesengemäß‹ erfassten Landschaft bemühten«.118 Hard stellt fest, dass diese Künstler keinen »naive[n] Naturenthusiasmus«, sondern eine gewisse »Distanz« pflegten. Diese »verlangte nach Klarheit in Begriff und Idee. Man wollte wissenschaftlich verstehen, was man malte und dichtete«.119 Die Landschaftsmalerei, so wie sie Carus verstand, führte Wissenschaft und Kunst zusammen und der Begriff, in dem sie sich fanden, war die »Landschaft«. Auch unter Wissenschaftlern findet Gerhard Hard diese Gedanken. Ähnlich, aber deutlicher von der Seite der Geographie her, argumentierte nämlich fast zur selben Zeit Georg Ludwig Kriegk. Von Hause aus Historiker, engagierte sich Kriegk auch in der geographischen Forschung, der Völkerkunde und der Archäologie. In seinen 1840 in Leipzig erschienenen »Schriften zur allgemeinen Erdkunde« befasste er sich, neben »Witz, Scherz und Spott« in der Geographie, mit »ästhetischer Geographie«.120 Die »ästhetische Geographie« ist für Kriegk das Fundament einer Wissenschaft, die er erst im Entstehen begriffen sieht, die aber »in ihrer einstigen Vollendung eines der herrlichsten Werke menschlicher Geisteskräfte sein

115 Müller-Tamm: Kunst als Gipfel, S. 167. 116 Vgl. Anton Philipp Knittel: Carl Gustav Carus – Eine biografische Skizze. S. 5. www. goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/carus/knittel_carus.pdf (11. April 2011). 117 Vgl. Oskar Bätschmann: Entfernung der Natur. Landschaftsmalerei 1750-1920. Köln 1989, S. 56. 118 Hard: Geographie als Kunst, S. 337. 119 Hard: Geographie als Kunst, S. 338. 120 Vgl. Georg Ludwig Kriegk: Schriften zur allgemeinen Erdkunde. Leipzig 1840.

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wird«.121 Kriegk spricht von »Ethnographie«,122 denn letztlich sei der Mensch das eigentliche Forschungsziel jedes Wissenschaftlers und also auch des Geographen, der sich deshalb auf die Untersuchung des »Zusammenhang[s] des Menschen mit der Natur im Allgemeinen und im Einzelnen«123 zu konzentrieren habe. Zur Begründung dieses Gedankens liefert Kriegk ein Paradebeispiel naturdeterministischer Argumentation: »Die Erdoberfläche wirkt – das ist allgemein anerkannt – nach ihrer großen Verschiedenartigkeit sehr verschieden auf ihre Bewohner: mag man nun das körperliche Befinden derselben und ihre äußere Lebensweise beachten, oder ihre moralische Kraft, ihre intellectuelle Thätigkeit, ihren kunstbildenden Sinn und alle anderen Arten oder Nüancen ihres inneren Daseins. Der Mensch ist […] überall von der ihn umgebenden Natur abhängig; er ist nicht ein Sohn der Erde überhaupt, sondern eines bestimmten Theiles derselben, oder mit anderen Worten, er hat ein Vaterland, und dieses gab ihm nicht blos sein Dasein, sondern auch eine bestimmte Art desselben, und hält ihn wie mit einem geheimen Zaubernetz von unzähligen Fäden umfangen.«124

Die Aufgabe des Geographen ist es nun herauszufinden, wie die geographische Umgebung sich auf die Menschen niederschlägt. Daraus ergeben sich auch die Aufgaben der »ästhetischen Geographie«: »Die für die Betrachtung interessanteste Beziehung der Natur auf den Menschen ist die Einwirkung auf sein Gemüth oder ihr Verhältnis zu dem, was wir die vorherrschende Stimmung der Bewohner eines Landes nennen. Diese hängt vorzugsweise von der Naturbeschaffenheit desselben ab, und gibt daher Anlass zu einer besonderen erdkundlichen Betrachtung, die man mit dem Namen ästhetische Geographie belegen kann.«125 Kriegks »ästhetische Geographie« sollte also den Charakter der einzelnen »Zonen der Erde« und seine Wirkung auf die Menschen erforschen, und zwar im Hinblick auf deren Stimmung und »inneres Leben«.126 Zu diesem Zweck führte Kriegk Wissenschaft und Kunst zusammen, denn beide hatten, so schien ihm, dasselbe Erkenntnisinteresse: »Das, was der echte Landschaftsmaler mit dem Pinsel, der Sänger der Natur in Worten darzustellen sich bestrebt, ist eben dieser, mit dem menschlichen Gemüthe in der innigsten Bezie-

121 Kriegk: Schriften, S. 223. 122 Kriegk: Schriften, S. 223. 123 Kriegk: Schriften, S. 223. 124 Kriegk: Schriften, S. 224. 125 Kriegk: Schriften, S. 224f. 126 Kriegk: Schriften, S. 225.

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hung stehende, ästhetische Charakter der Länder; und die Schilderungen des Geographen ermangeln des eigentlichen Gehaltes und ihres schönen Schmuckes, wenn derselbe nicht gleich jenen die Züge dieses Charakters zu erfassen vermag. Die Phantasie des Dichters und Künstlers und der forschende Geist des Gelehrten haben hierin Einen [sic!] Gegenstand der Betrachtung und eine und dieselbe Absicht der Darstellung und Wissenschaft und Kunst begegnen sich hierbei als verschiedenartig schaffende Schwestern in der gleichen Bestrebung.«127

Zur Deckung kommt die Verwandtschaft von Kunst und Wissenschaft im Untersuchungsgegenstand: in der Landschaft. Eine solche ist für Kriegk jeder »durch einen bestimmten ästhetischen Charakter sich als etwas Besonderes abschließende[n] Theil der Erde«, unabhängig von dessen Größe, solange der entsprechende Erdteil »gewisse gemeinschaftliche Züge« aufweist.128 Den »ästhetische[n] Charakter« wiederum bestimmt Kriegk als die »Wirkung des betreffenden Gegenstandes auf das Gemüth oder nach der Stimmung, welche derselbe in uns erregt, und zwar nicht blos nach einem solchen Verhältnis desselben zu dem Gefühl des Schönen, sondern zu unserem Inneren im Ganzen überhaupt«.129 In Kriegks Augen sind es die Landschaftsmaler, die es am besten verstehen, diesen Eindruck, die Wirkung einer Landschaft, einzufangen. Deshalb sind für ihn »die Bilder eines Wynants, eines Rugendas« Objekte »belehrender Anschauung«.130 Gemeint sind vermutlich der niederländische Landschaftsmaler Jan Wijnants und der deutsche Maler und Forschungsreisende Moritz Rugendas. Kriegk ist überzeugt, gäbe es Darstellungen dieser Art »des Haupt-Charakters der Länder in besonderen Gemälden«, sie würden »die wissenschaftliche Erkenntnis der Erde beleben und unterstützen!«.131 Carus und Kriegk sind anschauliche Beispiele für die Überlagerung von Kunst und Geographie. Im Zentrum dieser Überlagerung steht der Begriff »Landschaft«. Er ist sowohl für die Geographie als auch für die Kunst – und da besonders für die Malerei – ein Schlüsselbegriff. Die Produktivität beider Wissenssysteme entfachte sich an der »Landschaft«, den Geographinnen war sie Untersuchungsgegenstand, den Malern Gegenstand der Darstellung. So entstanden um die »Landschaft« Subsysteme, Wissenschafts- und Kunstgenres, die für eine bestimmte Zeit einen Führungsanspruch in ihrem Bereich geltend machten und sich, weil Kunst und Wissenschaft durch sie interferieren, in dem Anspruch gegenseitig stützten. Eines war die Landschaftsgeographie, das andere, ältere, die Landschaftsmalerei. Ihre Entstehung ist eng mit der Ursprungsfrage von Landschaft überhaupt verbunden. Das gilt aller-

127 Kriegk: Schriften, S. 225. 128 Kriegk: Schriften, S. 228. 129 Kriegk: Schriften, S. 228. 130 Kriegk: Schriften, S. 225. 131 Kriegk: Schriften, S. 226.

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dings auch für einen berühmten literarischen Text, auf den im Folgenden kurz eingegangen werden soll, noch bevor dann die Landschaftsmalerei zur Sprache kommt.

4.3 PETRARCA AUF DEM MONT VENTOUX Als Meilenstein in der Entwicklung eines ästhetischen Naturempfindens gilt nach wie vor der Bericht der »Besteigung des Mont Ventoux« von Francesco Petrarca.132 Selbst wenn das Wort »Landschaft« darin nicht vorkommt, gehört der Text in der traditionellen Deutung zu den Präliminarien des ästhetischen Landschaftskonzepts oder wird sogar als eigentliche Gründungsurkunde betrachtet. Anhand dieses Dokuments stellt sich kurzerhand die Frage, ob Landschaft sozusagen »erfunden« werden könne. Verantwortlich für die Petrarcas Epistel zugeschriebene epochale Bedeutung ist vor allem Jacob Burckhardt.133 Für ihn war Petrarca ein wichtiger Bürge für seine Renaissance-Theorie und der fragliche Text fungiert dabei als Wegweiser für die diffizile kulturhistorische Grenzziehung zwischen Mittelalter und Neuzeit.134 Spezifischer steht Petrarcas Bericht emblematisch für ein neues Verständnis der Menschen für die Natur, das mit einer kulturgeschichtlichen Epochenwende in Verbindung gebracht wird. Joachim Ritter zum Beispiel baute 1962 seine ganze Untersuchung des modernen Landschaftsempfindens auf der Analyse des Textes auf.135 Ritters These lautet, dass Natur nur in Freiheit unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft als Landschaft gesehen werden könne. Petrarca repräsentiert für ihn diese moderne Gesellschaft, was historisch, selbst nach Ritters eigenen Maßstäben, in keiner Weise haltbar ist. Petrarca lebt nicht unter jenen Umständen, die für Ritter die »moderne Gesellschaft« ausmachen: die Trennung und Entfremdung der Menschen von der Natur durch den objektivierenden Umgang mit derselben durch die Wissenschaften, die Technik und die mit deren Hilfe industrialisierte Produktionsweise. »Aber gegen historisch orientierte Fragen ist die philosophiegeschichtlich

132 Francesco Petrarca: Die Besteigung des Mont Ventoux. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Kurt Steinmann. Stuttgart 1995. 133 Vgl. Elke Waiblinger: Augenlust und Erkundung der Seele – Francesco Petrarca auf dem Mont Ventoux. In: Laetitia Rimpau, Peter Ihring (Hg.): Raumerfahrung, Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident. Berlin 2005, S. 179-193. 134 Vgl. Jacob Burckhardt: Die Cultur der Renaissance in Italien. Basel 1860. 135 Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Joachim Ritter: Subjektivität. Frankfurt a.M. 1974, S. 141-163.

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fundierte Theorie Ritters weitgehend immun, da sie in erster Linie als eine funktionale Theorie und nicht als eine genetische zu verstehen ist.«136 Als besonders bedeutend wurde Petrarcas Mitteilung verstanden, er habe den Berg aus reiner Neugierde bestiegen, »allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen«.137 Viele Interpreten deuten diese Stelle als Beweis für das, im Sinne Kants, genuin ästhetische, weil distanzierte und nicht an einen Zweck gebundene Interesse Petrarcas für die Natur.138 Nach eigenen Angaben ließ er sich durch Livius zu diesem Unterfangen anregen. Tags zuvor will er in dessen römischer Geschichte »Ab urbe condita«139 von der Besteigung des damals Haemus genanten Balkangebirges durch den Makedonierkönig Philipp gelesen haben. Dessen Grund, den Aufstieg zu machen, sei das Verlangen gewesen zu erfahren, ob das Gerücht stimme, von den Gipfeln des Gebirges könne man zwei Meere sehen, nämlich das Adriatische und das Schwarze – und dazu noch die Donau und die Alpen, wie es bei Livius tatsächlich heißt. Dieser ist der Meinung, Philipps Interesse sei militärstrategischer Natur gewesen.140 Davon unterschied sich Petrarcas Motivation, und deshalb wurde seiner Wanderung im Nachhinein die besagte epochale Bedeutung zugeschrieben. Der Text steht am Anfang des von Petrarca ab 1353 zusammengestellten IV. Buches der Briefsammlung »Familiarum rerum libri« und wird darum kurz »Familiares IV.1« genannt. Petrarca legt in seiner Epistelsammlung großen Wert auf Selbstdarstellung und hatte keine Hemmungen, seinen Lebenslauf zweckdienlich zu schönen, wobei ihm das Leben Augustinus’ immer als Bezug diente. Die »Familiares« sind ein prägendes Element der autobiographischen Legendenbildung Petrarcas.141 In diesem Zusammenhang ist auch der Ventoux-Brief zu sehen, wie die philologische, intertextuell orientierte Exegese nahe legt, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat – ohne dass der Text schlussgültig ausgelegt worden wäre. Ebenso in Zweifel steht die Datierung, und damit stellt sich insgesamt die Frage, wie viel an Petrarcas Brief wahr ist. Jüngst ist der Petrarca-Biograph Karlheinz Stierle wieder von einer authentischen Schilderung ausgegangen, nach-

136 Ruth Groh, Dieter Groh: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt a.M. 1991, S. 107. 137 Petrarca: Mont Ventoux, S. 5. 138 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hamburg 2006. 139 Livius: Römische Geschichte. Lateinisch-deutsch. Hg. von Hans Jürgen Hillen und Josef Feix. Darmstadt 1974-2000. 140 Vgl. Petrarca: Mont Ventoux, S. 34. 141 Vgl. Lyell Asher: Petrarch at the Peak of Fame. PMLA Vol. 108, Nr. 5 (Oktober 1993), S. 1050-1063.

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dem diese Annahme in der Forschung eigentlich schon als erledigt gegolten hatte.142 Die folgenden Überlegungen verhalten sich der Epistel gegenüber entsprechend skeptisch. Wahrscheinlich hat Petrarca den Text Jahre nach der Besteigung des Mont Ventoux geschrieben. Er datierte den Brief vor, auf den 26. April 1336, und suggerierte, ihn am Abend, nach der Rückkehr von seiner Tour, »in Eile und aus dem Stegreif«143 verfasst zu haben, und zwar noch bevor er etwas gegessen hatte. Der Bericht erscheint so als spontane Wiedergabe überwältigender Erlebnisse über den Tag. Vieles spricht gegen diese Annahme. Das liegt in der Form des Berichts selber begründet. Es handelt sich um einen ausgefeilten, stark referenziell aufgebauten Text, der den eigenen, vorgestellten Entstehungsbedingungen widerspricht, »wie wenn es kaum länger gebraucht hätte, den hochartifiziellen und ungemein dichten […] Text zu schreiben als ihn zu lesen«.144 Darin liegt die Ambivalenz des Dokuments. Es ist eine komplexe Mischung aus fiktionalen und historischen Elementen. Der Text ist ebenso allegorisch wie dokumentarisch aufgebaut, einige Stellen könnten auf konkret Erlebtes verweisen, andere zitieren andere Texte und stellen sich so in einen Zusammenhang, der das Ganze oder einzelne Passagen als Gleichnis erscheinen lässt. Was ist Bericht und was Reflexion?145 Ruth und Dieter Groh sind der Meinung, die Tatsache, dass sich erzählte Geschichte »aus res fictae und res factae« zusammensetze und also »Faction« sei, gelte für Petrarca »in gesteigerter Form«.146 Billanovich, der zahlreiche Bezüge zu späteren Werken Petrarcas nachweist, ist der Meinung, der Text sei erst 1353 entstanden.147 Viele intertextuelle Bezüge deuten darauf hin, dass Petrarca auf seine große Bibliothek zurückgriff und seine eigenen nach 1336 notierten Bemerkungen einfließen ließ. Bezeichnenderweise suchte

142 Vgl. Karlheinz Stierle: Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts. München 2003. 143 Petrarca: Mont Ventoux, S. 29. 144 Dieter Mertens: Mont Ventoux, Mons Alvernae, Kapitol und Parnass. Zur Interpretation von Petrarcas Brief Fam. IV, 1 »De curis propriis«. In: Andreas Bihrer (Hg.): Nova de veteribus: mittel- und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmidt. München 2004, S. 713-734, hier S. 718. 145 Vgl. Enrico Straub: Bericht und Reflexion in Petrarcas Ventoux-Epistel (Familiares IV, 1). In: Klaus W. Hempfer, Enrico Straub (Hg.): Italien und die Romania in Humanismus und Renaissance. Wiesbaden 1983, S. 270-288. 146 Ruth Groh, Dieter Groh: Die Außenwelt der Innenwelt. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt a.M. 1996, S. 26. 147 Vgl. Giuseppe Billanovich: Petrarca und der Ventoux. In: August Buck: Petrarca. Darmstadt 1976, S. 444-463.

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Petrarca die Übereinstimmung mit der Biographie des von ihm verehrten Augustinus. Er datierte die Epistel in sein 33. Lebensjahr, in dasselbe Alter also, in dem Augustinus sein Bekehrungserlebnis gehabt hatte. Der »fast fünfzigjährige Dichter, an der Schwelle des Lebensalters der gravitas stehend und auf seine Jugend als Folge von Krisen und Verfehlungen zurückblickend, schreibt damit mit der VentouxEpistel gleichsam seinen Lebensbrief«,148 wie der Komparatist Michael Jakob meint. Diese reale Datierung Billanovichs in das Jahr 1353 hat sich in weiten Teilen der philologischen Interpretation durchgesetzt. Die Parallelität des Alters von Petrarca und Augustinus ist freilich nicht die einzige zahlensymbolische Konstruktion innerhalb des Briefes. Ruth und Dieter Groh weisen ein »ausgeklügeltes Gerüst zahlensymbolischer Bezüge […], basierend auf den heiligen Zahlen 3, 6 und 10«149 nach und kommen zum Schluss, es müsse sich »um ein fiktives Dokument einer idealisierten Autobiographie«150 handeln. Für sie spricht alles »dafür, dass der Bericht von der Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336 fingiert ist. Ob Petrarca den Berg oder einen von vergleichbarer Höhe je bestiegen hat und mit wem, darüber gibt es nur Vermutungen.«151 Petrarca adressiert den Brief an seinen Freund Dionigi da Borgo Sansepolcro, einen Augustiner-Eremiten aus Sansepolcro, der ihm, als sein ehemaliger Beichtvater, einst ein Exemplar von Augustinus’ »Confessiones« geschenkt hatte, das Petrarca immer bei sich trug und das ihn auch auf seiner Wanderung auf den Mont Ventoux begleitete.152 Dionigi war für Petrarca aber nicht nur der Mittelsmann zu Augustinus, sondern auch zum neapolitanischen Hof, was für die Krönung Petrarcas zum »Poeta Laureatus« 1341 in Rom wichtig war. Insofern ist Dionigi mitverantwortlich für die kunstgeschichtliche Positionierung Petrarcas, was diesem klar sein musste. Wohl auch darum schrieb er Dionigi, zehn Jahre nach dessen Tod als Bischof von Monopoli, einen letzten Brief – jenen von der Besteigung des Mont Ventoux, »Familiares IV.1«. Auch das spricht für den »Selbstentwurf eines idealisierten Ich, realisiert als literarische Schöpfung«.153 Petrarca berichtet, wie er in Begleitung seines Bruders Gherardo und mit zwei Bediensteten von Malaucène aus, das am Fuße des Ventoux liegt, den Berg bestiegen haben will. Der Weg des Verfassers verläuft nicht geradlinig. Petrarca verliert

148 Michael Jakob: Das Gebirge, das Heilige, das Erhabene. In: Stephan Kunz, Beat Wismer, Wolfgang Denk (Hg.): Die Schwerkraft der Berge 1774-1997. Basel, Frankfurt a.M. 1997, S. 75-81, hier S. 77. 149 Groh, Groh: Außenwelt, S. 23. 150 Groh, Groh: Außenwelt, S. 22. 151 Groh, Groh: Außenwelt, S. 25. 152 Vgl. Dieter Mertens: Mont Ventoux, S. 717. 153 Groh, Groh: Außenwelt, S. 26.

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sich im Gelände und in Gedanken über sein bisheriges Leben. Endlich auf dem Gipfel angekommen, zeigt er sich überwältigt von dem, was er sieht: die Wolken unter ihm, die Alpen, den Golf von Marseille, die Rhone. In der Art des Bibelstechens schlägt er dann seinen Augustinus auf und findet dort an erstbester Stelle die Mahnung: »Und es gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge und die gewaltigen Fluten des Meeres und das Fließen der breitesten Ströme und des Ozeans Umlauf und die Kreisbahnen der Gestirne – und verlassen dabei sich selbst.«154 Erschüttert von diesem Wink verstummt Petrarca und wendet seinen Blick nach innen, seiner eigenen Seele zu, die er nun viel schöner findet als alles, was ihm außerhalb seiner selbst begegnet. Ohne ein Wort zu sprechen, steigt er vom Ventoux ab, bereichert um die Erkenntnis, die eigentlich lohnenden Mühen führten den Menschen nicht auf den Gipfel irgendeines Berges, sondern die Seele zu Gott. So nimmt Petrarca sein Interesse an der Außenwelt gleich wieder zurück. Die ästhetisch gestützte Freude am Panorama, die vorausweisen soll auf das Landschaftssehen der kommenden Epoche, steht gegen die konservative, »augustinisch gefärbte Reflexion mittelalterlicher Verneinung«.155 Aber dass Petrarca sich unter Zuhilfenahme von Augustinus verbietet, sich der Welt zuzuwenden, beweist seinen Wunsch, genau das zu tun. Er durfte die Landschaft nicht sehen, das sagte ihm, glaubte er, Augustinus. Aber wenn er nicht durfte, konnte und wollte er offensichtlich. Petrarca hatte die Landschaft gesehen und Freude daran gehabt. Somit war die Tür in ein neues Zeitalter aufgestoßen und Petrarcas Nachfolger brauchten, gemäß jener Exegeten, die in dem Text ein »Denkmal auf der Schwelle zur Neuzeit«156 sehen, nur noch hindurch zu gehen. Trotzdem stellt gerade die Augustinus-Stelle die Frage nach der Originalität Petrarcas. Wovon spricht Augustinus? Die Stelle stammt aus dem achten Kapitel des zehnten Buches der »Confessiones«.157 Augustinus beschreibt dort in metaphorischen Worten das Gedächtnis. Er staunt darüber, wie viele Bilder, die über die Sinne hereingekommen sind, dort lagern und wie sie auf einen wirken. Unendlich groß sei das Gedächtnis, eine Kraft der Seele und doch größer als sie. Augustinus wundert sich darüber, wie ununterscheidbar von den realen Gegenständen die Gegenstände des sinnlichen Eindrucks einmal seien, wenn sie im Gedächtnis angelangt sind. Er könne mit den Menschen von Dingen sprechen, die ihm gar nicht vor

154 Petrarca: Mont Ventoux, S. 25. 155 Kurt Steinmann: Grenzscheide zweier Welten – Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux. In: Petrarca: Mont Ventoux, S. 39-49, hier S. 39. 156 Steinmann: Grenzscheide, S. 48. 157 Vgl. Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Aus dem Lateinischen übersetzt und herausgegeben von Kurt Flasch. Stuttgart 2008.

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Augen stünden, ja, die er noch nicht einmal je gesehen habe, sondern von denen er nur gehört habe, und keiner merke es, so stark sei die Kraft des Gedächtnisses. Die Dinge seien nicht in ihm, nur die Bilder davon, die durch einen Sinn in ihn eingedrungen seien. Aber das genüge völlig, um sie vor den Augen anderer in Erscheinung treten zu lassen. Und offensichtlich konnte er damit rechnen, dass schon zu seiner Zeit diese anderen sich für die Erscheinungen der physischen Welt wie »Höhen der Berge«158 begeistern konnten – oder für die Bilder davon. Petrarca selbst macht eine Verbindung zum Gedächtnis, lässt sich aber im ersten Moment von der Realität überwältigen. Auf dem Gipfel des Ventoux angelangt, stellt er einen erstaunlichen Bezug zur Kunst her. Er denkt an den Athos und den Olymp, deren Ruhm, »das, was ich über sie gehört und gelesen«, er aber verblassen sieht angesichts dessen, was er hier, »auf einem Berg von geringerem Ruf zu sehen« bekomme.159 Offenbar spielt für Petrarca das, was er aus der Kunst über die Natur weiß, eine Rolle. Ganz ähnlich wie das, was er gerade dabei ist zu schreiben, für alle Späteren im Hinblick darauf, was sie von Landschaft zu wissen glauben, entscheidend werden soll. Der Natur gegenübergestellt, erinnert sich Petrarca an die künstlerisch hergestellte Natur in ihm. Augustinus und Petrarca betonen demnach beide die Prekarität des Verhältnisses von Innen- und Außenwelt, von Weltwahrnehmung und Weltkonstruktion mittels Erinnerung, Gedächtnis, Erzählung und Kunst. Beide Seiten hängen voneinander ab, die Bestimmung von Wahrheit ist über ästhetisches Empfinden nicht zu leisten. Weil das in Bezug auf die Natur beiden – Petrarca und Augustinus – klar ist, deutet wenig darauf hin, dass Petrarca dieses ästhetische Empfinden auf dem Mont Ventoux erfunden hat. Die Frage nach der Originalität lässt sich aber nicht nur im Hinblick auf Petrarcas Erleben, sondern auch im Hinblick auf das Unternehmen selbst – die Besteigung des Ventoux – stellen. Unterwegs begegnen Petrarca, sein Bruder und die beiden Begleiter nämlich einem alten Hirten, der ihnen von der Besteigung abrät. Er habe den Ventoux vor 50 Jahren selber erklommen, von dort oben aber nichts als »Reue und Mühsal und einen von Felszacken und Dornsträuchern zerfetzten Leib und Mantel«160 zurückgebracht. Seither habe kein anderer den Aufstieg gewagt. Aber die Warnung geht fehl. In Petrarca wächst »am Verbot das Verlangen«161 und er lässt sich von dem Hirten einen Weg zum Gipfel zeigen. Es kann also – vorausgesetzt, der Hirte ist keine allegorische Figur162 – keine Rede davon sein, Petrarca

158 Petrarca: Mont Ventoux, S. 25. 159 Petrarca: Mont Ventoux, S. 17. 160 Petrarca: Mont Ventoux, S. 9. 161 Petrarca: Mont Ventoux, S. 9. 162 Vgl. z.B. Aura Maria Heydenreich: Wachstafel und Weltformel. Erinnerungspoetik und Wissenschaftskritik in Günter Eichs »Maulwürfen«. Göttingen 2007, S. 80. Und Hans-

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sei der Erste auf dem Mont Ventoux gewesen, und selbst sein Motiv unterscheidet sich nicht von dem des Hirten. Den hatte damals ebenso nichts als die Neugierde getrieben. Da er es aber versäumte, seine Erlebnisse aufzuschreiben, wohl, weil er gar nicht dazu in der Lage war, und weil es die Nachwelt, abgesehen von Petrarca, versäumte, seine mündlichen Berichte festzuhalten, weiß niemand, welcher Art diese Neugier war und ob am Ende der alte Hirte sogar ästhetisch empfand. Damit nicht genug. Vermutlich täuschte sich der Hirte – oder der Autor des Berichts –, als er meinte, nach ihm und vor Petrarca habe keiner den Gipfel des Ventoux betreten. Der französische Gelehrte Jean Buridan hatte nämlich nur wenige Jahre zuvor meteorologische Studien in der Gegend unternommen und soll bei dieser Gelegenheit auch auf den Mont Ventoux gelangt sein.163 Der amerikanische Historiker Lynn Thorndike, der diesen Hinweis liefert, verweist auch auf ein 1910 erschienenes Werk von Gertrud Stockmayer, die verschiedene Beschreibungen von Bergbesteigungen in der deutschen Literatur des 10. und 11. Jahrhunderts nachweist.164 Zwar sind diese Touren oft an einen Zweck gebunden, trotzdem findet sie, aus einigen Stellen gehe »klar hervor, dass die jeweiligen Verfasser selbst auch die Schönheit ihrer Berge erkannt haben«.165 Thorndike wiederum beurteilt Petrarcas Erzählung generell mit einer gewissen Zurückhaltung, weil ihn dessen Leistung, einen knapp 2.000 Meter hohen Berg zu erklimmen, nicht besonders beeindruckt: »So that all Petrarch’s account proves is his capacity for storytelling and his abilitiy to make a mountain out of a molehill.«166 Thorndikes Gedanke dreht die gängige skeptische Argumentation praktisch um. Was er sagt, ist nicht: Der Text ist zu elaboriert, um nach einem solchen Marsch geschrieben worden zu sein. Er sagt im Gegenteil: Der Text ist schwierig, dann kann der Aufstieg nicht so hart gewesen sein. Ein solches Aufheben darum zu machen und dem Bericht epochale Bedeutung zuzuschreiben, ist in Thorndikes Augen insofern überhaupt nicht gerechtfertigt. Er verschweigt allerdings, dass der Ausgangspunkt von Petrarcas Wanderung, die Ortschaft Malaucène, nur 350 M. ü. M. liegt, so dass sich

Henning Kortüm: Menschen und Mentalitäten. Einführung in Vorstellungswelten des Mittelalters. Berlin 1996, S. 222. 163 Lynn Thorndike: Renaissance or Prenaissance? In: Journal of the History of Ideas. Vol. 4, Nummer 1 (Januar 1943), S. 65-74. Vgl. auch: Claude Thomasser, Danièle JamesRaoul (Hg.): La montagne dans le texte médiéval. Entre mythe et réalité. Paris 2000, S. 44. Und Marjorie Hope Nicolson: Mountain Gloom and Mountain Glory. The Development of the Aesthetics of the Infinite. Washington 1997, S. 49. 164 Gertrud Stockmayer: Über Naturgefühl in Deutschland im 10. und 11. Jahrhundert. Leipzig 1910. 165 Stockmayer: Naturgefühl, S. 40. 166 Thorndike: Renaissance or Prenaissance, S. 72.

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Auf- und Abstieg auf immerhin 3.300 Höhenmeter in einem Tag summieren. Zudem hatte die kleine Reisegruppe bereits am Vortag eine lange Wanderung hinter sich gebracht. Sie war von Avignon nach Malaucène gekommen, eine Strecke von etwa 35 Kilometern Luftlinie, Billanovich schätzt an die 50 Kilometer Marschdistanz.167 Thorndikes Einschätzung ist hart, hat aber etwas für sich. Sie steht im allgemeinen Zusammenhang mit seinem Disput gegen Jacob Burckhardt. Thorndike lehnte Burckhardts historische Periodisierungsthese ab, dergemäß die Renaissance als eigene, sich von allem Vorausgehenden und Nachfolgenden konstitutiv unterscheidende Epoche zu betrachten sei. Thorndike sah alle vermeintlich neuen Entwicklungen dieser Zeit bereits im 12. und 13. Jahrhundert angelegt. Er liest die Geschichte im Hinblick auf ihre Kontinuität und betont nicht den Umbruch, den Burckhardt im Quattrocento sieht. Folgerichtig stellt Familiares IV.1 für ihn auch kein Zeugnis einer Epochenschwelle dar. Aber genau in dieser unterstellten »Überschreitung einer vorgängigen mittelalterlichen Matrix«168 liegt das die hermeneutische Rezeptionstradition dominierende Verständnisschema der Petrarca-Epistel. Insofern mag aus philologischer Perspektive richtig sein, auf die Beantwortung der Frage, ob Petrarca den Mont Ventoux wirklich bestiegen hat, zu verzichten, wie Martens vorschlägt: »Der Streit über die Fiktionalität einer Besteigung des Mont Ventoux überhaupt und die ausschließliche Allegorisierung erscheint deshalb wenig fruchtbar, weil es doch nur darum gehen kann, den Text als das hochartifiziell mit einer Fülle von intertextuellen Abhängigkeiten und Verweisungen ausgestattete Kunstprodukt, seine literarische Genesis und die Funktion der fingierten Unmittelbarkeit zu interpretieren.«169

Aber genügt diese Position für eine Fragestellung, die sich für das Entstehen und den Wandel ästhetischer Vorstellungen interessiert? Spielt es wirklich keine Rolle, ob Petrarca auf dem Ventoux war? Und spielt es eine Rolle, ob die Epistel »Familiares IV.1« davon berichtet? Hinsichtlich der ästhetischen Bedeutung von Natur, der so genannten Entdeckung der Landschaft, sind diese Fragen relevant. Und genau für die scheinbare Klärung dieses Sachverhalts wurde Petrarcas Schilderung kanonisch funktionalisiert: »Der Entstehungszusammenhang für den Erfahrungsgehalt, der im ästhetischen Begriff ›L.‹ erfasst wird, lässt sich signifikant bei Petrarca bele-

167 Vgl. Billanovich: Petrarca und der Ventoux, S. 455. 168 Mertens: Mont Ventoux, S. 716. 169 Mertens: Mont Ventoux, S. 718.

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gen, ohne dass er den Begriff ›L.‹ schon in ästhetischer Bedeutung verwendet.«170 Wenn Ästhetik sich, im Sinne Baumgartens,171 mit Erkenntnis beschäftigt, die auf den Funktionen des Körpers – der direkten sinnlichen Wahrnehmung – basiert, und wenn Petrarcas Text als Beispiel für eine neue, ästhetische Auffassung der Welt, nämlich der Welt als Landschaft, herangezogen wird, dann spielt es allerdings eine Rolle, ob er das Beschriebene erlebt hat oder es sich ausdenkt. Es sind zwei Dinge, wie einer eine Landschaft sieht, sie erfährt, und wie er sie als Gelehrter, Künstler, Philosoph oder Autobiograph interpretiert und wiedergibt. Es sind zwei Dinge, wie einem die Landschaft begegnet und wie er sie verstanden haben will. Die daraus resultierende Unsicherheit in Bezug auf die Platzierung von Petrarcas Schilderung der Besteigung des Mont Ventoux innerhalb der Landschaftstheorie ist aber nicht dem Autor anzulasten. Sie ist ein Produkt der Rezeptionsgeschichte. Petrarca selber streut Hinweise in seinen Text, die auf eine sehr differenzierte Auffassung des Verhältnisses von Wahrheit und Erfindung, Effekt und Authentizität schließen lassen. Abgesehen davon könnte Petrarca ohnehin damit gerechnet haben, dass der Brief, seiner Elaboriertheit und der offensichtlichen praktischen Inkongruenzen wegen, in Zweifel gezogen werden dürfte. Vielleicht gibt er sogar Hinweise auf den fingierten Charakter des Briefes. Folgt man nämlich den von Petrarca offen deklarierten intertextuellen Bezügen, gerät man leicht auf unsicheres Terrain. Schon das Augustinus-Zitat führt, wie gezeigt, an eine bezeichnende Stelle der »Confessiones«, nämlich mitten in die Reflexion über die Funktionsweise des Gedächtnisses. Augustinus spielt dort mit der Ambivalenz von Realem und Fiktionalem. Ähnlich ist das bei der anderen, den Ventoux-Bericht überhaupt einleitenden, Stelle bei Livius, die von der Besteigung des Haemus durch Philipp den Makedonier berichtet. Livius erzählt dort weiter, dass der Aufstieg schwierig gewesen sei, insbesondere wegen des dichten Nebels. Ob man vom Haemus tatsächlich die Adria, das Schwarze Meer, die Donau und die Alpen sähe, habe man deshalb nie erfahren, denn: »Nachdem sie von dort wieder hinabgestiegen waren, sagten sie nichts, was die allgemein verbreitete Ansicht infrage gestellt hätte, ich glaube, mehr damit das Scheitern ihres Unternehmens sie nicht dem Gelächter preisgab, als weil die weit auseinander liegenden Meere, Gebirge und Flüsse von einer Stelle aus hätten erblickt werden können.«172 Livius rechnet offen damit, dass Philipp, wenn er überhaupt oben war, nichts gesehen hat. Soll man also Petrarca Glauben schenken? In der Rezeptionsgeschichte der Petrar-

170 E. Winkler: Landschaft. Der geographische Landschaftsbegriff. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 5. Basel 1980, S. 14. 171 Vgl. Kapitel 4.6. 172 Zitiert nach Petrarca: Mont Ventoux, S. 34f.

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ca-Epistel ist bisher nicht bedacht worden, dass die forcierte Ambivalenz des Textes mehr Effekt als Defekt sein könnte. Sollte man nicht davon ausgehen, dass Petrarca wusste, wie man welche Wirkung erzielt, dass der Dichter sein Handwerk verstand? Wovon soll man sich also täuschen lassen? Von Petrarca oder von der eigenen Erwartung an den Text, vom eigenen Erkenntnisinteresse? Solche Fragen stellen sich bei der Beschäftigung mit dem Entstehen des ästhetischen Landschaftsbegriffs. Das ist ein widersprüchliches Begriffsfeld, in dem sich individuell-künstlerische und überindividuell-historische Motive überlagern, dass bestätigt die Auseinandersetzung mit der Landschaftsmalerei. Sie wird, nachdem Petrarca die Landschaft auf dem Mont Ventoux erstmals literarisch vor-erfunden habe, von den herkömmlichen Landschaftstheorien für die eigentliche Entdeckung und Erschließung des Konzepts in ästhetischen Kategorien verantwortlich gemacht.

4.4 LANDSCHAFTSMALEREI Es gibt keine einheitliche, kanonisch gültige Version der Geschichte der Landschaftsmalerei.173 Die Kunstgeschichte hat sich mit großer Faszination und Ausdauer mit ihr beschäftigt, ohne das Rätsel zu lösen, wie es dazu kommen konnte, dass

173 Vgl. z.B. Oskar Bätschmann: Entfernung der Natur. Landschaftsmalerei 1750-1920. Köln 1989. Werner Busch (Hg.): Landschaftsmalerei. Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren. Berlin 1997. Matthias Eberle: Individuum und Landschaft. Zur Entstehung und Entwicklung der Landschaftsmalerei. Gießen 1980. Max Jakob Friedländer: Essays über die Landschaftsmalerei und andere Bildgattungen. Den Haag 1947. Ernst H. Gombrich: Die Kunsttheorie der Renaissance und die Entstehung der Landschaftsmalerei. In: Ernst H. Gombrich: Die Kunst der Renaissance I. Norm und Form. Stuttgart 1985, S. 140-157. Hans Holländer: Weltentwürfe neuzeitlicher Landschaftsmalerei. In: Jörg Zimmermann (Hg.): Das Naturbild des Menschen. München 1982, S. 183-224. Salim Kemal, Ivan Gaskell (Hg.): Landscape, Natural Beauty and the Arts. Cambridge 1993. Götz Pochat: Figur und Landschaft. Eine historische Interpretation der Landschaftsmalerei von der Antike bis zur Renaissance. Berlin, New York 1973. Norbert Schneider: Geschichte der Landschaftsmalerei. Vom Spätmittelalter bis zur Romantik. Darmstadt 2009. Renate Trnek: Der Wandel des Sehens und Empfindens von Landschaft durch die Kunst. In: Friedrich Achleitner (Hg.): Die Ware Landschaft. Eine kritische Analyse des Landschaftsbegriffs. Salzburg 1978, S. 31-41. Jacob Wamberg: The landscapes of art. A history of mentalities. In: Tine Blicher-Moritz (Hg.): Landskab/Landscape. Kopenhagen 2005, S. 139-150. Rolf Wedewer: Landschaftsmalerei zwischen Traum und Wirklichkeit: Idylle und Konflikt. Köln 1978. Elsbeth Wiemann (Hg.): Die Entdeckung der Landschaft. Stuttgart, Köln 2005.

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sich Darstellungen von Landschaften im 16. Jahrhundert in erstaunlich kurzer Zeit als eigenständige Bildgattung zu etablieren vermochten, und zwar von Anfang an auf beeindruckend hohem künstlerischem Niveau. Die noch ausstehenden begriffsgeschichtlichen Überlegungen und die darin zum Ausdruck kommende Meinung, das Konzept einer ästhetischen Landschaft könne erst seit der frühen Neuzeit vorausgesetzt werden, lassen den Vorgang nicht weniger erstaunlich erscheinen.174 Genau in diesem Erstaunen liegt die ungelöste Frage: Soll die Kontinuität der Entwicklung betont und die Landschaftsmalerei aus älteren Formen der Malerei abgeleitet werden oder soll man im Gegenteil den Neuigkeitswert, die Originalität der Landschaftsmalerei hervorheben? Es wäre, angesichts ihres Alters und ihrer Intensität, ein hoffnungsloses Unterfangen, die kunstgeschichtliche Diskussion zu rekapitulieren. Es lohnt sich aber, auf zwei Topoi einzugehen, die diese Diskussion prägen. Erstens wird das Aufkommen der Landschaftsmalerei mit dem Entstehen einer neuen Art von Subjektivität und Autonomie in Verbindung gebracht, und zwar einer Autonomie, die sowohl für die Künstler, als auch, nach deren Modell, für die Menschen allgemein gelten sollte. Zweitens geht es um ein Denkschema, das sich um den Begriff »Kompensation« dreht und dem eine erstaunlich weitgehende Erklärungskompetenz zugeschrieben wird. Hinter den Überlegungen zu den neuen Subjektivitätsformen steht eine der klassischen Positionen der Kunst- und Kulturgeschichtsschreibung, die Jacob Burckhardt in seiner 1860 veröffentlichten Untersuchung zur »Cultur der Renaissance in Italien« dargelegt hat:175 Die These von der Geburt des modernen, individuellen Menschen in der Renaissance, die nach wie vor fasziniert, aber kritisch rezipiert wird: »Diese These hat bis heute nichts von ihrer provozierenden Kraft eingebüßt. Es dürfte keine Darstellung der Renaissance geben, die nicht in irgendeiner Weise darauf Bezug nähme. Noch immer spricht einiges dafür, dass Burckhardts Sicht im Kern etwas Richtiges hat. Allerdings sollte man nicht von der ›Entstehung des Individuums‹ sprechen, vielmehr von Indizien, die auf eine intensive Reflexion des Individuellen hindeuten.«176

Eine generalisierende Erklärungskompetenz kann der These zudem wohl deshalb nicht zugeschrieben werden, weil sie die in der Kunst konkret feststellbaren Prozesse auf einen relativ kleinen Kreis von Akteuren in spezifischen sozialen Positionen bezieht, zu dem namentlich die Künstler selbst gehören. Die Quellenlage zu dieser

174 Vgl. Kapitel 4.5. 175 J. Burckhardt: Cultur der Renaissance. 176 Bernd Roeck: Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit. Göttingen 2004, S. 114f.

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»Reflexion des Individuellen« bezieht folglich nicht alle gesellschaftlichen Bereiche mit ein, was dem Allgemeingültigkeitsanspruch des Konzepts »Individuum« entgegensteht. Das änderte allerdings nichts an der Popularität, die die Landschaftsmalerei im Lauf ihrer Entwicklung erlangen sollte. 4.4.1 Subjektivität und Autonomie Der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich hat in seinem 1966 erstmals erschienenen Aufsatz über die Entstehung der Landschaftsmalerei erklärt, er sei zwar geneigt, die These von der allmählichen Entwicklung der Landschaftsmalerei aus den Bildhintergründen des Mittelalters »als im großen und ganzen richtig anzuerkennen«,177 gleichzeitig habe er aber auch das »Gefühl […], dass damit nicht alles gesagt«178 sei. Dieser Widerspruch prägt die Debatte um die Genese der Landschaftsmalerei durchgehend. Einige Interpreten finden den Vorgang »revolutionär«,179 andere sehen einen »gradual process indeed, with roots far back in the pre-historic age«.180 Die Kontinuitätsthese schlägt vor, Landschaften als ein aus dem Beiwerk traditioneller, an einen engen Motivkanon gebundener Malerei entstandenes Spezialfach zu verstehen. Die Zuarbeiter aus den arbeitsteiligen Malerwerkstätten des Mittelalters hätten sich demnach zu selbständigen Fachkräften emanzipiert und ein eigenes Genre geschaffen.181 Sie hätten dies zuerst in weniger beachteten Gattungen wie der Graphik getan oder nur in persönlichen Skizzen, die nicht zur Publikation vorgesehen waren, wie es bei Dürer oder Leonardo nachweisbar ist.182 Die Vertreter und Vertreterinnen dieses Ansatzes können darauf verweisen, dass Landschaften in anderer stilistischer Form schon lange Gegenstand der künstlerischen Darstellung gewesen sind, zum Beispiel im Wandschmuck römischer Villen. Tatsächlich vergleicht der jüngere Plinius in einer erstaunlichen und erstaunlich selten zitierten Stelle in einem seiner Villenbriefe die Gegend, in der sein Landhaus liegt, mit einem gemalten Bild: »Du wirst ein großes Vergnügen empfinden, wenn Du die Lage dieser Gegend von einem Berg aus betrachtest. Denn Du wirst glauben, kein wirkliches Land zu sehen, sondern ein au-

177 Gombrich: Kunsttheorie, S. 141. 178

Gombrich: Kunsttheorie, S. 141.

179 Elsbeth Wiemann: Die Weltlandschaft. In: Elsbeth Wiemann (Hg.): Die Entdeckung der Landschaft. Stuttgart, Köln 2005, S. 16-35, hier S. 17. 180 Wamberg: Landscapes of art, S. 140. 181 Vgl. Friedländer: Essays über die Landschaftsmalerei. 182 Vgl. Wamberg: Landscapes of art.

170 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER ßergewöhnlich schönes Gemälde einer Landschaft: an einer solchen Mannigfaltigkeit, an einer solchen Gliederung werden sich Deine Augen, wohin sie sich auch wenden, erfreuen.«183

Plinius, der seitenlang über seine Villa am Fuße des Apennin schwärmt, wendet das besprochene Motiv des Feldherrenhügels184 an und schreibt im Original tatsächlich »pictam«,185 also Gemälde. Er rechnet offenbar selbstverständlich mit einer Differenz zwischen künstlerischer Darstellung und Realität. Letztere wird besonders dann als schön empfunden, wenn sie einem idealisierten Abbild, einem Gemälde, ähnlich sieht. Noch seltener wird auf die in theaterwissenschaftlichem Zusammenhang wohlbekannte Stelle bei Vitruv hingewiesen, der sich, wenn auch nur äußerst kurz, mit idealisierter, vielleicht schematisierter Darstellung von Landschaft beschäftigt. Am Ende des sechsten Kapitels des fünften Buches seines zehnbändigen Werks über die Baukunst berichtet er, in der alten Übersetzung von August Rode, über die Hintergründe in den römischen Theaterbauten: »Es giebt drey Gattungen der Scenen. Die eine heißt die Tragische; die andere die Comische; und die dritte die Satyrische. […] die Satyrischen […] werden mit Bäumen, Höhlen, Bergen und den übrigen ländlichen Gegenständen, gleich einem Landschaftsgemälde […] geschmückt.«186 Rodes Wortwahl ist offensiv. Für »Landschaftsgemälde« steht im Original »topeodis«, das andere Kommentatoren als »rätselhaft«187 bezeichnen. Gemeint ist vermutlich »topiarium opus«, was nicht die Abbildung von Natur, sondern die Abbildung von Gärten meint.188 Auch Vitruv scheinen gemalte Darstellungen von, in seinem Fall kultivierter, Umgebung völlig geläufig gewesen zu sein, was sich anhand der zahlreichen römischen Wandmalereien mit diesbezüglichen Motiven auch nachvollziehen lässt. Unter diesen Umständen sollte mit einem möglichen Einfluss hellenistisch-römischer Szenendekoration auf die damalige Architekturmalerei und ihre landschaftlichen Motive gerechnet werden: »It may well be that the originality

183 Plinius: Sämtliche Briefe. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Heribert Philips und Marion Giebel. Stuttgart 2005, S. 317. 184 Vgl. Kapitel 4.1. 185 Plinius: Briefe, S. 316. 186 Marcus Vitruvius Pollio: Baukunst. Aus der römischen Urschrift übersetzt von August Rode. Leipzig 1796, S. 245. 187 J. M. C. Toynbee: Review of: Pierre Grimal, Les jardins romains à la fin de république et aux deux premiers siècles de l’empire: Essai sur le naturalisme romain. Paris 1943. In: The Journal of Roman Studies, Vol. 36. Cambridge 1946, S. 210-213, hier S. 211. 188 Vgl. Toynbee: Review, S. 211.

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of the Romano-Campanian painters partly lay in transferring the themes of temporary theatrical decoration to permanent frescoes on the walls of private houses.«189 Auch außerhalb der Malerei könne, so die Vertreter und Vertreterinnen der Kontinuitätsthese, von einem Sinn für die Schönheit der Natur ausgegangen werden. Das zeige sich in der Literatur besonders deutlich, wie zum Beispiel schon die ästhetisierende Naturmetaphorik in den Mythologien und literarischen Traditionen »klassischer« und »barbarischer« Völker auf eine »lebendige Begegnung des Menschen mit der ihn umgebenden Natur und der daraus erwachsenden Beschreibung«190 hinweise. Natur schön zu finden, ist freilich nicht gleichbedeutend mit der Kompetenz, Umgebung als Landschaft wahrzunehmen. Landschaft, das wird in allen kunsttheoretischen Überlegungen vorausgesetzt, ist etwas anderes als die »Natur«, das »Land«, die »Welt«, die »Umgebung«, wie auch immer das schlicht Gegebene genannt wird. Sie ist das Bild davon. »Philosophische Termini verwendend, vielleicht missbrauchend, darf man sagen: das Land ist ›das Ding an sich‹, Landschaft die ›Erscheinung‹«,191 wie Max Jakob Friedländer formuliert. Das heißt, Landschaft setzt ein bestimmtes »Selbstbewusstsein des Betrachters« voraus, der seine eigene Wahrnehmung von dem schlicht Vorhandenen unterscheidet«.192 Die Kontinuitätsfrage wäre demnach nicht als »Wahr-oder-falsch«-Frage von Interesse, sondern als mit der Entwicklung des Genres verbundene Frage nach dem Entstehen einer besonderen, historisch konkreten Art der Subjektivität, die sich in der Landschaftsmalerei dadurch manifestiert, dass sie sich als Gegenüber des Gegebenen, das Landschaft genannt wird, begreift. Das würde bedeuten, dass die kunstgeschichtliche Autonomie, die die Landschaftsmalerei als Genre im 16. Jahrhundert erlangt, eigentlich die Autonomie der Menschen ist, die sich mit der Landschaft, als Resultat eines spezifischen Blicks auf die Welt, ein ästhetisches Gegenüber geben. Das trifft mutmaßlich besonders für die Künstler zu, die Landschaften malen. Eberle schlägt vor, Landschaft als Resultat eines Autonomiebewusstseins der Künstler zu verstehen und dieses wiederum als Resultat der Position, die sie in der Gesellschaft einnahmen, vor allem im Hinblick auf die in ihr herrschende berufsspezifische Produktionsweise. Es scheint ihm entscheidend zu sein zu verstehen, »aus welchen objektiven Bedingungen sich diese Form der Subjektivität und der Wahrnehmung von Natur entwickelt, also ihre materialistische Ableitung und Erklärung«.193 Auf dieser »materialistischen« Ebene können viele Faktoren zur Ver-

189 Toynbee: Review, S. 211. 190 Pochat: Figur und Landschaft, S. 482. 191 Friedländer: Essays, S. 12. 192 Eberle: Individuum, S. 13. 193 Eberle: Individuum, S. 13.

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selbständigung der Künstler in der Renaissance beigetragen haben. Auf die genrebildende Spezialisierung einzelner Künstler wurde bereits hingewiesen. Eberle erwähnt auch, dass nicht mehr nur in Auftrag, sondern für einen freien Kunstmarkt produziert wurde, auf dem Künstler idealerweise allein im Dienste ihrer selbst agierten und so zu selbständigen Warenproduzenten wurden. Der Begriff »Kunstmarkt« braucht dabei nicht einmal nur ökonomisch verstanden zu werden, sondern lässt sich, im Anschluss an Bourdieus Kapitaltheorie, auch als realer oder fiktionaler Raum des Tausches sowohl materieller als auch immaterieller Werte innerhalb eines spezifischen Symbolmilieus verstehen.194 Die Tatsache, dass die Künstler auf diesem Markt als Akteure auftraten, die Geistes- und Handarbeit in ihrer Person vereinigten, sicherte ihnen eine Ausnahmestellung, aus der heraus es nicht schwer fiel, sich als »Genie« zu betrachten. Der Geniebegriff scheint in der Tat im Umfeld der Etablierung freier Kunstmärkte in der Renaissance entstanden zu sein. Er war eng verbunden mit der Entwicklung des Konzepts des »geistigen Eigentums«, dem wiederum das private Eigentum der Künstler an ihren Produktionsmitteln, die bisher an die Berufsverbände gebunden waren, vorausging.195 Eberle sieht im Geniebegriff auch den Versuch, den Widerspruch, in den freie Künstler geraten, zu überbrücken, das heißt in diesem Fall: zu mystifizieren. Freie Künstler sind nämlich nichts anderes als ihre eigenen Angestellten und sehen sich gezwungen, marxistisch gesprochen, den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit in sich selbst auszutragen. Das korrespondierte mit einer anderen Beobachtung von Marx, die besagt, dass die Individuen unter den Bedingungen des freien, frühneuzeitlichen Marktes »nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen. Die Abstraktion oder Idee ist aber nichts als der theoretische Ausdruck jener materiellen Verhältnisse, die Herr über sie sind.«196 Diese scheinbare Unabhängigkeit der Menschen voneinander haben die »Philosophen«, so Marx, fälschlich als »Erzeugung der freien Individualität identifiziert«.197 Mit »Abstraktionen« meint Marx vor allem »Geld«. Im hier besprochenen Zusammenhang können Abstraktionen aber auch ideelle Schemata heißen, zum Beispiel der autoritäre Geniebegriff, was zuletzt wieder an den erweiterten Kapitalbegriff Bourdieus anschließt.198

194 Vgl. z.B. Michael Baxandall: Ursachen der Bilder: Über das historische Erklären von Kunst. Berlin 1990. 195 Vgl. Eberle: Individuum, S. 83. 196 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Erster Teil. In: Marx/Engels: Gesamtausgabe. Berlin 2006, S. 47-309, hier S. 96. 197 Marx: Grundrisse, S. 96. 198 Vgl. Kapitel 3.2.

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Als Repräsentation dieses sich steigernden Selbstbewusstseins der Künstler und der Reflexion über die Kategorie des Individuellen in der frühen Neuzeit gilt nicht nur die Landschaftsmalerei, sondern auch die Herstellung von autonomen Selbstporträts.199 Als frühstes Beispiel der Selbstdarstellung durch einen identifizierbaren Künstler wird Peter Parlers Büste am St. Veitsdom in Prag, bereits im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts entstanden, betrachtet. Doch auch in diesem Genre sind die Interpretationen nicht eindeutig. Ist Albrecht Dürers berühmtes Selbstbildnis in Christus ähnlicher Pose »eine geradezu blasphemische Übersteigerung renaissancehafter Selbstgewissheit«, als Darstellung der Nachfolge Christi ein »Dokument vorreformatorischer Religiosität«, oder »zeigt sich Dürer als Mensch, den seine von Gott verliehene schöpferische Gestaltungskraft dem göttlichen Schöpfer aller Dinge vergleichbar macht«?200 Diese sozial- und kunsthistorischen Beispiele zeigen jedenfalls, welche Faktoren zur Reflexion über eine spezifische Form der Subjektivität beigetragen, ihr Ausdruck verliehen und ihr vielleicht überhaupt zum Entstehen verholfen haben könnten. Akteure dieser Prozesse waren auch jene freien Künstler, die Landschaften malten und damit die Etablierung des Wahrnehmungskonzepts »Landschaft« unterstützten. Damit ist eine Seite der von Eberle verlangten und durchgeführten »materialistischen« Analyse angedeutet. Die andere betrifft nicht die allgemeinen, gesellschaftlich gestützten Produktionsbedingungen der freien Künstler, sondern ihre handwerklichen Techniken, die direkten technischen Bedingungen künstlerischer Produktion. Im 15. Jahrhundert setzen sich technische und formale Neuerungen in der Malerei durch, die die augenscheinliche Ähnlichkeit der Darstellung mit dem Dargestellten zum Ziel hatten. Die mimetische Funktion der Kunst tritt in den Vordergrund, das Ideal des »Realismus«, verstanden als tatsächliche oder fingierte bildnerische Orientierung am empirisch Gegebenen, dominiert die kunstgeschichtliche Überlieferung. Berühmt ist das 1444 entstandene Bild von Konrad Witz, das die »Pêche miraculeuse«, den »Wunderbaren Fischzug Petri« zeigt. (Abb. 9) In ihm hat die Forschung die erste topographisch getreue Darstellung einer geographisch identifizierbaren Gegend erkannt. Witz konterfeite den Genfer See mit dem Mont Salève im Hintergrund ab. Gewählt hat er das Motiv vermutlich aus kirchenpolitischen Gründen, um seiner Unterstützung für die gegenpäpstliche Partei Ausdruck zu geben.201 Witz’ Bild beschränkt sich also nicht auf veristische Darstellung, sondern hat viele weitere Bedeutungsebenen. Darauf weist auch André Corboz hin, der davor warnt, in dem »Wunderbaren Fischzug« »etwas anderes se-

199 Vgl. z.B. Arnold Hauser: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. München 1990. 200 Roeck: Auge, S. 120f. 201 Vgl. N. Schneider: Landschaftsmalerei, 63f.

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hen zu wollen als eine Zusammenstellung von Elementen, die nach einem bestimmten Programm ausgewählt worden sind«.202 Zu diesem Schluss kommt Corboz, weil er als geborener Genfer weiß, dass sowohl die Entfernungen zwischen dem Petit Salève, dem Môle und den Voirons, die alle abgebildet sind, als auch deren relative Höhen nicht dem entsprechen, was man vom rechten Seeufer aus sieht. Ebenso wenig ist der Mont Blanc als solcher zu erkennen, an seiner Stelle stehen vielmehr »übereinanderliegende Eisschollen«.203 Der Môle, genau in der vertikalen Verlängerung von Jesus situiert und mit einer göttlichen Wolke als Nimbus gekrönt, stünde demzufolge einerseits allegorisch für den Berg Tabor, andererseits apotropäisch als Bollwerk der Stadt Genf gegen die Gefahr aus den Bergen. Realismus in der Malerei bedeutet also nicht zwingend Verzicht auf allegorische oder metaphorische Bedeutungsebenen und schon gar nicht Abkehr von religiösen Inhalten. Nichtsdestotrotz ist auch Corboz bereit, dem Werk Witz’ formal einen »relativen Realismus«204 zuzubilligen, wenngleich es sich inhaltlich nicht auf eine veristische Dokumentation der Realität beschränkt. Dieser formalen Ausrichtung am Realismus kam die zur selben Zeit stattfindende Entwicklung der Zentralperspektive als geometrisch exaktes Verfahren der Raumkonstruktion sehr entgegen. Der Architekt Filippo Brunelleschi, der Architekt und Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti sowie der Maler und Kunsttheoretiker Piero della Francesca gelten als die entscheidenden Figuren in der langen Geschichte der Entwicklung der Perspektive. Besonders Alberti versteht ein zentralperspektivisch aufgebautes Bild theoretisch als eigentliches »Fenster zur Welt«,205 indem es die Bildfläche als Durchschnitt durch die vorgestellte Sehpyramide auf den Augenpunkt des betrachtenden Subjekts ausrichtet.206 Selbst wenn in der Folge, sei es mit Absicht oder nicht, Perspektiven nicht immer mathematisch korrekt konstruiert wurden, setzte diese Technik den Maler »nunmehr in die Lage, anzunehmen, er könne die Natur unter den Gesetzen in seinem Bilde erscheinen lassen, unter denen sie selbst sich bildet. Nunmehr ist er befähigt, seine persönliche Wahrnehmung der Realität, sein individuelles Verhältnis zu ihr, so zu gestalten, als wären sein Bild und die Wirklichkeit ein und dasselbe.«207

202 André Corboz: Über die Elastizität der Alpenlandschaft in der Malerei. In: André Corboz: Die Kunst, Stadt und Land zum Sprechen zu bringen. Basel, Boston, Berlin 2001, S. 219-232, hier S. 229. 203 Corboz: Elastizität, S. 228. 204 Corboz: Elastizität, S. 229. 205 Roeck: Auge, S. 104. 206 Vgl. Leon Battista Alberti: Über die Malkunst. Darmstadt 2002. 207 Eberle: Individuum, S. 84.

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Das bedeutet, vom Standpunkt des Künstlers aus gesehen, Folgendes: Die Entwicklung neuer formaler Mittel und Techniken, namentlich der Zentralperspektive, aber auch besonderer Techniken der Farbgebung oder Erkenntnisse aus den sich etablierenden Naturwissenschaften, die die atmosphärische Wiedergabe des Raums ermöglichten, ließen nun bestimmte Motive als künstlerisch besonders lohnend erscheinen. Das gilt einerseits für Bilder, die Architektur zeigen, und andererseits besonders für solche, die den Außenraum, mit anderem Wort: Landschaft, darstellen. Jan van Eycks um 1435 entstandene Tafel mit der so genannten »Madonna des Kanzlers Rolin« bringt vieles davon in einem einzigen Bild zum Ausdruck: Innenund Außenraum, Zentralperspektive, Farbperspektive, Perspektivenwechsel, Empirismus. Das Bild ist zwar im Auftrag entstanden und van Eycks Motivwahl ist der Tradition verpflichtet, aber durch die Gestaltung des Hintergrundes wird das Werk in der Kunsthistorie, jedenfalls von Vertretern und Vertreterinnen der Kontinuitätsthese, als Meilenstein der frühen Landschaftsmalerei betrachtet.208 (Abb. 10) Eine so verstandene Suche nach den »materialistischen« Gründen für die Entwicklung der Landschaftsmalerei lässt also vermuten, dass die neuen oder wiederentdeckten technischen Mittel und formale Innovationen zu erhöhter Wertschätzung spezifischer – vielleicht auch neuer – Motive führten und die Landschaftsmalerei demnach von den veränderten technischen Möglichkeiten der Maler profitierte. Vermutlich wäre es übertrieben zu behaupten, am Anfang der »realistischen« Darstellung von Räumen stehe allein die dazu erforderliche malerische Technik, trotzdem sollte deren Einfluss auf die Entwicklung des Genres nicht unterschätzt werden. Der Wille, Landschaften zu malen, geht dem Können nicht unbedingt voraus. Nietzsche hat den Sachverhalt in seiner »Fröhlichen Wissenschaft« zwar spöttisch, aber nicht ganz falsch beschrieben: » Der realistische Maler ›Treu die Natur und ganz‹ – Wie fängt er’s an: Wann wäre je Natur im Bilde abgethan? Unendlich ist das kleinste Stück der Welt! – Er malt zuletzt davon, was ihm gefällt. Und was gefällt ihm? Was er malen kann!«209

Bei aller angebrachten Skepsis gegenüber kunsthistorischen Schlagworten lässt sich in der Kunst, und besonders deutlich in der Malerei der frühen Neuzeit, eine Tendenz feststellen, die mit den Begriffen »Individualisierung« und »Realismus« um-

208 Vgl. N. Schneider: Landschaftsmalerei, S. 62. 209 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 365.

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rissen werden kann. Damit einher geht eine nicht zu übersehende Profanisierung der Motive, so dass sich die Kunst immer mehr als eine Art reflektierendes Gegenüber der Welt präsentierte, wie Leonardo da Vinci forderte: »Der Geist des Malers muss dem Spiegel ähnlich werden […]. Du weißt also, Maler, dass du nur gut sein kannst, wenn du […] alle mannigfaltigen Formen nachahmst, die die Natur hervorbringt, was dir aber nicht gelingen wird, wenn du sie nicht vorher ansiehst und in deinem Geiste abbildest.«210 Die Wirkung der hier besprochenen Kunst der Renaissance scheint also auf eine bestimmte Positionierung der Menschen hinauszulaufen, sei es als Künstler, die die Welt, sei es als Rezipienten, die die Kunst betrachten. Es ist eine Position des Gegenübers und betont die Autonomie des Subjekts. Das gilt nicht zuletzt für die Landschaftsmalerei, die sowohl formal wie inhaltlich auf der Trennung zwischen Subjekt und Welt aufbaut. In diesem in der Kunst widergespiegelten Willen zur Autonomie kommt allerdings gleichzeitig, dialektisch gedacht, auch ein Herrschaftsanspruch zum Ausdruck. Das lässt sich zum Beispiel schon an der Perspektive selbst verfolgen. Als Mittel zur zweidimensionalen Konstruktion von Räumen entwickelt, beginnt die Technik später auf den dreidimensionalen Raum zurückzuwirken. Ausgehend von der Geometrie der italienischen Renaissancegärten entwickelte die Gartenbaukunst eine ausgeprägte Vorliebe für Sichtachsen und so wurde die Perspektive spätestens im französischen Barockgarten zum eigentlichen landschaftlichen Ideal.211 Das unsichtbare Bildraster hatte sich so in den realen Raum hinein verlängert und von ihm Besitz ergriffen. »Freilich ist dies, die Vorgeschichte mitgedacht, nicht allzu verwunderlich […]: erfüllt das Bild ja nicht nur piktorale Funktion, sondern birgt zugleich eine Theorie des Raums und der Raumbeherrschung in sich, jenes Tableau, wo im Spiegelverhältnis von Ich und Landschaft der Code der Repräsentation und mit ihm der Grundriss des neuzeitlichen Weltbildes geboren wird.«212

Dieser raumgreifende Herrschaftsanspruch ist nicht allein metaphorisch zu verstehen. Die Forschung hat auf den Zusammenhang von Landschaftsmalerei, Geographie und Kartographie hingewiesen: »Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, dass sich Landschaft genau zu jener Zeit als Bildgattung etablierte, da man stärker als

210 Leonardo da Vinci: Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei. Herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von André Chastel, aus dem Italienischen und Französischen übertragen von Marianne Schneider. München 1990, S. 164. 211 Vgl. Kapitel 4.6.4. 212 Martin Burckhardt: Metamorphosen von Raum und Zeit, eine Geschichte der Wahrnehmung. Frankfurt a.M. 1994, S. 188.

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zuvor begann, die Erforschung der sichtbaren Welt voranzutreiben und die Geographie und Topographie der Erde erstmals systematisch zu erfassen und zu beschreiben.«213 In den Niederlanden des 16. Jahrhunderts scheint es eine direkte Linie von der Produktion so genannter chorographischer Karten zur Landschaftsmalerei zu geben. Diese zeigten Erdteile nicht auf-, sondern ansichtig und folgten möglichst den Gesetzen des menschlichen Sehens und der Perspektive. Diese Überlagerung von Kunst und Kartographie fiel vermutlich nicht zufällig in eine Zeit, die von der globalen Expansion wirtschaftlicher und politischer Einflusssphären geprägt war, einem Prozess, in dem die Niederlande keine unwesentliche Rolle spielten. Selbst im binnenpolitischen Kontext wurde der Landschaftsmalerei eine herrschaftsrelevante Rolle zugesprochen. Piero della Francescas berühmtes Bildnis des Federico da Montefeltro ist ein gutes Beispiel für den instrumentellen Nutzen von Landschaftsdarstellungen. Es zeigt den einflussreichen Herzog von Urbino mit zertrümmerter Nase und im Profil, wohl um das ausgeschlagene Auge zu verbergen, beides Verletzungen, die er sich in einem Turnier zugezogen hatte.214 Das Bild zählt sicher zur Gattung des Porträts, wird aber in der Literatur zur Landschaftsmalerei wegen des ausgefeilten Hintergrunds immer wieder als Beispiel für das große Interesse am Empirischen erwähnt. Dieses Interesse scheint in diesem Fall aber in einem direkten Zusammenhang mit den geographischen Machtansprüchen des abgebildeten Politikers zu stehen: »Landschaft als Territorium, als Landbesitz, zum Portrait als nähere Bestimmung des Dargestellten gehörig.«215 Noch viel deutlicher wird diese Funktion der Landschaftsmalerei in einem späteren Beispiel, in Thomas Gainsboroughs Bild »Robert Andrews und seine Frau« von 1748/49, das offensichtlich als »Zeichen demonstrativ vorgezeigter ökonomischer Macht und sozialer Privilegien fungierte«,216 und zwar mittels Zurschaustellung von Landschaft als Besitz. (Abb. 11) Die Landschaftsmalerei ist insofern eine Reflexion auf ein spezifisches Verhältnis von Subjekt und Welt, in dem die Menschen für sich eine Autonomie in Anspruch nehmen, die sich als Herrschaftsanspruch artikuliert. Das ästhetische Konstrukt Landschaft kreist also um eine supponierte Trennung von Mensch und Welt und die Landschaftsmalerei ist, in der hier besprochenen Zeit offenbar stärker als andere Künste, in der Lage, dieser Trennung Ausdruck zu verleihen und sie, wie die kunstphilosophische Tradition annimmt, gleichzeitig zu überwinden. Der Kunst-

213 Nils Büttner: Die Erfindung der Landschaft. Göttingen 2000, S. 189. 214 Vgl. Roeck: Auge. Und Bernd Roeck: Die Nase Italiens: Federico da Montefeltro, Herzog von Urbino. Berlin 2005. 215 Holländer: Weltentwürfe, S. 191. 216 N. Schneider: Landschaftsmalerei, S. 177.

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historiker Jacob Wamberg glaubt, das neue »Landschaftsparadigma« habe sich zwischen den zwei Polen »Realismus« und »Romantizismus« entwickelt: »Realism, which focuses on people’s work-determined control of nature and romanticism, which emphasies the superior forces of nature.«217 Romantisch nennt er diesen Strang der Auseinandersetzung, weil er auf eine ästhetisierte Selbstaufgabe hinausläuft, eine freiwillige Hingabe an die Schönheit einer vorgestellten Welt im Rahmen der Kunst. Die mit Hilfe der Landschaft gezogene Grenze zwischen Subjekt und Welt konnte so ästhetisch wieder überschritten werden. Die Kunst in der Zeit der Romantik hat sich besonders für diese Transgression interessiert. In welcher Weise die Vereinigung von Mensch und Welt in der Landschaft vonstatten gehen soll, hat sich der Philosoph Georg Simmel in seiner »Philosophie der Landschaft«218 überlegt. Simmel greift zunächst die in der Landschaftstheorie immer wieder angesprochene Dialektik von Einzel- und Ganzheit auf. Landschaften sind, bildnerisch gedacht und auf das betrachtende Individuum bezogen, Ausschnitte eines Ganzen. Dieses Ganze wäre die totale Umgebung, verstanden als alles Gegebene, unspezifisch: die »Welt«, aus der die Landschaft, eben wie ein Bild, ausgeschnitten erscheint. Für diese Ausschnitte gilt: »Ihre materielle Basis oder ihre einzelnen Stücke mögen schlechthin als Natur gelten – als ›Landschaft‹ vorgestellt, fordert sie ein vielleicht optisches, vielleicht ästhetisches, vielleicht stimmungsmäßiges Fürsich-sein, eine singuläre, charakterisierende Enthobenheit aus jener unzerteilbaren Einheit der Natur.«219 Umgekehrt setzen sich diese Ausschnitte wiederum aus Einzelheiten zusammen, die für sich allein eine Landschaft nicht hinreichend repräsentieren könnten. »Darum, dass wir auf dies einzelne achten oder auch dies und jenes zusammenschauen, sind wir uns noch nicht bewusst, eine ›Landschaft‹ zu sehen.«220 Zusammen aber bilden sie ein Ganzes, das dann Landschaft heißt: »Unser Bewusstsein muss ein neues Ganzes, Einheitliches haben, über die Elemente hinweg, an ihre Sonderbedeutungen nicht gebunden und aus ihnen nicht mechanisch zusammengesetzt – das erst ist die Landschaft.«221 Die viel zitierte Formulierung, bei einer Landschaft handle es sich um den »Totalcharakter einer Erdgegend«, die häufig auf Alexander von Humboldt zurückgeführt wird, in dessen Werk genau so aber offenbar nicht zu finden ist, beschreibt den synthetisierenden Teil dieser Landschaftsde-

217 Wamberg: Landscapes of art, S. 143f. 218 Georg Simmel: Philosophie der Landschaft. In: Georg Simmel: Das Individuum und die Freiheit. Essais. Berlin 1984, S. 130-139. 219 Simmel: Philosophie, S. 131. 220 Simmel: Philosophie, S. 130. 221 Simmel: Philosophie, S. 130.

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finition ebenfalls, der separierende hingegen bleibt verschwiegen.222 In der pseudohumboldtschen Definition schwingt zudem ein Anspruch auf Vollständigkeit mit, der, wenn es sich bei Landschaft um ein ästhetisches Phänomen handelt, illusorisch, Humboldt zufolge aber trotzdem unerlässlich für die Wahrnehmung von Landschaft ist: »Es ist ein gewagtes Unternehmen, den Zauber der Sinnenwelt einer Zergliederung seiner Elemente zu unterwerfen. Denn der großartige Charakter einer Gegend ist vorzüglich dadurch bestimmt, dass die eindrucksreichsten Naturerscheinungen gleichzeitig vor die Seele treten, dass eine Fülle von Ideen und Gefühlen gleichzeitig erregt werde. Die Kraft einer solchen über das Gemüth errungenen Herrschaft ist recht eigentlich an die Einheit des Empfundenen, des Nicht-Entfalteten geknüpft.«223

Humboldt ist sich also über die Gebundenheit von Landschaft an die menschliche Wahrnehmung im Klaren, das heißt, er fasst sie als ästhetisches Phänomen auf. Dieser Meinung ist auch Simmel, der sich fragt, wie diese dialektische Bewegung, die Landschaft konstituiert, zustande kommt. Auch er vermutet eine »geistige Tat«224 der Menschen dahinter. Diese »geistige Tat« besteht aus dem Gefühl, das die Menschen in Betrachtung einer Landschaft empfinden und das sie geneigt sind, dieser Landschaft selbst zuzuschreiben, und zwar, wie Simmel meint, als eine ihr eigene Stimmung. Dasselbe Phänomen beschreibt auch Nietzsche im Hinblick auf den »Naturgenuss«: »Getäuscht glauben wir von der Außenwelt zu empfangen, was wir selbst in diese gelegt«.225 Nun ist, so Simmel, die Stimmung der »erheblichste Träger«226 einer einheitlichen Wahrnehmung von Landschaft, und darum sind für ihn »die Stimmung der Landschaft und die anschauliche Einheit eines und dasselbe«.227 Stimmungen kommen Landschaften insofern als objektive Eigenschaften zu, weil die Landschaft ohnehin ein »geistiges Gebilde«228 ist, das ohne das durch sie hervorgerufene Gefühl gar nicht als Ganzes zustande kommen könnte.

222 Vgl. Hans Hermann Wöbse: Landschaftsästhetik. Über das Wesen, die Bedeutung und den Umgang mit landschaftlicher Schönheit. Stuttgart 2002, S. 13. 223 Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer Physischen Weltbeschreibung. Erstes Buch, Einleitende Betrachtungen. Stuttgart, Tübingen 1845, S. 9f. 224 Simmel: Philosophie, S. 131. 225 Friedrich Wilhelm Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Band I 3. Nachgelassene Aufzeichnungen Herbst 1862-Sommer 1864, Berlin 2006, S. 180. 226 Simmel: Philosophie, S. 136. 227 Simmel: Philosophie, S. 137. 228 Simmel: Philosophie, S. 137.

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Die sich als Gefühl äußernde Stimmung ist bei Simmel konstitutives Element von Landschaft und darum logisch mit ihr verknüpft. Stimmung ist darüber hinaus nicht nur Ausdruck und Mittel der Vereinheitlichung eines Weltausschnitts zur Landschaft, sondern verbindet auch die sie wahrnehmenden Menschen mit ihr. Damit wäre, was insbesondere als Aufgabe der Landschaftsmalerei verstanden wird, die Vereinigung von Mensch und Welt ästhetisch gewährleistet. Im Übrigen geht Simmel davon aus, dass ein »Naturgefühl« bereits vor der Neuzeit den Menschen bekannt gewesen sei, was sich besonders in den Religionen zeige. Daraus aber erst später entstanden sei in der Tat das »besondere Gebilde ›Landschaft‹ […] und zwar gerade, weil dessen Schöpfung ein Losreißen von jenem einheitlichen Fühlen der Allnatur forderte«.229 Die Menschen seien erst durch ihre innere und äußere Individualisierung – ein Prozess, den Simmel als »große Formel der nachmittelalterlichen Welt«230 bezeichnet – in die Lage gekommen, Landschaft aus der Natur herauszusehen – womit am Ende doch wieder Burckhardts Subjektivitätsthese zur Geltung zu kommen scheint. 4.4.2 Kompensation Der Begriff »Kompensation« resümiert eine Argumentation, die immer wieder zur Erklärung des Entstehens von Landschaftsmalerei beigezogen wird. Sie baut auf den geschilderten Überlegungen zur Gegenüberstellung von Individuum und Landschaft auf und soll erklären, was Künstler dazu motiviert, Landschaften zu malen. Der Gedanke scheint im Kern relativ einfach: Landschaftsmalerei reagiert auf die Erfahrung, dass sich Umgebung verändert, wobei diese Erfahrung negativ bewertet wird. Die Reaktion besteht darin, dieses Negative auszugleichen, zu kompensieren, und einem drohenden konkreten Verlust ideell entgegenzuwirken, indem das, was verloren zu gehen droht, ästhetisiert wird. Dem zugrunde liegt die Annahme, die »Erfindung« von Landschaft im ästhetischen Sinn gehe von Anfang an auf eine solche Verlusterfahrung zurück. Das Argument findet sich in verschiedenen Varianten in fast allen Erklärungssystemen wieder, wie folgende Beispiele zeigen. Sie sind mit Absicht zahlreich, um die Verbreitung des Gedankens zu zeigen. Schiller formuliert ihn allgemein so: »Solange der Mensch, in seinem ersten physischen Zustande, die Sinnenwelt bloß leidend in sich aufnimmt, bloß empfindet, ist er auch noch völlig Eins mit derselben, und eben, weil er selbst bloße Welt ist, so ist für ihn noch keine Welt. Erst, wenn er in seinem ästhetischen

229 Simmel: Philosophie, S. 130. 230 Simmel: Philosophie, S. 130.

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Stande sie außer sich stellt oder betrachtet, sondert sich seine Persönlichkeit von ihr ab, und es erscheint ihm eine Welt, weil er aufgehört hat, mit derselben Eins auszumachen.«231

Das Thema beschäftigt Schiller auch in seiner Elegie »Der Spaziergang«, wo er die Geschichte der Menschheit rekapituliert und das ursprüngliche, aber unfreie Leben auf dem Land jenem in der Stadt entgegenstellt: »Glückliches Volk der Gefilde! Noch nicht zur Freiheit erwachet.«232 Das Gedicht folgt formal der beschriebenen Ästhetik des Gegenübers und wendet das Denkschema inhaltlich selbst als Mittel der Geschichtstheorie an: Die Welt ist dem modernen Mensch fremd, weshalb er sich nach ihr sehnt. Schiller äußert sich in diesen Beispielen nicht spezifisch zur Landschaftsmalerei, sein Gedanke findet im entsprechenden Diskurs aber Fortsetzung. Der Kunsthistoriker Max Jakob Friedländer münzt das Argument auf die Landschaftsmalerei um: »Der Bauer kennt das Land, das er bearbeitet, das ihn ernährt, er blickt zum Himmel, der Licht und Regen sendet, die Landschaft berührt ihn kaum; genießende Schau kann nicht vorkommen, wo Not und Nutzen vorwalten. Die Menschheit war weit entfernt von dem Zeitalter, in dem sie ausschließlich von Viehzucht, Jagd, Fischerei und Landbau gelebt haben, als ihr der Blick auf Erde und Himmel seelische Regungen weckte und die Lust, diese Regungen bildlich zu bannen.«233

Friedländer bringt die Wahrnehmung von Landschaft so mit der Produktionsweise der Menschen in Zusammenhang, bleibt dabei aber allgemein. Bauern, so seine Meinung, sehen keine Landschaft. Für sie bedeute Natur Arbeit, verstanden als »Not und Nutzen«, weshalb sie nicht in der Lage seien, das sie Umgebende ästhetisch zu betrachten. Genau anders herum sieht es Marx, der im »Kapital« einen gegenteiligen Begriff von Arbeit vorträgt: »Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. […] Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Na-

231 Friedrich Schiller: Von der ästhetischen Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen. In: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 12. Stuttgart, Tübingen 1838, S. 1-133, hier S. 109f. 232 Friedrich Schiller. Sämtliche Werke. Gedichte, Dramen 1. Herausgegeben von Albert Meier. München 2007, S. 230. 233 Friedländer: Essays, S. 12.

182 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER tur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit.«234

Durch die Arbeit lösen sich die Menschen also von der Natur und treten ihr als freie Wesen gegenüber. Sie schaffen sich die Bedingungen ihres eigenen Überlebens selber und sind nicht mehr vom Gegebenen abhängig. Das ist die Bedingung, die es möglich macht, dieses Gegebene, in diesem Zusammenhang die Umgebung, ästhetisch, als Landschaft, zu sehen. Für Proudhon sind Menschen überhaupt erst dann Menschen, wenn sie ästhetisch sehen, denken und fühlen, wenn sie Künstler sind: »L’art c’est l’humanité. Tous tant que nous vivons nous sommes artistes, et notre métier à tous est d’élever en nos personnes, dans nos corps et dans nos âmes, une statue à la BEAUTE [Hervorhebung im Original].«235 Kunst, in einem sehr weiten Sinn verstanden, folgt für Proudhon aus der Arbeit, wenn diese nicht mehr Mühsal bedeutet. Kunst ist Arbeit, die der Befreiung dient. Diese Freiheit wiederum, so die Argumentationslinie, ist notwendig, um Landschaft zu sehen. Der Philosoph Joachim Ritter, einer der meist zitierten modernen Landschaftstheoretiker, stützt sein Gedankengebäude auf den Begriff »Freiheit«. Er setzt voraus, dass sich die Menschen vermittels der Arbeit, zum Beispiel in Form von Wissenschaft, von der Natur getrennt haben und ihr als Betrachtende gegenüberstehen, so dass Natur »objektiviert« erscheint. Die Geschichte der Neuzeit liest er als Geschichte der aus Arbeit und Wissen entstehenden Naturbeherrschung: »Der Naturgenuss und die ästhetische Zuwendung zur Natur setzen so die Freiheit und die gesellschaftliche Herrschaft über die Natur voraus. […] Freiheit ist Dasein über der gebändigten Natur. Daher kann es Natur als Landschaft nur unter der Bedingung der Freiheit auf dem Boden der modernen Gesellschaft geben.«236 Landschaft als ästhetisches Konstrukt diene dazu, die Trennung von Menschen und Natur ausgleichend zu vergegenwärtigen und ideell zu überwinden. Ritter setzt Landschaft dabei mit Natur gleich und rechnet nicht mit der Durchdringung von Kultur und Natur, die ja in der Landschaft schon immer nicht nur ideell, sondern realiter Tatsache war. Die technologisch und wissenschaftlich nutzbar gemachte Natur hat demnach nichts mit jener vorgestellten Natur zu tun, die als Landschaft ästhetisiert wird. Auch der Philosoph Rainer Piepmeier stimmt zu und ist, scheinbar der Logik des Gedankens folgend, der Meinung, »dass der vorindustriell ländlich wohnende und bäuerlich arbeitende Mensch als solcher nicht Landschaft sieht. […]

234 Karl Marx, Friedrich Engels: Das Kapital und Manifest der kommunistischen Partei. München 2006, S. 208f. 235 Pierre-Joseph Proudhon: Philosophie du progrès. Brüssel 1853, S. 98. 236 Ritter: Landschaft, S. 162.

