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German Pages 538 [530] Year 2014
Susanna Brogi, Carolin Freier, Ulf Freier-Otten, Katja Hartosch (Hg.) Repräsentationen von Arbeit
Gesellschaft der Unterschiede | Band 11
Susanna Brogi, Carolin Freier, Ulf Freier-Otten, Katja Hartosch (Hg.)
Repräsentationen von Arbeit Transdisziplinäre Analysen und künstlerische Produktionen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: zwischenbericht – Kerstin Polzin und Anja Schoeller, Nürnberg, 2008: Nr. 49 | Halle 22 | bezüglich Olafur Eliasson Lektorat & Satz: Susanna Brogi, Carolin Freier, Ulf Freier-Otten, Peter Gajda, Katja Hartosch Korrektorat: Christine Henschel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2242-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Arbeit und ihre Repräsentation
Susanna Brogi, Carolin Freier, Ulf Freier-Otten, Katja Hartosch | 9
GRENZZIEHUNGEN: ARBEIT UND DAS ANDERE DER ARBEIT Zeitreise durch die Arbeitswelt. Kulturen der Arbeit im Wandel
Carolin Freier | 35 Arbeit und Nichtarbeit in der Literatur. Texte dreier Jahrhundertwenden
Thorsten Unger | 59 Die ›gegenwärtigen prosaischen Zustände‹. Der Wandel der Arbeitswelt in Ästhetik und Dichtung des Klassizismus
Varun F. Ort | 87 Organisation der Kraft. Kunst-Arbeit im Zeitalter der Thermodynamik
Gottfried Schnödl | 101 Ganzheitlichkeit und Konditionierung. Zur Körperbildung im frühen 20. Jahrhundert
Julia Zupfer | 115 ›Arbeit‹ und ›Leben‹ – zur diskursiven Konstruktion einer folgenschweren Aufspaltung
Kathrin Schödel | 135 Arbeit neu denken? Zur aktuellen Diskussion um einen erweiterten Arbeitsbegriff
Irene Dölling | 153
ZUWEISUNGEN: ARBEITSWELTLICHE PRÄGUNG DES LEBENS Geschlechts- und klassenspezifische Benachteiligungsstrukturen in den Arbeitsverhältnissen von Frauen
Regina Becker-Schmidt | 173 Anerkennung. Macht. Hierarchie. Praktiken der Suche nach Anerkennung und die Reproduktion von Geschlechterhierarchien am Beispiel der beruflichen Arbeitsteilung
Gabriele Fischer | 193 Zeitautonomie und Kontrollverlust. Belastende Arbeit, erschöpfte Subjekte?
Laura Hanemann, Yannick Kalff | 213 Zwischen subjektiven Bezügen zu Erwerbsarbeit und den Normen der Arbeitsmarktpolitik. Erwerbslose in einem schwierigen Spannungsfeld
Ariadne Sondermann | 231 Re-Präsentation eines idealen Arbeitsmarktes in Beratungsgesprächen der Bundesagentur für Arbeit
Frank Sowa, Ronald Staples | 247 Subjektivierungsweisen und die diskursiven Repräsentationen der Arbeitswelt
Saša Bosanþiü | 265 Das biographische Gepäck: Ehrenamtliches Engagement bei sri-lankisch-tamilischen Flüchtlingsfrauen
Radhika Natarajan | 281
DARSTELLUNGEN: ARBEITSWELTEN DES ANIMAL LABORANS »Nie mehr werd ich arbeiten können.« Arbeitswelten als paradigmatische Orte der Gesellschaftskritik im Werk Ingeborg Bachmanns
Christian Däufel | 301 Der Revolutionär im Büro. Entfremdete Arbeit in Bernward Vespers Die Reise und zeitgenössische Paradigmenwechsel in der linken Ideologie
Julian Reidy | 321 Defizitmeldungen, Desillusionierungen und Dekonstruktionen. Der kritische Blick auf die Arbeitswelt in der Gegenwartsliteratur
Annemarie Matthies | 331 Subjekte der Arbeit in der Gegenwartsliteratur. Enno Stahls Diese Seelen und Wilhelm Genazinos Das Glück in glücksfernen Zeiten
Florian Öchsner | 347 Zwischen Affirmation und Leerstelle. Richard Sennetts Theorem des »Drift« in der Gegenwartsliteratur
Nerea Vöing | 365 The Quest for a Perfect Living Environment. Narrative Constructions of Working and Housing Imaginaries in Paul Auster’s Sunset Park
Nadine Boettcher | 383 »The hard life created the hard line.« Arbeit in der autobiographischen Poetik von Charles Bukowski
Alexander Zimbulov | 395
»Der ganze Haufen las sich wie eine Zeitrafferreise in Richtung Desillusionierung.« Kapitalismuskritik als diskursive Formation am Beispiel des Genres Praktikantenroman
Alexander Preisinger | 415 »Das ist doch keine Arbeit.« The Negotiation of Work in Christian Petzold’s Die Beischlafdiebin
Stephan Hilpert | 433
POSITIONIERUNGEN: ARBEITEN AN DEN SCHNITTSTELLEN VON DOKUMENTATION UND F IKTION Dokumentarische(s) Arbeiten – Arbeit dokumentarisch
Susanna Brogi, Katja Hartosch | 449 »Wir backen uns unsere idealen Menschen.« Die Dokumentarfilmerin Carmen Losmann im Gespräch
Susanna Brogi, Katja Hartosch | 477 »Manage dich selbst oder stirb.« Die Autorin Kathrin Röggla im Gespräch
Susanna Brogi, Katja Hartosch | 491 »Wir haben bewusst keine Erfahrungsproduktions-Fabrik daraus gemacht.« Die Künstlerinnen Kerstin Polzin und Anja Schoeller im Gespräch
Susanna Brogi | 503 Museale Repräsentationen. Die Direktorin des Museums der Arbeit Prof. Dr. Kirsten Baumann und ihr Stellvertreter Stefan Rahner im Gespräch
Ulf Freier-Otten | 517
Autorinnen und Autoren | 529
Arbeit und ihre Repräsentation S USANNA B ROGI , C AROLIN F REIER , U LF F REIER -O TTEN , K ATJA H ARTOSCH
Das Titelbild dieses Bandes zeigt eine marode Werkshalle des 2008 in Konkurs gegangenen Großkonzerns AEG.1 Im Unterschied zu den von großer medialer Aufmerksamkeit begleiteten Streiks im Vorfeld der Schließung vollzogen sich die Abbrucharbeiten im Inneren, die auf dieser Fotografie zu sehen sind, weitgehend unbeachtet. Damit besitzt dieses von der Kamera festgehaltene Motiv aus heutiger Perspektive neben der künstlerisch-ästhetischen auch eine dokumentarische Komponente.2 Rund achtzig Jahre zuvor hatte Bertolt Brecht, zur Abwehr der seinerzeit regelrecht zur Mode verkommenen, sich ebenso an der Industriearchitektur wie an unzähligen weiteren künstlerischen Repräsentationsformen abzeichnenden neusachlichen Ästhetik, das Ende des Dokumentarismus proklamiert: »Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ›Wiedergabe der Realität‹ etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik,
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Näheres zum Entstehungskontext dieser Fotografie enthält das Interview mit den beiden unter dem Namen »zwischenbericht« arbeitenden Künstlerinnen Kerstin Polzin und Anja Schoeller in diesem Band.
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Die museale Präsentation solcher Werks-Inszenierungen im Medium der Fotografie sowie der dokumentarische Charakter von Fotografien im Rahmen von musealen Ausstellungen thematisiert auch das Interview über das Museum der Arbeit Hamburg in diesem Band.
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gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich ›etwas aufzubauen‹, etwas ›Künstliches‹, ›Gestelltes‹. Es ist also ebenso tatsächlich Kunst nötig.« (Brecht 1967: 161f.)
Brechts seither viel zitiertes Verdikt galt einer sich am Ende der Weimarer Republik abzeichnenden ›verbürgerlichten‹ Oberflächenästhetik (Benjamin 1989), die jeglichen Ansatz einer Infragestellung der gültigen Besitzverhältnisse aus den Augen verloren hatte, aber für sich in Anspruch nahm, ›die Wirklichkeit‹ darzustellen (vgl. Becker 2000: 162f.). Bereits im Exil äußerte sich Walter Benjamin mit ähnlicher Intention über die neusachliche Fotografie: »Sie wird immer nuancierter, immer moderner, und das Ergebnis ist, daß sie keine Mietskaserne, keinen Müllhaufen mehr photographieren kann, ohne ihn zu verklären. Geschweige denn, daß sie imstande wäre, über ein Stauwerk oder eine Kabelfabrik etwas anderes auszusagen als dies: die Welt ist schön.« (Benjamin 1989: 693)
Brechts und Benjamins Einspruch richtete sich gegen eine künstlerische Ausdrucksform, der sie unterstellten, die kapitalistisch bedingte Gefährdung der Arbeiterklasse durch Entfremdung eher zu verschleiern denn begreifbar zu machen. Außer Frage stand für sie dagegen die ökonomische Zukunftsträchtigkeit der im Eingangszitat durch das Unternehmen AEG repräsentierten Industrie. Seither hat ein massiver Transformationsprozess von globalem Ausmaß die Gefährdung von Arbeitenden und den Niedergang von Industriestandorten Realität werden lassen. Befördert durch den Konkurs international agierender Konzerne und die Entlassung ihrer Beschäftigten in die Arbeitslosigkeit scheint sich die politische und mediale Aufmerksamkeit nun stärker auf andere Arbeitsfelder wie den Bereich des Finanzwesens oder den der Kreativwirtschaft zu konzentrieren. Gleichzeitig ist eine Tendenz zur ›Musealisierung‹ feststellbar, sodass ehemalige Zechen und Werksgelände (etwa die Zeche Zollverein) mit Ausstellungen, Events und Merchandisingprodukten zu Tourismusmagneten avancierten, während beispielsweise Fördertürme zu Namens- und Bildgebern für soziale Einrichtungen und Vereine (etwa ein Integrationszentrum oder ein Jugendhaus) mutiert sind – offenbar geeignet, jede Branche zu repräsentieren. Diese Historisierung schließt, wie es die Essener Ausstellung »Bilder der Ruhrgebietsliteratur« anzudeuten vermag, bereits die literarischen Repräsentationen der Arbeit mit ein.3
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Die vom 27.06. bis zum 07.07.2013 in der Galerie 52 in Essen gezeigte Ausstellung 4435. Bilder der Ruhrgebietsliteratur ist das Ergebnis einer Lehrkooperation des Stu-
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Die Fotografie des Covers hält buchstäblich einen Umbruchsprozess fest, der verallgemeinerbar scheint, gibt sie doch ihren Ort und Anlass nicht preis, zeigt keine Firmen-Außenansicht, keinen Firmen-Namen oder den auf die Fabrikwand gemalten AEG-Slogan »Aus Erfahrung gut«. Es könnte sich somit um eine beliebige Werkshalle handeln, die im Prozess des Abbruchs jegliche Nützlichkeit für die Welt der Werktätigen verloren hat. Entkernt und mit aufgewühltem Boden, lässt sich die frühere Produktion nur mehr erahnen. Erst aus der Perspektive der Gegenwart ließe sich das schräg einfallende Sonnenlicht als Zeichen einer unmittelbar bevorstehenden Neubelebung deuten, als Indiz eines Neuanfangs, der sich zum Zeitpunkt der Bildentstehung bereits angedeutet hatte. Eine andere Branche der Arbeitswelt nutzt seither die Produktionshallen: Die Industrieproduktion ist an diesem Standort der Kunstproduktion und dem kulturellen Austausch gewichen, beflügelt vom Wunsch, nun ›tatsächlich etwas aufzubauen‹. Aber ausgerechnet das topisch als Indiz des Aufbruchs gewertete Sonnenlicht ist es, das den alten und den neu entstandenen Staub erst eigentlich sichtbar macht und damit zum ambivalenten Bild werden kann für die in diesem Band fokussierte Analyse von Arbeitswelten. Bildende Künste, Literatur, Theater und Film sind gesellschaftliche Reflexionsinstanzen. Sie registrieren kulturelle Veränderungen, schreiben ihnen Bedeutungen zu und kontextualisieren sie entsprechend. Damit wirken sie zugleich aber auch auf Veränderungen ein, sind Teil des Diskurses und stehen nicht außerhalb desselben (vgl. mit Bezug auf den Roman Kley 2009). Dieser Annahme folgend, spürt der hier vorliegende Sammelband den medialen Repräsentationen der historischen wie gegenwärtigen Arbeitswelt nach, in Besonderheit aber auch ihren Umbruchsphasen. Zeiten einer intensiveren ästhetischen Auseinandersetzung mit der Arbeit fallen nicht zufällig mit produktionsgeschichtlichen Umwälzungen zusammen. Und so liegt es nahe, dass dieses Thema angesichts der globalen Veränderungen der Arbeitsmärkte4 und Produktionsbedingungen sowie der Transformation der Wohlfahrtsstaaten seit Mitte der 1990er Jahre wieder verstärkt in den verschiedenen Medien aufgegriffen wird. Spielpläne und Filmstarts der letzten Jahre sprechen von der anhaltenden produktiven Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Zu denken wäre etwa an die Theater- und Perfor-
diengangs Literatur und Medienpraxis der Universität Duisburg-Essen mit der Folkwang Akademie der Künste. 4
Einen Überblick über ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen in der Arbeits- und Beschäftigungssituation von abhängig Erwerbstätigen bietet Trinczek 2011.