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Natur als Landschaft sehen zu können, setzt also auch voraus, frei von der Not zu sein, in ihr nur arbeitend im Bemühen ums Überleben aufzugehen.«237 Dieser Dualismus soll sich in der Differenz von Stadt und Land abbilden, in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt, so Ritter mit Bezug auf Schiller, wo die Befreiung von der dominanten Natur sich vollzieht. In der Stadt konnten nicht nur Leibeigene ihrer Herrschaft entkommen und zu Insassen, also Bürgern, werden, sondern dort sollen sich auch die arbeitsteiligen Gesellschaftsstrukturen entwickelt haben. In den Städten entstanden Berufe, die erstens nicht auf direkter, zum Beispiel agrarischer, Ausbeutung von Rohstoffen beruhten, zweitens spezialisiert und dadurch individualisiert waren und dadurch drittens eine »neue Klasse der Gewerbetreibenden und Händler« hervorbrachten, die »entwurzelt, aber freier« waren, »weil sie Eigentum haben, das auf eigener Arbeit beruht«.238 Stadt wäre demzufolge zwar das Gegenteil von Land, was sich in den politischen Kämpfen der Zeit ja auch zeigte, aber nicht von Landschaft, sondern vielmehr deren historische Bedingung. Städte hat es aber schon lange vor der Entstehung des ästhetischen Begriffs von Landschaft gegeben. Darum ist eine historisch konkrete Form der Stadt gemeint, eben der frühneuzeitliche Typus der europäischen Stadt, mit ihren spezifischen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Hier soll auch die Landschaftsmalerei entstanden sein: »Die Naturansichten und Raumformen der Landschaftsmalerei folgen […] aus einer Distanz zur Landschaft als natürlicher oder bearbeiteter Natur. Es müssen […] Städte existieren, mit besonderer und anderer Weltansicht und mit Grenzen und Mauern. Anscheinend ist Landschaftsmalerei, wo immer sie auftrat, ein Ergebnis städtischer Kultur gewesen.«239

Ruth und Dieter Groh sind hier kritischer. Sie betrachten den Stadt-Land-Gegensatz nicht als singulär »konstitutiv für ästhetische Naturerfahrung«, er sei »wohl nicht mehr als eine notwendige Bedingung. Denn sonst wäre die sinnliche Faszination der wilden, unfruchtbaren, ja lebensfeindlichen Natur, wie sie uns u.a. im Hochgebirge begegnet, nicht erst so spät entdeckt worden.«240 Dass das Verhältnis von Stadt und Landschaft mehrdeutige Schlüsse zulässt, wird auch die Aufarbeitung der

237 Rainer Piepmeier: Das Ende der ästhetischen Kategorie »Landschaft«. Zu einem Aspekt neuzeitlichen Naturverhältnisses. In: Westfälische Forschungen. 30. Band. Münster 1980, S. 8-46, hier S. 14. 238 Eberle: Individuum, S. 44. 239 Holländer: Weltentwürfe, S. 189. 240 Groh, Groh: Weltbild und Naturaneignung, S. 93.

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Wortgeschichte zeigen.241 In der Kunstgeschichtsschreibung der Landschaftsmalerei wird dieser Gegensatz nichtsdestotrotz oft als Erklärungsmuster bemüht. In der städtischen Kultur nun soll die Landschaftsmalerei der Präsentation einer idealisierten Natur gedient haben, die über den Verlust des unmittelbaren Eingebettetseins in diese Natur hinweghelfen sollte. Das beschreibt schon Diderot spöttisch, der beobachtet, dass man im »engen Kreis unserer Städte, an die uns langweilige Beschäftigungen und traurige Pflichten fesseln«, nicht glücklich werden könne, weshalb man sich von der Landschaftsmalerei trösten lassen wolle: »Angesichts der Unmöglichkeit, uns den Arbeiten und Freuden des Landlebens hinzugeben, auf den Fluren umherzustreifen, hinter einer Viehherde herzulaufen und in einer Strohhütte zu schlafen, fordern wir mit Geld und guten Worten den Pinsel eines Wouweran, eines Berghem, eines Verenet dazu auf, uns die Sitten und die Geschichte unserer Vorfahren wieder vor Augen zu führen. So bedecken sich die Wände unserer ebenso prächtigen wie langweiligen Wohnungen mit den Bildern eines Glückes, dem wir nachtrauern.«242

Die »Geschichte unserer Vorfahren« ist in der Landschaftsmalerei nicht selten idealisiert und mit Bezug auf tradierte Vorstellungen oder Vorstellungsangebote dargestellt worden: »Die Intention, die hinter diesem Landschaftsbild steckt, ist die Transzendierung der realen Umwelt in die irreale und vergangene Landschaft Arkadiens, jenem paradiesischen Gefilde griechischer Dichtung und Mythologie.«243 Diese beiden utopischen Modelle, das Paradies und Arkadien, stammen aus zwei sehr unterschiedlichen Überlieferungen, haben sich aber in der Rezeption oft fast bis zur kompletten Überlagerung vermischt: einmal das biblische Motiv des Paradieses, Ort des Glücks ohne Sünde und ohne Arbeit, dann der heidnische Mythos von Arkadien, Ort des goldenen Zeitalters und griechische Heimat des glücklichen Hirtenvolks, um das sich mit der Bukolik und der Pastorale ganze Literatur- und Bildgenres entwickelt haben. Die hier vorgestellte entwicklungsgeschichtliche Beschreibung führt in gewisser Weise diesen mythologischen Traditionsstrang fort, indem sie selber an das Schema der Weltzeitalter, wie es Hesiod in der »Theogonie« überliefert, anknüpft.244 Die Neuzeit wird als mühseliges und von der Natur entfremdetes »eisernes Zeitalter« verstanden, das ästhetisch überwunden werden sollte. Vermutlich glichen die früh-

241 Vgl. Kapitel 4.5. 242 Denis Diderot: Salon von 1767. Wiedergegeben in: Bätschmann: Entfernung der Natur, S. 275. Vgl. auch Denis Diderot: Oeuvres. Salon de 1767, Paris 1821, S. 180. 243 Trnek: Wandel des Sehens, S. 31. 244 Hesiodus: Theogonie. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Karl Albert. Sankt Augustin 2005.

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neuzeitlichen Städte Europas für viele tatsächlich nicht erträumten Welten voller Muße und Wohlstand. Das Bedürfnis, diesen Umstand zu korrigieren, habe, so viele Kommentatoren, kompensatorisch die Landschaftsmalerei hervorgebracht. Doch so häufig das Argument vorgebracht wird, so schlecht ist es theoretisch begründet. Der Begriff »Kompensation« dient meist als Platzhalter für einen angenommenen kausalen Zusammenhang zwischen Verlust von Natur oder Landschaft in einer spezifischen Form und Bemühungen um deren Wiedergewinn in anderer, ästhetisierter Form. Erfahrungen der wachsenden Distanz zur Natur sollen, wie gezeigt, mit intensiver Zuwendung zu Ersatznaturen, eben zum Beispiel der Landschaft, ausgeglichen werden. Dieser Analysetopos liegt schon dem einfachsten Schema zur Erklärung des Entstehens von Landschaft zugrunde: Der Bauer sieht keine Landschaft. Herkunft oder Plausibilität des in diesem Denkmuster implizit oder explizit verwendeten Begriffs »Kompensation« werden dabei aber selten kritisch befragt. Prominent ist der Begriff in der Psychologie, wo ihn Alfred Adler durch seine 1907 erschienene »Studie über Minderwertigkeit der Organe« einführte.245 Er übertrug die Funktionsweise eines biologischen Organismus, dessen Organe auf ein biochemisches Ungleichgewicht nivellierend reagieren, auf die menschliche Psyche. Er hoffte so, psychische Vorgänge und Verhaltensweisen in Zusammenhang mit seinem Konzept des »Minderwertigkeitsgefühls« erklären zu können. In der jüngeren Philosophiegeschichte hat der Begriff »Kompensation« eine spezifische Bedeutung bekommen. Die so genannte »Kompensationsthese« bezieht sich auf eine Argumentation des deutschen Philosophen Odo Marquard, eines ehemaligen Assistenten Joachim Ritters, in welcher Marquard Kompensation zur Hauptfunktion der modernen Geisteswissenschaften erklärt. Diese seien nämlich, so Marquard, dazu bestimmt, das Verschwinden der Geschichte in einer von beschleunigtem Fortschritt, im Sinne einer wissenschaftlichen, technischen und industriellen Entwicklung, geprägten Welt auszugleichen. Diese Art von Fortschritt tendiere dazu, Geschichte zu monopolisieren und ihre Vieldeutigkeit unter dem Zwang der Sachlogik in Eindeutigkeit zu überführen. Die Aufgabe der Geisteswissenschaften sei es nun, diesem Komplexitäts- und Sinnverlust entgegenzuwirken und den Menschen, kompensierend, Bewusstsein und Orientierung zu bieten. Marquard stellt diesen Gedanken in einen größeren Zusammenhang. Er versteht den Menschen als »homo compensator«, dessen anthropologisch konstituierender, intrinsischer Mechanismus darin bestehe, Mangel durch Ersatz mildern zu wollen.246 Fehlt ihm etwas, sucht er auf Umwegen nach Linderung: »Nicht Erfüllung,

245 Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit der Organe. Berlin 1907. 246 Odo Marquard: Homo compensator. Zur anthropologischen Karriere eines metaphysischen Begriffs. In: Odo Marquard: Philosophie des Stattdessen. Studien. Stuttgart 2001, S. 11-29.

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sondern Linderung […] und nicht das Ganze, sondern Ergänzungen ohne das Ganze.«247 Kurz: Er kompensiert. Marquard betont, dass es sich dabei nicht um ein verallgemeinertes Theorem der Psychoanalyse handle. Er leitet die Kompensationstheorie aus der langfristigen Kulturgeschichte des Abendlandes her und verbindet sie mit dem alten theologischen Topos der Theodizee. Die Frage, warum es Leid gab in der Welt, wenn Gott ein guter Gott sein sollte, stellte sich für die abendländische Theologie und die vom Christentum geprägte Philosophie nicht erst unter dem Eindruck des verheerenden Erdbebens von Lissabon 1755, das Leibniz’ Vorschlag von 1710, die Welt als jene zu sehen, die »Gott notwendig [als] die beste erwählet haben muss«,248 entkräftete und die Aufklärung ins Stocken brachte.249 Das Bild des Menschen als eines unter Mangel und Fehlern leidenden Wesens liegt der christlichen Erbsündetheorie von Anfang an zu Grunde. Marquard versteht die Theodizee als eine Denkfigur, die den Mechanismus der Kompensation implizit reflektiert, um das Missverhältnis von Heil und Unheil ideell auszugleichen. Der Kompensationsbegriff führt historische Verhältnisse und Prozesse auf anthropologische Gründe zurück. Das verleiht ihm einen Universalitätsanspruch. Weil es sich um ein relationales Konzept handelt, das verschiedene, sich widersprechende Seiten zusammenführt, wirkt es linearen, teleologischen Erklärungsmustern entgegen und trägt, als eine Theorie des Ausgleichs, scheinbar selbst zum Ausgleich zwischen antagonistischen Diskursen bei. Doch gerade in diesen Eigenschaften wirkt die Theorie verschleiernd, nicht erhellend. Sie ist so allgemeingültig, dass sie eher nichts erklärt als alles. Mag Kompensation auf individual-psychologischer Ebene ein gutes Bild sein, um innersubjektve Mechanismen zu beschreiben, so ist es doch sicher nicht das einzige. Der Mensch ist als »homo compensator« massiv »unterbestimmt«.250 Dem Schema von Mangel und Ausgleich wird, weil es, Balance als Bild evozierend, aus lebensweltlichen Zusammenhängen bekannt und dort erprobt erscheint, selbsterklärende Evidenz zugestanden.251 Wird es aber aus diesem Rahmen herausgehoben und in einen zum Beispiel historischen Analysekontext gestellt, zeigt sich sein eminent reduktiver Charakter. Ganz im Gegensatz zum proklamierten Pro-

247 Marquard: Homo compensator, S. 65. 248 Gottfried Wilhelm Freiherr von Leibniz: Theodicee, das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen. Nach der Ausgabe von 1744. Berlin 1996, S. 110. 249 Vgl. z.B. Voltaire: Poème sur la désastre de Lisbonne. In: Voltaire: Oeuvres complètes. Tome II. Paris 1835, S. 508-512. 250 Groh, Groh: Weltbild und Naturaneignung, S. 166. 251 Vgl. z.B. Rüdiger Welter: Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer Erfahrungswelt. München 1986.

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gramm Marquards, den Menschen in den Geisteswissenschaften eine Alternative zum monothematischen Entwicklungsmodus der technisch-wissenschaftlichen Ratio zu liefern, unterwirft er sie mit seiner Theorie, selbst ein Beitrag zu diesen Geisteswissenschaften, einem angenommenen Fortschrittsdiktat. Kompensation als reaktives Konzept rechnet nicht mit der kreativen Dimension menschlichen Handelns, mithin menschlichen Gegenhandelns. Marquard unterschlägt die Tatsache, dass Fortschritt auch gesellschaftliche Modernisierung bedeutet, die unter anderem das Finden und Erlernen eines emanzipierten Umgangs mit wissenschaftlicher und technischer Innovation beinhaltet. Das Geschichtskonzept der Kompensationsthese setzt einen historischen Strang absolut und deklassiert das Erproben des Befreiungspotenzials aufgeklärter Modernisierung zum reaktiven Kompensationshandeln. Sie offenbart so kulturkonservative Züge und eine totalitäre Tendenz, die ihrem ausgleichenden Anstrich zuwiderläuft und den Universalanspruch delegitimiert. In Bezug auf die Landschaftsmalerei offenbart das Kompensationskonzept ein seltsam mechanistisches Verständnis von Kunst. Es rechnet nicht, und da deckt es sich mit den Mängeln der Kompensationsthese Marquards, mit der Eigenständigkeit und Unberechenbarkeit, mit der Souveränität und Autonomie von Künstlerinnen und Künstlern, mithin mit der Freiheit der Kunst in einem nichtlegalistischen Sinn. Dass die Kunst nicht auf eine therapeutische Funktion reduzierbar ist, lässt sich auch direkt an der Landschaftsmalerei zeigen. Wie ist, unter dem Aspekt der Kompensation, die Landschaft von Lucas van Valckenborch zu erklären, die eine Schmelzhütte in den Bergen zeigt? (Abb. 12) Offensichtlich wird hier weder eine paradiesische noch eine arkadische Landschaft gezeigt, sondern eine von der frühneuzeitlichen Montanindustrie geprägte und geschundene Gegend samt den in ihr mühsam arbeitenden Menschen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es sich nicht um eine konkrete, geographisch lokalisierbare Landschaft handelt. Valckenborch lehnt sich an ältere Vorbilder an, etwa an Herri met de Bles’ »Kupferbergwerk« aus den 1520er Jahren. Schon dort findet sich nicht nur das Thema, sondern auch das unter den Landschaftsmalern ohnehin verbreitete Interesse an tektonischen und geologischen Strukturen, wofür sich das Motiv natürlich besonders eignet. Diese Bilder sind nicht einfach mit einem kompensatorischen Interesse an, vielleicht sogar einer Sehnsucht nach, Natur zu erklären, einmal abgesehen davon, dass sie sich einer reduktiven Gleichsetzung von Natur und Landschaft verweigern. Solche Bilder zeigen, bei aller räumlichen, ja körperlichen Nähe, die diskutierte Entfernung der Menschen von der Natur, illustriert durch den technischindustriellen Zugriff. Sie machen auch die Folgen deutlich: Zerstörung. In Herri met de Bles’ Bild ist zu erkennen, wie Wald intensiv genutzt und, im Vordergrund, übernutzt wird, was im 16. Jahrhundert tatsächlich zu ökologischen Problemen

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führte.252 Zusätzlich reflektieren die Bilder Bodenbesitzverhältnisse, indem sie über den Bergwerken Schlösser zeigen, in denen der Inhaber des Bergregals vermutet werden darf, die aber, im Falle Valckenborchs, vielleicht nicht zufällig buchstäblich untergraben werden. Kann man von Valckenborchs Bild sagen, es diene der Kompensation eines Mangels an Nähe zur Natur? Ist allein die Tatsache, dass sich ein Bild mit einem Weltausschnitt beschäftigt und es sich stilistisch dem Genre der Landschaftsmalerei zuordnen lässt, ein Beleg für diese angenommene Kompensationsfunktion, oder spielt es vielleicht doch eine Rolle, was auf dem Bild zu sehen ist? Ist Valkenborchs Landschaft nicht ein Beispiel dafür, dass Landschaftsmalerei nicht, wie angenommen, etwas kompensiert, sondern vielmehr etwas thematisiert? Die »Berglandschaft mit Schmelzhütte« zeigt das Verhältnis von Mensch und Natur, reflektiert es und spricht die Folgen an. Unter den besprochenen geschichtstheoretischen Prämissen wird man dieses Verhältnis als krisenhaft interpretieren, das ist hier aber erst sekundär von Belang. Wichtiger ist die Erkenntnis, dass hinter diesem und ähnlichen Bildern nichts anderes steckt als das, was sie zeigen. Sie sind kein künstlerisches Ausweichmanöver, das dazu dient, einen angenommenen Mangel ästhetisch zu kompensieren, sondern sie thematisieren direkt das, was zu diesem mutmaßlichen Mangel führt. Stellt man, wie Norbert Schneider es tut, die Frage nach den ökologischen Folgen des menschlichen Umgangs mit Natur ins Zentrum der Auseinandersetzung mit Landschaftsmalerei, wird man entsprechende thematische Spuren finden, bereits lange bevor Letztere sich als eigenständiges Genre etabliert. Schneider interpretiert zum Beispiel die »Naturfrömmigkeit«253 Franz von Assisis als Reaktion auf die als problematisch erkannte Distanz der Menschen zur Natur. Franziskus und seine Gefährten »reagieren bereits auf eine Krise, einen bewusst empfundenen Riss in der Beziehung zwischen Menschen und Natur«.254 Hervorgerufen wurde diese Krise durch »produktionstechnische Verbesserungen in Landwirtschaft und Gewerbe«, etwa der Erfindung der hydraulischen Säge, was »zu einem stark anwachsenden Raubbau an der Natur« führte.255 Im zwischen 1437 und 1444 entstandenen Altarbild »Der Wolf von Gubbio« des sienesischen Malers Stefano di Giovanni, genannt Sassetta, sieht Schneider eine nachträgliche Illustration des franziskanischen Willens, sich mit der Natur auszusöhnen. Das Bild bezieht sich auf eine Legende, gemäß welcher Franz von Assisi einen Friedensvertrag zwischen den Bürgern der Stadt Gubbio und einem marodierenden Wolf vermittelt haben soll. (Abb. 13) Das

252 Vgl. N. Schneider: Landschaftsmalerei, S. 104. 253 N. Schneider: Landschaftsmalerei, S. 23. 254 N. Schneider: Landschaftsmalerei, S. 26. 255 N. Schneider: Landschaftsmalerei, S. 26.

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Bild steht sowohl formal wie inhaltlich in vormoderner Tradition, thematisiert aber, in Schneiders Interpretation, genau jenes Problem, das als Indiz für das neuzeitliche Verhältnis von Mensch und Natur und damit als Auslöser für die spätere »Erfindung« der Landschaftsmalerei betrachtet wird. Etwa eine Generation nach Valkenborch wählten andere niederländische Landschaftsmaler wieder Motive, die sich nur schlecht mit einem supponierten Kompensationsbedürfnis erklären lassen, besonders wenn man davon ausgeht, dieses habe in den Städten seinen Ursprung. Die Holländer malten nämlich genau das: Städte. Am bekanntesten ist vielleicht Jan Vermeer van Delfts »Ansicht von Delft«, die um 1658 entstanden ist. Aber bereits 1618 hatte Esaias van de Velde eine »Ansicht von Zieriksee« gemalt. (Abb. 14) Die Niederländer griffen natürlich auf eine ältere Motivtradition zurück, die vor allem aus druckgraphischen Werken bestand. Schon gegen Ende des 15. Jahrhunderts fertigte ein Holzschneider, vielleicht war es Francesco Roselli, das berühmte Bild von Florenz, das seiner eigenartigen Rahmung wegen »Plan mit der Kette« genannt wird. Das Bild gilt als »das erste Beispiel für die Darstellung einer Stadt, die nicht allein als Hintergrund einer Heiligenszene oder sonstigen ›Historie‹ fungiert, sondern autonomes Bildthema ist«.256 In der Entwicklungsgeschichte der Stadtveduten scheinen sich also ähnliche Fragen zu stellen wie in jener der Landschaftsmalerei. Jedenfalls entwickelten sich bestimmte Stränge der beiden Genres aufeinander zu, so dass Städte, und zwar nicht fiktive, sondern real existierende, zu einem beliebten und lukrativen Motiv der niederländischen Landschaftsmalerei werden konnten. Genrespezifische Techniken und Darstellungsinteressen flossen ineinander über, bei Vermeer zum Beispiel die Wiedergabe meteorologischer Gegebenheiten und deren Indienstnahme im Hinblick auf die formale und inhaltliche Struktur des Gemäldes.257 Generell stilbildend wurde das eigentlich landschaftliche Motiv der Wasserfläche im Vordergrund. Der Panoramablick hingegen war sowohl ein konstitutives Mittel der Landschaftsmalerei als auch der älteren Stadtansichten gewesen, hier waren die beiden Gattungen kongruent. Diese Bilder nicht der Landschaftsmalerei zuzurechnen, würde bedeuten, einen reduktiven Begriff von Landschaft zu verallgemeinern, der Landschaft mit unberührter Natur, mit der Abwesenheit menschlicher Einflüsse, gleichsetzt, eine Vorstellung, die es in der Malerei nie gegeben hat. Landschaftsmalerei schlägt sich, einen Gegensatz von Kultur und Natur voraussetzend, wie es die kompensationstheoretisch argumentierende Geschichtsschreibung der Landschaftsmalerei tut, nicht ausgleichend auf die Seite der Natur. Sie thematisiert diesen Antagonismus

256 Roeck: Auge, S. 104. 257 Vgl. N. Schneider: Landschaftsmalerei, S. 138.

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und stellt mithin das Denkschema überhaupt infrage, wie die angeführten Beispiele zeigen. Die sehr weit verbreitete Kompensationsthese suggeriert, »Landschaft« sei ein monokausal zu verstehendes, zweckgebundenes und hermeneutisch geschlossenes Konzept. Gerade in der Geschichte der Landschaftsmalerei zeigt sich aber, dass man es mit einem wesentlich komplizierteren und vielschichtigeren, weil offenen Phänomen zu tun hat. Dieser Eindruck bestätigt sich erst recht, wendet man sich der allgemeinen Geschichte des Begriffs »Landschaft« zu.

4.5 BEGRIFFSGESCHICHTE: DER ÄSTHETISCHE LANDSCHAFTSBEGRIFF Die deutschsprachige Literatur zur Geschichte des Begriffs »Landschaft« stützt sich mehrheitlich auf die Untersuchung von Gunter Müller »Zur Geschichte des Wortes Landschaft« von 1975 und Rainer Gruenters »Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte« von »Landschaft« aus dem Jahre 1953.258 Daneben sind diverse historische Wörterbucheinträge wichtig, zentral das 1885 erstmals erschienene Lemma im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm.259 Durchgesetzt hat sich eine Auslegung, die die Herkunft des Begriffs »Landschaft« im heute verwendeten Sinn aus dem Bereich der Kunst postuliert. Die ästhetische Bedeutungsdeterminante wird dabei zwar nicht als die primäre, wohl aber als im Verlauf der Wortgeschichte dominierende verstanden. Dahinter steht das Bewusstsein, dass »Landschaft« als ästhetisches Konzept unter bestimmten historischen Bedingungen entsteht und nicht als überzeitlich gegeben vorausgesetzt werden kann: »Festzuhalten ist, dass die ›Entstehung‹ der ›Landschaft‹ als Sehen realer Natur und als dessen Kristallisation in Malerei und Dichtung ein geschichtlich später, zeitlich einzugrenzender Vorgang ist. […] Diesen Gegenstandsbereich, der mit dem Terminus ›Landschaft‹ begrifflich

258 Gunter Müller: Zur Geschichte des Wortes Landschaft. In: Alfred Hartlieb von Wallthor und Heinz Quirin (Hg.): »Landschaft« als interdisziplinäres Forschungsproblem. Vorträge und Diskussionen des Kolloquiums am 7./8. November 1975 in Münster. Münster Westfalen 1977, S. 4-13. Und Rainer Gruenter: Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte. In: Alexander Ritter (Hg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Darmstadt 1975, S. 192-207; erstmals erschienen in: GermanischRomanische Monatsschrift NF III (1953) (=XXXIV. Band der Gesamtreihe), S. 110120. 259 Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. München 1984.

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erfasst wird, gab es nicht immer, er ist nicht ›ewiger‹ Gegenstand der Kunst, obwohl es das Substrat, auf das der Gegenstandsbereich bezogen ist, die ›Natur‹, schon ›immer‹ gab.«260

Auf dieses Verhältnis des »Sehens von realer Natur« und »dessen Kristallisation in Malerei und Dichtung« wird im Folgenden näher eingegangen. Dabei zeigt sich, dass das »Sehen von realer Natur« erstens gar nicht nur auf Natur beschränkt werden kann und zweitens mit seiner künstlerischen »Kristallisation« eng verflochten ist. Die einschlägige begriffsgeschichtliche Interpretation verschweigt zwar die dem Begriff und seiner Entwicklung inhärente Widersprüchlichkeit nicht, rückt sie aber in den hermeneutischen Hintergrund. Begriffsgeschichtliche Zugänge böten jedoch die Möglichkeit, solche Widersprüche offen zu legen und erkenntnistheoretisch produktiv werden zu lassen. Im zweiten Band der »Philosophischen Terminologie« bezeichnete Theodor W. Adorno Begriffe oder Termini als »Denkmäler von Problemen«.261 Das Bild verweist einerseits auf die Tatsache, dass Begriffe das, was sie bezeichnen, in Stein meißeln, es aber anderseits in den Schatten stellen und vielleicht ganz in Vergessenheit geraten lassen können. In Adornos Worten: »Das Moment der Identität, der identische Kern an den überlieferten Problemen wird bezeichnet dadurch, dass die Termini als Termini festgehalten werden, während die historischen Verschiebungen der Problemstellungen selbst sich niederschlagen im Wechsel der Bedeutungen, welche die Termini haben.«262 Diesen »Problemen« ist die Begriffsgeschichte auf der Spur. Sie beschäftigt sich also systematisch mit der Geschichte des Wissens, oder genauer, mit der Geschichte der Episteme, der Inhalte dieses Wissens in Form von Begriffen. Insofern bildet die Begriffsgeschichte eine Variante der Diskursgeschichte, wie sie zum Beispiel Michel Foucault gedacht und etabliert hat.263 Die Diskursgeschichte richtet ihr Interesse allerdings mehr auf die Erforschung von Synchronizität spezifischer Diskurse, weil sich deren Gehalt durch assoziierte Begriffsfelder speist, die zeitgleich, aber formungleich an sie anschließen. Begriffsgeschichte sucht diese Anschlüsse auch, insbesondere in Form der »historischen Semantik«264 nach Koselleck, die

260 Piepmeier: Ende der ästhetischen Kategorie »Landschaft«, S. 11. 261 Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie: zur Einleitung. Band 2. Frankfurt a.M. 1975, S. 13. 262 Adorno: Philosophische Terminologie, S. 13. 263 Vgl. z.B. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. 1981. 264 Reinhart Koselleck: Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Stuttgart 1979.

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Begriffe als »Indikatoren und Faktoren des historisch-sozialen Prozesses«265 analysiert und so mit Fragestellungen der Sozialgeschichte in Verbindung bringt. Trotzdem sind begriffsgeschichtliche Fragestellungen eher diachron orientiert. Sie versuchen, Entwicklungen und Veränderungen von Begriffen zu erfassen und diese in einen bestimmten Kontext zu stellen, der sich dann wieder als von Gleichzeitigkeiten geprägt erweisen kann. So werden begriffsgeschichtliche Diskontinuitäten, Brüche, Bedeutungssprünge oder Bedeutungsverluste sichtbar; historische Inkongruenzen, die nachzuweisen der Diskursgeschichte mit der Offenlegung von synchroner Ambivalenz und Widersprüchlichkeit innerhalb eines diskursiven Feldes ebenso gelingen kann. Diese Kompetenz macht die Begriffsgeschichte zu einem starken Instrument gegen teleologische, essentialistisch ausgerichtete Ideengeschichte, wie sie die Philosophie und viele andere Geisteswissenschaften lange dominiert hat. Die Begriffsgeschichte »unterstellt die Begriffe nicht als Subjekte, sondern beobachtet und reflektiert, wie und von wem Bedeutungen konstituiert werden«266 – und, als kritische Begriffsgeschichte, zu welchem Zweck. Insofern kommt der Begriffsgeschichte auch, wie eben Adorno meinte, die Funktion zu, nachzuweisen, dass alle Wissensformen historisch erzeugt und entsprechend variabel und letztlich kontingent sind. Doch obwohl sich die Begriffsgeschichte in all dem als äußerst produktiv erwiesen hat, bleibt ein ihr eigentlich zugrunde liegendes Problem ungeklärt: das Verhältnis von Sprache und Welt. Seit Jahrhunderten setzen sich Wissenschaften und Künste mit dem Problem auseinander, ob und wie Sprache und Welt aufeinander wirken, ob die eine nach dem Muster der anderen aufgebaut oder vielleicht wenigstens zu verstehen ist, welcher Art Korrelationen und Konvergenzen von Sprache und Welt sind und ob deren Entdeckung von ihren eigenen Bedingungen abhängt, ob und wie Sprache und Welt überhaupt erkennbar sind. Fragen dieser Art haben die Philosophie besonders des 20. Jahrhunderts geprägt, in dem eine eigentliche »linguistische Wende« stattgefunden hat.267 Aufbauend auf die kantische Abwendung von den ontologischen Dingen »an sich« und der Problematisierung der Bedingungen der Möglichkeit ihrer Wahrnehmung, dominierte das Nachdenken über Sprache die alte Disziplin der Epistemologie und übernahm die Frage nach Erkenntnis, lange und weiterhin ein Zentralproblem der Philosophie, weitgehend.

265 Fotis Jannidis: Begriffsgeschichte. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2008, S. 61. 266 Ernst Müller: Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. In: Ernst Müller (Hg.): Begriffsgeschichte im Umbruch? Hamburg 2005, S. 9-20, hier S. 15. 267 Vgl. Kapitel 3.2.

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Doch auch den diversen daraus entstandenen zeichentheoretischen Systemen ist es nicht gelungen zu erklären, wie Sprache und Welt zueinander stehen und wie sie aufeinander wirken. Als begriffsgeschichtliches Problem zeigt sich das zum Beispiel an Begriffen in Form von Metaphern, deren Rolle gerade in wissenschaftlichen Diskursen zwar enorm, ihr zeichentheoretischer Status hingegen »umfassend prekär«268 ist, so dass kaum abschließend Aussagen über ihre historischen Funktionsweisen gemacht werden können.269 Die angeführte Feststellung, Begriffe seien »Indikatoren und Faktoren des historisch-sozialen Prozesses«,270 ist einer von unzähligen Versuchen, das Verhältnis von Sprache und Welt in Worte zu fassen. »Indikatoren« sind Begriffe in ihrer semiotischen Abbildfunktion, »Faktoren« sind sie, weil von ihnen vermutet wird, sie würden noch eine oder mehrere andere aktiv gedachte Rollen in Bezug auf die Realität spielen, die sie als »Indikatoren« eben nicht nur beschreiben oder abbilden, sondern auch gestalten oder sogar zu erzeugen vermögen. Sprache ist, so die Vermutung, an der Konstitution von Welt maßgeblich beteiligt. Wie sie das tut, wie also aus Abstrakta und Epistemen Realien werden, bleibt in vielem rätselhaft. Vielleicht hilft die Vorstellung, dass die Sprache nicht nur ein Mittel der Menschen ist, sondern die Menschen und ihr Handeln auch Mittler der Sprache sind, das heißt, sich Sprache durch menschliches Handeln realisiert. Das liefe allerdings auf eine Umkehrung der hinter den gängigen Vorstellungen von Sprache stehenden Trennung von Subjekt und Objekt – der Mensch als sprechendes Subjekt, die Sprache als vermittelndes Objekt – hinaus. Jacques Lacans Überlegungen zum Beispiel, wonach der unbewusste Teil der menschlichen Psyche wie eine Sprache strukturiert sei, gehen in diese Richtung.271 Auch in der Analyse von »Gouvernementalitätsregimen«, wie Barthes und Foucault spezifische Machtstrukturen bezeichnen, kommt der Untersuchung herrschender Sprachformen große Bedeutung zu.272 Entsprechend komplex gestalten sich die aus den geschilderten Paradoxien entstehenden Probleme. Das zeigt der folgende kurze Exkurs zur Frage der Performativität von Sprechakten. John L. Austin führte 1962 in seiner »Theorie der Sprechakte« den Begriff des »Performativen« in die Sprachphilosophie ein.273 Performative Äußerungen können,

268 E. Müller (Hg.): Bemerkungen, S. 10. 269 Vgl. z.B. Stefan Willer: Metapher und Begriffsstutzigkeit. In: Ernst Müller (Hg.): Begriffsgeschichte im Umbruch?, S. 69-80. 270 Jannidis: Begriffsgeschichte, S. 61. 271 Vgl. z.B. Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Weinheim 1996. 272 Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a.M. 1964. Und Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität. Frankfurt a.M. 2004. 273 John L. Austin: Theorie der Sprechakte. (How to do things with Words.) Stuttgart 1998.

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so Austin, weder wahr noch falsch sein, sondern stellen Handlungen dar. Sie sind so eng mit diesen Handlungen verknüpft, dass sie selber diese Handlungen zu sein scheinen, wie zum Beispiel die aus dem Verb »Taufen« hervorgehenden Sprechund Handlungsakte. Gewisse Formen des Sprechens sind für Austin also Handeln, das auch entsprechende Folgen hat. Anhand dieses performativen Anteils in der Sprache lassen sich, in Austins Worten, Fälle untersuchen, »in denen etwas sagen etwas tun heißt; in denen wir etwas tun, dadurch dass wir etwas sagen oder indem wir etwas sagen«.274 Ausschlaggebend für den Erfolg performativer Sprechakte ist die Konvention. Die fraglichen Äußerungen müssen von den beteiligten Personen im richtigen Moment im Sinne dieser Konvention verstanden werden, das heißt, sie müssen einer Übereinkunft folgen, in gewisser Weise einem Vertrag, den Austin als Beispiel heranzieht.275 Damit bewegt sich Austin auf einem Begriffsfeld, das bereits Thomas Hobbes in seinem »Leviathan« gut 300 Jahre vor ihm bearbeitet hatte.276 Auch Hobbes glaubt, Worte allein würden nicht genügen, um das Bestehen eines Vertrages zu sichern, denn ihre Kraft sei zu schwach. Angesichts der äußeren Umstände des Zustandekommens eines Vertrags, nämlich dem »reinen Naturzustand«, das heißt dem »Zustand des Krieges eines jeden gegen jeden«,277 von dem Hobbes ausgeht, müsse man sich im Klaren darüber sein, dass »das Band der Worte viel zu schwach ist, um den Ehrgeiz, die Habgier, den Zorn und die anderen menschlichen Leidenschaften ohne Furcht vor einer Zwangsgewalt zu zügeln«.278 Das hält Hobbes aber nicht für schlimm. Vielmehr ist ihm bewusst, dass ein Vertrag allein nichts nützt, denn im »reinen Naturzustand« ist von keiner Seite irgendeine Sicherheit zu erwarten: »Eine weitere Folge dieses Krieges eines jeden gegen jeden ist, dass nichts ungerecht sein kann. Die Begriffe von Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben hier keinen Platz. Wo keine allgemeine Gewalt ist, ist kein Gesetz, und wo kein Gesetz, keine Ungerechtigkeit.«279 Damit formuliert Hobbes die Konventionalität, auf die sich Austin beruft, relativ genau. Man benötigt Garantien für den Vertrag, die den Vertrag gegen die wechselnden Intentionen der Parteien immunisieren. Diese Garantien scheinen eben nicht innerhalb der Sprechakte zu liegen, sondern sind diesen übergeordnet, sie sind

274 Austin: Sprechakte, S. 35. 275 Austin: Sprechakte, S. 72. 276 Thomas Hobbes: Leviathan. Oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher. Frankfurt a.M. 2000. 277 Hobbes: Leviathan, S. 105. 278 Hobbes: Leviathan, S. 105. 279 Hobbes: Leviathan, S. 98.

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die »allgemeine Gewalt«, sie sind autoritär. Hobbes tut, was Austin vermeidet, er befragt Verträge auf ihre politische Bedingtheit und beschreibt, wie »Menschen miteinander übereinkommen, sich willentlich einem Menschen oder einer Versammlung zu unterwerfen«.280 Hobbes beschreibt Autorität als Entscheidung. Das Geheimnis des Erfolgs performativer Äußerungen liegt im konventionellen Übereinkommen unter den Bedingungen willentlich etablierter autoritärer Machtbeziehungen. Wie diese willentliche Unterwerfung zustande kommt, untersucht wiederum mehr als 300 Jahre später Jacques Derrida in seiner 1990 erstmals erschienenen Untersuchung zur »Gesetzeskraft«.281 Er seziert dort die Begriffe »Gerechtigkeit«, »Gesetz« und »Gewalt« und stößt auf die Doppeldeutigkeit, die Letzterem in der deutschen Sprache eigen ist: »Gewalt« als unrechtmäßiges Mittel der Unterwerfung und Beherrschung und »Gewalt« als rechtmäßiges Mittel der Durchsetzung von Recht, genauer dessen Durchsetzbarkeit überhaupt – also das, was Hobbes »allgemeine Gewalt« nennt. »Wie soll man zwischen dieser Gewalt, dieser Kraft des Gesetzes, dieser ›Gesetzeskraft‹, wie man im Französischen und ebenso – wenn ich nicht irre – im Englischen sagt, und einer Gewalt(tätigkeit), die man immer für ungerecht hält, unterscheiden?«282 Die sich hinter dieser doppelten Bedeutung des Worts verbergende Aporie hat auch Pascal erkannt: »Il est juste que ce qui est juste soit suivi; il est nécessaire que ce qui est le plus fort soit suivi. La justice sans la force est impuissante; la force sans la justice est tyrannique.«283 Das Recht ist demnach auf Gewalt angewiesen, ohne welche es machtlos wäre; Gewalt ist auf das Recht angewiesen, ohne welches sie ungerecht wäre. Hobbes sagt an diesem Punkt, Recht beruhe auf der freien Entscheidung, und unterschlägt damit die Gewalt, die Recht gerecht macht. Doch Recht stützt sich auf nichts anderes als auf sich selbst. Die Gewalt, die Recht sichert, ist, mit den Worten Austins, seine Performanz. Derrida ortet hier das »Mystische«, den »mystischen«284 Grund von Recht, und verweist damit gedanklich und terminologisch auf Wittgenstein.285 Die Aporie besteht in der Verschränkung von Recht, das gegen Gewalt steht, und Gewalt, die gegen Recht steht. Hobbes’ »freie Entscheidung«, die Gewaltlosigkeit suggeriert, wird so als Teil eben dieser Gewalt entlarvt, die Recht setzt. Seine Er-

280 Hobbes: Leviathan, S. 135. 281 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«. Frankfurt a.M. 1996. 282 Derrida: Gesetzeskraft, S. 12f. 283 Blaise Pascal: Pensées, S. 101. 284 Derrida: Gesetzeskraft, S. 28. 285 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. In: Ludwig Wittgenstein. Ein Reader. Stuttgart 1996.

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zählung vom Menschen, der dem Menschen ein Wolf ist, wird durch Derridas dekonstruktivistische Lesart bestätigt, weil sie sich – auch im Akt des Erzählens durch Hobbes – historisch bestätigt hat, und zugleich widerlegt, weil sie – ebenso belegt durch den Akt des Erzählens durch Hobbes – historisch ist. Das erinnert an Horkheimers und Adornos Feststellung aus der »Dialektik der Aufklärung«,286 die besagt, dass es keine Befreiung ohne Unterdrückung geben könne, weil Befreiung von Unterdrückung eine Funktion von Unterdrückung von Freiheit sei. In diese Aporie, die Derrida »mystisch« nennt, führt auch die Begründung von Recht aus sich selbst, das heißt aus Gewalt. Zusammenfassend also können die Positionen Austins, Hobbes’ und Derridas so beschrieben werden: Austin glaubt an die Wirkung der Worte, auch wenn sie auf Konvention angewiesen sind. Performanz ist für ihn eine Qualität, die sich selbst begründet. Hobbes dagegen spricht den Worten diese Kraft ab. Er sieht deren Erfolg in Abhängigkeit einer externen Autorität, welche durch freie Entscheidung und Vernunft, im Krieg jeder gegen jeden, für Recht und Ordnung sorgt. Derrida wiederum beschreibt diese Vernunft in ihrer Historizität als gewalttätig. Das Recht, das sie zu stiften glaubt, ist unbegründet. Es ist höchstens rechtens, nie aber gerecht, durchaus als eine Funktion von Autorität, die sich aber nur zum eigenen Nutzen auf freie Entscheidung und Vernunft berufen kann und ansonsten einfach Macht ist. Anhand dieser kurzen Diskussion der Frage, wie »etwas sagen etwas tun« heißen kann, wird klar, wie komplex das Verhältnis von Sprache und Welt sich darstellt. Derridas Reflex, sich die Bedingungen der Wirkung von Sprache genau anzusehen, ist sicher auch für begriffsgeschichtliche Gegenstände hilfreich. Aber das Problem, wie sich die Wirklichkeit, gedacht als Wirklichkeit außerhalb der Sprache, und Sprache zueinander verhalten, bleibt ungelöst. Dessen ungeachtet gelingt es begriffsgeschichtlichen Untersuchungen immer wieder, aufschlussreiche Resultate zu liefern, vielleicht gerade weil sie sich, wie Michael Eggers und Matthias Rothe meinen, dem Zwang enthoben sehen, theoretische Rechenschaft ablegen zu sollen. Man rette sich vielmehr »in die Klugheit der Praxis […], immerhin eine alte aristotelische Tugend«.287 Die begriffsgeschichtliche Praxis zum Begriff »Landschaft« muss in den Augen des Kunsthistorikers Matthias Eberle mit der Frage nach der Entwicklung einer

286 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1988. 287 Michael Eggers, Matthias Rothe: Die Begriffsgeschichte ist tot, es lebe die Begriffsgeschichte! In: Michael Eggers, Matthias Rothe: Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften. Bielefeld 2009, S. 7-22, hier S. 14.

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spezifischen Subjektivität verknüpft werden.288 Er meint damit nicht eine ideengeschichtlich verfärbte Anthropologie, sondern das historisch konkrete Fragen nach den materialistischen Bedingungen des Zustandekommens einer für das Erkennen von Landschaft erforderlichen Art des subjektiven Sehens: »Da Landschaft das Selbstbewusstsein des Betrachters voraussetzt, der seine eigene Wahrnehmung von dem schlicht Vorhandenen unterscheidet, ist also danach zu fragen, wann der Begriff in dieser Bedeutung in der Geschichte auftaucht. Ist dies geklärt, ist sodann nach den allgemeinen Bestimmungen jener Subjektivität zu fragen, die Landschaft erscheinen lässt. Daran knüpft sich die Frage, aus welchen objektiven Bedingungen sich diese Form der Subjektivität und der Wahrnehmung von Natur entwickelt, also ihre materialistische Ableitung und Erklärung.«289

Zu den fraglichen Bedingungen gehören sowohl das Verhältnis der Menschen untereinander wie jenes zu sich selbst. Eberle sucht also auch »nach dem Entwicklungsstand der zweiten, inneren Natur des Menschen […], nach seinem Denken, seiner Sensibilität und den Formen seiner Wahrnehmung«.290 Das Suffix »-schaft« in »Landschaft« stammt, wie Müller referiert, etymologisch von einem in den germanischen Sprachen schon früh verbreiteten Verbalabstraktum ab, das »Beschaffenheit« bedeutet.291 Die Wortzusammensetzungen mit Substantiven, wie »Landschaft« eine ist, lassen sich in drei Gruppen unterteilen: in Abstrakta, zum Beispiel Meisterschaft, Kollektiva, zum Beispiel Mannschaft, und Raumbezeichnungen, zum Beispiel Grafschaft. Diese Aufzählung markiert auch die Wortentwicklung selber, die von den Abstrakta zu den Kollektiva verläuft, genauer noch zu Personengruppenbezeichnungen. Müller schlägt vor, diesen Verlauf so zu deuten, dass menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen auf ganze Gruppen übergegangen sind, so dass zum Beispiel aus ritterlichem Verhalten die Teilhabe am ritterlichen Stand und dann die Gesamtheit der Ritter, die Ritterschaft, werden konnte. Vom Kollektiv ging die Bezeichnung dann über auf den Raum, der von der bezeichneten Gruppe besiedelt, besessen oder beherrscht wurde.292 Für »Landschaft« allerdings lässt sich eine solche Entwicklung gerade nicht nachweisen. Das Wort hat bereits in den frühesten Belegen einen Raumbezug, und zwar im Sinne eines »Siedlungsraums«. So dient es im Deutschen häufig zur Übersetzung der lateinischen Vokabeln »provincia« und »regio«. Trotzdem will Müller

288 Vgl. Kapitel 4.4.1. 289 Eberle: Individuum, S. 13. 290 Eberle. Individuum, S. 13. 291 Vgl. auch: Duden 7. Das Herkunftswörterbuch. Mannheim, Wien, Zürich 1989, S. 619. 292 Vgl. G. Müller: Landschaft, S. 5.

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althochdeutsch »lantscaf« nicht auf althochdeutsch »lant« reduziert wissen. Er schreibt »Landschaft« von Anfang an eine »historisch-ethnische« Komponente zu und vergleicht es mit altniederländisch »landskapr«, das »Landesbrauch«, »Landessitte« bedeutet. Er hält es für möglich, dass »Landschaft« damit in Verbindung steht und eine gewisse Einheit rechtlicher und sozialer Normen impliziert. Seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert wird diese Bedeutungsebene immer stärker bemerkbar und das Wort »Landschaft« kann von da an einfach die »Bevölkerung« eines Landes meinen. Offenbar schon früh wird diese Bedeutung allerdings auf eine bestimmte Schicht der Bevölkerung reduziert, und zwar auf jene, die repräsentative Funktion hat: die Vornehmen eines Landes, der Adel oder die Ritterschaft. Das trifft vor allem auf die mittelhochdeutsche Dichtung zu, während »Landschaft« außerliterarisch die »Gesamtheit der politisch handlungsfähigen Bewohner eines Landes/Territoriums«293 bezeichnet. Diese Politisierung des Begriffs geht so weit, dass das Wort sogar auf die politischen Institutionen übergehen kann, die die Organisation des Zusammenlebens einer sozialen Gruppe manifestieren, nämlich als Bezeichnung für die Ständeversammlung, die Versammlung der politischen Vertreter eines Territorialstaates im Landtag, die zusammen mit dem Landesherrn das Land bildeten.294 »landschaft, die vertreter eines territoriums oder eines landes«,295 listet auch das Grimmsche Wörterbuch auf, stellt aber allgemein fest, das Wort sei in diesem geographisch-politischen Sinn »der modernen sprache fremd geworden«.296 Allerdings ist die politische Bedeutung von »Landschaft« in manchen Teilen des deutschen Sprachraums weiterhin präsent. In Niedersachsen gibt es verschiedene öffentlich-rechtliche Körperschaften, so genannte »moderne Landschaften« und »Landschaftsverbände«, die Aufgaben der regionalen Kulturarbeit übernehmen. Der Kommunalverband der Ostfriesischen Landschaft zum Beispiel sieht sich in der Tradition der alten Ständeversammlung Ostfrieslands. Heute versteht sich die Ostfriesische Landschaft als »Kulturparlament« und nimmt immer noch demokratischparlamentarische Funktionen wahr.297 Auch der Landschaftsverband WestfalenLippe, hervorgegangen aus dem Provinzialverband Westfalen, knüpfte seit 1946 terminologisch an die »Landschaft« als »Repräsentation und Vertretung des Landes und seiner Bewohnerinnen und Bewohner«298 an. Der Verband nimmt heute Aufgaben im sozialen und kulturellen Bereich sowie im Bildungs- und Strafvollzug wahr.

293 G. Müller: Landschaft, S. 8. 294 Vgl. Erich Bayer, Frank Wende: Wörterbuch zur Geschichte. Begriffe und Fachausdrücke. Stuttgart 1995, S. 337f. 295 Grimm, Grimm: Deutsches Wörterbuch, S. 132. 296 Grimm, Grimm: Deutsches Wörterbuch, S. 132. 297 www.ostfriesischelandschaft.de/ol/index.jsp?id=109 (11. April 2011). 298 www.lwl.org/LWL/Der_LWL/Begriff/ (11. April 2011).

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Auch auf der politischen Landkarte der Schweiz ist der Begriff »Landschaft« nach wie vor zu finden: im Halbkanton Basel-Landschaft.299 Die Bezeichnung »Basler Landschaft« meinte im Ancien Régime das Untertanengebiet im Umland der Stadt Basel. Die Bürger der Städte hatten sich im Hochmittelalter als neue soziale und politische Kraft gegenüber dem Adel positioniert. In Basel richtete sich dieser Prozess insbesondere gegen die fürstbischöfliche Herrschaft bei gleichzeitiger außenpolitischer Annäherung an die Eidgenossenschaft. Zwar konnte der Adel an manchen Orten innerhalb der Stadtmauern seine dominante Position halten, insgesamt führte aber der Bedeutungsverlust des Adels zu einer gesellschaftlichen Eigentumsverschiebung zum Vorteil der Städte, denen es gelang, durch ökonomische, militärische oder diplomatische Erwerbungen ihr Einflussgebiet auszuweiten und Land zu gewinnen. Die Stadt Basel gelangte besonders im 16. und 17. Jahrhundert durch den Kauf vieler kleiner Ämter zu einem zusammenhängenden Territorium jenseits der Stadtgrenzen.300 Erst in der durch die französische Revolution und durch die französische Besetzung eidgenössischer Gebiete ausgelösten helvetischen Revolution wurde das politische Verhältnis zwischen Stadt und Land neu organisiert. So auch in Basel, wo sich die beiden in den 1830er Jahren blutig voneinander trennten, so dass die eidgenössische Tagsatzung sich 1833 veranlasst sah, die linksrheinischen Basler Gemeinden als Kanton Basel-Landschaft anzuerkennen. Die alte politische Bezeichnung für das untertänige Baselbiet, die »Basler Landschaft«, war auf den neuen Kanton übergegangen. Der Bedeutungskomplex des Wortes »Landschaft« erhält vor dem Hintergrund der Basler Geschichte eine besondere Nuance, weil »Landschaft« hier in konkreter politischer und wohl auch ideologischer Abgrenzung zur Stadt konzipiert ist. »Stadt« und »Landschaft« bilden unter diesen Voraussetzungen ein semantisch ähnlich konfrontativ gedachtes Wortpaar wie »Stadt« und »Land«. Dieser Zusammenhang lässt sich, wie der Kunsthistoriker Matthias Eberle erwähnt, auch in der Bibelübersetzung Martin Luthers finden, der »Landschaft« semantisch als »Pro-

299 Vgl. Anna C. Fridrich, Fridolin Kumann, Albert Schnyder: Nah dran, weit weg. Geschichte des Kantons Basel-Landschaft. Band 4. Dorf und Herrschaft: 16. bis 18. Jahrhundert. Liestal 2001. Ruedi Epple, Anna C. Fridrich, Daniel Stefan Hagmann: Nah dran, weit weg. Geschichte des Kantons Basel-Landschaft. Band 5. Armut und Krise: 19. und 20. Jahrhundert. Liestal 2001. Und Ruedi Epple, Anna C. Fridrich, Daniel Stefan Hagmann: Nah dran, weit weg. Geschichte des Kantons Basel-Landschaft. Band 6. Wohlstand und Krise: 19. und 20. Jahrhundert. Liestal 2001. 300 Vgl. Berner, Hans: Basel (Kanton). Vom 16. Jahrhundert bis zur Kantonstrennung. 3.1 Staatsbildung, Regierung und Verwaltung bis zum Ende des Ancien Régime. In: Historisches Lexikon der Schweiz. www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D7387-1-8.php (11. April 2011).

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vinz« im Gegensatz zu »Stadt« bestimmt.301 Der Soziologe Stefan Kaufmann wiederum sieht darin keine Eigenschaft der mittelalterlichen Bedeutung von »Landschaft«, die gerade nicht im Gegensatz zu »Stadt« gedacht worden sei: »Vielmehr bezeichnet der Begriff den sichtbaren Zusammenhang von Siedlungsraum und gesellschaftlicher Ordnung.«302 Insofern konnte die Stadt, in Kaufmanns Augen, sehr wohl auch zur Landschaft gehören. Nur bis ins 19. Jahrhundert existierten im Berner Oberland politische Landschaften, zum Beispiel im Haslital. Am 9. August 1334 wurde die Verpfändung der Landschaft Hasli durch das Heilige Römische Reich unter die Herrschaft der Stadt Bern durch den Treueschwur der Landleute rechtskräftig. Die Landschaft Hasli bestand bis ins 19. Jahrhundert aus den drei Kirchgemeinden Meiringen, Guttannen und Gadmen, bildete jedoch eine einheitliche Burgergemeinde mit gemeinsamen Besitztümern. Nachdem Bern 1833 ein Gesetz zur Organisation der Gemeindebehörden erlassen hatte, wurden diese zu Amtsbezirken und in Einwohnergemeinden aufgeteilt. Aus der alten Landschaft Hasli zum Beispiel entstand der Amtsbezirk Oberhasli mit den sechs Gemeinden Gadmen, Guttannen, Meiringen, Innertkirchen, Hasliberg und Schattenhalb.303 2010 wurde der Amtsbezirk Oberhasli mit dem Amtsbezirk Interlaken zusammengelegt. Auch außerhalb des deutschen Sprachraums finden sich Reminiszenzen an die historisch-politische Bedeutung von »Landschaft«. In Schweden und Finnland sind die Landschaften gleichbedeutend mit den historischen Provinzen des schwedischen Königreichs. Diese besitzen im heutigen Schweden zwar keine rechtliche oder politische Bedeutung mehr, sind aber im kulturellen Bewusstsein der Bevölkerung nach wie vor präsent. Sie sind den drei Landesteilen Schwedens – Götaland, Svealand und Norrland – zugeordnet, haben eigene Wappen und zum Teil eigene Dialekte. In Finnland sind die Landschaften seit einer Verwaltungsreform 1997 wieder untergeordnete regionale Verwaltungseinheiten. Die slawische »Kraj«, das approximativ als »Landstrich«, »Landschaft« übersetzt wird, bezeichnet in Tschechien und der Slowakei die höchstrangige, in Russland eine untergeordnete regionale Verwaltungseinheit. Die hier skizzierten begriffsgeschichtlichen Entwicklungen bedeuten für Müller etymologisch, dass die für das Frühmittelalter typische Entwicklung eines Wortes von einer Personengruppenbezeichung zur Raumbezeichnung im Fall von »Landschaft« umgekehrt verlaufen zu sein scheint, was er nicht für unmöglich hält. Eberle interpretiert diese verwinkelte Etymologie des Worts »Landschaft« in seiner politi-

301 Vgl. Eberle: Individuum, S. 21. 302 Stefan Kaufmann: Soziologie der Landschaft. Stadt, Raum und Gesellschaft. Wiesbaden 2005, S. 51. 303 Vgl. Gottlieb Kurz: Geschichte der Landschaft Hasli. Meiringen 1979.

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schen Bedeutung dahingehend, dass der Begriff die »äußere Natur und den gesellschaftlich lebenden Menschen in eins«304 fasse. Er versteht »Landschaft« als Bezeichnung der Beschaffenheit oder spezifischen Ordnung einer Gegend, die alles Hervorgebrachte einschließt, die Natur und die Nation, die nicht umsonst etymologisch verwandt sind: »Die Landschaft ist der sichtbare, greifbare, von Menschen und Natur gemeinsam gebildete Ausdruck ihrer Einheit.«305 Allerdings weist er auch darauf hin, dass diese natürliche und damit göttliche partizipativ verstandene Ordnung schon im 13. Jahrhundert nicht mehr zu rechtfertigen war, weil die politische Organisation sich immer stärker partikularisierte und von einer allgemeinen Beteiligung, einer umfassenden politischen Einheit, nicht die Rede sein kann. Entsprechend ging der Begriff »Landschaft« auf die Vertreter einer bestimmten politischen Einheit über und fiel erst über den Umweg des feudalen Bodenbesitzes wieder vom Herrscher auf den größeren Zusammenhang, das heißt konkret, den Boden und die Rechte an ihm, zurück. »Solange in einer bestimmten Region das Grundeigentum, also die Bodennutzung eines Feudalherren der bestimmende Wirtschaftsfaktor ist, solange hat der Begriff ›lantschaft‹ auch eine gesellschaftspolitische Bedeutung.«306 Weil aber die feudale Gesellschaft wiederum über die Behauptung natürlicher oder göttlicher Gegebenheiten legitimiert wurde, »bezeichnet der Begriff ›lantschaft‹ im Mittelalter auch nicht die persönliche Sichtweise eines einzelnen von Natur, sondern ein durch soziale und politische wie geographische Bestimmung objektiv und allgemeingültig definiertes Gebilde, das anfangs von den Bewohnern bzw. deren Ausschuss, dann durch den Herren und schließlich den Landtag zur Einheit gebracht wird«.307 Das änderte sich, so Eberle, erst, als die zuerst feudalistische, dann absolutistische Gesellschaftsordnung durch einen bürgerlichen Gegenentwurf herausgefordert wurde. Es gelang, das Individuum so weit aus dem sozialen Verband zu lösen, dass es einerseits in der Lage war, dem Staat und seinen Organen als Einzelner entgegenzutreten, andererseits als Einzelner selbst Teil dieser Organe zu werden. Das verhinderte nicht, dass diese Konzeption »Individuum« wiederum selbst auf Ausschließung basierende Partikularisierung impliziert, die paradoxerweise zur Allgemeingültigkeit extrapoliert wurde. Die weitgehende Reduktion des Konzepts auf ein Geschlecht mit all ihren praktischen Auswirkungen ist ein sprechendes Beispiel hierfür. Jedenfalls war, Eberle folgend, »der einzelne Staatsbürger […] nicht mehr qua Natur« in den staatlichen Institutionen enthalten, »sondern der Grad seiner Integriertheit richtet sich nach der Möglichkeit seiner Einflussnahme auf sie. Wird

304 Eberle: Individuum, S. 15. 305 Eberle: Individuum, S. 16. 306 Eberle: Individuum, S. 18f. 307 Eberle: Individuum, S. 19.

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ihm diese genommen, dann steht er dem Staat ebenso machtlos gegenüber wie der äußeren Natur.«308 Vor diesem Hintergrund soll jene spezifische Subjektivität möglich geworden sein, die sich in der Etymologie des Wortes »Landschaft« als neue, begriffsgeschichtlich spektakuläre Wendung niederschlägt: das Auftauchen des ästhetischen Landschaftsbegriffs. Das semantische Spektrum von »Landschaft« erweiterte sich nämlich im frühen 16. Jahrhundert nachweislich um eine andere, ästhetische Bedeutungsebene, wobei »ästhetisch« hier nicht einmal im weiten Sinne Baumgartens,309 sondern eng und konkret kunstgewerblich verstanden wird: »Landschaft« heißt, so die tradierte begriffsgeschichtliche Deutung, im 16. Jahrhundert ein gemaltes Bild, das einen Naturausschnitt darstellt. Das Wort wäre insofern zu diesem Zeitpunkt ein Fachwort der Malerei mit sehr spezifischer, eingeschränkter Bedeutung, wobei diese Bedeutungsbeschränkung gerade auf dem sonst weiter werdenden Bedeutungsspektrum basiert haben könnte, wie Müller meint: »Voraussetzung für die Entwicklung von Landschaft zu einem Terminus technicus der Tafelmalerei des 15./16. Jahrhunderts war die zunehmend vielfältige Verwendbarkeit des Wortes zur Bezeichnung räumlicher Einheiten.«310 Die breite Entfaltung der Landschaftsmalerei im 17. Jahrhundert habe der fraglichen Wortbedeutung dann zum Durchbruch verholfen. Als Erstbeleg für das Auftauchen des Begriffs »Landschaft« als Bezeichnung für ein Kunstwerk gilt ein Vertrag zwischen dem Maler Hans Herbst und dem Magdalenen-Kloster an den Steinen in Basel, der am Freitag nach Sankt Anna, dem 26. Juli 1518, abgeschlossen worden ist. Hans Herbst sollte einen 1507 von Martin Hoffmann geschnitzten Schrein mit Figuren ausmalen.311 Der Altar und die Retabel existieren nicht mehr. Auch von seinem Schöpfer ist nicht viel bekannt und noch weniger erhalten geblieben. Hans Herbst, manchmal Herbster genannt, kam 1470 in Strassburg zur Welt und lebte lange in Basel, wo er 1552 starb.312 In Basel unterhielt er eine Werkstatt, in die um 1515 wahrscheinlich der jüngere Hans Holbein und sein Bruder Ambrosius eintraten.313 Vermutlich war

308 Eberle: Individuum, S. 20. 309 Vgl. Kapitel 4.6. 310 G. Müller: Landschaft, S. 9. 311 Vgl. Lucas H. Wüthrich: Ein Altar des ehemaligen Klosters Sankt Maria Magdalena in Basel. Interpretation des Arbeitsvertrags von 1518 und Rekonstruktionsversuch. In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte. Band 35. Zürich 1978, S. 108-119, hier S. 109. 312 Vgl. Lucas H. Wüthrich: Hans Herbst, ein Basler Maler der Frührenaissance. Budapest 1972. 313 Vgl. Oskar Bätschmann, Pascal Griener: Hans Holbein. London 1997, S. 36.

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es auch Ambrosius Holbein, der 1516 das einzige erhaltene Porträt Herbsts gemalt hat.314 Herbst nahm 1512 am Feldzug nach Pavia und 1515 an jenem nach Marignano teil. Von seinem Werk ist fast nichts mehr vorhanden. Es dürfte im Basler Bildersturm von 1529 untergegangen sein, auch der Altar im Magdalenen-Kloster. Eine in der staatlichen Kunsthalle Karlsruhe aufbewahrte Darstellung der Dornenkrönung und Kreuztragung wird Hans Herbst und seiner Werkstatt zugeschrieben. Das mit »HH« signierte, beidseitig bemalte Retabelfragment wurde lange Zeit für ein Werk des älteren oder jüngeren Hans Holbein gehalten.315 Dasselbe gilt für den so genannten Holbein-Tisch, ausgestellt im Schweizerischen Landesmuseum Zürich, der wohl auch von Herbst und nicht von einem Holbein stammt.316 Wie Hans Herbst zur Reformation, die ihm die Lebensgrundlage nahm, stand, ist unklar. Akten zeigen, so Lucas Wüthrich, dass er im Juli 1530 gezwungen wurde, dem alten Glauben abzuschwören.317 Allerdings musste er im selben Monat öffentlich eine Urfehde verlesen und sich dafür entschuldigen, »uss rechter dorheyt gemeint« zu haben, dem Abendmahl fernbleiben zu müssen und dieses darüber hinaus noch als »gröwel und betriegerey […] damit ein gemeine christenheyt vbel verfüert«318 werde, bezeichnet zu haben. Peter Blickle schließt daraus, Hans Herbst sei ein »für die Reformation sehr engagierter Künstler«319 gewesen. In diesem proreformatorischen Sinn versteht Blickle auch eine biographische Notiz von Herbsts Enkel Theodor Zwinger. Dieser gibt an, Herbst habe nach der Reformation die Malerei ganz aufgegeben, um »ne artis suae operibus idolatriam foverat«, also um nicht »durch seine Kunstwerke den Heiligenkult zu begünstigen«.320 Lucas Wüthrich hingegen geht vom Gegenteil aus. Er geht davon aus, Herbst habe nicht

314 Öffentliche Kunstsammlung Basel, Inv. Nr. 293, Depositum der Gottfried-KellerStiftung. Abgebildet in: Lucas H. Wüthrich: Quellen zur Biographie des Malers Hans Herbst (1470-1552). In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte. Bd. 36. Basel 1978, S. 170-189, hier S. 180. 315 Vgl. Anna Moraht-Fromm: Hans Herbst(er) und Werkstatt: Kreuztragung Christi, Dornenkrönung (Außenseite). www.kunsthalle-karlsruhe.de/nimbus/index.php?sid=50&id= 16 (22. Januar 2010). 316 Vgl. Lucas H. Wüthrich: Der sogenannte »Holbein-Tisch«: Geschichte und Inhalt der bemalten Tischplatte des Basler Malers Hans Herbst von 1515: ein frühes Geschenk an die Burger-Bibliothek Zürich 1633: Vom »Niemand«, vom bestohlenen Krämer und von den Lustbarkeiten des Lebens. Zürich 1990. 317 Lucas H. Wüthrich: Quellen zur Biographie des Malers Hans Herbst (1470-1552). In: Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, S. 182. 318 Wüthrich: Quellen, S. 182. 319 Peter Blickle: Macht und Ohnmacht der Bilder. München 2002, S. 304. 320 Wüthrich: Quellen. S. 185.

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aus Überzeugung aufgehört zu malen, sondern um nicht mit dem Gesetz, das jede Parteinahme für die alte Kirche und damit den alten Glauben verbot, in Konflikt zu geraten. Übrigens hat Herbst das Malen nicht vollständig aufgegeben. Es gibt einige Rechnungen des Basler Rats von nach 1530, die sich auf Arbeiten Herbsts beziehen, diese waren aber dekorativer und nicht religiöser Art.321 Der für die Wortgeschichte von »Landschaft« so wichtige Vertrag regelt detailliert die Fabrikation eines Altarwerks, das Herbst »uff dz best un kostlichest« herzustellen habe und ein Teil dessen eine »landschafft in der Tafel« war, die »verguldet oder versilbert und glasiert« werden sollte.322 Herbst werden neunzig Gulden in Aussicht gestellt, zahlbar wahlweise »mitt korn oder gelt« sowie ein »erlich trinckgelt« von höchstens fünf Gulden.323 Gezahlt wurde ratenweise nach halb getaner Arbeit, um die Fertigstellung des Werks zu sichern. Herbsts Zuverlässigkeit stand offenbar in Zweifel, sein Leumund war nicht der beste. Er hatte Schulden und neigte zu Spiel und Streit.324 Im Vergleich mit anderen Summen, die für zeitgenössische Altarwerke bezahlt wurden, »darf geschlossen werden, dass Hans Herbst für die Klosterfrauen an den Steinen ein Altarwerk mittlerer Grösse und von einer dem dominikanischen Ordensstatut angemessenen Einfachheit schuf«.325 Die erwähnte »lantschafft« steht in einer langen Liste von Komponenten des Altarwerks, deren Färbung und Beschaffenheit festgelegt wird. Aufgezählt werden zum Beispiel die »neben siten der tafel« oder das »gespreng«. Die »neben siten« bilden die Seiten des Retabelkastens. Das Gespreng ist die »Bekrönung über dem Schrein, ein aus Fialen, Wimpergen und Laubwerk frei gearbeitetes, zierliches und meist zerbrechliches Filigran«, ursprünglich »alles durchbrochen gearbeitete und architektonisch oder vegetabil gestaltete Beiwerk über dem Schrein und zu Häuptern der Figuren im Schrein«.326 Neben diesen formalen, die äußere Erscheinungsform betreffenden und vom Schnitzer, nicht vom Maler ausgeführten Elementen, werden auch den Inhalt des

321 Vgl. Eduard His-Heusler: Contract betreffend die Ausführung eines Altarwerkes, zwischen dem Magdalenen-Kloster an den Steinen zu Basel und dem Maler Hans Herbst. In: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit. Neue Folge. Organ des Germanischen Museums. Band 13. Nürnberg 1866, S. 272f. www.archive.org/stream/anzeigerfurkund e13germ#page/n149/mode/2up (11. April 2011). 322 Vgl. His-Heusler: Contract, S. 273. 323 His-Heusler: Contract, S. 272. 324 Vgl. Wüthrich: Altar, S. 113. Und Wüthrich: Hans Herbst, S. 775. 325 Wüthrich: Altar, S. 113. 326 Wüthrich: Altar, S. 109.

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Werks betreffende Bestandteile erwähnt: die »kleidung«, »sant marien magdalenen tuch«, die »husung« und »feldung«, die »flügel« und alles »was hor ist«.327 Man hat es hier semantisch mit zwei Wortgruppen zu tun. Die eine bezeichnet das, was abgebildet ist, die andere die Form der Abbildung. Ein »bogen«, der »inwendig verguldet« werden soll, kann zu beiden Wortgruppen gehören. Es kann sich um einen abgebildeten Bogen handeln oder um einen, der zum äußeren, geschnitzten Aufbau des Werks gehört, und weil er gleich nach den »neben siten der tafel« steht, ist Letzteres anzunehmen. Aber was bedeutet »lantschafft«? Gruenter ist sich sicher, gemeint sei »hier die malerische Darstellung eines Naturausschnitts« im Sinne eines »terminus technicus«328 der Malerei. Was meint Gruenter mit »terminus technicus«, also einem Fachbegriff der Malerei? Fachbegriffe unterscheiden sich von anderen Begriffen dadurch, dass sie in ein bestimmtes sprachliches System, in eine Fachsprache, eingebunden sind und innerhalb dieses Systems semantisch funktionieren. Gleich lautende Begriffe können so innerhalb oder außerhalb dieses Systems andere Bedeutungen haben. Fachbegriffe zeichnen sich dann dadurch aus, dass sie innerhalb der Fachsprache etwas Spezifisches bezeichnen und die außerfachsprachliche Bedeutung ausschließen, das heißt, sie sind stark kontextuell definiert. Für den hier vorliegenden Fall ergäbe sich daraus, dass »lantschafft« etwas Kunstspezifisches bezeichnete, etwas, das nur innerhalb des Fachgebiets der Malerei so genannt wurde. Das wäre dann gegeben, wenn, Gruenters Argumentation folgend, »lantschafft« eine spezifische Art der Abbildung, ein Genre, einen Bildtypus bezeichnen würde, den »Ausschnitt« und nicht die »Natur« von Gruenters »Naturausschnitt«, kurz: die Darstellung, nicht das Dargestellte. Diese Meinung hat sich in der begriffsgeschichtlichen Literatur breit durchgesetzt. Aus dem vorliegenden Dokument lässt sich das aber nicht zweifelsfrei erschließen. Aufgrund der Tatsache, dass die aufgeführten Komponenten des fraglichen Altarwerks sich auf zwei Bedeutungsebenen verteilen, auf eine formale und eine inhaltlich-thematische, entsteht im Bezug auf die Deutung des Begriffs »lantschafft« eine Unschärfe, die eine eindeutige semantische Dekodierung nicht zulässt. »lantschafft« kann sowohl einen bestimmten Bildtypus bezeichnen, als auch das im Bild Gezeigte bedeuten. Denn: Bezieht sich der Auftrag, die »lantschafft« zu vergolden oder zu versilbern und zu glasieren, auf das Bild als solches oder auf das Dargestellte? Sollte Hans Herbst ein Bild vergolden oder vielmehr die im Bild gezeigte Gegend, die man heute wohl Landschaft nennen würde? Und wenn dieses Zuvergoldende nicht nur »lantschafft«, sondern die »lantschafft in der tafel« genannt wird, heißt das nicht, dass der Inhalt eines Bildes, der Inhalt dieser fraglichen Tafel, gemeint ist und nicht das Bild selbst?

327 His-Heusler: Contract, S. 273. 328 Gruenter: Landschaft, S. 193.

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Mit »Tafel« war, erklärt Lucas H. Wüthrich, die Altarretabel als Ganzes gemeint.329 Auch er hält den Ausdruck »landschafft« hier für »schwierig zu definieren«,330 stellt ihn aber in eine Wortgruppe mit den Begriffen »husung«, »paviment«, »feldung« und »hymel«, die alle zu den »Hintergründen der Reliefs«331 und demnach zum Inhalt der Darstellung zählen. Wüthrich ist sogar der Meinung, die Arbeit an diesem landschaftlichen Hintergrund müsse, weil sie ihm Gelegenheit zur freien Entfaltung bot, Hans Herbst am liebsten gewesen sein. Die handwerkliche »Ausführung eines schematischen Goldgrundes« haben ihn »gewiss weniger interessiert« als der Entwurf »einer wenigstens teilweise realistisch anmutenden Landschaft«.332 Wüthrich untersucht das Werk nicht im etymologischen Zusammenhang mit dem Entstehen des Begriffs »Landschaft«. Doch seine Einschätzung aus kunsthistorischer Perspektive widerspricht den gängigen begriffsgeschichtlichen Zugriffen mit dem Ziel, die Herkunft des Wortes zu klären, trotzdem deutlich. Den postulierten »Fachbegriff der Malerei« kann Wüthrich jedenfalls nicht erkennen. Entsprechend lässt sich auch nicht die Herkunft eines ästhetischen Landschaftsbegriffs daraus ableiten. Offenbar ist die Sache schon in diesem weit zurückliegenden wortgeschichtlichen Stadium komplizierter. Die verschiedenen Bedeutungsebenen sind bereits hier nicht klar zu trennen. Landschaft als betrachteter Ausschnitt des Umgebenden, vielleicht der Natur, scheint bereits präsent. In Wüthrichs Augen wird das Wort »Landschaft« im fraglichen Vertrag jedenfalls nicht als Bezeichnung für die Abbildung behandelt, sondern als Bezeichnung des Abgebildeten. Das schließt nicht aus, dass auch das Bild einer Landschaft »Landschaft« geheißen hat. Aus der angeführten Textstelle lässt sich das aber nicht widerspruchsfrei ableiten. Diese Inkongruenzen bestätigen sich in einer weiteren Textstelle, auf die sich die begriffsgeschichtliche Literatur zu »Landschaft« gerne bezieht und die fast aus der gleichen Zeit stammt. Soll die Hans Herbst betreffende Textpassage den Landschaftsbegriff im Bereich des Ästhetischen verankern, fungiert die nun zu analysierende Stelle als Beweis für die Verwendung des Wortes »Landschaft« als Bezeichnung für einen »angeschaute[n] Naturraum«.333 Es handelt sich um eine Stelle bei Hans Sachs aus dem Jahre 1537. Sie wird als »sehr früher«, aber »vereinzelter Beleg«334 verstanden, denn, so Rainer Piepmeier, »diese Bedeutung setzt sich erst in

329 Vgl. Wüthrich: Altar, S. 109. 330 Wüthrich: Altar, S. 109. 331 Wüthrich: Altar, S. 110. 332 Wüthrich: Altar, S. 117. 333 Rainer Piepmeier: Landschaft. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 5. Basel 1980, S. 16. 334 Piepmeier: Landschaft, S. 16.

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der Literatursprache des 18. Jh. durch«.335 Auch Matthias Eberle bestätigt die Singularität der Verwendung des Wortes »Landschaft« bei Hans Sachs: »Für den individuell gesehen und aus verschiedenen Einzelteilen zusammengesetzten Naturausschnitt verwendet in der deutschen Dichtung erstmals Hans Sachs den Begriff Landschaft. […] Jedenfalls ist er in den entsprechenden Gegenstücken der Minnedichtung und des frühen Meistersanges nicht zu finden.«336 Trotzdem ist Piepmeier bereit zu konzedieren, dass »bereits die Erfahrung des Sehens von Natur als L. vorausgesetzt werden muss«, bevor der Begriff als solcher auftaucht und sich durchsetzt: »Die Benennung des Abbildes als Landschaft setzt das Sehen des Bildes der Landschaft voraus. Das Sehen realer Natur als Landschaft ist das Primäre, wenn sich der Begriff auch zunächst ans Artefakt heftet.«337 Diese Aussage bestätigt sich bei näherer Betrachtung der fraglichen Textstelle bei Sachs. In seinem allegorischen Gedicht »Die ehrentreich fraw Miltigkeit mit ihrem holdseligen wandel« aus dem Jahr 1537 erzählt Hans Sachs, wie er im Wald spazieren geht: »Mich trieb das mein gemüt Auss inn des mayen blüt, Refieren inn eyn walt. Offen wurd manigfalt Lustreich hertz, mut und sinn.«338

Diese einleitenden Zeilen bestätigen Piepmeiers Bemerkung, Naturbetrachtung als ästhetische Erfahrung, also das, was später als Erfahrung von »Landschaft« bezeichnet wird, ginge dem Begriff »Landschaft« voraus. Sachs’ Haltung der Natur gegenüber ist ästhetisch geprägt, ohne dass er sie Landschaft nennen würde. Das tut er aber wenig später. Unterwegs im Wald und in seinem Gedicht trifft er nämlich auf ein freundliches aber seltsames Wesen, eine Frau, halb Mensch, halb Natur. Er nennt sie »holtzfraw« und als sich ein Gespräch entwickelt, klagt er ihr, wie schlecht die Welt geworden sei, da alle Menschen nach Reichtum trachten würden und keine Milde mehr zu finden sei. Worauf ihn die »holzfraw« weiter in den Wald hinein und zu einem Schloss führt, in dem die »ehrentreich fraw Miltigkeit« wohnt, die Sachs am Ende dann auch zu Gesicht bekommt. Teil des Rundgangs durch das Anwesen ist die Besteigung eines Turms:

335 Piepmeier: Landschaft, S. 16. 336 Eberle: Individuum, S. 24f. 337 Piepmeier: Ende der ästhetischen Kategorie »Landschaft«, S. 11. 338 Hans Sachs: Werke. Herausgegeben von Adelbert von Keller. Dritter Band. Tübingen 1870, S. 241.

208 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER »Nach dem wir auff den thurn bayde gelassen wurn. Auff dem wir bayde sahen die landschafft ferr und nahen«339

Sachs geht nicht weiter auf die Landschaft ein, sondern wendet sich dann dem Garten, der unter dem Schloss liegt, zu. Trotzdem wird deutlich, was er hier meint. »Landschaft« ist für ihn das, was er von einem bestimmten Punkt aus sehen kann. Daraus sei »noch nicht auf eine Ästhetisierung […] der Landschaft zu schließen«,340 meint der Kunsthistoriker Martin Warnke. Ihm scheint vielmehr die Tatsache wichtig, dass sich Sachs hier einen bestimmten Blick aneignet, der bisher den Herrschenden vorbehalten war, nämlich den Blick vom Turm einer Burg. »Hans Sachs wird doch noch empfunden haben, dass es insgeheim ein usurpatorischer Akt war, diese Stelle aufzusuchen, zu der man immer noch ›gelassen‹ werden musste.«341 Hier verbindet sich der Prozess der Bedeutungskonstitution von Landschaft mit einem herrschaftspolitischen, ja militärischen Diskurs, wie sich das bereits in der Geschichte des geographischen Landschaftsbegriffs gezeigt hat. Aber zurück zu Sachs. Um zu präzisieren, was Sachs mit »landschafft« gemeint haben könnte, weist Eberle auf eine vergleichbare Stelle in dessen Werk hin, ohne dass dieses Mal das Wort »Landschaft« auftauchen würde. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus dem Gedicht »Die grossmütigkeyt oder sterck« von 1546. Hier führt Sachs aus, was er in der »ehrentreich fraw Miltigkeit« verschweigt. Wieder wird Sachs von einer Frau durch ein Schloss geführt. Diesmal ist es »Fortitudo, Sterck und grossmütigkeyt«342 höchstselbst. Auch sie besteigt mit ihm einen Turm. »Nach dem liess sie mich sehen Inn die ferr unnd die nehen Berg, tal unnd finstren welder, Stett, dörffer unnd bawfelder, Obstgerten unnd weinperg, Allerley gut mülwerck, Darundter auch ein stat.«343

339 Sachs: Werke, S. 244. 340 Warnke: Politische Landschaft, S. 47f. 341 Warnke: Politische Landschaft, S. 48. 342 Sachs: Werke, S. 269. 343 Sachs: Werke, S. 268.

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Was Sachs beschreibt, würde heute mit dem Begriff »Kulturlandschaft« bezeichnet. Die sichtbare Geographie besteht für ihn aus natürlich und kulturell bedingten Elementen. Was dieses Sichtbare zur Landschaft mache, sei, so Eberle: »Das Insgesamt dieser Einzelheiten, die notwendig sukzessiv aufgezählt werden müssen […]. Wird dieser Begriff nunmehr gebraucht, dann meint er eine in sich geschlossene, räumlich und stimmungsmäßig einheitliche, charakteristische Einheit, die sich dem in die Umgebung blickenden Subjekt […] verdankt.«344 Allerdings bleibt es dabei, dass Sachs gerade an dieser Stelle, die illustrieren soll, was er unter »Landschaft« versteht, den Begriff nicht verwendet. Er kommt dafür an anderen Stellen seines umfangreichen Werks vor, wie ein kurzes, nicht auf Vollständigkeit angelegtes Panorama zeigt. Auf den ersten Blick fällt auf, dass »Landschaft« in den verschiedenen hier erläuterten Bedeutungen auftaucht. In der »Wahrhafte[n] Geschicht Pfaltzgraff Friderichs« wollen »etliche Widersacher« des Pfalzgrafen Ludwig die »Landschafft verwüsten«.345 Das Wort hat hier eher eine politische als eine geographische Determination. Die geplante Verwüstung gilt der sozio-politischen Raumeinheit, konkret den Menschen und dem, was sie errichtet und angebaut haben, nicht dem Naturraum als solchem. Noch deutlicher tritt diese Bedeutung in der »Historia: Heinrich der Löw« an den Tag. Dort wird erzählt, wie, als man sieben Jahre lang nichts vom Herzog Heinrich, der sich auf einer Reise ins Heilige Land befand, hörte, große Klage in seinem »Lant« ausbrach und: »die landschaft der fürstin anlag, das sie wider heiraten tet, das das lant ein herren het.«346

Hier sind mit »landschaft« die Bevölkerung und ihre Vertreter gemeint, die sich um die Zukunft sorgen. Ganz anders verwendet Hans Sachs den Begriff in seiner 1541 entstandenen Apologie der Kunst »Gesprech, wer der künstlichste Werckmann sey«. Dort wird über den Rang der Steinmetz- und der Zimmerkunst sowie der Malerei gestritten. Sachs stellt den Maler, der »all ding abbilden sol«,347 über die Zimmerleute und Steinmetze. Er tut dies unter anderem mit folgenden Worten:

344 Eberle: Individuum, S. 25. 345 Hans Sachs: Eine Auswahl aus dessen Werken. Herausgegeben von D. Georg Wilhelm Hopf. Nürnberg 1856, S. 113. 346 www.zeno.org/Literatur/M/Sachs,+Hans/Gedichte/Spruchgedichte+(Auswahl)/Historia %3A+Herzog+Heinrich+der+löw (11. April 2011). 347 Sachs: Auswahl, S. 148.