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mance-Projekte von Rimini Protokoll oder René Pollesch sowie an die Dokumentarfilme von Michael Glawogger. Ihnen geht eine einflussreiche Tradition voraus. Die zentrale Erwerbskultur des Fabrikarbeiters steht im Mittelpunkt des legendären Chaplin-Klassikers Modern Times – A story of industry, individual enterprise – humanity crusading in the pursuit of happiness aus dem Jahr 1936. Der von Charlie Chaplin gespielte Arbeiter gerät, weil er im automatisierten Prozess mit der Fließbandgeschwindigkeit nicht schritthalten kann, buchstäblich ins Räderwerk der Maschine: ein Bild für die Disziplinierung zum mechanischen Menschen durch die Stechuhr und den Takt des Fließbandes in der tayloristischen Industrieproduktion. Außerhalb der Fabrikhallen demonstrieren Menschenmassen. Die herrschende Armut und der Hunger haben sie auf die Straßen getrieben – ein Antrieb auch für die künstlerische Produktion. 70 Jahre später, in Kathrin Rögglas wir schlafen nicht (2004), bleiben die Sprechenden dagegen nicht nur den Demonstrationszügen fern, vielmehr identifizieren sie sich zur Gänze mit ihren Wissensprodukten, mit dem ›Content‹. Sie gehen – im wahrsten Sinne des Wortes – in ihrer Erwerbstätigkeit auf. So wünschen sich die Unternehmensberater, OnlineRedakteure oder Key Account Manager als Indiz für ihre Arbeitssucht keine Spiel-, sondern Schlafbanken, um den in der Kindheit angesparten Schlaf der Arbeit opfern zu können und möglichst nie an körperliche Grenzen zu gelangen. Doch es etablieren sich auch neue soziale Maschinerien: »Das Spiel beginnt: die Selbstdarstellung« (Röggla 2004: 3), so die Regieanweisung im Theatertext. Das wiederholt betonte Desinteresse, mit dem Erwerbswelten in der Postmoderne weitgehend belegt wurden, weicht zusehends einem Diskurs, der das Verhältnis von Arbeit und Leben neu gewichtet. Auch eine kulturwissenschaftliche Hinwendung zu zeitgenössischen Repräsentationen von Arbeit und Arbeitenden hat sich in den letzten Jahren verstärkt gezeigt (vgl. Ecker/Lillge 2011; Heimburger 2010; Deiters et al. 2009; Schößler/Bähr 2009; Baxmann et al. 2009). Arbeit steht damit nicht mehr nur in den Sozialwissenschaften im Zentrum der Aufmerksamkeit, wo angesichts schwindender Normalarbeitsverhältnisse und eines wachsenden Niedriglohnsektors wissenschaftlich wie politisch diskutiert wird: Während die einen die Deregulierung der Arbeitsmärkte als Chance verstehen (vgl. Sachverständigenrat 2005), warnen die anderen vor den Folgen einer zunehmenden Prekarisierung, gehen doch die weitreichenden Veränderungen des Arbeitsmarktes in vielen Ländern mit der Zurücknahme sozialstaatlicher Garantien einher – »from welfare to workfare« (vgl. Dörre et al. 2013; Dingeldey 2011; Münch 2009; Lessenich 2008). Ebenso beschäftigt die Situation von Menschen, die am Rande der Arbeitsgesellschaft in Armut und Exklusion leben, nicht nur die sozialwissenschaftliche Forschung. Eine breit angelegte kul-
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turwissenschaftliche Diskussion um das Thema Exklusion bietet beispielsweise der Begleitband zur Ausstellung »Fremdheit und Armut«, Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft (2011).5 So wie sich Armut und Prekarität in unterschiedlichen ästhetisch-kulturellen Produktionen wiederfinden, werden auch unterschiedliche Facetten und Deutungen von Arbeit in der Kulturproduktion repräsentiert, reproduziert und redefiniert. ›Arbeit‹ verstehen wir in diesem Zusammenhang nicht als stabile Kategorie, sondern als historisch und gesellschaftlich variierende Deutungen von Handlungen. Diese Sinnzuschreibungen sind durch ihre symbolische Vermitteltheit ebenso als Repräsentationen von Arbeit zu verstehen wie Kulturproduktionen, die diese zum Thema machen. Dieser Band versammelt daher nicht nur Aufsätze, die sich konkreten literarischen oder filmischen Repräsentationen von Arbeit widmen, sondern beinhaltet auch soziologische Analysen sowie Interviews mit Kulturschaffenden. Darin werden die Sinnzuschreibungen aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln einer genaueren Betrachtung unterzogen: etwa zur Tätigkeit der Arbeit selbst, zu sozial legitimen Arbeitsbedingungen, zum sozialen Prestige von Berufsgruppen, zu einzuhaltenden Normen und Handlungsvorgaben in der Arbeitsgesellschaft oder im kollektiv geteilten Wissen (Schütz 2003). Diese Repräsentationen von Arbeit können in sozialen Deutungsmustern (Oevermann 2001), Semantiken (Luhmann 1995) oder Diskursen (Foucault 1991) aufscheinen, je nach Gegenstand, Betrachtungsweise und zu Grunde liegender Methodologie. Über die Beiträge unterschiedlicher Disziplinen findet sich ein transdisziplinärer Zugang zur Arbeitswelt widergespiegelt. Thematisiert werden: Arbeit in ihrer geschichtlichen Entwicklung, unentgeltliche Reproduktionsarbeit, Kunst-Arbeit, ehrenamtliche Arbeit, entfremdete Arbeit sowie Arbeit in Abgrenzung zu Nicht-Arbeit und Muße. Aus kultur- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven werden in diesem Band Konnotationen von Arbeit analysiert, die den Menschen im Arbeitsprozess mit seiner gesellschaftlichen Einbettung betrachten. So wies beispielsweise schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel darauf hin, dass Menschen über Arbeit mit anderen Menschen in Interaktion treten und miteinander verbunden werden über den Arbeitsprozess sowie über dessen Produkte: »Arbeit Aller und für Alle und Genuß − Genuß Aller. Jeder dient dem Andern und leistet Hilfe, oder das Individuum hat hier erst als einzelnes Dasein; vorher ist es nur abstraktes oder unwahres.« (Hegel 1969: 213) Auch die im Vergleich mit handwerklicher oder früh-
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Weiterführend hierzu Brogi 2012a; 2012b.