210 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER »Auch so kan er in Bildnuss bringen Die Element, Lufft, Wassr, Erd, Fewr, Donner und Blitzen ungehewr, Schnee, eyss und ungewitter sehr, Und das wütig auffwallend Meer, Den Teuffel, Hell und auch den Todt, Das Paradeiss, Engel und Gott, Das Gwülck, Sonn, mond und Liechten Und ganze Landschafft, wie von ferrn Die hohen Gebirg sich astelln, Hinter einander sich verheln, Die Bühel, Berg und finstern Wälder […]«348

… und noch vieles mehr. Sachs erwähnt nicht nur natürliche Komponenten der Landschaft, sondern auch von Menschen Gebautes. Er meint hier mit »Landschafft« sicherlich die Gegend, wie sie einem integral vor Augen liegt. Der, dem sie vor Augen liegt, ist aber nicht irgendeiner, sondern ein Maler, den die von Sachs beglaubigte Fähigkeit, eine »Landschafft« zu malen, zu einem Landschaftsmaler macht – freilich ohne dass Sachs ihn so nennen würde. Es ist erstaunlich, dass dieser Stelle in der Literatur über die Entstehung der Landschaftsmalerei und in jener über die Begriffsgeschichte von »Landschaft« keine weitere Beachtung geschenkt worden ist. Offenbar hatte Hans Sachs Mitte des 16. Jahrhunderts keine Schwierigkeiten, sich einen Künstler vorzustellen, der erstens Landschaften malt und zweitens diese auch so nennt. Was im »Gesprech« nicht steht, ist, ob er seine Bilder auch »Landschaften« nennen würde, wie die begriffsgeschichtliche Identifizierung des Worts als Fachterminus der Malerei suggeriert. Natürlich schwärmt Sachs hier von einem idealen Maler. Doch am Ende des Textes zeigt sich, er hat einen bestimmten im Kopf: Albrecht Dürer, den »Künstner mit hohem verstand«, den »Gott […] dem Detschenland […] gegeben«.349 Von diesem Albrecht Dürer ist eine weitere frühe Verwendung des Wortes »Landschaft« belegt, und zwar genau im erwähnten, kunstgewerblichen Sinn. Unter dem Datum des 5. Mai 1521, dem letzten »Sonntag vor der Kreuzwochen«, notiert Dürer, dass ihn der »Meister Joachim, der gut Landschaftmaler auf sein Hochzeit geladen und mir alle Ehr erboten«350 habe, und dies, obwohl er immer noch unter

348 Sachs: Auswahl, S. 146. 349 Sachs: Auswahl, S. 149. 350 Albrecht Dürer: Albrecht Dürers schriftlicher Nachlass. Familienchronik/Gedenkbuch/ Tagebuch der niederländischen Reise/Briefe/Reime/Auswahl aus den theoretischen

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einer »wunderliche[n] Krankheit« litt, die ihn mit »heiss Füber«, »einer großen Ohnmacht, Unlust und Hauptwehe«351 geschlagen hatte. Der »Meister Joachim«, den Dürer meinte, war der befreundete Antwerpener Maler Joachim Patinier, den Dürer auch porträtierte.352 Matthias Eberle und andere sehen in dieser Stelle aus Dürers Tagebuch die Erstverwendung des Wortes »Landschaftsmaler«.353 Eberle nimmt an, die Bedeutung von »Landschaft« als Gemälde habe sich in der Folge derart eingebürgert, dass man die nicht-künstlerische Landschaft, die als »Landschaft« bezeichnete Gegend, explizit habe von Landschaft als Bild unterscheiden müssen, wie das, so Eberle, in der »Teutschen Academie« von Joachim Sandrart von 1675 geschehe. Sandrart hält nämlich fest: »Eine Landschaft im Leben ist allemal angenehmer und vollkommener anzusehen, wann ein Regen vorüber ist«.354 Sandrart, da er die ganze Zeit von Landschaftsmalerei spricht, hält es für angebracht, die »Landschaft im Leben« von jenen der Bilder abzugrenzen. »Landschaft als Gemälde ist hier als bekannt vorausgesetzt, davon wird die wirkliche, erlebte Landschaft unterschieden. Künstlerisches Abbild eines Naturausschnitts und individuelles Wahrnehmungsbild der Natur werden hier mit ein und demselben Begriff bezeichnet.«355 Für Gruenter schlägt Sandrart mit seinem Werk auch die Brücke zur Literatur, wo er den ästhetischen Landschaftsbegriff verankert, weil er »hier (auch) einen gegebenen Naturraum als Landschaft dichterisch zu schildern versucht. […] Die malerische Schulung Sandrarts, welche die Naturgegenstände unbefangen aufnimmt und an unmittelbare Beobachtung gebunden ist, führt zu einer dichteren Anlehnung an die ›Wirklichkeit‹.«356 In Sandrarts Wortgebrauch überlagern sich verschiedene Bedeutungsebenen; die ästhetische ist sehr präsent, ebenso jene, die Landschaft als das Resultat individuellen Betrachtens von Gegend bezeichnet. Müller hält die Entwicklung des Wortes »Landschaft« für vergleichbar mit jener von »Gegend«, wenngleich beide eine jeweils andere Richtung genommen haben sollen. Er kommt zu einem interessanten Schluss, welcher der These, das Auftauchen des ästhetischen Landschaftsbegriffs als Fachwort der Malerei markiere auch

Schriften. Mit neun Zeichnungen und drei Holzschnitten Dürers. Herausgegeben von Ernst Heidrich. Geleitwort von Heinrich Wölfflin. Berlin 1908, S. 94. 351 Dürer: Nachlass, S. 91f. 352 Vgl. z.B. www.scholarsresource.com/browse/work/2144663608 (11. April 2011). 353 Eberle: Individuum, S. 24. Und z.B. Wiemann: Weltlandschaft, S. 17. 354 Joachim von Sandrart: L’Academia Todesca della Architectura, Scultura & Pittura: Oder Teutsche Academie der Edlen Bau- Bild- und Mahlerey-Künste. I, Buch 3 (Malerei). Nürnberg, Frankfurt 1675, S. 71. 355 Eberle: Individuum, S. 25. 356 Gruenter: Landschaft, S. 194.

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die Erfindung der Landschaft als ästhetische Naturbetrachtung, widerspricht. Müller stellt fest, »Landschaft« und »Gegend« hätten sich begriffsgeschichtlich genau gegenläufig entwickelt. »Gegend« ist eine Lehnübersetzung aus dem vulgärlateinischen »contrata« im Sinne von »gegenüberliegendes Gebiet«.357 Französisch »contrée« für »Gegend« und Englisch »country« für »Land« leiten sich aus demselben Stamm ab. »Gegend« bezeichnet also ein auf einen beliebig bestimmbaren Standpunkt bezogenes, weil von dort aus erfasstes, »Beobachtungs- oder Aktionsfeld« und nicht, wie »Landschaft«, eine »aufgrund politisch-kultureller Faktoren als Einheit«358 verstandene Raumkategorie. Auf »Gegend« trifft also das zu, was im Zusammenhang mit »Landschaft« in der Geographie gesagt wurde: dass sie sich im Auge der Betrachtenden konstituiert. Die »Gegend« schließt ein Verhältnis ein, weil sie gegenüber von etwas, gegenüber von jemandem liegt. Dazu gehört die sinnliche Wahrnehmung, insbesondere die optische, was, so Müller, »zu ästhetisch motivierten Formulierungen geführt [hat], die für die Landschaft-Vokabel erst seit dem 16. Jh. bekannt sind«.359 Er erwähnt Herbort von Fritzlar, in dessen schon um 1200 entstandenem Troja-Epos sogar die Wendung »schöne Geine«/»schöne Gegend«360 vorkommt. Diese Feststellung Müllers ist interessant, blieb aber in der begriffsgeschichtlichen Diskussion von »Landschaft« unbeachtet. Wenn der Begriff »Gegend« lange vor der ästhetischen Codierung des Begriffs »Landschaft« dasselbe oder etwas sehr Ähnliches auszudrücken vermochte wie »Landschaft« später,361 ist schwer zu verstehen, wie eine ästhetische Landschaftswahrnehmung erst mit dem Aufkommen des ästhetischen Landschaftsbegriffs und überhaupt nur in Abhängigkeit von diesem entstanden sein soll. »Gegend« und »Landschaft« standen – und tun es immer noch – in gewissen Bereichen ihres Bedeutungsspektrums offenbar synonym. Gerade Englisch »country« zeigt, dass im Wortstamm von »Gegend« politisch-administrative Bedeutung vorkommt, was ebenso für »Landschaft« gilt. Müller erklärt die Tatsache, dass »Landschaft« mutmaßlich zum Fachbegriff der Maler wurde und diese ihre Bilder »Landschafts-« und nicht »Gegendmalerei« nannten, sprachgeographisch. Dort, wo diese Bedeutungserweiterung stattfand – gemäß den Quellen war das in Süddeutschland –, muss das Wort »Landschaft« dominiert haben. Ob die begriffsgeschichtliche Situation kunsthistorische Rückschlüsse erlauben würde, lässt Müller

357 Vgl. auch Duden 7, S. 223. 358 G. Müller: Landschaft, S. 9. 359 G. Müller: Landschaft, S. 10. 360 Herbort von Fritzlar: Liet von Troye. Herausgegeben von Ge. Karl Frommann. Quedlingburg, Leipzig 1837, S. 20 und S. 235. 361 Vgl. Kapitel 4.4.1.

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offen. Vom südwestdeutschen Bereich aus, wo das Wort in der neuen, ästhetischen Bedeutung erstmals vermutet wird, breitete es sich rasch über die Niederlande nach England aus. Entsprechende Erstbelege datieren für das Englische von 1603, für das Niederländische von 1617.362 Im romanischen Sprachraum folgte die entsprechende Entwicklung zu französisch »paysage«, spanisch »paisaje« und italienisch »paesaggio« umgehend, wobei sich auch hier die verschiedenen semantischen Ebenen bald überlagerten. Der englische Aristokrat Edward Norgate hat die Wanderung des Begriffs in seiner 1628 geschriebenen Abhandlung über die Miniaturmalerei festgehalten: »An Art soe new in England, and soe Lately come a shore, as all the Language within our fower Seas cannot find it a Name, but borrowed one, and that from a People, that are noe great Lenders, but upon good Securitie (the Dutch) perhaps they will name their owne Child. For to say truth the Art is theirs, and the best in that kind, that I ever saw spake Dutch.«363 Er vermutet den Ursprung des Worts also in den Niederlanden, was sich etymologisch nicht nachweisen lässt, kunsthistorisch betrachtet aber nachvollziehbar ist. Die Landschaftsmalerei entwickelte sich im 16. Jahrhundert zu einer »niederländischen Spezialität«.364 Der portugiesische Humanist und Maler Francisco de Holanda, väterlicherseits selbst aus den Niederlanden stammend, schrieb über die dortigen Maler: »In Flandern malt man nämlich, um das äußere Auge durch Dinge zu bestechen, welche gefallen und denen man nichts Übles nachsagen kann, wie Heilige und Propheten. Ferner malen sie Gewänder, Maßwerk, grüne Felder, schattige Bäume, Flüsse, Brücken und was sie so ›Landschaften‹ nennen, und dazu viele lebhaft bewegte Figuren, hierhin und dorthin verstreut.«365

In den Augen des Kunsthistorikers Nils Büttner handelte es sich bei der niederländischen Landschaftsmalerei um ein regelrechtes »Massenphänomen«,366 das breit angeboten und nachgefragt wurde, und zwar im In- und Ausland, besonders in Ita-

362 G. Müller: Landschaft, S. 9. 363 Edward Norgate: Miniatura: Or the Art of Limning. Edited by Martin Hardie. Oxford 1919, S. 42. 364 Nils Büttner: Erfindung der Landschaft, S. 11. 365 Francisco de Holanda: Vier Gespräche über die Malerei. Geführt zu Rom 1538. Originaltext mit Übersetzung, Einleitung, Beilagen und Erläuterungen. Hg. von Joaquim de Vasconcellos. (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Neuzeit; Bd. 9), Wien 1899, S. 29. 366 Büttner: Erfindung der Landschaft, S. 11.

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lien. So schickte der Händler Matthieu de Nasar 1535 eine ganze Schiffsladung von Bildern von Antwerpen aus nach Italien, wovon nicht weniger als 300 Landschaften gewesen sein sollen.367 Der florentinische Architekt, Künstler und Kunsthistoriker Giorgio Vasari scherzte wohl, als er behauptete, jeder Schuster in Italien sei im Besitz einer flämischen Landschaft. Ernst zu nehmen sind hingegen seine Auskünfte, dass italienische Künstler wie Tizian und Tintoretto auf die Dienste niederländischer Spezialisten wie Maerten de Vos für die Landschaftshintergründe in ihren Bildern zurückgriffen.368 Büttner sichtete verschiedene Inventarlisten der Hausstände niederländischer Kaufleute aus dem 16. Jahrhundert. Dort taucht mehrfach das Wort »Landschaft« in Zusammenhang mit Bildern auf. Ähnlich wie im Vertrag zwischen Hans Herbst und dem Magdalenen-Kloster in Basel werden auch hier die Themen und Inhalte der Bilder mit Stichworten festgehalten, eines davon ist »Landschaft«. »Der Kontext erweist, dass der Begriff ›Landschaft‹ – der Ort oder Region besagt –, ausgehend von seiner ursprünglichen Bedeutung deskriptiv gebraucht ist. […] Aus dieser deskriptiven Funktion entwickelte sich in der Folge der Gattungsbegriff.«369 Zur Verbreitung dieses »terminus technicus« der Malerei wird das »Schilder-Boeck« Karel van Manders aus dem Jahre 1604 viel beigetragen haben.370 Büttners Folgerung deckt sich mit den oben gemachten Überlegungen zum Erstnachweis der ästhetischen Bedeutungsebene des Wortes »Landschaft« in der deutschen Sprache: Der »terminus technicus« »Landschaft« setzt den Gegenstand voraus. Die Verwendung des Wortes in der Malerei lässt sich also kunsthistorisch relativ gut nachvollziehen. Schwieriger ist es, aus dieser begriffsgeschichtlichen Ableitung das Entstehen des ästhetischen Landschaftsbegriffs insgesamt zu erklären. Allerdings nimmt die ästhetische Definition des Begriffs vom Moment ihrer Verbindung mit der Malerei an eine dominierende Stellung im Bedeutungsspektrum von »Landschaft« ein. Landschaft wurde, so die kanonische Begriffsgeschichte, zum eigenständigen Motiv, dann sogar zur eigenständigen Gattung der Malerei und als individuelle, betrachtende und, im Zusammenhang mit Kunst, genießende Aufnahme des Umgebenden ein beherrschendes Wahrnehmungskonzept. Diese Interpretation schlägt sich mithin in den Titeln entsprechender Publikationen nieder, die

367 Vgl. Heinrich Gerhard Franz: Niederländische Landschaftsmalerei im Zeitalter des Manierismus, Band 1. Graz 1969, S. 79. 368 Vgl. N. Schneider: Landschaftsmalerei, S. 91. 369 Büttner: Erfindung der Landschaft, S. 11. 370 Vgl. Busch (Hg.): Landschaftsmalerei, S. 111.

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die Landschaftsmalerei der Niederlande im 16. Jahrhundert zum Gegenstand haben. Dort wird die »Entdeckung«371 oder die »Erfindung«372 der Landschaft vermutet. Doch dieser Diskurs sagt mehr über die privilegierte Behandlung der kunsthistorischen Perspektive innerhalb dieser Begriffsgeschichte aus, als dass damit die Komplexität der Bedeutungskonstitution des Begriffs »Landschaft« erfasst werden könnte. Ganz zu schweigen davon, dass sich abschließende Aussagen darüber machen ließen, wie die Verwendung des Begriffs außersprachliche Bedeutung konstituiert und Wissen produziert, gerade weil das Verhältnis von Sprache und Welt, wie oben erwähnt, so schwer zu verstehen ist. Die begriffsgeschichtliche Literatur bevorzugt jedenfalls den ästhetischen Landschaftsbegriff und glaubt sich unter Zuhilfenahme der Kunst- und Kulturgeschichte auch in der Lage, Beispiele für dessen Wirkung außerhalb der Sprache zu liefern.373 Sie trägt so viel dazu bei, ahistorischen, essentialistischen Vorstellungen einer überzeitlich existenten Landschaft entgegenzuwirken. Es ist allen völlig klar, »dass Landschaften nicht unvoreingenommen oder als Landschaften an sich wahrgenommen werden können, dass noch vermeintlich rein ästhetische Wahrnehmung von den jeweiligen Lebensumständen und Kontexten getragen und vorgeformt ist. Bei allen interdisziplinären Vieldeutigkeiten des Begriffs ›Landschaft‹ steht demnach als Gemeinsames für uns im Vordergrund, dass die Vorstellung von ›Landschaft‹ ein grundgelegtes und grundlegendes kulturelles Konstrukt ist. Natur fügt sich nicht selbstverständlich zu den von Menschen wahrnehmbaren Landschaften.«374 Dieses begriffsgeschichtliche Bemühen führt allerdings dazu, den Begriff »Landschaft«, weil er sich kunsthistorisch so gut verfolgen lässt, auf seine ästhetische Bedeutung zu fixieren, »Landschaft begrifflich in erster Linie und vorrangig als eine ästhetische Kategorie zu behandeln und zu fundieren«,375 wie der Literaturwissenschaftler Nils Plath zu Recht moniert. Plath bezieht sich dabei auf eine weitere, unerwartete Wende in der Geschichte des Begriffs »Landschaft«, die die-

371 Elsbeth Wiemann, Jenny Gaschke, Mona Stocker (Hg.): Die Entdeckung der Landschaft. Meisterwerke der niederländischen Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts. Köln 2005. 372 Büttner: Erfindung der Landschaft. 373 Vgl. Kapitel 4.6.1-4.6.4. 374 Judith Veichtlbauer, Karin Liebhart, Günther Kittel: Politische Grammatik von Landschaften. In: Sandor Békéesi u.a. (Hg.): Landschaft: Begriff und Wahrnehmung. Wien 2000, S. 72-83, hier S. 72. 375 Nils Plath: Geteilte »Landschaften«. Rückweisende Ausblicke auf einen Begriff im 18. Jahrhundert. In: Eggers, Rothe (Hg.): Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte, S. 185.

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sem im 18. Jahrhundert eine erstaunliche Bedeutungserweiterung verschafft. Sie bleibt zwar langfristig folgenlos, ist aber für die Erfassung der Vieldeutigkeit von »Landschaft« wichtig und kann, wie Plath vorschlägt, insgesamt als eine Art landschaftstheoretische Metapher verstanden werden. Plath geht von folgender Begebenheit aus: Am 15. Juli 1770 genehmigte der preußische König Friedrich II. einen Beschluss des Landtags, der die Gründung eines Bodenkreditinstituts vorsah. Die entsprechende Urkunde hieß »LandschaftsReglement«, das Institut selber nannte man »Landschaft«. Entsprechend führt das Grimmsche Wörterbuch als siebte und letzte Bedeutung des Wortes »Landschaft« auf: »name eines provinziellen creditinstitutes der adlichen landbesitzer in der provinz schlesien«.376 Die Landschaft sollte Grundbesitzer in Teilen Preußens nach dem Ende der drei Schlesischen Kriege (1740-1763) ökonomisch stützen. Besonders schlesische Landadelige sahen sich außer Stande, die verwüsteten Rittergüter wieder aufzubauen, und gingen bankrott. Friedrich II. fasste die örtlichen Anwesen in der Landschaft zusammen und ließ Pfandbriefe ausgeben, mit Hilfe derer die Mitglieder der Landschaft zu Krediten kamen. Die landschaftlichen Rittergüter hafteten solidarisch, was die Pfandbriefe zu einem sicheren Wertpapier und die Landschaft zu einem eigentlich genossenschaftlichen Verband machte. Das Institut hatte demnach die Aufgabe, in einer historisch unsicheren Situation bestehende Bodenbesitzverhältnisse und soziale Strukturen zu festigen. Gefestigt wurden damit unausgesprochen auch jene Prozesse und Verhältnisse, die zu dieser historisch konkreten sozialen Konfiguration von Besitz und dessen Verteilung führten. Das semantische Spektrum des Wortes »Landschaft« erweitert sich mit dem Auftauchen der preußischen Landschaft also um eine wichtige Komponente. Das Wort wird zur »Widerspiegelung […] des Eigentums und seiner Erfassungen […] wenn es dabei um Kapital und Bodennutzung und Wertschöpfungsreserven geht«.377 Plath versteht Landschaft als Festschreibung von Rechtsverhältnissen, besonders im Bezug auf Eigentum von Boden, einer der grundlegenden Produktionsfaktoren und eine Elementarform von Kapital. »Landschaft« in Gestalt der preußischen Kreditanstalt heißt demnach institutionalisierte Geschichte der Aneignung von Land. Damit wird die Begriffsgeschichte von »Landschaft« erkennbar Teil von Herrschaftsdiskursen, was eine sich auf die ästhetische Bedeutungskodifizierung des Begriffs konzentrierende Analyse unterschlägt, denn »wie soll man Eigentumsrechte beschreiben, ohne über Gewalt zu sprechen?«.378 Doch auch Plath sucht die Verbindung zur Landschaftsästhetik des 18. Jahrhunderts und findet sie in der zeitgenössischen Gartenarchitektur. Denn die Gärten des

376 Grimm, Grimm: Deutsches Wörterbuch, S. 132. 377 Plath: Geteilte Landschaften, S. 187. 378 Plath: Geteilte Landschaften, S. 176. Vgl. Kapitel 4.5.

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18. Jahrhunderts bilden, so Plath, nicht nur in sich Landschaften ab, sondern lassen diese auch dort entstehen, wo längst kein Garten mehr ist: »Als eine Landschaft des Außen, in der sich als ihr Innen der Garten – wie wohl unsichtbar – umzäunt, begrenzt und eingefasst findet.«379 Das Wichtigste an diesen Gärten sind also in gewisser Weise ihre Grenzen, die aber, in Gräben eingelassen oder in Hecken verborgen, dem Blick entzogen werden.380 Unausgesprochen sind diese Gärten »Inszenierungen von Einschlüssen und Ausschlüssen«. In diesen künstlerisch motivierten Grenzsetzungen bilden die fraglichen Gärten landschaftliche Strukturen der sichtbaren Welt nicht nur ab, sondern stellen sie ebenso her. Das beinhaltet auch die Festlegung von Blickwinkeln, Perspektiven und Positionen, innerhalb oder außerhalb dieser oder jener Landschaft: »In Landschaft werden Raum und Subjekt – beide gleichermaßen als Hervorbringungen diskursiver Darstellungspraxen wie als phänomenologisch wahrnehmbare, durch konstruierte Rezeptionsbedingungen erfassbare Dinge – in ein Verhältnis zueinander platziert, gerahmt und umfriedet.«381 Wie und warum das geschieht, erschließt sich aus dem historischen Kontext, besonders mit Rücksicht auf die ökonomischen Entwicklungen der Zeit.382 In dieser konkreten Gestaltung von Welt durch Zäune und Mauern und der Abbildung des Vorgangs in der Kunst machen sich, so Plath, »Ansprüche auf Stabilität und Herrschaft über mehr als die konkrete räumliche Landschaft kenntlich – nämlich Herrschaftsansprüche auf die sich mittels Landschaftsbilder vermittelnden ästhetischen wie gesellschaftlichen Diskurse«.383 Der Prozess der begriffsgeschichtlichen Festschreibung von »Landschaft« auf eine ästhetische Bedeutung stellt, meint Plath, eine solche Herrschaftsausübung dar. Insofern impliziert seine etymologische Würdigung des preußischen Bodenkreditinstituts die Möglichkeit, im späteren Verschwinden dieser Bedeutung des Begriffs eine Metapher für den Verlauf des Diskurses überhaupt zu sehen. Damit kommt die begriffsgeschichtliche Rekapitulation zu keinem eindeutigen Ergebnis, sondern zeigt mindestens zwei Wege auf, die analytisch begangen werden sollten, um den Begriff »Landschaft« zu verstehen: nämlich erstens den Weg der Beschreibung des Begriffs im Kontext der Kunst und zweitens den Weg der Beschreibung des Begriffs im Kontext der Politik. In gewisser Weise beruhen sie auf unterschiedlichen Voraussetzungen. »Landschaft« primär als ästhetischen Begriff zu verstehen, bedeutet, der Kunst einen besonderen Rang im Verhältnis von Spra-

379 Plath: Geteilte Landschaften, S. 176. 380 Vgl. Kapitel 4.6.4. 381 Plath: Geteilte Landschaften, S. 178. 382 Vgl. Kapitel 4.6.4. 383 Plath: Geteilte Landschaften, S. 179.

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che und Welt einzuräumen. Ist die Landschaft, wie sie den Menschen real vor Augen steht, eine Erfindung der Kunst? Wenigstens in Teilen dem entgegen steht der andere Zugriff, in »Landschaft« einen politisch relevanten Begriff zu sehen und so einer tendenziell materialistisch orientierten Analyse den Vorrang zu lassen. Diese ginge davon aus, dass Realien und nicht Ideen bestimmen, wie die Welt aussieht und wie sie wahrgenommen wird. Man braucht nicht eine absolute Antinomie zwischen idealistischer und materialistischer Geschichts- und Wirklichkeitsauffassung zu postulieren. Aber es ist hilfreich, die beiden Ansätze voneinander zu unterscheiden, denn erstens bevorzugt die Geschichtsschreibung des Landschaftsbegriffs idealistische Positionen und zweitens bietet sich gerade der Landschaftsbegriff dafür an, beide Ansätze einander anzunähern. Das geschieht, wenn unter einer »ästhetischen« Landschaft nicht einfach ein Erzeugnis der Kunst und damit der Ästhetikbegriff umfassend, das heißt auch politisch, verstanden wird.

4.6 POLITISCHE LANDSCHAFT: MIMESIS UND POIESIS – GEHT DIE KUNST DER LANDSCHAFT VORAUS? Politisch ist die Landschaft, in der ästhetischen Bedeutung des Begriffs, zunächst in dem Sinne, dass sie eine Art und Weise der Erfassung und Darstellung von Umgebung und damit Teil der Raumproduktion ist, wie sie Lefebvre als politisch beschrieben hat.384 Dieses Thema ist besonders in der englischsprachigen Literatur seit dem Erscheinen der wegweisenden Arbeit »Social Formation and Symbolic Landscape« von Denis E. Cosgrove 1984 breit behandelt worden.385 Cosgrove geht davon aus, dass es eine Korrelation gibt zwischen der Art, wie Landschaft gesehen, und der Art, wie Gesellschaft strukturiert wird: »The argument here is that the landscape idea represents a way of seeing – a way in which some Europeans have represented to themselves and to others the world about them and their relationships with it, and through which they have commented on social relations. Landscape is a way of seeing that has its own history, but a history that can be understood only as part of a wider history of economy and society; that has its own assumptions and consequences, but assumptions and consequences whose origins and implications extend well beyond the use

384 Vgl. Kapitel 3.3. 385 Denis Cosgrove: Social Formation and Symbolic Landscape. With a new Introduction. London 1998.

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and perception of land; that has its own techniques of expression, but techniques which it shares with other areas of cultural practice.«386

Dieser Ansatz wurde von verschiedener Seite aufgenommen und ausgebaut, namentlich von feministischer und postkolonialistischer Seite. William John Thomas Mitchell zum Beispiel setzte die Bedeutung von Landschaftsvorstellungen in der europäischen Geschichte in einen weltpolitischen – und in einen therapeutischen – Zusammenhang und bezeichnete Landschaft als »dreamwork of imperialism«.387 Was dieser Zusammenhang von Landschaft, Politik und Gesellschaft konkret bedeuten kann, hat für die Schweiz André Corboz mit seiner Analyse der zum Mythos ästhetisierten Landschaft rund um den Vierwaldstättersee eindrücklich gezeigt.388 Sie ist ein Beispiel, wie »der Mythos den Sieg über die Geschichte davongetragen hat«,389 indem er in einer ästhetisierten Landschaft scheinbar territorialisiert und damit wörtlich und bildlich »verinnerlicht«390 werden konnte. Dem und der Theorie des ästhetischen Landschaftsbegriffs überhaupt liegt die Annahme zugrunde, die Kunst, zum Beispiel die Landschaftsmalerei, habe über ihre Funktion als Abbildung von real existierender oder imaginierter Wirklichkeit hinaus die Kraft, diese Wirklichkeit auch zu verändern, wenn nicht sogar in Teilen oder ganz neu zu erschaffen. Ruth und Dieter Groh formulieren die These so: »Die sinnliche, die ästhetische Wahrnehmung von Natur ist immer durch Ideen, durch Vorstellungen präformiert. Ideen, Vorstellungen generieren zuallererst den Gegenstand der Erfahrung. […] Ohne vorgängige Lektüre von Texten oder vorgängige Aneignung von Sichtweisen, die durch Bilder vermittelt werden, kann also Natur als Landschaft gar nicht wahrgenommen werden.«391

Berühmt auch die Aussage Goethes, der während seines Aufenthalts in der Schweiz behauptete, er habe das Sehen von Landschaft schon seit langem eingeübt, und zwar anhand von Kunst, weshalb er sich selbst gern als Künstler versuchte: »Die Gewohnheit von Jugend auf, die Landschaft als Bild zu sehen, verführte mich zu

386 Cosgrove: Social Formation, S. 1. 387 William John Thomas Mitchell: Imperial Landscape. In: William John Thomas Mitchell (Hg.): Landscape and Power. Chicago, London 2002, S. 5-34, hier S. 10. 388 André Corboz: Entlang des Wegs. Das Territorium, seine Schichten und seine Mehrdeutigkeit. In: Corboz: Die Kunst, S. 167-185. 389 Corboz: Entlang des Wegs, S. 179f. 390 Corboz: Entlang des Wegs, S. 180. 391 Groh, Groh: Weltbild und Naturaneignung, S. 95.

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dem Unternehmen, wenn ich in der Natur die Gegend als Bild erblickte, sie fixieren […] zu wollen.«392 Der Landschaft geht, so die Behauptung, Kunst voraus. Kunst mache die Wahrnehmung von Landschaft überhaupt erst möglich. Das ist eine erstaunliche Feststellung. Abgesehen von der Frage, ob diese These für den konkreten Fall der Landschaftsmalerei stimmt, muss festgestellt werden, dass sie mit einer Konzeption von Kunst arbeitet, die nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern selbst problematisiert werden muss. Es geht, ähnlich wie bei den behandelten sprachphilosophischen Fragen, um das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, von Realität und Fiktion, insbesondere um die Wechselwirkungen und Überlagerungen der beiden Bereiche, die sich, das deutet sich bereits an, nur theoretisch trennen lassen. Als den »Grundstrom der Kunst« bezeichnet Alexander Kluge die Tatsache, dass Menschen nicht abbilden können, »ohne das, was sie abbilden, auch zu verwandeln«.393 Gemeint ist nicht, dass Kunst Wirklichkeit insofern verändert, als dass sie einfach zur Mehrung des Existierenden im Sinne von real existierenden Gegenständen beiträgt, zur Anhäufung von Objekten in der Welt. Das tut sie zwar auch, aber das ist nicht alles. Diese Gegenstände nehmen, da in Teilen ideeller Natur – traditionell würde man sie wohl »Ideen« nennen –, erstens Einfluss auf die Vorstellungen und Wahrnehmung von Welt und dadurch zweitens auf die Welt selbst, da deren Gestaltung offenbar mit den Vorstellungen, die wir uns von ihr machen, zusammenhängt. Insofern sind sie innovativ, sie stellen etwas dar, was schon, real oder ideell, da war, und gleichzeitig stellen sie etwas Neues vor oder besser hin, das eben davor noch nicht da war. Bei dieser Frage hat man es mit einem absoluten Zentralproblem der Kunsttheorie zu tun. Nämlich mit der Frage, was Mimesis ist an der Kunst und was Poiesis. Das Problem ist bereits in der Poetik des Aristoteles angelegt und ausgesprochen. In Bezug auf die Tragödie macht er schon im ersten Kapitel klar, was die Künste sind, nämlich »Nachahmungen«.394 Darin seien sich alle Künste gleich, die Unterschiede zwischen ihnen seien »durch die Mittel bedingt […], mit deren Hilfe die Nachahmung bewerkstelligt wird«.395 In Bezug auf die Tragödie macht er im zweiten Kapitel weiter klar: »Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen

392 Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. In: Johann Wolfgang von Goethe: Werke, Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 10. Autobiographische Schriften II. München 1981, S. 7-187, hier S. 152. 393 Alexander Kluge: Die Granaten des Krieges führten zur Collage-Technik. In: Das Magazin Nr. 8, 5. März 2010, S. 49. 394 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Stuttgart 1999, S. 5. 395 Aristoteles: Poetik, S. 7.

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nach.«396 Er hält die Nachahmung für »naturgegeben«,397 »denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren […] als auch die Freude, die jedermann an Nachahmung hat«.398 Das zeige sich schon darin, dass die Menschen von Geburt an nachahmend lernen und sich so die Welt erschließen würden. Insofern ist, so Aristoteles, »das Nachahmen unserer Natur gemäß«,399 und dasselbe muss folglich auch für die Kunst gelten, die Nachahmung, also Mimesis, ist. Doch Aristoteles macht auch klar, dass sie nicht nur das ist. Kunst besteht für ihn nicht nur aus Abbildung der Realität. Sie leistet im Gegenteil etwas, das über die bloße Referenz auf das Vorhandene hinausgeht. In Kapitel neun referiert er, »dass es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche«.400 Insofern schreibt er der Kunst einen realitätskonstitutiven Charakter zu, und darum ist sie mehr als reine Mimesis, sie ist auch, wie der Titel des aristotelischen Werks bereits sagt, Poiesis. »Sie ist für Aristoteles nicht das bloße Abbild einer von den sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen wiederum nur abbildhaft repräsentierten Idee, sondern Nachbildung dessen, was in der Natur als Möglichkeit angelegt ist und durch menschliche Poiesis zur Vollendung gebracht werden kann.«401 Das korreliert mit seiner Vorstellung von Natur, die er als dynamisches Gebilde sieht, mit einer entsprechenden Betonung der Begriffe Dynamis und Energeia, Vermögen und Tat, Möglichkeit und Wirklichkeit. Dynamis ist das Vermögen des Seienden, Energeia die Tat, mit der sich die Möglichkeit verwirklicht. Jüngst hat Giorgio Agamben herausgearbeitet, dass die Dynamis auch den Modus des »NichtExistierens« beinhaltet. Das Potenzielle ist, definitionsgemäß, das, was in der Lage ist, nicht zu sein.402 Er versucht so, den traditionellen Dualismus zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit aufzuheben, ein Gedanke, der schon bei Aristoteles angelegt ist: »Was also vermögend ist zu sein, kann sowohl sein als auch nicht sein; dasselbe ist also vermögend zu sein und nicht zu sein.«403

396 Aristoteles: Poetik, S. 7. 397 Aristoteles. Poetik, S. 11. 398 Aristoteles: Poetik, S. 11. 399 Aristoteles: Poetik, S. 13. 400 Aristoteles: Poetik, S. 29. 401 Zimmermann: Naturbegriff, S. 121. 402 Vgl. Giorgio Agamben: Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz. Berlin 1998. 403 Aristoteles: Metaphysik. Übersetzt und eingeleitet von Thomas Alexander Szlezak. Berlin 2003, S. 163.

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Das Inexistente, als das, was sich, historisch gesehen, hätte realisieren können, das aber nicht tat, würde dann eine Art dritte Stelle des klassischen dialektischen Schemas darstellen. Das ist für Fragen der Ästhetik, verstanden als Kunsttheorie, insofern von Belang, als sich Kunst genau auf dieser Grenze zwischen Realität und Fiktion bewegt, die, wie Agambens Aristoteles-Interpretation nahelegt, die beiden Bereiche keineswegs klar trennt. Kunst wäre in diesem Sinne ein Mittel der ständigen Überschreitung oder des Übergangs, eine permanente Transgression vom einen zum andern und zurück. Durch die Energeia wird daraus dann etwas Faktisches, etwas wird aktualisiert, so dass in der Realisation die ganze immanente Dynamik sich verwirklicht, das Mögliche aber, das mögliche andere, nicht mehr ist. Hier schließt, hängt diese realisierende und gleichzeitig annihilierende Energeia von Menschen ab, der Begriff der Poiesis an. Poiesis geht auf die etymologische Wurzel poiein, das heißt »machen, verfertigen«, zurück.404 Gemeint ist nicht das Handeln, das Tun, sondern das Erzeugen und Hervorbringen. Handeln heißt bei Aristoteles »Praxis« und bezeichnet das freie, besonders das politische Handeln, wohingegen die Poiesis Mittel zum Zweck der produktiven Beschäftigung mit dem Nützlichen ist. So »deckt sie sich mit der Sphäre der gesellschaftlichen Arbeit. […] Die poiesis bedeutet demnach vor allem die Tätigkeit des materiellen Produzierens, und zwar in demselben Sinne des ›Etwas-Herbeischaffens‹ und ›Etwas-Hervorbringens‹, der später im lateinischen pro-ductio so deutlich spürbar ist. In diesem Sinn heißt Produzieren ein Schaffen, ein Erzeugen von etwas, was es vorher – ›von sich selbst‹ oder ›von der Natur aus‹ nicht gab; es besteht in Konstruktion einer künstlichen Welt der Artefakten, der menschlichen Gebilde.«405 Aristoteles hatte keine Mühe, auch die Kunst in die Kategorie der Poiesis einzuordnen, denn diese war für die Griechen als Techne eng mit dem Handwerk verwandt und für ein solches wurde auch die Kunst gehalten. Im hier diskutierten Kontext bedeutet Poiesis aber nicht nur das Produzieren von physischen Erzeugnissen. Im Sinne von Ernst Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen«406 und unter Berücksichtigung moderner ideologietheoretischer Ansätze sind die genannten »Artefakte« und »menschlichen Gebilde« nicht nur in materiellem Sinn zu ver-

404 Duden 7, S. 538. 405 Marek J. Siemek: Demokratie und Philosophie. Die Antike und das politische Ethos des europäischen Denkens. Bonn 1999, S. 16. http://aei.pitt.edu/298/1/dp_c46_siemek.pdf (2. März 2012). 406 Vgl. Ernst Cassirer: Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen. Herausgegeben von Marion Lauschke. Hamburg 2009. Und Detlev Pätzold: Die Technik – techne und poiesis. In: Hans Jörg Sandkühler, Detlev Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers. Stuttgart, Weimar 2003, S. 211-219.

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stehen. Im weiten Spektrum von Mimesis und Poiesis decken sie also sowohl repräsentative wie produktive Funktionen ab. Eine besondere Rolle spielt in diesem Prozess die Landschaftsmalerei als materielle Manifestation des ästhetischen Landschaftsbegriffs mit ideologischer Aufladung. Dem Literaturtheoretiker Terry Eagleton ist sicher zuzustimmen, wenn er in der Geschichte der Ästhetik eine »Geschichte ihrer Ideologie«407 am Werke sieht. Ideologie meint hier einerseits allgemein eine versteckt interessengebundene, scheinobjektive Weltanschauung samt Praxisanleitung. In Corboz’ Worten: »Was ist die Ideologie? Etwas, was als evident erscheint und in diesem Sinne handeln lässt.«408 Eagleton impliziert andererseits einen kritischen Ideologiebegriff, der in der marxistischen Tradition, in die sich Eagleton offen stellt, verschiedene Bedeutungen angenommen hat. In jüngerer Zeit hat sich die Diskussion »vom Wahrfalsch-Gegensatz zur Analyse der Wirkungsweise und zum Gegensatz von Herrschaftsproduktion vs. Emanzipation«409 verschoben. In diesem Prozess der Herrschaftsproduktion spielt die Ästhetik keine geringe Rolle. Sie ist Feld und Mittel der Auseinandersetzung um Hegemonie im Sinne Antonio Gramscis. Gramsci meinte damit die Durchdringung des Gesellschaftlichen durch einen instrumentellen Willen zur Herrschaft. Der Wille manifestiert und produziert sich gerade in jenen gesellschaftlichen Bereichen, die diese Gesellschaft als die ihr eigenen, sie charakterisierenden und auszeichnenden kulturellen Leistungen versteht. Dieser instrumentelle Wille zur Herrschaft basiert insofern auf einer scheinbaren oder tatsächlichen »Übereinkunft der assoziierten Willen«.410 Gramsci denkt bei dieser Bestimmung von Hegemonie die etymologische Wurzel des Wortes, griechisch hegeisthai, »vorangehen, führen«,411 mit, das heißt, er betont den produktiven, weniger den repressiven Charakter des Konzepts.412 Die Ästhetik ist so gesehen Instrument einer spezifischen Art der Wissensproduktion und damit Mittel zur Beschreibung der Welt.

407 Terry Eagleton: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie. Stuttgart, Weimar 1994, S. 13. 408 Corboz: Entlang des Wegs, S. 180. 409 Jan Rehmann: Ideologietheorie. In: Wolfgang Fritz Haug (Hg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 6/I, Hegemonie bis Imperialismus. Hamburg 2004, S. 717-760, hier S. 718. 410 Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben vom Deutschen Gramsci-Projekt unter der wissenschaftlichen Leitung von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug. Übersetzt von Klaus Bochmann u.a. Band 7. Hamburg 1991ff., Heft 13 § 1, S. 1536. 411 Duden 7, S. 274. 412 Vgl. Haug (Hg.): Wörterbuch des Marxismus, S. 1f.

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Aber was heißt in diesem Zusammenhang »Ästhetik«? Der Wortstamm geht zurück auf das griechische aistháneshai, »wahrnehmen«.413 »Ästhetisch« bedeutet in diesem Sinn: »die menschliche Wahrnehmung betreffend«. »Wahrnehmung« heißt aber mehr als auf die Körperfunktionen gestützte »Perzeption«. Sie begreift auch aperzeptive Vorgänge mit ein. Der Philosoph Wolfgang Welsch schlägt vor, die sinnliche Wahrnehmung generell als sinnproduzierende Wahrnehmung zu verstehen, was ihn zur Formulierung vom »sinnlichen Sinn« führt.414 Welsch situiert sich selber im Kontext einer postmodernen Philosophie und sieht in diesem Umkreis andere Autoren, von Lyotard über Derrida und Baudrillard, zu Vattimound Cacciari bis zu Sloterdijk, die seine Überzeugung, Denken sei immer ästhetisch, teilen.415 Er geht, in Anlehnung an Aristoteles, davon aus, dass »zu jeder Erkenntnisart – ob theoretisch oder praktisch – […] ein eigener Typ des Wahrnehmens« gehöre, »so dass Sinn sich allenthalben einer Wahrnehmungstätigkeit verdankt, anders gesagt: Sinn ohne Wahrnehmung nirgendwo existiert«. Welsch will unter »Wahrnehmung« ein »Erfassen von Sachverhalten, das zugleich mit Wahrheitsansprüchen verbunden ist«,416 verstanden wissen, was bedeutet, »Wahrnehmung« im buchstäblichen Sinn als das Annehmen von Wahrheit zu definieren. Das leitet Welsch zu der Feststellung, Wahrnehmung bestehe aus den Kategorien »Sinneswahrnehmung« und »Sinnwahrnehmung«,417 die beide untrennbar miteinander verknüpft seien. Damit also beschäftigt sich die Ästhetik, wobei ihr Gegenstand konkrete ästhetische Phänomene sind. Ästhetische Phänomene sind Phänomene, die unter den Bedingungen der menschlichen Wahrnehmung aufgefasst und dann beschrieben werden. Aussagen zur Ästhetik von Dingen sind Aussagen über deren Wirkung auf die Wahrnehmung. Der Zusammenhang mit der Kunst, der die jüngere Wortgeschichte dominiert, ist dabei nicht automatisch gegeben. Er ist es nur insofern, als Kunst sich systematisch mit der Produktion von Wirkung befasst. Sie findet allein unter den Bedingungen der Wahrnehmung statt und ist insofern »ästhetisch«, in den Worten Wolfgang Welschs: »In der Kunst ist Sinn immer sinnlicher Sinn.«418 Ästhetik aber ist nicht allein die Wissenschaft von der Kunst, sondern die von der Wahrnehmung. Gegenstand dieser Wissenschaft sind alle möglichen Phänomene, die ästhetisch aufge-

413 Duden 7, S. 48. 414 Wolfgang Welsch: Meine Versuche in der Ästhetik. In: Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003, S. 219-227, hier S. 219. 415 Vgl. Wolfgang Welsch: Zur Aktualität ästhetischen Denkens. In: Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken, S. 41-78. 416 Welsch: Aktualität, S. 48. 417 Welsch: Aktualität, S. 48. 418 Welsch: Meine Versuche, S. 219.

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fasst werden können. Die Ästhetik beschreibt den Zusammenhang der Art und Weise des Auftretens dieser Phänomene und ihres Wirkens auf die Wahrnehmung. Verantwortlich für diese Wirkung sind Gestalt und Gehalt, Form und Inhalt der fraglichen Phänomene. Sie wirken zusammen, weil die Mittel der Wahrnehmung die menschlichen Sinne und die mit ihnen zusammenhängenden körperlichen Funktionen sind, die Denken und Fühlen initiieren und tragen. Insofern ist Ästhetik ein »Diskurs über den Körper«,419 wie Terry Eagleton meint, und als solche ist sie auch entstanden. Alexander Gottlieb Baumgarten führte den Begriff »Ästhetik« in seiner Dissertation »Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus« (1735) in die Philosophie ein.420 Er versuchte eine »erkenntnistheoretische Lücke«421 zu schließen, nämlich die »von der üblichen Logik nicht beantwortete[n] Frage nach dem Status der Sinnlichkeit«.422 Baumgarten stellte fest, dass sich die Philosophie, disziplinär die Logik, bisher am liebsten mit der klaren, sicheren Erkenntnis auseinandergesetzt, dabei aber die undeutliche Erkenntnis vernachlässigt hatte: »Einige Sachen denke ich deutlich, einige verworren.«423 Diese zweite Art der Erkenntnis nannte er »sinnlich«, ordnete sie der Seele zu und stellte sie der logischen gegenüber: »Meine Seele erkennt einige Dinge. Folglich hat sie ein Vermögen etwas zu erkennen oder ein Erkenntnisvermögen. […] Eine undeutliche, das ist eine dunkele oder verworrene, Vorstellung ist sinnlich, und dergleichen sind in meiner Seele.«424 Die Wissenschaft dieser dunklen, sinnlichen Erkenntnis war für Baumgarten die Ästhetik. Es gelang ihm, in der Nachfolge von Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff, die den Gedanken des deutlichen und undeutlichen Erkenntnisvermögens vorbereitet hatten, die Ästhetik als philosophische Disziplin zu etablieren, spätestens in der »Ästhetik«425 aber gebunden an das Schöne und an die Kunst. Im Kern war Baumgartens Ansatz allerdings erkenntnis-, nicht kunsttheoretisch. Und weil der Gegenstand der Ästhetik gemäß Baumgarten das sinnliche Erkennen ist, ist sie an den Körper gebunden. In den Worten Eagletons:

419 Eagleton: Ästhetik, S. 13. 420 Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts. Übers. und mit einer Einleitung von Heinz Paetzold. Hamburg 1983. 421 Werner Jung: Von der Mimesis zur Simulation. Eine Einführung in die Geschichte der Ästhetik. Hamburg 1995, S. 57. 422 W. Jung: Mimesis, S. 57. 423 Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysik. Ins Deutsche übersetzt von Georg Friedrich Meier. Jena 2004, S. 113. 424 Baumgarten: Metaphysik, S. 115. 425 Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. Lateinisch – Deutsch. Hamburg 2007.

226 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER »Die Unterscheidung, die der Begriff ›ästhetisch‹ in der Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzt, bezieht sich nicht auf die Trennung von ›Kunst‹ und ›Leben‹, sondern auf die von Materiellem und Immateriellem, von Dingen und Gedanken, von Empfindungen und Vorstellungen, von dem, was im Gegensatz dazu im Inneren unseres Geistes, eine eher schattenhafte Existenz führt.«426

Dieses Schattenhafte macht, in Eagletons Augen, allerdings nichts weniger als »die Gesamtheit unseres Empfindungslebens«427 aus. Eagleton ist Marxist und argumentiert materialistisch. Er sieht in Baumgartens Ideen »die lange unartikuliert gebliebene Rebellion des Körpers gegen die Tyrannei des Theoretischen«.428 Diese Interpretation ist einerseits historisch konkret. Sie bezieht sich auf den spezifischen philosophiegeschichtlichen Moment, in dem die Wissenschaft des Sinnlichen ausgerufen wird. Solcher Ansicht ist auch Welsch, der die Ästhetik als das bestimmende Projekt der Moderne versteht, die sich in einer intensiven Zuwendung zur Welt von der, grob periodisiert, voraufklärerischen Metaphysik habe losreißen wollen.429 Andererseits handelt es sich, gemäß Eagleton, bei der Ästhetik um eine fortgesetzte Stellungnahme gegen epistemologische Systeme, welche den Körper und seine Weisen des Erkennens und Erlebens desavouieren, egal zu welchem Zeitpunkt der Geschichte. Dazu gehören Systeme – man könnte sie Archien nennen, Herrschaften oder Herrschaftssysteme –, die Objektivierung, die Produktion von Evidenzen, zum Mittel ihrer Herrschaft machen, denn Ästhetik ist, gestützt auf die menschliche Wahrnehmung, durchsetzt vom Subjektiven. Das ist die entscheidende Komponente in Eagletons Bild von der Rebellion des Körpers, es ist, mit Jacques Rancières Worten, »Die Aufteilung des Sinnlichen«.430 Rancière bezeichnet damit die Praktiken von Sicht- und Unsichtbarmachung, besonders im politischen Kontext und dadurch besonders in Bezug auf den Einzelnen gegenüber dem Gemeinsamen: Was wird gesehen? Wer kann reden? Wer wird gehört? Wer oder was ist der sinnlichen Wahrnehmung gegeben? Was hat überhaupt Anteil am Sinnlichen? Was ist evident? In der Politik, dieser ständigen »Mésentente«,431 wird über die Aufteilung des Sinnlichen gestritten. Anlass, Mittel und Folgen dieses Streits sind ästhetisch, und damit meint Rancière auch die Kunst, aber nicht nur. Ästhetik

426 Eagleton: Ästhetik, S. 13. 427 Eagleton: Ästhetik, S. 13. 428 Eagleton: Ästhetik, S. 13. 429 Vgl. Wolfgang Welsch: Ästhetik und Anästhetik. In: Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003, S. 9-40. 430 Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen: Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin 2008. 431 Vgl. Jacques Rancière: La Mésentente. Paris 1995.

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ist insofern die Beschäftigung mit dem, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Gesellschaft als Gegenstand anerkannter Wahrnehmung gilt, was überhaupt wahrgenommen werden kann und als Wahrgenommenes thematisiert wird.432 Die das Wahrgenommene betreffenden Kommunikationsprozesse, unter Umständen in Form von Kunst, sind insofern mit ästhetischen Phänomenen untrennbar verbunden. Welche dieser Phänomene »schön« genannt werden, spielt hingegen nur eine sekundäre Rolle. Zu einem solchen Verständnis von Ästhetik haben nicht zuletzt die Arbeiten von Michel Foucault entscheidend beigetragen.433 Eagleton wiederum sieht die enorme Bedeutung, die der Ästhetik in der europäischen Kulturgeschichte zukommt, historisch konkret an die Entwicklung der europäischen Gesellschaft gebunden, besonders in Bezug auf die Entwicklung ihrer Klassenkämpfe: »Meine These besteht […] darin, dass die Kategorie des Ästhetischen in der europäischen Moderne deshalb so große Bedeutung gewinnen konnte, weil sie zwar von der Kunst spricht, aber immer auch andere Themen meint, die für den Kampf der Mittelklasse um politische Hegemonie von größter Bedeutung sind. Denn die begriffliche Konstruktion des ästhetischen Artefakts ist in der Moderne nicht zu trennen von der Konstruktion der vorherrschenden ideologischen Form menschlicher Subjektivität, die mit dieser Gesellschaftsordnung einhergeht.«434

Eagleton verbindet also die philosophische Disziplin mit dem Geschick des Bürgertums und situiert sie damit diskursanalytisch in einem historisch konkreten Kontext. Es ist Eagleton völlig klar, dass kunst- sowie wahrnehmungstheoretische Diskurse die Menschen lange vor dem fraglichen Zeitraum beschäftigt haben. Nur wenig davon, wie er sagt, »wäre Aristoteles nicht vertraut gewesen«.435 Gleichzeitig warnt er, seine Studie explizit als »marxistisch«436 deklarierend, davor, in reduktive Denkschemata zu verfallen. Trotzdem hält er an einer historisch-materialistischen Analyse fest:

432 Vgl. Susanne Hauser, Christa Kamleithner: Einführung. In: Susanne Hauser, Christa Kamleithner: Ästhetik der Agglomeration. Zwischenstadt Band 8. Wuppertal 2006, S. 8-17. 433 Vgl. Michel Foucault: Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München 1973. Und Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Frankfurt a.M. 1995. 434 Eagleton: Ästhetik, S. 3. 435 Eagleton: Ästhetik, S. 3. 436 Eagleton: Ästhetik, S. 5.

228 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER »Denn die Entstehung des Ästhetischen als theoretische Kategorie hängt eng zusammen mit den materiellen Vorgängen, durch die kulturelle Hervorbringungen im Frühstadium der bürgerlichen Gesellschaft ›autonom‹ werden. Und autonom werden sie durch ihre Freistellung von verschiedenen gesellschaftlichen Funktionen, die sie traditionell erfüllt haben. Sobald Artefakte als Kunstprodukte zu Waren am Markt werden, existieren sie für nichts und niemanden. Folglich können sie, ideologisch gesprochen, auch so aufgefasst werden, als existieren sie zu ihrem eigenen Ruhm ganz und gar für sich selbst. Auf diesen Begriff der Autonomie oder Selbstreferentialität konzentriert sich der neue Diskurs der Ästhetik.«437

Die Analyse des Entstehens der Landschaftsmalerei als selbständiges Genre in der Renaissance bestätigt diesen Befund. Autonomie wurde dort sowohl für die Etablierung einer spezifischen Art von Subjektivität als auch für die gesellschaftliche Neuorganisation des kulturellen Sektors zur entscheidenden Kategorie, was wiederum zur Formulierung eines ästhetischen Landschaftsbegriffs beitrug. Dieses Konzept der Autonomie konstituiert einerseits einen separaten Bereich des Ästhetischen, konkret der Kunst, der von anderen gesellschaftlichen Bereichen getrennt erscheint und idealisiert oder stigmatisiert wird, weil in ihm andere Logiken und Gesetze herrschen können, der also in einem intrinsischen Sinn autonom ist. Diese Dialektik von Separation und Durchdringung, Idealisierung und Stigmatisierung weist wieder auf Jacques Rancière hin. Andererseits stellt die Autonomie des Ästhetischen extrinsisch ein klassenkonstitutives Modell zur Verfügung, und zwar »genau das ideologische Modell von Subjektivität, das sie« – gemeint ist die bürgerliche Klasse – »bei ihrem materiellen Vorgehen nötig hat«.438 Paradoxerweise beinhaltet dieses Subjektivitätskonzept, wie Eagleton betont, sowohl ein Freiheitsangebot in Form der Opposition »gegen alles vormächtige oder instrumentalistische Denken«,439 also gegen Hegemonie, wie es auch selbst, als Ideologie, Instrument eines hegemonialen Anspruchs werden kann und das, wie die Geschichte – nicht zuletzt jene des ästhetischen Landschaftsbegriffs – zeigt, auch geworden ist. Im Folgenden wird anhand einiger Beispiele aus dieser Geschichte die Frage untersucht, wie ästhetische Phänomene Einfluss auf die Wirklichkeit nehmen. Mit ästhetischen Phänomenen ist hier, einem engen Wortsinn entsprechend, Kunst gemeint, und zwar konkret solche, die sich mit Landschaft auseinandersetzt. Dargestellt wird also das poietische Element von Kunst unter Berücksichtigung der gemachten Aussagen bezüglich des ideologischen Charakters der Ästhetik als Theorie der Wahrnehmung allgemein und als solche der Kunst im Besonderen. Diese Beispiele werden nicht widerlegen oder beweisen können, ob und wie Kunst tatsäch-

437 Eagleton: Ästhetik, S. 9. Vgl. Kapitel 4.4.1. 438 Eagleton: Ästhetik, S. 9. 439 Eagleton: Ästhetik, S. 9.

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lich für das Sehen von Landschaft verantwortlich ist. Sie sollen diese von der Landschaftstheorie angenommene Korrelation aber in einen Zusammenhang stellen, der Ästhetik als einen über die Sphäre der Kunst hinausreichenden Begriff verstehbar macht. 4.6.1 Beispiel 1: Die Alpenwahrnehmung Die Geschichte der Alpenwahrnehmung blickt auf eine lange Forschungstradition zurück. Ein Topos innerhalb dieser Tradition ist die Verbindung zur Kunstgeschichte, das heißt, die Wahrnehmung der Alpen wird auf Entwicklungen in der Kunst zurückgeführt und dort vor allem auf solche innerhalb der Literatur. In der Literatur und auch in der Landschaftsmalerei werden die Antriebsfedern für die Verbreitung und Durchsetzung eines ästhetischen Landschaftsbegriffs gesehen, der wiederum für die Wahrnehmung der Alpen eine entscheidende Rolle spielte. Umgekehrt wurde dieser ästhetische Landschaftsbegriff anhand der Alpenrezeption zwar nicht entwickelt, aber doch neu erprobt. Die Alpen stellten nämlich, so die »alpine Standardgeschichte«,440 die aus der besagten Forschungstradition resultiert, einen im 18. Jahrhundert »neu entdeckten« Landstrich dar, dessen Wahrnehmung sich in dieser Zeit radikal wandelte, so dass sich die Bewertung der Alpen praktisch umkehrte: »Sehr einfach präsentiert sich […] das, was man als ›alpine Standardgeschichte‹ bezeichnen kann. In dieser Geschichte gibt es zwei Zeitphasen: eine ältere, dunkle Phase, welche die Alpen als ›locus horribilis‹ betrachtet, das heißt, als abstoßenden, schrecklichen und gefährlichen Ort; im Laufe der Neuzeit – je nach Version im 16., im 18. oder in einem anderen Jahrhundert – stellt sich dann eine helle Phase ein, in der die Alpen in Europa als besonders schöne, erhabene zivilisationsverschonte Landschaft zu einem Gegenstand der öffentlichen Bewunderung werden.«441

Vehikel und Katalysator dieses Wahrnehmungs- und Interpretationswandels soll der Landschaftsbegriff gewesen sein. Nun stellt aber, wie neuere und differenziertere Untersuchungen zeigen, die Periodisierung der Geschichte der Alpenwahrnehmung doch ein größeres Problem dar, als das dichotome Modell von Ablehnung und Ver-

440 Jon Mathieu, Simona Boscani Leoni: Einführung und Zusammenfassung. In: Jon Mathieu, Simona Boscani Leoni: Die Alpen! Les Alpes! Zur europäischen Wahrnehmungsgeschichte seit der Renaissance. Pour une historie de la perception européenne depuis La Renaissance. Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt a.M., New York, Oxford, Wien 2005, S. 9-51, hier S. 9. 441 Mathieu: Einführung, S. 9.

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ehrung, »Mountain Gloom« und »Mountain Glory«,442 suggeriert.443 Man kann nicht sagen, die Verehrung der Alpen habe erst im 18. Jahrhundert begonnen, und zwar initiiert durch literarische Umdeutungen dieser Landschaft, namentlich durch das Erscheinen des auf 1729 datierten Gedichts »Die Alpen« von Albrecht von Haller, Salomon Gessners 1756 erstmals veröffentlichte »Idyllen« und Jean Jacques Rousseaus »Julie ou La Nouvelle Héloïse« von 1761. Eine solche Wende hat, gemessen an den literarischen Zeugnissen, nicht stattgefunden. Im Gegenteil sind bereits im 16. Jahrhundert zahlreiche Quellen nachweisbar, in denen den Alpen ein unvoreingenommenes oder bereits positiv aufgeladenes Interesse entgegengebracht wird. Als Referenz könnten, was in der Diskussion um das Entstehen des ästhetischen Landschaftsbegriffs überraschend selten getan wird, zum Beispiel folgende Werke von Autoren aus dem Gebiet der heutigen Schweiz dienen, aufgelistet nach dem Jahr der jeweiligen Erstveröffentlichung:444 •



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Joachim von Watt (Vadianus), Gelehrter, Reformator und Politiker in St. Gallen, Beschreibung einer Besteigung des Pilatus: »Pomponii Melae De orbis situ libri tres« (ab der 2. Ausgabe), 1522. Johannes Müller (Rhellicanus/Rhellikan), Dichter, Gelehrter und Professor in Bern, später Pfarrer in Biel, Lehrgedicht über die Besteigung des Stockhorns: »Stockhornias«, 1537. Ägidius Tschudi, Historiker in Glarus, Beschreibung ausgedehnter Reisen durch die Alpen: »Urallt warhafftig Alpisch Rhetia«, 1538. Konrad Gessner, Arzt, Gelehrter und Schriftsteller in Zürich, Brief über die Bewunderung der Berge: »De montium admiratione«, 1541. Johannes Stumpf, Chronist, Theologe und Prior des Ritterhauses Bubikon, später Reformator und Pfarrer von Stammheim, diverse Reiseberichte in: »Gemeiner loblicher Eydgenossenschafft Stetten, Landen und Völckeren Chronick wirdiger Thaaten Beschreybung«, 1547/1548. Konrad Gessner, Beschreibung einer Besteigung des Pilatus: »Descriptio Montis Fracti sive Montis Pilati«, 1555. Theodor Ambühl (Collinus), Sohn von Rudolf Collinus Ambühl, dem ersten Griechischprofessor in Zürich, Beschreibung eines Ausflugs auf den Uetliberg: »De itinere ad Montem Utliacum«, 1556.

442 Nicolson: Mountain Gloom and Mountain Glory. 443 Jon Mathieu: Alpenwahrnehmung: Probleme der historischen Periodisierung. In: Mathieu, Boscani Leoni: Die Alpen! 2005, S. 53-72. 444 Vgl. Mathieu: Periodisierung, S. 58.

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Benedikt Marti (Aretius), Botaniker und Professor für alte Sprachen sowie Theologie in Bern, Beschreibung des Stockhorns und des Niesens und der dort vorkommenden Pflanzen: »Stocc-Hornii et Nessi descriptio«, 1561. Josias Simler, Theologe und Gelehrter in Zürich: Sammelband »De Alpibus commentarius«, 1574.

In noch früheren Diskursen kommen die Alpen zwar bisweilen als schrecklicher Ort, »locus horribilis«, vor, daneben lassen sich aber auch andere, enzyklopädische Quellen aus dem 13. Jahrhundert finden, in denen nicht von in den Alpen ansässigen Dämonen und anderen Fabelwesen die Rede ist, sondern nüchtern von kalter, aber guter Luft.445 Im 17. Jahrhundert nimmt das Interesse für die Alpen, vorsichtig formuliert, nicht ab, positive und negative Beurteilungen des Gebirges halten sich die Waage, bevor dann im 18. Jahrhundert die Begeisterung überhand nimmt, ohne dass ablehnende Haltungen ganz verschwinden würden. Wilhelm Heinse schrieb in der Nacht auf den 1. September 1780 seinem Freund Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der Gotthard, den er ohnehin für das »Ende der Welt« hielt, sei »ein wahres Gebeinhaus der Natur. Statt der Todtenknochen liegen ungeheure Reiyhen von öden Steingebürgen, und in den tiefen Thälern auf einander gehäufte Felsentrümmer.«446 Heinse, der in dieser Nacht auf dem Gotthard noch eine Begegnung mit einem Berggeist gehabt haben will, schwankt zwischen Begeisterung und Entsetzen. Dezidierterer Meinung war Goethe, der, auf seinen ersten Schweizer Reisen noch begeistert von den Alpen, 1823 voller Zorn an die Berge dachte und fragte: »Zu welchem Gebrauch sind sie wohl dem Menschen? Unternimmt er dort zu wohnen, so wird im Winter eine Schneelawine, im Sommer ein Bergrutsch sein Haus begraben oder fortschieben. […]. Macht er sich auf den Weg, so ist jeder Aufstieg die Qual des Sisyphus, jeder Niederstieg der Sturz Vulcans. […] Er führt ein einsam kümmerlich Pflanzenleben, wie das Moos auf einem Grabstein, ohne Bequemlichkeit und ohne Gesellschaft. Und diese Zickzackkämme, diese widerwärtigen Felsenwände, diese ungestalten Granitpyramiden.«447

Ähnlich erging es Johann Joachim Winckelmann Jahrzehnte zuvor. Auch ihm hatten die Alpen, als er 1755 nach Italien reiste, gefallen. Auf der Rückreise 1767 aber, nachdem er viele Jahre in Italien verbracht und sich mit archäologischen und kunst-

445 Vgl. Murmele Buschig: La Montagne des encyclopédistes du XIIIe siècle: entre brouillard et air pur. In: Mathieu, Boscani Leoni: Die Alpen!, S. 99-114. 446 Wilhelm Körte (Hg.): Briefe deutscher Gelehrten. Aus Gleims literarischem Nachlasse. Zürich 1806, S. 4. 447 Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Dreizehnter Band. Stuttgart 1867, S. 272.

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geschichtlichen Studien befasst hatte, waren ihm die Berge ganz und gar nicht mehr geheuer: »Was für schreckliche schauervolle Gegenden, welche unermesslich emporsteigenden Gebirge!«448 Diese Beispiele zeigen, dass die individuelle psychische und physische Konstitution des jeweiligen Alpenreisenden keine geringe Rolle für die Art und Weise seiner Alpenwahrnehmung spielte. Die Zeichen der Zeit, ästhetische Moden und geistesgeschichtliche Tendenzen haben die Rezeption der Berge entscheidend beeinflusst. Subjektivität ist insofern ein kollektives Phänomen. Aber sie hat auch eine nicht zu unterschlagende individuelle Seite. Gerade bei Künstlern und Forschern, die sich an einem neuzeitlichen, auf Autonomie und Distinktion beruhenden Selbstbild orientieren, sind individual-biographische Aspekte nicht zu unterschätzen. Das Zeittypische ist ja nicht selten genau das, was dem auf Originalität bedachten Neugierigen zuwider ist. Das zeigt sich etwa beim erwähnten Aretius, dem seine Liebe zu den Bergen um ihrer selbst willen ebenso teuer ist, wie sie ihm als Abgrenzung von der herrschenden Meinung dient: »Deshalb: wer könnte eine solche Gegend nicht bewundern, lieben, gerne besuchen, durchwandern und besteigen? Wirklich, solche möchte ich törichte Pilze, geschmacklose Fische und träge Schildkröten nennen, die durch solche Dinge nicht ergriffen werden. Ich jedenfalls werde durch einen unerklärlichen Reiz und eine gewissermassen natürliche Liebe zu den Bergen ergriffen.«449 Auch Rhellikan, der, den eigenen Schilderungen gemäß, sehr gut zu Fuß war, verspürt während seines Aufstiegs auf das Stockhorn keine Angst, genießt mit seinen Begleitern auf dem Gipfel die Aussicht und, »sobald wir die Augen gesättigt hatten«,450 die Verpflegung, bestehend aus Brot, altem Käse, Gämse und Wein. Zum Nachtisch bringen ihnen Hirtenknaben, für die der Aufenthalt auf dem Stockhorngipfel offenbar auch nichts Außergewöhnliches war, sogar noch Milch und Kuchen. Nach diesem reichlichen Mahl fühlt sich die Reisegruppe dermaßen unbefangen, dass sie sich einen Spaß daraus macht, »einen vom Felsen abgespaltenen

448 Zitiert nach: Johann Joachim Winckelmann: Werke. Dresden 1839, S. XXVII. 449 Benedikt Marti/Aretius: Kurze Beschreibung des Stockhorns und Niesens, Schweizerberge im Gebiete der Berner, und der auf ihnen wachsenden Pflanzen, von Benedikt Marti aus Bern. In: Max A. Bratschi (Hg.): Niesen und Stockhorn. Bergbesteigungen im 16. Jahrhundert. Zwei Lateintexte von Berner Humanisten. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Max A. Bratschi. Thun 1992, S. 37-69, hier S. 41. 450 Johannes Müller/Rhellikan: Stockhornias. In: Bratschi: Niesen und Stockhorn, S. 13-21, hier S. 15.

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Block hinunterrollen zu lassen und dem Poltern zu lauschen, nicht anders als einem Donner, während er gegen hohe Wände dröhnte«.451 Oder, als weiteres Beispiel wohlwollender Alpenwahrnehmung, Konrad Gessner, der seinem Freund Jakob Vogel 1541 den erwähnten Brief folgenden Inhalts schreibt: »Ich behaupte […], dass ein Feind der Natur sei, wer die erhabenen Berge nicht einer eingehenden Betrachtung würdig erachtet.«452 Denn: »Ich habe mir vorgenommen, sehr geehrter Herr Vogel, fortan, so lange mir Gott das Leben gibt, jährlich mehrere oder wenigstens einen Berg zu besteigen […] teils um diese kennenzulernen, teils um den Körper auf eine ehrenwerte Weise zu üben und den Geist zu ergötzen. Denn welche Lust ist es, und, nicht wahr, welches Vergnügen für den ergriffenen Geist, die gewaltige Masse der Gebirge wie ein Schauspiel zu bewundern und das Haupt gleichsam in die Wolken zu erheben.«453

Die Verwendung des Wortes »Schauspiel« in der deutschen Übersetzung ist bemerkenswert. Gessner schreibt im Original »spectando admirari«, verwendet also ein Gerundium im präpositionslosen Ablativ.454 Das Gerundium substantiviert das Verb spectare, »anschauen, betrachten, ansehen«, zu dem das Wörterbuch von Georges folgende Sonderbedeutung erwähnt: »Ein Schauspiel od. einen Schauspieler sehen, ein Sch. mit ansehen, ihm zusehen, beiwohnen«.455 Eine direkte Übersetzung der fraglichen Stelle ergäbe etwa »betrachtend bewundern«, »Schauspiel« entspricht einer freien Übersetzung. Dass Gessner eine metaphorische Anspielung auf Theater im Sinn hatte, ist unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen. Das wäre nichts Außergewöhnliches, die rhetorische Figur ist in der abendländischen Sprachgeschichte seit langem verbreitet. Das Besondere bestünde im hier behandelten Kontext darin, dass Gessner mit der Verwendung der Theatermetapher eine ästhetische Kategorie anführen würde und sich dabei nicht auf die Malerei bezöge. Theater war im 16. Jahrhundert mindestens ein ebenso populäres Element des kulturellen Lebens wie die Malerei und hätte sich insofern wohl geeignet, den Eindruck, den die Berge auf einen machten, nachvollziehbar zu beschreiben. Hätte Gessner hier tatsächlich die

451 Johannes Müller/Rhellikan: Stockhornias. In: Bratschi: Niesen und Stockhorn, S. 13-21, hier S. 17. 452 Konrad Gessner: Brief über die Bewunderung der Berge. In: Richard Weiss (Hg.): Die Entdeckung der Alpen. Eine Sammlung schweizerischer und deutscher Alpenliteratur bis zum Jahr 1800. Frauenfeld, Leipzig 1934, S. 1-5, hier S. 2. 453 Gessner: Bewunderung der Berge, S. 1f. 454 Hinweis von Dr. Gerald Bechtle, 15. April 2010. 455 Karl Ernst Georges: Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Basel 1962, S. 2751.

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Theatermetapher gemeint, stünde allerdings die Frage im Raum, warum die Malerei und nicht das Theater als entscheidende Referenz für den ästhetischen Landschaftsbegriff angesehen werden sollte. Die Luzerner Behörden gaben Gessner einen Beauftragten mit auf seine Wanderungen, weil die Besteigung des Pilatus nicht gern gesehen war. 1387 hatte die Luzerner Obrigkeit den Mönch Niklaus Bruder mitsamt seinen fünf Begleitern noch einkerkern lassen, weil sie versucht hatten, auf den Gipfel des Pilatus zu gelangen.456 Gessner schrieb zu einer Zeit, die, der Standardgeschichtsschreibung der Alpenwahrnehmung folgend, sich nicht für Berge interessiert haben soll, schon gar nicht in einem ästhetischen Sinn, der aber bei Gessner nicht von der Hand zu weisen ist. Die Besteigung des Pilatus gab ihm Anlass, rhetorisch zu fragen: »Welcher unserer Sinne hat eigentlich in den Bergen nicht seine Lust?«457 Johannes Stumpf war sich diesbezüglich unschlüssig. Im 11. Buch seiner »Schweizer Chronik«, das vom Wallis handelt, macht er verschiedene Aussagen. Insgesamt hält er das Wallis für eine »gar herrliche landschafft«.458 Den Begriff »landschafft« verwendet er oft. Ob er damit eine politische, geographische oder sogar ästhetische Kategorie meint, ist nicht klar. Die verschiedenen Karten, die er den einzelnen, nach Regionen geordneten Büchern voranstellt, nennt er zum Beispiel »Die sibend Landtafel/begreyfft die landschafft im sibenden buoc beschriben«, in diesem Fall, »das Argow«.459 An der zitierten Stelle ist eine politische Konnotation des Begriffs »Landschaft« nicht auszuschließen, denn Stumpf fügt an, das Wallis sei nicht nur eine herrliche Landschaft, sondern auch ein »besonder Bischoffsthoumb«.460 Das direkte Nebeneinander dieser Begriffe könnte darauf hindeuten, dass sie für Stumpf in denselben Bedeutungshorizont gehören. Im weiteren konzentriert er sich allerdings eher auf geographische Kriterien und betont den abgeschlossenen Charakter der Region mit klaren topographischen Grenzen: »Diss land ist gerings herumb an allen orten umzogen und beschlossen mit wunderhohen und grausamen gebirge/die sich merteils auff ein guote Teütsche meyl hoch gegen den wulcken und lüfften aufrichtend.«461 Hier äußert er, entgegen seiner Eingangs-

456 Paul Meinherz: Alpinismus. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 2008. http://hls-dhsdss.ch/textes/d/D16338.php (11. April 2011). 457 Konrad Gessner: Beschreibung des Frakmont oder Pilatus, mit dem gewöhnlichen Namen, bei Luzern in der Schweiz 20. August 1555. In: Weiss (Hg.): Die Entdeckung der Alpen, S. 6-12, hier S. 7. 458 Johannes Stumpf: Gemeiner loblicher Eydgenossenschafft Stetten, Landen und Völckeren Chronick wirdiger Thaaten Beschreybung. Zürich 1547/1548, S. 339. 459 Stumpf: Chronik, S. 190. 460 Stumpf: Chronik, S. 339. 461 Stumpf: Chronik, S. 339.

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bemerkung, einen negativen Eindruck der Alpen. Wie Gessner erlebt auch er durchaus körperlich, allerdings empfindet nicht jeder von Stumpfs Sinnen Lust, im Gegenteil: »Die berg und ringkmauren des lands Wallis/sind an vilen orten also hoch unnd gaech von velsen/das einem grauset hinauf zesehen.«462 Stumpf gibt an zu wissen, wovon er schreibt, denn er habe »selbs das herrlich land Wallis von oberist biss zuo unterist auss durchwandlet«.463 Da, wo er unterwegs gewesen sein will, hat ihm das Wallis gefallen. Damit hat man es bei der vorliegenden Reisebeschreibung aus der Mitte des 16. Jahrhunderts mit einer differenzierten Einschätzung zu tun, die sich nicht in ein einfaches Schema von Bergbegeisterung oder Bergverachtung einordnen lässt. Stumpf fasst folgerichtig so zusammen: »Wjewol nun das land Wallis mit de allerhoechsten und grausamsten Schneegebirg […] weyss umbzogen/ist es doch im talgegend auss der massen fruchtbar und so lieblich/dergleychen ich nit acht ein so fruchtbar land in so wildem gebirg under der Sonne erfunden werden.«464 Sehr treffend hat Stendhal Jahrhunderte später diese differenzierte Dialektik zwischen individuellem Originalitätsanspruch und zeitgebundener Voreingenommenheit beschrieben. In seinem »Leben des Henry Brulard« liefert er eine bisher unbeachtet gebliebene Schlüsselstelle in der Geschichte der Alpenwahrnehmung. Stendhal beschreibt die Überquerung des Sankt Bernhard im Mai 1800: »Ich war, ohne dass ich mir Rechenschaft darüber gab, äußerst empfänglich für die Schönheiten der Landschaft. Da mein Vater und Séraphie als echte Heuchler, die sie waren, immer viel Aufhebens von der Schönheit der Natur gemacht hatten, meinte ich, die Natur habe für mich etwas Abscheu Erregendes. Hätte mir jemand die Schönheiten der Schweiz gepriesen, es wäre mir dabei übel geworden. Ich übersprang derlei Naturschwärmereien in Rousseaus ›Bekenntnissen‹ und in der ›Heloise‹, oder vielmehr, um bei der Wahrheit zu bleiben: ich las rasch darüber hinweg. Aber diese schönen Schilderungen ergriffen mich, ob ich wollte oder nicht. Während des Aufstiegs zum Sankt Bernhard muss meine Freude über alle Maßen groß gewesen sein.«465

Stendhal fängt mit dieser humoristisch gefärbten Formulierung das Dilemma ein, das sich aus der Konfrontation mit hegemonialen Diskursen, wie zu seiner Zeit die Alpenverehrung einer war, ergibt. Das literarische Ich ist vermutlich Stendhal selbst, denn das »Leben des Henry Brulard« ist ein autobiographischer Roman.

462 Stumpf: Chronik, S. 339. 463 Stumpf: Chronik, S. 339. 464 Stumpf: Chronik, S. 340. 465 Stendhal: Das Leben des Henry Brulard und autobiographische Schriften. München 1956, S. 522f.

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Dieses Ich nun ist, darin besteht sein Dilemma, gar nicht in der Lage, sich keine Meinung zu den Bergen zu bilden, auch wenn es zu seiner intellektuellen Freiheit gehören würde, auf eine Meinung zu verzichten. Seine ästhetische Bildung drängt es dazu, sich zu äußern, und weil es trotzdem einen ideellen Freiheitsanspruch hat und die allgemeine Meinung als Heuchelei erkennt, sieht es sich gezwungen, eine konträre Haltung zu diesem herrschenden Diskurs einzunehmen. Das bringt ihm aber natürlich keine Freiheit, sondern Verdruss, weil sich die eigenen Empfindungen angesichts der Alpenlandschaft nicht mit dem decken, was das literarische Ich tatsächlich äußern zu müssen glaubt, um seine Autonomie unter Beweis zu stellen. Das führt dazu, dass es sich entweder als Unterworfener oder selbst als Heuchler empfinden muss. Stendhal beschreibt im Weiteren die Gefahren der Reise auf den großen Sankt Bernhard, die so groß gewesen seien, dass die Möglichkeit bestanden habe, sich »vielleicht auf dem ersten Schritt das Genick zu brechen«.466 Unterwegs verliert das junge literarische Ich – »ich war siebzehn Jahr und drei Monate alt« – dermaßen die Fassung, dass es sich auf der Passhöhe nicht mehr wiedererkennt: »So kam ich also als kompletter Weichling am Sankt Bernhard an.«467 Das kann, nach dem Gesagten, durchaus metaphorisch verstanden werden. Die gleichzeitige Begegnung mit der alpinen Landschaft, dem mit ihr verbundenen ästhetischen Diskurs und den eigenen Gefühlen und Eindrücken, die durch diese Landschaft hervorgerufen werden, klopft den Reisenden so weich, dass er den autopoietischen Ansprüchen an sich selbst nicht mehr gerecht werden kann. Die Konstitution von selbstbestimmter Subjektivität im Hochgebirge ist, unter den Bedingungen eines ubiquitären ästhetischen Diskurses – hat der Reisende seinen Rousseau nicht dabei, so hat er ihn sicher im Kopf – nicht möglich. Die Passage macht deutlich, wie hegemoniale Diskurse, in diesem Fall die Dominanz des ästhetischen Landschaftsbegriffs, situativ in die Selbstkonstitution von Subjekten eingreifen, und zwar dergestalt, dass sie, selbst wenn sie sich dieses Eingriffs bewusst sind, sich nicht dagegen wehren können. Das ist, wie das Beispiel zeigt, gerade auf dem Feld des Ästhetischen besonders perfid, weil es sich da mit Regungen und Gefühlen verbindet, die sich, was wiederum eine Frage des herrschenden Diskurses ist, dem verbalen Zugang entziehen und daher für die Bildung einer historisch bestimmten Subjektivität besonderen Wert zu haben scheinen. Der selbstironische Ton, mit dem Stendhal seinen Text unterlegt, wirkt unter diesen Umständen wie ein verzweifeltes Antidot gegen das Dilemma, das in dieser gedanklichen und emotionalen Verrenkung zum Vorschein kommt.

466 Stendhal: Leben Brulard, S. 523. 467 Stendhal: Leben Brulard, S. 523.

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Diese Beispiele zeigen: Die Sache ist komplizierter, als die Standardgeschichte der Alpenwahrnehmung, wie sie in vielen wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Zusammenhängen geschrieben wird, suggeriert. Das Verhältnis von Kunst und Welt lässt sich in diesem Fall nicht auf eine simple Kausalbeziehung reduzieren. Die Alpen wurden nicht einfach deshalb schön, weil von Haller ein Gedicht geschrieben hatte. Ganz abgesehen davon, dass er damit wohl zuletzt kunsttheoretische Zwecke verfolgte. Der konservativ zivilisationskritische, patriotisch gefärbte Gestus des Werks zielt auf eine moralische, nicht auf eine ästhetische Bewertung und Instrumentalisierung der Alpen und ihrer Bewohner. Von Haller steht insofern gerade nicht in einer Reihe mit jenen gesellschaftlichen Kräften, die die »Entdeckung der Alpen« als Gegenstand einer neuen Ästhetik tatsächlich vorwärts trieben, selbst wenn sein Werk eine entsprechende Wirkung entfaltete. Nichtsdestotrotz steckte hinter dieser ästhetischen Eroberung der Alpen, im Sinne der Berücksichtigung der politischen Seite des ästhetischen Landschaftsbegriffs, ein ideologischer Wille. Der Wille nämlich, die Alpen zum Zentralmotiv eines neuen Landschaftsideals zu machen, was nicht genau das Gleiche ist, wie die Alpen erst wüst und dann schön zu finden, wie die folgenden Überlegungen zeigen. Parallel zu den besprochenen Tendenzen in der Literatur entwickelte sich im 18. und im 19. Jahrhundert ein ausgeprägter Alpentourismus, der die Beschäftigung mit dem Landstrich selbstredend potenzierte, was sich wiederum in der Landschaftsmalerei niederschlug. Ein kräftiger Markt für Vedutenmalerei mit alpinen Motiven entstand, die so genannten Schweizer Kleinmeister fanden breiten Absatz.468 Das führte zu einer regelrechten Überproduktion, unter der die Qualität der Arbeiten litt. Zuvor hatte Ludwig Aberli die Technik der kolorierten Umrissradierung, die so genannte »Aberlische Manier«, entwickelt, was der Massenproduktion zugute kam. Franz Niklaus König, selbst einer der erfolgreichsten unter den Kleinmeistern, regte sich 1814 aber über die so entstandenen Darstellungen des Berner Oberlandes fürchterlich auf: »Hievon werden die Überschwemmungen täglich grösser. Aberli erfand die Manier der kolorierten Blätter. Diese Erwerbsquelle benutzten mehrere gute Künstler, die den besten Gebrauch davon machten […]. Aus dieser Quelle entsteht diese Sündfluth gewiss nicht. […] Hingegen entstehen täglich mehr so genannte Prospekt-Fabriken, wo dieses Zeug, von den ersten besten, zu Hunderten hingesudelt wird.«469

Den Absatzmarkt für diese Machwerke bildeten die vielen Reisenden, in großer Zahl ausländische und besonders englische, die Tourismus und Kunstsinn verbin-

468 Vgl. Walter Hugelshofer (Hg.): Schweizer Kleinmeister. Zürich 1945. 469 Zitiert nach: Ulrich Christian Haldi: Reise in die Alpen. Wabern 1969, S. 66.

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den wollten. Sie waren in der Tradition der »Grand Tour« unterwegs, der großen Schleife über den Kontinent als der standardisierten Bildungsreise für Angehörige höherer Schichten: »The Grand Tour was, from start to finish, an ideological exercise. Its leading purpose was to round out the education of young men of the ruling classes.«470 Die Grand Tour führte zuerst Sprösslinge des Adels, später verbreitet auch des Bildungsbürgertums, an repräsentative Orte europäischer Hochkultur, die vornehmlich in Italien gefunden wurden. Für junge Adelige war unterwegs der Besuch der Höfe in Wien, Dresden und Berlin ebenso Teil der Reise wie der Aufenthalt in der feinen Pariser Gesellschaft, was ihnen, als erzieherische Maßnahme, Manieren, Ton und gute Beziehungen einbringen sollte. Im Zuge der ästhetischen und touristischen Erschließung wurden auch die Alpen und ihre Pässe, aus verkehrstechnischen Gründen schon immer Teil der Reise, zu einem geschätzten Programmpunkt der Grand Tour, nachdem man den Abschnitt zuvor noch ohne Begeisterung hinter sich gebracht hatte: »Traversing the Alps had been a necessary tribulation for the privileged young man en route to Italy: he would hire a team of voiturins to transport his carriage and luggage and have himself carried across in a chair called ›Alps machine‹ – perhaps even shutting his eyes until the process was completed.«471 Rasch aber machte sich der Einfluss einer Naturästhetik bemerkbar, die zwar nicht komplett neu war, aber sich neuerdings zur dominanten entwickelte. Die Wildheit der Berge wurde höher geschätzt als das klassische Denkmal in lieblicher Landschaft. Gerade bei englischen Reisenden dürfte, neben den genannten Quellen, die Lektüre der vermeintlich authentischen Schriften Ossians einiges zur aufkommenden Bergbegeisterung beigetragen haben. Bereits in den 1760er Jahren wurden von Genf aus Trips organisiert, allein um Gletscher und Wasserfälle zu betrachten. 1789 erschien mit »Travels in Switzerland«472 von William Coxe der erste Schweizer Reiseführer in Briefform, 1793 legte Johann Gottfried Ebel mit seiner »Anleitung auf die nützlichste und genussvollste Art in der Schweiz zu reisen«473 den ers-

470 James Buzard: The Grand Tour and after (1660-1840). In: Peter Hulme, Tim Youngs (Hg.): The Cambridge companion to travel writing. Cambridge 2002, S. 37-52, hier S. 38. 471 Buzard: The Grand Tour, S. 43. 472 William Coxe: Travels in Switzerland: In a series of letters to William Melmoth from William Coxe. London 1789. 473 Johann Gottfried Ebel: Anleitung auf die nützlichste und genussvollste Art in der Schweiz zu reisen. Zürich 1793.

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ten, auf Fakten gestützten Reiseratgeber vor. Das Buch diente wenig später Friedrich Schiller als Quelle für sein Stück »Wilhelm Tell«.474 Mit dem Aufkommen des Tourismus einher ging der Aufbau einer beeindruckenden Infrastruktur, die Transport und Aufenthalt in den Alpen überhaupt erst möglich machte. Diese Infrastruktur hatte im Übrigen die Fixierung bestimmter räumlicher Arrangements zur Folge, indem sie manche Orte präferierte, andere ausschloss und sogar bestimmte Perspektiven auf diese Orte festlegte. Lucius Burckhardt schildert den Vorgang eindrücklich: »Wie Jahresringe schreitet die Entwicklung voran und ist in den hinterlassenen Prospekten und Kupferstichen nachzuvollziehen: Es beginnt mit den tiefliegenden Gebirgsseen, Vierwaldstättersee, Thunersee, Brienzersee, steigt dann einige Jahre später auf die ersten Anhöhen, es folgt die Serie der Wasserfälle, Staubbach, Gießbach; dann erscheinen die Schluchten und nach ihnen die höhergelegenen Täler der Voralpen; eine nächste Stufe wird erklommen mit den großen Hochtälern der Alpen: widerwillig und auf ärztlichen Rat hin zunächst Davos, kurz darauf aber schon freiwillig das Oberengadin. Es bleibt nun die Zone oberhalb der Baumgrenze, die eigentliche Alp und darüber der Fels und das Eis; war dies einmal erklommen und dem europäischen Schönheitsideal einverleibt, so stand auch der Vermarktung des Winters nichts mehr im Wege.«475

Den ideologischen Willen in dieser Entwicklung hat der deutsche Germanist Ludwig Fischer offengelegt.476 Er sucht in der »mentalen Konzeptionierung von Landschaft«477 nach der »Funktion, die die visuell-ästhetische Definition von Landschaft für die sozio-kulturelle Distinktion von Anfang an hatte«.478 In seinen Augen ist es einer kulturellen Elite im 18. Jahrhundert nämlich gelungen, durch eine bestimmte kollektive Erfahrung, durch das Alpenerlebnis, eine neue ästhetische Norm zu setzen, Definitionsmacht zu gewinnen und so einen symbolischen Kampf auszufechten, der reale soziale, ökonomische und politische Partizipation zum Ziel hatte.

474 Vgl. Joachim Meyer: Schillers Wilhelm Tell: Auf seine Quellen zurückgeführt und sachlich und sprachlich erläutert. Nürnberg 1840. 475 Lucius Burckhardt: Landschaftsentwicklung und Gesellschaftsstruktur. In: Friedrich Achleitner: Die Ware Landschaft. Eine kritische Analyse des Landschaftsbegriffs. Salzburg 1978, S. 9-15, hier S. 12. 476 Ludwig Fischer: Das Erhabene und die »feinen Unterschiede«. Zur Dialektik in den sozio-kulturellen Funktionen von ästhetischen Deutungen der Landschaft. In: Rolf Wilhelm Brednich, Annette Schneider, Ute Werner (Hg.): Natur – Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. Münster, New York, Berlin 2001, S. 347-356. 477 Fischer: Das Erhabene, S. 348. 478 Fischer: Das Erhabene, S. 348.

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Gemeint sind die Kämpfe »jene[r] politisch und ökonomisch ohnmächtigen Fraktionen der (im weitesten Sinne) bürgerlichen Schicht, die sich allein über ihre kulturelle Kompetenz auszeichnen können und sich stets neu das ›Besondere‹ ihrer (vor allem ästhetischen) Urteilsvermögen definieren«.479 Das Problem dieser symbolischen Kämpfe liegt allerdings darin, dass sie sich, werden sie gewonnen, auf lange Sicht als kontraproduktiv erweisen. Die erstrebte Inthronisierung der eigenen elitären Normen führt, da sie von allen anerkannt werden müssen, um als neue Leitlinien gelten zu können, zu einer Verallgemeinerung, so dass ihre identifikatorische Kraft verloren geht, weil sie nicht mehr zur Distinktion taugen. Das lässt sich auch an der Geschichte des Alpentourismus verfolgen, der rasch zu einem Massenphänomen wurde, in dem genau jener Opportunismus lag, den Henry Brulard alias Stendhal an seinen Verwandten, dem Vater und Tante Séraphie, als »Heuchelei« verachtet hat. Der ideengeschichtliche Topos, der den besagten »Fraktionen der bürgerlichen Schicht« zum erhofften Distinktionserfolg verhalf, war die Ästhetik des Erhabenen. Sie ermöglichte es, aus der Begegnung mit etwas Bedrohlichem und Abschreckendem einen ästhetischen Genuss zu ziehen, der den Rezipienten schließlich aus der Sphäre der Gefahr enthob und ihn auf eine andere, distanziertere Ebene stellte. Als philosophische Referenzen dienten vor allem Edmund Burkes 1757 erstmals erschienene »Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen«, im Original »A philosophical enquiry into the origin of our ideas of the sublime and beautiful«, und Immanuel Kants »Kritik der Urteilskraft« von 1790.480 Burke zufolge »erwächst das Erhabene aus der Erfahrung einer Furcht, die aber fiktional gemildert wird und damit ästhetisches Vergnügen auslöst, so dass für den Betrachter eine reale Gefährdung nicht stattfindet«.481 Diese fiktionale Milderung ist entweder die Aufgabe der Kunst oder der touristischen Infrastruktur respektive des touristischen Verhaltens, das auf Abenteuer nur als ästhetischen Genuss und nicht als Realgefährdung aus ist. So »hat die ErhabenheitsÄsthetik ihre bis heute prägende Struktur in einem Zweischritt, einem inneren Spannungszustand: einem elementaren Schrecken angesichts der Unendlichkeit oder Übermacht der Natur und der darauf folgenden ›Lust‹ der erneuerten Selbstgewissheit und Subjektmächtigkeit«.482 Der Bezug auf diese Erhabenheitsästhetik in Literatur, Reiseliteratur und Malerei als kollektiven ideologischen Kanon hatte insofern sozial-strategische Funktion, als sie zum Maßstab ästhetischer Urteilskompetenz und so zur eigentlichen Legiti-

479 Fischer: Das Erhabene, S. 353. Vgl. Kapitel 4.6. 480 Vgl. Groh, Groh: Außenwelt. 481 N. Schneider: Landschaftsmalerei, S. 181. 482 Fischer: Das Erhabene, S. 350.

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mation eines Zugehörigkeits- und Machtanspruchs wurde. Wie gezeigt, etablierte sich dieser Diskurs nicht nur auf einer intellektuellen, verbal vermittelbaren Ebene, wenngleich er sich dort ebenfalls stark ausprägte, sondern implementierte sich auch und gerade dort, wo die Alpenrezipienten ihre Gefühle vermuteten, denen sie diskursimmanent – weil die Erhabenheitsästhetik auf dem sinnlichen Eindruck, der körperlichen Erfahrung überwundener Gefahr beruhte – besondere Aussagekraft zuzubilligen bereit waren. Fischer bezieht sich bei seinen Überlegungen natürlich auf Pierre Bourdieus Theorie der »feinen Unterschiede«,483 die den Zusammenhang zwischen subjektivem Schönheitsempfinden und klassen- respektive milieuspezifischen Distinktionsmechanismen detailliert untersucht. Auch hier spielt Bourdieus Neubestimmung des Kapitalbegriffs eine entscheidende Rolle, da es sich bei der Durchsetzung eines bestimmten ästhetischen Diskurses und damit eines Geschmacksurteils um den strategischen Einsatz von kulturellem Kapital handelt, wie es Bourdieu bestimmt hat.484 Die Erhabenheitsästhetik wird in diesem Zusammenhang und ab dem Ende des 17. Jahrhunderts »mit den entscheidenden Schritten lanciert von Vertretern der englischen ›Kulturträger‹ im ›müßiggehenden‹ Kleinadel und Großbürgertum, und zwar am Alpen-Erlebnis von der bereits kanonisierten Praxis der Grand tour nach Italien aus«.485 Die soziale Position dieser kulturellen Avantgarde, die sich historisch nicht nur in ihrer Auseinandersetzung mit Ästhetiktheorie als innovativ erweisen sollte, war geprägt von einer politischen Entmächtigung, was Teile des niederen Adels, der so genannten »Gentry«, mit ihrem Ideal des gebildeten Gentlemans betrifft. Auch das Bürgertum, dem es die gesellschaftlichen Strukturen noch verwehrten, in die entscheidenden Posten zu gelangen, war politisch ohnmächtig. Im Gegenzug hatten die meisten der fraglichen Reisenden Zugang zu ererbtem oder noch zu erbendem ökonomischen Kapital und Bildung. Nicht zuletzt die Grand Tour hatte die Funktion, der drohenden sozialen Nutzlosigkeit dieser Elite ohne Macht erstens durch Bildung und zweitens durch deren Beglaubigung entgegenzuwirken. Sie diente der Anhäufung von kulturellem Kapital und sollte die gesellschaftliche Suspendierung von praktischen Aufgaben nicht nur ausgleichen, sondern aufheben. Die Grand Tour war eine Erfindung der traditionell herrschenden Schichten mit nicht minder ideologischer Absicht. Aufstrebende Fraktionen ahmten dieses Reiseverhalten als soziale Praxis aber nach und werteten es um, indem sie den bekannten, hochkulturell legitimierten Sehenswürdigkeiten neue hinzufügten. Die Lancierung einer neuen Ästhetik und die Inbeschlagnahme eines neuen Gegenstandes dieser Ästhetik, nämlich der Alpen, ist der gelungene Versuch, ein altes,

483 Bourdieu: Die feinen Unterschiede. 484 Vgl. Kapitel 3.3. 485 Fischer: Das Erhabene, S. 354.

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auch außerhalb des Theoretischen mit erheblichen Nachteilen verbundenes Wahrnehmungsschema der Welt mittels Distinktion durch ein neues zu ersetzen. Ziel dieser Aktion war natürlich nicht nur die Umdeutung eines ästhetischen Wertesystems, sondern die Umgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse insgesamt. Der ästhetische Landschaftsbegriff und seine Bestimmung wurden zum Instrument dieses ideologischen Willens. So ist, wie Fischer klar macht, »die Geschichte von Landschaften […] auch in hohem Maße eine Geschichte von symbolischen Kämpfen. […] Die Geschichte der ästhetischen und kulturellen Werturteile über die Alpen kann den Sachverhalt in einer besonders zugeschärften Weise illustrieren, dass die Beanspruchung der ästhetischen und symbolischen Werturteile immer auch die Beanspruchung einer hegemonialen gesellschaftlichen Position ist«.486 Das bedeutet, dass man es hier mit einer Verräumlichung eines sozialen Konflikts zu tun hat, der, als symbolischer Kampf auf dem Feld der Ästhetik ausgetragen, Raum mittels dominanter Wahrnehmungs- und Beschreibungsmodi zur Landschaft werden lässt. 4.6.2 Beispiel 2: Die pittoreske Landschaft – Claude-Spiegel und Claude-Gläser Hatte es zur Etablierung der Ästhetik des Erhabenen noch der Monumentalität der Alpen bedurft, setzte sich ein anderes, ebenfalls in England und ebenfalls anhand der Landschaft entwickeltes ästhetisches Paradigma mit Hilfe eines kleinen optischen Geräts durch: das so genannte Claude-Glas. Claude-Gläser sind optische Instrumente, die dazu dienen, die durch sie betrachteten Gegenstände zu verfremden. Ab dem 18. Jahrhundert wurden diese Geräte zur Steigerung des Vergnügens beim Betrachten von Landschaften eingesetzt, weil sie die Eigenschaft hatten, real existierende Landschaften fiktiven Vorbildern aus der Malerei anzugleichen. Die deutschsprachige Literatur unterscheidet selten zwischen Claude-Glas und Claude-Spiegel, tatsächlich handelt es sich aber um zwei verschiedene Objekte. Das Claude-Glas bestand aus mehreren getönten Gläsern, die in einen Rahmen eingelassen und an einem Punkt, einer Art Spindel, miteinander verbunden waren. Um dieses Zentrum ließen sie sich drehen, so dass die einzelnen Gläser frei miteinander kombinierbar waren, was entsprechende Färbungen des betrachteten Objekts zur Folge hatte. In anderer Ausführung glichen die Gläser Brillen oder Feldstechern. Der Optiker Benjamin Pike Jr. aus New York warb 1848 im zweiten Band seines illustrierten Katalogs mit folgenden Worten für ein Claude-Glas: »This consists of a variety of different colored glasses, about one inch in diameter, mounted in horn frame and turning on one centre, for producing a great variety of colors and show-

486 Fischer: Das Erhabene, S. 356.

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ing their combination; it also will be found both pleasing and useful for viewing eclipses, clouds, landscapes, &c. Price $1.50 to $3.00.«487 Der Claude-Spiegel bestand meist aus konvexem, mit schwarzer Folie hinterlegtem Klarglas, manchmal aus konvexem Schwarzglas oder Obsidian. In einer faustgroßen, aufklappbaren Schachtel verborgen, diente er dazu, die hinter dem Betrachter liegende Landschaft zu spiegeln. Der Spiegel betont die Fluchtlinien, dämpft die Farben, rahmt das ganze Bild und zeichnet es weich. Der Händler James W. Queen aus Philadelphia setzte 1887 einen Claude-Spiegel in seinen Katalog: »Claude Lorraine or Landscape Mirror. A pleasing and beautiful instrument for viewing clouds, landscapes, &c.; particularly adapted for use in country and the sea-shore. As the Mirror condenses or diminishes the view into a true perspective effect, the instrument is invaluable to the artist, and a very desirable companion for the tourist. The Mirror produces, instantaneously, the most charming reflection of scenery, buildings etc.«488

Queen machte für die Spiegel in den Größen zwischen 6,25 x 5,25 und 9,5 x 7,5 Inches Preise zwischen 5,5 und 11 Dollar. In entsprechender Verarbeitung hatten Claude-Spiegel den Charakter eines modischen Accessoires. (Abb. 15) Beide Geräte haben ihren Namen in Anlehnung an den Landschaftsmaler Claude Lorrain erhalten. Sie sollten nämlich dazu dienen, die real vorhandenen Landschaften in solche zu verwandeln, die in ihrer perspektivischen Gliederung, Stimmung und Tonalität denen Lorrains glichen. Ursprünglich wurden die Spiegel mit dem Dichter Thomas Gray in Verbindung gebracht. Er war einer der Ersten, die nicht auf dem Kontinent, der sich aus politischen Gründen nicht immer leicht bereisen ließ, sondern auf den britischen Inseln nach landschaftlicher Schönheit suchten. Er fand sie 1769 im Lake District und schilderte seine Eindrücke in verschiedenen Briefen an seinen Freund Thomas Wharton, der ihn hätte begleiten sollen, dann aber erkrankt war. Erst später wurden die Mitteilungen zu einem literarischen Ganzen zusammengefasst.489 In diesem Reisebericht erwähnt Gray, wie auf einer Wanderung in der Nähe des Ortes Appleby-in-Westmorland, am Fluss Eden gelegen, der besagte Spiegel zum Einsatz kam: »On the ascent of the hill above Applebey the thick hanging wood and the long reaches of the Eden (rapid, clear, and full as ever) winding below with views of the castle and town gave much employment to

487 Benjamin Pike Jr.: Pike’s Illustrated Descriptive Catalogue of Optical, Mathematical and Philosophical Instruments. Vol. II. New York 1848, S. 193. 488 James W. Queen & Company: The Queen catalogues. San Francisco 1887/1993, S. 175. 489 Vgl. z.B. Thomas Gray: Thomas Gray’s Journal of His Visit to the Lake District in October 1769: With a Life, Commentary and Historical Background. Liverpool 2001.

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the mirror.«490 Der Herausgeber William Mason sah sich veranlasst, zu dieser Notiz eine Fußnote anzufügen, da er offenbar nicht davon ausgehen konnte, dass allen Lesern und Leserinnen der »mirror« ein Begriff war: »Mr. Gray carried usually with him on these tours a plano-convex mirror, of about four inches diameter, on a black foib [sic!], and bound up like a pocket-book.«491 Grays Notizen trugen viel zur Verbreitung des Claude-Spiegels und der Claude-Gläser bei. Die Instrumente wurden bald zu einer eigentlichen Mode unter Reisenden auf den britischen Inseln und dem Kontinent. Fast zur selben Zeit war der Geistliche William Gilpin in ähnlicher Absicht wie Gray in England, Schottland und Wales unterwegs. Er zeichnete viel und entwickelte anhand seiner Eindrücke eine einflussreiche ästhetische Theorie, jene des Pittoresken. Sie kann die Beliebtheit der Claude-Spiegel und Claude-Gläser teilweise erklären. Gilpin definierte das Pittoreske in seinem »Essay on Prints« geradeheraus als »that peculiar kind of beauty, which is agreeable in a picture«.492 Das beschreibt keine Qualität des Pittoresken selbst, sondern eine Relation, eine Ähnlichkeit. An anderer Stelle sagt Gilpin, welche Eigenschaften für ihn das Pittoreske ausmachen, nämlich das Raue und das Zerklüftete: »We do not scruple to assert, that roughness forms the most essential point of difference between the beautiful, and the picturesque. […] But properly speaking roughness relates only to the surfaces of bodies when we speak of their delineation, we use the word ruggedness. Both ideas however equally enter into the picturesque.«493

Gilpin bezieht sich hier auf Eigenschaften der Kunst, nicht der Natur, wenngleich er zugibt, »Roughness« und »Ruggedness« seien dort auch zu finden, zum Beispiel »in the outline, and bark of a tree, as in the rude summit, and craggy sides of a mountain«.494 Paradebeispiel der pittoresken Landschaft wurde das Wye-Tal, das

490 Thomas Gray: The Works of Gray. Containing his Poems, and Correspondence with Several Eminent Literary Characters. To which are added, Memoirs of his Life and Writings by W. Mason. Vol. I. London 1807, S. 256f. 491 Gray: Works of, S. 257. 492 William Gilpin: An Essay on Prints. London 1802, S. XII. 493 William Gilpin: Essay I. On Picturesque Beauty. In: William Gilpin: Three Essays. On Picturesque Beauty, On Picturesque Travel And on Sketching Landscape. To Which Is Added A Poem On Landscape Painting. London 1794, S. 6f. 494 Gilpin: Picturesque Beauty, S. 7.

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Gilpin ebenfalls besucht und worüber er geschrieben hatte.495 Zentrum und Symbol dieser »neu entdeckten« Landschaft wiederum war die Ruine von Tintern Abbey im Wye-Tal, die 1782 von Thomas Gainsborough und zehn Jahre später von William Turner gezeichnet bzw. gemalt und so zu einer Ikone des Pittoresken wurde. Als 1798 William Wordsworth sein Gedicht »Tintern Abbey, Lines Composed A Few Miles Above Tintern Abbey, On Revisiting The Banks Of The Wye During A Tour. July 13, 1798«496 publizierte, war die Anlage längst massentouristisches Ziel und ist es bis heute geblieben. Vom erwähnten Gainsborough gibt es eine Zeichnung, die einen dieser Reisenden beim Betrachten einer Landschaft durch den Claude-Spiegel zeigt. Weil der junge Mann skizziert oder notiert, was er sieht, besteht Grund zur Annahme, es handle sich um Gainsborough selbst, wobei die künstlerische Verarbeitung des Pittoresken auf allen Ebenen der Könnerschaft im Verständnis der Zeit zur allgemeinen Praxis des Landschaftsgenusses gehörte und insofern nichts Besonderes darstellte. (Abb. 16) Natürlich hat Gilpin den Begriff des Pittoresken, des Malerischen in deutscher Übersetzung, nicht erfunden. Er wurde aus dem Französischen ins Englische übernommen, mutmaßlich von Alexander Pope in einem Brief an Caryll am 21. Dezember 1712, in dem er weder ein Bild, noch die Natur, sondern ein Gedicht bespricht, eines, das etwas habe, was »the French call very picturesque«.497 Das Wort war als vergleichendes Adjektiv mit durchaus positiver Konnotation schon lange in Gebrauch. Das Grimmsche Wörterbuch formuliert es so: »Malerisch« sind Dinge, »welche in ihrer art oder gruppierung einen guten vorwurf für einen maler bilden«,498 also Eigenschaften haben, die sie zwar dafür prädestinieren, künstlerisch abgebildet zu werden, ihnen aber immerhin selbst zukommen. Gilpin hingegen wendet die Beziehung zwischen Natur und Bild ins Gegenteil. Er findet erstens die Charakteristika des Pittoresken in der Kunst und wendet sie dann auf die Natur an, und zweitens ist für ihn das Pittoreske ein Ideal. Es gilt ihm primär als Ideal der Kunst, sekundär als eines der Natur, das er dann aber auf seinen Reisen tatsächlich überall wiederfindet. So drehte sich mit der Definition des Pittoresken als ästhetisches Ideal das traditionelle mimetische Verhältnis von Kunst und

495 William Gilpin: Observations on the River Wye and several Parts of South Wales, &c. Relative chiefly to Picturesque Beauty: Made in the Summer of the Year 1770. London 1800. 496 William Wordsworth: Tintern Abbey. In: William Wordsworth: The pedlar. Tintern Abbey. The two-part prelude. Cambridge 1985, S. 33-40. 497 Alexander Pope: Selected Letters. Edited by Howard Erskine-Hill. Oxford, New York 2000, S. 62. 498 Grimm, Grimm: Deutsches Wörterbuch, Sp. 1508f. http://germazope.uni-trier.de/Projek te/WBB2009/DWB/wbgui_py?lemid=GA00001 (11. April 2011).

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Wirklichkeit um. In den Augen eines Kenners des Pittoresken war eine Landschaft dann schön, wenn sie aussah wie Kunst. Landschaften bildeten insofern das ab, was in der Kunst präformiert war oder jedenfalls als potenzielle Kunst gesehen werden konnte. Wie weit diese Umkehrung des Verhältnisses zwischen Kunst und Realität ging, zeigt eine weitere Stelle bei Gray. Dort spricht er von seinem »glass«, wobei es nicht klar ist, ob er mit »mirror« und »glass« zwei verschiedene Geräte meint oder die Begriffe synonym verwendet: »From hence I got to the Parsonage a little before sunset, and saw in my glass a picture, that if I could transmit to you, and fix it in all the softness of its living colours, would fairly sell for a thousand pounds.«499 Gray bezeichnet die Farben des Sonnenuntergangs als »lebendig«, wo er sie doch durch ein getöntes Glas oder einen geschwärzten Spiegel betrachtet. Doch er spricht gar nicht vom Sonnenuntergang selbst, sondern vom Bild, das sich ihm im Rahmen seines optischen Instruments zeigt. Dieses Bild hat in Grays Augen die Qualität, »lebendig« zu sein, nicht der Sonnenuntergang, dem man, selbst wenn es sich um ein anorganisches Phänomen handelt, als Teil der Natur diese Eigenschaft traditionellerweise zuschreiben würde. Die Anspielung auf einen vorgestellten Preis, der dieses Gemälde, wenn es denn eines wäre, erzielen würde, ist von Gray vermutlich ironisch gemeint. Es ist nicht anzunehmen, dass der Marktwert eines Bildes für ihn den Wert des geschilderten Erlebnisses adäquat erfasste. Trotzdem macht die Analogie klar, in welchem Bezugsrahmen er dachte. Das ästhetische Ideal hatte sich an die Stelle der Wirklichkeit gesetzt. Genau zu diesem Zweck dienten der Claude-Spiegel und das Claude-Glas. Claude Lorrains Bilder, mehr als hundert Jahre früher entstanden, galten den kunsttheoretischen Avantgardisten in England als bestimmende Referenz. In ihnen sahen sie die Landschaftsmalerei gemäß ihrem pittoresken Ideal vollendet: »Of all Landskip-Painters, Claude Lorrain has the most Beautiful, and Pleasing Ideas«,500 schrieb der englische Maler Jonathan Richardson bereits 1722. Die melancholischen Stimmungen bei Lorrain, das sanfte Licht, die insgesamt »luminos aufgefassten«501 Farben, die, wo vorhanden, kulissenhaft arrangierte Architektur oder Reste davon, gefielen. Dazu kam die Patina, die sich auf den bejahrten Bildern Lorrains gebildet hatte und ihnen einen braunen Ton gab, den der Maler ursprünglich nicht beabsichtigt hatte, der jetzt aber geschätzt wurde. Manche dieser Effekte vermochten die Gläser und Spiegel, die deshalb seinen Namen erhielten, zu imitieren: »The only picturesque glasses are those, which the artists call Claude Loraine glasses. They are combined of two or three different colours; and if the hues are well

499 Gray: Works of, S. 267f. 500 Jonathan Richardson: An Account of Some of the Statues, Bas-Reliefs, Drawings, and Pictures in Italy. London 1722, S. 186f. 501 N. Schneider: Landschaftsmalerei, S. 134.

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sorted, they give the objects of nature a soft, mellow tinge, like the colouring of that master.«502 Gilpin äußert sich an derselben Stelle auch kritisch zum Gebrauch dieser Instrumente, weil er glaubt, das Auge eines guten Malers genüge, um das Pittoreske in der Landschaft zu sehen. Es ist nicht bekannt, in welchem Ausmaß Lorrain selber – sicher mit einem guten Auge ausgestattet – optische Hilfsmittel verwendet hat, obwohl er wahrscheinlich nie mit Hilfe der nach ihm benannten Gläser malte. Die Camera Obscura hingegen war zu jener Zeit unter Landschaftsmalern verbreitet. Die Stadtansichten von Lorrains Zeitgenossen Jan Vermeer oder der beiden etwas späteren Canaletti wären ohne den Gebrauch der Camera Obscura vermutlich nicht denkbar gewesen, wenngleich deren Verwendung schwer zu beweisen ist.503 Das ist insofern von Belang, als dass es dabei um mehr geht als um eine kunsthistorisch verbrämte kriminologische Frage. Wenn die These stimmt, dass die Landschaftsmalerei das historisch perpetuierte Bild der Landschaft geprägt oder gar präformiert hat, diese Landschaftsmalerei aber auf dem Gebrauch technischer Hilfsmittel aufbaut, müsste sich dann eine Untersuchung des Zustandekommens dieses Landschaftsbildes und mithin des ästhetischen Landschaftsbegriffs überhaupt nicht mindestens so sehr technikgeschichtlich wie kunstgeschichtlich orientieren? Die tradierten Bilder von Landschaft und die Dominanz des ästhetischen Landschaftsbegriffs wären in diesem Fall nicht nur der poietischen Kraft der Kunst geschuldet, sondern auch dem welterzeugenden Vermögen der Technik. Jonathan Crary zum Beispiel hat die Camera Obsurca als eine Metapher auf die neuzeitliche Subjektkonstitution gesehen, weil der Betrachter erstens sich in einem geschlossenen Raum befindet, was die Trennung von Subjekt und Objekt unterstützt, und zweitens das Sehen mittels der Camera vom Körper trennt.504 In Bezug auf die Claude-Gläser und -Spiegel ist es wohl nicht falsch, die Geräte mit der Künstlerin C. Suzanne Matheson und dem Künstler Alex McKay, die heute noch mit Claude-Spiegeln arbeiten, ein »18th century ›virtual reality‹ device« zu nennen.505 Mit Hilfe der Gläser und Spiegel war es möglich, die Welt nicht nur in einem anderen Licht zu sehen, sondern sie um eine andere, »virtuelle« Version ihrer selbst zu erweitern. Das zeigt sich zum Beispiel schon daran, dass die Claude-

502 William Gilpin: Observations on several parts of Great Britain, particularly the Highlands of Scotland. London 1808, S. 124. 503 Vgl. N. Schneider: Landschaftsmalerei. Und Philip Steadman: Vermeer’s Camera. Uncovering the Truth Behind the Masterpieces. Oxford, New York 2001. 504 Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Dresden, Basel 1996. 505 http://web2.uwindsor.ca/hrg/amckay/Claudemirror.com/Claudemirror.com/Claude_ Mirror_Introduction.html (11. April 2011).

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Gläser einen zeitraffenden Effekt hatten. Durch die blau gefärbte Linse bot sich die Landschaft am helllichten Tag in der Stimmung einer Mondnacht dar, gelbe oder rote Gläser deuteten zu jeder erdenklichen Tageszeit Sonnenauf- und -untergänge an. Der Trick war einfach und wirkungsvoll. Da das endogene Auge den idealen Ansprüchen nicht genügte – außer man hatte, wie Gilpin meint, das Talent dazu –, wurde das »landschaftliche Auge«,506 wie Wilhelm Heinrich Riehl etwa zur selben Zeit die Fähigkeit, Landschaft zu sehen, nannte,507 exkorporalisiert. Der Wunsch nach instrumenteller Verbesserung des menschlichen Körpers und nach technischer Erzeugung möglicher Realitäten war im 18. Jahrhundert nicht weniger stark, als er es in der ganzen, ständig technischen Fortschritt anstrebenden Kulturgeschichte Europas immer gewesen war. Auch für die Verbindung von technischer Innovation und Kunst gibt es viele historische Beispiele, etwa das im 17. Jahrhundert populäre »Maschinentheater«, das die bühnentechnische Herstellung spektakulärer Effekte besonders schätzte.508 Die Claude-Gläser und -Spiegel stellen aber eine Besonderheit dar, weil sie auf der beschriebenen Reorganisation mimetischer und poietischer Elemente in der Kunst beruhten und Landschaft nach dem Bild der Bilder, die es bereits von ihr gab, gestalteten. Vermeer fand – vorausgesetzt, er hat wirklich mit der Camera Obscura gearbeitet – das Bild, das diese ihm gab, vermutlich auch schön, sonst hätte er bestimmte Effekte, die sie erzeugte, zum Beispiel Unschärfen im Detail oder Glanzpunkte, nicht mitgemalt. Womöglich hat ihn die Camera sogar in der Auswahl der Sujets, vielleicht in der Entwicklung eines Stils beeinflusst. In erster Linie diente sie ihm aber – besonders da, wo er draußen arbeitete – dazu, die Wirklichkeit besser erfassen zu können. Die Claude-Spiegel und -Gläser hingegen hatten, wie gezeigt, genau die umgekehrte Wirkung. Die Suche nach dem Pittoresken lief also darauf hinaus, eine Gegend »neu« zu entdecken und dort dann eine Landschaft zu finden, die man bereits kannte. Doch das war nicht der einzige Widerspruch, den der Gebrauch der betreffenden Instrumente mit sich brachte. Der Spiegel zum Beispiel zwang den Benutzer, sich im Feld von der Landschaft, die er betrachten wollte, abzuwenden. Er drehte dem, was vor ihm lag, den Rücken zu, um es gemäß den Bedingungen des ästhetischen Ideals verfremdet im Spiegel zu sehen. Kein Wunder, wurde dieses Verhalten von späteren Kommentatoren sinnbildlich verstanden. In den Worten von Hugh Sykes Davies: »It is very typical of their attitude to Nature that such a position should have

506 Wilhelm Heinrich Riehl: Das landschaftliche Auge. In: Wilhelm Heinrich Riehl: Kulturstudien aus drei Jahrhunderten. Stuttgart und Berlin 1910, S. 54-75. 507 Vgl. Kapitel 5. 508 Vgl. z.B. Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig (Hg.): Instrumente in Kunst und Wissenschaft: Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert. Berlin 2006.

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seemed desirable.«509 Davies, englischer Autor und selbst Lyriker, unterstellt den Liebhabern des Pittoresken mangelndes Interesse am Vorhandenen und seiner konkreten Form des Erscheinens. Das optische Hilfsmittel des Spiegels setzte eine gewollte Weltblindheit voraus, die in der ostentativen Abkehr ihren körperlichen Ausdruck fand. Eine Stelle bei Gray, die dessen erster Verleger Mason nicht wiedergibt, illustriert das und zeigt, welche realen Tücken diese metaphorisch aussagekräftige Praxis hatte: »Dined by 2 o’clock at the Queen’s Head, and then straggled out alone to the Parsonage, fell down on my back across a dirty lane, with my glass open in one hand, but broke only my knuckles, staid nevertheless, and saw the sun set in all its glory.«510 Gray war offenbar zum Verhängnis geworden, dass er auf der Suche nach pittoresker Schönheit im Spiegel die Fährnisse vor seinen Füßen aus den Augen verloren hatte. Doch selbst dieser Unfall – er hatte sich in der Nähe von Keswick zugetragen – hielt ihn schließlich nicht davon ab, sich dem Genuss des Pittoresken in Form eines Sonnenuntergangs im Lake District hinzugeben, denn das »glass«, mit Hilfe dessen er ihn bewundern konnte, war ja zum Glück im Gegensatz zu seinen Knöcheln heil geblieben. Die Anekdote macht deutlich, was die Spiegel und Gläser für die Reisenden auf der Suche nach dem Pittoresken waren: Instrumente zur ästhetischen Verbesserung der Welt. Das war auch dem erwähnten Optiker Benjamin Pike Jr. vollkommen klar: »I don’t know whether it was the invention of the famous Italian artist, […] or whether the mirror was so called because, like Claude Lorraine, it is said to improve upon nature; but, at all events, it is a great curiosity. […] The Claude Lorraine mirror derives its value from the principle that all objects are more beautiful in miniature, which renders their defects less apparent; for the unsightly strikes the eye with immediate pain, while that which is perfect grows upon us more gradually. With this mirror, you frame for yourself, as it were, little landscapes at every turn, in which the sky is softer, the grass richer, and the foliage more graceful, than anything you can see without it.«511

Der Bezug zu Lorrain war für Pike, offenbar mehr am Kommerziellen als an Kunstgeschichte interessiert, nicht viel mehr als eine Eselsbrücke. Wichtiger er-

509 Hugh Sykes Davies: Wordsworth and the Worth of Words. Cambridge 1986, S. 223. 510 Thomas Gray: The Works of Gray. Edited by the Rev John Mitford. Volume IV. London 1836, S. 145. 511 Benjamin Pike Jr.: Pike’s Illustrated Descriptive Catalogue of Optical, Mathematical and Philosophical Instruments, Manufactured, Imported, and Sold by the Author; with the Prices Affixed at Which they are Offered in 1856. Vol. I. New York 1856, S. 373.

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schien ihm die Tatsache, dass der nach Lorrain benannte Spiegel die Welt schöner erscheinen ließ, als sie tatsächlich war. Diesen Verdacht bestätigt der britische Autor William Combe. Er verfasste 1812 ein berühmtes Spottgedicht auf die unermüdlichen Sucher nach dem Pittoresken, die es sich, fündig geworden, nicht nehmen ließen, ihre Eindrücke künstlerisch festzuhalten. Illustriert vom Karikaturisten Thomas Rowlandson, machte die Satire »The Tour of Doctor Syntax in Search of the Picturesque« deutlich, dass sich die kunsttouristische Liebe zur Landschaft schnell in Klischees verlor und wenig mit einer an der real vorhandenen Gegend interessierten Auseinandersetzung zu tun hatte. Gleich zu Beginn seiner Reise verläuft sich Doctor Syntax. Zwar stößt er auf einen Wegweiser, der aber besteht nur noch aus einem Pfosten, eine Richtung zeigt er keine mehr an. Doch der schwärmerische Syntax macht aus der Not eine ästhetische Tugend: »As my time shall not be lost,/I’ll make a drawing of the post;/And, tho’ a flimsy taste may flout it,/There’s something picturesque about it: ›Tis rude and rough, without a gloss‹/And is well covered o’er with moss«. In einem Weiher im Hintergrund sieht er im Folgenden einen Strom, über den eine Brücke führt, in einer öden Ebene einen zackigen Kamm: »I’ll do as other sketches do –/Put anything into the view.« Aus dieser Praxis leitet er ein kunsttheoretisches Prinzip ab: »He ne’er will as an artist shine,/Who copies Nature line by line:/Who’er from Nature takes a view,/Must copy and improve her too./[…] Thus I (which few I think can boast)/Have made a Landscape of a Post.«512 Aus dem Gesagten wird klar: Claude-Spiegel und Claude-Gäser stellen ein vielsagendes Kuriosum der Kulturgeschichte dar. Sie trugen dazu bei, ein neues ästhetisches Ideal und, weil die Landschaft ein zentraler Topos dieses Ideals war, eine Landschaftsästhetik zu etablieren. Aber beweisen sie, dass, wie es der Theorie des ästhetischen Landschaftsbegriffs entspräche, die Wahrnehmung von Landschaft von Kunst abhängig ist? Dafür spricht, dass Claude-Spiegel und -Gläser eine real existierende Gegend einem fiktionalen Vorbild, nämlich den Bildern Lorrains, anglichen. Die so ins Bild gesetzte Gegend wurde dadurch zur Landschaft. Sie verdiente ihren Namen, weil sie Ähnlichkeit mit dem ebenso genannten Genre der Malerei aufwies. Allerdings hat sich gezeigt, dass die fraglichen optischen Geräte nichts dazu beitrugen, eine Landschaft als das zu erfassen, was sie war: eine Gegend mit spezifischen Eigenarten, die nichts mit kunstgeschichtlichen Vorbildern zu tun hatte. Der konstitutive Widerspruch, der im praktischen Gebrauch des Spiegels zum Ausdruck kommt, findet sich auch bei den getönten Gläsern wieder. Zwar wandte man sich nicht vom Gegenstand des Interesses ab, aber man trübte sich doch selbst

512 William Combe: The Tour of Doctor Syntax in Search of the Picturesque. London 1856, S. 22f.

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den Blick, verstellte sich sozusagen die Sicht, um etwas anderes zu sehen als das, was da war. Daher ließe sich mit Recht behaupten, die Suche nach dem Pittoresken habe zwar scheinbar in die Wirklichkeit hinein geführt, aber dialektisch von der Landschaft weg, weil das pittoreske Ideal per Definition darin bestand, Wirklichkeit als Kunst zu sehen und dadurch eigentlich gar nicht zu sehen. Die beschriebene Auflösung der Grenze zwischen Fiktion und Realität findet in diesem Fall nicht statt, sondern wird im Gegenteil verstärkt, wenn nicht sogar geschlossen. Landschaft nach Maßgabe des pittoresken Ideals zu sehen, lief darauf hinaus, sie nicht zu sehen. Insofern leistete die Ästhetik des Pittoresken einen großen Beitrag zur Erweiterung des Motiv- und Ausdrucksrepertoires der Landschaftsmalerei und der Landschaftsdichtung, bildete aber weitgehend einen selbstreferenziellen Zirkel. Die von den Liebhabern des Pittoresken besuchten Gegenden – in England der Lake District, das Wye-Tal, die Highlands, auf dem Kontinent die Alpen und die nach ihrem Vorbild benannten »Schweizen« auf dem ganzen Kontinent513 – wären folglich nicht dadurch zu Landschaften geworden, dass sie in einem Claude-Spiegel betrachtet worden waren. Dadurch wurden sie zu Bildern. Im Umkehrschluss zur beschriebenen Dialektik drängt sich eine andere Vermutung auf: Sie wurden zu Landschaften im Sinne einer signifikanten Bedeutungseinheit, weil sie den realen Raum für die Erzeugung dieser Bilder lieferten, den Boden unter den Füßen der Reisenden auf der Suche nach pittoresker Schönheit, das heißt zum Ziel einer Reise, wie das nächste Kapitel zeigt. 4.6.3 Beispiel 3: Die touristische Entdeckung der Sächsischen Schweiz Wie Kunst Realität beeinflusst, lässt sich also, so die anerkannte Theorie, am Beispiel der Landschaft beobachten. Ihre Darstellung in der Literatur oder der Malerei, das heißt ihre Kodifizierung als künstlerisches Motiv, führe zu einer Verschiebung der Wahrnehmungsgewohnheiten, so dass Umgebung ästhetisch betrachtet und zur Landschaft werden könne. Um die empirisch vorhandene Gegend als Landschaft zu erkennen, müsse man glauben, sie sehe aus wie Kunst. Dass der Prozess der ästhetischen Aneignung und Definition von Landschaften komplizierter verläuft, hat das Beispiel der Geschichte der Alpenwahrnehmung gezeigt. Ein anderes Beispiel, in dem sich die historischen Akteure erstaunlich präzis festmachen lassen, bestätigt die im Vorangehenden gewonnenen Ergebnisse, dass andere als künstlerische Motive eine wesentliche Rolle bei der Ästhetisierung von Landschaft spielen können.

513 Vgl. Kapitel 4.6.1 und 4.6.3.

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Die Rede ist von der touristischen Erschließung des Elbsandsteingebirges, der so genannten Sächsischen Schweiz.514 Das Elbsandsteingebirge, beiderseits der Elbe südöstlich von Dresden gelegen, ist erst seit dem 18. Jahrhundert als lohnendes Reiseziel bekannt. Seinen einprägsamen und gut vermarktbaren Namen erhielt das Gebiet im Zuge seiner ästhetischen »Entdeckung«, die der touristischen Erschließung voraus ging. Eine große Rolle in diesem Prozess spielten Künstler aus Dresden. Die erstmalige Dokumentation des Namens »Sächsische Schweiz« ist unsicher, die heutigen Kommentatoren schwanken zwischen 1783 und 1785.515 Die Bezeichnung bezieht sich nicht auf den hochalpinen Charakter eines Teils der Schweiz, sondern auf die voralpinen oder jurassischen Gebiete, die nur im Winter weiß, sonst jedoch grün und bewirtschaftet sind, sich aber trotzdem durch erinnerungswürdige landschaftliche Besonderheiten wie eindrückliche Felsformationen, Wasserläufe mit Seen oder spektakuläre Aussichtspunkte auszeichnen. Betont wurde mit der Etikettierung allerdings weniger das geographisch Konkrete, sondern im Gegenteil – und paradoxerweise – das allgemein wiedererkennbare »Besondere«, das, was einem bestimmten Bild von ästhetischer normierter Gegend, konnotiert als »Schweiz«, entsprach und darum als Landschaft gelten konnte. Vermutlich war aber nicht nur das gemeint. Als Referenzgröße, vielleicht auch aus merkantilen Motiven, dürfte die touristische Attraktivität der Schweiz selbst gedient haben. Sie deutete sich im 18. Jahrhundert bereits an und wurde dann im 19. Jahrhundert offensichtlich. Der Name »Sächsische Schweiz« hätte sich in diesem Fall nicht auf eine geographische Einheit, sondern auf ein touristisches Phänomen bezogen, das heißt auf die Tatsache der touristischen Durchdringung eines geographischen Raums, die als erstrebens- und nachahmenswert betrachtet wurde. Denn: Das Inte-

514 Vgl. Antonia Dinnebier: Die Entdeckung der Sächsisch-böhmischen Schweiz und was wir daraus für die Theorie der Landschaft lernen können. In: Irene Kazal, Annette Voigt, Angela Weil, Axel Zutz (Hg.): Kulturen der Landschaft. Ideen von Kulturlandschaft zwischen Tradition und Modernisierung. Berlin 2006, S. 19-37. Antonia Dinnebier: Die Innenwelt der Außenwelt. Die schöne »Landschaft« als gesellschaftstheoretisches Problem. Berlin 1994. Andreas Martin: Landschaftsbilder. Zum Beitrag der Dresdner Künstler an der »Entdeckung« der Sächsischen Schweiz im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Volkskunde in Sachsen 17/2005. Herausgegeben vom Institut für sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. Dresden 2005, S. 57-73. Andreas Martin: Fokussierte Landschaft. Aussichtstürme in der Sächsischen Schweiz. In: Rolf Wilhelm Brednich, Annette Schneider, Ute Werner (Hg.): Natur – Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. Münster, New York, München, Berlin 2001, S. 177-188. 515 Dinnebier: Entdeckung, S. 20. Und Martin: Landschaftsbilder, S. 57.

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resse, das der Schweiz und insbesondere den Alpen durch die Gebildeten und Begüterten Europas entgegengebracht wurde, dürfte, im Sinne der besprochenen Durchsetzung einer hegemonialen Ästhetik, als auszeichnende Beglaubigung der Außergewöhnlichkeit dieser Landschaft verstanden worden sein, was, nachdem sich die fragliche Ästhetik tatsächlich durchgesetzt hatte, einer Nobilitierung gleichkam. Die dadurch entstehende ästhetische Hierarchisierung der europäischen Landkarte forderte geradezu dazu auf, sich im geoästhetischen Wettstreit eine bessere Position zu sichern. Diese Vermutung wird durch die Tatsache bestätigt, dass der nomenklatorische Bezug zur Schweiz in ihrem sächsischen Ableger insofern ernst genommen und sogar noch betont wurde, als der Ausbau der touristischen Infrastruktur vom »Schweizer Stil« geprägt war, wie das 1881 erbaute und heute denkmalgeschützte Hotel am Prebischtor zeigt. Der »Schweizer Stil«, aus der Begeisterung für die Alpen und die imaginierte Kultur ihrer Bewohner entstanden, war im 19. Jahrhundert in Europa eine beliebte Architektursprache, nicht nur für ländliche Bauten. Die »Chalets suisse«, kubische, gedrungene Holzhäuser mit Satteldach, ausladenden Lauben und Laubsägeornamentik, waren verbreitet in Mode. Dadurch legitimiert, fand der Stil in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Weg zurück in die Schweiz, wo er als eine Art kulturelle Selbstimitation einen Beitrag zur Formulierung eines vermeintlichen Nationalcharakters des noch jungen Staates leistete. So wurde architektonisch ein weiteres, die Landschaft ergänzendes und ihre ästhetische Klassifizierung bestätigendes Schweiz-Bild implementiert.516 Gebiete, die, meist von einem spezifizierenden geographischen Adjektiv begleitet, als »Schweiz« bezeichnet werden, gibt es in Europa dementsprechend viele, nämlich über hundert.517 Die Sächsische stellt insofern keine Ausnahme dar. In ihrem Fall erwähnenswert und wohl außergewöhnlich ist die Tatsache, dass es mutmaßlich tatsächlich Schweizer waren, die ihr diesen Namen gaben. Zentrale Gestalt des Künstlerkreises, der für die »Entdeckung« und Taufe der Sächsischen Schweiz verantwortlich gemacht wird, ist Adrian Zingg. Zingg wurde 1734 in St. Gallen geboren. Er ging in Zürich beim Kupferstecher Johann Rudolf Holzhalb in die Lehre und arbeitete später in Bern bei Ludwig Aberli, wo er dessen »Aberlische Manier« erlernte und Schweizer Ansichten stach.518 1759 verließ er die Schweiz und ging nach Paris. Sieben Jahre lang arbeitete Zingg dort, beeinflusst von Johann George Wille, als Landschaftsmaler und Kupferstecher. 1766 gab er das ökonomisch unge-

516 Vgl. z.B. Georg Kreis: Chalet. In: Georg Kreis: Schweizer Erinnerungsorte. Aus dem Speicher der Swissness. Zürich 2010, S. 205-217. 517 Vgl. Irmfried Siedentop: Die Schweizen – eine fremdenverkehrsgeographische Dokumentation. In: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie 28, Bad Soden 1984, S. 126-130. 518 Vgl. Kapitel 4.6.1.

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regelte Leben auf und reiste, einem Ruf an die dort neugegründete Akademie folgend, nach Dresden, wo er fortan als Lehrer tätig war. 1769 wurde er Mitglied der Wiener, 1787 der Berliner Akademie. 1803 wurde ihm die Professur der Kupferstechkunst in Dresden übertragen. Durch seine Lehrtätigkeit in Dresden bildete sich ein Kreis von befreundeten Künstlern und Schülern, in dem die Tafelberge entlang der Elbe als Reiseziel, Motiv und Studienobjekt geschätzt wurden. Zu den Künstlern, die mit Zingg Ausflüge unternahmen, gehörten weitere Schweizer, etwa Anton Graff aus Winterthur, auch Angestellter der Akademie und gefragter Porträtmaler der Zeit, oder Conrad Gessner, der Sohn von Salomon Gessner, dem Verfasser der »Idyllen«, die in die Geschichte der literarischen Alpenwahrnehmung eingegangen sind. Wie ungewöhnlich die Arbeitsreisen dieser Leute waren, dokumentiert eine Anekdote, die sich noch im Jahr von Zinggs Ankunft in Dresden zugetragen haben soll. Zingg und Graff waren in der Umgebung der Festung Königstein unterwegs. Der Festungskommandant, auf sie aufmerksam geworden, untersagte ihnen das Zeichnen, vielleicht aus Gründen der Wahrung von militärischen Geheimnissen, vielleicht, weil ihm die Tätigkeit neu war und suspekt erschien. Graff gab nach, Zingg nicht. Er wurde arretiert und seine Zeichnungen eingezogen. Dieser Lapsus konnte nicht verhindern, dass bald darauf eine intensive künstlerische Auseinandersetzung durch den Zirkel um Zingg mit dem Elbsandsteingebirge einsetzte. In ihrem Verlauf, um die Mitte der 1780er Jahre, bekam es die Bezeichnung »Sächsische Schweiz«. Wer genau auf diesen Namen kam und aus welchen Motiven, ist nicht sicher. Beweisen lässt sich die heute gerne als Tatsache verstandene Annahme nicht, dass Zingg oder Graff die Urheber seien. Wenn sie es waren, taten sie es aus patriotischen Motiven? Hatten sie die »Schweizer Krankheit« Heimweh?519 In den Lebensläufen der beiden lassen sich keine entsprechenden Hinweise finden. Die Verbindung zu Landsleuten war ihnen zwar wichtig – Graff war mit einer Tochter des in Berlin lebenden Philosophen und Mathematikers Johann Georg Sulzer aus Winterthur verheiratet und unternahm auch einige Reisen zurück in die Schweiz –, mit dem Leben im Ausland scheinen sich aber beide gut arrangiert zu haben. Möglich ist, dass die Bezugnahme auf eine schweizerische Identität Zingg und Graff half, in Dresden Fuß zu fassen. Die Hauptstadt des Kurfürstentums Sachsen, ihrer Schönheit und Wertschätzung der italienischen Kunst wegen später »Elbflorenz« genannt, war vom Siebenjährigen Krieg getroffen und stand vor einem Neuanfang. So hatte zum Beispiel ein prägender Künstler der Vorkriegszeit, Bernardo Bellotto, Dresden 1759 verlassen. Er hatte die Stadt in einem berühmten Vedutenzyklus gemalt und verherrlicht – unter anderem indem er Bauten, die noch nicht vollendet waren, in fertigem Zustand zeigte.

519 Vgl. Simon Bunke: Studien zur Kultur- und Literaturgeschichte einer tödlichen Krankheit. Freiburg 2009.

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Es ist denkbar, dass sich die beiden Schweizer in Stil und Motivwahl von ihren Vorgängern zu unterscheiden suchten, um sich, wieder im Sinne einer Distinktionsleistung, als eigenständige Künstler in Dresden etablieren zu können. Graffs Biograph Richard Muther schreibt über das Bewerbungsbild, das Graff nach Dresden schickte: »Man braucht in der That nur einen vergleichenden Blick von den geschminkten und gespreizten Portraits, wie sie seither in Dresden gang und gäbe waren, auf diese einfach anspruchslose, mit der größten Liebe gefertigte Arbeit zu werfen, um in den allgemeinen Beifall einzustimmen, mit welchem es von Hoch und Niedrig begrüsst wurde.«520

Gegen diese Distinktionsthese spricht, dass auch der ebenfalls an der Akademie tätige Christian Wilhelm Ernst Dietrich, weder Schweizer noch neu in Stadt oder Gewerbe, erfolgreich Landschaften malte. Das gilt auch für den älteren, in Dresden bereits etablierten Hofmaler Johann Alexander Thiele. Der Bezug auf die Schweiz könnte Zingg aber geholfen haben – vermittelt durch die ästhetische Autorität seiner terminologisch nobilitierten Motive, nämlich der als »Schweiz« ausgezeichneten Elbuferlandschaft –, selbst eine Autorität zu gewinnen, die zu erlangen ihm sonst schwerer gefallen wäre. Die Kunstakademie zeigte die Werke ihrer Lehrer und Schüler in einer jährlich wiederkehrenden Ausstellung. Die auf den Reisen ins Umland entstandenen Bilder fanden so ihr Publikum. Eine umfangreiche Produktion von Landschaftsbildern setzte ein, wobei die Zingg wohl bekannte »Aberlische Manier« breite Anwendung fand. Die Umrisse wurden radiert und vervielfältigt und dann von Hand koloriert. Auf diese Weise war, wie auch in der Schweiz der Fall, eine regelrechte Massenproduktion von Landschaftsansichten unter dem Label »Sächsische Schweiz« möglich. Die Anzahl der Blätter, die aus der Zinggschen Schule in den Handel gelangten, wird auf bis zu 10.000 Stück geschätzt.521 In diesen Markt drängten bald auch eigenständige Kunstverleger. Sie übernahmen die Reproduktion und den Verkauf der Landschaften und etablierten sich als eigenständige Berufsgruppe zwischen Künstlern und Kunden. Sie publizierten die zum Teil mit den fraglichen Veduten illustrierten Reiseanleitungen der ortsansässigen Pfarrer Wilhelm Leberecht Götzinger und Carl Heinrich Nicolai. Diese beiden übernahmen ebenfalls, wenn auch nicht unkritisch, die Bezeichnung »Sächsische Schweiz« für ihre Region.522 Das

520 Richard Muther: Anton Graff. Leipzig 1881, S. 21. 521 Martin: Landschaftsbilder, S. 64. 522 Vgl. Wilhelm Leberecht Götzinger: Geschichte und Beschreibung des Chursächsischen Amts Hohnstein mit Lohmen, insbesondere der unter dieses Amt gehörigen Stadt Sebniz. Freiberg 1786. Und Wilhelm Leberecht Götzinger: Schandau und seine Umgebun-

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erklärt die Popularisierung der Bilder, die sich die Öffentlichkeit von der Sächsischen Schweiz machte, und die Verbreitung des Namens, den sie diesen Bildern gab. Das so entstandene Label traf auf die erwachende Reiselust bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und befriedigte ihr Bedürfnis nach dem landschaftlich Außergewöhnlichen, sogar verbunden mit dem Vorteil, nicht die Strapazen einer Alpenquerung auf sich nehmen zu müssen, um einen vermeintlichen Eindruck der erhabenen Landschaften in der Schweiz bekommen zu können. Die Erschließung für den Fremdenverkehr führte in der Sächsischen Schweiz nicht zum Nachlassen des Interesses seitens der Künstler. Noch in der Romantik, also mehr als eine Künstlergeneration nach Zingg, lieferte das Elbsandsteingebirge Motive und Erlebnisse, die sich bildnerisch und literarisch umsetzen ließen. Caspar David Friedrichs »Wanderer über dem Nebelmeer«, um 1818 entstanden, steht auf einem der Türme des Tafelgebirges, präzis auf der Kaiserkrone. Er blickt auf eine erfundene, aber aus verschiedenen örtlichen Gipfeln zusammengesetzte Kompositlandschaft. Der Wanderer ist der Künstler selbst, der sich mit dieser Geste zu Petrarca auf dem Mont Ventoux in Beziehung zu setzen scheint.523 (Abb. 17) Hans Christian Andersen beschreibt 1831 seine »Reise von Leipzig nach Dresden und in die Sächsische Schweiz«,524 und der Dresdner Dichter Theodor Körner verlegt seine Erzählung »Die Reise nach Schandau«525 hierher. All das war dem Tourismus in der Gegend nicht abträglich. Die touristische Verwertung der Sächsischen Schweiz ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass die eben beschriebene Phase der ästhetischen Erschließung heute selbst zum Gegenstand fremdenverkehrswirtschaftlichen Interesses geworden ist. Den jetzigen Besuchern der Gegend wird suggeriert, sie befänden sich auf den Spuren der Kulturträger von damals und hätten insofern Teil an einer hochkulturellen Leistung, wenn sie nur die Gegend auf dem zu diesem Zweck jüngst entstandenen »Malerweg«, der sich auf die historische Standardroute bezieht, bereisen möchten.526

gen oder Beschreibung der sogenannten Sächsischen Schweiz. Bautzen 1804. Und Carl Heinrich Nicolai: Wegweiser durch die Sächsische Schweiz nebst einer Reisekarte, Pirna 1801. 523 Vgl. N. Schneider: Landschaftsmalerei. Und Kapitel 4.3. 524 Hans Christian Andersen: Reise von Leipzig nach Dresden und in die Sächsische Schweiz. Mit malerischen Ansichten C. A. und Ludwig Richter. Frankfurt a.M. 2000. 525 Theodor Körner: Die Reise nach Schandau. In: Theodor Körner: Theodor Körner’s sämtliche Werke. Im Auftrag der Mutter des Dichters. Herausgegeben und mit einem Vorworte begleitet von Karl Streckfuß. Berlin 1861, S. 751-761. 526 www.nationalpark-saechsische-schweiz.de/red4/malerweg/karte-1/index.html (11. April 2011).

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Das Beispiel der Sächsischen Schweiz macht deutlich, dass die ästhetische Erfassung und Fixierung einer Gegend als Landschaft von der Kunst mitentscheidend abhängen kann. Trotzdem zeigen sich auch hier andere als ästhetische Motive, die eine Landschaft zu einer solchen machen können. Im besprochenen Fall einerseits die biographische und kulturpolitische Situation historischer Akteure – vorausgesetzt, die Schweizer in Dresden sind tatsächlich die Urheber des Namens –, andererseits steht die Entwicklung der Sächsischen Schweiz zum touristischen Ziel in einem länderübergreifenden Kontext: der ästhetischen Hierarchisierung der europäischen Geographie. Die Positionierung innerhalb dieser Hierarchie, für die ein behaupteter Schweiz-Bezug nur hilfreich sein konnte, dürfte sowohl aus ökonomischen wie sozialpolitischen Motiven erfolgt sein, um die eigene Region an einen hegemonialen ästhetischen Diskurs anzuschließen. Insofern hat man es auch hier mit der Verräumlichung eines sozialen Konflikts zu tun. Dass die Territorialisierung eines solchen Konflikts Gegenden nicht nur auf symbolischer Ebene oder, wie im Fall der Sächsischen Schweiz, infrastrukturell verändert, sondern deren reales Aussehen prägt, wenn nicht sogar erzeugen kann, zeigt das letzte der hier diskutierten Beispiele: die Entwicklung des Englischen Landschaftsgartens. 4.6.4 Beispiel 4: Der Englische Landschaftsgarten Noch bevor die Diskussion um das Pittoreske begann, kam in England eine Bewegung auf, die sich für ein anderes ästhetisches Ideal stark machte. Landschaft und Landschaftsmalerei spielten dabei eine entscheidende Rolle. Verwirklicht wurde es in Form künstlicher Gärten. Die Entwicklung des Englischen Landschaftsgartens scheint – das fiel bereits zeitgenössischen Kommentatoren auf – eng mit der Malerei verbunden. Es gibt in der Literatur zur Theorie und Ästhetik Englischer Gärten viele Belege für diese vermutete Analogie, wie die folgenden Beispiele zeigen. Als Hauptreferenz gilt ein Alexander Pope zugeschriebenes Bonmot, das als eigentlicher Titel über der kunsthistorischen Auseinandersetzung mit dem Thema stehen könnte. Der englische Publizist und Gelehrte Joseph Spence berichtet in seinen 1820 erschienenen »Anekdoten« von seinem Freund Alexander Pope. Dieser soll irgendwann zwischen 1734 und 1735 in Betrachtung des Botanischen Gartens in Oxford gesagt haben: »All gardening is landscape painting.«527 Spence kommentiert die Notiz kurz und stimmt Pope zu, indem er den Garten respektive »the view through it« mit Malerei vergleicht, fühlt er sich doch an »a landscape hung up«528

527 Joseph Spence: Anecdotes, Observations, and Characters, of Books and Men. Collected from the Conversation of Mr. Pope, and other Eminent Persons of his Time. By the Rev. Joseph Spence. Edited by James M. Osborn. Oxford 1966, S. 252. 528 Spence: Anecdotes, S. 252.

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erinnert. In einer anderen Ausgabe der Aufzeichnungen von Spence taucht eine – ihm selbst zugeschriebene – Aussage aus dem Jahre 1752 auf, die in dieselbe Richtung geht: »Mr Southcote’s rosary that was so close and disagreeable is now a wilderness of views, and the new walk by it a picture-gallery.«529 Besagter Philip Southcote hatte in den 1730er Jahren den Garten seines Anwesens in Woburn in der Grafschaft Surrey und damit ein frühes Beispiel eines Englischen Landschaftsgartens geschaffen. Er soll sich der gleichen Metaphorik bedient haben: »Tis all painting. […] Perspective, prospect, distancing and attracting, comprehend all that part of painting in gardening.«530 Ganz ähnlich sah es William Shenstone, der sich von 1745 an um die Verschönerung des Umschwungs seines Anwesens The Leasowes in den West Midlands bemühte. Er legte die Überlegungen zu seinem Tun in den »Unconnected Thoughts on Gardening« von 1759 nieder: »Landscape should contain variety enough to form a picture upon canvas; and this is no bad test, as I think the landscape painter is the gardener’s best designer.«531 Shenstone folgte den Anweisungen, die der Gartentheoretiker Batty Langley 1728 in seinen »New Principles of Gardening«532 niedergelegt hatte. Dieser übernahm verschiedene kompositorische Techniken aus der Malerei, besonders im Hinblick auf die Gestaltung von Perspektiven, Distanzen und Rhythmik einer Anlage. Eine Allee zum Beispiel konnte, analog zu den raumsuggestiven Methoden der Landschaftsmalerei, mittels perspektivischer Manipulationen und Hell-DunkelVerläufen illusionistisch aufgewertet werden. War die Allee vorne verbreitert, standen dort große, dunkle, ewiggrüne Bäume, deren Größe und Farbintensität nach hinten abnahm; mündete sie am Ende in eine Zone mit kleinen Gewächsen und hellen, silbernen Farbtönen, erschien sie optisch länger und das Anwesen größer, als es tatsächlich war. Zusammengefasst wird die Analogiebildung zwischen Garten und Gemälde von der berühmten Bemerkung des Gelehrten Horace Walpole, wonach Lyrik, Malerei und Gartenbau verschwisterte Künste seien: »Poetry, Painting, and Gardening, or the Science of Landscape, will forever by men of Taste be deemed Three Sisters, or The Three New Graces who dress and adorn nature.«533 Die amerikanische Philosophin Stephanie Ross hat Herkunft und Folgen dieser Sentenz nachgezeichnet und untersucht, wie Landschaftsgemälde auf die englische

529 Spence: Anecdotes, S. 426. 530 Spence: Anecdotes, S. 425. 531 William Shenstone: Unconnected Thoughts on Gardening. In: William Shenstone: Essays on Men and Manners. London 1868, S. 130-153, hier S. 134. 532 Batty Langley: New principles of gardening. New York 1982. 533 William Mason: William Mason’s Satirical Poems with notes by Horace Walpole. Oxford 1926, S. 43.

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Gartenarchitektur gewirkt haben könnten.534 Ross referiert dabei auch die verschiedenen ablehnenden Meinungen, die von zeitgenössischen Forschern und Forscherinnen der Annahme einer direkten Abhängigkeit des Gartenbaus von der Malerei entgegengebracht wird: »Interestingly, few present-day commentators believe that such copying was an important or central feature of eighteen-century English gardens.«535 Auch Ross kommt vielmehr zum Schluss, die Verwandtschaft der fraglichen Künste äußere sich nicht in einer direktkausalen kunsthistorischen Sukzession, sondern als Ähnlichkeit bezüglich ihrer inhaltlichen und formalen Funktionsweise. »A garden can function like (landscape) painting.«536 Das relativiert die Aussagen Walpoles und seiner Zeitgenossen erheblich. Die Analogie von Landschaftsgemälde und Landschaftsgarten lag also, der Interpretation von Ross folgend, eher im Auge des Betrachters als in der Intention des Architekten. Der Bezug auf milieuspezifisch kollektiv bekannte und geschätzte Vergleichsbilder erleichterte offenbar Erfassung und Beschreibungen von künstlichen Landschaften. Das unterschwellige Wissen, dass es sich bei den fraglichen Vorbildern ebenfalls um fiktive Landschaften handelte, stand der Lust an einer auf »Natürlichkeit« hin inszenierten Landschaft nicht im Weg. Das lässt diese in einem seltsamen Paradox gefangene Lust als Freude am gesteigert Artifiziellen erscheinen, ähnlich wie es in Bezug auf das Ideal des Pittoresken festgestellt werden kann. Offenbar war die Rezeption des englischen Gartenideals also vom Kunstwissen der Rezipienten geprägt, seine Entwicklung aber von Einflüssen abhängig, die, vorsichtig formuliert, zumindest teilweise von außerhalb des kunsttheoretischen und kunsthistorischen Feldes stammten. Die These, »dass der Landschaftsmalerei eine leitende Funktion für den Entwurf ›natürlicher‹ Gärten zukommt«,537 ist in der deutschen Literatur zur Geschichte der Gartenkunst nach wie vor präsent. Etwas unscharf wird diese Annahme dadurch, dass andere Kommentatoren bereits die dem Englischen Landschaftsgarten vorausgehenden Gartentypen nach dem Vorbild der Malerei gestaltet sehen. Der Kulturtheoretiker Martin Burckhardt etwa macht deutlich, wie im nach streng geometrischen Prinzipien aufgebauten Barockgarten die bildtechnische Erfindung der Zentralperspektive in den Raum übertragen und zum eigentlichen Landschaftsideal wurde.

534 Vgl. Stephanie Ross: What Gardens Mean. Chicago 1998. 535 Ross: Gardens, S. 105. 536 Ross: Gardens, S. 107. 537 Günter Oesterle, Harald Tausch: Einleitung. In: Günter Oesterle, Harald Tausch (Hg.): Der imaginierte Garten. Göttingen 2001, S. 9-20, hier S. 19.

260 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER »Im französischen Park wird der Garten zum Park, verwandelt sich Landschaft zum Bild. […] Die Einbildungskraft (das Imaginäre) hört auf, allein ein künstlerisches Phänomen zu sein: es greift über auf die Gestaltung des Raums, der Lebenswirklichkeit. Der Raum selbst wird, wie der Bildraum, zu einem Gegenstand der Einbildungskraft.«538

Burckhardt vergleicht die Planierungsarbeiten für den Park von Versailles mit der Grundierung eines Gemäldes und führt aus, der Englische Landschaftsgarten sei nichts anderes als die Fortführung des geometrischen Barockgartens – allerdings unter geschickter Verschleierung seiner eigentlichen Struktur durch Inszenierung von Natürlichkeit, und darum sei er ein Trompe-l’oeil. Der Schweizer Literaturwissenschaftler Michael Gamper hingegen geht, auf Walpoles Bild der verschwisterten Künste anspielend, davon aus, dass »die Rolle der gemalten Bilder bei der Entstehung von Gärten nicht als die von ›Musterbüchern‹ festgesetzt werden kann. Die Gemälde von Pussin, Rosa, Claude Lorrain oder der niederländischen Landschaftsmaler sind nicht als Vorbilder betrachtet worden, deren Inhalte möglichst getreu in Formen der realen Natur zu reproduzieren seien. […] Vielmehr entsprangen die einzelnen Kunstformen – Landschaftsgemälde, Gartenszene und Naturdichtung – einem Naturkonzept, in dem politische und gesellschaftliche Anliegen genauso sedimentiert waren, wie es selbst von ästhetischen Diskursen beeinflusst wurde.«539 Also selbst wenn man der These des Vorbildcharakters der Landschaftsmalerei folgen wollte, wird klar, dass eine monokausale Herleitung des Landschaftsgartenideals nicht ausreicht: »Das konstruktive Moment in der Erfindung einer ›natürlichen‹ Landschaft erweist sich […] als von Diskursen vielfältig bedingt, die sich in diese Landschaft sichtbar eingeschrieben haben.«540 Dieser Spur wird im Folgenden nachgegangen, um zu prüfen, was an der Annahme, Kunst produziere Landschaft, stimmt. Die erwähnten Schriften Langleys entstanden in einer frühen Phase der Entwicklung zum Englischen Landschaftsgarten. Er bemüht sich, seinen Prinzipien tatsächlich einen Neuigkeitswert zu geben. Das Buch zeigt aber auch, dass sich eine absolute Trennung zwischen dem Englischen Garten und seinem Vorläufer und Antipoden, dem vor allem in Frankreich und den Niederlanden verbreiteten barocken Regelgarten, nicht ziehen lässt, wie neuere Forschungen zeigen: »Vieles spricht dafür, bei dem Versuch einer systematischen Verortung des englischen

538 M. Burckhardt: Metamorphosen, S. 189f. 539 Michael Gamper: »Die Natur ist republikanisch.« Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert. Würzburg 1998, S. 46. 540 Oesterle, Tausch: Einleitung, S. 19.

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Landschaftsgartens die so häufig schon von Zeitgenossen in ideologischer Absicht gegen den französischen formalen Gartentyp ins Feld geführte Freiheit nicht zu bemühen.«541 Die Standardinterpretation der Geschichte der Gartenbaukunst baut auf diesem Dualismus auf. Sie sieht im französischen Barockgarten einen die Natur unter die Gesetze der geometrischen Vernunft zwingenden Willen zur Ordnung am Werk. Im Englischen Landschaftsgarten hingegen, so die kanonische Interpretation, sollte die Natur zu ihrem Eigenrecht kommen, was nicht bedeutete, dass auf Gestaltung verzichtet, sondern, dass Freiheit als scheinbare Unregelmäßigkeit inszeniert wurde. Diese Gärten zeichneten sich dadurch aus, dass sie versuchten, Landschaft zu sein, sie imitierten und manchmal bis zur Ununterscheidbarkeit überlagerten. Demgemäß hätte die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts in England eine Revolution der Gartengestaltung gesehen, in welcher das rigide geometrische System der Barockgärten durch Entwürfe ersetzt wurde, die versuchten, die intrinsische Irregularität der Natur zu reproduzieren. Den Terminus »Revolution« verwendeten in diesem Zusammenhang tatsächlich schon die zeitgenössischen Kommentatoren, etwa der deutsche Gartentheoretiker Christian Cajus Lorenz Hirschfeld in seinem Standardwerk »Theorie der Gartenkunst«.542 Als Initiator der Bewegung gilt der bereits angesprochene Alexander Pope. Er publizierte 1713 einen einflussreichen Artikel im »Guardian«543 und ließ darin den Zauber antiker Gärten, wie sie Homer und Vergil beschrieben hatten, wieder aufleben: Die Gärten seiner Zeit schienen ihm eine eigentliche Flucht vor der Natur zu sein. Pope war nicht der Erste, der sich in diese Richtung äußerte. Bereits im 17. Jahrhundert gab es Autoren, die vorschlugen, die Natur zum Vorbild des Gartenbaus zu machen.544 Ähnliche Ansichten wie Pope hatte zum Beispiel der Schriftsteller und Parlamentarier Joseph Addison kurz zuvor im »Spectator«545 geäußert und empfohlen, sich an der Natur zu orientieren. Interessant ist sein Hinweis, dass auf dem Kontinent, auch in Frankreich, zahlreiche Anlagen zu finden seien, die

541 Oesterle, Tausch: Einleitung, S. 10. 542 Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. Erster Band. Leipzig 1779, S. 121. Vgl. auch Ana-Stanca Tabarasi: Der Landschaftsgarten als Lebensmodell. Zur Symbolik der »Gartenrevolution« in Europa. Würzburg 2007, S. 9. 543 Alexander Pope: Essay from »The Guardian«. In: John Dixon Hunt, Peter Willis (Hg.): The Genius of the place. The English Landscape Garden 1620-1820. Cambridge, Mass. 1988, S. 204-207. 544 Vgl. Suzanne Lang: The genesis of the English landscape garden. In: The picturesque garden and its influence outside the British Isles. Washington 1974. 545 Joseph Addison: Essay from »The Spectator«. In: Hunt, Willis (Hg.): The Genius of the place, S. 138-147.

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halb Garten, halb Wald und darum besonders interessant seien. Englische Gärten dieser Zeit hingegen fand er ordentlich und elegant, aber langweilig. Offenbar gab es außerhalb Englands Gärten – und Addison schreibt, es seien viele –, die bereits auf das kommende ästhetische Ideal der Naturnähe vorauswiesen. Das bestätigt den Zweifel am tradierten dichotomen Interpretationsschema, das den Bruch in der Entwicklung vom Barock- zum Landschaftsgarten betont. So griff zum Beispiel der erste Star der englischen Gartenarchitektur, William Kent, früher selber Maler und Bühnenbildner, womöglich auf italienische Bühnenzeichnungen zurück.546 In Frankreich hatte ein Essay von A. J. Dezallier d’Argenville den Trend zur Natur antizipiert. In seiner »théorie et la pratique du jardinage«547 schlug er ein bahnbrechendes architektonisches Element vor, das paradoxerweise zu einem eigentlichen Symbol des naturnahen englischen Landschaftsparks werden sollte: das »Ah! Ah!«, in England später »Ha-Ha« genannt. Das Ha-Ha ist ein Graben, der den Garten vom Umland trennt. Eine Seite des Grabens ist gemauert, die andere als steile Böschung abgeschrägt. Im doppelten HaHa ist die Mauer in den Graben versenkt und wird von zwei Böschungen flankiert. Von weitem bleibt die Sperre unsichtbar. Seinen Namen hat das Ha-Ha aus onomatopoetischen Gründen. Er gibt das Erstaunen des Betrachters wieder, der unverhofft auf dieses unsichtbare Hindernis unter Normalniveau stößt. Erfinder des Namens in der französischen Version des »Ah-Ah« soll, wie Dezallier d’Argenville in der Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert schreibt, ein Sohn Ludwigs XIV. gewesen sein: »AH – AH, (Jardinage.) CLAIRE VOIE ou SAULT DE LOUP. On entend par ces mots une ouverture de mur sans grille, & à niveau des allées avec un fossé au pié, ce qui étonne & fait crier ah – ah. On prétend que c’est Monseigneur, fils de Louis XIV, qui a inventé ce terme, en se promenant dans les jardins de Meudon.«548

Die Einrichtung ersetzt aufragende Mauern und Zäune, die das Endringen von Mensch und Tier in den Park verhindern. Perspektivisch richtig eingesetzt, erzeugt das Ha-Ha den Eindruck einer fortlaufenden Fläche, die Sicht geht ungehindert über

546 Vgl. Lang: The genesis, S. 27f. 547 A. J. Dezallier d’Argenville: The Theory and Practice of Gardening. In: Hunt, Willis (Hg.): The Genius of the place, S. 125-131. 548 Denis Diderot, Jean Baptiste le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers. Band 1. Paris 1751, S.192. http://por tail.atilf.fr/cgibin/getobject_?a.1:572./var/artfla/encyclopedie/textdata/IMAGE/ (11. April 2011).

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die verborgenen Grenzen des Gartens hinaus und vergrößert diesen optisch. (Abb. 18) Die Mauern hingegen, die die Anlage traditionellerweise umgaben, machten, indem sie das, was draußen war, aussperrten und dem Blick entzogen, nicht nur gerade darauf besonders neugierig, sondern erzeugten auch das »beängstigende Gefühl, eingeschlossen zu sein«.549 Im übertragenen Sinn machten sie die Begrenztheit des ästhetischen Konzepts sichtbar. Die Mauer »lässt […] die Beschränktheit spüren, die dem formalen Garten anhaftet, seine grundsätzliche Borniertheit, die um so augenfälliger ist, als sie sich in einer Mauer materialisiert«.550 Wo der barocke Regelgarten versuchte, die Natur ästhetisch zu zähmen und in eine geometrische Ordnung zu bringen, da markierten Mauer und Zaun das Scheitern dieser Bemühungen, weil jenseits davon Natur entweder nach den eigenen Gesetzen spross oder nach Regeln der ökonomischen und nicht der ästhetischen Vernunft bearbeitet wurde. Diesen konzeptuellen Mangel sollte das Ha-Ha beheben. Es machte der Illusion kein Ende. Obwohl es faktisch den Garten von der Landschaft trennte, führte es die beiden fiktional zusammen. Es suggerierte das Gelingen des eigentlich paradoxen Versuchs, Garten und Landschaft ästhetisch in Übereinstimmung zu bringen. Zwar machten die englischen Gartenbauer mit ihrem Gestaltungswillen vor der Landschaft jenseits des näheren Umschwungs der zu verschönernden Immobilie nicht Halt. Aber bereits die Tatsache, dass ihr Werk zwangsläufig auf einen Zeithorizont ausgerichtet war, der ihre Lebenszeit überstieg, illustriert das Dilemma des Bemühens. Zudem konnten Englische Gärten glatt, herausgeputzt und mithin ebenfalls langweilig wirken, was später von den Anhängern des Pittoresken auch moniert wurde. Ihnen kam in den nach dem Vorbild der Natur konzipierten Gärten viel zu 551 wenig raue Natur vor. In der Tat sahen Englische Landschaftsgärten nicht wie die Landschaft Englands aus, ansonsten ja gar nicht die Notwendigkeit bestanden hätte, Letztere umzugestalten und zu einem großen Garten zu machen: »To the beholder of the English countryside any present or former landscape garden stands out quite clearly. The type of trees, their arrangement and the general planting within the garden are strikingly different from the countryside without.«552 Ha-Has sind keine Erfindung der Englischen Gartenbaukunst. Aber sie haben die Entwicklung der Englischen Landschaftsgärten unterstützt und bilden gewissermaßen die Essenz ihrer Logik ab. Das bestätigt Horace Walpole in seinem 1780 erschienenen »Essay on modern gardening«: »The capital stroke, the leading step to

549 Matthijs van Boxsel: Die Enzyklopädie der Dummheit. Frankfurt a.M. 2002, S. 64. 550 Van Boxsel: Dummheit, S. 64. 551 Vgl. z.B. Richard Payne Knight: The Landscape. A didactic poem. London, 1794. 552 Lang: The genesis, S. 27.

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all that has followed, was […] the destruction of walls for boundaries, and the invention of fossés – an attempt then deemed so astonishing, that the common people called them Ha! Ha’s! to express their surprize at finding a sudden and unperceived check to their walk.«553 Auch der niederländische Philosoph Matthijs van Boxsel erklärt das Ha-Ha in seiner »Enzyklopädie der Dummheit« zum eigentlichen Konstituens des Englischen Landschaftsgartens. Er bezieht sich dabei auf eine bemerkenswerte Stelle aus der Komödie »Lethe, or Esop in the Shades« des englischen Schauspielers und Schriftstellers David Garrick. Dort tritt ein Lord Chalkstone auf, ein Anhänger des berühmtesten englischen Gartenarchitekten dieser Zeit, Lancelot Brown. Seines Talents wegen, die landschaftsästhetischen Möglichkeiten eines Geländes rasch und präzis bestimmen zu können, hatte Brown den Übernamen »Capability« erhalten. Besagter Lord Chalkstone nun spaziert in Garricks Stück über die Bühne, die den Hades darstellt, und äußert sich abfällig zu dessen Gestalt und Einrichtung: »– no taste!«554 Dann gibt er Ratschläge im Sinne Browns – Serpentinen für den Styx, Böschungen, Ausholzen der Wälder –, denn »the place indeed has fine Capabilities«.555 Dann tritt er überraschend an den Orchestergraben. Hier nun gibt van Boxsel, ohne Angabe einer Quelle, folgende Replik: »Upon my word, here’s a fine Hah-hah! And a most curious collection of evergreens and flowering shrubs.«556 Diese gelungene theaterliterarische Überlagerung von Theater und Gartenarchitektur veranlasst van Boxsel zu konzisen Überlegungen, die Bedeutung des Ha-Ha für den Englischen Landschaftsgarten betreffend. »Der Orchestergraben ermöglicht die Illusion auf der Bühne, vorausgesetzt, er wird nicht gesehen. Desgleichen ist der Haha der verborgene Punkt, von wo aus der Garten dirigiert wird. […] In der englischen Landschaft […] wird die Dummheit, die dem Garten eigen ist, selbst zur Quelle ästhetischen Vergnügens. Der Garten verwandelt sich von einem durch Mauern umschlossenen Gebiet in einen von der Natur nicht unterscheidbaren Park, der durch den Haha zentriert wird: Die Grenze also wird zum Dreh- und Angelpunkt.«557

553 Horace Walpole: Essay on modern gardening. Strawberry-Hill 1785, S. 53. 554 David Garrick: Lethe, or Esop in the Shades. In: David Garrick: The plays of David Garrick, Garrick’s Own Plays, 1740-1766. Volume 1. 1980, S. 1-34, hier S. 30. 555 Garrick: Lethe, S. 30. 556 Van Boxsel: Dummheit, S. 72. 557 Van Boxsel: Dummheit, S. 72f.

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Die »unbezähmbare[n] Idiotie«558 des Englischen Gartens besteht nämlich in dem tautologischen Versuch, die Natur in einen Garten zu verwandeln, der der Natur ähnlich sieht. Der erwähnte Horace Walpole machte sich anlässlich des Todes von Lancelot »Capability« Brown Gedanken zu diesem Paradox und Sorgen um Browns posthume Reputation. Brown sei ein Genie gewesen, dessen man sich gerade deshalb nicht erinnern werde, denn er habe, so Walpole, die Natur dermaßen gut kopiert, dass man sein Werk später gar nicht mehr als solches erkennen werde.559 Um das zu erreichen, war das Ha-Ha unentbehrlich, das hat van Boxsel richtig gesehen. Ebenso richtig ist, dass dieser Wille zur Illusion Theater strukturell nicht unähnlich ist. Konkret illustriert das schon ein einfaches Beispiel aus der Zeit: William Kent, bei dem Brown gelernt hatte, war zeitweise als Bühnenbildner tätig, und einige seiner Gärten scheinen auf italienische Bühnenbildentwürfe zurückzugehen.560 Insofern sind van Boxsels Überlegungen überzeugend. Nur: Bei Garrick steht an der fraglichen Stelle nicht in allen Editionen »Hah-hah!«, sondern »Hubbab!«.561 Van Boxsel gibt auf Anfrage an, das Zitat in Edward Malins »English landscaping and literature« gefunden zu haben, der selbst wiederum keine Quelle angibt.562 Die faksimilierte Ausgabe der Londoner Edition von 1798 ergibt einen unklaren Befund. Die Buchstaben »h« und »b« sind dort nicht zu unterscheiden. Sicher steht dort aber nicht »Hubbab«, höchstens »bab-bab!«.563 »Hubbab« kommt auch im Oxford English Reference Dictionary nicht vor.564 Vielleicht meinte Garrick »Hubbub«, das für »Tumult«, »Lärm«, »Tohuwabohu« steht: »1 a confused din, esp. from a crowd of people. 2 a disturbance or riot.«565 Das würde im gegebenen Zusammenhang teilweise Sinn machen. In einem Orchestergraben kann Unordnung und Lärm, konkret oder ironisch verstanden, herrschen, der angezeigte Bezug zur Gartenarchitektur lässt sich so aber nicht herstellen. Zudem wäre die Verwendung von »Hubbub!« wesentlich weniger lustig.

558 Van Boxsel: Dummheit, S. 73. 559 Vgl. William A. Mann: Landscape architecture: An Illustrated History in Timelines, Site Plans, and Biography. New York 1993, S. 315. 560 Vgl. Lang: The genesis. 561 Garrick: Lethe, S. 30. 562 Edward Malins: English landscaping and literature. London 1966, S. 101. 563 David Garrick: The dramatic works of David Garrick, to which is prefixed a life of the author. Vol. 1. Farnborough 1969, S. 16. 564 Judy Pearsall, Bill Trumble (Hg.): Oxford English Reference Dictionary. Oxford, New York 1995. 565 Pearsall, Trumble: Oxford, S. 688.