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industrieller Arbeit als überlegen gewertete philosophische und literarische Tätigkeit der Philosophen und Literaten hat damit für Hegel ihre konkrete Bewandtnis als ein wichtiger Beitrag zur Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft. Ferner definiert sich das Kunstprodukt in der Rezeption und Interaktion der Kulturschaffenden mit anderen Individuen durch wechselseitige Sinnzuschreibungen. Die Subjektivation über die künstlerische Produktion sowie die intensive Identifikation mit dem eigenen Produkt erscheinen in nur wenigen Arbeitsbereichen so präsent wie in der Kunstproduktion. Der Soziologe Maurizio Lazzarato versteht etwa post-fordistische immaterielle Arbeit als Form von »Tätigkeiten, die in der Regel nicht als Arbeit wiedererkannt werden, also mit anderen Worten als Tätigkeiten, die im Bereich kultureller und künstlerischer Normen operieren« (1998: 39f.). Des Weiteren sind die Arbeitswelten Kulturschaffender schon länger projektgebunden, orientiert an Netzwerken und in zeitlich begrenzter Zusammenarbeit, wie dies, basierend auf der Analyse von Managementliteratur, Luc Boltanski und Ève Chiapello als Zeitdiagnose für die gesamte heutige Arbeitswelt in Der neue Geist des Kapitalismus (2006) ausgewiesen haben. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sowohl die Sozial- als auch die Kulturwissenschaften dieses verbindende Movens aufgreifen und untersuchen, wie die Interaktionen und auch die Bedingungen für den Genuss aller durch die Arbeitsproduktion aussehen könnten und wie sich das Individuum in der Welt subjektiviert beziehungsweise einfindet. Arbeit umfasst jedoch weit mehr Deutungen als den hier angesprochenen Konnex zwischen Kunstproduktion und postmodern subjektivierter Arbeit: »Ein Blick auf die zahlreichen Komposita von ›Arbeit‹, die teils schon aus der Ökonomisierung des Begriffs im 18. Jahrhundert folgten (z.B. ›Arbeitsteilung‹, ›Arbeitsloser‹), zum größten Teil aber erst im Zeitalter des entwickelten Industriesystems geprägt worden sind (z.B. ›Arbeitsrecht‹, ›-ordnung‹, ›-vertrag‹, ›-amt‹, ›-kammer‹, ›-ministerium‹, aber auch Bildungen wie ›Jugendarbeit‹, ›Bildungsarbeit‹ usw.), macht diese Allgegenwart von Arbeit im modernen Leben deutlich.« (Conze 1972: 215)
Eine kompakte und doch umfassende Entstehungs- und Bedeutungsgeschichte von ›Arbeit‹, wie sie Werner Conze liefert, kann und soll an dieser Stelle nicht erfolgen, doch integriert der vorliegende Band bewusst historiographische Zugänge, die ihren Fokus auf die oben bezeichneten Transformationsprozesse legen. Auch wenn es nicht gelingen kann, alle Facetten der Repräsentation von Arbeit einzufangen, soll die hier dargebotene Auswahl dazu beitragen, die Komplexität der Repräsentationen von Arbeit in transdisziplinären Analysen und künstlerischen Produktionen zu vergegenwärtigen, um Sozial- und Kultur-
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wissenschaften stärker das Potenzial der Zugänge der je anderen Disziplinen vorzuführen.6 Repräsentationen von Arbeit erscheinen in den folgenden vier Kapiteln zunächst auf der Ebene der diskursiven Grenzziehungen, danach auf der Ebene der arbeitsweltlichen Prägung durch die Erwerbstätigkeit und auf der Ebene ästhetischer Darstellungen des Subjektes in der Arbeitswelt sowie schließlich an der Schnittstelle von Dokumentation und Fiktion.
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Dieses Kapitel richtet seinen Fokus auf diskursive Grenzziehungen: Es werden sowohl in historiographischer Perspektive Deutungen von Arbeit und NichtArbeit betrachtet als auch gegenwärtige Arbeitsformen analysiert, die sich außerhalb der Erwerbszone befinden, aber einen Bezug zur Erwerbstätigkeit haben. Die Verzahnung von Arbeit und Nicht-Arbeit und das sich etablierende Arbeitsparadigma werden hier thematisiert. Damit einher gehen die Problematik der Bestimmbarkeit des Anderen der Arbeit wie auch die Frage nach den Bedingungen des Nachdenkens über andere Formen des Wirtschaftens. Die Untersuchung von abendländischen Kulturen des Arbeitens und der Arbeitenden in verschiedenen Epochen wird im Beitrag von Carolin Freier mit der Analyse von Strukturen verbunden, die den Erhalt der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft maßgeblich bedingen. Aus den jeweiligen Arbeitskulturen identifiziert sie die unterschiedlichen Motivationen zum Arbeiten: So lässt sich die hohe Wertigkeit des Anderen der Arbeit insbesondere in kulturellen Deutungsmustern der Antike í etwa Platons Begriff der Muße í und des Mittelalters nachweisen, wohingegen dieses Andere seit der Reformation in einem stetigen Niedergang begriffen ist, um dann in der Moderne einem nachgerade unbezweifelbaren Primat der Erwerbsarbeit als universellem Vergesellschaftungsinstrument zu weichen. Die arbeitskulturellen Diskurse des 20. Jahrhunderts werden unter Hinzuziehung eines breiten Spektrums an Arbeitstheorien behandelt. Carolin Freier beschreibt, wie die überaus dominante Subjektivierungs- und Entgrenzungstendenz der Arbeit auf der Ebene kultureller Zuschreibungen mit einem bedeutsamen Rückgang des Normalarbeitsverhältnisses auf wirtschaftlicher Ebene wie auch der sozialen Sicherung auf staatlicher Ebene einhergeht. Diese Entwicklung
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Auf einheitliche Vorgaben zur geschlechtergerechten Sprache wurde verzichtet.