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Angesichts dieser Sachlage schlägt van Boxsel vor, »Hubbab!« allenfalls als eine intendierte Zweideutigkeit zu verstehen: »Suppose Garrick has written: hubbab, then the word might be a reference to the sounds in the pit (hubbub), as well as a reference to the haha of Brown (whom he is referring to in the context).«566 Das ist klug konstruiert, aber eben konstruiert. Vermutlich sollte man doch auf den angespielten Zusammenhang vertrauen und das schwer lesbare Wort gartenarchitektonisch deuten. Restlos sicher aber kann man sich nicht sein, zumal unklar bleibt, wo in der 1980er Ausgabe das »Hubbab!« herkommt. Metaphorisch gesprochen, handelt es sich um eine Ha-Ha-ähnliche Situation: Der Zusammenhang scheint offensichtlich, aber es führt kein sicherer Weg von hier nach dort. Gäbe es nicht schon das Bild vom Esel am Berg, man müsste vom Schaf vor der Mauer im Graben sprechen. Vielleicht hat man es hier mit einem hermeneutischen Phänomen zu tun, das methodisch und moralisch verfemt, aber ebenso populär wie produktiv ist: mit der dem Fehler entsprungenen Erkenntnis. Die Kunst des Falsch- und Nichtverstehens567 produziert hier mutmaßlich nicht, was nahe läge, Unsinn, sondern das Gegenteil.568 Denn: Trotz allem hat van Boxsel Recht. Nichts erklärt das Paradox der Englischen Landschaftsgärten so treffend wie das Ha-Ha. Interessanterweise entwickelte sich die englische Gartenarchitektur vornehmlich in privaten Anlagen, während – nicht nur auf dem Kontinent – bestehende, nach älteren ästhetischen Idealen konzipierte Gärten bereits der Öffentlichkeit oder Teilen davon zugänglich gemacht wurden. Sie befanden sich meist in herrschaftlichem Besitz und dienten auch nach dem Verlust ihrer Exklusivität durch die Erschließung für das breite Publikum der Repräsentation. Darüber hinaus bildeten sie aber auch einen Ort individueller und sozialer Identitätsproduktion, indem sie neue Formen der Bewegung und Begegnung, des Vergnügens und der Zerstreuung etablierten, was die noch heute enorme Bedeutung von Parkanlagen im Leben von Städten belegt. 1635 waren die königlichen Gärten des Hyde Park in London geöffnet worden. Der Prater in Wien war seit Ende des 15. Jahrhunderts den besseren Kreisen, ab 1766 fast allen Bürgern zugänglich. Die Gärten von Versailles forderten in ihrer Pracht geradezu dazu auf, betreten und bewundert zu werden, wobei gerade hier der machtrepräsentative Anspruch insofern besonders deutlich hervortrat, als die Anla-

566 Persönliche Mitteilung des Autors vom 5. Mai 2010. 567 Vgl. Werner Kogge: Die Kunst des Nichtverstehens. In: Juerg Albrecht, Jörg Huber, Kornelia Imesch, Karl Jost, Philipp Stoellger (Hg.): Kultur Nicht Verstehen. Zürich, New York 2005, S. 83-108. 568 Vgl. auch Michael Diers: Lost in Translation oder Kannitverstan: Einige beiläufig erläuterte Spielarten kulturellen Nicht- und Missverstehens. In: Juerg Albrecht, Jörg Huber, Kornelia Imesch, Karl Jost, Philipp Stoellger (Hg.): Kultur Nicht Verstehen. Zürich, New York 2005, S. 53-63.

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ge nach ihrem Umbau ab 1662 durch den berühmten französischen Gartenarchitekten André le Nôtre ein eigentliches Schema des politischen Systems Frankreichs unter Bemühung der Sonnenmetapher darstellte.569 Bereits bei Shakespeare findet sich eine Reminiszenz an die Popularisierung fürstlicher Gartenanlagen. In »Julius Cäsar« verliest Antonius das Testament des getöteten Kaisers und lässt die Bürger wissen, dass »er alle seine Lustgehege,/Verschlossne Lauben, neugepflanzten Gärten,/Diesseits der Tiber, euch und euren Erben/Auf ew’ge Zeit« überlasse, »damit ihr euch ergehen/Und euch gemeinsam dort ergötzen könnt«.570 Diese Entwicklung mündete dann in die Überlegungen des Gartentheoretikers Christian Cay Lorenz Hirschfeld und sein Konzept des Volksgartens, der allen zugänglich sein und durch die Verbindung mit militärischen, agrarischen oder kulturhistorischen Schauanlagen erzieherisch zu Bildung und Gemeinsinn des Publikums beitragen sollte.571 Englische Gärten hingegen verweigerten sich scheinbar diesem paternalistischen Ansatz und bildeten eine Art »demonstrativen Rückzug« einer »politisch enttäuschten, zurückgezogenen Opposition«.572 Diese bestand in England vor allem aus ernüchterten Anhängern der Whigs und reformistisch eingestellten Tories. Sie versuchten nicht nur, die politischen Institutionen des Absolutismus anzufechten, sondern auch das damit verbundene Weltbild, die Ästhetik inbegriffen. Infrage gestellt wurde damit auch die kunstinterne Vormachtstellung der Architektur, die noch im Barock als die vornehmste aller Künste galt. Der Garten war dabei als ihre bloße Fortsetzung mit anderen Mitteln betrachtet worden.573 Nun aber sollte in den Gärten ein bürgerliches Ideal abgebildet werden, das sich in den zwar öffentlichen, aber absolutistische Herrschaft repräsentierenden Regelgärten keine Geltung verschaffen konnte. Das Naturimitat, die scheinbar frei wachsenden Büsche und Bäume, der vermeintlich regellose Gang der Wasserläufe, standen nicht nur für eine ästhetische, sondern auch für eine ideologische Sicht der Welt: für den aufkommenden Liberalismus. Der Philosophieprofessor Joseph Rückert aus Würzburg, der einige Jahre in Weimar lebte, schrieb noch im Sommer 1800 in einer Schilderung der dortigen Parkanlagen: »Der Fürst darf in der freien Natur nicht erscheinen; das stört den reinen Eindruck […] Die Natur ist republikanisch und schüttelt Kronen,

569 Vgl. Reinhard Krüger: Vaux-le-Vicomte, Versailles und die unendliche Welt im absolutistischen Frankreich oder: inszenierte Natur als Fortsetzung der Politik mit gartenbautechnischen Mitteln. In: Oesterle, Tausch: Garten. S. 201-227. 570 William Shakespeare: Julius Cäsar. III. Akt, 2. Szene. In: William Shakespeare: Gesamtwerk. Herausgegeben von L. L. Schücking. Dritter Band. Augsburg 1995, S. 345416, hier S. 391. 571 Vgl. Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. Hildesheim 1985. 572 Warnke: Politische Landschaft, S. 96. 573 Vgl. Gamper: Natur, S. 42f.

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Fürstenhüte, Hofpracht und eitles Glanzwerk stolz und verschmähend von sich ab.«574 Der Kulturwissenschaftler Reinhard Krüger verweist auf die Parallelen zum Natürlichkeitsdiskurs in der zeitgenössischen Theatertheorie Diderots oder Lessings – bei Letzterem mit Bezug auf Pierre Rémond de Saint-Albine –, die die Schauspieler von einer absolutistischen Körperdisziplin befreien wollten, wohlwissend, dass Individualität und Natürlichkeit auf der Bühne nicht anders zu erreichen waren als durch die Inszenierung konventionalisierter Zeichen. Diesen Widerspruch teilte das Theater mit der Gartenbaukunst. Für den Umgang mit Natur biete sich, so Krüger, eine Lösung an: »Der Ausweg aus dieser Ausweglosigkeit und aus dem Dilemma von NichtNatur und inszenierter Natürlichkeit wird dort gefunden, wo noch Natur imaginiert werden kann, nämlich im kolonialen Paradies.«575 Diese Flucht blieb dem Theater verwehrt und wird in gewisser Weise, als systematische schauspieltheoretische Erschließung des Unbewussten, durch die frühen Arbeiten Konstantin Stanislawskis paraphrasiert.576 Auch der Kunsthistoriker Adrian von Buttlar sieht, mit Bezug auf Lang, in der englischen Gartengestaltung Analogien zur Theaterpraxis der Zeit, namentlich zum Bühnenbildbau. Er interpretiert die gärtnerischen Raumkonfigurationen als Szenerien und besonders die Hintergründe, das heißt die durch das Ha-Ha visuell erschlossene Landschaft, als Kulisse: »Nun geht es darum, wie im Theater, das Panorama der Freilandschaft als eine hinterfangende Kulisse in das Garteninnere hineinzuziehen.«577 Von Buttlar versteht, um auf die politische Dimension des Englischen Gartens zurückzukommen, das bürgerliche Landhaus samt Garten als ein eigentliches Symbol einer Weltsicht, die sich als geistesgeschichtliches Rückgrat der industriekapitalistischen Wirtschaftsordnung erwies. Von Buttlar interpretiert Haus und Garten als »Gesamtkunstwerk«,578 das als Gegensatz zur barocken Schlossanlage gedacht gewesen sei und eine »unregelmäßige, ihre Grenze zur freien Landschaft hin auflösende Anlage« darstellte. Das Landhaus repräsentierte ein neues soziales Ideal, die »Vorstellung von einer liberalen Gesellschaft, in der die freien Subjekte nur aus ihrer Bindung an Natur in innerer Sittlichkeit zusammengehalten würden«.579 Insofern

574 Joseph Rückert: Bemerkungen über Weimar, 1799. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Eberhard Haufe. Weimar 1969, S. 25. 575 Krüger: Versailles, S. 227. 576 Vgl. Jens Roselt (Hg.): Seelen mit Methode: Schauspieltheorien vom Barock- bis zum postdramatischen Theater. Berlin 2005. 577 Adrian von Buttlar: Der englische Landsitz 1715-1760: Symbol eines liberalen Weltentwurfs. Mittenwald 1982, S. 67. 578 Von Buttlar: Landsitz, S. 14. 579 Von Buttlar: Landsitz, S. 19.

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ist es alles andere als Zufall, dass das Landschaftsgartenideal in privatem Rahmen, als ästhetische Illustration einer auf die Freiheit des Individuums aufbauenden Ideologie, entwickelt und erprobt wurde, denn der Begriff »Individuum«, Kern des Liberalismus, erscheint in diesem Zusammenhang als Philosophem des Begriffs »privat«. Der ideologische Gartendiskurs lief allerdings ebenfalls auf einen pädagogischen Ansatz in dem Sinne hinaus, dass durch die Gestaltung von Gewächsen und Grünanlagen das Abstraktum »Freiheit« als in der Natur angelegter Modus des Existierens propagiert und vorgeschlagen wurde, sowohl Individuum wie Gesellschaft unter dieser Prämisse zu betrachten und zu formen. Ludwig Tieck machte sich 1831, nachdem sich viele mit Aufklärung und Revolution verbundene Hoffnungen in Luft aufgelöst hatten, über diesen Anspruch mit folgenden Worten lustig: »Möglich, (und der Gedanke ist erfreulich), dass die Menschheit so hoch steigt, dass man in Zukunft einen Verbrecher oder gottlosen Zweifler nur in das Gatterthor eines Gartens sanft einschiebt, um ihn nach zwei, drei Stunden jenseits als Gläubigen, Überzeugten und Tugendhaften wieder herauszulassen.«580 Tiecks Kritik richtete sich gegen den in seinen Augen naiven Glauben, Gartenbau könne die Menschen bessern. In Englischen Landschaftsgärten kommt aber neben dieser auf das Individuum bezogenen Freiheitskonzeption auch ein übergreifender, raumpolitischer Zugriff zum Ausdruck. Die Gestaltung der Englischen Gärten nach dem Vorbild der Landschaft und die Gestaltung der Landschaft nach dem Vorbild der Gärten erzeugten die Illusion eines ununterbrochenen Ganzen. Die Gliederung der Welt nach funktionalen Aspekten war darin ebenso nur in Nuancen zu sehen wie die Teilung nach Besitz. Weidende Herden waren ein beliebter Hintergrund für die näher am Herrenhaus gelegenen Teile des Gartens. Auch diesem Bedürfnis kamen die Ha-Has entgegen. Schafe weideten von außen die Böschung ab und wurden so zum Bestandteil des vom Garten aus und durch diesen hindurch betrachteten Landschaftsbildes, gelangten aber, der Mauer wegen, nicht in ihn hinein. Das ergab nicht nur eine agrarlandschaftliche Idylle, sondern bildete reale ökonomische Verhältnisse ab. Die Umstellung der englischen Landwirtschaft auf Viehund im Besonderen auf die Schafzucht vollzog sich nämlich vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzung größten Ausmaßes, der Industrialisierung. Schafe lieferten den Rohstoff für die aufblühende englische Textilindustrie und deckten, zusammen mit den anderen Nutztierzuchten, die Fleischversorgung für die wachsende Bevölkerung. Vorbereitet und begleitet wurde dieser Prozess durch einen weit reichenden Enteignungsvorgang, den Marx im »Kapital« als »parlamentarische Form des Raubs« beschrieben hat: »Die parla-

580 Ludwig Tieck: Der Jahrmarkt. In: Ludwig Tieck: Schriften. Zwanzigster Band. Novellen. Berlin 1853, S. 3-180, hier S. 58.

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mentarische Form des Raubs ist die der ›Bills for Inclosures of Commons‹ (Gesetz für Einhegung des Gemeindelandes), in anderen Worten Dekrete, wodurch die Grundherrn Volksland sich selbst als Privateigentum schenken.«581 Diese Parlamentsbeschlüsse legalisierten eine bereits seit dem 16. Jahrhundert – nicht nur in England – betriebene Praxis der Überführung gemeinschaftlich genutzten Landes, der Allmende, in Privatbesitz mittels Einzäunung.582 Zum Zweck der Amelioration und Arrondierung von Großgrundbesitz, auch im Dienste der intensiven Schafzucht, waren zudem Enteignungen von Kleinbauern legitim und gängig.583 Diese Beugung alten Bodenrechts und die Überwindung überkommener Agrarverfassungen hatten fatale Folgen für die Landbevölkerung, die zum Teil komplett verarmte und sich veranlasst sah, in die Städte und Industriezentren zu emigrieren, um dort unter völlig veränderten ökonomischen Bedingungen ihr Überleben zu sichern. In gewisser Weise wurde die sich so bildende englische Arbeiterklasse Opfer einer grimmig ironischen Wendung der Geschichte, indem sie, zugespitzt formuliert, gezwungen wurde, an den Maschinen der englischen Textilindustrie die Wolle jener Schafe zu verarbeiten, durch welche sie von ihrem Land vertrieben worden war. Die Entwicklung der Englischen Landschaftsgartenarchitektur stand insofern in einem weiteren, über den Wandel ästhetischer Moden hinausgehenden Zusammenhang. Die Industrialisierung hatte große gesellschaftliche Umwälzungen zur Folge und ging auch am Bild der Landschaft außerhalb der Gärten nicht spurlos vorbei. Städte und Dörfer veränderten sich als Produktionsstandorte gemäß den Bedürfnissen der Industrie, die Architektur reagierte auf die neuen Aufgaben, der Verbrauch von Land und Ressourcen nahm erheblich zu. Der englische Maler Joseph Wright of Derby bildete diesen Prozess 1738 in seinem Gemälde der Spinnerei in Cromford ab. (Abb. 19) Die Fabrik gehörte dem Industriellen Richard Arkwright, dem Erfinder der wasserbetriebenen Spinnmaschine, der so genannten Waterframe, die der industriellen Textilproduktion zum Durchbruch verhalf. Wrights Bild schwankt zwischen der Faszination für das gewaltige Gebäude und einer Ahnung der Gefahr, die von ihm ausgeht. Wright zeigt die Arbeit, die verrichtet wird, nur indirekt, denn die Fabrik ist hell erleuchtet. Die Nacht ist bereits herein- oder der Tag noch nicht angebrochen. Doch gerade diese Unsichtbarkeit von Mühsal evoziert eine Atmosphäre der Bedrohlichkeit, die, noch bevor Edmund Burke seine »Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen« veröffent-

581 Marx, Engels: Kapital und Manifest, S. 827. 582 Vgl. z.B. Rachel Crawford: Poetry, Enclosure, and the Vernacular Landscape 17001830. Cambridge 2002. 583 Vgl. Hans Hausherr: Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit vom Ende des 14. bis zur Höhe des 19. Jahrhunderts. Köln, Wien 1970.

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licht hatte,584 die Konzeption des Erhabenen als Lust an der ästhetisch überwundenen Gefahr antizipiert, und zwar nicht allein anhand erhabener Natur, sondern in deren seltsamem Zusammenspiel mit Industriearchitektur und menschlicher Tätigkeit. Auch nichts zu sehen ist von der konkreten Zerstörung, die vom Betrieb in der Fabrik ausging. Die Automatisierung der Textilproduktion basierte auf der Eisenverhüttung, die dem Maschinenbau vorausging und enorme Mengen von Holz verbrauchte, was – nicht zum ersten Mal in der Wirtschaftsgeschichte Europas – einen regelrechten Kahlschlag zur Folge hatte.585 Der Historiker Marcus Sandl beschreibt, wovon sich die neue, liberale Wirtschaftsordnung abgrenzte: Noch im 18. Jahrhundert übte die Wissenschaft der Kameralistik entscheidenden Einfluss sowohl auf das Verständnis als auch das Aussehen von Landschaft aus, indem sie das »Verhältnis von Landeskultivierung und polizeilicher Raumkoordination«586 zu systematisieren begann. Das ganze Land wurde so zu einem planerisch erfassten und technisch hergestellten Ganzen, in dem Politik, Natur und Ökonomie als Landschaft zusammentraten. Dabei bildeten Gärten für die Studierenden ein wichtiges mnemotechnisches Instrument, weil sie sich dort, die gartenbauliche Ordnung abschreitend, das kameralistische Wissen aneignen konnten. Der Garten in Miniatur stand für ein zu bewirtschaftendes Landgut, dessen sachgemäße Führung die Grundlage einer funktionierenden Nationalökonomie bildete. »Die Grundgedanken der Staatswirtschaft fanden sich mithin hier wieder. […] Die Einrichtung kultivierter Räume und die Herstellung ökonomischer Beziehungen wurden im Garten entworfen und exerziert.«587 Das bedeutet, dass die Ökonomie nicht nach einem inneren, abstrakten Prinzip zu verstehen war, sondern durchaus äußerlich, nach ihrem Erscheinungsbild als räumliche Ordnung. »Es gab mit anderen Worten keine ökonomische Metasprache, die es gestattet hätte, die Ökonomie von der Ästhetik abzugrenzen und sie als genuin ökonomische Theorie mit eigenen Prinzipien zu setzen. Auch die ökonomische Ordnung war eine äußerliche, sinnlich erfahrbare Ordnung […]. Die Notwendigkeit der beschriebenen Strukturen lag stets in den Dingen selbst

584 Vgl. Kapitel 4.6.1. 585 Vgl. z.B. Alfred Barthelmess: Landschaft, Lebensraum des Menschen: Probleme von Landschaftsschutz und Landschaftspflege geschichtlich dargestellt und dokumentiert. München 1987. 586 Vgl. Marcus Sandl: Landeskultivierung und Raumkoordination. Landschaft im Spannungsfeld von Policey und Oeconomie. In: Oesterle, Tausch: Garten, S. 73-91, hier S. 75. 587 Sandl: Landeskultivierung, S. 89.

272 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER und nie in einem außerhalb liegenden systemexternen Prinzip, wie es später das Marktprinzip werden sollte.«588

Das heißt, die Kameralistik bildete den wissenschaftlichen Rahmen, in dem Landschaft systematisch und planerisch nach staatswirtschaftlichem Gutdünken gestaltet wurde. Zu dem Zeitpunkt, als die Englischen Gärten zum neuen ästhetischen Ideal wurden, war von einem staatswirtschaftlichen Interesse nicht mehr die Rede. Das Marktprinzip war zum bestimmenden Parameter geworden, allen voran in den Überlegungen von Adam Smith, wie erst dessen »Theorie der ethischen Gefühle«589 von 1759 und dann besonders 1776 die Untersuchung über den »Wohlstand der Nationen«590 zeigten. Die Englischen Landschaftsgärten reflektieren in gewisser Weise die Prozesse der intensivierten Industrialisierung und die Verhältnisse, unter denen sie stattfand, das heißt der ideologischen und realpraktischen Etablierung des Liberalismus. Folgt man dem Gedanken, dass das entscheidende Merkmal dieser Gartenarchitektur die illusionistische Auflösung der Grenze zwischen Garten und Landschaft – repräsentiert durch das Ha-Ha – ist, stehen diese Gärten für einen gesteigerten Anspruch auf Aneignung von bisher außerhalb der bisherigen Einflusssphäre von Privaten sich befindlicher Dinge, namentlich von Natur und Arbeit in ihrer vorindustriellen Form. Insofern wäre das Landschaftsgartenideal als Ästhetisierung eines gewaltsamen Zugriffs, eines Übergriffs auf die Umgebung des Privaten zu verstehen, und zwar mit Hilfe eines durch nichts behinderten, aber alles privatisierenden Blicks vom privaten Garten aus. Darin ein freiheitliches Potenzial zu sehen, konnte nur noch unter einer bestimmten, an private Interessen gebundenen Perspektive gelingen, die unter Freiheit Verfügungsgewalt verstand, ästhetisiert im Englischen Landschaftsgarten. Insofern bestätigt sich die Vermutung, dass die Entwicklung eines bestimmten ästhetischen Landschaftsideals von Diskursen geprägt und durchsetzt ist, die nicht einem ästhetischen Feld im engeren Sinn entsprechen, sondern im geschilderten Sinn politisch sind. Deshalb wird man auch den in diesem Beispiel sich etablierenden Landschaftsbegriff nicht als einen rein kunstästhetischen und schon gar nicht als einen nur von kunstästhetischen Vorbildern abgeleiteten verstehen können. Es ist unmöglich, das Politische an diesen Landschaften zu übersehen und gleichzeitig ist es ebenso unmöglich, sie darauf zu reduzieren. An ihnen lässt sich zwar nicht bestimmen, jedoch beschreiben und erkennen, was politische Ästhetik ist, was politische Landschaften sind. Die vier diskutierten historischen Beispiele haben gezeigt,

588 Sandl: Landeskultivierung, S. 90. 589 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle. Hamburg 2004. 590 Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen: Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. München 2005.

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wie widersprüchlich und offen das Konzept »Landschaft« insgesamt geblieben ist. Das trifft nicht nur auf die überlieferten Vorstellungen von »Landschaft« zu, sondern auch auf zeitgenössische. Letztere beginnen ohnehin erst in jüngster Zeit damit, sich von der tradierten zu unterscheiden. Das tun sie dafür wesentlich und stellen damit Fragen nach der Gestaltung und Wahrnehmung von Lebensräumen und das wiederum sind eminent politische Fragen, wie das folgende Kapitel zeigt.

5 Zeitgenössische Landschaftstheorien

5.1 I NKLUSION Nachdem Landschaft aus der Fachsprache der Geographie entfernt und zu einem Gegenstand von weitgehend kunsthistorischem Interesse geworden ist, erlebt der Begriff im Umfeld der verschiedenen akademischen Neuorientierungen und Turns in jüngster Zeit eine Renaissance.1 Landschaft wird neu konzeptualisiert. Neuere Landschaftstheorien – und damit sind solche gemeint, die, unter Bezugnahme auf frühere Quellen, nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert wurden – zeigen verschiedene inhaltliche Ähnlichkeiten und eine grundsätzliche Übereinstimmung: die Abkehr vom ästhetischen Landschaftsbegriff. Landschaft als das kodifizierte Ergebnis ästhetischer Betrachtung verliert in diesen Theorien an Bedeutung. Grund dafür ist die verbreitete Einsicht, dass die Geschichte des ästhetischen Landschaftsbegriffs zu einer Fixierung bestimmter Vorstellungen von Landschaft geführt habe, die sich erstens nur an »schönen« Landschaften orientiere und dadurch zweitens den Blick auf das, was wirklich da sei, verstelle. Thomas Sieverts nennt dieses NichtGesehene in Anlehnung an Wolfgang Welsch2 das »Anästhetische, das normalerweise nicht bewusst Wahrgenommene«,3 und bestimmt es so als das eigentliche Negativ dessen, was hier als Gegenstand der Ästhetik verstanden wird.4 Genau dieses »Anästhetische« bilde aber heute zur Hauptsache Landschaft, für die Sieverts einen neuen Namen findet. Er nennt sie »Zwischenstadt«.5 Daraus folgt, dass Landschaft im traditionellen Sinn selbst auch kein Wahrnehmungsgegenstand mehr wä-

1

Vgl. Kapitel 3.2 und 3.3.

2

Welsch: Ästhetik und Anästhetik.

3

Thomas Sieverts: Zwischenstadt, S. 107.

4

Vgl. Kapitel 4.6.

5

Sieverts: Zwischenstadt. Und Thomas Sieverts, Michael Koch, Ursula Stein, Michael Steinbusch: Zwischenstadt – Inzwischen Stadt? Entdecken, begreifen, verändern. Wuppertal 2005. Vgl. Kapitel 5.5.

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re, sondern eigentlich nur noch Erinnerung.6 Dieser Inkongruenz von Welt und Vorstellung begegnen neuere und zeitgenössische Landschaftstheorien mit scharfer Abgrenzung und dem Versuch, angemessene, aktualisierte Wahrnehmungsstrategien und Beschreibungsmuster dessen zu entwickeln, was einen als gebaute und ungebaute Gegend umgibt. Bisweilen ist diesen Abgrenzungsversuchen von der überlieferten und als einschränkend empfundenen Landschaftsästhetik selbst eine gewisse Verengung des Blicks auf bestimmte Schönheitsideale eigen. Das, wovon sich neuere Landschaftstheorien lossagen wollen, macht nur einen, wenn auch dominanten, Teil des breiten Spektrums von historischen Landschaftsvorstellungen aus, selbst dann, wenn man sich auf eine bereits selektive Beschränkung auf die mittels Kunst vermittelten Bilder von Landschaft einigen könnte. Nicht alle diese Landschaften sind »schön«, wie die besprochenen Beispiele zeigen, im Gegenteil: Die Frage, ob eine bestimmte Ansicht einer bestimmten Gegend als schön gilt und welche überhaupt wahrgenommen wird, macht ja gerade die historisch konkrete Mechanik ästhetischer Auseinandersetzung aus. Nicht immer waren Landschaftsvorstellungen »prospects of pastoral innocence«,7 deren unterstellter Harmlosigkeit man heute mit heroischem Realismus begegnen müsste. Solche Grenzziehungen haben mitunter erstaunliche theoretische Rückschritte zur Folge. Einer davon besteht darin, Landschaft als Gegenstand empirischer Untersuchung zu verstehen, sie zu objektivieren, ähnlich, wie es die Geographie des 19. und 20. Jahrhunderts getan hat. Besonders Landschaftstheorien amerikanischer Provenienz, die einerseits tatsächlich von landschaftsgeographischen Fragestellungen inspiriert worden sind und andererseits entscheidend zu deren Aktualisierung beigetragen haben, zeigen solche Tendenzen. Das ändert nichts an der Brillanz der entstandenen Weltbeschreibungen, führt aber dazu, dass, wiederum zum Beispiel bei Thomas Sieverts,8 die eigentlich überwunden geglaubte Frage auftaucht, wie neue Landschaften angemessen – und zwar in instrumentellem Sinn im Hinblick auf ein damit zu erreichendes Ziel – dargestellt werden könnten. Das bedeutet, dass mit dem Begriff »Landschaft« nicht mehr die Darstellung einer Gegend gemeint ist, sondern die Gegend selbst, vor oder in der ein sie ratlos wahrnehmendes Subjekt sich befindet. Dieser produktive Bezug zwischen Subjekt und Objekt, im ästhetischen Landschaftsbegriff mitgedacht, wird in neueren Landschaftstheorien bisweilen verneint, um einen ver-

6

Vgl. Jakob Hans Josef Schneider, Rolf Peter Sieferle, Jean-Pierre Wils: Natur als Erinnerung? Annäherung an eine müde Diva. Tübingen 1992.

7

Alex Wall: Programming the Urban Surface. In: James Corner (Hg.): Recovering Landscape. Essays in Contemporary Landscape Architecture. New York, Princeton 1999, S. 233.

8

Vgl. Sieverts: Zwischenstadt.

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meintlich klaren Blick auf das Ding selbst zu gewinnen. Dass das nicht funktioniert, zeigt sich allein schon darin, dass der Ausgangspunkt solcher Überlegungen meistens aus dem Erstaunen über die Unverständlichkeit, manchmal die Hässlichkeit der Welt im Sinne ihrer gestalteten und scheinbar ungestalteten Erscheinung, entsteht, aus Kategorien also, die durch und durch ästhetisch sind. Das progressive Element neuer Landschaftstheorien läge ja gerade darin, neue Formen der landschaftlichen Wahrnehmung, neue Landschaftsästhetiken zu antizipieren und zu beschreiben, die nicht auf die tradierte »Technologie des Blicks«9 beschränkt bleiben. Aber zu behaupten, Landschaft könne unabhängig von ästhetischen Kategorien beschrieben werden, ist reduktiv. Dieser Reformwille tangiert auch die Terminologie. Dem Begriff »Landschaft« wird misstraut, neue Wörter treten an seine Stelle. Allein im Englischen geistern Dutzende davon durch die Diskussion.10 Im Deutschen bietet sich der Begriff »Kulturlandschaft« an. Rainer Piepmeier hat die Kulturlandschaft, ohne den Begriff zu verwenden, dafür aber in der erwähnten Abgrenzung zum ästhetischen Landschaftsbegriff, definiert: »Für die Natur, die so als gestaltete auf den Menschen bezogen ist, möchte ich den Begriff Landschaft als nichtästhetischen einführen. […] Landschaft ist der durch menschliche Arbeit und menschliches Handeln angeeignete Raum menschlichen Lebens. Es ist der natürliche Raum, in dem der Mensch lebt und der die Natur umfasst, von dessen Ressourcen er lebt. Dieser Landschaftsbegriff konzeptualisiert also die natürlichen Gegebenheiten und die Auswirkungen der historischen Bedingungen, unter denen die Ressourcen der Natur angeeignet werden.«11

Das bedeutet, dass Bebauung, vorstädtische und städtische Situationen selbstverständlich in diesem Kulturlandschaftskonzept inbegriffen sind, eine Tatsache, die in der Kunst – die diskutierten Beispiele aus der Landschaftsmalerei haben das deutlich gemacht – längst selbstverständlich war. Weil sich die Theorie aber auf einen zu engen Ästhetikbegriff bezog, die ikonographische Tradition von Paradies und Arkadien überbewertete und sich darum teilweise wiederum reduktiv auf die Betrachtung »schöner« Landschaften konzentrierte, gewann der erweiterte Landschaftsbegriff, die Kulturlandschaft, öffnendes Potenzial.

9

Susanne Hauser: Die Sichtbarkeit der Landschaft. In: Hauser, Kamleithner: Ästhetik der Agglomeration, S. 75.

10 Vgl. z.B. Ghent Urban Studies Team (Hg.): Post ex sub dis: Urban Fragmentations and Constructions. Rotterdam 2002. 11 Piepmeier: Das Ende der ästhetischen Kategorie »Landschaft«, S. 38.

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Der Geograph Carl O. Sauer, Ideengeber der amerikanischen Cultural Landscape Studies, hatte den Begriff bereits in den 1920er Jahren modernisiert und für viele neuere Landschaftstheorien nutzbar gemacht.12 Aufbauend auf seinen methodischen Überlegungen zur Morphologie von Landschaften, versteht er Letztere als spezifische Mischung aus physischen Gegebenheiten und menschlichem Handeln. Diese Konnotation von »Kulturlandschaft« impliziert eine originäre Verbindung zwischen Land und Leuten und definiert Kulturlandschaften als unterscheidbare, individualisierte Entitäten, als Ausdruck einer jeweils eigenen Kultur – eine Vorstellung, die den traditionellen Auffassungen der Landschaftsgeographie mit all ihren kulturalistischen und nationalistischen Konsequenzen verwandt bleibt. Sauers Überlegungen betonen allerdings, und darauf bauen die späteren Cultural Landscape Studies auf, nicht die unveränderliche Eigenart einer Kulturlandschaft, sondern ihr dynamisches Zustandekommen. Kombiniert mit einem pluralistischen und offenen Kulturbegriff, ergibt das eine interessante Perspektive auf die Historizität von Kulturlandschaften, und zwar unter Berücksichtigung aller an dieser Geschichte beteiligten Gruppen und Individuen, nicht nur jener, die in einem elitären Verständnis als Kulturträger verstanden werden. Deren Entscheidungen folgen, so die zeitgenössische Auffassung, einem jeweils eigenen, partikularen Interesse und keinem übergeordneten Plan oder Gedanken, so dass sich Kultur auch nicht als ein großes Ganzes, sondern einfach als das ganze Gewordene präsentiert. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich diese Kultur und die Kulturlandschaft als ihr Ausdruck nicht wieder instrumentell idealisieren ließen, vor allem, wenn die vielen Zufälligkeiten zu einem vorgestellten Gemeinsamen zusammengefasst werden sollen. Unter den Bedingungen einer zeitgenössischen, ökonomisch dominierten Globalisierung entwickeln sich Gegenden nur noch partiell individuell. Ihre vielleicht vorhandenen, vielleicht imaginierten distinkten Merkmale werden beeinflusst und überlagert von international standardisierten, zum Teil kurzfristig zweckgebundenen Planungsergebnissen und Architekturen, über deren Existenz und Aussehen ganz woanders als vor Ort entschieden wird. Ein das Lokale und Individuelle betonender Kulturlandschaftsbegriff, der zudem noch mit einer identifizierbaren Kultur als wie auch immer zufällig entstandenem Gemeinsamem rechnet, wird diesen Umständen nicht gerecht. Eingedenk dieser Tatsache bringt Susanne Hauser die Definition eines weit gefassten Kulturlandschaftsbegriffs, den sie für absolut geeignet hält, die heutige landschaftliche Situation zu beschreiben, auf den Punkt: »Kulturlandschaft in diesem Sinne kann dann ein jegliches Stück Land beliebiger Größe

12 Vgl. Carl O. Sauer: Die Morphologie der Landschaft (1925). In: Brigitte Franzen, Stefanie Krebs (Hg.): Landschaftstheorie. Köln 2005, S. 91-107.

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bezeichnen, das irgendwann eine menschliche Zuwendung erfahren hat.«13 Aber diese Fassung des Begriffs ist zu offen – oder er vermag die alten Konnotationen nicht abzuschütteln –, als dass er sich in der Diskussion durchsetzen könnte. So bieten neuere Landschaftstheorien immer neue Begriffe an, von denen sich allerdings keiner außerhalb der jeweiligen Fachdiskurse hätte etablieren können. Der terminologischen Heterogenität zum Trotz eint viele der neueren Landschaftstheorien – neben der Absage an die alten Bilderwelten – eine gemeinsame Vorstellung von Inklusion: Landschaft steht dem Betrachter nicht mehr gegenüber, der Betrachter steht in der Landschaft drin. Hergeleitet wird das durch den angenommenen Verlust des Stadt-Land-Gegensatzes, sowohl in soziologischer wie auch architektonischer Hinsicht. Gerade in den amerikanischen Cultural Landscape Studies, deren Vertreter nicht ungern phänomenologisch vorgehen, werden oft spezifische, subjektiv erprobte Landschaftserfahrungen geltend gemacht. Es lassen sich darüber hinaus durchaus konzeptionelle Gründe für diese wahrnehmungstopologische Neuvermessung von Landschaft ausmachen. Susanne Hauser zum Beispiel versteht die traditionelle Landschaft als ein Produkt der Privilegierung des Sehsinns.14 Exemplarisch lässt sich das an der viel zitierten Metapher nachvollziehen, die der deutsche Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl gefunden hat. Er nannte die Voraussetzung für das Sichtbarwerden von Landschaft das »landschaftliche Auge«. In seinem auf 1850 datierten Aufsatz gleichen Namens beschrieb er, wie sich bildnerische Darstellungen von Landschaft erstens voneinander und zweitens vom Gegenstand ihrer Darstellung unterscheiden.15 Ihm fiel auf, dass nicht zu jeder Zeit die gleichen Landschaften als schön empfunden und zudem die Bilder solcher, die ehedem als schön galten, durch Stil und Mode dermaßen verändert wurden, dass die dargestellten Landschaften kaum wiederzuerkennen seien. Denn: »Jedes Jahrhundert hat nicht nur seine eigene Weltanschauung, sondern auch seine eigene Landschaftsanschauung.«16 Riehl, offenbar kein Freund des jüngst Vergangenen, stellte fest: »Die reine gotische Architektur, in der Zopfzeit porträtiert, sieht fast immer zopfig aus. Der in organischer Notwendigkeit durchgeführte Blätter- und Rankenschmuck wird, ohne dass es der Zeichner merkt, zum willkürlich geschweiften Rokokoschnörkel, die bis zur Höhe aufstrebenden Proportionen dehnen sich in die Breite, so dass man meinen sollte, auch das Au-

13 Susanne Hauser: Kulturlandschaft. In: Hauser, Kamleithner: Ästhetik der Agglomeration, S. 156-183, hier S. 171. 14 Vgl. Kapitel 4.1. 15 Riehl: Das landschaftliche Auge. 16 Riehl: Das landschaftliche Auge, S. 54.

280 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER genmaß wechsele. An dem Gebäude selber aber ist seit seiner Erbauung vielleicht kein Stück verrückt worden; der Zopf war gewiss nicht in das Original gefahren, er steckte nur im Auge des Zopfisten.«17

Riehl war sich im Klaren darüber, dass Landschaft eben nicht von sich aus als schön gelten könne. Selbst die »schönste Gegend« sei »bekanntlich an sich noch kein wirkliches Kunstwerk«, sie werde es erst »in dem Auge des Betrachters«.18 Umgekehrt gelte aber auch, und das sei weniger klar, dass »wer nicht im Kopfe selber schöne Landschaften malen kann, der wird draußen nie welche sehen«.19 Die Landschaft sei das »subjektivste aller Kunstwerke«, weil es »anstatt auf Holz oder Leinwand auf die Netzhaut des Auges gemalt ist«.20 Von daher die Metapher. Warum das so ist und woher die Menschen das »landschaftliche Auge« haben, erklärte Riehl nicht, es handelt sich für ihn offenbar um etwas anthropologisch Gegebenes. Mit dem Standpunkt des Betrachters jedenfalls ändere sich immer auch das Kunstwerk, und dasselbe gelte für die Generationen: Jede habe ihre eigene schöne Landschaft und wenn es die gleiche sei, sei etwas anderes an ihr schön, und so werde sie wenigstens anders dargestellt. Besonders wichtig schienen ihm dabei kunstimmanente Faktoren wie »der Wechsel des durch große Meister konventionell gewordenen Stils, die Ausartungen und Fortschritte der Technik und so weiter«.21 Riehls Vorstellung des »landschaftlichen Auges« implizierte also zusammenfassend nicht nur den nicht weiter begründeten ästhetisch-anthropologischen Faktor, sondern auch einen ästhetisch-historischen. Wilhelm Heinrich Riehl hat sich übrigens nicht nur kunsthistorisch mit Landschaft auseinandergesetzt. In seinem zwischen 1851 und 1869 erschienenen und aus vier Teilen bestehenden Hauptwerk »Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik«, das ihn zu einem der Begründer der Volkskunde werden ließ, machte er sich ausgiebig Gedanken zum Zusammenhang von Landschaft und »Nationalcharakter«.22 Er erkannte ihn, wie viele andere, verkörpert durch den »deutschen Wald«, ein Motiv, das ihm aus der Landschaftsmalerei der deutschen Romantik wohl vertraut war. Riehl äußerte sich auch kritisch zu den sozial-geographischen Entwicklungen der Industrialisierung und Verstädterung. Er sah die Familie, in seinen Augen die Keimzelle der Gesellschaft, in Gefahr und

17 Riehl: Das landschaftliche Auge, S. 72f. 18 Riehl: Das landschaftliche Auge, S. 64. 19 Riehl: Das landschaftliche Auge, S. 64. 20 Riehl: Das landschaftliche Auge, S. 64. 21 Riehl: Das landschaftliche Auge, S. 72. 22 Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl: Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik. Stuttgart 1854-1869.

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befürchtete, die naturferne Anonymität der Moderne leiste dem Sozialismus Vorschub. Riehl gab sich seit dem Revolutionsjahr 1848 offen als Konservativer und war, als Ehrenprofessor der staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität München, gesellschaftlich und bei König Maximilian II. von Bayern hoch angesehen. Riehl hielt eine bestimmte Form von Landschaft also auch für einen gesellschaftlichen Faktor, insbesondere was die hierarchische Gliederung von Gesellschaften betrifft. Darin geht Hauser mit ihm einig. Weil das Auge Landschaft aus der Ferne betrachtet, was im Bildprogramm der Landschaftskunst kanonisch geworden ist, beschreibt sie ihrerseits die Landschaft als »Distanzierung vom Wahrnehmungsgegenstand«.23 Unter diesen Terminus fasst sie auch die sozialen Distinktionsvorgänge, wie sie anhand der vorgestellten historischen Beispiele besprochen worden sind. Zuletzt bezeichnet Hauser in Anlehnung an Simmel24 den trennenden, Landschaft als Teil eines Ganzen betrachtenden Blick als funktionelle Distanzierung, weil er sich »seinen Gegenständen dezisionistisch, partikular und instrumentell«25 zuwende. Genau solche Distanzierungsprozesse werden in neueren Landschaftstheorien aber mit Nachdruck infrage gestellt. Die Vorstellung, Landschaft sei ein Gegenüber, entspricht offenbar nicht mehr der zeitgenössischen Art der Landschaftserfahrung. In heutigen Diskursen dominiert die Vorstellung, Landschaft sei nicht etwas, was einem gegenüberliege, sondern etwas, in dem man sich befinde, und zwar nicht folgenlos: »Wir glauben nicht mehr, Landschaft sei weit von unserem täglichen Leben entfernt. Im Gegenteil, wir glauben, ein Teil der Landschaft zu sein. Unsere davon abgeleitete Identität ist in einem fast pathetischen Sinne die Voraussetzung für unser In-der-Welt-Sein«,26 wie es John Brinckerhoff Jackson, ein wichtiger Vertreter der Cultural Landscape Studies, formuliert. Eigenschaften wie Totalität und Ubiquität werden betont, »Umgebung« synonymisiert »Landschaft« mittlerweile präziser als »Gegend«.27 Der Begriff der »Kulturlandschaft« schließt diese Vorstellung von Inklusion insofern bereits ein, als er die menschliche Kultur der Landschaft nicht entgegenstellt, sondern die beiden im Gegenteil zusammenzieht und synthetisiert. Nachfolgend werden einige Beispiele neuerer Landschaftstheorien kurz skizziert. Das Wort »Kulturlandschaft« kommt darin kaum vor, doch die metaphorische

23 Hauser: Sichtbarkeit der Landschaft, S. 76. 24 Vgl. Kapitel 4.4.1. 25 Hauser: Sichtbarkeit der Landschaft, S. 79. 26 John Brinckerhoff Jackson: Landschaften. Ein Resümee (1984). In: Franzen, Krebs: Landschaftstheorie, S. 29-44, hier S. 29. 27 Vgl. Kapitel 4.5.

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oder neologistische Verwendung alternativer Terminologien und die damit ausgedrückten Konzepte sind für aktuelle künstlerische Anwendungen von Bedeutung.

5.2 CORBOZ: TERRITORIUM UND PALIMPSEST Der Genfer Städtebautheoretiker André Corboz setzt sich intensiv mit der Wechselwirkung von präformierten Vorstellungen und geplanter sowie gebauter Welt auseinander. Städtebau und Architektur sind für ihn in ein Netz aus kulturellen Bildern, verbalen oder nonverbalen Diskursfiguren eingespannt. Corboz geht nicht so weit, das postmoderne Postulat von »form follows fiction«28 mit zu unterschreiben, aber die Gegenüberstellung von Vorstellung und Realität, gerade in Auseinandersetzung mit Landschaft, ist für ihn interessant, denn dort manifestiert sich das Verhältnis von Mimesis und Poiesis, wie gezeigt, besonders ausgeprägt. Corboz schlägt zum Beispiel vor, von der zeitgenössischen Kunst, zu welcher er Leute wie Pollock, Beuys und Turell zählt und die er »postkubistisch«29 nennt, zu lernen, um mit neuen Raumkonfigurationen wahrnehmungstechnisch zurechtzukommen. Initial stellt Corboz nämlich fest, dass sich die städtebauliche Situation, wie sie heute vorzufinden ist, nicht mehr mit den überlieferten Beschreibungsmustern erfassen lässt. Besonders deutlich wird das durch den Begriff »Stadt«. Er findet nach wie vor breite Verwendung, obwohl die damit beschriebenen geographischen und soziologischen Sachverhalte nicht mehr viel mit der historisch konkreten Siedlungsform zu tun haben, auf die er sich eigentlich bezieht. Die Frage lautet, ob die Art der Bebauung, in der sich heute große Teile des öffentlichen und privaten Lebens abspielen, noch mit »Stadt« bezeichnet werden kann: »›Stadt‹ nicht im herkömmlichen Sinne des Wortes als ein großes Ganzes kontinuierlich angeordneter Gebäude und als dem Land entgegengesetzt verstanden, sondern begriffen als der neue urbane Nebel, der die Schweizer Hochebene bedeckt und sich nach und nach über die nationalen Grenzen hinweg mit anderen Stadtgebilden verbindet.«30

Für Corboz lassen sich gerade an der städtebaulichen und siedlungspolitischen Entwicklung der Schweiz jene Tendenzen ablesen, die für die Landschaftstheorie heute maßgebend sind. Er sieht die Schweiz als ein »Fragment einer europäischen Galaxie der Städte«, das heißt als Teil »eines baulichen Gewebes, das beinahe ganz

28 Sieverts: Zwischenstadt, S. 187. 29 André Corboz: Auf der Suche nach »dem« Raum. In: Corboz: Die Kunst, S. 25-33, hier S. 32. 30 André Corboz: Entlang des Wegs, S. 181.

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Europa umspannt, von London bis Rom, von Barcelona bis Berlin und Prag«.31 Noch heißt, so Corboz, dieses Gewebe einfach »Stadt«, aber damit könne nicht mehr ein um ein Zentrum aufgebautes Gefüge gemeint sein, sondern »Zonen, Anhängsel[n], Ausfransungen und Enklaven, die gemeinsam mit der Stadt in dem Bereich existieren, den wir Peripherie nennen«.32 Corboz nimmt für sich nicht in Anspruch, der Erste zu sein, dem auffällt, dass die Schweiz in großen Teilen nicht so aussieht, wie sie mehrheitlich dargestellt wird, nämlich ländlich. Er verweist zum Beispiel auf den Architekten und Direktor der Landesausstellung 1939, Armin Meili, und dessen »Fragen der Landesplanung« von 193233 und, selbst überrascht, auf Rousseau, der im Januar 1763 im jurassischen Môtiers, wo er damals wohnte, eine absolut erstaunliche Beschreibung der Schweiz zu Papier brachte: »La Suisse entière est comme une grande ville divisée en treize quartiers, dont les uns sont sur les vallées, d’autres sur les côteaux, d’autres sur les montagnes. […] il y a des quartiers plus ou moins peuplés, mais tous le sont assez pour marquer qu’on est toujours dans la ville: seulement les maisons, au lieu d’être alignées, sont dispersées sans symétrie & sans ordre, comme on dit qu’étoient celles de l’ancienne Rome. On ne croit plus parcourir des déserts quand on trouve des clochers parmi les sapins, des troupeaux sur des rochers, des manufactures dans des précipices, des atteliers sur des torrens.«34

Im Gegensatz zur heutigen Situation, in der, wie Corboz selbst ausführt, das dichte Verkehrsnetz für das Zusammenwachsen der Städte im Schweizer Mittelland mitverantwortlich ist, sieht Rousseau gerade das Fehlen zuverlässiger Verkehrswege infolge der schwierigen Topographie als einen der Gründe für diese Verstädterung des Landes. Darüber hinaus macht er den politischen Partikularismus und – scheinbar paradox – die auf Weidewirtschaft gestützte und darum konsumptionsorientierte Produktionsweise dafür verantwortlich. Das von Rousseau entworfene Bild der Schweiz unterscheidet sich deutlich von dem, welches für die Identitätsbildung des damals sich noch nicht einmal abzeichnenden Nationalstaates später so wichtig werden sollte. Corboz verweist in diesem Zusammenhang auf die Wichtigkeit von Bildern und Selbstbildern im Zusammenhang mit Nationenbildung hin und kommt

31 André Corboz: Die Schweiz, Fragment einer europäischen Galaxie der Städte. In: Corboz: Die Kunst, S. 45-54, hier S. 45. 32 Corboz: Auf der Suche, S. 32. 33 Armin Meili: Fragen der Landesplanung. Landesplanung für die Schweiz. In: Die neue Stadt 6-7. Frankfurt a.M. 1932, S. 142-155. 34 Jean-Jacques Rousseau: Oeuvres Complètes. Tome VII. Correspondance I. Paris 1839, S. 454.

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entsprechend zum Schluss, »dass es kein Land gibt ohne ein damit verbundenes Imaginäres«.35 Auch hier kommt es also zu einer folgenreichen Wechselwirkung zwischen Fiktion und Realität, verbunden mit der Verortung in einer bestimmten Landschaft.36 Wie offen solche später sich unanzweifelbar gebenden Fiktionen im Moment ihrer Entstehung aber sind, zeigt das Beispiel der Beschreibung der Schweiz Mitte des 18. Jahrhunderts durch Rousseau deutlich. Um diesen Zusammenhang von Land und Beschreibung zu fassen und die heutige räumliche Situation darzustellen, führt Corboz als Ersatz für das Wort »Landschaft« den Begriff »Territorium« ein. Corboz beabsichtigt gar nicht, dessen politische Implikation hinter sich zu lassen, sondern versucht dadurch im Gegenteil, den scheinbar nur ästhetischen Begriff »Landschaft« zu politisieren. Zu diesem Zweck betont er das historische Gemacht-Sein des Territoriums: »Das Territorium ist nicht gegeben, sondern das Ergebnis unterschiedlicher Prozesse.«37 Auf diese Prozesse hat neben den Menschen auch die Natur Einfluss, hauptsächlich entstehen Territorien aber durch menschliches Tun: »Das Territorium wird, anders gesagt, zum Objekt einer Konstruktion, zu etwas Künstlichem und ist von diesem Zeitpunkt an auch ein Produkt.«38 So schließt Corboz an das Konzept der Kulturlandschaft an und rückt die Spuren der Landschaftsproduktion in den Vordergrund. Ausdruck dieser Produktion ist die »Form«39 der Territorien, die diese nicht nur haben, sondern vielmehr sind. Als Beispiel verweist er auf das römische Rastersystem, das noch heute in vielen Landschaften als Grundmuster sichtbar sei oder sich wenigstens erahnen lasse. Diese Wahrnehmung beschränke sich indes nicht auf visuelle Rekonstruktion des alten Straßen- und Katastersystems, sondern zeige sich nicht zuletzt in der Art, wie sich Menschen in einem Territorium bewegen, welche Manöver es zulasse und wie es also synästhetisch erfahren werde. Insofern sind Territorien im Sinne Corboz’ mehr als angeschaute Ausschnitte der Erdoberfläche oder Szenerien, sie sind geformte aber unabgeschlossene Produkte menschlichen Wollens und Wirkens mit stark politischer Konnotation. Eine Außenansicht solcher Territorien ist zwar nicht ausgeschlossen, Corboz transportiert aber ein starkes Bewusstsein für die Tatsache, in einem bestimmten, historisch konkreten Territorium platziert zu sein, sich in einem solchen zu befinden und an dessen Produktion mitzuwirken. Selbstverständlich findet diese Produktion nicht auf unbestelltem Boden statt: »Ein ›Ort‹ ist nichts Gegebenes, sondern das Ergebnis

35 André Corboz: Das Territorium als Palimpsest. In: Corboz: Die Kunst, S. 143-165, hier S. 149. 36 Vgl. Kapitel 4.6. 37 Corboz: Palimpsest, S. 147. 38 Corboz: Palimpsest, S. 148. 39 Corboz: Palimpsest, S. 150.

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einer Verdichtung. In den Gegenden, in denen der Mensch seit Generationen, ja mehr noch, seit Jahrtausenden ansässig ist, hat jede Zufälligkeit des Landes eine Bedeutung.«40 Landschaften oder eben Territorien sind also erstens durch und durch artefaktisch und zweitens das Resultat einer Art akkumulativer Schichtung, das Ergebnis angehäufter Geschichte. Corboz bezieht sich also auf das bereits im 17. Jahrhundert von Niels Stensen entwickelte wissenschaftliche Prinzip der Stratifikation, das vor allem in der Geologie und der Archäologie große Bedeutung hat.41 Und damit hat er auch die Metapher gefunden, die das Konzept des Territoriums und damit auch die Reformulierung des Landschaftsbegriffs auf den Punkt bringt, denn: »Die meisten dieser Schichten sind sehr dünn und zugleich voller Lücken. Vor allem fügt man ihnen nicht nur etwas hinzu, man löscht vielmehr etwas aus.«42 Ein Territorium entsteht für Corboz auf »dem alten Buch des Bodens«,43 dessen Seiten ständig wiedergelesen, allenfalls abgekratzt und neu beschrieben werden. Mit Bezug auf die Wiederverwendung mittelalterlicher Pergamente vergleicht Corboz das Territorium folgerichtig mit einem Palimpsest. Corboz ist nicht der Einzige und schon gar nicht der Erste, der sich dieser Metapher bedient. Schon der englische Essayist Thomas De Quincey verglich in seinem 1845 erschienenen Werk »Suspiria de Profundis« das menschliche Gehirn – und da vor allem die Erinnerung – mit einem Palimpsest: »What else than a natural and mighty palimpsest is the human brain? Such a palimpsest is my brain; such a palimpsest, oh reader! is yours.«44 Das menschliche Denken und Erinnern lässt sich nicht auf eine gültige Version eines Sachverhalts festlegen, sondern lebt vom Neben- und Übereinander von sich unter Umständen widersprechenden Inhalten. Dasselbe gilt für das Territorium und die Landschaft. Heute ist das Konzept in der Literatur- und Kunsttheorie weit verbreitet und findet nicht nur als Metapher, sondern auch als Analyseinstrument Anwendung.45 Auch in zeitgenössischen Landschaftsdiskursen kommt der Terminus so oft vor, dass er bereits wieder zum Gegenstand von Kritik geworden ist. Der amerikanische Geograph Pierce F. Lewis zum Beispiel warnt vor einer simplen Gleichsetzung von Landschaft und Buch, denn: »Man kann Landschaften lesen wie Bücher, aber sie sind, anders als ein Buch, nicht dazu

40 Corboz: Palimpsest, S. 164. 41 Vgl. Niels Stensen: Das Feste im Festen: Vorläufer einer Abhandlung über Festes, das in der Natur in anderem Festen eingeschlossen ist. Frankfurt a.M. 1967. 42 Corboz: Palimpsest, S. 164. 43 Corboz: Palimpsest, S. 148. 44 Thomas De Quincey: The Palimpsest. In: Thomas De Quincey: Confessions of an English Opium-Eater and Suspiria de Profundis. Boston 1864, S. 225-236, hier S. 233. 45 Vgl. z.B. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a.M. 1993.

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bestimmt, gelesen zu werden.«46 Bemängelt wird weiter die Tendenz, in einem Palimpsest so etwas wie einen Urzustand, eine ursprüngliche Bedeutung zu entdecken und freizulegen. Nicht mitgedacht sei, so meinen zum Beispiel die Geographen Stephen Daniels und Denis Cosgrove, die programmatische Oberflächlichkeit so genannter postmoderner Landschaften, die überhaupt nicht daran interessiert sei, was vorher da war. »From such a post-modern perspective landscape seems less like a palimpsest whose ›real‹ or ›authentic‹ meanings can somehow be recovered with the correct techniques, theories or ideologies, than a flickering text displayed in the word-processor screen whose meaning can be created, altered, elaborated and finally obliterated by the merest touch of a button.«47

Mit einer rhetorischen Orientierung an elektronischen Medien statt an mittelalterlichen Manuskripten ist heuristisch natürlich noch nichts gewonnen. Aber Daniels’ und Cosgroves Formulierung kommt der Beschreibung zeitgenössischer Landschaften vielleicht insofern näher, als sie auf deren Zufälligkeit und die ihnen scheinbar eigene Abwesenheit von fixierbarer Bedeutung hinweist, Eigenschaften, die in anderen Landschaftstheorien in den Vordergrund gerückt werden.

5.3 JACKSON: LANDSCHAFT 3 Die amerikanischen Cultural Landscape Studies sind aus einem transdisziplinären Forschungsfeld heraus entstanden, innerhalb dessen bereits in den 1950er Jahren über neue Phänomene in Bezug auf die Gestaltung des amerikanischen Siedlungsgebiets nachgedacht wurde. Bereits damals wurden in den Vereinigten Staaten Entwicklungen offensichtlich, die mit den klassischen städtebau- und landschaftstheoretischen Beschreibungen kaum mehr zu fassen waren. John Brinckerhoff Jackson war einer der ersten und einflussreichsten Theoretiker in diesem Forschungsfeld. Er beschäftigte sich intensiv mit der von ihm so genannten vernakulären Landschaft und interpretierte das Erscheinungsbild des alltäglichen Amerika als Ausdruck einer spezifischen Kultur. Vernakulär im Sinne von »einheimisch« waren für ihn Bau- und Siedlungsformen, die aus den lokalen Formen des Handwerks und der Lebensführung entstehen und die keinen Anspruch

46 Pierce F. Lewis: Axiome zum Lesen der Landschaft: Anleitung für den Schauplatz Amerika (1979). In: Franzen, Krebs: Landschaftstheorie, S. 154-177, hier S. 155. 47 Stephen Daniels, Denis Cosgrove: Introduction: Iconography and landscape. In: Denis Cosgrove, Stephen Daniels (Hg.): The iconography of landscape. Cambridge 1988, S. 110, hier S. 8.

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auf höherrangige Bedeutungsebenen erheben, sondern einfach dazu da sind, der alltäglichen Nutzung zu dienen. »Daraus folgt nun meines Erachtens, dass man auch von einer vernakulären Landschaft sprechen kann, dort wo Hinweise auf die politische Organisation des Raums größtenteils oder sogar völlig fehlen.«48 Das heißt, so Jackson, vernakuläre Landschaften sind kleinräumig, von unregelmäßiger Form und, sowohl hinsichtlich ihrer Nutzung als auch hinsichtlich der an sie gebundenen Eigentumsrechte, temporär: »Fast-Food Restaurants, die nach einem Jahr schon wieder abgerissen werden, Felder, deren Anbauprodukte sich je nach Weltmarkt- und Subventionslage ständig ändern, Wohnwagenparks, die nach den Ferien verschwinden, Tropenlandschaften in Shopping-Malls, die jedes Jahr ausgewechselt werden.«49 Mobilität und Wandel sind das prägende Element vernakulärer Landschaften, was auf die tendenzielle Unsicherheit der Bewohner hindeutet und auf deren »unerschöpflichen Einfallsreichtum für kurzfristige Lösungen«.50 Diese Bewohner hinterlassen keine Monumente, nichts Bleibendes, »sondern nur Zeichen des Aufgebens oder Erneuerns«.51 Jackson entwickelte die Idee des Vernakulären zu einer historischen Typologie der Landschaft weiter. Er unterschied drei Arten von Landschaftstypen, die über lange Zeiträume den Kerngehalt des jeweils aktuellen Landschaftskonzepts bildeten. Jackson bezeichnete diese drei Typen nüchtern als Landschaft 1, Landschaft 2 und Landschaft 3. Landschaft 1 nennt Jackson die frühe mittelalterliche Landschaft Europas. Sie ist für ihn deutlich durch das Vernakuläre geprägt. Die Menschen organisieren sich in ihr kleinräumig und pragmatisch, vieles ist ephemer, die Spuren davon verschwinden. Bodennutzungs- und Eigentumsrechte sind noch nicht überall fixiert. Jackson stellt sich das kleine Dorf als vorherrschende Form der Besiedlung vor, »in einem Meer von Ödland und Wildnis« liegen die Dörfer wie »Inseln«, die sich »von Generation zu Generation verändern«.52 Landschaft 2 entsteht gemäß Jackson in der Renaissance. Sie entspricht dem ästhetischen Landschaftsbegriff und hat die abendländische Kulturgeschichte bis heute geprägt. Sie wird über das Auge wahrgenommen, als Szenerie verstanden und findet in der Kunst ihr Abbild. Das hauptsächliche Merkmal der Landschaft 2 besteht darin, »eindeutig und unumstößlich definiert«53 zu sein:

48 Jackson: Landschaften, S. 34. 49 Martin Prominski: Landschaft entwerfen. Zur Theorie aktueller Landschaftsarchitektur. Berlin 2004, S. 58. 50 Jackson: Landschaften, S. 36. 51 Jackson: Landschaften, S. 36. 52 Jackson: Landschaften, S. 36. 53 Jackson: Landschaften, S. 37.

288 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER »Im Gegensatz zur Landschaft Eins, die sich aus vielen verschiedenen, unterschiedlich genutzten Räumen zusammensetzt, besteht Landschaft Zwei aus homogenen, auf einen ausschließlichen Zweck gerichteten Räumen. Sie unterscheidet zwischen Stadt und Land, Feld und Wald, zwischen öffentlich und privat, arm und reich, Arbeit und Freizeit. Darüber hinaus bevorzugt sie in Abgrenzung vom mittelalterlichen Flickenteppich sich überlagernder Territorien eine klare Grenzlinie zwischen Nationen.«54

Als entscheidendes ideologisches Schema der Landschaft 2 identifiziert Jackson den Glauben an die Heiligkeit des Ortes. Durch ihn werden Vorstellungen von Permanenz und Beständigkeit evoziert, auf denen die neuzeitliche Konzeption von Identität aufbaut. Die Landschaft 2 verortet und territorialisiert Identität, was sich vor allem in einem gesteigerten Bodenbesitzanspruch äußert, so dass Landschaft 2, wie Jackson meint, Eigentum und Macht bedeutet. In Landschaft 3 erkennt Jackson das Amerika seiner Zeit. Landschaft 3 ist das Siedlungsbild der Gegenwart, und zwar mittlerweile auf der ganzen Welt. In Landschaft 3 sieht Jackson viele Ähnlichkeiten mit Landschaft 1 und nennt sie daher folgerichtig ebenfalls vernakulär: »Unsere vernakuläre Landschaft zeichnet sich durch eine beispiellose Vitalität und Diversität aus, aber sie ähnelt der Landschaft Eins in ihrem distanzierten Verhältnis zum formalen Raum, ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte und in ihrem hochgradig utilitaristischen, gewissenlosen Umgang mit der Umwelt.«55

Die verschiedenen Landschaftstypen existieren nebeneinander und überlagern sich an vielen Orten. Europa ist da, wo es als alt, schön und schützenswert angesehen wird, noch immer Landschaft 2. Auch die Gestalt der Vereinigten Staaten basierte ursprünglich auf einem ästhetischen Landschaftskonzept. Der Homestead Act von 1862, der das Land in rasterförmige Parzellen unterteilte, baute auf dem Glauben an die Schönheit und Zweckmäßigkeit der Geometrie auf.56 Thomas Jeffersons Land Law aus dem Jahre 1800 hat diese Politik vorbereitet. Das Gesetz regelte den Verkauf von scheinbar verfügbarem Land und hatte eine agrarwirtschaftlich orientierte Gesellschaft freier, gleichgestellter – weil mit gleichem Bodenbesitz ausgestatteter – Bürger zum Ziel. Doch dieser im Grunde harmonikale Ansatz entsprach nicht den Realitäten des neu eroberten Landes, und die entstehende amerikanische Gesellschaft entwickelte

54 Jackson: Landschaften, S. 37. 55 Jackson: Landschaften, S. 40. 56 Vgl. Stefan Kaufmann: Landschaftsordnung der Moderne – Das American Grid System. In: Kaufmann: Soziologie der Landschaft, S. 161-318.

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sich rasch in eine andere Richtung, was eben auch im Entstehen der Landschaft 3 zum Ausdruck kam. Jackson führt das auf die Tatsache zurück, dass in der nordamerikanischen Gesellschaft viel von der Kolonialgesellschaft übrig geblieben ist, die sie von Anfang an war. Im Besonderen meint er damit »ihre Mobilität, ihre Anpassungsfähigkeit, ihre Vorliebe für das Transitorische und Flüchtige«.57 Jacksons Punkt liegt darin, die Erscheinungsformen der Landschaft 3 als genauso respektabel zu betrachten wie die hochkulturell geschätzten Elemente und Darstellungen der Landschaft 2. Die Landschaft 3 ist in Jacksons Augen der Ausdruck einer historisch konkreten, gegenwärtigen Kultur. Diesen Ansatz formulierten Robert Venturi, Denise Scott und Steven Izenour, alle Freunde Jacksons, in ihrem einflussreichen, 1972 erstmals erschienenen Buch »Learning from Las Vegas« zu einer eigentlichen Theorie des Vernakulären in der postmodernen Stadt aus.58 Das Leben Jacksons war nicht von denselben volatilen Umständen geprägt, die er als Gestaltungskräfte der vernakulären Landschaft schätzte. Er hatte eine gute, an klassischer Bildung orientierte Ausbildung in Europa genossen. Später lebte er in den Vereinigten Staaten als Privatier von einem Vermögen, das seine Familie – Ironie der Geschichte – mit Bodenspekulation in den New Yorker Vororten gemacht hatte. Jackson setzte sich als engagierter Publizist genau mit jenen gesellschaftlichen Kräften auseinander, die zur Entwicklung des so genannten »Sprawl«, des Siedlungsbreis in den Agglomerationen der Städte, führte, der das Erscheinungsbild der amerikanischen Landschaft, der Landschaft 3, spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg unwiderruflich zu dominieren begann. Seit 1951 publizierte Jackson die Zeitschrift »Landscape«, in welcher sich die theoretische Debatte über die neue amerikanische Landschaft sammelte und konzentrierte. »Landscape« wurde zum eigentlichen Zentralorgan der sich etablierenden Cultural Landscape Studies, und Jackson, der das Periodikum aus eigenem Sack finanzierte, ließ es sich nicht nehmen, sich unter verschiedenen Pseudonymen darin zu Wort zu melden, was ihn zu einem noch heute geschätzten, äußerst vielschichtigen Ideengeber neuerer Landschaftstheorien machte. Viele der Artikel in »Landscape« fragten soziologisch nach Einfluss des Einzelnen auf kollektive, gesamtgesellschaftliche Strukturen und damit auf das Aussehen von Landschaften, die als Ausdruck einer spezifischen Kultur betrachtet wurden. Wie diese Kultur durch individuelle Entscheidungen geprägt und wie umgekehrt das Individuum durch die es umgebende Gesellschaft gelenkt wird – diesem Rätsel hoffte man durch die genaue Beschreibung, durch Analyse und Interpretation von Landschaften auf die Spur zu kommen. Das bedeutete einerseits, die Art und Weise

57 Jackson: Landschaften, S. 40. 58 Robert Venturi, Denise Scott, Steven Izenour: Learning from Las Vegas. Cambridge 1977.

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zu erforschen, wie Menschen Landschaften wahrnehmen, und andererseits, Landschaft als »Arena des Handelns und gesellschaftlicher Strukturen« zu begreifen, mithin eine »Verlagerung des Blicks weg von Landschaft als passivem Resultat menschlicher Aktivitäten hin zur Landschaft als Akteurin sozialer, wirtschaftlicher und politischer Prozesse«.59 Dieser Aspekt der Auseinandersetzung mit Landschaft hat sich in jüngster Zeit verstärkt. Bedeutung und Nutzen des Begriffs »Kultur« werden heute stark infrage gestellt, der Terminus selbst nicht selten ganz vermieden. Dies, weil die in einer Gesellschaft sich Geltung verschaffenden Herrschaftsansprüche, die Konfliktlinien, Ideologien und Illusionen hinter dem Begriff »Kultur« verschwinden, was nicht zuletzt den Blick auf die Beschaffenheit und das Entstehen von Landschaften verstellt. Jackson hat mit seinem dynamischen Verständnis von Landschaft einen guten Boden für diese theoretischen Entwicklungen gelegt, ohne dass sie ihm selbst bereits völlig klar gewesen wären. Sein Bemühen, verfemte und missachtete Siedlungs- und Landschaftsformen in ein positives Licht zu rücken, führte dazu, dass ihm – das zeigt auch seine anfänglich euphorische Beurteilung der Mobilität und der »auto-vernakuläre[n] Landschaft«60 – diese Raumkonfigurationen konstituierenden Konflikte entgingen. Dabei hatte Jackson selbst Landschaft als dynamisches, gemachtes Gebilde bestimmt und das Individuum in Bezug dazu inner-, nicht außerhalb davon situiert. Die Tatsache, dass er diese Position sowohl theoretisch wie praktisch nicht als mobile verstand, entspricht den zeitgenössischen Wahrnehmungsformen der Landschaft 3, was viel zu deren Sicht- und Beschreibbarkeit beigetragen hat.

5.4 SIEFERLE: TOTALE LANDSCHAFT Auch der Historiker Rolf Peter Sieferle glaubt, die Geschichte der Landschaft in drei Teile zerlegen zu können. In seinem 1997 erschienenen Buch »Rückblick auf die Natur« stellt er die Frage, wie sich die menschliche Nutzung von natürlichen Ressourcen in der Landschaft niederschlägt und wie sich Letztere im Verlauf der Geschichte verändert hat.61 Diese Geschichte präsentiert sich für Sieferle als Transformationsprozess von Natur zu Kultur, was sich in den drei Schritten der Land-

59 Paul Groth, Chris Wilson: Die Polyphonie der Cultural Landscape Studies (2003). In: Franzen, Krebs: Landschaftstheorie, S. 58-90, hier S. 73. 60 John Brinckerhoff Jackson: Die Zukunft des Vernakulären (1990). In: Franzen, Krebs: Landschaftstheorie, S. 45-56, hier S. 54. 61 Rolf Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur: Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt. München 1997.

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schaftsentwicklung ablesen lässt. Sieferle nennt sie: »Naturlandschaft«, »AgriKulturlandschaft« und »totale Landschaft«. Sieferle versteht dabei Landschaft als historisch konkretes Erscheinungsbild von Natur, ohne auf die ästhetische Dimension dieser Vorstellung einzugehen. Naturlandschaften seien der Lebensraum für Jäger- und Sammlergesellschaften gewesen, bevor diese im Neolithikum Tiere und Pflanzen domestizierten und zu sesshaften Agrargesellschaften wurden. Die Naturlandschaften blieben praktisch frei vom Einfluss der Menschen, die sich zwar von der Natur ernährten, sie aber kaum veränderten, so Sieferle. Das habe sich mit der neolithischen Revolution geändert, in welcher die Menschen Techniken zur bleibenden Modifikation der natürlichen Umwelt entwickelten. Diese Agri-Kulturlandschaften wurden vor allem durch die Nutzung der Solarenergie geprägt. Erst vor ungefähr 200 Jahren, mit dem Beginn der industriellen Revolution, sei die Sonne von fossilen Brennstoffen als Hauptenergieträger abgelöst worden, was eine grundlegende Veränderung der Landschaft nach sich zog. Sieferle ist der Meinung, diese Landschaft sei einem offenen Prozess unterworfen, der zwar von Menschen initiiert, unterdessen aber kaum mehr kontrolliert werden könne und dadurch totalen Charakter angenommen habe. Folgerichtig nennt Sieferle die so entstandene Landschaftsform »totale Landschaft«: »Die industrielle Transformation hat die überkommene Agri-Kulturlandschaft allmählich zum Verschwinden gebracht. Als vorläufiges Ergebnis hat sich ein neuartiger Landschaftstypus formuliert, der als totale Landschaft bezeichnet werden soll. Diese neue Landschaft ist allerdings nicht stabil, und sie steuert auf keinen erkennbaren stabilen Endzustand zu. Sie bildet vielmehr einen hochdynamischen Prozess, der andauern wird, solange die industrielle Expansion von ihren energetischen Grundlagen gespeist wird.«62

»Total« nennt Sieferle diese Landschaft auch, weil in ihr Tendenzen der Vereinheitlichung und Homogenisierung im Dienste von Nation und Fortschritt wirken, die überlieferte Siedlungs- und Gesellschaftsformen bäuerlicher Heterogenität und Partikularität verdrängen. Paradoxerweise definieren sich die in der totalen Landschaft beheimateten Gesellschaften durch Ideologeme wie Individualisierung, Freiheit und Selbstbestimmung. Ihr Hauptcharakteristikum sieht Sieferle hingegen in Massenproduktion und Massenkonsum. Diese Kräfte und die sie speisenden hohen Energieflüsse seien für das nivellierte Erscheinungsbild der totalen Landschaft verantwortlich. Als Beispiel dafür erwähnt er das Verschwinden des Unterschieds zwischen Stadt und Land. In einem solchen Umfeld sei es gar nicht mehr möglich, dass

62 Sieferle: Rückblick, S. 205.

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sich Strukturen und Differenzen bilden könnten, was die chaotisch sich etablierende Totalität der Landschaft zur Folge habe. Sieferle beschreibt die »totale Landschaft« als »ortlos«,63 globalisiert und öde, womit auch die Betrachtungen von Marc Augé zu den Nicht-Orten anklingen.64 Diese offene Ablehnung unterscheidet ihn von Jackson und ist kritisiert worden.65 Besonders stichhaltig ist der Einwand des Landschaftsingenieurs Martin Prominski, der darauf hinweist, bei dem Neologismus »totale Landschaft« handle es sich um einen »unnötige[n] Pleonasmus«,66 da neue Landschaftskonzeptionen ohnehin nicht mehr von der Vorstellung ausgingen, Landschaft sei ein Gegenüber, sondern im Gegenteil ihren inkludierenden Charakter betonen.

5.5 SIEVERTS: ZWISCHENSTADT Das im deutschsprachigen Fachdiskurs vielleicht erfolgreichste Modell zur Erklärung neuer Siedlungs- und Landschaftsformen ist das von dem Architekten Thomas Sieverts 1997 erstmals vorgestellte und von vielen anderen ausgebaute Konzept der »Zwischenstadt«.67 Zwischenstädte sind Siedlungsstrukturen, die nicht mit den Begriffen »Stadt« oder »Land« beschrieben werden können. Es sind aber auch nicht bloße Vororte, weil sie funktionale Unabhängigkeit von den alten Kernstädten entwickeln, ohne dass sich das zwingend in neuen politischen oder symbolischen Strukturen niederschlagen würde. Das Konzept »Zwischenstadt« ist der Beschreibungsversuch dieser neuen, »weltweit sich ausbreitenden neuen Stadtform«,68 wie Sieverts klar macht: »Dieser Versuch handelt von der Auflösung der kompakten historischen europäischen Stadt und von dem Umgang mit einer ganz anderen, weltweit sich ausbreitenden neuen Stadtform: Der verstädterten Landschaft oder der verlandschafteten Stadt. Ich nenne diese Form zur Vereinfachung Zwischenstadt. Es ist die Stadt zwischen den alten historischen Stadtkernen und der offenen Landschaft, zwischen dem Ort als Lebensraum und den Nicht-Orten der Raum-

63 Sieferle: Rückblick, S. 222. 64 Augé: Orte und Nicht-Orte. 65 Vgl. z.B. Stefanie Krebs: Was heißt hier Landschaft? Eine transatlantische Beziehungsgeschichte. In: Franzen, Krebs: Landschaftstheorie, S. 304-325, hier S. 305. 66 Prominski: Landschaft entwerfen, S. 62. 67 Sieverts: Zwischenstadt. 68 Sieverts: Zwischenstadt, S. 7.

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überwindung, zwischen den kleinen örtlichen Wirtschaftskreisläufen und der Abhängigkeit vom Weltmarkt.«69

Zwischenstädte sind heute so weit verbreitet, dass sie in manchen Gebieten quantitativ und qualitativ zur vorherrschenden Siedlungsform geworden sind. Das Ballungsgebiet der niederländischen »Randstad«, das die Städte Rotterdam, Amsterdam, Utrecht und Den Haag sowie ihr Umland umfasst, ist eine typische Zwischenstadt und umfasst beinahe die Hälfte der Bevölkerung Hollands.70 In der Tat handle es sich um ein globales Phänomen, wobei die Gründe für das Zustandekommen von Zwischenstädten immer andere seien, Letztere jedoch überall gemeinsame Merkmale ausbilden würden: »Eine auf den ersten Blick diffuse, ungeordnete Struktur ganz unterschiedlicher Stadtfelder mit einzelnen Inseln geometrisch-gestalthafter Muster, eine Struktur ohne eindeutige Mitte, dafür aber mit vielen mehr oder weniger stark funktional spezialisierten Bereichen, Netzen und Knoten.«71 Sieverts nimmt sowohl Bezug auf Michel Serres, der Landschaft ebenfalls als Netz beschreibt,72 als auch auf Corboz’ Metapher des Palimpsests, und bezeichnet die Zwischenstadt als fadenscheinigen »Siedlungsteppich«,73 dessen alte, nicht mehr überlagerte Schichten noch immer durchschimmern. Zudem sei sie nicht anschaulich und habe »weder in der Vorstellung ihrer Bewohner noch als Feld der Politik eine eigenständige Identität«.74 Das liege unter anderem daran, dass in der Zwischenstadt sowohl die Bedeutung des öffentlichen Raums abgenommen als auch eine funktionale und symbolische Enthierarchisierung der einzelnen Zwischenstadtteile stattgefunden habe. Ähnlich wie Corboz stellt er folgerichtig die Bedeutung der Begriffe »Zentrum« und »Peripherie« infrage. Das lässt sich zum Beispiel daran ablesen, dass sich manche Stadtkerne mittlerweile kaum mehr von peripheren Einkaufszentren unterscheiden lassen, das heißt, dass zwischenstädtische Eigenschaften auf die alten Kernstädte übergehen und diese funktional und ästhetisch verändern. Zwischenstädte sind insofern nicht ein bloßer siedlungstechnischer Phänotyp, sondern erweisen sich als eigentlicher Strukturtyp, der allerdings erst in den letzten Jahren langsam Formen politischer Repräsentanz entwickelt und als Akteur in politischen Prozessen wahrge-

69 Sieverts: Zwischenstadt, S. 7. 70 Vgl. OECD Territorial Reviews: Randstad Holland, Netherlands 2007. 71 Sieverts: Zwischenstadt, S. 14. 72 Vgl. Michel Serres: Die fünf Sinne: Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt a.M. 1998. 73 Sieverts: Zwischenstadt, S. 17. 74 Sieverts: Zwischenstadt, S. 23.

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nommen wird.75 Das liegt unter anderem daran, dass Zwischenstädte trotz ihres scheinbar eintönigen Erscheinungsbildes alles andere als einheitlich sind. Noch weniger sind sie einem gemeinsamen Willen, von wem auch immer, entsprungen. Ihre scheinbar chaotische Entwicklung basiert aber, wie schon Jackson für seine vernakuläre Landschaft bemerkte, auf der Summe unzähliger Einzelentscheidungen, die sehr wohl einer Ratio, wenn auch einer partikularen, folgen. Gründe und Rahmenbedingungen für einen solchen Prozess lassen sich am Beispiel des schweizerischen Mittellandes, das ebenfalls eine zwischenstädtische Landschaft darstellt, erläutern. 5.5.1 Beispiel Schweiz Dass das schweizerische Mittelland zu einem zwischenstädtischen Gebilde wird, war bereits in den 1930er Jahren ersichtlich.76 Spätestens in den 1950er Jahren wurde versucht, eine öffentliche Diskussion darüber in Gang zu bringen. Lucius Burckhardt, Max Frisch und Markus Kutter veröffentlichten 1955 – im gleichen Jahr, als die erste kreuzungsfreie Autostraße der Schweiz zwischen Luzern-Süd und Ennethorw eröffnet und der Grundstein für das Schweizer Nationalstraßennetz gelegt wurde – eine Broschüre mit dem Titel »achtung: die Schweiz«.77 Sie reflektierten die politische und soziale Position der Schweiz in der Nachkriegsmoderne, erkannten die siedlungspolitische Situation als Ausdruck einer allgemeinen Orientierungslosigkeit und forderten den Bau einer schweizerischen Musterstadt als Maßnahme gegen die Zersiedelung und als identitätspolitisches Signal. Die Planlosigkeit der damaligen Situation, die sich heute nicht wesentlich anders präsentiert, beschrieben Burckhardt, Frisch und Kummer in klaren Worten: »Und also wuchern unsere Städte, wie’s halt kommt, geschwürartig, dabei sehr hygienisch; man fährt eine halbe Stunde lang mit einem blanken Trolleybus und sieht das Erstaunliche, dass die Vergrößerung unserer Städte zwar unaufhaltsam stattfindet, aber keineswegs zum Ausdruck kommt. Es geht einfach weiter, Serie um Serie, wie die Vergrößerung einer Kaninchenfarm. Fährt man weiter, zeigt sich, dass das schweizerische Mittelland aufgehört hat, eine Landschaft zu sein, es ist nicht Stadt, auch nicht Dorf. Es ist ein Jammer und das Werk unse-

75 Vgl. Sieverts, Koch, Stein, Steinbusch: Zwischenstadt – Inzwischen Stadt? 76 Vgl. Meili: Fragen der Landesplanung. 77 Lucius Burckhardt, Max Frisch, Markus Kutter: achtung: die Schweiz. Ein Gespräch über unsere Lage und ein Vorschlag zur Tat. Basel 1955.

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rer Generation, der, schlimmer als den Großvätern, die industrielle Entwicklung über den Kopf gewachsen ist.«78

Unterdessen wohnen 75 Prozent der Schweizer Bevölkerung in dem entstandenen Siedlungsteppich zwischen Genfer- und Bodensee sowie Rhein und Voralpen. Die Faktoren, die in der Schweiz zum Entstehen zwischenstädtischer Strukturen beigetragen haben, lassen sich generell relativ genau benennen. Ihr Zusammenwirken hingegen ist diffus. Zersiedelung, wie das Phänomen in der schweizerischen Debatte in der Regel genannt wird, ist ein im Detail schwer zu fassender und noch viel schwieriger zu kontrollierender Prozess. Folgende Treiber der Entwicklung können identifiziert werden.79 Die Schweiz ist föderalistisch organisiert. Es gilt das Prinzip der Gemeindeautonomie. Im Rahmen der kantonalen Gesetzgebung planen die Gemeinden ihre Baugebiete selbständig. Die Ausgliederung von Bauzonen lohnt sich für Gemeinden und Bodenbesitzer, weil durch Verkauf und Besteuerung Gewinne anfallen. Die Erschließung des neuen Baulandes und der infrastrukturelle Unterhalt bringen aber Kosten, so dass die Gemeinden in eine eigentliche Wachstumsfalle geraten. Als einzigen Ausweg betrachten viele Kommunen nämlich noch mehr Wachstum und greifen immer weiter auf ihre Bodenreserven zurück. Viele Siedlungen, ob Städte oder Dörfer, verlieren so ihre Kompaktheit, fransen an den Rändern aus und wachsen in manchen Gegenden mit der Nachbargemeinde zusammen. Eine übergeordnete Raumplanung hat unter diesen Umständen kaum Gestaltungsmöglichkeiten. In der Tat sind die vom Bund erstrebten Planungsmaßnahmen seit Jahren weitgehend wirkungslos. Die föderale Organisation der Schweiz betrifft nicht nur die Siedlungsplanung, sondern auch die Steuerpolitik. Jeder Kanton, jede Gemeinde konkurriert mit anderen um steuerkräftige Bewohner und Unternehmen. Wohlhabende Bevölkerungsschichten werden im inländischen Steuerwettbewerb stark umworben. Ein gewinnendes Argument zur Neuansiedlung sind nicht zuletzt landschaftliche Schönheit und privilegierte Wohnlagen in naturräumlich intakter Umgebung, welche dann paradoxerweise für kapitalträchtige Zugezogene überbaut werden. Ähnlich ist es mit Unternehmen, denen günstiges Bauland in ehemaligen Landwirtschaftszonen angeboten wird, was wiederum infrastrukturelle Eingriffe zur Folge hat. Dadurch wird

78 Lucius Burckhardt, Max Frisch, Markus Kutter: achtung: die Schweiz. Ein Gespräch über unsere Lage und ein Vorschlag zur Tat. In: Max Frisch: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Band III.1. Frankfurt a.M. 1976, S. 291-339, hier S. 305. 79 Vgl. »Stadt vor Augen – Landschaft im Kopf.« Ausstellung im Naturama Aarau. 27. Februar-24. Oktober 2010. Und Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili, Pierre de Meuron, Christian Schmid: Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait. Basel 2006.

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insgesamt die partikulare Standortentwicklung wesentlich stärker gewichtet als umfassende Raumplanung, Eigeninteressen überlagern Kollektivinteressen. Zum Teil gegenläufig zu diesem Binnenwettbewerb, zum Teil ihn noch verschärfend, hat sich in den letzten Jahren die Eingliederung der Schweizer Volkswirtschaft in die Prozesse der wirtschaftlichen Globalisierung bemerkbar gemacht. Ausgeweitete und intensivierte Konkurrenz durch internationale Unternehmen ohne Ortsbindung hat sowohl für Behörden wie Arbeitnehmer zu einer zunehmenden Ohnmacht in Bezug auf die eigenen Belange geführt, was mit einer erhöhten Flexibilisierung sowohl der individuellen Lebensumstände als auch der gesetzlichen Rahmenbedingungen ausgeglichen wird. Andererseits bringen internationale Unternehmen, in nicht geringer Zahl in der Schweiz tätig, gut verdienende Menschen ins Land, denen räumliche Privilegien wichtig sind, allerdings nur für kurze Zeit. 50 Prozent der Einwanderer reisen nach nur einem Jahr wieder aus, die Hälfte all jener Personen, die die Schweiz verlassen, hat nicht einmal fünf Jahre Aufenthalt hinter sich.80 Ähnlich wie in den touristisch interessanten Gebieten, die mit nur schwach genutzten Zweit- oder Drittwohnsitzen und Ferienwohnungen bebaut werden, entsteht so eine Nachfrage nach nur temporär genutzter, aber hochstehender Bausubstanz abseits des bereits Vorhandenen. Das wirtschaftliche Wachstum der Nachkriegsjahre führte in der Schweiz zu einem wesentlichen Wohlstandszuwachs. Viele Schweizerinnen und Schweizer verließen ihr Elternhaus früher und konnten sich Wohneigentum, das zudem steuerlich begünstigt wurde und wird, leisten, wenngleich der Mietanteil in der Schweiz im Vergleich zum europäischen Ausland nach wie vor hoch ist. Gemietet werden aber wesentlich größere Wohnungen für weniger Leute, der Platzbedarf ist gestiegen, ebenso die Zahl der Ein- oder Wenigpersonenhaushalte. Lebte 1980 eine Person noch auf durchschnittlich 34 m2, tut sie dies heute auf knapp 50. Daraus resultierte in den Städten Wohnungsknappheit bis hin zur Wohnungsnot, so dass viele in die Agglomeration auswichen, wo neu und günstig gebaut und das Fehlen von Wohnraum in den Städten aufgefangen werden konnte. Die wirtschaftliche Prosperität ermöglichte es auch vielen Menschen, sich ein Auto zu kaufen, was wiederum das Freizeit- und Konsumverhalten erheblich veränderte. Große, peripher gelegene und dadurch die Zersiedlung vorantreibende Einkaufszentren wären ohne die praktisch durchgehende Automobilisierung der Bevölkerung nicht möglich gewesen. Die letzten Jahrzehnte waren sowohl infrastrukturell als auch sozial von einer enormen Zunahme der Mobilität geprägt. Seit den 1950er Jahren baute die Schweiz an ihrem Nationalstraßensystem, das das Land in einem engen Netz von Autobahnen durchzog und sowohl die Fahrzeiten zwischen den Zentren verringerte wie auch, durch die hohe Zufahrtsdichte, Randregionen an das Individualverkehrssys-

80 az: Globale Nomaden. In: Der Bund, 13. September 2010.

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tem anschloss. 1982 führten die Schweizerischen Bundesbahnen und die Postautobetriebe den Taktfahrplan ein, 1990 folgte im Kanton Zürich das erste S-BahnSystem. Die Zahl der mithilfe des öffentlichen Verkehrs zurückgelegten Kilometer pro Einwohner ist unterdessen die höchste der Welt.81 Kosten und steuerliche Belastung der Mobilität blieben in all den Jahren relativ niedrig. Diese wirtschaftlichen und infrastrukturellen Voraussetzungen führten zu einer funktionellen Entflechtung des Lebens. Arbeiten, Wohnen und Freizeit trennten sich für breite Bevölkerungsschichten räumlich immer mehr. Das geht so weit, dass sich die Siedlungsentwicklung nach dem Bau und dem Vorhandensein von Verkehrswegen richtet, das heißt, das Verkehrssystem gibt bis in die kleinste Raumeinheit vor, wo Menschen leben und arbeiten. Die Bevölkerung der Schweiz nimmt seit Jahren zu. Entsprechend hoch ist die Bevölkerungsdichte. Sie liegt mit 190 Einwohnern pro Quadratkilometer deutlich höher als im übrigen Europa, wo es nur 116 Einwohner sind.82 Gespeist wird die steigende Tendenz vor allem durch Zuwanderung. Das wirtschaftliche Wachstum in den Nachkriegsjahren wurde zu einem wesentlichen Teil durch zugewanderte Gastarbeiter getragen, von denen viele im Land blieben, was nicht unbedingt erwartet worden war. Die Schweiz ist kein übermäßig beliebtes Einwanderungsland, nicht im Vergleich zu anderen europäischen Staaten und schon gar nicht im Vergleich mit solchen, die an Krisenregionen grenzen. Trotzdem ist Einwanderung ein Treiber der Zersiedelung, weil einerseits vermögende, gut ausgebildete Migranten – Akademiker machen etwa 60 Prozent der Zuzüger aus83 – Miet- und Bodenpreise in den Zentren ansteigen lassen und andererseits sozial schwächere Zugezogene sich von Anfang an in billigerem Wohnraum an den Siedlungsrändern niederlassen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die schweizerische Siedlungspolitik äußeren und inneren Einflüssen ausgesetzt ist, die in ihrer Summe zu einer weitgehenden Ohnmacht der kollektiven Entscheidungsträger führen und eine scheinbar chaotische, zwischenstädtische Strukturen produzierende Entwicklung zur Folge haben. Dieser Umstand wird von vielen Bewohnern als Mangel wahrgenommen, ohne dass Anstalten gemacht würden, das eigene Verhalten entsprechend zu ändern.84 Dieses Paradox korrespondiert mit den in neueren Landschaftstheorien immer wieder konstatierten Widersprüchen zwischen dem überlieferten ästhetischen Land-

81 Verband öffentlicher Verkehr: Der öffentliche Verkehr der Schweiz. 2009. www.voev. ch/dcs/users/6/euro08_oeV_ch_d_V.pdf (11. April 2011). 82 Der Bund, 13. September 2010. 83 Der Bund, 13. September 2010. 84 Vgl. z.B. Benedikt Loderer: Wir sind alle Rüdisülis. In: Tages Anzeiger, 8. April 2010. www.tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/Wir-sind-alle-Ruedisuelis/story/22702346 (11. April 2011).

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schaftsbegriff und aktuellen, als »anästhetisch« apostrophierten Wahrnehmungsmustern in Bezug auf zeitgenössische Landschaftsformen.

5.6 INSZENIERTE LANDSCHAFT Um solche Widersprüche zu überwinden, schlägt Sieverts verschiedene gestalterische Maßnahmen vor, die dazu dienen sollen, die Wahrnehmbarkeit der Zwischenstadt zu erhöhen oder sie überhaupt erst ins Bewusstsein treten zu lassen. Das bedeutet, die die Zwischenstadt begleitende Anästhetik zu überwinden und eine eigene Ästhetik der Zwischenstadt zu entwickeln, wenn nicht sogar zu erfinden. Der Kunst kommt für Sieverts in diesem Prozess eine eminent wichtige Rolle zu: »Landschafts- und Stadtplanung müssen wieder […] in einen Diskurs mit Kunst und allgemeiner Kulturtheorie eintreten. In diesem Sinne müssen sie selbst wieder zu Künsten werden.«85 Er schreckt auch nicht davor zurück, Kunst funktional als identitätspolitisches Mittel des Zwischenstadtmarketings einzusetzen und schlägt zum Beispiel vor, »es vielleicht als unvermeidlich, aber ebenso als Chance einer städtischen Kulturpolitik zu akzeptieren, dass Urbanität auch inszeniert werden muss«.86 Sieverts war selbst maßgeblich an einem der größten Projekte dieser Art beteiligt, nämlich der Internationalen Bauausstellung Emscherpark 1989-1999 im Ruhrgebiet. Die IBA Emscher Park diente als praktische Initialzündung für die Propagierung des Ballungsgebiets an Ruhr und Emscher als Metropolitangebiet und bestand aus einer groß angelegten Ästhetisierung der von riesigen, funktionslos gewordenen Industriebauten geprägten Landschaft. Thomas Sieverts’ Sohn Boris Sieverts ist, nicht weit vom Ruhrgebiet entfernt, als zwischenstädtischer Fremdenführer ein Vorreiter für die Verbreitung einer Ästhetik der neuen Landschaften. Sein Kommentar des eigenen Tuns bedient sich eines fast klassisch ästhetisch anmutenden Vokabulars und verdient daher als Beispiel für die angestrebte Ästhetik zwischenstädtischer Landschaftsformen ausgiebig zitiert zu werden: »Seit zwei Jahren führe ich Fremde und Einheimische durch die Weiten des Kölner Stadtrandes: Auf diesen zweitägigen Erlebnisreisen versuche ich, ein Gefühl für die Schönheit dieses diskontinuierlichen, über große Strecken durch Abwesenheit von als Ereignis Erkennbarem geprägten Gebiete zur vermitteln [sic!]. Die Diskontinuität des Kölner Stadtrandes, besonders auf der von Autobahnen und Gleistrassen vielfach zerschnittenen ›Schäl Schick‹, ermöglicht hierbei besonders überraschungsreiche Raumfolgen. Die besondere Aufenthaltsqualität ›leerer‹ Räume einerseits und der fraktale Reichtum sowie die Vielfältigkeit der im Schatten des

85 Sieverts: Zwischenstadt, S. 129. 86 Sieverts: Zwischenstadt, S. 37.

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Metropolenwettbewerbs sich erhaltenden und neu entstehenden Lebensformen andererseits sind die besonderen Merkmale dieses Stadtrandes. Durch den von der römischen Antike bis zum Ende des Ersten Weltkrieges dauernden Festungsstatus der Stadt Köln sowie später durch ihre Rolle als Verkehrskreuz des Westens sind die Brüche im Stadtbild besonders zahlreich und bilden auf allen Maßstabsebenen ein entscheidendes Gestaltmerkmal. […] Die Fähigkeit, Eindrücke, also ›wilde‹ (im Gegensatz zu bereits erschlossenen, zu einem Bild gefügten und interpretierten) Informationen selbst zu erschließen, innerlich zu einem Bild zu fügen und zu interpretieren, und die Fähigkeit, leere Stellen mittels Assoziationen, Erinnerungen und Projektionen selbst zu füllen, nenne ich die produktive und sentimentale Wahrnehmung. Aus der Welt der erschlossenen Informationen, also im weitesten Sinne aus Kulturlandschaft kommend, stellt sich am namenlosen, unprominenten, wilden Ort erstmal Langeweile ein. Das, was auf uns zukommt, können wir nicht lesen. So tritt zur Langeweile Irritation. Erst nach einer Weile kommt die produktive Wahrnehmung sozusagen in Gang, und die Welt um uns herum beginnt sich zu füllen. Leere Räume sind notwendig, um die Fähigkeiten, die Menschen zu Kulturwesen zu machen, zu trainieren: Erschließen, Fügen, Interpretieren, Assoziieren, Projizieren, Erinnern.«87

Diese Ästhetisierung der Zwischenstadt lässt sich in Thomas Sieverts’ Augen schon allein deshalb nicht vermeiden, weil die Zwischenstadt ein nicht mehr rückgängig zu machendes Faktum ist und als Lebensrealität von Millionen von Menschen anerkannt werden muss. Zudem ist es nicht so, dass Sieverts die zwischenstädtische Siedlungsform nur negativ bewertet. Er sieht, unter der Voraussetzung von verändertem Mobilitätsverhalten oder alternativer Mobilitätstechnologien, in der geringen räumlichen Dichte und Dezentralität der Zwischenstadt die Chance für eine nachhaltigere Lebensweise durch subsidiäre Energieversorgung und ökologisch wertvolle Parzellengestaltung. Die durch zwischenstädtische Partikularität und kulturelle Vielfalt neu definierten, enthierarchisierten raumbezogenen Identitätskonzepte scheinen ihm auch Möglichkeiten im Hinblick auf ein föderalistischeres Demokratieverständnis zu bieten. Sieverts’ Ansatz geht damit über die Tendenz neuerer Landschaftstheorien hinaus, die allgemein den ästhetischen Landschaftsbegriff ablehnen. Dass diese Theorien dadurch sowohl verkürzende Ästhetik- als auch Landschaftskonzepte anwenden, ist Sieverts klar, weshalb er im Gegenteil offensiv einen kalkulierten, funktionalen und planerischen Einsatz ästhetischer Mittel, etwa der Kunst, vorschlägt, um die Zwischenstadt aus ihrer anästhetischen Vergessenheit zu holen. Landschaft hat sich bei Sieverts und seinen Mittheoretikern also insofern scheinbar von der Ästhetik emanzipiert, als zwar die Notwendigkeit anerkannt wird, Landschaft ästhetisch konzeptualisieren zu müssen, weil es sich um ein genuin äs-

87 Sieverts: Zwischenstadt, S. 56f.

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thetisches Phänomen – im vorgeschlagenen breiten Wortsinn – handelt. Ästhetische Konzepte werden aber funktional, um nicht zu sagen pädagogisch, eingesetzt, um die Menschen mit dem, was da ist und offenbar als unbefriedigend aufgefasst wird, zu versöhnen. Diese neue theoretische Auffassung von Landschaft sieht also einen ähnlich strategischen, konkret einen sozialstrategischen, Umgang mit Landschaft, wie er sich für andere, ältere Landschaftsmodelle hat nachweisen lassen. Die Frage, was denn neu sei an den neueren Landschaftstheorien, bleibt, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, unbeantwortet. Entsprechend und folgerichtig traditionell und trotzdem treffend kommt eine der nüchternsten zeitgenössischen Landschaftsdefinitionen daher, die »Begriffsbestimmung« in der »Europäischen Landschaftsübereinkunft«, der Konvention zum Schutz europäischer Landschaften: »Im Sinne dieses Übereinkommens bedeute[t] […] ›Landschaft‹ ein vom Menschen wahrgenommenes Gebiet, dessen Charakter das Ergebnis des Wirkens und Zusammenwirkens natürlicher und/oder anthropogener Faktoren ist.«88 Traditionell ist die Definition, weil sie den ästhetischen Gehalt des Landschaftsbegriffs an den Anfang stellt, ohne damit weder künstlerisch dargestellte noch »schöne« Landschaften zu meinen; nüchtern ist sie, weil sie selbstverständlich von Landschaft als kultureller Leistung ausgeht. Nach diesem ausführlichen Rundgang durch die historischen und zeitgenössischen Landschaftstheorien muss aber festgestellt werden, dass eine allgemein gültige Definition, was eine Landschaft ist, nicht zu finden ist. Es hat sich gezeigt, wie stark alle entsprechenden Versuche erstens an historische Kontexte gebunden und zweitens durch Interessen motiviert sind, die außerhalb künstlerischer Belange liegen und in einem weiteren, politischen Sinn ästhetisch sind. Für die Beantwortung der Frage, inwiefern es sich bei den zur Diskussion stehenden Stücken von Schauplatz International um landschaftsästhetisch relevante Werke handelt, ist, als theoretische Ergänzung, ein Blick auf die Verwendung des Begriffs »Landschaftstheater« angezeigt. Es handelt sich um einen relativ jungen Begriff, doch um zu signalisieren, in welchem künstlerischen Kontext sich die so bezeichneten Stücke trotzdem situieren, werden sie im Folgenden »traditionelles Landschaftstheater« genannt.

88 Europäische Landschaftsübereinkunft, S. 3. http://conventions.coe.int/Treaty/GER/Treati es/Html/176.htm (11. April 2011).

6 Traditionelles Landschaftstheater

6.1 NATUR-, FREILICHT - UND LANDSCHAFTSTHEATER NACH KUTSCHER UND STADLER Edmund Stadler beschrieb in den 1950er Jahren Typologie und Geschichte des Freilichttheaters in zwei Bänden des Schweizer Theaterjahrbuchs, herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur.1 Die Untersuchung war auf vier Volumen angelegt und sollte eine grundlegende Geschichte des Freilichttheaters bieten. Am Ende blieb es bei den beiden Titeln »Grundbegriffe« und »Die Entstehung des nationalen Landschaftstheaters in der Schweiz«. Die Schweizerische Gesellschaft für Theaterkultur war 1927 von Oskar Eberle als »Gesellschaft für Innerschweizerische Theaterkultur« gegründet worden. In Abgrenzung zum angeblich »jüdischen« Stadttheater setzte sich Eberle für eine Erneuerung des volkhaften Laientheaters und der geistlichen Spiele ein.2 Der Theaterwissenschaftler, Regisseur und Dramatiker war verantwortlich für »Das große Welttheater« in Einsiedeln (1935), »Das eidgenössische Wettspiel« an der Landesausstellung in Zürich (1939), »Das Bundesfeierspiel zum Gedenken des 650-jährigen Bestehens der Schweizerischen Eidgenossenschaft« in Schwyz (1941), »La Fête des Vignerons« in Vevey (1955) und für den »Wilhelm Tell« in Altdorf (1956). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs änderte die Vereinigung ihren Namen in »Schweizerische Gesellschaft für Theaterkultur«, was die Öffnung über eine primär national ausgerichtete Tätigkeit hinaus markierte.

1

Edmund Stadler: Das neuere Freilichttheater in Europa und Amerika. I. Grundbegriffe. Theaterkultur Jahrbuch XIX Schweizer Theateralmanach VII. Einsiedeln 1951. Und Edmund Stadler: Das neuere Freilichttheater in Europa und Amerika. II. Die Entstehung des nationalen Landschaftstheaters in der Schweiz. Theaterkultur Jahrbuch XXI Schweizer Theateralmanach VII. Einsiedeln 1953.

2

Thomas Blubacher: Eberle, Oskar. In: Historisches Lexikon der Schweiz. www.hls-dhsdss.ch/textes/d/D9473.php (11. April 2011).

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Edmund Stadler war vor dem Krieg in München Schüler Arthur Kutschers gewesen. Dessen Hauptthese, Theater sei mimisch und nicht literarisch zu fassen, findet sich in Stadlers Forschung deutlich wieder. Dann war Stadler Assistent Carl Niessens in Köln. Als solcher wird er dessen Affinität zu ideologisch beladenen Freilichtaufführungen mitbekommen haben. Niessen verband Theater theoretisch mit Kult und Fest. Praktisch war er für die Etablierung von nationalsozialistischen Thingspielen in den 1930er Jahren mitverantwortlich. Zu dieser Zeit war Niessen auch SA-Truppenführer. Kutscher und Niessen gelten zusammen mit Max Herrmann als Vaterfiguren der deutschen Theaterwissenschaft. Sie verstanden Theater als anthropologische Konstante, deren historische Erscheinungsformen ethnologisch beschrieben werden sollten. Vor allem Niessens Werk rückt so bisweilen in die Nähe völkischen Gedankenguts.3 Edmund Stadlers Arbeit hat keine nationalsozialistische Tendenz. Prinzipiell liegt sie aber auf der Linie von Kutscher und Niessen und ist, wenngleich nicht völkisch, offen national ausgerichtet. Damit steht Stadlers Werk in der Tradition seiner Herausgeberin, der »Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur«. Methodisch macht Stadler deren Öffnung mit und zeigte Interesse für nicht-schweizerische Quellen, inhaltlich beharrt er auf nationalen Prämissen. Wichtig für Stadler dürfte Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung von »Gemeinschaft und Gesellschaft« gewesen sein, die dieser in seinem 1887 erstmals erschienenen gleichnamigen Hauptwerk entworfen hat.4 Gesellschaft verstand Tönnies als zweckorientierte Organisationsform, Gemeinschaft als naturhaft und organisch gewachsene Lebensform. Als Mitglied einer Gemeinschaft fühle sich der Einzelne als Teil eines größeren sozialen Ganzen, denn er orientiere sein Handeln am übergeordneten Zweck. Denken und handeln alle so, gehöre er einem Kollektiv als Gemeinschaft an. Bediene der Einzelne sich der anderen auf instrumentelle Weise und seien sie ihm Mittel zu seinen eigenen individuellen Zwecken, dann habe er am Kollektiv als an einer »Gesellschaft« teil. Tönnies bestimmt in seinem Spätwerk »Geist der Neuzeit«5 die Gemeinschaft als jenen Typus von Kollektivität, der das europäische Mittelalter bestimmt habe. In der Neuzeit hingegen dominiere der Typus der Gesellschaft.

3

Vgl. Christopher Balmer: Einführung in die Theaterwissenschaft. Berlin 2001. Erika Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft. In: Fischer-Lichte, Kolesch, Warstat (Hg.): Lexikon Theatertheorie, S. 351-358. Kotte: Theaterwissenschaft. Gerd Simon: Chronologie Niessen, Carl. 2005. http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ChrNiessen.pdf (11. April 2011).

4

Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft: Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt 2005.

5

Ferdinand Tönnies: Geist der Neuzeit. Leipzig 1935.

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Tönnies ist eine integre Autorität der Soziologie. Er war Mitglied der SPD und engagierter Kritiker Hitlers, was aber nicht verhinderte, dass – wenn auch selbst persona non grata – sein Werk missbräuchlich von der nationalsozialistischen Ideologieproduktion verwertet wurde. Das Konzept der »Gemeinschaft« ist unabhängig davon für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem wichtigen Diskurselement geworden, das gerade in der Frage nach Beschaffenheit und Bedeutung von Nationen eine prägende Rolle spielte. Die Bezugnahme auf vormoderne Kollektivvorstellungen findet sich bei Edmund Stadler wieder. Er selber dürfte sie nicht als regressiv verstanden haben. Im Gegenteil konnten in der Schweiz Ideen, die andernorts ihre Wirkungsgeschichte bereits hinter sich hatten, noch länger als modernistisch gelten. Stadlers Arbeit ist ein gutes Beispiel dafür. Stadler legt den Schwerpunkt seiner unvollendeten Forschung auf die Entwicklungen in der Schweiz. Im ersten Teil widmet er sich den »Grundbegriffen«, im zweiten der »Entstehung des nationalen Landschaftstheaters in der Schweiz«. Stadler verwendet den Begriff »Landschaftstheater« selten, meistens spricht er von »Naturtheater«. Eine Logik, wie sich die beiden Begriffe ergänzen oder ersetzen, ist nicht ersichtlich. Ein kurzer Abschnitt in Stadlers Arbeit heißt zwar explizit »Naturund Landschaftstheater«,6 das Verhältnis der beiden Begriffe bleibt aber auch da rätselhaft. Stadler beschreibt die Beschaffenheit von »Naturstimmung«. Sie könne eine »bloß äußere« sein, die durch »Dämmerung und Nacht, Waldeszwielicht und Mondschein, ziehende Wolken und Säuseln des Windes, flatternde Fahnen und ferne Musik« erzeugt würde. »Naturstimmung« könne aber gleichzeitig eine innere sein, eine Stimmung, die von einer »charakteristischen Landschaft« ausgehe und mit der Landschaft auch »die zu ihr gehörenden Menschen« erfasse.7 Landschaft scheint für Stadler also eine Art Ensemble zu sein. Es setzt sich aus Natur zusammen, beinhaltet aber auch die darin lebenden Menschen und eine irgendwie erzeugte und wahrgenommene Qualität, die die Landschaft als »charakteristisch« erscheinen lässt. Was Landschaftstheater in Stadlers Augen sein könnte, lässt sich, trotz des Titels, aus dieser Beschreibung nicht erschließen. Sonst schreibt Stadler im ersten Teil seiner Arbeit nicht explizit über Landschaftstheater. Die Ausführungen, die er zum Naturtheater macht, sind aber insofern relevant, als er unter »Natur« etwas versteht, das dem Begriff »Landschaft« relativ nahe kommt, wie sich aus dem Kapitel zum »neueren Naturgefühl« ableiten lässt. Stadlers Betrachtungen sind deshalb auch für die Beantwortung der Frage, was Landschaftstheater sei, von Gewicht. Als übergeordnete Bezeichnung führt er zu Beginn den Begriff »Freilichttheater« ein, stellt aber sogleich eine Unschärfe in dessen theaterhistorischer Verwendung fest und unterscheidet zwischen Freilicht-

6

Stadler: Grundbegriffe, S. 57f.

7

Stadler: Grundbegriffe, S. 57.

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und Naturtheater: »Dass man zunächst die Begriffe Freilicht- und Naturtheater wahllos verwandte, war in bezug auf das gegenwärtige Freilichttheater durchaus kein Fehler, da ja auch das Naturtheater ein Theater unter freiem Himmel ist und wesentlich selbstbestimmt sein muss durch das freie Licht und den realen Raum.«8 Die Verwirrung beginne dort, wo die Begriffe austauschbar würden. Grundsätzlich sei Naturtheater immer Freilichttheater. Umgekehrt sei Freilichttheater aber nicht mit Naturtheater gleichzusetzen, dem noch andere Eigenschaften als allein das freie Licht und der reale Raum zukämen. Stadler verweist auf seinen Lehrer Kutscher und stellt fest: »Jedes Naturtheater ist ein Freilichttheater, aber nur ganz wenige Freilichttheater sind Naturtheater, die meisten das Gegenteil.«9 Weder das Theater der griechischen Polis noch das Gartentheater des Barock, weder römisches noch elisabethanisches Theater, die alle unter freiem Himmel über die Bühne gingen, sind, um nur vier von Stadlers Beispielen zu nennen, Naturtheater. Griechische Theater, die heute zum Teil als naturnah wahrgenommen würden, erfüllten nach Stadler eine genau gegenteilige Aufgabe. Sie seien auf die Intraspektion einer Gemeinschaft ausgerichtet. Durch ihre Architektur konstituiere sich die Polis, was auch bedeute, dass, was nicht dazu gehöre – zum Beispiel die Natur –, draußen bleibe. Barocke Gartentheater finden in den Augen Stadlers auch nicht in der Natur statt. Wiewohl organisch, bilden Hecken, Bäume und Wege eine künstliche Umgebung, ein Bühnenbild, das viel dafür tue, nicht als Natur verstanden zu werden. Im Fall der römischen Theaterbauten legt Stadler einleuchtend dar, dass in ihnen Natur höchstens dann vorkomme, wenn sie zu Ruinen geworden seien. In intaktem Zustand aber sollte der Kontakt nach außen, selbst in den letzten Reihen, konsequent unterbunden werden. Zuletzt dürfte in den viktorianischen Theaterhäusern der Londoner Kompanien Natur allein als Witterung wahrgenommen worden sein. Gerade sie stellen eine wirkungsvolle Konstruktion eines Innenraums unter freiem Himmel dar. Das alles bleibt für Stadler, mit Bezug auf den amerikanischen Autor und Theatertheoretiker Sheldon Warren Cheney, »Architekturtheater«,10 was für ihn das Gegenteil von Naturtheater bedeutet: »Was das Naturtheater vom Freilichttheater unterscheidet, ist die grundsätzliche Mitwirkung der umgebenden Natur, genauer gesagt, der durchgehende Bedacht auf ihren stimmungsmäßigen Einfluss.«11 Das ist eine Beschreibung, keine Definition, gibt aber der Frage, was Naturtheater sei, eine wichtige Wendung. Die Formulierung »grundsätzliche Mitwirkung der umgebenden Natur« ist zunächst rätselhaft. Wie müsste man sich eine Natur vor-

8

Stadler: Grundbegriffe, S. 12.

9

Stadler: Grundbegriffe, S. 17.

10 Stadler: Grundbegriffe, S. 17. 11 Stadler: Grundbegriffe, S. 17.

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stellen, die »mitwirkt«? Das Verb »wirken« beschreibt die Handlung eines aktiv vorgehenden Subjekts. Natur wäre also kreativ am Produktionsprozess von Naturtheater beteiligt, was aber schwer zu verstehen ist. Allenfalls könnte Tieren, als Vertreter von Natur, Mitwirkung zugestanden werden. Es gibt aber bisher keine Gründe anzunehmen, Tiere hätten einen künstlerischen Willen oder ästhetische Urteilsgabe. Sollte dies doch der Fall sein, ist es schwer vorstellbar, dass diese sich auf die menschliche Kunstform Theater beziehen würden. Mitwirkung heißt für Tiere also im besten Fall »Teilnahme«. Wie Natur in Form von Flora, Topographie und Geographie an einer Aufführung »teilnehmen« soll, ist damit aber nicht befriedigend erklärt. Der zweite Teil der Formulierung – »der durchgehende Bedacht auf ihren stimmungsmäßigen Einfluss« – ist genauer. Gemeint ist der stimmungsmäßige Einfluss der Natur. Damit sind zwei grundlegende Instrumente der Analyse zwar nicht deutlich gemacht, aber angedeutet: eine produktionstheoretische und eine rezeptionstheoretische Perspektive. Der »durchgehende Bedacht« bezieht sich tendenziell auf die Produktion des fraglichen Stücks, der »stimmungsmäßige Einfluss« der Natur tendenziell auf die Rezeption. Was ist mit dem »durchgehenden Bedacht« gemeint? Offenbar gibt es Elemente einer Inszenierung, die nicht durchgehend bedacht werden müssen. Das könnte temporal verstanden werden, wenn gemeint ist, dass Dinge befristet vorkommen: Schauspielerinnen, die abtreten, Requisiten, die verschwinden, ein Lied, das nicht mehr wieder kommt, ein variables Bühnenbild. Die Natur hingegen ist immer da und müsste daher durchgehend in künstlerische Entscheidungen einbezogen werden, weil sie zu jedem Zeitpunkt Einfluss auf das Werk haben kann. »Durchgehend« könnte aber auch dramaturgisch im Sinne eines räumlichen Bildes verstanden werden. »Durchgehend« hieße dann, eine Ebene des ganzen Werks bildend, ihm vielleicht sogar gänzlich zugrunde liegend. Dann würde es sich nicht nur um eine Aussage handeln, die den Einsatz vorhandener Mittel, sondern die Auswahl der Mittel beschreiben würde, und zwar sowohl in formaler wie inhaltlicher Hinsicht. »Durchgehend« wäre dann eine ästhetische Kategorie, die über Fragen der Anwendung hinaus ginge und solche der Bedeutung beträfe. Das Wort »Bedacht« beinhaltet eine passive und eine aktive Bedeutung. »Bedacht« kann passiv einfach Berücksichtigung heißen, das heißt, etwas, das da ist, nicht zu vergessen, Kenntnisnahme. Aktiv ausgelegt geht die Bedeutung des Worts in die Richtung von Beteiligung und Einbezug dessen, was schon da ist. Beide Bedeutungen beziehen sich auf eine ästhetische Betrachtungsweise. Flüchtig schwebt im Wort »Bedacht« Gefahr mit. Die Aufforderung, etwas zu bedenken, kann eine Warnung sein, und etwas mit Bedacht zu tun, kann heißen, es überlegt zu tun, vielleicht, weil man seine Gefahren kennt. Insofern würde Natur für eine Aufführung ein potenziell bedrohliches ästhetisches Mittel darstellen.

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In jedem Fall stellt sich die Frage nach dem Subjekt, das mit Bedacht vorgehen oder mit Bedacht betrachten und beurteilen soll. Stadler verschweigt es zwar, aber er meint einen Autor oder eine Autorin im Sinne einer oder mehrerer Personen, die am Produktionsprozess beteiligt sind und die Tatsache, dass in der Natur produziert wird, mindestens nicht außer Acht lassen können. Der »durchgehende Bedacht« bezieht sich demnach auf die produktionsbezogenen Bedingungen von Naturtheater, weil er eine künstlerische Haltung der Produzierenden beschreibt: Aufmerksamkeit. Durchgehend bedacht werden muss der »stimmungsmäßige Einfluss« der Natur. Stadler widmet der »Rolle der Naturstimmung« ein ganzes Kapitel und bemüht sich, den Begriff genau zu beschreiben.12 »Die Seele des Zuschauers nimmt gleichzeitig die Schwingungen in sich auf, welche der natürliche Raum in seiner Lebendigkeit und die Aufführung auslösen. Das Primäre ist dabei die Naturstimmung, die man auch ohne Aufführung empfindet.«13 Stadler glaubt also, von der Natur gingen Impulse aus, »Schwingungen«, die durch ein inneres Wahrnehmungsorgan, die »Seele«, rezipiert würden und allen anderen ästhetischen Impulsen zugrunde lägen, im oben genannten Sinne »durchgehend« seien. So ist »stimmungsmäßiger Einfluss« partiell rezeptionstheoretisch zu verstehen. Es braucht einen Rezipienten. In der Formulierung, mit Natur müsse im Naturtheater in besonderer Weise umgegangen werden, nämlich »mit durchgehendem Bedacht auf ihren stimmungsmäßigen Einfluss«, steckt die erwähnte theoretische Doppeldeutigkeit. Die produktions- und rezeptionstheoretischen Perspektiven sind zwar nicht ausformuliert, deuten sich aber an. »Stimmung« ist ein Wort, das in der Geschichte des Landschaftsbegriffs eine wichtige Rolle spielt. Es ist eine gelehrte Neubildung des 17. Jahrhunderts zu griechisch atmós »Dunst« und griechisch sphaira »Scheibe, Kugel, Erdkugel« und bezieht sich auf die Himmelskörper umgebenden gasförmigen Hüllen.14 Georg Simmel hat sich in seiner »Philosophie der Landschaft« ausführlich und konzentriert zu Landschaft und Stimmung geäußert.15 Stimmung wird in der klassischen Landschaftstheorie als das verbindende Element zwischen Mensch und Landschaft gesehen. Von Letzterer gehen Stimmungen aus, von Ersterem werden sie empfunden. Diese Bipolarität wurde in der jüngeren Ästhetiktheorie unter dem Begriff »Atmosphäre« diskutiert, wobei vor allem die Arbeiten von Gernot Böhme und Hermann

12 Stadler: Grundbegriffe, S. 47f. 13 Stadler: Grundbegriffe, S. 47. 14 Vgl. Duden 7. 15 Georg Simmel: Philosophie der Landschaft. Vgl. Kapitel 4.4.1.

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Schmitz maßgebend waren.16 Das nach wie vor ungelöste Hauptproblem stellt dabei die Frage dar, ob Atmosphären tatsächlich Eigenschaften sind, die Räumen oder Objekten selbst zukommen, oder ob es sich um ein reines Rezeptionsphänomen handelt, das allein in der Wahrnehmung angesiedelt ist. Schmitz setzt Emotionen in einer »exzentrischen Gefühlstheorie«17 generell mit frei im Raum fließenden Atmosphären gleich, an denen das fühlende Subjekt Teil hat. Er greift auf vorsokratische Ansätze zurück und plädiert dafür, die Verinnerlichung der Gefühle rückgängig zu machen. Dazu dient ihm der Begriff »Atmosphäre«. Böhme hingegen sucht eine egalitäre Verbindung zwischen Subjekt und Raum. Auch er glaubt, Atmosphären seien nicht ein pures Wahrnehmungsphänomen, sondern irgendwo zwischen Perzeption und Realität zu finden: »Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen.«18 Insofern gehen Stadlers Überlegungen, die auf eine aktive Rolle der Landschaft in der Produktion einer spezifischen Stimmung hinauslaufen, nicht komplett an der zeitgenössischen Diskussion vorbei. Stadler nimmt die von ihm angedeuteten methodischen Ansätze auf und führt sie systematisch aus. Er untersucht zwar ausführlich die Eigenheit von Naturtheater in Bezug auf die Bühnengestaltung und das Schauspiel, wendet also die produktionstheoretische Perspektive an, betont aber nachdrücklich, das allein reiche nicht, man müsse sich der Rezeption zuwenden: »So muss unbedingt im innersten Wesen des Naturtheaters ein drittes Element vorhanden sein, das uns über Bühne und Aufführungsstil hinaus darlegt, warum auf einer technisch komplizierten Bühne im Freien oft mehr Fühlungnahme mit der umgebenden Natur da sein kann als bei Aufführungen, die ohne besondere Bühnenzurüstung natürliches Gelände bespielen. Dieses dritte Element ist tatsächlich vorhanden. Es liegt in einem seelischen Vorgang des Zuschauers beschlossen.«19

Stadler beschreibt den »seelischen Vorgang« nicht genauer, weist aber darauf hin, dass er ein »Naturgefühl« voraussetze, das sich erst im 18. Jahrhundert entwickelt habe. Er bezieht sich auf die Studie von Willi Flemming »Der Wandel des deut-

16 Vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt a.M. 1995. Und Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle. Ostfildern 1998. 17 Sabine Schouten: Sinnliches Spüren: Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater. Vorwort. Theater der Zeit. Recherchen 46. Berlin 2007. http://www.theaterderze it.de/buch/sinnliches_spüren/vorwort/ (2.März 2012). 18 G. Böhme: Atmosphäre, S. 34. 19 Stadler: Grundbegriffe, S. 24.

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schen Naturgefühls vom 15. zum 18. Jahrhundert«20 von 1931. Nachdem sich die Menschen zuvor zu Herrschern über die Natur gemacht hätten, wende sich dieses Gefühl im 18. Jahrhundert der Natur wohlwollend zu. Das befähige die Menschen erstmals, die Natur ästhetisch zu betrachten, eine Fähigkeit, ohne die Naturtheater im Sinne Stadlers nicht möglich wäre.21 Entsprechend löst er die anfangs beklagte Unschärfe der theaterhistorischen Verwendung der Begriffe »Freilicht-« und »Naturtheater« dahingehend auf, dass das »ältere Freilichttheater« keine Beziehung zur Naturstimmung habe und von den Anfängen bis zum Barock reiche. Erst danach sei das »neuere Freilichttheater« möglich, dessen eigentlicher Antrieb das neue Naturgefühl sei, wenngleich nur wenige Formen des Freilichttheaters diesem Ideal entsprächen.22 So versteht Stadler am Ende das Naturtheater als historisches Phänomen. Er legt den Schwerpunkt seiner Betrachtung – von Arthur Kutscher ausgehend – auf eine rezeptionstheoretische Analyse und bestimmt das »neuere Naturgefühl« als die historisch konkrete Voraussetzung der Existenz von Naturtheater. Vieles in Stadlers Studie findet man in den Äußerungen zeitgenössischer Vertreter des Freilicht- und Landschaftstheaters wieder, ohne dass explizit auf Stadler Bezug genommen würde.23 Hingegen sichtlich beeinflusst von Edmund Stadlers Arbeit untersuchte Brigitte Schöpel 1965 die Freilichttheater in Südwestdeutschland. Sie nannte ihre Studie »Naturtheater«.24 Der Begriff »Landschaftstheater« kommt darin nicht vor. Zum Naturtheater macht sie aber Feststellungen, die für die Bestimmung von Landschaftstheater von Interesse sind. Theaterhistorisch hält sich Schöpel eng an Stadler. Sie übernimmt sowohl die Ausführungen von ihm und Flemming zum »neueren Naturgefühl« als auch seine Kritik am unklaren Gebrauch der Termini »Freilicht-« und »Naturtheater«. »Naturtheater« hält sie für eine paradoxe Begriffsbildung. Theater, als Form von Kunst, sei das Gegenteil von Natur. Im »Naturtheater« fänden die beiden konträren Substantive aber erstaunlicherweise zusammen. Schöpel sieht in dieser Verbindung sogar ein Oxymoron. Allerdings sei der Begriff nur schwer zu verstehen, er suggeriere zwar, dass Natur das Theater determiniere, wie die »Art und Weise der Bestimmung erklärt werden« solle, sei aber unklar: »Ist hier unter ›Natur‹ ein cha-

20 Willi Flemming: Der Wandel des deutschen Naturgefühls vom 15. zum 18. Jahrhundert. Halle an der S. 1931. 21 Vgl. Kapitel 4.5. 22 Vgl. Stadler: Grundbegriffe, S. 63f. 23 Vgl. Kapitel 6.3 und 6.4. 24 Brigitte Schöpel: Naturtheater: Studien zum Theater unter freiem Himmel in Südwestdeutschland. Tübingen 1965.

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rakteristisches Attribut zu verstehen, so handelt es sich um ›natürliches Theater‹.«25 Sei »Naturtheater« aber als »Theater der Natur« zu verstehen, nähere es sich Phänomenen, die eher als »Naturschauspiele« bekannt seien: spektakuläre Ereignisse in der Natur. Am gängigsten scheint ihr aber ein räumliches Verständnis des Begriffs: Naturtheater als Theater in der Natur. Die semantische Komplexität spiegle die »Vagheit des Naturbegriffs«26 selber, denn es sei ebenso wenig klar, was unter »Natur« zu verstehen sei. Das bedeute für das Naturtheater, dass »spezifischer Stimmungsgehalt […] in einer rein landschaftlichen Umgebung ebenso wirksam« werde, »wie auf einem architektur-umstellten Platz. Es ist also relativ gleichgültig, wo ein Spiel im Freien abgehalten wird, sei es nun auf einem Wald- oder Wiesengelände, einem mittelalterlichen Marktplatz oder vor einer alten Kirchenfassade; der effektive Eindruck weist graduelle, aber keine prinzipiellen Unterschiede auf.«27 Schöpel versteht Natur also als reine Umgebung, egal ob organischer oder anorganischer Art. Landschaft ist für sie offenbar eine geographische Größe, eine Einheit von Natur in organischem Sinn. Sie widerspricht Stadler und damit Kutscher und stellt fest, dass jedem Freilichtspiel die Eigenarten des Naturtheaters zukämen. Diese Eigenarten seien im »spezifischen Stimmungsgehalt« zu suchen. Damit äußert sie sich sogar noch allgemeiner als Sheldon Cheney, der im Hinblick auf die amerikanische Freilichttheaterbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts drei Typen von Freilichtspielen identifizierte: das »architectural theatre«, das »natural theatre« oder »forest theatre« und das »garden theatre«.28 Cheney ordnet diese Typen verschiedenen theaterhistorischen Epochen zu, hat aber vor allem die seinerzeitige Entwicklung in Amerika im Auge. Er klassifiziert die Theaterformen nach dem Ort ihrer Aufführung. Schöpel hält das nicht für relevant. Sie interessiert sich für die Wirkung, und die komme allein von der frischen Luft. Schöpel hat sicher Recht: Der Naturbegriff ist vage. Aber offenbar nicht vage genug, um ihn nicht als Gegenteil von Kunst zu verstehen. Dass daraus, sollte die Annahme zutreffen, eine gewisse Stimmung entsteht, die den Reiz am Freilichtspiel ausmacht, ist wohl auch nicht falsch. Für eine genauere Bestimmung, was unter Natur- und Landschaftstheater zu verstehen ist, sind diese Betrachtungen aber selbst zu vage.

25 Schöpel: Naturtheater, S. 8. 26 Schöpel: Naturtheater, S. 8. 27 Schöpel: Naturtheater, S. 11. 28 Sheldon Cheney: The Open-Air Theatre. New York 1918, S. 10.

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6.2 DAS LANDSCHAFTSTHEATER BALLENBERG Die bekanntesten Landschaftstheatervorstellungen der Schweiz finden im Freilichtmuseum Ballenberg statt. Seit 1991 produziert der Verein »Landschaftstheater Ballenberg« einmal im Jahr große Stücke, die künstlerischen Anspruch mit Popularität zu verbinden versuchen. Gespielt werden Stoffe und Bearbeitungen von Gotthelf, Keller, Ibsen, Zuckmayer oder Inglin.29 Für die erste Inszenierung war Louis Naef verantwortlich, der insgesamt als Spiritus Rector des Landschaftstheaters Ballenberg gilt. »Romeo und Julia auf dem Dorfe« nach Gottfried Keller, in einer Bearbeitung von Heinz Stalder, wurde an verschiedenen Orten auf dem Ballenberg gezeigt, das Publikum wanderte von einem Schauplatz zum anderen. Seither wird an gleichbleibendem Ort gespielt, allerdings jedes Jahr an einem anderen. Das Ensemble des Landschaftstheaters Ballenberg besteht weitgehend aus Amateuren, einzelne Rollen werden mit Profis besetzt, ebenso die künstlerische Leitung und die Produktionsleitung. Die Budgets der einzelnen Produktionen belaufen sich auf etwa eine halbe Million Franken, zwei Drittel davon werden durch Publikumseinnahmen gedeckt. Öffentliche Gelder gibt es keine. Rechtlich ist der Verein Landschaftstheater Ballenberg unabhängig vom Freilichtmuseum Ballenberg, arbeitet aber eng mit diesem zusammen. Das Freilichtmuseum liegt auf einem Gebirgsrücken zwischen Brienz und dem Brünigpass im Berner Oberland. Auf dem 660.000 m2 großen, hügeligen und teils bewaldeten Gelände wurde 1978 das »Schweizerische Freilichtmuseum Ballenberg für Kultur« eröffnet. Träger ist eine 1968 gegründete, private, aber von Bund und Kanton Bern unterstützte Stiftung. Das Museum stellt alte Schweizer Häuser aus, darunter viele Abbruchobjekte, die abgebaut, verschoben, renoviert und originalnah wieder aufgebaut wurden. Das Museum legt Wert auf Popularität, wird aber nach wissenschaftlichen und denkmalpflegerischen Grundsätzen geführt. Ziel ist die Vermittlung charakteristischer, insbesondere ländlicher Schweizer Bau- und Arbeitskultur. Das Innere der Häuser ist mit entsprechendem Mobiliar und traditionellem Arbeitsgerät ausgestattet. Neben Aspekten bäuerlichen Lebens werden traditionelle Handwerke und Gewerbe sowie Formen ländlicher Heimarbeit ausgestellt. Das Museumskonzept beinhaltet ferner die Vorführung von Handwerken und bäuerlicher Arbeit sowie das Zeigen historischer Nutzpflanzen und Bauernhoftiere. Die mehr als 100 Gebäude sind – korrespondierend mit den Regionen des Landes – in so genannten Geländekammern gruppiert. Diese Haus- und Hofgruppen stellen ehemalige Betriebsformen nach oder deuten siedlungsgeschichtliche Zusammenhänge an. Die Häuser werden, wo möglich, entsprechend der ursprüngli-

29 Vgl. http://landschaftstheater-ballenberg.ch/de/Angebote/Ruckblick_1991_-_2010 (11. April 2011).

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chen Ausrichtung in situ positioniert. Manche Geländekammern sind thematisch bearbeitet. In der Kammer »Tessin« zum Beispiel wurden Terrassen mit Reben angelegt, eine Kastanienselve gepflanzt und eine Pergola errichtet. Durch die besondere den Ausstellungsstücken gemäße räumliche Ausdehnung entsteht ein gesamtheitlicher Eindruck. Das Museum bezeichnet sich selbst folgerichtig als »parkähnliches Gelände«.30 Daraus ergibt sich für das »Landschaftstheater Ballenberg« eine widersprüchliche Situation. Einerseits bildet die Lokalität eine Kulisse, die für die präferierten traditionellen Schweizer Stoffe geeignet scheint, weil sie einen hohen Grad an Authentizität verspricht. Andererseits handelt es sich um ein Museum, das Originalität inszeniert. Die Landschaft scheint nicht nur wie gemacht für die Zwecke des Landschaftstheaters, sie ist es tatsächlich, wenn auch mit anderen Absichten. Die Produktionsleiterin des »Landschaftstheaters Ballenberg«, Eliane Imhof, ist sich der Problematik bewusst.31 Entsprechend definiert sie den Begriff »Landschaft« als »das, was da ist«, was die Tatsache, dass es sich beim Spielort des Vereins um ein Museum handelt, theoretisch einschließt. Unter »Landschaftstheater« versteht sie das »in und mit der Natur spielen«, Landschaft sei »eine Kulisse, in und mit« der man spiele. Ziel sei es, Theater und Landschaft in Einklang zu bringen. Dies setze Kenntnis des Ortes und den Willen voraus, nicht einfach Theater unter freiem Himmel zu machen, sondern mit »was da ist« zu arbeiten, »in die Landschaft hinein« zu gehen. Das macht in Imhofs Augen den Unterschied zwischen Freilicht- und Landschaftstheater aus. Landschaftstheater habe natürlich auch Grenzen. Die angestrebte »Natürlichkeit« werde schon nur durch die technische Zurüstung erheblich gestört. Zum Beispiel sei die akustische Verstärkung der Spielenden jedes Jahr ein großes Problem. Der Einfluss der Landschaft – Wind, Wetter, Ausdehnung – sei der Verständlichkeit mündlicher Rede abträglich, gehöre aber zur gewünschten Kulisse. Technische Verstärkung von Stimmen wiederum sei für die Vermittlung des Stücks meistens unentbehrlich, zerstöre aber einen der eindrücklichsten Effekte des Landschaftstheaters, nämlich die synästhetische Wahrnehmung von Raum. Auch weitere Erfordernisse von Theater – Licht, Zuschauerinstallationen, das Off – stehen gemäß Imhof dem theoretischen Anspruch entgegen. Es sei nicht einmal so, dass »das, was da ist«, tel quel als Kulisse übernommen werde. Einmal ausgewählte Orte würden den Erfordernissen der Inszenierung angepasst, was bedeuten könne, Zusatzbauten aufzustellen oder die bestehenden Gebäude zu verändern. Das beinhalte immer auch die Demontage der Informationstafeln und aller sich direkt auf der »Bühne« befindenden Hinweise auf das Museum. Von der Seite der Produktion her müsse man

30 http://ballenberg.ch/cmsfiles/ballenberg_info_2011_d.pdf (11. April 2011). 31 Gespräch mit M.B. vom 11. März 2009 in Bern.

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insofern von einem »Kompromiss« reden, der sich vor allem darin auszeichne, »anders« mit Raum und Zeit umzugehen, als dies Theater in Innenräumen oder Freilichttheater täten. Schließlich bleibe es aber doch Theater mit den entsprechenden Wirkungs- und Fiktionalisierungsstrategien. Der Autor Hansjörg Schneider beschreibt den fraglichen Produktionsvorgang so: »Ballenberg hat ein Theater, das in der Landschaft spielt. Es werden hier keine Kulissen gebaut, die Schauplätze sind original. Erst sucht man die Geschichte, die man spielen will. Dann sucht man den Schauplatz, auf dem man die Geschichte spielen kann. Ein kleines Haus, in dem die arme Familie wohnt, schräg versetzt das reiche Haus. Davor Wiese, dahinter Wald, hinten am Horizont die Berge. Ein Weg links oben, ein Weg rechts oben. Ein Wäldchen, wo man die Gartenwirtschaft hinstellen kann. Das ist alles vorhanden, muss nicht gebaut werden. Davor pflanzt man die Tribüne in die Wiese.«32 Beim Publikum, erklärt Eliane Imhof, werde das Landschaftstheater Ballenberg gerade seiner illusionistischen Kraft wegen geschätzt. Sie geht davon aus, dass ein großer Teil des Publikums bereit sei, die perfektionierte Illusion einer vergangenen ländlichen Welt in den originalen Gebäuden anzunehmen und sich keine repräsentationstheoretischen Gedanken zu machen. Das sei auch inhaltlich zu verstehen, was Imhof als die Erwartung einer »Heile-Welt-Erfahrung« beschreibt. Diese »heile Welt« decke sich in der Vorstellung vieler mit den auf dem Ballenberg gezeigten landschaftlichen Arrangements. Dem sei auch fehlende historische Genauigkeit nicht abträglich, denn es sei nicht immer möglich, die dem Stoff adäquate geschichtliche und geographische Umgebung zu finden. Das im Jahr 2009 aufgeführte Stück »Vreneli ab dem Guggisberg« zum Beispiel basiert auf dem Roman »Gastlosen« von Walther Kauer. Dieser spielt im freiburgischen Sensegraben, die dem Stoff zugrunde liegende Sage wird im nahe gelegenen, aber bernischen Dorf Guggisberg, das heißt, in voralpiner Landschaft situiert. Das Stück wurde auf dem Ballenberg jedoch in der Geländekammer »Zentrales Mittelland« gezeigt. Solche Unschärfen würden kaum bemerkt, meint Imhof. Die suggestive Kraft von Architektur und Natur sei stark. Erstaunlicherweise sei es aber so, dass, werde eine historisch falsche Waffe als Requisit eingesetzt, es immer einen Spezialisten gebe, dem das auffalle. Es sei auch nicht so, sagt Imhof, dass sich das Landschaftstheater Ballenberg dem Wunsch nach idyllisierender Illusion seitens des Publikums entziehe. Zwar stünden die gespielten Stoffe, da inhaltlich »sozialkritisch«, dem meistens entgegen. Aber die illusionistische Kraft des Landschaftstheaters stelle sich auf ganz anderen Ebenen ein. Spielende Kinder, Wäscherinnen, Berittene, überhaupt Tiere, Massen-

32 Hansjörg Schneider: Klassiker in der Landschaft. In: Ernst Halter, Buschi Luginbühl (Hg.): Volkstheater in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein. Zürich 2000, S. 22.

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szenen, das seien Mittel des Landschaftstheaters, die ihre Wirkung selten verfehlen würden, da könne der Inhalt einer Szene oder eines ganzen Stücks noch so unangenehm sein. Auf formaler Ebene müsse man sich deshalb immer die Frage stellen, was »noch als Teil der Landschaft toleriert werde«. »Das, was da ist« sei ja nicht immer auch das Gewünschte. Ein Kampfflugzeug zum Beispiel, obwohl Teil alltäglicher Erfahrung im Berner Oberland, würde eine Aufführung nicht nur akustisch stören, sondern auch jede suggestive Wirkung demontieren. Insofern spiele das Landschaftstheater Ballenberg mit den Bildern und Wünschen von Landschaft, die Akteure und Publikum bereits im Kopf hätten. Die Tatsache, dass es sich beim Ballenberg um ein Museum handelt, das die Originalität dieser Bilder rekonstruiert und gleichzeitig, weil es ein Museum ist, kritisch reflektiert, verleiht diesem Spiel einen paradoxalen doppelten Boden. Das Landschaftstheater im Freilichtmuseum Ballenberg ist die Ästhetisierung dessen, »was da ist«, unter dem Aspekt, dass »das, was da ist«, bereits ästhetisiert ist. Was dazu führt, dass die ursprüngliche Ästhetisierung, die Konstruktion »Museum«, wieder in den Hintergrund tritt und Vorstellungen, die im Museum reflektiert werden, unreflektierte Geltung erlangen, wie die Ausführungen der Produktionsleiterin zeigen.

6.3 DAS LANDSCHAFTSTHEATER LOUIS NAEFS Der Schriftsteller Hansjörg Schneider bezeichnet den Regisseur Louis Naef als denjenigen, der »das Landschaftstheater Ballenberg […] erfunden hat«.33 Louis Naef selber formuliert es zurückhaltender und spricht vom »Landschaftstheater, wie ich es in verschiedenen Inszenierungen […] entwickelt habe«.34 Naef meint damit nicht nur solche Inszenierungen, die er auf dem Ballenberg realisiert hat. Er war auch an anderen Orten, besonders in der Innerschweiz aktiv. Naef ist sich der Paradoxie, die dem Landschaftstheater im Freilichtmuseum innewohnt, bewusst, wie er im Vorfeld seiner Inszenierung »Peter Gynt« von 1995 zu erkennen gab: »Das Freilichtmuseum erscheint dem Regisseur als idealer Ort, um ›Peter Gynt‹ zu inszenieren. Das Stück passe besser in eine Landschaft als auf eine gewöhnliche Bühne. Für L. N. ist der Ballenberg ohnehin ein Ort der Enge und der Miniaturisierung, denn dort werde etwas

33 H. Schneider: Klassiker in der Landschaft, S. 22. 34 Louis Naef: Landschaftstheater. Theater in der Landschaft als Spiel in und/oder mit der Natur. In: Hans-Wolfgang Nickel, Christian Schneegass (Hg.): Symposion Spieltheorie. Berlin 1998, S. 166.

314 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER gezeigt, was es gar nicht mehr gibt. Der Wahnsinn des Peer Gynt korrespondiere jedenfalls bestens mit dem Wahnsinn dieses Museums.«35

1991 stellte Louis Naef vier Prämissen des Landschaftstheaters auf. Grundlegend geht er davon aus, dass im Theater Geschichten erzählt würden und dass der Stoff dieser Geschichten »aus der Wirklichkeit«36 stamme, das heißt aus »unserer Geschichte und Herkunft«.37 Die Gegend, in der gespielt und von der gehandelt werden soll, spielt für die Erschließung dieses Stoffs eine entscheidende Rolle, »wenn ich in den mir vertrauten (oder durch lange Beobachtung neu entdeckten) Dörfern und Landschaften Theater mache: Ich suche mir den Stoff (die Fabel), der zu diesem Ort und den hier lebenden Menschen passt, bearbeite ihn […] zu einer Aufführung, welche die Umgebung ganz konkret miteinbezieht oder gar thematisiert.«38 Auf dem argumentativen Weg zu seiner ersten Prämisse des Landschaftstheaters macht Naef auch deutlich, was er unter Landschaft versteht: »Landschaftstheater wäre demnach nicht nur vom Begriff der Landschaft her zu definieren (Landschaft als Natur-Umgebung, aber auch als Seelen-Landschaft), sondern als Versuch zu deuten, aus den spezifischen lokalen (sozialen, gesellschaftspolitischen und kulturellen) Gegebenheiten, wie sie sich (situativ) in den Menschen, Häusern, Straßen und Landschaften zeigen, Spiel zu entwickeln und zu gestalten. Landschaftstheater ist demnach als animatorische Theaterarbeit im sozialen Feld zu verstehen, welche die lokalen Gegebenheiten situativ miteinbezieht. […] Es geht also beim Landschaftstheater zuerst und überhaupt um die Verwurzelung der Theaterarbeit in diesen lokalen Gegebenheiten.«39

Durch die »Verwurzelung« des Landschaftstheaters entstehe einerseits eine besondere Ästhetik, andererseits soziale Realität. Landschaftstheater hebe die Distanz zwischen Publikum und Agierenden auf und führe zu einem gemeinschaftlichen Ereignis. Dies gehe über ähnliche Prozesse im gewöhnlichen Volkstheater hinaus, weil die entstehende soziale Realität aus der Verbindung mit einer Landschaft gespeist werde, wobei Naef nicht nur den Begriff »Landschaft« verwendet, sondern auch »vertraute Umgebung« und »vertrauter Lebensraum«. Er gibt der Landschaft damit eine geographisch-soziale Dimension, was das Sprachbild der »Verwurzelung« beschreibt:

35 Andreas Staeger: Peer Gynt auf dem Ballenberg. In: DIE ZEIT Nr. 21, 19. Mai 1995, S. 63. www.zeit.de/1995/21/Peer_Gynt_auf_dem_Ballenberg?page=4 (11. April 2009). 36 Naef: Landschaftstheater, S. 167. 37 Naef: Landschaftstheater, S. 167. 38 Naef: Landschaftstheater, S. 167. 39 Naef: Landschaftstheater, S. 168.

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»Die Landschaft als Schauplatz des Theaters: Wir entdecken darin die Wurzeln unserer Geschichten. […] Handlungsort ist die konkrete, den einheimischen Spielern vertraute Umgebung, worin sie ihre Figuren darstellen. Durch die ›Verfremdung‹ des vertrauten (eigenen) Lebensraumes in den Spielraum ihrer Fiktionen wird Landschaft im Spiel zum Ort der Begegnung. […] Theater als ein Moment des öffentlichen Lebens, das sich darin abspielt.«40

Die Rede von der »Verfremdung« des Vertrauten führt Naef zu seiner zweiten Prämisse. Sie leitet sich aus der ersten ab, wendet aber nur eine in Naefs Augen allgemeine Eigenheit von Theater auf das Landschaftstheater an. Er meint die Objektivierung, die aus dem Einzelnen das so genannte Allgemeine macht und neue Erkenntnisse ermöglicht. »Spiel schafft Einsicht in sonst im Alltag nicht gesehene, also befremdliche Zusammenhänge.«41 Komplementär dazu schließt die dritte Prämisse an: »Landschaftstheater zielt auf das Authentische.«42 Das könnte der zweiten Prämisse widersprechen. Objektivierung zeigt nicht unbedingt das Authentische. Wenn Landschaftstheater Einsicht verschaffen soll, dann ist das Authentische in diesem Fall der Irrtum: die »im Alltag nicht gesehene[n]« Zusammenhänge. Louis Naef begibt sich auf definitorisch ungesichertes Gelände. »Authentizität« ist ein in der zeitgenössischen Theater- und Kunsttheorie breit diskutiertes, aber ungelöstes Problem.43 Naef leitet die Forderung nach Authentizität im Landschaftstheater vom Gebrauch der Sprache ab. Er beschreibt Schweizerdeutsch und Hochdeutsch als einander entgegengesetzte Systeme, denen die jeweiligen Arten von Theater zugeordnet werden könnten. Das Schweizerdeutsche gehöre zum Landschaftstheater. Naef beschreibt die Mehrsprachigkeit innerhalb des Schweizerdeutschen und findet zu einer Definition des sprachlich Authentischen: »Unsere je eigene und besondere Sprache.«44 Landschaftstheater soll für diese Authentizität bürgen. »Man kann im Freilichtmuseum inmitten der Berner Häuser eine Geschichte einfach nicht auf Hochtütsch oder in Französisch erzählen. Zu der Geschichte der hier abgestellten Häuser gehört auch die früher darin gesprochene Sprache.«45 Daraus folgt auch Neafs letzte Prämisse. Landschaftstheater sei »immer auf den Ort und die Umgebung, worin es stattfindet, situativ bezogen. Realität und Spiel

40 Naef: Landschaftstheater, S. 178f. 41 Naef: Landschaftstheater, S. 169. 42 Naef: Landschaftstheater, S. 170. 43 Vgl. z.B. Susanne Knaller (Hg.): Authentizität: Diskussion eines ästhetischen Begriffs. München 2006. Und Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. 44 Naef: Landschaftstheater, S. 169. 45 Naef: Landschaftstheater, S. 170.

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bedingen sich gegenseitig.«46 Träger dieses Bezugs sind die Akteure und Akteurinnen. »In seiner Rolle ist der Spieler also auch Repräsentant: einer, der für den gemeindemäßigen – lokalen – Zusammenhang geradesteht.«47 Insgesamt entstehe so eine »Doppelschichtigkeit von Realität und Spiel, von Alltagsgeschehen und fiktionaler Handlung«.48 Realität stelle sich allein schon deshalb ein, weil der Raum, der bespielt werde, eben »real« sei. Zum Beispiel sei er »real« groß. Auf- und Abtritt oder Gänge zum Beispiel hätten in der Landschaft eine eigene Dauer und fänden unter weit weniger kontrollierten Bedingungen statt als in einem geschlossenen Theater. »Die Zeit habe ich erst im Landschaftstheater richtig erfahren und entdeckt. […] In der Landschaft kann es vorkommen, dass ein Spieler einen Kilometer weit in der Sicht der Zuschauer gehen muss, er kann nicht aussteigen, seine Konzentration ist grösser, er bekommt einen anderen gestischen Rhythmus. So dringt die Zeit als Erfahrungs- und Erinnerungshorizont stark ins Spiel ein.«49

Entsprechend anfällig für Unwägbarkeiten aller Art sei das Landschaftstheater, was aber nicht negativ zu verstehen sei, im Gegenteil. »Der Boden im Probenraum ist flach, ohne Hindernis, der Weg draußen geht rauf und runter; man kann auch mal müde werden oder über einen zufälligen im Weg liegenden Stein stolpern. Die SpielerInnen spüren die Anstrengung als rein physischen, nämlich realen Vorgang. Ihr Gehen bekommt etwas ›Natürliches‹, durch die Umgebung, fühlen sich also eher gelöst und frei. Ein andermal peitscht Regen und Wind um ihre Gesichter. […] Das Landschaftstheater bezieht seinen epischen Atem aus diesem Gehen über den Weg. Ich kann als Regisseur nichts vertuschen, nichts verstecken. Einer kommt von weither, und ich sehe, dass er müde ist.«50

Damit exemplifiziert Naef noch einmal seine vierte Prämisse des Landschaftstheaters und sagt, was Authentizität in diesem Zusammenhang für ihn bedeute. Er nennt es »Wahrhaftigkeit«: »Theater, das wahrhaftig ist, ist eben näher beim Sein, bei der Natur, als beim Schein und der Illusion. Deshalb bin ich in meiner Beschäftigung

46 Naef: Landschaftstheater, S. 170. 47 Naef: Landschaftstheater, S. 171. 48 Naef: Landschaftstheater, S. 171. 49 Ernst Halter, Louis Naef: Theater der Partizipation. Ein Gespräch. In: Halter, Luginbühl (Hg.): Volkstheater, S. 15. 50 Naef: Landschaftstheater, S. 175f.

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mit dem Theater irgendwann in der Landschaft angekommen.«51 Trotzdem habe diese »Wahrhaftigkeit« die »Objektivierung« des Theaters nötig, was aber nicht Minderung der Wirkung bedeute: »Der (unbegrenzte) Lebensraum wird zum (begrenzten) Spielraum. Landschaftstheater […] hält sich nicht an die theatralische Einschränkung durch den begrenzten (Innen-)Raum der Bühne. Aber Landschaftstheater ist nicht einfach Theater im Freien, wo man eine Bühne hinstellt. Im Landschaftstheater ist die Landschaft selber die Bühne – dadurch ebenfalls nicht grenzenlos, aber die Grenzen des Spiels spürbar machend.«52

Die »Grenzen des Spiels« sind für Naef nicht nur räumlich zu verstehen. Konstitutiv für Landschaftstheater sei eben auch die Beteiligung des Zufalls. In Erinnerung an seine Inszenierung »Vier Jahreszeiten« im Freilichtmuseum Ballenberg schreibt Naef, dass »Zufall, Wetter, Landschaft und die Einflüsse der Natur eine bestimmende Rolle spielten. Indem wir in der Landschaft und mit der Natur spielten, spielten Natur und Zufall mit uns«.53 Das ergebe sich aus den Bedingungen von Landschaftstheater und sei eine seiner Qualitäten. Landschaftstheater sei insgesamt »ein Spiel von freiem Zufall […] und festgesetzten Regeln«.54 Louis Naefs vier Prämissen unterscheiden im Kern eine inhaltliche und eine ästhetische Dimension des Landschaftstheaters. Inhaltlich gehe es »beim Landschaftstheater zuerst und überhaupt um die Verwurzelung der Theaterarbeit in diesen lokalen Gegebenheiten«.55 Das bezieht sich den Ausführungen gemäß auf Stoff und Material. Naef geht grundsätzlich von »Geschichten« aus. Er benennt Lokalität und »Verwurzelung« als entscheidende Elemente von Landschaftstheater, was sowohl geographisch wie metaphorisch zu verstehen ist. Ästhetisch sei Landschaftstheater »immer auf den Ort und die Umgebung, worin es stattfindet, situativ bezogen. Realität und Spiel bedingen sich gegenseitig.«56 Das ergebe sich erstens methodisch aus der Art des Spiels, der Art des Spielorts und des Gebrauchs der Sprache, zweitens »situativ« aus der Beeinflussbarkeit von Landschaftstheater durch den Zufall. Insgesamt laufen Naefs Erläuterungen zu den Charakteristika von Landschaftstheater, dem systematischen Ansatz zum Trotz, auf eine Mystifizierung hinaus, indem theoretisch problematische Begriffe wie »Authentizität« oder sprachlich un-

51 Naef: Landschaftstheater, S. 176. 52 Naef: Landschaftstheater, S. 177f. 53 Naef: Landschaftstheater, S. 177. 54 Naef: Landschaftstheater, S. 179. 55 Naef: Landschaftstheater, S. 168. 56 Naef: Landschaftstheater, S. 170.

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scharfe, weil metaphorische Bilder wie »Verwurzelung« die Besonderheit, wenn nicht sogar die künstlerische Überlegenheit von Landschaftstheater erklären sollen. Die Tatsache, dass solche Charakteristika Ergebnis bestimmter Wirkungsstrategien und Wahrnehmungsabsichten sind, bleibt dabei verschwiegen. Schlagwörter wie »Authentizität« und »Verwurzelung« als Gefühle der gesteigerten Nähe unterstützen schließlich die Gleichsetzung von Landschaft und Wahrheit im Landschaftstheater, was nicht eine tatsächliche Eigenart dieses Theaters, sondern die unausgesprochenen Intentionen der Produzenten beschreibt.

6.4 DAS LANDSCHAFTSTHEATER ULI JÄCKLES Seit 1996 produziert der deutsche Regisseur Uli Jäckle in Zusammenarbeit mit dem »Forum Heersum« große Landschaftstheater in der Hildesheimer Börde. Unter der Mitwirkung von bis zu 250 Laienschauspielern und Laienschauspielerinnen hat sich dieses Spektakel zu einer sozialen Attraktion entwickelt, die weit über ihr eigentliches Entstehungsgebiet hinaus Beachtung findet. Die Stücke sind Eigenproduktionen, die sich im Sinne einer Pastiche an konkrete erzählerische Vorbilder anlehnen oder Genres bedienen, sich aber eindeutig auf lokale Eigenheiten beziehen: »Aste Rix in Astenbeck« (2000), »Bördiana Jones« (2001), »Desperados« (2002), »Heindi« (2004). Die Stücke dauern mehrere Stunden und spielen an verschiedenen Orten, die alle zu Fuß erreichbar sind. Während der Vorstellungen unternimmt das Publikum geschlossen eine Wanderung von einer Spielstation zur nächsten. Den Begriff »Landschaftstheater« hat Jäckle aus seiner eigenen Theaterpraxis im »Freien Theater, in Stadttheatern und soziokulturellen Projekten«57 entwickelt. Auf Traditionen beziehe er sich »explizit gar nicht«.58 Landschaftstheater versteht Uli Jäckle als »ein Theater, das unter freiem Himmel stattfindet und den landschaftlichen Umraum in eine dramatische Handlung mit einbezieht: das heißt, die Landschaft wird als Bühnenbehauptung genutzt«.59 Landschaft wiederum ist für Jäckle in diesem Kontext »ein Ort im Freien mit all [seinen] Umwelteinflüssen, in dem sich Akteure und Zuschauer gemeinsam befinden«. Landschaft sei grundsätzlich nicht beschränkt, auch wenn man sie durch »theatralische Handlung«60 scheinbar begrenze, »denn Landschaft beinhaltet akustische authentische Störgeräusche: Verkehr, Vögel, Wind, Kirchenglocken etc.«.61 Diese für Theater ungewöhnliche

57 Uli Jäckle: Email an M.B. vom 27. März 2009. 58 Jäckle: Email. 59 Jäckle: Email. 60 Jäckle: Email. 61 Jäckle: Email.

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Größe habe direkten Einfluss auf die Ästhetik: »Landschaft setzt das Bühnengeschehen dem Wetter aus – Sonne, Regen, Hitze oder Kälte – und bestimmt so entscheidend den Charakter, die Atmosphäre, die Stimmung des Geschehens.«62 Ex negativo lasse sich sagen, Landschaft sei im Landschaftstheater »kein eigens präparierter Ort«.63 2006 publizierte Uli Jäckle in der Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft zehn »Regeln für ein anderes Volkstheater«.64 Er setzt sich darin mit den Voraussetzungen und der Funktionsweise des Heersumer Volkstheaters auseinander und reflektiert auch den Begriff »Landschaftstheater«. Jäckle unterteilt seine Regeln in zehn thematische Punkte. Vieles bezieht sich auf sein Verständnis von »anderem Volkstheater«, das er von Stadt- und Staatstheatern abgrenzt und ihm eine eigene Ästhetik und andere Formen sozialer Verankerung und Beteiligung zuschreibt. Um die Verwendung des Begriffs »Landschaftstheater« in Heersum zu klären, sind vor allem folgende Punkte von Belang: »1. Landschaft und Bühne – Das andere Volkstheater verlässt die Bühne, ist Trekkingtheater, Wandertheater, ein Theater, das sich auf der Höhe der Zuschauer befindet. Wir gehen zum Bühnenbild hin. Das Bühnenbild ist die Landschaft, ein Schloss, eine lokale architektonische Gegebenheit usw. Diese sollte nicht nur Kulisse, sondern maßgeblich in die Handlung einbezogen sein.«65

Jäckle macht hier zwei Sachen klar. Dass erstens, weil Landschaft da ist, wo sie eben ist, Landschaftstheater zu ihr hin müsse, was bedeute, dass das Publikum wandert. Zweitens sei Landschaft unter diesen Bedingungen ein Bühnenbild, und zwar nicht nur als reine Staffage oder Dekoration, sondern als handlungsbestimmende Komponente, sie sei inhaltlich relevant. Sich auf das Bühnenbild zuzubewegen, bedeute also, dessen Qualitäten als Landschaft zugänglich zu machen. Die Tatsache, dass das Bühnenbild aufgesucht werden müsse, bestimme die Rezeption. Ebenso lasse sich das, was in diesem Bühnenbild stattfinde, bestimmen von dem, was da sei: der Landschaft. Trotzdem könne Landschaftstheater nicht auf alle Umstände, die sich daraus ergäben, dass es draußen stattfinde, Rücksicht nehmen: »Ein Theater in der Landschaft muss witterungsunabhängig immer stattfinden können.

62 Jäckle: Email. 63 Jäckle: Email. 64 Uli Jäckle: Regeln für ein anderes Volkstheater. In: Dramaturgie. Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft. Heft 1, 2006. www.dramaturgische-gesellschaft.de/dramaturg/20 06_01/dramaturg2006_1_jaeckle.php (11. April 2011). 65 Jäckle: Regeln.

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Für das Finale ist es jedoch unerlässlich, für Regenschutz zu sorgen, am besten einen Innenraum zu bespielen, eine große Feldscheune, ein Schloss etc.«66 Die inhaltliche Relevanz von Landschaft ergebe sich, so Jäckle, nicht nur aus den materiellen Eigenschaften einer Landschaft, ihrer Geographie, sondern entfalte sich auch auf der Ebene des Stoffs: »2. Lokalbezug – Das Stück wird durch die besonderen Gegebenheiten und Geschichten der Orte vorgegeben. Die Fabel ist von lokalen Ereignissen inspiriert und wird mit heutigen, populären Heldenepen verwoben: James Bond jagt einen lokalen Mythos, eine örtliche Schnapsbrennerei dient als Schmuggellager einer Mafiagang etc.«67 Die Landschaft stelle also dramatisches Material zur Verfügung, werde aber, auch in ihrer Verwendung als Bühnenbild, zu etwas anderem, als sie sonst sei. Die Schnapsbrennerei erhalte eine zusätzliche Bedeutung, ihre semiotische Qualität werde ambivalent.68 Sie sei in den Augen des Publikums mindestens zwei Dinge auf einmal: die Schnapsbrennerei, die alle kennen, und das Schmuggellager, das ihnen das Stück vorschlägt. Die angestrebte Mehrdeutigkeit von Landschaft zeige, so Jäckle, sogar über die Spielwirklichkeit der Stücke hinaus Wirkung: »Aus dieser Arbeitsweise ist in Heersum sogar ein ›Heimatmuseum‹ hervorgegangen, das die reale Dorfgeschichte mit den fiktiven Geschichten der Theaterprojekte versetzt.«69 Diese Verwandlung von Räumen beschränke sich nicht auf Landschaften im Sinne eines Landstrichs: »In sehr vielen meiner Theaterprojekte geht das Publikum zum Bühnenbild hin – d.h. in authentische Räume, die ihre eigene Aura besitzen. Zum Beispiel: ein Supermarkt, der Schwurgerichtssaal im Landgericht Hildesheim, die Bibliothek der Humboldt-Universität Berlin. Der Raum wird so bespielt, wie er vorgefunden wird. Er will als solcher ernst genommen werden. Er hat eine eigene Aura, eine eigene Geschichte, er ist ein lebender Bestandteil des Kunstwerkes. Er besitzt eigene Requisiten, eigene Lichtquellen, eine eigene Akustik und manchmal eigene ›Insassen‹. […] Durch die theatrale szenische Behauptung verändert sich also der authentische Raum – er wird zu einem Kunst-Raum, den man völlig neu betrachtet und der eine neue ästhetische Erfahrung des Vertrauten ermöglicht.«70

66 Jäckle: Regeln. 67 Jäckle: Regeln. 68 Vgl. z.B. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen 1983. 69 Jäckle: Regeln. 70 Uli Jäckle: Vortrag, gehalten am 15. Januar 2009, Hochschule für Bildende Künste Braunschweig.

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Es ist anzunehmen, dass Jäckle mit dem Wort »Aura« etwas Ähnliches beschreiben will wie Stadler mit dem Wort »Stimmung«. Die Aura beschreibt die Wirkung eines Orts oder Objekts, impliziert aber das in Teilen rezeptionsunabhängige Zustandekommen dieser Wirkung im Sinne einer Eigenleistung des auratischen Objekts oder Ortes. Für Jäckle spielt dabei eine Unterscheidung zwischen vermeintlich natürlich gebliebenen und kulturell hervorgebrachten Orten keine Rolle, eine Aura können sie alle haben. Indem Räume, wie Jäckle sagt, »authentisch« sein müssen, knüpft der Regisseur an die Bestimmung der Aura durch Walter Benjamin an, wobei dieser den Begriff primär auf Kunstwerke bezog, nicht auf Orte oder Dinge, die aufgrund ihrer Aura zu solchen werden, wie Jäckle vorschlägt.71 Die Aura wird für Benjamin durch die Echtheit, die Originalität des Werks hervorgerufen. Diese an eine bestimmte Raum-Zeit-Konfiguration, an »sein Hier und Jetzt«72 gebundene Aura wird durch die technische Reproduktion zerstört. Darauf reagiert Jäckles Übertragung des Begriffs insofern, als Aura nicht mehr das ist, was durch Kunst erzeugt wird, sondern im Gegenteil Kunst initiiert. Benjamin illustriert seinen AuraBegriff auch an Naturphänomenen und versteht darunter eine »Erscheinung der Ferne«.73 Eine Nutzbarmachung dieser Aura ist ihm aber suspekt, denn »die Dinge sich räumlich und menschlich ›näherzubringen‹ ist ein genauso leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion ist«.74 Benjamin beschreibt und kritisiert damit Jäckles Vorgehen ungewollt und überraschend genau. In seinem Regelwerk beschreibt Uli Jäckle weiter, welche Rezeptionsbedingungen für sein Landschaftstheater am geeignetsten seien, um diese Verwandlung des Vertrauten erlebbar zu machen. Die Wanderung »muss einerseits dem Publikum das Gefühl geben, wirklich unterwegs zu sein, darf andererseits eine bestimmte Zeit nicht überschreiten. Erfahrungsgemäß dauert ein solches Ereignis ca. drei bis vier Stunden, die zurückgelegte Strecke liegt zwischen einem und fünf Kilometern.«75 Jäckle verbindet sein Landschaftstheater mit der Kunst des Spazierens. »Wichtig ist es, das Publikum in Bewegung zu halten. Man sollte unterwegs nie länger als eine Viertelstunde verweilen.«76 Die Bewegung, die aus der Entfernung entsteht, die zwischen den Spielorten liegt, beeinflusse die Wahrnehmung. In Jäckles Land-

71 Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a.M. 1977. 72 Benjamin: Kunstwerk, S. 13. 73 Benjamin: Kunstwerk, S. 15. 74 Benjamin: Kunstwerk, S. 15. 75 Jäckle: Regeln. 76 Jäckle: Regeln.

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schaftstheater hat Landschaft eine mobilisierende Funktion. Landschaft ist im Sinne Jäckles also nicht nur Bühnenbild und Fundgrube, sondern erzeuge, allein durch räumliche Ausdehnung, auch eine Rezeptionshaltung. In einem Interview aus dem Jahr 2001 beschreibt er die daraus entstehende Wechselwirkung zwischen Publikum und Akteuren anhand der Aufführungen von »Hakelmann!« (1998). Es habe die ganze Zeit geregnet und die Leute hätten sich in einem Wald durchs Unterholz schlagen müssen, um »Urwald und Tarzan und Affen« zu erleben: »Unter Zuschauern und Spielern gab es eine unglaubliche Solidarität. Es hat geregnet, aber je schlechter das Wetter war, desto wahnsinniger waren die Vorstellungen, weil die Leute einfach unglaublich zusammengegluckt sind.«77 Hier klingt wieder Tönnies’ Gemeinschaftsbegriff an. Gemeinschaft wird in Heersum über intensive körperliche Beteiligung am Raumerlebnis hergestellt. Jäckles Landschaftstheater stiftet eine gemeinschaftliche Identität erst sekundär über Themen und Inhalte. Primär schweißt die Situation, in die sich das Publikum konkret gestellt sieht, die Menschen zusammen. Jäckle ist sich im Klaren darüber, was den Erfolg seines Landschaftstheaters ausmacht. Die Kunst allein ist es nicht: »Man hat immer das Gefühl, dass der Inhalt eher sekundär ist. Das Erlebnis ist das absolut Primäre für die Leute. In der freien Natur zu sein, sich gemeinsam etwas anzugucken, was über eine ganz große Fläche verteilt ist. Das ist ein sehr sinnlicher Anspruch – auch vom Publikum her. […] Unsere Unterhaltungskunst muss etwas sein, was kein Theater machen kann. Deshalb: Runter von der Bühne! Die ganze Welt ist eine Bühne – wir sind hier im Dorf, und hier spielt es. Und wenn Bühne, dann diese thematisieren, oder die Bühne an einen ungewöhnlichen Ort stellen. In einen Park, auf eine Insel … oder auf ein Autodach. […] Man muss eigene Kriterien entwickeln, um das zu beurteilen. Wir wollen beweisen – auch den Leuten, die mitmachen –, dass Kunst zum Alltag gehören kann.«78

Uli Jäckles Landschaftstheater in Heersum hat insofern eine sozial-animatorische Ausrichtung, die sich metaphorisch auf den Landschaftsbegriff anwenden lässt: »Das Ganze ist vor allem ein Spiel mit Nähe und Distanz […] Der Zuschauer ist in jeder Hinsicht mittendrin.«79 »Mittendrin« zu sein ist das entscheidende Merkmal dieses Landschaftstheaters. Akteure und Publikum gehen in eine Landschaft hinein, sie setzen sich ihr körperlich aus und erleben sie am eigenen Leib. Darin sieht Jäckle die Qualität seiner Arbeit: »Die politische Dimension dieser Projekte liegt nicht in der direkten Behandlung von Problemen oder Themen, die soziale Brenn-

77 Uli Jäckle: Interview mit dem Forum für Kunst und Kultur e.V. in Heersum bei Hildesheim. 2001. Zur Verfügung gestellt. 78 Jäckle: Interview. 79 Jäckle: Vortrag.

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punkte oder soziale Fragen aufwerfen, sondern was dieses Theater mit den Menschen macht – sowohl den Mitspielenden als auch den Zuschauern.«80 Jäckle bricht so zum Teil mit tradierten Landschaftsvorstellungen. Landschaften sind für ihn nicht Räume, denen man gegenüber-, sondern solche, in die man eintritt. Die distanzierte Schau schließt er aus. Landschaften betrachtet man in Jäckles Augen nicht, sondern geht in ihnen und in einem von ihnen initiierten Gemeinschaftserlebnis auf. Unter Landschaft versteht er dabei einfach das Gegebene, nicht allein die Natur. Durch eine bestimmte Aura wird dieses Gegebene für die künstlerische Nutzung interessant. In der inszenatorischen Konstruktion des körperlichen Erfahrens von Landschaft bleibt Jäckle hingegen überlieferten Landschaftsvorstellungen treu, wenngleich er das Erleben von landschaftlichen Stimmungen durch forcierte Nähe zu intensivieren versucht.