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unterhöhlt affirmative Bezüge zur aktuellen Erwerbskultur, auf denen die Motivation zur Arbeit überwiegend beruht. Wie sich die Leitunterscheidungen in Bezug auf Arbeit herausgebildet haben, macht der Beitrag von Thorsten Unger anhand literarischer Beispiele der Jahrhundertwenden ab 1800 nachvollziehbar. Dabei wird deutlich, wie stark die Konstruktionen von Selbst- und Fremdbildern mit dem jeweiligen Arbeitsverständnis verwoben sind. In der Aufklärung grenzt sich das Bürgertum vom Adel dadurch ab, dass es den Müßiggang ablehnt und den Fleiß und die Berufsarbeit zum zentralen Bestandteil der eigenen Identität erhebt. Um 1900 dient der Arbeitsbegriff dann dem nationalen Selbstverständnis. Der ›deutsche Arbeiter‹ soll sich daran erfreuen, für die ganze Nation zu arbeiten. Zugleich wird Arbeit totalisiert und bekommt eine derart sinnstiftende Funktion, so dass, Unger folgend, von »Arbeit als Religion« gesprochen werden kann. Er verweist auf Gegenmodelle in der Arbeitslosenliteratur, zeigt aber, dass die Totalisierung von Arbeit, also Arbeit als alleinige Sinninstanz, bis in den literarischen Diskurs um 2000 hinein die Oberhand behält. Gegenwärtig ›predige‹ die Ratgeberliteratur über effizientes Zeitmanagement eine rationale Lebensführung im 21. Jahrhundert, in dem sich die Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit zunehmend zugunsten der Arbeit aufgelöst haben. Genau diesen Zustand unterziehen Gegenwartsautorinnen und -autoren der Kritik. Indem sie das Arbeitsverständnis hinterfragen, gehen auch sie – implizit oder explizit – auf die Suche nach dem Anderen der Arbeit. Die Vielseitigkeit der Arbeit und die historischen Umbrüche in den Deutungen von Arbeit greift Varun F. Ort auf, indem er sich der Repräsentation von Erwerbstätigkeit in der klassizistischen Ästhetik und Dichtung nähert. Die schon in Ungers Beitrag zentrale Schwellenzeit um 1800 bildet das Zentrum seiner Analyse. Vier maßgebliche Texte der klassizistischen Literatur – Hegels Ästhetik, Friedrich Schillers Briefe über die Ästhetische Erziehung des Menschen sowie dessen Lied von der Glocke und Johann Wolfgang von Goethes Pandora – deuten eine nicht zu vermittelnde Diskrepanz an: Während ästhetisch reflektiert wird, inwieweit Literatur Arbeitswelten überhaupt darstellen kann und soll, geben die sich den historischen Umbrüchen beugenden literarischen Realisierungen ein Scheitern in der Bewältigung dieses ›prosaischen‹ Gegenstandes zu erkennen. Schiller fordert eine Idealisierung der Arbeitswelt im Sinne einer Poetisierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Medium der Kunst, während Hegels Ästhetik die Darstellung zeitgenössischer Arbeitswelten verneint: Als Dichtung habe die Literatur den »allgemeinen epischen Weltzustand« als Idealzustand zu zeigen. Diesen uneinheitlichen, um Positionierung ringenden theoretischen Ansätzen stehen nach Ort literarische Realisierungen entgegen, die sich
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den Veränderungen nicht entziehen, aber auf unterschiedliche Weise daran scheitern. Die diskursive Grenzziehung zwischen Arbeit und Kunst behandelt auch der Beitrag von Gottfried Schnödl. Er begreift den thermodynamischen Kraftbegriff als eine Herausforderung für Verortungs- und Definitionsversuche künstlerischer Tätigkeit. Um 1800 macht der Geniegedanke einen nur vage zu umschreibenden Zusatz jeder künstlerisch relevanten Tätigkeit aus und zieht so eine impermeable Grenze zwischen den Begriffen ›Arbeit‹ und ›Kunst‹. Doch bereits seit der Französischen Revolution, vor allem im 19. Jahrhundert, wurde unter dem Einfluss thermodynamischer Energieerhaltungslehren eine Auffassung von künstlerischer Tätigkeit als einer Form der Arbeit vertreten. Zeitgleich fiel die Grenze zwischen den mechanischen und den als ›höher‹ gewerteten Arbeiten, sodass nun auch den künstlerischen und intellektuellen Betätigungen physikalische Qualitäten zugesprochen und diese prinzipiell unterschiedslos von anderen Arbeiten als Leistungen mess- und berechenbar wurden. Schnödl arbeitet die Spezifik dieser »Kunst-Arbeit« heraus und verweist dabei auf die Verschränkung von physiologischen und ästhetischen beziehungsweise philosophischen Diskursen. Ausblickhaft für das 20. Jahrhundert konstatiert Schnödl einen Wandel, wonach künstlerische wie kunstferne Arbeiten als ressourcenaufzehrend wahrgenommen und diskursiv verhandelt werden. Wie sich die Totalisierung des Arbeitsparadigmas in Körpertechniken einschreibt, ist Gegenstand von Julia Zupfers Darlegungen. Sie geht dabei den Berührungspunkten von reformerischen Bestrebungen in der Bewegungspädagogik mit den Ansprüchen der industriellen Arbeitswelt an die Arbeitenden nach. In den 1920er Jahren wurde sportliche Betätigung – hier in Gestalt von Gymnastik und Tanz – als wichtige Voraussetzung zur Erfüllung der Ansprüche des Arbeitsalltags propagiert. Zupfer hebt entsprechende Ambitionen in der Körperbildung hervor, in denen auch die bereits bei Schnödl ausgeführte Durchsetzung des thermodynamischen Diskurses wiederkehrt. Sie zeigt zudem, wie die Tanzpädagogik in einem Spannungsverhältnis zwischen Ganzheitlichkeit und Konditionierung des Körpers argumentiert, da das auf ganzheitliche Entfaltung abzielende Bestreben rhythmischer Erziehung letztlich tayloristischen Prinzipien unterliegt (etwa der Steigerung der Effizienz und Zielstrebigkeit). Anhand dreier theoretischer wie praktischer Ansätze – Rudolf von Laban sowie dessen Schülerinnen Hertha Feist und Jenny Gertz – rekonstruiert Zupfer Entwicklungslinien der Bewegungspädagogik. Die beiden letzten Aufsätze dieses Kapitels widmen sich ihrem Gegenstand mit einer prospektiven Ausrichtung. Kathrin Schödels Beitrag nimmt die diskursive Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit sowie zwischen
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Arbeit und Leben als Ausgangpunkt, um von dort aus die Debatte um andere Formen des Wirtschaftens voranzutreiben. Schödel führt vor, wie die Sphäre des Öffentlichen in Diskursen abgewertet wird zum Hort des Kampfes und der Konkurrenz, während die Sphäre des Privaten als Hort des Glückes aufgewertet wird. Infolgedessen wird nicht selten verlangt, den privaten Bereich vor den Entgrenzungen der Arbeitswelt zu schützen, um ein glückliches Leben zu ermöglichen. Dabei werde ausgeblendet, dass die Entscheidung über materiellen Wohloder Notstand in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung gerade im Privaten und nicht in der Sphäre der Öffentlichkeit fällt, da die Voraussetzung dieser Ordnung das Privateigentum ist. Um nicht nur das Glück Einzelner, sondern auch das gesellschaftliche Glück zu verwirklichen, müsste eine wirkliche öffentliche Sphäre erst hergestellt, müsste die Unterscheidung zwischen Arbeit und Leben theoretisch wie praktisch aufgehoben werden. Dies zu denken, schreibt Schödel, erfordere eine veränderte Haltung, welche sich gemäß dem Musil’schen Möglichkeitssinn weder vom Gegebenen noch von den ideologischen Versprechungen eines glücklichen Lebens im Privaten träge machen lasse. Auch Irene Dölling geht es um die Bedingungen des Denkens des Neuen und Anderen. Sie zeigt in ihrem Beitrag, wie der soziologische Diskurs um Arbeit in Begrifflichkeiten und Unterscheidungen verharrt, die sich nicht von den Denkmustern der industriegesellschaftlichen Moderne lösen, und wie dadurch das Arbeitsparadigma beständig fortgeschrieben wird. Dieses begriffliche Verharren verhindere das Erkennen möglicher Potenziale für einen anderen gesellschaftlichen Integrationsmodus. Arbeit als Erwerbsarbeit ist das zentrale gesellschaftliche Integrationsmoment: Sie erfüllt eine sinnstiftende Funktion, nach ihr richten die Menschen ihre Identitäten, Wert- und Normalitätsvorstellungen sowie ihre Lebensführung. Ein Paradigmenwechsel, also eine Abkehr von der gesellschaftlichen Vorrangstellung der Erwerbsarbeit hin zum Primat der »NichtArbeit«, ist für Dölling im Anschluss an Max Weber nur über Änderungen in der praktischen Lebensführung möglich. Sie plädiert im Fazit daher nicht für eine Ausweitung des Arbeitsbegriffs und fordert demgemäß auch nicht die Anerkennung reproduktiver Tätigkeiten nach ökonomischem Maßstab, wie es manche Stimmen in der Debatte um Care-Ökonomie tun, würde damit doch der herrschende Vergesellschaftungsmodus fortgeschrieben. Sie fragt hingegen nach Entwicklungen, die im Widerspruch zum Erwerbsarbeitsparadigma stehen und die Grundlage für einen neuen Vergesellschaftungsmodus jenseits der Erwerbsarbeit bilden könnten.
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Die Arbeitswelt prägt – neben Familie und Schule í die Sozialisation der Individuen und vermittelt dabei die Kultur der jeweiligen Gesellschaft. Erwerbsarbeit erfüllt hier einerseits die Funktion, den individuellen Existenzerhalt über monetäre Mittel zu ermöglichen. Andererseits wirken auch Mechanismen der Identifikation, Selbstverwirklichung und Freude an der Tätigkeit mit. Es handelt sich dabei um Mechanismen der Öffnung, denn durch Erwerbstätigkeit werden spezifische Handlungsräume der Individuen erweitert, und gleichsam um Mechanismen der Schließung, die Handlungsoptionen aufgrund der beruflichen Tätigkeit, der Arbeitsbedingungen oder dem auch über die Erwerbstätigkeit eingenommenen sozialen Status einschränken. Welche arbeitsbedingten Mechanismen es sind, die auf das Individuum einwirken, und an welchen Punkten dieses durch die Arbeit auf seinen Platz verwiesen wird, behandelt dieses Kapitel. Mit dem Beitrag von Regina Becker-Schmidt wird die Prägung durch die Arbeitsverhältnisse insbesondere für die Gruppe der Frauen aus historischer Perspektive hergeleitet. Der Beitrag behandelt ein der Arbeitsgesellschaft innewohnendes Herrschaftsverhältnis, das durch »Klasse« und »Geschlecht« determiniert ist. Becker-Schmidt untersucht dabei, welche Benachteiligungsstrukturen sich in Arbeitsverhältnissen von Frauen niederschlagen und wie sich diese historisch entwickelten. Die soziale Hierarchisierung und ungleiche Verteilung von qualitativ hochwertiger Arbeit, bezahlter Arbeit oder stabilen Arbeitsverhältnissen wird nachvollzogen, sodass die ungleiche Distribution und die gesellschaftliche Herrschaftssicherung sichtbar werden. Zwar sind heute sowohl Frauen als auch Männer von prekärer Beschäftigung und sozialer Unsicherheit bedroht, doch zeigt sich eine nachhaltige Diskriminierung von Frauen aufgrund der sozialen Genus-Gruppe. Durch Prozesse der Versämtlichung (nach Hedwig Dohm) und die im System der Zweigeschlechtlichkeit auftretende ideelle und materielle Gewalt in geschlechtlichen Arbeits- und Lebensverhältnissen werden Qualifikationszuschreibungen qua Geschlecht sozial etabliert und von gesellschaftlichen Gruppen durchgesetzt. Dennoch partizipieren Frauen immer stärker an der Erwerbstätigkeit. Regina Becker-Schmidt analysiert das sich daraus ergebende Spannungsfeld und inwiefern sich stereotype Geschlechterbilder wandeln. Die Reproduktion und Redefinition von Geschlechterhierarchien auf der Ebene des individuellen Umgangs mit der arbeitsweltlichen Zuweisung behandelt Gabriele Fischer. Der Wunsch nach einer positiven Selbstdeutung und damit die Orientierung an dem, was in der Gesellschaft jeweils als ›normal‹ gilt, zielen letztendlich auf Anerkennung und dabei insbesondere auf soziale Wert-