6.5 DAS SCHWYZER MYTHENSPIEL VON 1991 1991 wurde in Schwyz ein Stück von Herbert Meier mit dem Titel »Mythenspiel. Ein grosses Landschaftstheater mit Musik« gegeben. Es war Teil der konfliktreichen 700-Jahr-Feier der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Das Mythenspiel war aber nicht ein offizieller Anlass in dem Sinne, dass es als das gültige und von allen Seiten gebilligte Spiel zum Fest gegolten hätte. Lange Zeit war nicht klar, ob es überhaupt ein nationales Festspiel geben sollte. Die Schweizerische Gesellschaft für Theaterkultur hatte bereits 1987 eine Tagung zum Thema organisiert und kam zu folgendem Schluss: »Das Theater als soziale Kunst muss 1991 eine wichtige Rolle spielen. Ein nationales Festspiel an einem zentralen Ort kann aber die heutigen sozialen Strukturen in unserem Land nicht widerspiegeln.«81 Nichtsdestotrotz fanden sich private Promotoren für das Unterfangen »Nationales Festspiel in Schwyz«, deren Umtriebigkeit den Bund schließlich veranlasste, das Projekt halbherzig zu unterstützen. Aus finanziellen Gründen wurde die Inszenierung in nur fünf Monaten Arbeit realisiert. Trotzdem lief die Sache aus dem Ruder und kostete am Ende zehn statt wie budgetiert drei Millionen Franken. Zum Schluss resultierte ein Defizit von 1,5 Millionen Franken. Man hatte in 24 Aufführungen mit 80.000 Zuschauern gerechnet, 50.000 kamen. Das »Mythenspiel« war nicht unpopulär, aber altmodisch, es ging von Anfang an am Nerv der Zeit vorbei. Der Autor Herbert Meier und Hans Hoffer, verantwortlich für Regie und Konzept, waren sich der theatergeschichtlichen Implikationen ihres Unterfangens bewusst und nannten ihre Produktion pro-

80 Jäckle: Vortrag. 81 Balz Engler: Das Ende des nationalen Theaters: Die Schweiz 1991. In: Andreas Kotte (Hg.): Theater der Region – Theater Europas. Basel 1995, S. 47-54, hier S. 48.

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grammatisch nicht »Festspiel«, sondern eben »Grosses Landschaftstheater mit Musik«. Zu diesen Schwierigkeiten kamen Zeitumstände, die nicht zu einem nationalrepräsentativen Festspiel passen wollten. Die weltpolitische Lage war ungewiss und ließ überkommene bipolare Denkmuster und Identitätskonstrukte nicht mehr zu. Der Nationalstaat war von außen und von innen infrage gestellt. Die Schweiz war ein Land, das sich auf der Suche nach einem Weg aus dem Kalten Krieg befand, dabei in eine seltsam fiebrige Verspannung verfiel, sich jeder Integration in Europa entzog, hässliche Kriegsleichen im Keller seiner Geschichte entdeckte, Selbstbild und Ideologie verlor und sich trotzdem den pazifistischen Tagtraum leistete, offen über die Abschaffung der eigenen Armee nachzudenken. 1992 sollte Ben Vautier an der Weltausstellung in Sevilla die Sache auf den Punkt bringen: »La Suisse n’existe pas.« Viele andere Künstler und Künstlerinnen verweigerten sich unter dem Eindruck des Fichen-Skandals den kulturellen Jubiläumsveranstaltungen von 1991. Dazu kam, dass die national-konservativ anmutende »Diamant«-Feier von 1989 zum Gedenken an die Mobilmachung von vielen als Affront empfunden wurde, weil das Fest als Feier zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs interpretiert wurde. Aus diesen Gründen standen viele Kulturschaffende dem Jubiläum von 1991 von Anfang an ablehnend gegenüber. Die Veranstalter des »Mythenspiels« hatten entsprechende Schwierigkeiten, Schweizer Personal zu verpflichten. Unter den gegebenen Umständen hätten viele ein Engagement als Bekenntnis zu einem als problematisch empfundenen Staat verstanden. Schließlich musste man tatsächlich weitgehend auf ausländische Kräfte zurückgreifen. Der Regisseur Hans Hoffer zum Beispiel war Österreicher, was ebenso Anlass zu Streitereien gab wie die Tatsache, dass das für den Bau der Arena verwendete Holz nicht aus der Schweiz stammte.82 Das Festspiel fand insofern in vielerlei Hinsicht unter schwierigen Bedingungen statt. Vor diesem Hintergrund war Hans Hoffer und Herbert Meier daran gelegen, neue Formen für das Genre »Festspiel« zu finden. Der Begriff »Landschaftstheater« schien ihnen dafür hilfreich. Sie hielten ihn für eine originäre Findung: »Ich war stets der Meinung, Hoffer und ich hätten den Begriff zuerst geprägt, und zwar im Frühling 1991. […] Die Überlegungen von Edmund Stadler kenne ich nicht.«83 Was verstehen Hoffer und Meier unter Landschaftstheater? »Bei mir hat das Wort ›Landschaftstheater‹ einen genuinen Sinn: Das Stück ist für eine bestimmte Landschaft geschrieben. Sein Stoff stammt aus der Landschaft. Es hat diese Landschaft

82 Vgl. Engler: Das Ende, S. 54. 83 Herbert Meier: Brief an M.B. vom 1. Februar 2009.

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zum Schauplatz und wird in ihr aufgeführt, in einem eigens dafür gebauten, offenen Theaterhaus.«84 Meier formuliert damit vier Punkte, die für ihn Landschaftstheater ausmachen. Landschaftstheater sei: erstens Theater für eine Landschaft, zweitens Theater aus einer Landschaft, drittens in einer Landschaft spielendes Theater und viertens in einer Landschaft aufgeführtes Theater. Die Landschaft ist in allen vier Fällen dieselbe, alle vier Kategorien müssen erfüllt sein. Das versucht das »Mythenspiel«, wie Meiers und Hoffers Erläuterungen zum Projekt deutlich machen. – Erstens »für«: »Theater für Viele, nicht für eine geschlossene Gesellschaft, eher für eine offene Gemeinschaft.«85 Meier grenzt Landschaftstheater von anderen Theaterformen ab, die in »geschlossener Gesellschaft« rezipiert werden. Meier meint die historisch gewachsenen Formen des Theaters, die mit Exklusivität und Distinktion von Publikum und Produzierenden verbunden sind. Repräsentiert werden diese Charakteristika durch Theaterbauten, die sich sowohl architektonisch wie sozial durch Hermetik und Introversion auszeichnen. Zwar handelt es sich meistens um durch die öffentliche Hand unterstützte Institutionen, offenbar aber stellt Meier deren öffentliche Zugänglichkeit infrage und beschreibt sie, halb metaphorisch wohl, als »geschlossene Gesellschaft«. Dem gegenüber stellt er eine »offene Gemeinschaft«, die offenbar aus »Vielen« besteht, für welche Landschaftstheater gemacht werde. Stillschweigend bezieht sich Meier auf Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft. 86 Meier legt Wert darauf, diese Gemeinschaft als »offen« zu verstehen, und grenzt sich somit von jeder völkischen Implikation ab. Für Meier hat der Begriff »Landschaft« eine soziale Dimension. Landschaft sind die »Vielen«, die »Gemeinschaft«, die mit diesem bestimmten Ort, auf den sich die Aufführung bezieht, in besonderer Verbindung stehen. Mit dieser Verwendung spielt Meier auf den politischen Landschaftsbegriff an, der frühere Phasen der Wortgeschichte geprägt hat und die Bewohner einer politisch definierten Gegend, später deren Repräsentanten bezeichnete.87 Landschaft heißt in diesem Sinne eine soziale Gruppe, in Meiers Worten eine »Gemeinschaft«, die im Verhältnis zu einer geographischen Einheit gedacht wird, als Bevölkerung einer Gegend. Im konkreten Fall des »Mythenspiels« von 1991 ist dieser von Meier vorgeschlagene Landschaftsbegriff allerdings dadurch infrage gestellt, dass die Veranstaltung einen gesamtschweizerischen Anspruch hatte und –

84 Meier: Brief. 85 Herbert Meier: Programmmappe Mythenspiel. Juli 1991. 86 Vgl. Kapitel 6.1. 87 Vgl. Kapitel 4.5.

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durch Größe und Besetzung – mit internationaler Beachtung rechnen durfte. Wen die angesprochene Gemeinschaft umfasste, musste also tatsächlich »offen« bleiben. – Zweitens »aus«: Herbert Meier holte sich seinen Stoff aus den sagenhaften und historischen Überlieferungen der Innerschweiz. Das »Mythenspiel« beginnt mit einem Autounfall, bei dem die Hauptfigur Teiler vom »Scheibenhund« geblendet wird, die Kontrolle über ihr Fahrzeug verliert und sich in eine seltsame Welt zwischen Leben und Tod geschleudert sieht. Die Suche nach der im Unfall verlorenen Gefährtin zieht sich als roter Faden durch das Stück. Auf dieser Suche unternimmt Teiler, begleitet von einem Spielleiter namens Vinz, eine Wanderung durch die örtliche Gebirgslandschaft. Unterwegs trifft er auf Geschichten und Gestalten, die historisch oder fiktiv in dieser Gegend verortet sind, wobei sich der Blickwinkel gegebenenfalls öffnet und selbst über die heutigen Landesgrenzen hinaus weist. Meier versteht Landschaftstheater insofern als eine szenische Manifestation, als Bühne des Überlieferungsschatzes einer Landschaft. »Die Figuren, die sagenhaften (›Scheibenhund‹, ›Stegkatzen‹ u.a.) und die mythologischen (›Die drei Tellen‹ u.a.) und die historischen erscheinen in der Landschaft, aus der sie stammen.«88 Landschaft wäre demnach ein Träger von Überlieferung, auf die Landschaftstheater Bezug nähme. Die Sagenstoffe beziehen ihre spezifische Färbung aus dem Lokalkolorit. Sich wiederholende Erzählmuster werden durch die geographische Anbindung individualisiert. Sie gehen in die kollektive Erinnerung der Bevölkerung über und werden durch die Verortung im Lokalen als originär empfunden. Solche Erzählungen wiederum können die Wahrnehmung von Landschaft prägen. Die geschichtliche Dimension von Landschaft erschöpft sich nicht in den geographisch fixierbaren historischen Fakten, die sich allenfalls materiell in einer Landschaft niedergeschlagen haben. Diese beiden Ebenen durchdringen sich im Verständnis Meiers gegenseitig. Gerade die Verschränkung der Bedeutungen lässt das »Mythenspiel« erst entstehen: »Mit der Landschaft hatte ich auch die Vision des Stückes. Das Gebirge mit seinen Höhlen, Kammern, Türmen als Ort des Vergessenen, Abgesunkenen.«89 Das »Mythenspiel« setzt sich also mit Landschaft als Träger von Erzählungen auseinander, die selbst Träger dessen sind, was als Landschaft bezeichnet wird. Treffenden Ausdruck findet dieser Umstand in einer Anekdote, die Herbert Meier im Interview erzählt: »Ich sah mein Stück unter den beiden ›Mythen‹ spielen. Der Titel war für mich, wie gesagt, eine ›geographische‹ Bezeichnung. Die Bezeich-

88 Meier: Brief. 89 Tino Arnold, Herbert Meier, Hans Hoffer: »Nur ein herkömmliches Festspiel…«. Werkstattgespräch im Dezember 1990. In: Herbert Meier: Mythenspiel. Ein grosses Landschaftstheater mit Musik. München 1991, S. 103-125, hier S. 113.

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nung des Schauplatzes. Aber deutsche Freunde fassten ihn gleich symbolisch auf, als ginge es um ein Spiel mit Mythen. Das war nicht meine Absicht. Der Doppelsinn des Titels ist mir erst jetzt bewusst.«90 Tino Arnold ergänzt: »Dieser Doppelsinn ›Spiel unter den Mythen‹ und ›Spiel mit den Mythen‹ aber erfüllt das Werk gleichermaßen: Aus Natur und Volk um die Mythen, aus magisch mythischen Elementen, aus Brauchtum, Sage und Historie setzt das Mythenspiel gegenwärtige Befindlichkeit in szenische Spielwirklichkeit um.«91

Dass Landschaftstheater aus einer bestimmten Landschaft stammen müsse, heißt für Meier also zweierlei: Landschaftstheater führt die von einer Landschaft getragenen Erzählungen und die Bedeutungen, die Landschaft durch diese Erzählungen erhält, zusammen. – Drittens »in spielend«: Herbert Meier bezeichnet die Bergwelt um Schwyz als Handlungsort des »Mythenspiels«: »Das Gebirge der Innerschweiz ist der Schauplatz des Ganzen.«92 Lässt sich das aus dem Stück erschließen? Die Regieanweisungen am Anfang der Szenen geben jeweils folgende Orte vor: »Felslandschaft. Strasse. […] Felslandschaft der beiden Mythen.«, »Strasse.«, »Steinbrocken. Felskopf.«, »Einsame Bergöde. Felsbrocken.«, »Felsabgrund. Grabfeld.«, »Felshöhle. Herabstürzende Winde.«, »Grosse Ebene. Rote Sonne über Nebelschwaden.« (Diese Szene spielt »vor Mailand«.) »Erleuchteter Saal im Gebirg. Felskanzel.«, »Wege im Gebirg.«, »Grosser Platz unterm Gebirg.«, »Felskammern erleuchtet. Felsgräber.«, »Mauer. Felskopf.«, »Felskopf. Grosses Zahnrad. Leitern und Pfade.« (Die Szene handelt vom Bau einer Bergbahn.) »Felshöhle.«, »Felskopf. Grosses Zahnrad.«, »Felsvorsprung mit zwei Steintafeln. Felshöhle.«, »Felshöhle. Park mit Tor.« (Die Szene spielt im Park der Villa Belvoir in Zürich.) »Park mit Tor.«, »Offenes Feld. Felskanzel. […] Im Schnee.«, »Offenes Feld. Tor zum Park.«, »Tor. Park.«, »Ein grosses Wetterleuchten über der Landschaft.«93 Konkret erkennbar wäre die hier entworfene Gegend nicht, würde sie nicht am Anfang benannt. Felsformationen wie die beschriebenen kommen an vielen Orten vor. Am Ende wird die Szenerie sogar zur reinen Landschaft mit Wetterleuchten, was ein Wiedererkennen gänzlich erschwert. Dass das »Mythenspiel« tatsächlich in der Gegend spielt, aus der es stammt, lässt sich aus den Regieanweisungen allein nicht erschließen. Identifiziert wird das Innerschweizer Gebirge durch die auftre-

90 Arnold, Meier, Hoffer: Herkömmliches Festspiel, S. 112. 91 Arnold, Meier, Hoffer: Herkömmliches Festspiel, S. 112. 92 Meier: Brief. 93 Vgl. Meier: Mythenspiel.

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tenden Gestalten, insbesondere die sagenhaften. Bezieht sich das Stück hingegen auf historisch konkrete Vorgänge und Figuren, gehören selbst die Lombardei und Zürich zum Schauplatz. Die Innerschweiz ist im nationalen Kontext mehr als eine geographische Gegend.94 Sie ist ein Symbol und wird deshalb auch »Urschweiz« genannt. Hier soll die Schweiz entstanden sein, was 1991 ja gefeiert wurde. Das »Mythenspiel« als Teil dieser Feier hatte in diesem Sinne durchaus die Aufgabe, Landschaft in einem übergreifenden, symbolischen Sinn zu repräsentieren. Die prototypische Gebirgslandschaft, in der das Stück spielt, ist demnach auch als das Alpenmassiv in seiner für das Selbstbild der Schweiz so wichtigen symbolischen Gestalt zu verstehen. Nur kann die mythische Abstraktion auf eine Verankerung im geographisch konkreten Raum offenbar nicht verzichten. Aber sie bleibt zwangsläufig labil. Meiers Landschaftstheater bewegt sich insofern zwischen diesen beiden Perspektiven auf Landschaft: Landschaft als ein konkreter Ort und Landschaft als der andere, ideelle Ort, den man nicht sieht und der doch da ist. – Viertens »in aufgeführt«: Für die Aufführungen des »Mythenspiels« wurde in Schwyz eigens ein offenes Theater errichtet. Es war temporär und verschwand nach den Vorstellungen wieder. Dieses offene Theaterhaus war ein flacher, runder Bau mit halbem Dach.95 Auf einer Seite befand sich die halbkreisförmige Bühne von 20,5 Metern Tiefe. Darauf die Hauptbühne, ein nach hinten offener Rahmen, 10,45 Meter hoch und fahrbar. Dahinter eine mobile Projektionsfläche, 11 Meter hoch. Auf der anderen Seite des Runds die Tribüne für etwa 4.500 Menschen, über der Tribüne ein hängendes Dach. In der Mitte der Tribüne ragte – als einziges bildnerisches Element im ganzen Bau – ein überdimensionaler Kopf über die Anlage hinaus. Durch ihn gelangte das Publikum auf die Tribüne. Die nach hinten weitgehend offene Bühne gab den Blick auf die Umgebung frei. Zu sehen waren einige Bürgerhäuser von Schwyz, die hinter dem Ort ansteigenden Hänge des Mythen-Massivs, deren Gipfel sowie der freie Himmel. Die Vorstellungen wurden in der Dämmerung gespielt, war die Nacht ganz hereingebrochen, wurde durch Lichteffekte die Umgebung zur Geltung gebracht. »Ich wollte moderne Mittel des Theaters einsetzen, Projektion und Bewegung, Tanztheatralisches, Light-design, Musik vor allem und Stimmen ab Tonband. Auch die beiden Berge über Schwyz, die ›Mythen‹ sollten irgendwie mitspielen.«96 Für Meier beinhaltet der Begriff »Landschaftstheater« also den ästhetischen Bezug zur Umgebung, hier vermittelt durch einen »offenen« Büh-

94 Vgl. z.B. Kreis: Schweizer Erinnerungsorte. 95 Vgl. Herbert Meier: Programmmappe Mythenspiel. Juli 1991. 96 Arnold, Meier, Hoffer: Herkömmliches Festspiel, S. 108f.

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nenbau: »Im Talkessel von Schwyz, im Anblick der beiden Mythen findet das Theater statt.«97 Wie sehr sich die Produzenten mit der Landschaft verbunden fühlten, bringt eine Anekdote zum Ausdruck, die der Regisseur Hans Hoffer in der Programmmappe zum »Mythenspiel« erwähnt. Er schildert, wie während der ganzen Verhandlungsphase, als das Zustandekommen des Unterfangens noch nicht gesichert war, das Mythen-Massiv stets in Nebel gehüllt gewesen sei. »Erst als am 31. Jänner dieses Jahres die Entscheidung fiel, mein Landschaftstheater zu realisieren, zeigten sich eines Abends die Mythen in ganzer eindrucksvoller Größe, frei von Wolken und Nebel, ich hielt es für ein Zeichen freundlichen Einverständnisses, an unserem Spiel mitzuwirken.«98 Hoffer verwendet dasselbe Bild wie Stadler mit Bezug auf Kutscher: »Was das Naturtheater vom Freilichttheater unterscheidet, ist die grundsätzliche Mitwirkung der umgebenden Natur, genauer gesagt, der durchgehende Bedacht auf ihren stimmungsmäßigen Einfluss.«99 Auch Hoffer kann sich vorstellen, dass Natur »mitwirkt«, das heißt, zu einem eigenen Akteur wird, der mehr ist als reine Szenerie. Natürlich ist sich Hoffer über die Funktion dieser, vielleicht auch nicht ganz ernst gemeinten, Aussage im Klaren: Die Wirkung, die die Umgebung erzielen soll, wird, um die Rezeption günstig zu beeinflussen, artikuliert und die Landschaft emotional aufgeladen. Zusätzlich rechnet Hoffer offenbar mit einer Unbekannten, nämlich der Natur, die eigenen Gesetzen gehorcht; Hoffer suggeriert sogar, sie handle nach eigenem Willen. In Hoffers und Meiers Verständnis ist das Landschaftstheater demnach etwas, das sich in eine Umgebung einbettet und keinen Aufwand scheut, sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Der Theaterbau kalkulierte von Anfang an die Wirkung des Mythenmassivs ein. Das Vis-à-vis von Mensch – repräsentiert einerseits durch das Publikum, andererseits durch den überdimensionalen Kopf – und Natur gibt bereits eine inhaltliche Richtung für das Stück vor. Der Mensch tritt der Natur gegenüber und findet in ihr seine Geschichte wieder. In den Worten des Radioredaktors Tino Arnold: »Natur als dramatisches Gegenüber des Menschen im Spannungsfeld dieses Landschaftstheaters – das klingt für mich schon voll an im Titel Mythenspiel.«100 Das »dramatische Gegenüber« impliziert allerdings auch eine Unwägbarkeit, die von der Natur ausgeht und die Wirkung des Landschaftstheaters entscheidend

97

Meier: Brief.

98

Meier: Programmmappe.

99

Stadler: Grundbegriffe, S. 17. Vgl. Kapitel 4.4.1 und 6.1.

100 Arnold, Meier, Hoffer: Herkömmliches Festspiel, S. 112.

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prägen kann. Hoffer und Meier sehen im Landschaftstheater etwas, das nicht nur in eine Landschaft eingebettet, sondern ihr auch ausgeliefert ist. Kein Zufall, erzählen die Mythen, die Meier für das »Mythenspiel« ausgesucht hat, von einer Welt, in der das Verhältnis von Mensch, Natur und Geschichte prekär ist. Hoffers und Meiers Landschaftstheater repräsentierte diese Welt 1991, zum Jubiläum der Eidgenossenschaft, in Form und Inhalt. Hoffer und Meier bemühten sich sichtlich, die von Meier formulierten Kriterien des Landschaftstheaters zu erfüllen. Hoffer beschreibt die Aufgabe so: »Man muss sozusagen das Innere eines Menschen, die innere Architektur eines Menschen umwandeln und in Verbindung bringen mit der Landschaft.«101 Die Vorstellung der »innere[n] Architektur des Menschen« steht in Verbindung mit dem »ersten topischen Modell« Sigmund Freuds. In der 1900 erschienenen »Traumdeutung« beschreibt er den psychischen Apparat des Menschen als ein »zusammengesetztes Instrument, dessen Bestandteile wir Instanzen oder der Anschaulichkeit zuliebe Systeme heißen wollen«.102 In diesen Bestandteilen glaubt Freud das »Bewusste«, das »Vorbewusste« und das »Unbewusste« zu erkennen. Metaphorisch betrachtete er diese Bestandteile als »Orte« der menschlichen Psyche. Als ausgebildeter Mediziner stand für Freud am Anfang des ersten topischen Modells die Auseinandersetzung mit der Neuroanatomie und somit einer anatomischen Topik. Das erste topische Modell entfernte Freud jedoch von diesem naturwissenschaftlichen Ansatz. Die psychische Topik lokalisiert psychische Vorgänge nicht anatomisch, sondern metaphorisch in ihrem Verhältnis zueinander. Freud passte das Modell später an und kam zu einem strukturelleren Ansatz, der »Über-Ich«, »Ich« und »Es« unterschied, dem so genannten zweiten topischen Modell oder »Drei-Instanzen-Modell«. Dieses »zusammengesetzte Instrument«, die menschliche Psyche, macht die »innere Architektur des Menschen« aus, die Hoffer beschreibt. Noch treffender ist in Bezug auf das Landschaftstheater Freuds Metapher des »Orts«. Ist das »Innere« der Menschen nach räumlichen, »topischen« Kategorien strukturiert, liegt es nahe, dieses »Innere« mit dem »Äußeren« in Verbindung zu setzen: »Ich sage als Wiener: ›Die Seele ist ein weites Land‹«,103 sagt Hoffer und zitiert Schnitzler.104 »Und daher der Gedanke, Landschaftstheater zu benutzen, um ein sinnlich wahrnehmbares Abbild der Hauptfigur herzustellen.«105

101 Arnold, Meier, Hoffer: Herkömmliches Festspiel, S. 114. 102 Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Studienausgabe, Band II. Frankfurt a.M. 1996, S. 513. 103 Arnold, Meier, Hoffer: Herkömmliches Festspiel, S. 114. 104 Arthur Schnitzler: Das Weite Land. Tragikomödie in fünf Akten. Stuttgart 2002. 105 Arnold, Meier, Hoffer: Herkömmliches Festspiel, S. 114.

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Landschaftstheater bildet in Hoffers und Meiers Augen eine Verbindung zwischen der Seele der Menschen und jener der Landschaft. Beide seien sie in ähnlicher Weise strukturiert und ein Konglomerat aus gegebenen Eigenschaften und Geschichte. »Es besteht ja überhaupt in der Psyche einer Landschaft eine Synchronizität der Zeitalter. Und in uns selbst nicht weniger.«106 Landschaftstheater, das »aus« einer Landschaft kommt, »in« ihr spielt und aufgeführt wird und »für« dieselbe Landschaft gedacht ist, sei demnach Theater, das sich auf Dinge »außerhalb« der Menschen ebenso beziehe wie auf solche, die »innerhalb« der Menschen zu suchen seien. Die Begriffe »Seele« und »Landschaft« überlagern sich in der Verwendung von Hoffer und Meier derart, dass sie zusammen gedacht werden können. Mit Hugo von Hofmannsthal, wie Hoffer ein Wiener: »Ich habe mich bedacht, dass schönste Tage/Nur jene heißen dürfen, da wir redend/Die Landschaft uns vor Augen in ein Reich/Der Seele wandelten.«107 Die Vorstellung von der Seele als Landschaft hatte Hofmannsthal vielleicht in den berühmten Tagebüchern Henri-Frédéric Amiels aufgelesen, die er selbst rezensiert hat,108 denn Amiel schrieb im Oktober 1852: »Un paysage quelconque est un état de l’âme, et qui sait lire dans tous deux est émerveillé de retrouver la similitude dans chaque détail.«109 Hoffer und Meier nähern sich einem romantischen Landschaftsverständnis, das in der Außenwelt ein Abbild der Seele sucht. Mehr noch, Landschaftstheater kreiere eine Art Totalität, in der Gegebenes und Gewordenes, Individuelles und Kollektives zusammenfalle. In den – unerwiderten – Worten von Tino Arnold, dem Gesprächspartner von Hoffer und Meier: »Diese Synchronizität in der Seelen-Landschaft oder Landschafts-Seele lässt nicht nur die Zeitalter, sondern Gegenwart, Historie und Sage ineinanderfließen zu einer neuen, autonomen Spielwirklichkeit magischmythischen Totaltheaters.«110 Arnold bezieht sich auf Walter Gropius’ Konzept des Totaltheaters, das, der Tradition des Bauhauses folgend, künstlerische und technische Ressourcen zusammenführen sollte. Im Kern ist das Totaltheater ein architektonischer Entwurf, den Gropius 1927 für Erwin Piscator erdacht hatte, der aber nie ausgeführt wurde. Das Totaltheater sollte im Publikum und auf der Bühne ein neues Massentheater ermöglichen. Darüber hinaus bezeichnete der Begriff aber einen integrativen künstle-

106 Arnold, Meier, Hoffer: Herkömmliches Festspiel, S. 116. 107 Hugo von Hofmannsthal: Botschaft (1897). In: Hugo von Hofmannsthal: Gedichte und kleine Dramen. Frankfurt a.M. 1949, S. 18f. 108 Hugo von Hofmannsthal: Das Tagebuch eines Willenskranken. Henri-Frédéric Amiel, »Fragments d’un journal intime«. In: Hugo von Hofmannsthal: Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Band 2. Erzählung und Aufsätze. Frankfurt a.M. 1966, S. 271-S. 281. 109 Henri-Frédéric Amiel: Journal intime. Tome II. Lausanne 1978, S. 295. 110 Arnold, Meier, Hoffer: Herkömmliches Festspiel, S. 116.

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rischen Ansatz, der alle am Zustandekommen von Theater beteiligten Elemente unter dem Begriff »Bühnenkunst« subsumieren wollte. Dieser Wille basierte auf einer positiven Bewertung von Rationalismus und Technik, die als dem künstlerischen Prozess immanent verstanden wurden. Arnolds Verwendung des Begriffs »Totaltheater« geht in eine andere Richtung. An »magisch-mythisches« Theater hatte Gropius nicht gedacht. Arnold bewegt sich mit dieser Konzeption von Totaltheater in die Richtung der Ideen von Oskar Eberle. Wie den traditionellen Festspielen, zu denen es sich ja ambivalent verhält, wohnt dem »Mythenspiel« offenbar eine geheimnisvolle Kraft inne, eine »magischmythische« Dimension. Es beschwört »Gegenwart, Historie und Sage«, die zu einer »neuen, autonomen Spielwirklichkeit« legieren sollen. Landschaft spielt dabei einerseits die Rolle des Orts, wo die Verschmelzung stattfindet, aus der diese andererseits aber auch gespeist wird. Landschaftstheater wiederum ist Vollzug und Produkt dieses Prozesses. Arnold nennt diese »Spielwirklichkeit« »autonom«, was vielleicht bedeutet, dass sie einen emergenten Charakter hat und bestenfalls angelegt, aber nicht hergestellt werden kann. Ist die »Spielwirklichkeit« »autonom«, kommt ihr sogar so etwas wie ein eigenes Wesen zu, sie hat selbst eine Seele, sie ist das »Andere«, das zwar aus dem Zusammenwirken von Menschen und Landschaft entsteht, aber unabhängig von beiden zu existieren beginnt und Eigengesetzlichkeit erringt. Denkt man sich dazu weiter die in Gropius’ Totaltheater angelegte Möglichkeit zum Massentheater, beginnt man die kultisch-religiöse Funktion zu erahnen, die Arnold dem »Mythenspiel« zuzuschreiben geneigt ist. Zu Recht nennt er seine Vorstellungen »magisch-mythisch«. »Nur kein herkömmliches Festspiel«, sei, sagt Meier, sein erster Gedanke gewesen, nachdem er den Auftrag zum Verfassen des »Mythenspiels« erhalten habe.111 Jedoch: Die irrationale Aufladung von Landschaft durch Begriffe wie »Seele« und »Synchronizität« tendiert genau in diese Richtung des Herkömmlichen. Gerade weil sich das »Mythenspiel« im Kontext der schweizerischen Festspieltradition bewegt, läuft die scheinbare Rationalität von Herbert Meiers Kriterien, was Landschaftstheater ausmache, ins irrationale Leere. Denn in diesem Kontext wird deutlich, wie sehr die »magisch-mythische« Sicht auf die Landschaft der Welt der nationalkonstitutiven Mythen verpflichtet ist, mit denen das »Mythenspiel« – zum Anlass des nationalen Jubiläums – ja zu »spielen« versprach. Um den Landschaftsbegriff zu befragen, der einer Beschäftigung mit Landschaft mittels Theater zugrunde gelegt wird, erweist sich Meiers Kategorisierung insofern als nützlich. Dieser Landschaftsbegriff wird maßgeblich durch den Kontext beeinflusst, in dem er Anwendung findet, was sich am »Mythenspiel« deutlich zeigen lässt. Zudem fasst das Schema die Positionen Stadlers, Naefs, Imhofs und

111 Arnold, Meier, Hoffer: Herkömmliches Festspiel, S. 106.

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Jäckles prägnant zusammen, wobei Jäckles Landschaftskonzeption etwas avancierter als jene Meiers zu sein scheint. Dessen Analyse schließt dafür deutlich sowohl an überlieferte Vorstellungen von Landschaft als auch an solche von Theater an. Er verlängert beide in eine Theaterpraxis, die sich fern ab von zeitgenössischen raumund landschaftstheoretischen Diskursen bewegt, weshalb die Bezeichnung als »traditionelles Landschaftstheater« gerechtfertigt ist. Davon unterscheiden sich die Produktionen von Schauplatz International erheblich.

Dritter Teil: Synthese

7 Neues Landschaftstheater – Neue Landschaften

7.1 DIE PRODUKTIONEN VON SCHAUPLATZ INTERNATIONAL ALS LANDSCHAFTSTHEATER Das von Meier vorgeschlagene Analyseschema bestimmt vier Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit von Landschaftstheater die Rede sein könne. Theater soll erstens »für« eine Landschaft und zweitens »aus« einer Landschaft entstehen. Es soll drittens »in« einer Landschaft »spielen« und viertens »in« ihr »aufgeführt« werden. Ungeklärt bleibt dabei, was unter dem Terminus »Landschaft« zu verstehen ist. Ein Problem allerdings, das sich in der ganzen Geschichte des Begriffs finden lässt. Es stellt sich auch die Frage, inwieweit sich die Stücke von Schauplatz International mit dem »Mythenspiel«, anhand dessen Meier seinen Kriterienkatalog entwickelt hat, vergleichen lassen. Das Mythenspiel steht sowohl in der Tradition der großen nationalen Festspiele1 als auch in jener des Volkstheaters mit hohem künstlerischem Anspruch. Die Stücke von Schauplatz International werden im Kontext des »Postdramatischen Theaters« situiert. Sie haben stark performative Elemente und stellen sich bewusst gegen tradierte Theaterkonventionen.2 Die Überprüfung von Meiers Schema hat aber darauf hingedeutet, dass es sich gar nicht in erster Linie dafür eignet, eine Genrezugehörigkeit zu definieren, sondern vielmehr hilft, den implizierten Landschaftsbegriff zu klären. Wenn im Folgenden also Meiers Schema auf die vier untersuchten Stücke von Schauplatz International angewendet wird, dann nicht, um sie mit einer Gattungs- oder Typenbezeichnung zu versehen und in eine bestimmte Tradition zu integrieren, sondern um auf Spuren zu

1

Vgl. Balz Engler, Georg Kreis (Hg.): Das Festspiel. Formen, Funktionen, Perspektiven. Willisau 1988.

2

Vgl. Kapitel 2.5.2.

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stoßen, die auf die Bedeutung des Begriffs »Landschaft« im Kontext der besagten Stücke hinweisen. – »Für«: Ein Begriff wie »Gemeinschaft«, der bei Meier wichtig ist,3 spielt in der Arbeit von Schauplatz International keine Rolle – jedenfalls nicht mit seinen ideologischen Implikationen, wie sie bei Tönnies und in anderer Form auch bei Meier vorkommen. Von einer »Gemeinschaft« zu sprechen, ließe sich allenfalls situativ rechtfertigen, indem das Publikum zu einer solchen wird, allein durch die Tatsache, dass sich eine Gruppe Menschen mit einem gemeinsamen Interesse zur selben Zeit am selben Ort befindet. Meiers Forderung, es solle sich bei einer solchen Gemeinschaft um eine »offene« – im Gegensatz zur »geschlossenen Gesellschaft« – handeln, lässt sich, unter der Voraussetzung, dass eine situative Gemeinschaft gemeint ist, für die fraglichen Stücke konkret nachprüfen. »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« war eine Koproduktion mit dem Schauspiel Essen. Das Publikum kaufte sich eine Eintrittskarte und setzte sich in einen Reisebus, der zum Ort des Geschehens fuhr. Dadurch war die Platzzahl beschränkt. Am Berliner Platz hingegen war die Aufführung ebenso frei zugänglich wie das Publikum die Freiheit hatte, sie vorzeitig zu verlassen. Grundsätzlich handelte es sich auf logistischer Ebene aber um eine konventionelle Theatervorstellung, die draußen stattfand. Im übertragenen Sinn dürfte es dem Stück »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« jedoch gelungen sein, eine gewisse Offenheit in Bezug auf das Publikum zu erzeugen. Die Produktion stieß bereits im Vorfeld auf großes Interesse, nicht zuletzt bedingt durch die breitgestreute Recherche, die die Gruppe mit vielen Menschen in Kontakt brachte. Dadurch dürfte – was ja auch die Absicht des Veranstalters war – »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« Publikumskreise erreicht haben, die sonst dem Schauspiel Essen fern bleiben. Das gilt besonders für Menschen mit einem ausgeprägten lokalhistorischen Interesse oder solche, die sich dem ehemaligen Stadtteil Segeroth aus biographischen oder ideologischen Gründen verbunden fühlten. Eigenschaften, die sonst nicht zwingend dafür sprechen, ein Schauspielhaus mit am bildungsbürgerlichen Theaterkanon ausgerichtetem Spielplan – wie es das Schauspiel Essen trotz inhaltlicher Öffnungsbemühungen war – regelmäßig zu besuchen. Dasselbe gilt für das Stück »Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei«. Auch dort gab es eine »geschlossene Gesellschaft« im Zug. Deren Mitglieder kümmerten sich allerdings nicht alle mit gleicher Aufmerksamkeit um die Aufführung. Während die meisten sich für die ganze Vorstellung im Medienwagen aufhielten, wanderten einige auch durch den Zug, warfen nur einen kurzen Blick aus dem Fenster und verließen dann den Wagen. Wieder andere hielten sich

3

Vgl. Kapitel 6.5.

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die ganze Zeit über in einem anderen Teil des Zugs auf und bekamen nichts von den »Beautiful Moments« mit. Manche der Aktionen und Installationen draußen wurden von unwissenden Passanten gesehen, wenngleich einige davon abgelegen und schwer zugänglich waren. Wie geschildert, hatte das auch produktionserschwerende Folgen, indem Requisiten entfernt und Anna-Lisa Ellend von der Polizei kontrolliert, aber wenigstens dort gelassen wurde. Das außergewöhnliche Aufführungsformat und die Einbettung in das Festival »Melez« sowie in die Aktivitäten von »Ruhr.2010« sorgten dafür, dass »Landscapes of Glory« breit rezipiert wurde. Weil es sich nicht explizit um ein Theaterfestival handelte und die Veranstaltungen im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres generell den Anspruch erhoben, breite Bevölkerungsschichten anzusprechen, fand auch dieses Stück von Schauplatz International ein Publikum, das über die Theater-Habitués hinaus reichte. Wesentlich restriktiver war der Zugang zur »Expedition an den Rand der Welt« geregelt. Aus der Sicht des Publikums handelte es sich auf logistischer Ebene um eine herkömmliche Theateraufführung. Das galt besonders für die Vorstellungen in Zürich, wo sich das Publikum in einem klassischen Theaterraum, nämlich dem des Fabriktheaters in der Roten Fabrik, befand. Dasselbe gilt für die Aufführungen in Biel und Berlin. Jene in Essen und Bern fanden in einem Kongresssaal nahe des Schauspiels Essen bzw. nahe des Schlachthaus Theaters statt. Dort kaufte das Publikum eine Eintrittskarte und begab sich dann zu Fuß an den nur wenige Gehminuten entfernten Spielort. Neben diesen institutionellen Rahmenbedingungen, die sich kaum von denen eines klassischen Theaterbetriebs unterschieden und deshalb auch dessen soziale Ausschlusskompetenz übernahmen, war die Produktion auch künstlerisch in einem sehr spezialisierten Bereich angesiedelt. Die »Expedition an den Rand der Welt« war als eine szenische Forschungsarbeit deklariert und wurde auch so rezipiert. Das Stück verweigerte sich traditionellen Wirkungsstrategien explizit und daher war es auch nicht verwunderlich, dass es nicht viel Publikum anzog. Vermutlich gibt es keinen unausweichlichen kausalen Zusammenhang zwischen dem künstlerischen Risiko, das eine Produktion eingeht, und der Resonanz, die sie erzeugt. Im Fall der »Expedition an den Rand der Welt« ließ sich diesbezüglich eine umgekehrt proportionale Relation beobachten. Und dies, obwohl sogar die auf ein breites Publikum ausgerichtete Gratispresse mit dem Hinweis auf die Zürcher Vorstellungen aufmerksam machte, es werde dabei die weltweit erste LiveTheaterkritik geschrieben und veröffentlicht. 4 Wiederum ganz anders verhielt es sich mit der Performance »Schengen Border Observation Point«. Sie hatte nichts von einer herkömmlichen Aufführungssituation. Das Stadion, in dem sie stattfand, war frei zugänglich. Zwar wäre nur die Krone des Stadions als Publikumsbereich vorgesehen gewesen, rasch bewegten sich die

4

Vgl. prp: Weltpremiere: Theaterkritik live. In: heute, 5. Mai 2008.

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Besucher jedoch in der ganzen Anlage und betraten auch das Spielfeld, das ja als Bühne fungierte. Mehrere hundert Zuschauerinnen und Zuschauer schauten sich die achtstündige Performance an, wobei ihr Besuch in manchen Fällen sicher primär dem Stadion galt. Das Ereignis war zuvor breit angekündigt worden, hatte sich aber zusätzlich im Verlauf des Tages herumgesprochen, so dass gegen Ende der Veranstaltung immer mehr Menschen anwesend waren. Weil die Aufführung so lange dauerte und in einem räumlich dermaßen ausgedehnten Rahmen stattfand, konnte sich allerdings nie eine größere situative Gemeinschaft bilden, die Rezeption blieb ein Einzelerlebnis oder eines, das man zu zweit oder in kleinen Gruppen machte. Abgesehen davon war »Schengen Border Observation Point« aber eine fast ideale Erfüllung der Forderung nach »Offenheit«, was inhaltlich günstig das eigentliche Thema der Produktion kontrastierte, nämlich die Funktionsweise von Grenzen als Segregations- und Ausschlussinstitutionen, als ideologisch konstruierte Bewegungsbarrieren. Die dramaturgische Setzung war schlüssig und für das Publikum relativ einfach zu verstehen, wenngleich sich der Zusammenhang mit den gerade stattfindenden Gesprächen auf dem Spielfeld bisweilen erst nach einigem Zuhören erschloss. Insgesamt war die Performance aber so konzipiert, dass sie nur denjenigen rätselhaft blieb, die überhaupt keine Anstrengungen unternahmen, sie zu verstehen. Insofern gehörten Zugänglichkeit und Offenheit auf mehreren Ebenen zu den Hauptmerkmalen von »Schengen Border Observation Point«. Diese inhaltliche Komponente ist wichtig, denn mit dem soziologischen Aspekt der Zugänglichkeit ist die ganze Bedeutung von Meiers Kriterium, Landschaftstheater müsse »für« eine spezifische Landschaft gespielt werden, noch nicht ganz erfasst. Meier denkt an einen politisierten Landschaftsbegriff, im Sinne der griechischen »polis«, der Gemeinschaft also – eine Bedeutungsebene, die in der Begriffsgeschichte ja durchaus präsent ist: »Landschaft« bezeichnete in frühen Bedeutungsstadien die Bevölkerung einer bestimmten Gegend, später ihre Repräsentanten.5 Wie lässt sich diese hermeneutische Komponente für die fraglichen Stücke von Schauplatz International beschreiben? Alle vier setzten sich mit Identifikation auseinander. Identifikation bedeutet in diesem Zusammenhang eine gesuchte oder gefundene Übereinstimmung von individueller Persönlichkeit und überindividueller Anschauung eines bestimmten räumlichen Gefüges und dessen Eigenschaften oder Teilen davon. Mit anderen Worten: die Gleichsetzung von Ich bzw. Wir und Landschaft. Diese Identifikation wird im politischen Landschaftsbegriff, der die gegenseitige Zugehörigkeit einer Bevölkerung mit der von ihr bewohnten Gegend meint, vorausgesetzt, sei es als Resultat einer Fremd- oder Selbstbezeichnung. Die fraglichen Stücke hingegen nehmen eine ambivalente, überwiegend skeptische Haltung zu dieser Art der Identifi-

5

Vgl. Kapitel 4.5.

N EUES L ANDSCHAFTSTHEATER – NEUE L ANDSCHAFTEN

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kation ein. Explizit trifft das auf die Stücke »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« und »Landscapes of Glory« zu, die die Überlagerung von Psyche und Landschaft offen thematisieren und ironisieren, in den Augen mancher Rezipienten vielleicht sogar verspotten. Die Kritik richtet sich einerseits gegen suggerierte Wesensähnlichkeiten von Individuum und Landschaft und gegen behauptete Kongruenzen von individueller Biographie und Geschichte andererseits. An deren Stelle setzen sie eine Art der Zuwendung, die nicht auf Unterordnung des Individuellen oder Vereinnahmung einer bestimmten Gegend hinausläuft, sondern von einer Schwäche für sie: Interesse statt Identifikation. »Für« eine Landschaft sind diese Stücke also nur insofern gedacht, als sie Interesse voraussetzen, keine Zugehörigkeit. Ihnen allen inhärent ist die Suche nach Wegen, Verbindungen zu Orten aufzubauen, ohne chauvinistisch zu werden. Es geht um eine ebenso intensive wie neutrale Auseinandersetzung mit räumlichen Erscheinungen, wobei deren soziale Produktionsbedingungen immer mitberücksichtigt werden.6 Diese Auseinandersetzung hat bisweilen libidinöse Züge, das heißt, sie ist nicht rein intellektuell begründet, sondern wird auch durch Motive wie Sehnsucht, Neugier und Verzweiflung angetrieben. Immer schwankt sie zwischen Faszination für die – vielleicht noch verborgene – Schönheit der fraglichen Orte und einer Skepsis gegenüber der eigenen Faszination – und jener anderer – für genau diese Schönheit. Solche Widersprüche, die sich bisweilen zu Paradoxien steigern, sind Teil der Anziehungskraft dieser Orte und treiben die Stücke von Schauplatz International wesentlich an. Letztere haben keine synthetische Zielsetzung, sie sollen kein tradiertes oder neu produziertes Identifikationsangebot machen. Vielmehr handelt es sich um eine Art Empirie der Fiktionen, eine künstlerische Katalogisierung von ortsspezifischen Ideologemen, denen gegenüber man sich nicht zuletzt deshalb kritisch verhält, weil man ihre Anziehungskraft selbst spürt. Der Begriff »Landschaft« im kooperatistischen Sinn, als politische Gemeinde, hätte für die Stücke von Schauplatz International also insofern Geltung, als dass damit all jene gemeint wären, die sich entweder der Wirkung eines bestimmten Ortes bewusst sind, ihr Interesse entgegenbringen und sich ihr aussetzen, oder selbst an der Produktion dieser Wirkung beteiligt sind. Ganz offensichtlich treffen diese Kriterien auch auf die Gruppe selbst zu, so dass »für« eine Landschaft zu spielen auch bedeuten würde, ein Teil von ihr zu sein. Allerdings kann nicht die Rede davon sein, die Stücke von Schauplatz International würden zu situativen Verbrüderungen zwischen Akteuren und Publikum oder zwischen den verschiedenen Teilen des Publikums führen. Die Gruppe gibt sich vor, während und nach den Aufführungen distanziert, die Stücke haben nicht primär entgrenzende Wirkung. Eine wahrnehmbare »Gemeinschaft«, wie sie Meier erwähnt, entsteht auch unter Berücksich-

6

Vgl. Kapitel 3.3.

342 | N EUES LANDSCHAFTSTHEATER

tigung der behandelten Bedeutungsverschiebungen konkret nicht. Der kooperatistisch-politische Landschaftsbegriff bleibt deshalb in diesem Zusammenhang abstrakt und spielt in der künstlerischen Praxis keine Rolle. Das bedeutet aber nicht, dass er als Analyseinstrument gar nicht taugt, wie die geschilderten Überlegungen zeigen. –- »In aufgeführt«: Konkreter wird der Begriff »Landschaft« im Zusammenhang mit einem anderen Kriterium des Meierschen Landschaftstheater-Schemas. Mit jenem nämlich, welches besagt, Stücke, die als Landschaftstheater gelten könnten, würden »in« einer spezifischen Landschaft »aufgeführt«. Was heißt das für die Produktionen von Schauplatz International? In welchen Räumen wurden sie aufgeführt und in welchem Verhältnis standen sie zu diesen? Die bespielten Räume unterschieden sich bereits in der Größe erheblich voneinander. »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« fand in einer verwilderten Brache von etwa 5.000 m2 statt. Im Hintergrund begrenzt wurde sie von der langgezogenen Silhouette der Universität Essen, einem 1972 erstellten modernistischen Gebäude mit Türmen, Scheibenhäusern und Fensterfronten, das entfernt an ein Raumschiff erinnerte. Daran östlich angrenzend waren die Schlote der ehemaligen Zeche Victoria Mathias zu sehen, so dass sich besonders nachts der Eindruck eines architektonischen Prospekts einstellte und die Brache wie gemacht schien für Theateraufführungen unter freiem Himmel. Das Stadion in Warschau hatte von sich aus szenische Vorzüge, weil es ja als Publikumsbau erstellt worden war. Sein ruinöser Zustand und die vordringende Natur ließen die Dominanz der Architektur freilich schwinden, so dass auch nicht mehr vollständig klar war, wo die Arena tatsächlich begann und wo sie hätte beginnen sollen. Von der Krone des Stadions war sowohl das Stadionoval – an den Extremen etwa 320 Meter lang und 250 Meter breit – gut zu sehen als auch die Silhouette der Innenstadt jenseits der Weichsel. Das Stück »Landscapes of Glory« wiederum fand entlang der Eisenbahnstrecke zwischen Oberhausen und Bochum statt. Die beiden Städte liegen knapp 25 Kilometer auseinander. Die gefahrene Strecke betrug knapp 35 Kilometer. Das durchquerte Gelände war sehr vielfältig. Neben städtischen und vorstädtischen Gebieten gab es Gewerbe- und Industriegebiete, zum Teil außer Betrieb, Kanäle, Brachen, Dickicht, Landwirtschaft. Insgesamt war das Gelände nicht untypisch für große Teile des Ruhrgebiets und kam dem nahe, was zeitgenössische Landschaftstheorien als Zwischenstadt oder Landschaft 3 bezeichnen würden.7 Die »Expedition an den Rand der Welt« bespielte potenziell einen noch größeren Perimeter. Die besuchten Orte konnten sich in der Nähe des Aufführungsorts

7

Vgl. Kapitel 5.

N EUES L ANDSCHAFTSTHEATER – NEUE L ANDSCHAFTEN

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befinden oder weit von diesem entfernt sein. Dank der verwendeten Mobiltelefone war das Stück ortsspezifisch und ortsunabhängig zugleich. Zwar versuchten die Akteure immer, einen inhaltlichen Bezug zum Aufführungsort zu finden, das heißt, sie suchten den »Rand der Welt« dort, wo der Aufführungsort erkennbar war: die Masoala-Halle in Zürich, eine Skihalle im Ruhrgebiet. Aber ein wichtiges Thema des Stücks war ja gerade die durch den Begriff »Liminalität« ausgedrückte Bedeutungsunschärfe vieler zeitgenössischer Orte, ihre Indifferenz. Diese große räumliche Ausdehnung komprimierte die Produktion für das Publikum dann auf einen Bühnenraum und dort wiederum zu großen Teilen auf eine Leinwand. So unterschiedlich die bespielten Räume waren, so ähnlich gingen die verschiedenen Produktionen vor. In diesen Räumen zu spielen, bedeutete für jedes Stück, sich formal und inhaltlich von den Eigenschaften dieser Räume dominieren zu lassen. Das lässt sich an konkreten Beispielen nachvollziehen. Die Annäherung an bestimmte Orte hatte in allen Stücken materiell-körperliche Dimensionen: Die »Suche nach der verschwundenen Stadt« verfolgte einen stratifikatorischen Ansatz, die Akteure gingen vor wie Archäologen. Sie imitierten deren Methoden, gruben und sammelten, was auf der Brache tatsächlich zu finden war. »Schengen Border Observation Point« dauerte mehrere Stunden und fand bei brütender Hitze statt, die Performance ging darstellerisch an die Grenzen des körperlich Machbaren. In »Landscapes of Glory« setzten sich die draußen Platzierten Wind und Wetter aus und in »Expedition an den Rand der Welt« begaben sich die Boten bisweilen an Orte, an denen sie nicht willkommen waren. Albert Liebl zum Beispiel schlich sich in einer Berner Aufführung in die Drogenabgabestelle ein und mischte sich so lange unter die Drogenabhängigen, bis diese ihn für einen Polizisten hielten. In allen vier Stücken sind folglich inszenatorische Elemente zu finden, die darauf angelegt waren, den Gesetzen und Eigenarten des untersuchten Ortes Geltung zu verschaffen, diese zulasten der darstellerischen Souveränität überhandnehmen zu lassen. Das bedeutet, die Stücke bildeten unter anderem den Verlust individueller Selbstbestimmung in räumlichen Konstellationen ab, sie zeigten, wie Räume auf Menschen und ihre Art zu denken und zu fühlen Einfluss nehmen. Sie taten dies nicht allein auf der Ebene der Produktion, sondern waren auch darauf angelegt, den Rezipienten und Rezipientinnen eine differenzierte Wahrnehmung des Raums zu ermöglichen. Exemplarisch zeigte sich das am Verhältnis der Inszenierungen zur angesprochenen Größe des Raums, in dem sie stattfanden. Alle hier vorgestellten Räume waren zu groß für Theateraufführungen. Aus den geschilderten Gründen eigneten sie sich trotzdem dafür; der Haupteindruck, den sie erweckten, war aber der der übertriebenen Ausdehnung. Das ging so weit, dass sich Akteure und Publikum buchstäblich aus den Augen verloren und nur noch mit technischer Hilfe kommunizieren konnten. Für die akustische Verstärkung wurde in allen vier Stücken Tontechnik eingesetzt. Dieses Missverhältnis der Skalierung und die intendierte Unzulänglichkeit der Mittel decken sich mit den von Louis Naef be-

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schriebenen, für Landschaftstheater typischen Effekten.8 Doch im Gegensatz zu Inszenierungen, die zwar unter freiem Himmel stattfinden und die sich daraus ergebenden Wirkungen auch einsetzen, grundsätzlich aber versuchen, den Erfordernissen einer herkömmlichen Theateraufführung gerecht zu werden, nahm Schauplatz International diese scheinbar negativen Effekte nicht nur in Kauf, sondern akzentuierte sie bewusst und willentlich. Daraus entstand ein »Landschaftstheater mit Fehler«,9 wie die Gruppe ihren Stil bezeichnete. Wobei sie umgehend klar machte, »dass der Fehler das Produktive an der Sache ist«.10 Im Fall von »Landscapes of Glory« bestand der »Fehler« darin, dass das, von dem die Rede war und was die eigentliche Attraktion ausmachte – die materialisierten Glücksmomente –, viel zu kurz zu sehen war. Dies, weil man mit 60 km/h an den großen und kleinen Trouvaillen entlang des Trassees vorbeifuhr, was wiederum dem Umstand geschuldet war, eine Strecke von 35 Kilometern Länge in 40 Minuten bespielen zu müssen. In »Expedition an den Rand der Welt« war der »Fehler«, dass der suggerierte Rand nicht da zu finden war, wo das Publikum war, und die Expediteure deshalb irgendwo draußen verschwanden. Die »Suche nach der verschwundenen Stadt« und »Schengen Border Observation Point« fanden zwar an Lokalitäten statt, die für Theater aus architektonischen oder dekorativen Gründen geeignet, aber trotzdem viel zu groß waren. Nicht von ungefähr musste das Publikum das Geschehen mit Feldstechern und Fernrohren verfolgen. In beiden Fällen trugen diese Sehhilfen dazu bei, die dramaturgische Setzung des Stücks verständlich zu machen: In Warschau wurde das Publikum in die Rolle von Repräsentanten eines Grenzüberwachungsstaates gedrängt, in Essen wurde es zu einer Gruppe von Touristen, die eine Forschungs- und Jagdsafari betrachteten, als wären sie selbst auf einer Safari. Die Bereitschaft, ihre Stücke von den Gegebenheiten eines Ortes inszenatorisch dominieren zu lassen, dokumentiert das Bemühen von Schauplatz International, Form und Inhalt zur Deckung zu bringen.11 Dass die Stücke »in« einer spezifischen Landschaft aufgeführt wurden, bedeutet unter diesen Umständen, diese Landschaft auf verschiedenen Ebenen abzubilden und wahrnehmbar zu machen. So wird die synästhetische Erfahrung, wie sie Corboz für die Wahrnehmung der von ihm als »Territorium« bezeichneten Landschaft als konstitutiv betrachtet, möglich ge-

8

Vgl. Kapitel 6.3.

9

Schauplatz International: Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei. Ankündigungstext. 2010. www.essen-fuer-das-ruhrgebiet.ruhr2010.de/melez/programm/ schauplatz-international-chd.html (11. April 2011).

10 Schauplatz International: Landscapes of Glory. 11 Vgl. Kapitel 2.5.2.

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macht.12 Weil die Stücke also »in« einer Landschaft »aufgeführt« wurden, waren sie in der Lage, raumbezogene, ortsspezifische synästhetische Erfahrungen zu erzeugen, die nicht zuletzt durch die scheinbare Unzulänglichkeit der dafür eingesetzten Mittel zustande kamen. Und in diesem Fall ist es nicht nur abstrakt gerechtfertigt, den Begriff »Landschaft« – unter Berücksichtigung der aufgearbeiteten Bedeutungsvielfalt – zu verwenden, weil die fraglichen Stücke von Schauplatz International wesentlich daraus bestehen, Räume zu ästhetisieren, das heißt, sie wahrnehmbar und diese Ästhetisierung sogleich wieder zum Thema zu machen. Das unterscheidet diesen Ansatz von jenem Hoffers und Meiers, den Autoren des »Mythenspiels«. Mit implizitem Bezug auf Stadler und Kutscher gehen die beiden von einem »Mitwirken« der Natur aus, welche sie als »Gegenüber des Menschen« betrachten.13 Auch sie streben eine synästhetische Erfahrung an, indem sie sich die Stimmung einer Landschaft zu einer bestimmten Tageszeit zunutze machen wollen. Was sie nicht tun, ist diese Ästhetisierung zum Gegenstand des Stücks zu machen, sich die eigene Situation – und jene des Publikums – im Moment der Aufführung zu vergegenwärtigen. Ein solches selbstreflexives Element treibt die Stücke von Schauplatz International hingegen wesentlich an. Aus ihm beziehen sie ihre dramaturgische Mechanik. Die Frage nach der eigenen Position in einem bestimmten Raum und die Untersuchung der ästhetischen Strategien, sich über diese Position klar zu werden, liegt den fraglichen Stücken als Konflikt zugrunde. – »In spielend«: Hier schließt das Meiersche Diktum an, Landschaft müsse nicht nur in einer Landschaft aufgeführt werden, sondern auch »in« ihr »spielen«, und zwar in derselben. Für die Stücke von Schauplatz International bedeutet das, die Charakteristika eines Aufführungsortes in die Produktion einfließen und sie von ihnen prägen zu lassen. Das gilt, wie gesehen, nicht nur für inszenatorische Effekte, sondern ist bereits auf konzeptioneller Ebene entscheidend. Insofern gehen diese Stücke wesentlich weiter, als Meier vorschlägt. »In« einer Landschaft zu spielen, bedeutet für ihn, dass das Stück auf fiktionaler Ebene in dieser Landschaft situiert ist, sich die Handlung dort abwickelt. Im Fall des »Mythenspiels« handelt es sich dabei um eine Innerschweizer Berglandschaft mit ihrer ganzen nationalsymbolischen Aufladung. Die im Titel anklingende Doppeldeutigkeit einer »mythologischen« Landschaft ist folglich gewollt – wenngleich Meier zugibt, sie nicht von Anfang an mitgedacht zu haben. Weder Meier selbst noch Jäckle oder Naef erfüllen dieses Kriterium vollumfänglich. Bei Meier kommen, weil er verschiedene Momente der Schweizer Geschichte behandeln will, andere Lokalitäten vor, zum Beispiel die Villa Belvoir in

12 Vgl. Kapitel 5.2. 13 Vgl. Kapitel 6.5.

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Zürich, der Wohnsitz der Familie Escher. Bei Meier wird die Landschaft, in der das »Mythenspiel« handelt, zu einem doppelten Ort, einer konkreten und einer ideellen Gegend, welche für die Schweiz als Ganzes samt ihrer Geschichte stehen kann. Die diesbezüglichen Widersprüche des Landschaftstheaters Ballenberg ergeben sich hauptsächlich aus der Wahl des Spielorts, der ein Museum ist und nicht für jedes Stück das historisch exakte Exponat zur Verfügung hat. Uli Jäckle bemüht sich zwar, mit den örtlichen Gegebenheiten umzugehen und sie in die Stücke zu integrieren, will sich aber besonders in der Gestaltung der Handlung Freiheiten nehmen. Die Stücke von Schauplatz International werden der Forderung weitgehend gerecht. Das hat damit zu tun, dass Fiktion in ihnen nicht die Hauptsache ist, Handlung und Figuren sind dramaturgische Elemente neben anderen.14 Mindestens so wichtig ist der konkrete Bezug zum Aufführungsort, zur Aufführungssituation und ihren Bedingungen. Zwar erzählte das Stück »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« die Geschichte einer Safari – und bediente sich dafür einer ausgedehnten Rahmenhandlung –, aber diese Safari führte nicht an einen anderen Ort als den gegebenen. Sie führte auf die Brache am Berliner Platz in Essen, wo nach den Überresten des dort einmal situierten Stadtteils Segeroth gesucht wurde, so dass das Stück maßgeblich aus der Auseinandersetzung mit dem konkreten Ort bestand, und zwar nicht nur in einem ideellen, sondern in durchaus materiell-konkretem Sinn. »Landscapes of Glory« bestand auf der Ebene des Texts aus nichts anderem als Landschaftsbeschreibungen, wenn auch thematisch gefärbt. Die Installationen draußen richteten sich eher nach praktischen Erfordernissen, wenngleich die Begehung durch den Biologen ortsspezifischer nicht hätte sein können. Auf einen fiktionalen Rahmen war die Produktion nicht angewiesen, wenngleich sich mit den wiederkehrenden Läufern und der durchgehenden Erzählung von den ein Bankett vorbereitenden Zwergen narrative Fäden durch das Stück zogen. In der Gänze reagierte es präzise auf die Beschaffenheit des zwischenstädtischen Territoriums entlang der Emscher und »spielte« daher – will man diesen Begriff für eine Performance solcher Art verwenden – in genau der Landschaft, in der es aufgeführt wurde und mit der es sich beschäftigte. Etwas anders liegt die Sache im Fall von »Schengen Border Observation Point«. Der Spielort hatte eine doppelte Funktion. Einerseits wurde er als das angesprochen, was er war: das ehemalige Nationalstadion Polens. Andererseits hatten die Mitglieder von Schauplatz International einen Grenzposten aufgebaut, der suggerierte, auf dem Spielfeld befinde sich die EU-Außengrenze. Das Stück bediente sich also eines fiktionalen Rahmens. Die inhaltliche Verbindung von Stadion und Grenzen als wichtige Elemente von Nationenbildung und Identitätspolitik bewirkte eine Überlagerung von Ort und Thema. Das Stadion und die äußeren Bedingungen blie-

14 Vgl. Kapitel 2.5.2.

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ben während der ganzen Aufführung aber dominant. Darauf ging auch das Gespräch mit einigen der Gäste ein, die sich zur Flora auf den Rängen und dem Spielfeld äußerten oder den auf der Anlage situierten »Jarmark« beschrieben. Nicht zuletzt trug die Rezeptionshaltung des Publikums dazu bei, dass »Schengen Border Observation Point« tatsächlich »in« der Umgebung »spielte«, in der die Performance stattfand: Die Warschauerinnen und Warschauer benutzten die Gelegenheit, um sich »ihr« Stadion noch einmal anzusehen, das nur Wochen nach der Aufführung Geschichte war. Eindeutig »in« der Landschaft »spielte« die »Expedition an den Rand der Welt«. Auch dieses Stück besteht aus nicht viel mehr als Ortsbeschreibungen unter einem thematischen, gesetzten Aspekt. Inhalt des fiktionalen Strangs, eben der »Expedition an den Rand der Welt«, waren die untersuchten Orte selbst bzw. deren Analyse in Bezug auf die Frage, welche liminalen Qualitäten sie aufwiesen und ob es sich bei ihnen also um den »Rand der Welt« handeln könnte. Gerade an diesem Stück zeigt sich allerdings, dass die von Meier aufgestellten Bestimmungskategorien von Landschaftstheater nur begrenzt auf die Produktionen von Schauplatz International angewendet werden können, in denen die Unterscheidung von Realität und Fiktion dramaturgisch – nicht inhaltlich – eine untergeordnete Rolle spielt. Die fraglichen Stücke sind so sehr mit ihren Aufführungsorten verbunden, dass die Kategorien »in einer Landschaft spielen« und »in derselben Landschaft aufgeführt« zusammenfallen. Die Produktionen haben diese Orte zum Gegenstand, sie sind ortsspezifisch. Damit nehmen sie einen wichtigen Aspekt neuerer Landschaftstheorien auf, nämlich die Immanenzerfahrung, die der Wahrnehmung neuer Landschaften eigen ist. Gemeint ist die Tatsache, dass Landschaft nicht mehr als ein Gegenüber verstanden wird, wie es Hoffer und Meier ja selbst bezeichnen. Neue Landschaften evozieren ein Gefühl von Inklusion. Ein Außen ist nicht mehr auszumachen, es gibt keinen privilegierten Standpunkt, keinen Feldherrenhügel mehr, von dem aus sich eine Landschaft betrachten ließe. Davon handeln die Stücke von Schauplatz International: Sie verweisen auf keinen anderen Ort als den, an dem sie aufgeführt werden. – »Aus«: An das Gesagte schließt die letzte der Meierschen Forderungen an, Landschaftstheater müsse »aus« einer bestimmten Landschaft heraus entstehen. Es hat sich gezeigt, dass damit zweierlei gemeint ist: Erstens soll Landschaftstheater Stoffe behandeln, die in der fraglichen Landschaft lokalisiert sind, und zweitens soll es die Bedeutung, die diese Stoffe der Landschaft geben, berücksichtigen. Will man – um in der Welt der Schweizer Nationalmythen zu bleiben, in der das »Mythenspiel« sich bewegt – ein Stück auf der Rütliwiese aufführen, sollte es den sagenhaften Bundesschluss von 1291, der dort stattgefunden haben soll, behandeln. Darüber hinaus sollte ein Landschaftstheater auf dem Rütli in der Lage sein, die Alp nicht

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nur als den Ort einer mutmaßlichen Zusammenkunft einiger Insurgenten zu betrachten, sondern als mythologische Wiege der Eidgenossenschaft – und damit ist noch nichts über die ideologische Haltung, die mit dem Stück vertreten werden sollte, ausgesagt. Wobei das Beispiel zwar einleuchtend, aber nicht realistisch ist, denn über die kulturelle Nutzung des Rütli entscheidet die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, deren Bewilligungspraxis restriktiv ist. Infrage kämen daher ohnehin nur Vorhaben, die die geschilderten Voraussetzungen erfüllen würden. Meier jedenfalls führt das exemplarisch mit der angesprochenen Doppeldeutigkeit des Titels seines Stücks vor. Eine besonders wichtige Rolle spielen dabei die Geschichtsschreibung und andere Formen der diachronen Wissens- oder Glaubensproduktion. Hier schließt die Vorstellung an, bei einer Landschaft handle es sich um eine Art Palimpsest, das sich aus vielen, in verschiedenen Zeitebenen eingelagerten Bedeutungen zusammensetze.15 Offenbar besteht ein evidenter Zusammenhang zwischen Geschichte und dem Ort, an dem sie sich abgespielt hat. Diese zeit-räumliche Konvergenz wird zum Beispiel von der Archäologie wissenschaftlich bearbeitet, weshalb die Methode in dem Stück »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« von Schauplatz International aufgegriffen wurde. Das Stück setzte sich explizit mit der Geschichte des Stadtteils auseinander. Die anderen drei Produktionen waren diesbezüglich zurückhaltender oder gingen ganz zu der Vorstellung auf Distanz, ein Ort lebe von seiner Geschichte. »Schengen Border Observation Point« behandelte Begebenheiten aus der Historie des »Zehnjahres«-Stadions. Der Platzwart erzählte zum Beispiel aus seinem langen Berufsleben, der vietnamesische Schriftsteller berichtete über die Entstehung des »Jarmarks« auf der Anlage. Neben diesen Schilderungen gab es aber viele weitere, die durch den gesetzten dramaturgischen Rahmen begründet waren und nicht auf die Historie des Ortes eingingen, so dass die Erzählungen, die Letztere zum Thema hatten, von eher peripherer Bedeutung waren. Die Rezeptionshaltung eines Teils des Publikums war sicher anders motiviert. Viele Leute interessierten sich für das Stadion und die damit verbundenen Erinnerungen, doch das Stück gab ihnen diesbezüglich keine weiteren Inhalte mit. Auch in »Expedition an den Rand der Welt« wurde die Geschichte der besuchten Orte flüchtig behandelt. In den Zürcher Vorstellungen deutete Albert Liebl an, dass es sich beim Einkaufszentrum »Sihlcity« in Teilen um eine ehemalige Papierfabrik handelte. Viel wichtiger aber waren die Beschreibung des aktuellen Zustands dieser Orte, der von ihnen ausgehenden Atmosphäre und die Beantwortung der Frage, inwiefern ihnen liminale Qualitäten zukamen.

15 Vgl. Kapitel 5.2.

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Anders ging Schauplatz International im Stück »Landscapes of Glory« vor. Natürlich bezog sich auch diese Produktion implizit auf die Geschichte des Ruhrgebiets, besonders auf den Strukturwandel, der in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat. Die von Lars Studer suggerierte Beobachtung von Zwergen – in der Märchenmythologie mit dem Bergbau in Verbindung stehend – verlängerte diese Bezugnahme auf die Historie bis weit vor die Industrialisierung zurück. Doch das Stück stellte sich explizit gegen die Überbetonung von Geschichte und ihre Funktionalisierung im Zusammenhang mit Landschaft. Liebl, der sich im Zug befand, leitete die Schönheit der durchfahrenen Landschaft aus dem Umstand ab, dass sie sich einem instrumentalisierenden Zugriff zu entziehen schien. Dies habe einerseits damit zu tun, dass es keine Natur mehr gäbe, weil nichts an dieser Landschaft ursprünglich sei, sie also nur aus Geschichte im Sinne einer Handlungsfolge menschlichen Wirkens bestehe. Genau dieses Übermaß an Geschichte verhindere aber andererseits eine eindeutige, funktionalisierende Interpretation der Landschaft. Die Geschichte des Ruhrgebiets sei in der Landschaft so überdeutlich ablesbar, die Zeichen so vielfältig, dass sie paradoxerweise ein unlesbares Ganzes ergäben, ein semantisches Rauschen, das Geschichte wiederum hermeneutisch zum Verschwinden bringe. An eine Funktionalisierung sei unter diesen Umständen nicht zu denken. Dieser Ansatz war freilich als kontradiktorisches Argument gedacht, denn die identitätspolitische Realität ging, wie die Grönemeyersche Hymne »Komm zur Ruhr« deutlich machte, bedenkenlos über solche Überlegungen hinweg. Dieser differenzierte Umgang mit der Nutzung der Geschichte eines Ortes bedeutet aber nicht, dass die Stücke von Schauplatz International ihre Stoffe nicht »aus« den Orten bezögen, an denen sie aufgeführt wurden. Wie beschrieben, bestehen sie zu einem großen Teil aus einer expliziten Auseinandersetzung mit genau diesen Orten. Die Gruppe Schauplatz International betreibt eine künstlerische Empirie, die Eigenschaften von Orten untersucht und in einen bestimmten thematischen Zusammenhang setzt. Diese Kontextualisierung führt dazu, dass die Stücke nicht nur in der Art einer Stichbohrung einzelne Orte als Punkte behandeln, sondern sie in ein größeres Bedeutungsgeflecht einordnen, in eine Landschaft. In den Worten von Michel Serres: »Hier. Die Landschaft versammelt Orte. Ein Ort ist ein Punkt mit einer Umgebung.«16 So produziert dieser Zugang – auf der Seite der Rezeption wie auf jener der Produktion – ein synästhetisches Ganzes. Synästhesie bedeutet bei Schauplatz International das Entstehen einer perzeptiven und aperzeptiven Wahrnehmungseinheit – und zwar draußen, in einer Landschaft. Folgerichtig lässt sich sagen, dass die Stücke von Schauplatz International nicht nur aus den Landschaften, in denen sie spielen, entstehen, sondern umgekehrt diese Landschaften auch aus den fraglichen Stücken.

16 Serres: Fünf Sinne, S. 323.

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7.2 NEUES LANDSCHAFTSTHEATER Die Frage, inwiefern es sich bei den besprochenen Stücken von Schauplatz International um Landschaftstheater handelt, lässt sich mit Rücksicht auf die ebenfalls besprochene Entwicklung des Begriffs »Landschaft« nur dahingehend beantworten, dass geprüft werden muss, wo und in welcher Art sich Anknüpfungspunkte, Parallelen und Zusammenhänge mit den im Begriff »Landschaft« und seiner Geschichte vorkommenden Bedeutungsebenen einstellen. Eine stabile Definition von »Landschaft«, das hat die Untersuchung gezeigt, lässt sich nicht festmachen. Vielmehr handelt es sich um einen Begriff, der zu verschiedenen historischen Zeitpunkten und in verschiedenen historischen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen beinhaltet, favorisiert und produziert. Gerade in der zeitgenössischen Debatte hat sich eine deutliche Bedeutungsverschiebung ergeben, indem Landschaft nicht mehr als ein Gegenüber verstanden wird, sondern als ein räumliches Phänomen ästhetischer Immanenz. Theater könnte folglich dann »Landschaftstheater« genannt werden, wenn es sich wesentlich mit historischen oder aktuellen Inhalten des Landschaftsbegriffs auseinandersetzt und seine Wirkung daraus bezieht. Als Referenz gälte dabei nicht eine ohnehin unmögliche Definition von »Landschaft«, sondern vielmehr das historisch bedingte Bedeutungsspektrum des Begriffs. Die Bezeichnung »neues Landschaftstheater« wäre dann angebracht, wenn sie dazu beitrüge, diese theoretischen Konzeptionen von Landschaft verständlich oder Wahrnehmungsweisen möglich zu machen, die dem Begriff »Landschaft« adäquate Bedeutungen geben. Das »oder« in diesem Satz markiert die Frage, ob Landschaftsvorstellungen von der Kunst hervorgebracht werden oder dieser vorausgehen. »Neues« Landschaftstheater hieße es deshalb, weil es »Landschaftstheater« als Bezeichnung bereits gibt. Der Begriff wird für Theaterformen verwendet, die sich von den von Schauplatz International praktizierten deutlich unterscheiden. Will man aber darauf verzichten, eine teleologisch orientierte Theaterhistorie weiterzuschreiben,17 so bedeutet das Wort »neu« nicht, dass die bereits Landschaftstheater genannten Theaterformen als überholt gekennzeichnet würden. Vielmehr bezieht es sich auf neue Landschaftstheorien und die neuen Landschaften, die in ihnen vorkommen. »Neues Landschaftstheater« braucht auch nicht als Gattungsbezeichnung verstanden zu werden. Doch der Terminus unterstreicht inhaltlich-formale Wichtigkeiten sowie Produktions- und Rezeptionsbedingungen der fraglichen Stücke. Letztere sind durch die Bezeichnung selbstverständlich nicht abschließend beschrieben, sondern werden lediglich in einen spezifischen, wenn auch relevanten Kontext gestellt. Sie tragen nämlich so zur Beantwortung der Fragen bei, was eine

17 Vgl. Kapitel 2.5.2.

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Landschaft ist und was der Begriff heute bedeutet. Das lässt sich zum Beispiel anhand der künstlerischen Verwendung von Verkehrsmitteln verfolgen, eines stark landschaftsprägenden Elements der Gegenwart. In zwei der vier hier besprochenen Stücke von Schauplatz International spielen Verkehrsmittel insofern eine wesentliche Rolle, als sie sichtbarer Teil der Aufführung sind und deren Gestalt maßgeblich beeinflussen. Die beiden Stücke sind »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« und »Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei«. Für ein drittes, nämlich die »Expedition an den Rand der Welt«, sind sie ebenfalls wichtig, bleiben aber im Hintergrund. In »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« brachte ein Reisebus das Publikum zum Ort des Geschehens. Der Weg dorthin war integraler Bestandteil des Stücks, weil dadurch ein Eindruck des heutigen Aussehens des ehemaligen Stadtteils Segeroth vermittelt wurde. Am Spielort angekommen, mutierte der Bus zu einem technischen Hilfsmittel, indem über die integrierte Lautsprecheranlage die Stimmen der Akteure verstärkt wurden. Auf der Hin- und Rückfahrt bekam das Publikum Videoeinspielungen vorgeführt, die als Prolog und Epilog das Stück rahmten. Die Wegstrecken dienten insofern nicht nur dem räumlichen, sondern auch dem inhaltlichen Transfer, indem sie das Publikum auf das Stück vorbereiteten und wieder daraus entließen. Der Reisebus erfüllte folglich verschiedene Funktionen. Er war sowohl technisches als auch dramaturgisches Mittel. Darüber hinaus gab der Bus den Zuschauerinnen und Zuschauern die Möglichkeit, sich vor der Kälte zu schützen und das Geschehen von ihrem Sitz aus zu verfolgen. So sahen sie etwas weniger, waren aber in der Wärme. »Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei« fand als Ganzes in einem fahrenden Zug statt. Das Stück setzte sich explizit mit dieser Aufführungssituation auseinander, die ihm ja produktionshistorisch sogar vorausging. Rezeptionsseitig war die inszenierte Wahrnehmungssituation ebenso abhängig von der Tatsache, in einem fahrenden Zug zu sitzen, wie sie produktionsseitig für den Schauspieler Albert Liebl Sprech- und Spielanlass war. Das Stück bezog seine dramaturgische Struktur aus den logistischen und räumlichen Gegebenheiten, die sich aus der Nutzung des Zuges ergaben. Inhaltlich baute es wesentlich auf dem durch die Zugfahrt eintretenden Effekt des Transitorischen auf, was ja bereits im Titel des Projekts zum Ausdruck kam. Kurz: »Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei« war ein Stück, das nur unter den gegebenen Umständen, der Zugfahrt durch das Ruhrgebiet, entstehen konnte. Weniger deutlich ist der Einfluss von Verkehrsmitteln auf die Aufführungen von »Expedition an den Rand der Welt«. Ihre logistische Funktion ging aber auch hier in eine inhaltliche Aussage über, wobei Letztere für die Form des Stücks eben-

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so entscheidend war, wie sie selbst von dieser Form abhing.18 Dies, weil sich die Akteure nicht am Ort der Aufführung befanden, sondern sich in der näheren oder weiteren Umgebung verstreuten und sich an bisweilen abgelegene und schwer zu erreichende Orte begaben. Die Art, sich im Raum außerhalb des Theaters zu bewegen, nicht selten unter Zuhilfenahme privater oder öffentlicher Verkehrsmittel, spiegelte sich in der Aufführung selbst wider, bestand sie doch wesentlich aus Beschreibungen dieser Orte, den so genannten »Botenberichten«. Daraus erst ergab sich das die Aufführung prägende künstlerische Element, das oszillierende Spiel mit An- und Abwesenheit. Indirekt bildete die »Expedition an den Rand der Welt« also die Möglichkeiten von Bewegung im Raum außerhalb des Theaters ab. Diese Möglichkeiten sind maßgeblich bestimmt von der Verfügbarkeit von Verkehrsmitteln, denen ja, als bewegte Materialisationen von Übergangszuständen, in gewisser Weise selbst liminaler Charakter zukommt. Die Bedeutung von Verkehrsmitteln in diesen drei Stücken von Schauplatz International ist landschaftstheoretisch in zweierlei Hinsicht interessant. Sie schließt sowohl an Elemente der historischen Landschaftsästhetik als auch an solche zeitgenössischer Landschaftstheorien an. Gerade der Eisenbahn kommt in der Historie des ästhetischen Landschaftsbegriffs keine unwichtige Rolle zu. Das lässt sich deutlich an einem für die Geschichte der Landschaftsmalerei wegweisenden Gemälde von William Turner zeigen; wegweisend deshalb, weil es das Ende der klassischen Landschaftsmalerei eingeläutet hat. Die Rede ist von Turners Bild »Regen, Dampf und Geschwindigkeit« von 1844. (Abb. 20) Es zeigt einen herannahenden Zug der Great Western Railway, vermutlich auf der Maidenhead Railway Bridge, die in der Nähe des Städtchens Maidenhead über die Themse führt. Der Blick geht Richtung Osten.19 Turner treibt mit diesem Werk die »Dynamisierung der Landschaftsdarstellung«20 voran, indem er die Unschärfe der Konturen betont und damit eine künstlerische Form der Darstellung von Geschwindigkeit findet. Bei der abgebildeten Lokomotive handelt es sich vermutlich um eine Maschine der Baureihe »Firefly«. Sie war in der Lage, an die 80 km/h zu fahren.21 Die anekdotische Kunstgeschichtsscheibung besagt, Turner habe bei einer Fahrt mit einem solchen Zug »während voller neun Minuten im strömenden Regen aus dem Abteilfenster gelehnt und war dann, völlig durchnässt, in Nachdenken über

18 Vgl. Kapitel 2.5.2. 19 Vgl. N. Schneider: Landschaftsmalerei, S. 188f. Und Bätschmann: Entfernung der Natur, S. 108f. 20 N. Schneider: Landschaftsmalerei, S. 188. 21 Vgl. Gerald Nabarro: Steam Nostalgia: Locomotive and Railway Preservation in Great Britain. Boston 1972.

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die eigenartige Wahrnehmung versunken«.22 Dieses Erlebnis habe ihn dazu befähigt, eine »Visualisierung von Geschwindigkeit« zu malen, indem er die Lokomotive aus dem verwischten Fluchtpunkt, dem Bild des uneinsehbar entfernten Unendlichen, in Nebel und Rauch auftauchen lässt und auch für die nahe Brücke die Unschärfe als Suggestion des Vorbeirasens beibehält.23 Seltsam – und von der Kunstgeschichte seltsam unbeachtet – an dieser oft zitierten Anekdote ist die Tatsache, dass die Wahrnehmung eines heranfahrenden Zuges nicht jener entspricht, die der Blick aus einem fahrenden Zug hinaus erzeugt. Während im zweiten Fall der Standpunkt der betrachtenden Person in Bewegung ist, so dass nichts mehr statisch wahrgenommen werden kann, ist es auf Turners Bild ja nur ein einziges Element der Umgebung, das sich – wenn auch sehr schnell – bewegt. Der Standpunkt, von dem aus dieses Element betrachtet wird, steht hingegen still. In der Tat baut Turner ja klassische Elemente der Landschaftsmalerei in sein Gemälde ein: die Themse, eine zweite Brücke, Menschen in einem Kahn, Wolken. Er verschleiert sie aber mit »Regen« und »Dampf«, so dass sie unscharf werden und im Zusammenhang mit dem fahrenden Zug den Eindruck von Bewegung, von »Geschwindigkeit« erzeugen. Diese konzeptuelle Inkongruenz ändert aber offenbar nichts daran, dass »Regen, Dampf und Geschwindigkeit« eine »›Vernichtung‹ des Raums«24 dokumentieren. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit der grassierenden Eisenbahnbegeisterung jener Tage und der rasch fortschreitenden Industrialisierung markiert das Bild die künstlerische Hinwendung zur Zeit. Turner – über den passend kolportiert wird, er habe »sehr schnell«25 gearbeitet – »hat mit den Mitteln der perspektivischen Raumdarstellung die ›Zeitperspektive‹ geschaffen, indem er die Raumperspektive reduzierte, mit einem heranschießenden Zug einen neuen Teilnehmer einführte und damit die räumliche Ausdehnung durch die zeitliche Erstreckung ersetzte. Dabei musste er schlicht nur die Gewichte in der Relation von Raum und Zeit in der tradierten perspektivischen Darstellung verändern, und diese Verlagerung von einer Darstellung, die zuerst den Raum betont, zu einer, in der die Zeit der erste Faktor wird, liegt hier vor. Damit war ein Muster für die Ablösung der Raum- durch die Zeitperspektive geschaffen und die Frage der ›Zeitdarstellung‹ durch eine Kunst der Fläche und der Raumabstraktion eröffnet.«26 Insofern läutete »Regen, Dampf und Geschwindigkeit« in der Interpretation der Kunstgeschichte das Ende der klassischen Landschaftsmalerei ein und dadurch auch jenes der tradierten theoretischen Vorstellungen von Landschaft als Bild. Be-

22 Bätschmann: Entfernung der Natur, S. 108. 23 Bätschmann: Entfernung der Natur, S. 108f. 24 Bätschmann: Entfernung der Natur, S. 111. 25 N. Schneider: Landschaftsmalerei, S. 188. 26 Bätschmann: Entfernung der Natur, S. 111f.