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schätzung. Die Autorin greift in ihrem Beitrag diesen Aspekt auf und stellt die eindeutig positive Interpretation des »Kampfes um Anerkennung«, wie ihn Axel Honneth darlegt, in Frage. Für Honneth ist dieser Kampf die Voraussetzung für die Überwindung gesellschaftlicher Ungleichheiten. Der geschlechterhierarchisch strukturierte Arbeitsmarkt dient Fischer als Schauplatz, der sichtbar macht, ob das Streben nach Anerkennung Ungleichheiten wirklich überwindet oder ob es im Gegenteil diese immer wieder aufs Neue bestätigt. Sie zeigt anhand zweier Fallbeispiele í einer Chirurgin und einer Frisörin í, dass aufgrund der Komplexität von Anerkennungsprozessen beides zugleich der Fall sein kann. Laura Hanemann und Yannick Kalff beschäftigen sich mit den veränderten Zeitstrukturen in der Organisation der Arbeit und weisen mit Bezug auf den französischen Soziologen Alain Ehrenberg auf die sozialpsychologischen Folgen dieser Veränderung hin. Die Freiheitssemantik, die gegenwärtige Arbeitsformen und -verhältnisse begleitet, verdeckt den Zwang zur Selbststeuerung und Initiative und setzt Maßstäbe, an denen viele scheitern. Denn ist Erwerbsarbeit durch ihre Subjektivierung gänzlich Bestandteil der eigenen Identität, dann werden in dieser Sphäre gültige Maßstäbe auch zur Grundlage der Beurteilung des Selbst. Burnout-Syndrom und Depression sieht der Beitrag als mögliche Folgen veränderter Anforderungen einer Arbeitswelt an, die das Versprechen von Autonomie, Selbstverwirklichung und Kreativität mit aller Konsequenz einlöst. Die Arbeitsgesellschaft schreibt sich dem Individuum durch das individuelle Verhältnis zur Erwerbstätigkeit ein – selbst wenn die einzelne Person aufgrund von Erwerbslosigkeit auf die Randbereiche verwiesen wird. Gerade Erwerbslose orientieren sich mit dem Anliegen gesellschaftlicher Teilhabe stark an der Erwerbsarbeit. In welchem Verhältnis arbeitsmarktpolitische Prämissen und subjektive Bezüge von Erwerbsarbeitslosen zu Arbeit stehen, behandelt der Beitrag von Ariadne Sondermann. Sie konstatiert, dass im Zuge der Arbeitsmarktreformen eine neue Reziprozität vorausgesetzt und die Aufgabe subjektiver Bezüge an spezifische erlernte (und adäquate) Arbeitstätigkeiten zugunsten einer Reduktion der Ansprüche an Arbeit proklamiert wird. Sondermann legt dar, wie Erwerbslose auf die Konfrontation mit der Negation individueller beruflicher Vorstellungen und Ansprüche an Arbeit in der Verwaltungspraxis reagieren und wie sie damit umgehen, dass sich der subjektive Bezug zur Erwerbsarbeit von arbeitsmarktpolitischen Prämissen unterscheidet. Der für Erwerbslose eher breite Zugang zur Erwerbsarbeit zeichnet sich dabei eben nicht allein durch die ökonomische Dimension aus. So würden häufig die eher eingeschränkten Handlungsspielräume genutzt, um eine an den subjektiven Bezügen orientierte Anstellung weiterhin zu suchen und gleichzeitig maßgabengemäß zu handeln. Doch zeigt die Autorin, dass sich je nach beruflichem Hintergrund differierende Problem-
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lagen bis hin zu individuellen Krisensituationen für die Erwerbslosen aus diesem Zwiespalt der Suche nach Erwerbstätigkeit ergeben können. Frank Sowa und Ronald Staples zeigen eine Subjektivation der Erwerbslosen, die die Determinierung der Verwaltungspraxis durch den Markt unterstützt. Hier werden Beratungsgespräche von Vermittlungsfachangestellten der Bundesagentur für Arbeit mit Arbeitsuchenden mit hohen Vermittlungsaussichten in Erwerbstätigkeit auf Basis des Konzepts der sozialen Aufführung analysiert. Der aristotelischen Dramaturgie folgend, gliedern die Autoren das Beratungsgespräch in Exposition, Peripetie und Katastrophe. Mittels dieser Analyse wird die Initiation des arbeitsuchenden Individuums als Unterwerfung im Sinne Judith Butlers gedeutet. Der bürokratisch gerahmte Prozess, in dessen Verlauf sich Arbeitsuchende subjektivieren, sei zudem durch den »Mythos von sich selbst regulierenden Teilarbeitsmärkten« auf dem Arbeitsmarkt geprägt. Im Beratungsgespräch versicherten sich beide Akteure, dass die gegenwärtige Situation der Arbeitslosigkeit ausschließlich durch individuelle Bemühungen der Arbeitsuchenden beendet werden könne. Die Autoren zeigen, wie die interagierenden Akteure eine Präsenz des Arbeitsmarktes mittels ihrer Performativität herstellen und dadurch den Mythos bestätigen und fortschreiben. Auch der folgende Beitrag setzt sich mit Subjektivierungsweisen auseinander und macht gleichsam deutlich, wie dem Subjekt in der diskursiven Repräsentation der Arbeitswelt eine soziale Position zugeschrieben wird. Unter Rückgriff auf die wissenssoziologische Diskursanalyse analysiert Saša Bosanþiü die Semantiken, die den ökonomischen Wandel der Arbeitswelt hin zur »Wissensgesellschaft« begleiten. Diese Semantiken narrativieren und rationalisieren den Wandel und lassen ihn als einzig gangbare Möglichkeit erscheinen. Zudem halten sie Selbstdeutungsangebote für die Individuen der Gesellschaft bereit, welche nicht ohne Einfluss auf die Subjekte sind. Machtwirkung, so zeigt Bosanþiü, entfalten in diesem Kontext Normalisierungsdiskurse, welche das »normale« Arbeitsmarktsubjekt entwerfen. Sie legen den Subjekten nahe, welche Identitäten besser zu wählen seien, um am Arbeitsmarkt bestehen zu können. Im Übergang zur »Wissensgesellschaft« hat sich das lebenslang lernende, sich permanent selbst optimierende Subjekt als Norm durchgesetzt. Durch dieses hegemoniale Subjektmodell werde Bildungsmisserfolg individualisiert und Menschen ohne Schuloder Berufsabschluss werden in den gegenwärtigen Qualifikationsdiskursen zu defizitären Subjekten. Bosanþiü skizziert die Selbstdeutungen Geringqualifizierter, die Folgen der Auseinandersetzung mit dieser Negativschablone sein können. Um zu einem positiven Selbstbild zu kommen, werten sie beispielsweise körperliche Arbeit gegenüber geistiger stark auf, was häufig mit einem ausgeprägten Männlichkeitsideal verbunden ist.