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sonders das Stück »Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei« schließt direkt an das Problem der Raum- und Zeitdarstellung anhand der Landschaft an und bedient sich dabei sogar noch desselben Motivs wie Turner: der Eisenbahn. Der Blick durch das Wagonfenster suggerierte dem Publikum zwar den Eindruck einer bildhaft gerahmten Landschaft draußen, das Fahren hingegen verneinte diese sogleich wieder und betonte das Transitorische, die Bewegung, die Zeit. Durch die inhaltliche Problematisierung der Verknüpfung von statischen Identitäts- und Landschaftsvorstellungen, das heißt von normativer Wahrnehmungspolitik, kommentierte »Landscapes of Glory« die tradierte Landschaftsästhetik in ähnlicher Weise, wie es Turner – wenn auch in ganz anderem historischen Kontext – mit »Regen, Dampf und Geschwindigkeit« getan hatte. Im Hinblick auf die Verwendung von Verkehrsmitteln findet man neben diesem Bezug zum historischen Landschaftsbegriff auch Anschlüsse an zeitgenössische Landschaftstheorien. Letztere beschrieben Landschaft als ein ungeordnetes, aus Partikularinteressen entstandenes bauliches Gefüge, von dem man sich kein Bild mehr machen kann, weil es kein Außen mehr kennt, von dem aus man es betrachten könnte.27 Verkehrsmittel und Transportwege tragen wesentlich zum Entstehen solcher Raumkonfigurationen bei.28 Die räumliche Trennung von Arbeit, Freizeit und Wohnen hat dazu geführt, dass sich die Siedlungsentwicklung mittlerweile am Verkehrssystem orientiert, so dass Raumplanung – falls vorhanden – zu einer nachgeordneten Folgeerscheinung von Verkehrsplanung geworden ist. Die Verkehrsinfrastruktur prägt Landschaft aber nicht nur auf dieser unmittelbaren Ebene, sondern beeinflusst auch die Wahrnehmung von Landschaft maßgeblich. Gerade in zwischenstädtischen Gebieten ist das Verkehrsnetz so dicht, dass deren räumliche Ausdehnung komplett relativiert wird, weil jeder Winkel von jedem anderen aus in kurzer Zeit zu erreichen ist. Zunichte gemacht wird dieser Effekt allerdings wiederum durch die vielerorts entstandene Übernutzung der Transportwege, die den Verkehr zeitweise zum Erliegen bringt und räumliche Distanzen dadurch wieder an zeitlicher Ausdehnung gewinnen. Grundsätzlich definiert die Verkehrsinfrastruktur die Art und Weise, wie sich Menschen in ihrem Lebensraum aufhalten und bewegen. Wenn zeitgenössische Theorien Landschaften nicht mehr als distanzierte Erscheinungen beschreiben, sondern als Gebilde, in denen man sich befindet, dann präformieren Verkehrssysteme dieses In-der-Landschaft-Sein infrastrukturell und folglich auch wahrnehmungstechnisch. Das lässt sich am Beispiel des Schweizer Nationalstraßennetzes gut zeigen. 1955 war der erste Autobahnabschnitt zwischen Luzern-Süd und Ennethorw noch als so genannter »Parkway« geplant worden, als Aussichtsstraße also, die ihre

27 Vgl. Kapitel 5.5. 28 Vgl. Kapitel 5.5.1.

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Wirkung zu einem guten Teil aus traditionellen Vorstellungen von der Landschaft als Bild beziehen sollte.29 Mit dem raschen Ausbau des Nationalstraßennetzes entwickelte sich die Autobahn aber selbst zu einem die Landschaft strukturierenden Element, das ihrer zunehmenden Veränderung Vorschub leistete. Diese Tendenz ging so weit, dass selbst von politischen Entwicklungen verlangt wurde, sie müssten sich in der Gestalt des Nationalstraßennetzes niederschlagen, das heißt, die Autobahn müsse Politik sichtbar machen: Der politische Kampf um die Etablierung eines eigenständigen Kantons Jura ging einher mit dem Drängen auf die infrastrukturelle Erschließung des Juras durch die Autobahn A16, der so genannten »Transjurane«. Die Verwendung von Verkehrsmitteln in den Stücken »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt«, »Expedition an den Rand der Welt« und »Landscapes of Glory« nimmt diese Überlegungen auf. In allen drei Stücken dienen Transportmittel direkt oder indirekt dazu, Umgebung in einer bestimmten Weise wahrnehmbar zu machen. Beim Reisebus der Essener Aufführung von »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« wird dies, seiner touristischen Implikation wegen, besonders deutlich. Das Stück evozierte ja explizit touristisches Interesse an dem untersuchten Gebiet und thematisierte damit die merkantil motivierte Präformation von Land30 schaftswahrnehmung. Der Reisebus wirkte in diesem Zusammenhang also nicht nur als szenisches Mittel der Publikumsführung, sondern erfüllte eine direkt inhaltliche Funktion. In »Landscapes of Glory« war der fahrende Zug weniger eine Anspielung auf touristische als auf alltägliche Verwendung von Verkehrsmitteln. Die Eisenbahn ist für viele Menschen im Ruhrgebiet das Fortbewegungsmittel der Wahl, sei es in der Freizeit oder um den täglichen Weg zur Arbeit zurückzulegen. Umso deutlicher wurde die angesprochene Bedeutung von Verkehrsmitteln für die Wahrnehmung von zeitgenössischen Landschaften, die eben geprägt ist von permanenter Inklusion und Immanenz. Die unausgesprochene aber trotzdem stückprägende Verwendung von Verkehrsmitteln in der »Expedition an den Rand der Welt« bildete auf praktischer Ebene ab, wie heute Transport und die Überwindung von räumlichen Distanzen körperlich organisiert wird, weil sich die Akteure ja tatsächlich nicht dort befanden, wo die Aufführung stattfand. Diese Aufführung war erstens nur möglich und zweitens inhaltlich abhängig von der Tatsache, dass sich die Expeditionsteilnehmer an andere Orte begeben und suggerieren konnten, sie befänden sich am Rand der Welt, wobei es eben wesentlich war, welche Orte das waren. Faktisch nämlich solche, die erreichbar waren, womit sie noch als Teil der Welt diesseits des Randes und also als Teil der Landschaft, in der man sich befindet, de-

29 Vgl. Franz Bucher, Gerold Kunz, Hilar Stadler: Die erste Autobahn der Schweiz. In: Martin Heller, Andreas Volk (Hg.): Die Schweizer Autobahn. Zürich 1999, S. 46-83. 30 Vgl. Kapitel 4.6.3.

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finiert waren. Die kommunikationstechnologische Negation dieser räumlichen Distanz machte, in der beschriebenen Überlagerung von An- und Abwesenheit, diesen Umstand zu einem der thematischen Gegenstände des Stücks. Diese Betrachtung der Funktion von Verkehrsmitteln in den Stücken von Schauplatz International führt zu weiteren Parallelen zu Elementen der historischen Landschaftstheorie, namentlich zu den besprochenen Beispielen. So findet sich in drei der vier Stücke die Signifikanz von Ruinen wieder, die bereits in der Ästhetik des Pittoresken einen Auftritt gehabt hatte.31 »Schengen Border Observation Point« spielt als Ganzes in einer – wenn auch jungen – Ruine, dem zerfallenden polnischen Nationalstadion in Warschau. Das Gebäude lieferte sowohl einen konkreten Rahmen für die Aufführungs- und Wahrnehmungssituation als auch eine inhaltliche Ebene, indem sein ruinöser Zustand einen Kommentar auf die im Stück thematisierte Kontingenz von identitätspolitischen Konstruktionen – wie sie Grenzen und Stadien darstellen – lieferte. »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« fand auf einer Brache am Berliner Platz in Essen statt. Das Gelände war zur Hälfte asphaltiert, die Spielfläche jedoch verwildert. Einzelne Mauern standen noch, weitere Reste der früheren Nutzung als Güterbahnhof waren, mit Ausnahme eines kleinen Turms, kaum mehr zu sehen. Insgesamt machte die Fläche einen unwirtlichen, abweisenden Eindruck. Sie wirkte vor allem durch ihre Offenheit und Weite. Auf der Brache am Berliner Platz spielten die ruinösen Reste des gesuchten Stadtteils Segeroth insofern eher in ihrer offensichtlichen Abwesenheit eine Rolle. Ihr Fehlen war erst Forschungsanlass und dann Grund zur Verzweiflung, weil außer dem Mythos praktisch nichts vom alten Segeroth übrig geblieben ist. Wichtiger war die Tatsache, dass sich die Natur in Form von Pionierbewuchs auf dem Gelände breitmachte und die letzten sichtbaren Spuren, die Gleisanlagen des ehemaligen Güterbahnhofs, zum Verschwinden brachte. Für »Landscapes of Glory« waren Ruinen eher von sekundärer Wichtigkeit. Einzelne Szenen, wie das Festmahl auf dem ehemaligen Zechengelände Unser Fritz, spielten zwar vor der Kulisse von zerfallenen Gebäuden, oder solche waren, als Teil der beobachteten Bahnbegleitflächen, Gegenstand der verklärenden Beschreibung durch den Darsteller im Zug. Ruinen waren aber in diesem Fall einfach Teil der durchfahrenen Landschaft, nicht deren ästhetische Essenz, wenngleich sie natürlich inhaltlich, ähnlich wie das Stadion in Warschau, auf die Brüchigkeit von Identitätskonstruktionen hinwiesen. Die Ästhetik des Pittoresken verband mit Ruinen jene Eigenschaften, die als konstitutive Elemente von Schönheit angesehen wurden: »Roughness« und »Ruggedness«, das heißt das Raue, Schroffe, Zerklüftete, Wilde.32 Diese Charakteristika bezogen sich auf künstlerische Stilmittel, die man in der Landschaft, zu denen auch

31 Vgl. Kapitel 4.6.2. 32 Vgl. Kapitel 4.6.2.

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Ruinen gehörten, wiederzufinden hoffte. Nicht zufällig wurden bestimmte Gemäuer, etwa jene von Tintern Abbey in Wales, zu Ikonen des Pittoresken. Gerade in Tintern Abbey wurde das Ineinander von ruinierter Architektur und vordringender Natur besonders geschätzt. Das Gerippe des gotischen Klosters war zur Zeit seiner Wiederentdeckung Ende des 18. Jahrhunderts über und über mit Efeu bedeckt, die ganze Anlage verwaldet. Dieser Zustand musste aus konservatorischen Gründen bei den im 20. Jahrhundert durchgeführten Restaurationsarbeiten – Tintern Abbey wurde unterdessen als Baudenkmal von nationaler Bedeutung taxiert – aufgegeben werden, so dass diese Ruine heute nicht mehr als Beispiel für das pittoreske Schönheitsideal angesehen werden kann. Aber als solches Beispiel ist die Abtei überhaupt erst in den Rang eines nationalen Baudenkmals gelangt, so dass sich in Tintern eine seltsame Doppelung von rückwärts gewandter ästhetischer Sehnsucht manifestiert. Die Faszination für Ruinen war ja schon im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert mit einer Begeisterung für ein vorgestelltes Mittelalter, einer eigentlichen »Mittelaltersehnsucht«,33 verknüpft, was das ästhetische Ideal des Pittoresken mit der kunstgeschichtlichen Epoche der Romantik verbindet.34 Tintern Abbey bildet demnach in doppelter Hinsicht den Versuch ab, ein ästhetisches Ideal auf den Spuren einer vorgestellten Vergangenheit aufzubauen. Das deckt sich mit der Tatsache, dass pittoreske Landschaften ihre ästhetische Qualifikation nicht aus sich selbst, sondern aus ihrer Ähnlichkeit mit bereits existierenden oder imaginierten Bildern bezogen.35 Diese Verbindung von Landschaft mit idealisierter Fiktion – zum Beispiel der Vergangenheit – anhand der Ruine findet sich in den besprochenen Stücken von Schauplatz International wieder, wobei dieser Konnex explizit problematisiert wird. Das Stück »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« lebt von dieser Gegenüberstellung von mythischer Vergangenheit und sinnsuchender Gegenwart, dargestellt auf dem real existierenden Trümmerfeld des ehemals real existierenden Stadtteils Segeroth. Im Gegensatz zu Tintern Abbey heute war dieses Trümmerfeld zum Zeitpunkt der Aufführung aber im Begriff, von der Natur in Besitz genommen zu werden, ein Prozess, der nur deshalb zum Erliegen kam, weil kein Bezug zur Vergangenheit hergestellt und das Gelände mit einer Überbauung neu definiert werden sollte. In »Landscapes of Glory« und »Schengen Border Observation Point«

33 Sebastian Baden: Modellkatastrophen und das Puzzle der Rezeption. Die Ästhetik der Zerstörung im Werk von Christoph Draeger. In: Andreas Böhn, Christine Mielke (Hg.): Die zerstörte Stadt. Mediale Repräsentation urbaner Räume von Troja bis SimCity. Bielefeld 2007, S. 339-367, hier S. 356. 34 Vgl. z.B. Norbert Wolf: Kunst-Epochen. Band 9: Klassizismus und Romantik. Stuttgart 2002. 35 Vgl. Kapitel 4.6.2.

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spielen Ruinen als Kulisse eine Rolle. Die von ihnen repräsentierte Vergangenheit wird als Wirkstoff versuchter Identitätskonstruktionen untersucht und infrage gestellt. Wie relevant Ruinen und der mit ihnen verbundene Vergangenheitsbezug noch heute sein können, legte schon John Brinckerhoff Jackson in seinem Essay »The Necessity for Ruins« dar.36 Besonders in »Schengen Border Observation Point« kommt dem zerfallenden Stadion allerdings mehr als eine kulissenhafte Bedeutung zu. Die Präsenz des – in Teilen ebenfalls von der Natur in Beschlag genommenen – Bauwerks hatte sowohl für die Produktion als auch für die Rezeption der Performance eine dermaßen prägende Wirkung, dass das Stadion zum eigentlichen Gegenstand der Aktion wurde. Die Begegnung mit der durch das Bauwerk repräsentierten Vergangenheit war für das Publikum von mindestens ebenso großem Interesse wie die eigentliche Performance. Das spricht nicht für deren Scheitern, im Gegenteil. Die produzierte Ästhetik war offenbar in der Lage, sich selbst zu überwinden und eine Rezeptionssituation zu schaffen, der nichts autoritär Artifizielles mehr anhaftete. »Schengen Border Observation Point« wurde zu einem integralen Teil des architektonischen Settings, wuchs – ähnlich wie die Pionierpflanzen ringsum – in die Ruine ein und erfüllte dadurch auf paradoxe Weise das pittoreske Ideal der Überlagerung von Kultur und Natur, verkörpert in der rauen, schroffen, wilden Ruine. »Schengen Border Observation Point« verfolgte das Publikum durch Feldstecher und Fernrohre. Die Performance fand in etwa 150 Metern Entfernung auf dem Spielfeld statt, die Zuschauer bewegten sich auf der Krone des Stadions. Die Stimmen der Akteure waren verstärkt und gut zu hören, von bloßem Auge aber war das Geschehen nicht im Detail zu sehen. Erst der Blick durch die optischen Instrumente erzielte beim Publikum die intendierte Wirkung, nämlich, sich als Teil eines Überwachungsapparats zu verstehen, als jener Teil der Gesellschaft, dem es obliegt, über Ein- und Ausschließungsmechanismen zu verfügen. Darin kann eine Analogie zur Verwendung von Claude-Spiegeln und Claude-Gläsern im Zusammenhang mit der Suche nach einem pittoresken Landschaftsideal gesehen werden.37 Diese Geräte dienten ja dazu, die betrachteten Landschaften einem malerischen Ideal, den Bildern Claude Lorrains, anzugleichen, das heißt, real existierende Gegenden zu fiktionalisieren. Dieser Effekt wurde in »Schengen Border Observation Point« insofern reproduziert, als erst der optisch-technologisch gesteuerte Blick auf die Szenerie deren eigentliche, durch einen fiktionalen Bezug hergestellte Bedeutung für die Betrachtenden offensichtlich machte. Die Ferngläser dienten primär dazu, die Akteure in den Blick zu nehmen. Doch das Publikum war frei, anderes zu betrachten:

36 John Brinckerhoff Jackson: The Necessity for Ruins. In: John Brinckerhoff Jackson: The Necessity for Ruins and other Topics. Amherst 1980, S. 89-102. 37 Vgl. Kapitel 4.6.2.

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das Spielfeld, die Reste der leeren Tribünen, die Anlage im Rücken, die Stadt. Von der Krone des Stadions hatte man eine schöne Sicht über Teile des Stadtteils Praga und vor allem auf die Silhouette der Innenstadt auf der anderen Seite der Weichsel, inklusive des stalinistischen Kulturpalasts, ein Gebäude mit nicht weniger symbolischer Ausstrahlung als das »Zehnjahresstadion«. Dieser freie Blick wurde durch die performative Setzung allerdings dahingehend verändert, dass das Publikum durch die Geräte eine überwachende Rolle zugewiesen bekam. Es war demnach frei, die Umgebung nach eigenem Gutdünken zu betrachten, tat dies aber unter gegebenen heuristischen Voraussetzungen. »Schengen Border Observation Point« kreierte unter Zuhilfenahme optischer Geräte eine besondere Wahrnehmungssituation, und die Kristallisationspunkte dieser fiktionalisierten Wahrnehmung waren der Kessel des Stadions und die darin stattfindende Performance. Ihr primäres Ziel war nicht das Finden eines pittoresken Landschaftsideals, doch sie war nur in diesem konkreten räumlichen Ensemble, in dieser Ruinenlandschaft möglich. Auch die ästhetische Um- und touristische Aufwertung einer konkreten Gegend, im Zusammenhang mit den historischen Reisedestinationen der Sächsischen Schweiz und des Alpenhauptkamms als »Entdeckung« oder »Erfindung einer Landschaft« apostrophiert,38 lässt sich in den Stücken »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« und »Landscapes of Glory« wiederfinden. »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« thematisierte die touristische Kommodifizierung schon auf der Ebene des suggerierten Plots, indem behauptet wurde, ein Investor beabsichtige, aus dem Gelände ein Einkaufszentrum mit Themenpark zu machen. Gerade in der sich mittels großer Werbetafel am Hauptbahnhof als »Einkaufsstadt« deklarierenden Kommune Essen werden Shopping-Angebote als touristische Infrastruktur verstanden. Themenparks in den verschiedenen Abstufungen von reinen Vergnügungsanlagen zu Wellness- oder Sportzentren und historischen Industriedenkmälern mit populärwissenschaftlichem Anspruch gibt es im Ruhrgebiet Dutzende. Auf sie stützt sich die touristisch vermarktete Identität des Gebiets wesentlich. Die durch die Verwendung des Reisebusses geprägte Aufführungs- und vor allem Publikumssituation unterstrich die touristischen Implikationen des Stücks zusätzlich. Nicht nur das Expeditionsteam, auch das Publikum konnte sich so als Teil des Voraustrupps zur ästhetischen Entdeckung und Erschließung einer innerstädtischen Landschaft verstehen. Dass das Areal ästhetisch aufgewertet werden musste, um es merkantil nutzbar zu machen, war offensichtlich. Die Brache am Berliner Platz war bis zum Zeitpunkt der Aufführung ein höchstens von Hundehalterinnen und Kleinkriminellen begangenes Gebiet gewesen, so dass sie eher als bedrohlich denn als schön betrachtet wurde oder ganz aus der Wahrnehmung der Bevölkerung gestrichen worden war. Dies jedenfalls war der Eindruck, den das Schauspiel Essen

38 Vgl. Kapitel 4.6.1 und 4.6.3.

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mit seinen »Stadt-Interventionen« erzeugen wollte: »Was nicht zu Landschaft wird, bleibt Wildnis. Gefährliche Wildnis, in die man besser keinen Fuß setzt und von der man auch kein Bein mehr an den Boden bekommt.«39 Mindestens genauso offensichtlich war freilich die Tatsache, dass der suggerierten touristischen Erschließung des Geländes die reale kulturelle voranging, nämlich in Gestalt des durchgeführten Projekts, das sich mit der thematischen Ausrichtung also nicht zuletzt gegen sich selber wandte und die Rolle kultureller Institutionen und die von ihnen vertretenen Interessen kritisch hinterfragte. Die Brache am Berliner Platz war eine für heutige Städte und Agglomerationsräume nicht untypische Freifläche im Zentrum eines Siedlungsgebiets. In der proklamierten Überwindung des in neueren Landschaftstheorien konstatierten anästhetischen Verhältnisses zu solchen Räumen widerspiegelte sich eine Aneignungsaufforderung, die gleichzeitig eine eigentliche kulturelle Aneignungsgeste war. Es blieb jedoch eine hohle, denn das Gelände war zu diesem Zeitpunkt längst in einen Planungsprozess integriert, der am Berliner Platz eine Bebauung als neue urbane Mitte Essens als Wohnstadt vorsah. Dieses antizipierbare Scheitern der durch die Beschäftigung mit dem verschwundenen Stadtteil Segeroth markierten Aneignungsgeste ließ diese einerseits von Anfang an symbolisch erscheinen, was das Stück mit dem starken Bezug zur Folgenlosigkeit einer Mythenbeschwörung explizit thematisierte. Andererseits stand auch die Frage der aufmerksamkeitsökonomischen Kollaboration im Raum, indem die versuchte Überwindung der Unsichtbarkeit der Freifläche deren symbolischen Gehalt steigerte, was sich wiederum positiv auf den ökonomischen Wert des Planungsgebiets niedergeschlagen haben könnte. So gesehen bildete das Stück »Die Suche nach der verschwundenen Stadt« ästhetische Ameliorationsprozesse nicht nur ab, sondern war selbst Teil eines solchen.40 Mit einer solchen ästhetischen Neukodierung von Landschaft spielte auch – wenngleich mit weniger realpolitischen Implikationen – das Stück »Landscapes of Glory«. Das erklärte Ziel der Aufführung bestand ja gerade darin, Dinge zu sehen und schön zu finden, die einem zuvor keinen Blick wert gewesen waren. Es handelte sich dabei entweder um Nutzgebiete, funktionale Flächen, oder um solche, die zum Beispiel ihrer Unwegsamkeit wegen gemieden wurden und mit der Zeit verwildert waren. Es waren nicht wenige. Aus dem Fenster eines fahrenden Zuges betrachtet, schienen große Teile des Ruhrgebiets aus solchen Orten zu bestehen. Das lag unter anderem daran, dass die Gleise zum Teil in vertieften Kanälen verlaufen und auf beiden Seiten von Böschungen umgeben sind. Andernorts wird ein Gleis von vielen innerhalb eines ganzen Strangs befahren. Zwischen den Trassees oder

39 Sabine Reich: Wildnis Ruhrgebiet. Die leere Mitte: Wer keine Arbeit hat, der kann was erleben! Konzeptpapier des Schauspiels Essen. Essen 2004, persönliches Archiv. 40 Vgl. Kapitel 5.6.

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bei Abzweigungen ergeben sich so immer wieder tote Winkel, die für Menschen kaum zu erreichen sind, für Pflanzen gerade dadurch aber willkommenen Siedlungsraum bieten. Diese Bahnbegleitflächen sind in der Regel nicht nutzbar und werden gelegentlich aus ökologischen Gründen bewusst der Natur überlassen. Eine ähnliche Qualität der Verwilderung erreichen bisweilen aufgelassene Nutzflächen wie Mülldeponien, leer stehende Gebäude oder nicht mehr befahrbare Straßen, Wege und Gleise. In »Landscapes of Glory« wurde die ästhetische Qualität solcher Orte nicht nur durch die dort zu beobachtende Rückkehr der Natur begründet, sondern gerade durch das seltsame Zusammengehen von menschlichem Einfluss und Abwesenheit desselben, von Intervention und Verlassenheit. Die vom Zug aus zu beobachtende Landschaft war eine, die keine Schlüsse auf einen möglichen Ursprung zuließ, weil nichts, was man sah, immer schon so gewesen war. Der ganzen Wildheit zum Trotz war in allem das Artifizielle zu sehen, das eine Nähe suggerierte, die, so die Aussage des Stücks, von unberührter Wildnis niemals ausgehen konnte. Dieses Gefühl von Verbundenheit ging so weit, dass Liebl immer wieder Phantasien potenzieller pionierhafter Neuerschließung dieser Bahnbegleitflächen entwickelte und sich vorstellte, wie schön es sein müsste, hinter dieser oder jener Anzeigetafel völlig ungestört zu leben. Die visuell oder auditiv vermittelten Repräsentationen von Glücksmomenten von draußen trugen das ihre dazu bei, die Grönemeyersche Behauptung vom Ruhrgebiet als »Glücksgebiet« in den Stand der fiktionalen Überprüfbarkeit zu übertragen. Dass dieses propagierte Landschaftsideal vom »Glücksgebiet« nicht nur identitätspolitischen, sondern auch tourismusökonomischen Zielen geschuldet war, ließ sich indes in der Realität ohne weiteres nachvollziehen. Das Ruhrgebiet versucht seine industrielle Vergangenheit im großen Stil touristisch auszuschlachten, ein Vorgang, der eng mit der ästhetischen Neubewertung von architektonischen Artefakten der Zeit verbunden ist. Liebl stellte durch den expliziten Verweis auf seine Herkunft aus der Schweiz einen deutlichen Bezug zu Tourismusgeschichte und den darin immer wieder vorkommenden Prozessen landschaftlicher Umkodierungen her. »Landscapes of Glory« schließt folglich thematisch an solche Prozesse an, wie sie für die Beispiele der Sächsischen Schweiz oder der Schweizer Alpen besprochen worden sind.41 Das Stück »Expedition an den Rand der Welt« bezieht sich in mehrfacher Hinsicht auf historische und gegenwärtige Bedeutungen des Wortes »Landschaft«. Einerseits bildet es zeitgenössische Wahrnehmungsweisen von Landschaft ab bzw. thematisiert die Schwierigkeit, zeitgenössische Landschaften tatsächlich wahrzunehmen. Andererseits lässt sich konzeptuell eine Verbindung zum historischen Phänomen des Englischen Landschaftsgartens und dort vor allem zu den Ha-Has

41 Vgl. Kapitel 4.6.1 und 4.6.3.

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ziehen. Das Stück reflektiert nämlich die Unmöglichkeit, Raum so wahrzunehmen, dass sich einzelne, voneinander geschiedene Landschaften auseinanderhalten und identifizieren ließen. Die reale oder ästhetische Trennung als Konstituent von Landschaft klingt bereits im Titel an.42 Das Stück ist eine Reise, eine »Expedition an den Rand der Welt«, wobei es, dem affirmativen Duktus im Titel zum Trotz, die Frage stellt, wo ein solcher Rand denn zu finden sein könnte. Es übersetzte insofern auf konzeptionelle Ebene, was Ha-Has in den Englischen Gärten visuell suggerierten: das Verschwinden einer sichtbaren Trennung, dort noch verbunden mit dem Anspruch auf umfassende Aneignung. Wie wurde dieser Effekt in »Expedition an den Rand der Welt« erzielt? Das Stück hat keine räumliche Grenze. Es war eine eigentliche Negation der Bühne als geschlossenem Rahmen, und zwar nicht einfach dadurch, dass Wirklichkeit visuell oder materiell auf die Bühne geholt wurde. Vielmehr war nicht nur das, wovon die Boten berichteten, woanders, die Boten selbst waren es, und zwar ständig. Mit Hilfe moderner Kommunikationstechnologie versuchten sie, in den Theaterraum zurückzukehren. Sie taten das, um den Ort, an dem sie sich befanden – dem mutmaßlichen »Rand der Welt« – anschaulich werden zu lassen, ihm dort, wo sich das Publikum befand, zu vorgestellter Präsenz zu verhelfen. Diese Überschneidung hatte zur Folge, dass räumliche Kategorien verschoben wurden, in den Zürcher Vorstellungen noch verstärkt durch die Tatsache, dass die Aufführung live schriftlich kommentiert wurde, dieser Kommentar im Internet veröffentlicht wurde und am Ende der Vorstellung auf der Bühne zu sehen war. Natürlich wusste jeder Zuschauer und jede Zuschauerin immer, wo er oder sie sich befand. Nicht ganz klar war aber, wo etwas geschah, wo die eigentliche Aufführung stattfand. Insofern hatte man es mit einem szenischen Ha-Ha zu tun, nicht markiert durch einen unsichtbaren Graben, sondern durch die Möglichkeiten der Telekommunikation. Die Boten bemühten sich darum, das Aussehen und die Atmosphäre der Orte, an denen sie sich befanden, zu beschreiben. Sie erzählten auch, was sich dort tat, falls andere Menschen anwesend waren. Ihre Schilderungen glichen Beschreibungen von Landschaften, wenngleich nicht solchen, die als Motive der klassischen Landschaftsmalerei bekannt sind, sondern eher solchen, wie sie zeitgenössische Landschaftstheorien beschreiben. Die Beobachter teilten mit, wie sie das alles verstanden und interpretierten, besonders im Hinblick auf die Frage, inwiefern diesen Orten liminale Eigenschaften zukamen, das heißt, sie als »Rand der Welt« verstanden werden konnten. Diese liminalen Qualitäten ließen sich vor allem dort nachweisen, wo Orte mehr Irritationen als stabile Bedeutungen produzierten, wo sich bei den Beobachtern Unsicherheit hinsichtlich des eigenen Status an diesem Ort breit machte. Diese Unsicherheit betraf nicht zuletzt die Wahrnehmung, denn oft fiel es

42 Vgl. Kapitel 4.6.

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schwer, die fraglichen Räume gut zu beschreiben, gerade weil es sich um solche mit liminalen Eigenschaften handelte. Liminalität und Anästhetik traten so als voneinander abhängige Phänomene in Erscheinung. Derselbe diffuse Effekt stellte sich im Theaterraum ein. Diese Ununterscheidbarkeit der verschiedenen Räume auf mehreren Ebenen und die wahrnehmungstechnischen Schwierigkeiten, die sich in- und außerhalb des Theaterraums einstellten, evozierten konkret und konzeptuell die Wirkung von Ha-Has in den Englischen Landschaftsgärten. Die durch diese Indifferenzen erzeugten Paradoxien führten aber auch dazu, dass – weil die für die Wahrnehmung von traditionellen Landschaften konstitutiven ästhetischen Grenzziehungen wegfielen – die fraglichen Räume nicht mehr als Landschaften klassifiziert werden konnten, obwohl es sich um Räume handelte, die von zeitgenössischen Landschaftstheorien als genau solche beschrieben werden.

7.3 NEUE LANDSCHAFTEN Können diese Betrachtungen einen Beitrag zur Klärung der Frage leisten, ob und wie das Sehen von Landschaft durch die Kunst präformiert wird? Und können sie einen Beitrag dazu leisten zu erklären, mit welchen Absichten das geschieht? Bei den besprochenen historischen Beispielen ließen sich Spuren sozialstrategischer Absichten finden. Es ließ sich zeigen, dass Landschaften zwar ästhetische Phänomene sind, sich aber nur unzulänglich erfassen lassen, werden sie auf einen engen Begriff von Ästhetik reduziert. Wenn, wie Cosgrove schreibt, die Geschichte der Landschaft nur als Teil einer Geschichte der Gesellschaft, die sie entworfen hat, verstanden werden kann,43 Landschaften sich aber als ästhetische, mithin künstlerische Phänomene präsentieren, in welchem gesellschaftlichen Zusammenhang stehen dann die Stücke von Schauplatz International? Mit anderen Worten: Tragen sie etwas dazu bei, Gegenden, die von neuen Landschaftstheorien »Landschaften« genannt werden, versteh- und wahrnehmbar zu machen. Tragen sie also etwas dazu bei, neue Landschaften ästhetisch entstehen zu lassen? Die Arbeit von Schauplatz International steht im theoretischen Kontext des Spatial Turn.44 Dieser ist in Teilen als eine akademische Kräfteverschiebung zu deuten. Die theoretische Transformation des Untersuchungsgegenstands »Raum« zur eigentlichen Analysekategorie hat darüber hinaus aber, wie gezeigt, emanzipatorisches Potenzial, wenn sie hilft, Raum und Zeit als zusammenfallende Phänomene zu betrachten und so die »Materialität der Welt«45 zu betonen. Der Begriff

43 Vgl. Kapitel 4.6. 44 Vgl. Kapitel 3.3. 45 Vgl. Kapitel 3.3.

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»Landschaft« spielt bei diesem Prozess eine wesentliche Rolle, weil ihm nach wie vor zugetraut wird, Entstehen, Form und Wahrnehmung der die Menschen umgebenden Welt zu erfassen. Zu wenig beachtet wird dabei, dass es sich erstens um einen ästhetisch begründeten Terminus handelt, der aber zweitens nur dann seine ganze Aussagekraft entwickelt, wenn »Ästhetik« im geschilderten breiten, politischen Sinn verstanden wird. Die Stücke von Schauplatz International nehmen diese Bedingungen auf und schließen an den zeitgenössischen Landschaftsdiskurs an. Sie reflektieren die dort gemachten Aussagen, besonders im Bemühen, Form und Inhalt zur Deckung zu bringen, denn die fraglichen Produktionen beschäftigen sich mit den Lokalitäten, an denen sie aufgeführt werden. Die für zeitgenössische Raumvorstellungen typische Betonung der Synchronizität findet sich in den Stücken von Schauplatz International dort wieder, wo die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«46 provoziert wird, das heißt in jenen Produktionen, die sich mit der Geschichte eines Ortes beschäftigen, ihn durch die erweiterte historische Perspektive zur Landschaft machen und diese als Palimpsest behandeln. Dort, wo nicht die Geschichte im Vordergrund steht, sondern die hermeneutische Vieldeutigkeit eines Ortes und die damit verbundenen Uneindeutigkeiten in Bezug auf Präsenz und Abwesenheit, schaffen die Stücke eine Art Gleichräumlichkeit des Ungleichräumigen. Das gilt besonders für die Produktionen »Expedition an den Rand der Welt« und »Schengen Border Observation Point«. In diesen Stücken kommt eine eigentliche Politopie zum Ausdruck, die die Produktionsweise von Räumen, wie sie der Spatial Turn in den Mittelpunkt rückt, ästhetisch abbildet und nachvollzieht. Gegenstand dieser künstlerischen Auseinandersetzung sind Landschaften in dem Sinn, wie sie zeitgenössische Landschaftstheorien schildern: als »Territorien«, »Palimpseste«, »Zwischenstädte« oder »dritte Landschaften«.47 Es sind Phänomene, die eines gemeinsam haben: Sie lassen sich nicht allein von außen betrachten und stehen darum in einem ungesicherten, prekären Verhältnis zur menschlichen Wahrnehmung, zur Ästhetik. Diese Inklusion hat jedoch zur Folge, dass keine klaren Kausalitätsketten, die zum Entstehen von Landschaften führen, nachgezeichnet werden können. Die scheinbare Heterogenität der entstandenen Siedlungsräume folgt zwar aus der Ratio vieler verschiedener Partikularinteressen. Solche Prozesse lassen sich erklären, schwer fassbar bleibt hingegen, wie und unter welchen Umständen die so entstandenen Raumkonfigurationen als Landschaften wahrgenommen werden und warum das – wie ja von den zeitgenössischen Landschaftstheorien beklagt wird – mehrheitlich nicht getan wird respektive nicht möglich zu sein scheint.

46 Vgl. Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a.M. 1985. 47 Vgl. Kapitel 5.

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Dieses Paradox lässt sich auch in den Stücken von Schauplatz International wiederfinden. Wissen über und Wahrnehmung von Landschaften wird in den besprochenen Produktionen sowohl produziert wie reproduziert. Die Stücke nehmen bereits vorhandenes Wissen auf und reagieren darauf. »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« basierte auf der Mythologisierung des Segeroth. Die Produktion war Demontage und Würdigung dieser Mythen zugleich und versuchte doch, sie loszuwerden. Ebenso werden Wahrnehmungsweisen bestimmter Orte aufgenommen und – vielleicht zweckentfremdet – künstlerisch nutzbar gemacht: Vermutlich war allen Besucherinnen und Besuchern von »Schengen Border Observation Point« das Warschauer Stadion bekannt. Unter den durch die Performance gegebenen Umständen hatten sie es aber noch nie gesehen, und diese ließen es zu einem anderen Ort werden als der, den sie kannten. Das heißt, der landschaftsproduktive Teil des ortsspezifischen Theaters von Schauplatz International besteht – und darin findet sich auch die emanzipatorische Kraft wieder, die dem Spatial Turn insgesamt zugeschrieben wird – im künstlerischen Willen, auf materieller Basis alternative Arten der Weltbeschreibung zu entwerfen und anzubieten. Diese explorative Wissensproduktion hätte folglich durchaus zum Ziel, neue Landschaften zu etablieren. Das zeigte sich deutlich im Stück »Landscapes of Glory«, wo gegen die ideologische Instrumentalisierung von Landschaftskonstruktionen vorgegangen und eine Ästhetik des Disfunktionalen, Artifiziellen und Unoriginären propagiert wurde. Und nicht nur in diesem Stück orientierte sich die Gruppe an einem landschaftlichen Schönheitsideal, das an das Pittoreske erinnert und durch ähnliche Eigenschaften beschrieben werden kann: rau, zerklüftet, schroff, wild. Diese Adjektive beschreiben aber nicht nur Eigenschaften, die Orten allein als ästhetische Qualitäten zukommen, sondern markieren – in annähernd metaphorischem Sinn – eine Abkehr von dem, was bisher als landschaftlich schön galt. Und genau so wurden neue Landschaften ja immer schon etabliert: durch die Durchsetzung eines neuen Schönheitsideals, das sich – das haben die besprochenen historischen Beispiele gezeigt – negativ vom herrschenden Ideal absetzte und dieses unterbot, indem es sich Landschaften zuwandte, für die man bisher kein Auge hatte. Diese Tendenz ist in den Stücken von Schauplatz International deutlich wiederzufinden. Die untersuchten und durch die Untersuchung bespielten Orte sind nicht solche, die Gegenstand eines herrschenden Schönheitsempfindens wären. Diesem auszuweichen, an seine – raummetaphorisch gesprochen – Peripherie zu gehen und ein deviantes Landschaftsideal zu behaupten, auch darin wird man nach all dem Gesagten ein emanzipatorisches Unternehmen erkennen, weil das Entscheidende eben nicht ist, dass eine Landschaft schön ist, sondern weshalb welche Landschaft als schön gilt und wer das bestimmt. Wie kritisch Schauplatz International wiederum dem eigenen ästhetischemanzipatorischen Ansatz gegenüberstand, zeigt – in einer Art antizipierenden

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Selbstzweifels – der zweite Teil des Stücktitels von »Landscapes of Glory«: »Beautiful Moments but schnell vorbei«. Der bezog sich ja nicht nur auf die herrschende identitätspolitische Glückspropaganda von staats- und gesinnungsinstitutioneller Seite, sondern auch auf die eigene vorgeschlagene Alternative, und zwar im Wissen darum, dass in jedem antiideologischen Ansatz die Gefahr des ideologisch Autoritären lauert. Dass diese Gefahr tatsächlich besteht, lässt sich anhand der symbolischen, politischen und ökonomischen Umstände des Zustandekommens der behandelten Stücke verfolgen, was wiederum zur Klärung der Frage, warum neue Landschaften etabliert werden sollen, beitragen kann. »Schengen Border Observation Point« war Teil der Veranstaltungsreihe »Finissage of the Stadium X«. Sie wurde maßgeblich von der »Laura Palmer Foundation« durchgeführt, einer Veranstalterin, die sich auf transdisziplinäre Theater- und Kunstveranstaltungen spezialisiert hat, oft mit starkem Ortsbezug und verbunden mit Interesse an Architektur. Die Bezeichnung »Foundation« deutet nicht auf ein großes Kapital hin, über das die Agentur verfügen könnte, sondern setzt sich einerseits ironisierend genau davon ab und ist andererseits einer Eigenheit des polnischen Rechts geschuldet, das die Gründung von Stiftungen ohne große finanzielle Abstützung ermöglicht. Die »Laura Palmer Foundation« wird von Joanna Warsza und Zuza Sikorska betrieben und ist in Warschau domiziliert. Ihr konzeptueller Ansatz lässt sich in der »Finissage of the Stadium X« deutlich erkennen. Die Verwendung des Begriffs »Finissage« verweist auf das Kunstmilieu, mit dem das Stadion grundsätzlich nichts zu tun hatte. Die »Laura Palmer Foundation« inszenierte insofern eine freundliche Übernahme und gliederte die Stadionruine in den Horizont künstlerischer Aktionsräume ein; mehr noch, sie behandelte sie wie eine Galerie oder ein Museum, denn das Wort »Finissage« bezieht sich auf die Schließung einer Ausstellung im institutionellen Kunstkontext. Faktisch handelte es sich aber um die letzten Veranstaltungen in einem dem Abriss geweihten Fußballstadion, mit dem nicht nur ein Ort der nationalen Selbstinszenierung verschwinden sollte, sondern auch überlebte Formen der Fußballkultur. Auf dem Gelände entstand das neue Nationalstadion Polens. Es wurde hauptsächlich für die Fußball-Europameisterschaft 2012 geplant. Insgesamt steht es darüber hinaus für eine Modernisierung und Kommerzialisierung des Sports.48 Dem Abriss ist so gesehen ein zerstörerischer Gestus inhärent, gegen den sich die »Finissage« richtete, ohne sich ideologisch auf die Seite des Verschwindenden schlagen zu wollen. Doch das Wort »Finissage« bringt neben dem Einverständnis, dass etwas zu Ende geht, auch – durch die Verwendung der musealen Terminologie – einen konservatorischen Willen zum Ausdruck. Es war nicht das Ziel der Veranstaltung, die-

48 Vgl. Martin Bieri: »Forasmuch as there is great noise in the city…«; Fußballgeschichte als Gegenstand von Theatergeschichte. Lizenziatsarbeit, unveröffentlicht. Bern 2003.

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sen Willen durchzusetzen. Vielmehr bot sie dem Publikum die Möglichkeit, den symbolträchtigen Ort aus Neugierde oder Nostalgie noch einmal zu besuchen und sich von ihm kollektiv zu verabschieden, was ohne die »Finissage« nicht möglich gewesen wäre. Die Behörden hatten es verpasst, den Warschauerinnen und Warschauern diese Gelegenheit zu geben: »Paradoxically, were it not for a heroic death and the spectacular funeral, the Stadium would have remained in obscurity.«49 Im Rahmen der »Finissage of the Stadium X« leistete Schauplatz International mit dem Stück »Schengen Border Observation Point« einen Beitrag dazu, dass das Stadion nicht in Vergessenheit geriet, und trug damit zur öffentlichen Akzeptanz der sich vollziehenden Veränderungen bei. So wurden die »Finissage« und die an ihr beteiligten Künstler zu Kritikern und Komplizen eines Modernisierungsprozesses, der nicht nur einen symbolisch wertvollen Ort zum Verschwinden brachte, sondern auch vielen Menschen, nämlich den auf dem »Jarmark Europa« beschäftigten, die ökonomische Lebensgrundlage entzog. Die thematische Auseinandersetzung mit der europäischen Migrationspolitik von »Schengen Border Observation Point« stand dazu zwar in Opposition, war aber viel zu schwach, um den realpolitischen Vorgängen mehr als symbolische Skepsis entgegensetzen zu können. Explizit sprach »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt« diesen Konflikt an, und zwar auf zwei Ebenen. Die Fabel des Stücks bediente auf der fiktionalen Ebene das Thema, indem von einem Investor erzählt wurde, der einen Forschertrupp losschickte, um das Gelände zu rekognoszieren und auf seine Tauglichkeit für die Errichtung eines Vergnügungsparks mit Segeroth-Bezug zu prüfen. Die Anspielungen auf real existierende Stadt- und Tourismusentwicklungsprojekte im Ruhrgebiet und namentlich in Oberhausen waren deutlich. Tatsächlich befand sich der Stadtteil in einem laufenden Planungsverfahren zur Aufwertung der Gegend um den Berliner Platz, hatte aber eine Vergangenheit als ebenso dämonisiertes wie mythologisiertes Arbeiterviertel in der Industriestadt Essen, die ja selbst fast verschwunden und zu einer Dienstleistungs- und Konsumstadt geworden ist. Solche städtebaulichen Aufwertungsprozesse werden in der Stadtsoziologie als »Gentrifizierung« bezeichnet. Ruth Glass hat den Begriff in ihrer Untersuchung des Londoner Stadtteils Islington verwendet.50 Sie beschrieb damit die Verdrängung unterer Schichten und besonders der Arbeiterklasse aus ihren angestammten Quartieren, die durch gesellschaftliche Pioniere mit hohem sozialem aber niedrigem ökonomischen Status – zum Beispiel Künstler und Künstlerinnen – besiedelt und

49 Grzegorz Piatek: A Palimpsest Inscribed on an Ellipse. On the Stadium’s Architecture. In: Joanna Warsza: Stadium X. A Place That Never Was. A Reader. Warschau, Krakau 2008, S. 24-29, hier S. 29. www.laura-palmer.pl/Stadium_X_place_that_never_was_-_a_ reader.pdf (11. April 2011). 50 Ruth Glass: London: Aspects of change. London 1964.

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dadurch gesellschaftlich veredelt werden. Das ziehe dann, so Glass, finanzstärkere Schichten nach, zum Beispiel Mitglieder des Mittelstandes, die vom nun aufgewerteten sozialen Status des Quartiers profitieren wollen. Das führe zu einer weitgehenden Homogenisierung der zuvor verrufenen aber vielfältigen Stadtteile. Der Begriff »Gentrifizierung« leitet sich vom englischen Wort »gentry« ab. Es bezeichnet im Allgemeinen hohe soziale Stellung und Adel, im Besonderen den eher niederen englischen Landadel. Der Begriff »Gentrifizierung« trifft auf die Vorgänge in Essen nur insofern zu, als ein Stadtteil aufgewertet und homogenisiert werden sollte. Das geschah aber nicht durch eine schleichende Verschiebung in der Bevölkerungsstruktur – wenngleich in Zukunft der bessere Mittelstand am Berliner Platz wohnen wird –, sondern durch Planung. Das Unterschichtsviertel, das hätte gentrifiziert werden können, war ja gar nicht mehr da. Auf den zweiten Blick und auf symbolischer Ebene stimmt die Analogie allerdings doch: Schließlich waren es Künstler und Künstlerinnen – nämlich jene von Schauplatz International im Auftrag des Schauspiels Essen –, die sich für ein Gebiet interessierten, das einmal ein Arbeiterquartier gewesen war und in das sie jetzt symbolisch und real eindrangen. Dabei ist ihnen ein inhaltliches Interesse am Gegenstand sicher nicht abzusprechen. Wie gezeigt, hat Schauplatz International eine Affinität zu ortsspezifischer Kunst, zu Stadtentwicklung, zur Geschichte der Arbeiterklasse und nicht zuletzt zum Ruhrgebiet. Das sind alles Motive, die dafür sprechen, einen solchen Auftrag anzunehmen – einmal ganz abgesehen von der ökonomischen Notwendigkeit. Für das Schauspiel Essen können, wohl in anderer Gewichtung, dieselben Interessen vorausgesetzt werden, wobei eines noch dazu kommen dürfte: Das Stadttheater fand in der Beschäftigung mit einem populären Kapitel der Essener Geschichte einen Verbindungspunkt zu seinem Publikum und, als von der Kommune getragene Institution, Legitimation vor seinem wichtigsten Geldgeber. Im Vergleich mit nationalen und internationalen Schauspielhäusern bot sich dem Theater eine Profilierungschance, umso mehr als die Intendanz von Anselm Weber noch jung war und sich die künstlerische Belegschaft bemühte, auf sich und ihren Betrieb aufmerksam zu machen. Auch in diesem Fall gibt es also eine Überschneidung von künstlerischen Interessen und Motiven, die außerhalb direkter künstlerischer Erwägungen liegen. So stehen die Wahl und die Darstellung einer spezifischen Landschaft – das heißt auch ihre Wahrnehmbarkeit – nicht nur in Abhängigkeit von der Kunst, wie es ein eng gefasster Ästhetikbegriff vermuten ließe. Und das gilt nicht nur für den Hintergrund, vor dem die beteiligten Künstlerinnen und Künstler ihre Entscheidungen trafen. Es lässt sich nicht beweisen, ob die Inszenierung am Berliner Platz auf den ökonomischen Wert des Grundstücks einen Einfluss hatte. Wenn, dann steht zu vermuten, dass die erhöhte Aufmerksamkeit und die Aufarbeitung der Geschichte des Geländes den Bauvorhaben eher nützte als schadete. Man kann davon ausge-

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hen, dass die Aktion von den Behörden der Stadt, der der Boden damals noch gehörte, sonst nicht bewilligt worden wäre. Die Arbeit von Schauplatz International in Warschau und Essen zeigt, in welches Verhältnis Kunst und Stadtentwicklung geraten können. Kunst, gewöhnlich vor allem bildende, kann eine enorme Bedeutung für das Image von Städten haben. Sie gehört zum Instrumentarium neoliberaler Stadtpolitik, für die Standortkonkurrenz, innerstädtische Sicherheits- und Ausgrenzungsdispositive und die Konstruktion von Erlebniswelten wichtig sind.51 Welche inhaltliche Ausrichtung die fraglichen Kunstwerke haben, ob sie sich sogar explizit gegen gesellschaftliche Tendenzen stellen, die – wie die angesprochenen – von ihnen profitieren, scheint dabei keine Rolle zu spielen. Die diskutierten historischen Beispiele lassen zwar darauf schließen, dass Kunst ein Mittel sein kann, emanzipatorische Inhalte, in den fraglichen Fällen neue Landschaftsideale, zu transportieren und zu propagieren. Im hier relevanten Kontext von Stadtmarketing und Imageproduktion – als merkantilisierte Form der Identitätspolitik – bestätigt sich das aber nicht, im Gegenteil: Sich kritisch verhaltende Kunst scheint den von ihr kritisierten Umständen sogar zu nützen.52 Im Fall von Schauplatz International stehen nicht nur die besprochenen Produktionen in diesem Konflikt, sondern auch die von ihnen transportierten Landschaftsbilder. In »Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei« thematisierte Schauplatz International diese Widersprüche offen, um sich gegen die Vereinnahmung im Dienste der identitätspolitischen Imageproduktion zu wehren. Das Stück bildete nicht nur eine Gegenthese zu Herbert Grönemeyers hymnischer Verklärung der nordrhein-westfälischen Landschaft, sondern richtete sich indirekt auch gegen den von Thomas Sieverts vorgeschlagenen instrumentellen Gebrauch von Kunst.53 Die Aktivitäten im Rahmen des europäischen Kulturhauptstadtjahres »Ruhr.2010« waren geprägt vom Bemühen, mittels Kunst und kunstähnlicher Aktionen das Ruhrgebiet und seine Landschaft als Einheit, als Stadt neuer Art, genannt »Metropole Ruhr«, zu präsentieren. Für Kritiker – unter anderem Thomas Sieverts’ Sohn Boris – ging der Versuch ins Leere: »›Metropole Ruhr‹ war eine simple Beschwörungsformel – halb Marketing, halb Ratlosigkeit. Das skurrile Mantra, mit dem der Begriff [...] 2010 vorgetragen wurde, offenbarte einen besonders verzweifelten Ver-

51 Vgl. z.B. Klaus Ronneberg, Stephan Lanz, Walther Jahn: Die Stadt als Beute. Bonn 1999. 52 Vgl. z.B. Nicole Grothe: InnenStadtAktion – Kunst oder Politik? Künstlerische Praxis in der neoliberalen Stadt. Bielefeld 2005. 53 Vgl. Kapitel 5.6.

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such, für die Region und ihre räumliche Eigenlogik einen adäquaten Begriff zu prägen und ein entsprechendes räumliches Verständnis zu entwickeln.«54 »Landscapes of Glory« widersetzte sich dieser selektiv-instrumentellen Ästhetisierung der Landschaft und setzte ihr ein eigenes Schönheitsideal entgegen. Damit relativierte die Produktion nicht nur die ästhetische Autorität der für das Ruhrgebiet als »typisch« ausgewählten Landschaftselemente, sondern ironisierte darüber hinaus den Vorgang des Auswählens und Autorisierens solcher Elemente selbst. Insofern kam im Fall von »Landscapes of Glory« dasselbe Amalgam aus Kritik und Komplizenschaft wie in Warschau und Essen zum Tragen, auch wenn das Stück sich der instrumentellen Vereinnahmung nicht nur metaphorisch, sondern explizit widersetzte. Doch dieser Widerstand blieb an die Mittel der Kunst gebunden, und die landschaftsproduktive Kraft von »Landscapes of Glory« reichte nicht aus, um die identitätspolitische Maschinerie von »Ruhr.2010« ins Stocken zu bringen. Dazu trug auch die räumliche Offenheit der Inszenierung bei. Sie fand nicht an einem identifizierbaren Ort statt, sondern an mehreren. Das befahrene Gebiet war zwar stets das gleiche, aber erstens änderte sich die Route und zweitens führte Schauplatz International nicht nur eine Landschaft vor, sondern auch einen spezifischen Blick darauf, der die Produktion in gewisser Weise ortsunspezifisch machte. Dieses Prinzip galt in noch wesentlich gesteigertem Maß für die »Expedition an den Rand der Welt«. Die räumliche Verteilung der Expediteure und die Art, wie sie ihre Botschaften übermittelten, setzten die Kategorien von Raum und Zeit in ein spezifisches, ungewohntes Verhältnis. Auch in diesem Stück näherten sich die Akteure bestimmten Orten und insgesamt einer Landschaft affirmativ. Gefallen und Missfallen standen immer im Verhältnis zum eigentlichen Ziel der Suche, dem »Rand der Welt«, der in seinen liminalen Eigenschaften beschrieben und bewundert wurde. Durch die gewählte Form wurde die »Expedition an den Rand der Welt« aber zu einem ästhetisch dermaßen widerspenstigen Stück, dass es sich jeder Einordnung in ein übergeordnetes ideologisches Dispositiv entzogen hätte. Ein solches hat es auch nicht gegeben. Das Stück fand zwar ursprünglich im Kontext des Schauspiels Essen und des dort veranstalteten Symposions zu »Schwarmintelligenz« statt, wurde dann aber von der Gruppe übernommen und als freie Produktion wahrgenommen. Mit »Expedition an den Rand der Welt« vertrat Schauplatz International keine anderen Interessen als eigene. »Expedition an den Rand der Welt« war eine Feier der Technik. Nicht dass immer alles reibungslos geklappt hätte oder das Stück eine Ästhetik der »High-EndTechnologie« kolportiert hätte. Aber es führte die bewusste Unterwerfung des Men-

54 Erfgoed Nederland, Gesellschaft für explorative Landeskunde e.V. LEGENDA: Urban Dingsbums. Exploring the Heritage of Fragmented Landscapes. Flyer zum Symposium »Urban Dingsbums«, 12. März 2011 in Duisburg, persönliches Archiv.

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schen unter die Bedingungen der Alltagstechnik vor. Positiv formuliert: deren so weitgehende künstlerische Aneignung, dass tradierte Muster von Theater – namentlich die körperliche Anwesenheit von Menschen auf einer Bühne – unterlaufen und unkenntlich gemacht wurden. Die im Stück durchgeführte Landschaftswahrnehmung war also eine vollständig technologisierte und die dargestellte Landschaft eine, die nur unter den Bedingungen der Technik existierte. Dadurch aber handelte es sich um eine fragmentierte Landschaft, weil sie eben nur unter bestimmten Bedingungen und nur bestimmten Rezipienten zugänglich ist, nämlich solchen, die über die fragliche Technik verfügen. Gut möglich, dass das Stück bei jenen Teilen des Publikums auf Ablehnung stieß, die sich durch den exzessiven Gebrauch von Mobiltelefonen brüskiert und ausgeschlossen fühlten, weil sie diesen in ihrem Leben keinen so wichtigen Platz einzuräumen bereit sind oder das nicht können. Die Produktion bildete die Gegenwart von Kommunikationstechnik nicht nur ab, sondern untermauerte aktiv ihre Dominanz, indem sie in den Bereich der Kunst vorgelassen wurde – deren Doppeldeutigkeit von Mimesis und Poiesis mithin hier wieder deutlich zum Tragen kam. Es ist ohne Zweifel so, dass Technik und ihre Verfügbarkeit Instrumente gesellschaftlicher Positionierung und Hierarchisierung sind. Das gilt sowohl im binnenals auch im intergesellschaftlichen Maßstab. Die Verfügungsgewalt über Technik bedeutet einen enormen Vorteil gegenüber anderen Gesellschaftsgruppen oder -schichten und auch gegenüber ganzen Gesellschaften. Die Landschaft, die in »Expedition an den Rand der Welt« vorgestellt wird, ist also eine Landschaft Privilegierter. Die besprochenen Stücke haben es gezeigt: In der Arbeit von Schauplatz International lassen sich Spuren einer Revitalisierung des Pittoresken finden. Die Faszination für das Ruinöse, Aufgelassene, Vergessene, die Faszination auch für vergangene Größe: Das sind romantische Reminiszenzen, Sehnsucht nach alternativen Traditionen und der Möglichkeit einer anderen Gegenwart. Geht es um eine Verklärung industrieller Vergangenheit aus der Perspektive der ästhetisierten Informationsgesellschaft durch Pioniere dieser gewerblichen Ästhetisierung durch Künstler? Hat man es bei den Mitgliedern von Schauplatz International nicht mit Künstlern und Künstlerinnen zu tun, die nach einer romantischen Selbstauflösung in Vergangenheit und Landschaft suchen? Spielt Kompensation doch eine Rolle? Nein, das lässt sich aus den Stücken der Gruppe nicht schließen. Dazu sind sie zu analytisch, zu kontextbewusst, zu selbstreflexiv. Zudem führte die »Expedition an den Rand der Welt« großmehrheitlich an Orte, die keine pittoresken Eigenschaften aufwiesen. Sie waren fad, gleichförmig, eintönig, ununterscheidbar, unter- oder überbestimmt, nicht fürs Verweilen gedacht, Orte des Übergangs, Schwellen. Dasselbe gilt für den Ort, an dem sich das Publikum aufhielt und den das Stück produzierte. Die Essener und die Berner Aufführung fanden in technisch hochgerüsteten, multifunktionalen Sälen statt. Sie konnten alles und nichts sein, und für die Vorstellungen von »Expe-

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dition an den Rand der Welt« waren sie eher nichts. Zu behaupten, die Stücke von Schauplatz International seien neoromantisch, ist deshalb nicht angebracht. Trotzdem weisen sie gerade da, wo sie zeitgenössische Landschaftstheorien am besten abzubilden vermögen – und das gilt besonders für »Expedition an den Rand der Welt« –, eine Tendenz zu Immanenz und kalkuliertem Verschwinden im Gegenstand auf. Darüber hinaus stehen sie, wie gezeigt, in einer seltsamen Dialektik von Kritik und Komplizenschaft mit politischen Prozessen, die zu kritisieren die Stücke angetreten sind. Hier zeigt sich: Landschaften entstehen nicht allein aus der Kunst, sondern auch aus einem funktionellen Willen zur Herrschaft, und sei es mit Hilfe der Technik. Paradoxerweise ist dieser Wille nicht jener der Gruppe Schauplatz International selbst. Das widerspräche der ideellen und gesellschaftlichen Position ihrer Mitglieder vollkommen. Denen bleibt nur, dem nicht von ihnen ausgehenden funktionellen Willen ihren künstlerischen entgegenzusetzen: den Willen zu Devianz und Kreation, was sie – daraus scheint es kein Entkommen zu geben – zu Kritikern und Komplizen jeder Art der Landschaftsästhetik macht. Und das deckt sich mit dem ungelöst bleibenden Paradox der Landschaft: Was sind Landschaften, die nicht betrachtet werden? Was ist eine Landschaft, in der man drinsteckt, eine Landschaft ohne Außen?

8 Schluss

Die vorliegende Studie hat untersucht, ob sich die ortsspezifischen Arbeiten der freien Theatergruppe Schauplatz International als »Landschaftstheater« bezeichnen lassen. Zu diesem Zweck wurden die vier Stücke »Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt«, »Expedition an den Rand der Welt«, »Schengen Border Observation Point« und »Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei« analysiert und in verschiedene relevante Zusammenhänge gestellt. Zuerst wurden der Gegenstand der Untersuchung – die fraglichen vier Produktionen – und dann Schauplatz International selbst ausführlich beschrieben. Der theoretische Teil der Arbeit kümmerte sich um Entwicklungen in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen, die sich unter dem Terminus »Spatial Turn« zusammenfassen lassen. Diese kategoriale Neuausrichtung hat unter gewissen Umständen emanzipatorisches Potenzial, gleichzeitig muss sie aber auch als eine Kräfteverschiebung innerhalb der akademischen Welt betrachtet und ihr Erkenntniswert entsprechend relativiert werden. Für die Theaterwissenschaft ist sie insofern von Bedeutung, als damit erstens ein konstitutives Element von Theater vermehrt in den Blick genommen wird und sich zweitens das Gegenwartstheater in vielen Varianten ortsspezifisch äußert. Das gilt auch für die untersuchten Stücke von Schauplatz International. Um zu klären, inwiefern es sich bei diesen um Landschaftstheater handelt, wurde dann folgerichtig die Frage gestellt, was eine Landschaft überhaupt ist. Die Aufarbeitung der diversen historischen Bedeutungsebenen des Begriffs führte über die Geographie bis zur Landschaftsmalerei und lieferte ein Bild voller Rätsel. Es zeigte sich, dass viele der in der breit geführten Diskussion um den Landschaftsbegriff vorgebrachten Argumente nicht überzeugend oder historisch nicht haltbar sind. Das gilt besonders für die Frage, ob Landschaft ein Produkt der Kunst ist oder umgekehrt dieser vorausgeht. Damit war ein Grundproblem der Untersuchung benannt, was eine Klärung des Ästhetikbegriffs notwendig machte. Ästhetik wurde dabei als Begriff definiert, der nicht nur den Bereich der Kunst, sondern die menschliche Wahrnehmung als Ganzes betrifft. Diese Wahrnehmung hat zwei Seiten, eine mimetische und eine poietische, was die Ästhetik in den Bereich

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des Politischen rückt. Was das für den Landschaftsbegriff bedeutet, wurde an vier historischen Beispielen – vier politischen Landschaften – überprüft. Der historischen Aufarbeitung des Landschaftsbegriffs wurde dann eine Darstellung zeitgenössischer Landschaftstheorien gegenübergestellt. Diese orientieren sich nicht mehr primär an der Vorstellung von der Landschaft als Produkt der Kunst, sondern versuchen, »Landschaft« als begriffliches Instrument zur Beschreibung der gegenwärtigen Lebenswelt der Menschen einzusetzen. Die Untersuchung zeigte aber, dass auch diese Theorien einen ästhetisch geprägten Landschaftsbegriff implizieren, wenn Ästhetik im beschriebenen umfassenden Sinn verstanden wird. Diese ungelösten Fragen in Bezug auf das Entstehen von Landschaft ließen einen Blick auf ein Beispiel, wie Landschaft im Theater aktuell produziert wird, angebracht erscheinen. Der Begriff »Landschaftstheater« wird bereits für eine bestimmte, relativ junge Theaterform verwendet. Sie steht in der langen Tradition der Freilicht- und Naturtheater, legt aber Wert auf bestimmte methodische und inhaltliche Eigenheiten, wie sich in der Beschäftigung mit verschiedenen Vertretern dieser künstlerischen Richtung zeigte. Als besonders nützlich erwies sich ein Analyseschema, das Herbert Meier für die Beschreibung seines »Schwyzer Mythenspiels« von 1991 aufgestellt hatte und anhand dessen sich Inszenierungen als Landschaftstheater kategorisieren lassen sollten. Im Sinne einer Synthese wurde dieses Schema nun auf die zur Debatte stehenden Stücke von Schauplatz International angewendet. Es zeigte sich, dass Letztere die Kriterien weitgehend erfüllen, zusätzlich aber über sie hinausgehen. Entscheidend für dieses Resultat war die Eigenart der künstlerischen Arbeit von Schauplatz International, deren Kernanliegen es ist, Form und Inhalt zur Deckung zu bringen. Im Vergleich zu den historischen Beispielen politischer Landschaften ließen sich erstaunlich deutliche Parallelen finden. Darüber hinaus weisen die Stücke viele Anschlüsse an zeitgenössische Landschaftstheorien auf, weshalb vorgeschlagen wird, sie mit dem Begriff »neues Landschaftstheater« zu beschreiben, wobei sich dieser auf die Kompatibilität der Arbeit von Schauplatz International mit neuen Landschaftstheorien bezieht. Die Frage, ob und wie die untersuchten Produktionen dazu beitragen, neue Landschaften nicht nur abzubilden, sondern auch zu kreieren, konnte nicht abschließend beantwortet werden. Aus der Beschreibung des komplexen Zusammenhangs, in welchem die Stücke entstanden sind, ergab sich – unter besonderer Berücksichtigung der politischen Bedingtheit von Landschaften – ein widersprüchlicher Schluss. Die Formel »Kritik und Komplizenschaft« fasst ihn am besten zusammen. In Abhängigkeit davon und mit Bezug auf zeitgenössische Landschaftstheorien bildet das neue Landschaftstheater von Schauplatz International Phänomene des Verschwindens und der Immanenz ab – und produziert sie gleichzeitig. Das Rätsel, wie Landschaften entstehen, blieb so zwar nicht unberührt, aber ungelöst.

Abbildungen

Abbildung 1: Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt, Essen 2006.

Foto: © Diana Küster

Abbildung 2: Auf der Suche nach der verschwundenen Stadt, Essen 2006.

Foto: © Diana Küster

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Abbildung 3: Expedition an den Rand der Welt, Bern 2008.

Foto: © Alexander Jaquemet

Abbildung 4: Expedition an den Rand der Welt, Bern 2008.

Foto: © Alexander Jaquemet

A BBILDUNGEN

Abbildung 5: Schengen Border Observation Point, 2008 Warschau.

Foto: © Marta Orlik/Laura Palmer Foundation

Abbildung 6: Schengen Border Observation Point, 2008 Warschau.

Foto: © Marta Orlik/Laura Palmer Foundation

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Abbildung 7: Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei, Oberhausen/Bochum 2010.

Foto: © Nicolai Heinle

Abbildung 8: Landscapes of Glory – Beautiful Moments but schnell vorbei, Oberhausen/Bochum 2010.

Foto: © Nicolai Heinle

A BBILDUNGEN

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Abbildung 9: Konrad Witz: Der Wunderbare Fischzug. 1444, Öl auf Tannenholz, 132 x 154 cm. Genf, Musées d’Art et d’Histoire. Inventarnummer 1843-0011.

Foto: Bettina Jacot-Descombes © Musées d’Art et d’Histoire, Genève

Abbildung 10: Jan van Eyck; Die Madonna des Kanzlers Rolin. Um 1435, Öl auf Holz, 66 x 62 cm. Paris, Musée du Louvre. Inventarnummer 1271.

Foto: © Agence Photographique de la Réunion des Musées Nationaux et du Grand Palais

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Abbildung 11: Thomas Gainsborough: Robert Andrews und seine Frau. Um 1750, Öl auf Leinwand, 70 x 119 cm. London, National Gallery. Inventarnummer: NG6301.

Foto: © The National Gallery, London

Abbildung 12: Lucas van Valckenborch: Maaslandschaft mit Bergwerk und Schmelzhütten. 1580. Öl auf Eichenholz, 77 x 108 cm. Wien, Kunsthistorisches Museum. Inventarnummer GG_1023.

Foto: © Kunsthistorisches Museum, Wien

A BBILDUNGEN

Abbildung 13: Sassetta: Der Wolf von Gubbio, 1437-1444, Öl auf Pappelholz, 87 x 52 cm. London, National Gallery. Inventarnummer: NG4762.

Foto: © The National Gallery, London

Abbildung 14: Esaias van de Velde: Ansicht von Zieriksee. 1618, Öl auf Leinwand, 27 x 40 cm. Berlin, Gemäldegalerie.

Foto: © bpk/Gemäldegalerie, SMB/Jörg P. Anders

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Abbildung 15: Claude-Spiegel, England 18. Jahrhundert. London, Victoria and Albert Museum. Inventarnummer P.18-1972.

Foto: © Victoria and Albert Museum, London

Abbildung 16: Thomas Gainsborough: Künstler mit einem Claude-Spiegel. (Selbstporträt?) Um 1750, Bleistift auf Papier 18 x 14 cm. London, British Museum. Inventarnummer: AN445417001.

Foto: © Trustees of the British Museum

A BBILDUNGEN

Abbildung 17: Caspar David Friedrich: Wanderer im Nebelmeer. Um 1818, Öl auf Leinwand, 98 x 74 cm. Hamburg, Kunsthalle.

Foto: Elke Walford © SHK/Hamburger Kunsthalle/bpk

Abbildung 18: Das Ha-Ha in Trengwainton Garden; England.

Foto: © Richard Thomson

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Abbildung 19: Joseph Wright of Derby: Richard Arkwrights Spinnerei in Cromford. 1783, Öl auf Leinwand, 126 x 100 cm. Privatbesitz.

Foto: © Derby Museum & Art Gallery

Abbildung 20: Joseph Mallord William Turner: Regen, Dampf und Geschwindigkeit. 1844, Öl auf Leinwand, 91 x 122 cm. London, National Gallery. Inventarnummer: NG538.

Foto: © The National Gallery, London

Anhang

Folgendes Gespräch zwischen Martin Bieri (MB), Anna-Lisa Ellend (AE), Albert Liebl (AL) und Lars Studer (LS) fand am 26. November 2011 vor einer Vorstellung des Stücks »Free Keiko« im Tojo Theater in Bern statt. Gekürzte Transkription. AE: Es geht vor allem um das Kapitel »Ästhetik«, oder? MB: Ja, habt ihr uns denn wiedererkannt? AE: Ich schon. Vor allem die Kritiken habe ich wiedererkannt. Es gab eine Zeit lang recht treffende Beschreibungen von uns. Von innen her gesehen ist es ja immer etwas ganz anderes. Von außen wird alles sehr intellektuell beschrieben, was du ja auch machst, so richtig genau beschreiben, was unsere Arbeit sein könnte. Von innen her mache ich mir nicht ständig solche Gedanken, in welchem Zusammenhang das steht und wie das theatergeschichtlich einzuordnen ist. AL: Ich fand das ja eher belastend, auf eine Art, dass man so eingeortet werden kann: Darüber mache ich mir höchstens im Nachhinein Gedanken – und auch nicht ganz ernst gemeint. Ich habe meine Skepsis der Kunst- und Kulturgeschichte gegenüber. Es ist, als sähe man, wie man selbst Geschichte ist. Das ist schon etwas seltsam, beim Lesen. LS: Das hat mich auch beschäftigt: Vom Wissenschaftler zum Objekt gemacht zu werden. Da gibt es eine spezielle neue Beziehung, die man sonst bei den Kritiken vielleicht kennt, aber dort sind ja auch andere Interessen im Spiel. AL: Vor allen Dingen sind die nicht in der Gruppe, die Kritiker. LS: Ja, das hat sich hier genau deswegen auch entschärft, weil du, Martin, immer mitgearbeitet hast. Ich fand es sehr schön, wie du diese Voreingenommenheit be-

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schrieben hast, wie du versucht hast, sie zu entkräften, und versuchst, deine Interessen transparent zu machen. Bei deinen Beschreibungen der Stücke habe ich selbst viel mehr Klarheit bekommen. Das war angenehm, obwohl natürlich alles sehr verkürzt ist und einem bestimmten Faden folgt. Gleichzeitig sind Fragen entstanden wie: »Ist das wirklich rüber gekommen, was du jetzt beschrieben hast?« Du hast ja die Innen- und die Außensicht eingenommen. Aber aus den Zweifeln ist dann so etwas geworden wie: »Ja, das ist doch etwas gewesen, was wir da gemacht haben.« Besonders beim Warschauer Stück ist es mir so gegangen, weil wir da ja gar nicht abschätzen konnten, was wir tun. Da fand ich deine Beschreibung dann fast unkritisch. Sie ist neutral, ohne dass zur Sprache käme: »An dem Punkt wollten wir zwar dies und das, haben das aber nicht geschafft.« Oder: »Da war ein Bemühen da und ein Scheitern.« So ergibt sich für mich eine Art Etablierung der eigenen Arbeit, die jetzt festgeschrieben und kein Prozess mehr ist. Jetzt könnte ich eigentlich allen erzählen: »Das sind wir, hier steht es schwarz auf weiß, so muss man das deuten.« Aber dann bin ich nicht mehr in diesem Hin und Her, als das ich unsere Arbeit auch verstehe: Was war wirklich? AE: Du, Martin, schreibst ja, dass sich in unseren Stücken alles immer wieder auflöst. Dieses Prinzip kann man doch auf sich selbst auch anwenden, so dass sich dieser Satz auch wieder auflöst. Ich frag mich nämlich schon: »Ist es das jetzt?« Nein, das ist es nicht. Am Schluss blieb bei mir ein Zweifel übrig. Das hat vielleicht mit dieser Innensicht zu tun, dass ich nicht das Gefühl habe, dass unsere Ästhetik das ist, was du beschrieben hast. Irgendetwas fehlt da. LS: Notgedrungen. AE: Bestimmt. AL: Es ist doch so wie ein Künstlerkatalog. Das ist eben keine Kritik. Das ist die Beschreibung eines Werks und das ist zweifelsohne immer etwas anderes als eine Kritik oder als eine Bilanz einer Gruppe für sich selber. Ich bin im ersten Moment ja auch erschrocken. Wenn man denkt, jetzt gibt es Theaterwissenschaftler, die lesen das und vielleicht gibt es auch noch andere Menschen, die das lesen, und jetzt ist alles so festgeschrieben. Wir hatten das ja schon mal, dass zehn Jahre in Pressetexten der gleiche Satz aufgetaucht ist. LS: Den wir auch immer selber gerne zitiert haben. AL: Ja, weil uns sonst nichts in den Sinn gekommen ist und alle ihn gern abgeschrieben haben und weil er irgendwie auch immer stimmt. Man erschrickt und gleichzeitig ist es auch toll. Man kann das hier lesen: 40 Stücke, hört sich gut an.

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Genau so funktioniert das in unserer Geschäftsbranche, wir haben uns einfach nie um diese Autorisierung gekümmert. LS: Ja, das wollte ich sagen. Hängt es uns dann irgendwann am Bein? Es ist diese Furcht vor der Wirkung, dass es zurück wirkt auf unsere Arbeit, dass wir sagen: »Das ist es jetzt.« MB: Ich hätte eigentlich gedacht, dass man unsere Arbeit theatergeschichtlich viel besser einordnen kann. Aber tatsächlich kann man sie schlecht einordnen, es bleibt offen. Ich sage, es gibt postdramatische Elemente, aber bei Weitem nicht nur. Am Schluss weigere ich mich ja sogar, uns einzuordnen. AL: Das erinnert mich an diesen Bekannten von mir. In Erlach gibt es einen Historiker, der 30 Jahre lang beim »Kunstführer der Schweiz« mitgearbeitet hat, diesem Standardwerk. Er war für das Amt Erlach und Nidau zuständig. Sein Job war es, alle historisch wichtigen Bauten zu inventarisieren. Kürzlich, als die zweite Auflage erschienen ist, ist er in Rente gegangen. Er musste sein ganzes Material wieder in die Archive zurückbringen. An dem Tag habe ich ihn auf der Straße getroffen. Er war nachdenklich und etwas verärgert und hat gesagt: »Jetzt packe ich dieses Material zusammen und bringe es zurück und merke: Ich habe so viel nicht rein genommen. Und alle werden mir abschreiben.« Es wird ja keiner mehr nach Büren an der Aare oder nach Meinisberg fahren, um selber zu schauen. Man wird sein Standardwerk nehmen und sagen: »Hier steht es so geschrieben.« LS: Ja, genau. AL: Und dabei hat er die Hälfte draußen gelassen. LS: Es gibt einen Punkt, den du nicht erwähnst, der aber mal stark ausgeprägt war. Früher galt, dass alle Objekte, die zu einem Stück im Proberaum gesammelt werden, auf die Bühne kommen. Du beschreibst nur selten, wie unsere Bühnen aussehen oder ausgesehen haben, diese Ansammlung von tausend Sachen, die es manchmal gab. Dazu gehört auch, wie wir mit Medien umgehen. Aber du schreibst immer sehr inhaltlich. MB: Das stimmt, einerseits merkt man sicher, dass ich mit drin stecke. Mein Zugang ist eurem zum Teil ähnlich. Ich denke daran, was man will und was man tut, nicht nur daran, wie es aussieht. Das versuche ich mit der »beobachtenden Teilnahme« zu beschreiben. Andererseits schaue ich oft zu, auf der Probe oder bei Aufführungen. Es gibt niemanden, der so viele Vorstellungen von Schauplatz International gesehen hat, wie ich.

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AL: Das ist ohnehin schwierig. Die Theaterwissenschaft kann nicht messen, was andere mitbekommen. Wobei: Ich war kürzlich an einer Vorlesung, an der sich alle über die empirische Theaterwissenschaft lustig gemacht haben. Alle waren sich einig; das sei Unfug. Das habe ich nicht ganz verstanden, weil danach alle Behauptungen abgesondert haben, was sie meinen, was das Publikum verstanden habe. LS: Ich wollte ja nach einer Aufführung nie zu viele Fragen vom Publikum zulassen und beantworten, weil ich immer dachte, man soll alles selber entdecken. Aber gerade gestern hatte ich nach der Vorstellung ein Gespräch mit drei Lehrlingen, die Biobauern werden wollen, und zwei Studentinnen. Einer sagte am Schluss, ohne dieses Gespräch hätte er nicht gewusst, was er mit dem Stück hätte anfangen sollen, aber jetzt sei für ihn vieles aufgesprungen. Man muss also doch vermitteln. AE: Ja, das mache ich bei einer Ausstellung ja auch, ich gehe hin und schaue in den Katalog und lese etwas. Ich glaube, wir sollten in Zukunft das Buch an der Bar auflegen. AL: Vermitteln heißt aber auch, dem Publikum Freiheit zu nehmen. Ich meine, was heißt schon »verstehen« im Theater, in der Kunst überhaupt. LS: Oder noch schlimmer: richtig verstehen. AL: Oft spreche ich mit Leuten, die sagen, sie hätten nichts verstanden, und dann fragst du sie, was sie denn gesehen haben, und merkst, dass sie eigentlich ziemlich viel gesehen haben. LS: Obwohl es ja eine neutrale Beschreibung ist, schreibst du manchmal, dieses oder jenes Stück sei besonders erfolgreich gewesen. Findest du nicht, dass diese Formulierung zu viel auslässt? Stücke wirken doch immer unterschiedlich, nicht nur im konkreten Aufführungskontext, sondern auch je nachdem, zu welchem Zeitpunkt man sie beurteilt. MB: Erfolgreich heißt in diesem Zusammenhang einfach Publikums- und Aufführungsquantität. AL: Da gibt es schon Unterschiede. Leider. AE: Ja, aber das war manchmal unser eigener Fehler. Bisweilen haben wir Vorgaben von Häusern akzeptiert, die dem Stück geschadet haben, zum Beispiel was die Kommunikation nach außen betrifft, in welchem Rahmen ein Stück aufgeführt wird

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oder wie es das Publikum anschauen kann. Da haben wir uns manchmal zu wenig gewehrt. MB: Was sagt ihr zu der Form-Inhalt-Frage? Leuchtet euch meine Beschreibung ein? AL: Ich weiß nicht. Wenn ich davon spreche, denke ich auch immer, eigentlich ist es doch klar. Ich sage immer, dass für uns diese Verabredung »Theater« – dort Publikum, hier wir – nicht einfach automatisch gilt. Darum machen wir dann ein Stück, bei dem wir gar nicht anwesend sind, oder das Publikum spaziert mit einem Audioguide durch eine Möbelausstellung. Wir lassen uns einfach nicht vorschreiben, wie diese Verabredung Theater aussieht. Aber ich glaube, eine Synthese aus Inhalt und Form wollen eigentlich alle Künstler. AE: Im Probenprozess oder schon, wenn wir eine Eingabe schreiben, kommt diese Frage oft: »Was muss es denn werden, wie muss die adäquate Form aussehen?« Daran orientiert man sich dann oder hechelt ihm hinterher, was aber noch lange nicht heißt, dass man es findet. Manchmal sind wir näher dran, manchmal weniger. Es wäre schön, wenn man immer sagen könnte, alles was nicht dazu gehört, ist weg. Aber wir sind ja auch geprägt von unserem Handwerk. Wir sind beschränkt in unserer Formensprache. Das hindert uns daran, das noch mehr aufzumachen und wirklich genau das zu finden, was es sein sollte. MB: Unsere Art zu arbeiten schließt nicht aus, dass man etwas macht, was man nicht kann, im Gegenteil. AE: Das stimmt, aber du musst ja erst Bescheid wissen, dass es überhaupt existiert. LS: Eine Erfahrung wie »Mascots« ist mir in diesem Zusammenhang wichtig. Da habe ich gemerkt, dass ich nicht mit diesen Kostümen der Maskottchen umgehen kann, weil sie mich immer zum Lachen gebracht haben. Da komme ich sofort in dieses seltsame Spielen hinein. Solche Situationen sind interessant, Widerstände, die man sich absichtlich in den Weg legt. Oder als wir »Everest« gespielt haben: Ich musste schon beim Bühnenaufbau anfangen zu kichern, weil ich die Setzung so irrsinnig komisch fand. Das müssen wir uns immer wieder fragen: Wie kann unsere Arbeit uns dazu führen, anders zu arbeiten, anders zu sein. AL: Ja, das war immer unsere Stärke, oder sollte es wenigstens sein: Aus dem zu schöpfen, was da ist. »Wir haben kein Geld für die Bühne? Gut, dann stellen wir unseren Proberaum auf die Bühne.« Dieses Annehmen war immer wichtig. Den Widerstand, der da ist, gleich verwenden, sofort weiter verwerten in eine Arbeits-

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technik, einen Arbeitsansatz und nicht versuchen, ihn aus dem Weg zu schaffen. Vielleicht ist das mit den Jahren komplizierter geworden. Wir müssen uns selber unterlaufen, wir müssen uns selber aufs Kreuz legen. LS: Ich bekomme ja immer etwas Angst, wenn man sagt, wir zitieren uns nur noch selbst. Das ist eine Haltung, die etwas abschließt und einen in eine andere Richtung zu zwingen versucht. Wobei natürlich auch etwas Gutes herauskommen kann. AL: Wenn man fünf Produktionen auf der Leber hat, kann man einfach viel intuitiver vorgehen, oder instinktiver, weil man keine Geschichte hat. Man hat diesen ganzen Ballast nicht. Aber jetzt gibt es diese vierzig Stücke und jetzt fliegen einem komischerweise die Stoffe auch nicht mehr so leicht zu. Generell ist alles ernster geworden. Was verloren geht, ist der kindliche Spaß. Das war für mich immer ein großer Motor: kindisch zu sein. Warum nicht einfach mal weggehen? Warum nicht mal nur SMS schreiben? Die Leute sagen, funktioniert nicht? Funktioniert doch! AE: Deine Analyse, Martin, liest sich jetzt natürlich ziemlich humorlos. Wenn man das liest, denkt man sich, viel Spaß hatten die wohl nicht bei ihrer Arbeit – und es ist vermutlich auch nicht besonders spaßig zuzuschauen. LS: Da bin ich nicht einverstanden. Noch einmal das Beispiel Warschau: Es ist klar, dass das nicht ein todernstes Stück war. Da hat man zufälligerweise auf dem Gelände des Stadions eine Schranke gefunden, die dann für die europäische Außengrenze steht, dann kommen all die Gäste in einer zufälligen Chronologie und am Schluss kommt der Polizist, der Wächter, und macht scheinbar alles kaputt. Da zeigt man ja in der Beschreibung schon eine Leichtigkeit an. AE: Humor ist wirklich eine Antriebsfeder für uns. Mir geht es nicht nur darum, alles intellektuell auseinander zu nehmen. AL: Jetzt müssen wir langsam aufhören und die Heizung wieder andrehen, weil sonst erfrieren uns die Zuschauer. AE: Ich wollte nur noch etwas dazu sagen, dass uns die Stoffe nicht mehr so leicht zufliegen. Mir geht es anders. Wir haben so viel gemacht, jetzt kommt es auch nicht mehr darauf an, was wir als Nächstes tun. Ich finde, heute sind wir freier. MB: Weil wir so viel gemacht haben? AE: Ja. Ein bisschen wie alte Leute.

Bibliographie

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Theater Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen September 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

Jens Roselt, Ulf Otto (Hg.) Theater als Zeitmaschine Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven August 2012, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1976-8

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Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Politisch Theater machen Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten 2011, 186 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1409-1

Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater Juli 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1734-4

Susanne Valerie Granzer Schauspieler außer sich Exponiertheit und performative Kunst. Eine feminine Recherche 2011, 162 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1676-7

Eva Krivanec Kriegsbühnen Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin, Lissabon, Paris und Wien

Annemarie Matzke Arbeit am Theater Eine Diskursgeschichte der Probe Juni 2012, 314 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2045-0

Ulf Otto Internetauftritte Eine Theatergeschichte der neuen Medien Juli 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2013-9

Katharina Pewny Das Drama des Prekären Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance 2011, 336 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1651-4

Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.) Schauspielen heute Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten 2011, 268 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1289-9

Jenny Schrödl Vokale Intensitäten Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater Mai 2012, 318 Seiten, kart., mit CD-ROM, 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1851-8

Berenika Szymanski Theatraler Protest und der Weg Polens zu 1989 Zum Aushandeln von Öffentlichkeit im Jahrzehnt der Solidarnosc Februar 2012, 310 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1922-5

Januar 2012, 380 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1837-2

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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