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Zum Alltagsverständnis des Arbeitsbegriffs gehört, dass er als bevorzugter, wenn nicht einziger Quell für die Steigerung des Selbstwertgefühls und zwischenmenschlicher Anerkennung gilt. Dies kann als Chance aufgefasst werden, erweist sich aber als problematisch, wenn äußere Umstände diese Möglichkeit blockieren und Menschen durch ihre soziale Positionierung erschwert einer stabilen und sozial anerkannten Erwerbstätigkeit nachgehen können. Radhika Natarajan widmet sich Personen, die der Erwerbsarbeit nahezu ausschließlich um der finanziellen Entlohnung willen nachgehen und dies zumeist weit unter ihren Qualifikationen: aus Sri-Lanka geflohene tamilische Frauen in Deutschland. Erfüllung jenseits des Finanziellen schöpfen diese Frauen aus ehrenamtlichen Tätigkeiten, die intellektuell deutlich anspruchsvoller sind als die Lohnarbeiten in den schlecht angesehenen und gering entlohnten Dienstleistungen. In fünf Kurzporträts werden die Arrangements von Erwerbsarbeit, ehrenamtlicher Tätigkeit und »biographischem Gepäck« dargestellt. Da die Erwerbssphäre als Sinnstifter praktisch entfällt, nutzen die Protagonistinnen das ehrenamtliche Handlungsfeld im Sinne ihrer Agency, wobei gerade der scharfe Kontrast der beiden Tätigkeiten das Verständnis für die Agency der Akteurinnen ermöglicht.
D ARSTELLUNGEN : A RBEITSWELTEN DES A NIMAL
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Eingebettet in gesellschaftliche Normen und Deutungen von Arbeit, bewerten Individuen die Arbeitswelt historisch, gesellschaftlich und sozial mannigfach und agieren in unterschiedlicher Weise, um mit den variablen Anforderungen der Arbeitswelt umzugehen. Es ist nicht zuletzt die Literatur, die davon beredtes Zeugnis ablegt, wie bereits im ersten Kapitel sichtbar wurde. Im folgenden Kapitel sind nun ausschließlich literarische wie filmische Darstellungen des Individuums in der Arbeitswelt aus dem 20. und 21. Jahrhundert Gegenstand der Analysen. Diese lesen sich – mit Hannah Arendt gesprochen – wie Beschreibungen des »letzten Stadiums« (Arendt 2007: 410) der Arbeitsgesellschaft, einer Gesellschaft, die von ihren Mitgliedern eine derartige Hingabe verlange, dass die »einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin [bestehe], sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben, bzw. die Empfindungen zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um dann völlig ›beruhigt‹ desto besser und reibungsloser ›funktionieren‹ zu können.« (Ebd.: 410f.)
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Aus vielen der hier analysierten Texte spricht der angepasste Geist des »Animal laborans«, welches sich Arendt zufolge in der Moderne durchgesetzt habe7: Selbstinszenierungen treten zutage, die durch Arbeitsbedingungen notwendig erscheinen; gleichförmige Interpretationen der ökonomischen Wirtschaftsweise sowie ganzheitliche Anpassungsformen, aber auch kritische Betrachtungen und das Ausloten der Grenzen individueller Anpassung durch das Scheitern im ökonomischen System kommen zur Sprache. Letzteres wird beispielsweise in Christian Däufels Beitrag sichtbar, der eine erste Auseinandersetzung mit den Beschreibungen von Arbeitswelten und ihren kultur- und gesellschaftskritischen Implikationen bei Ingeborg Bachmann als einer wichtigen Repräsentantin der Literatur »nach 1945« darstellt. Exemplarisch wird anhand von Texten unterschiedlicher Schaffensphasen und Gattungen – das Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen, die Prosagroteske Ein Ort für Zufälle und andeutungsweise die Erzählungen Der Hinkende und Probleme Probleme – gezeigt, dass Bachmann surreale, groteske und phantastische Verfahren nutzt, um das systemisch notwendige Ineinandergreifen von Arbeitszeit und Freizeit respektive Konsumzeit und die Unterwerfung der Menschen unter ein Krankheiten evozierendes Arbeits- und Wirtschaftssystem sichtbar zu machen. Unter Rückgriff auf die Theorien der Frankfurter Schule und Karl Marx’ Darlegungen erscheinen Arbeitsplätze als Schauplätze des kollektiven Verdrängens und der Unterdrückung und stellen einen Zusammenhang her zwischen der Zeit des Wirtschaftswunders und der Zeit des Nationalsozialismus. Im Zentrum von Julian Reidys Beitrag steht das Verhältnis zwischen der Arbeitswelt und dem autobiographischen Ich Bernward Vespers: Vespers ambitioniertes, posthum erschienenes autobiographisches Romanfragment Die Reise
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In Hannah Arendts (2007) Verständnis der hierarchischen Dreiteilung von Arbeit in Arbeit, Herstellen und Handeln kommt auch dem Individuum eine bedeutende Rolle zu. Dieses hängt von der jeweils gesellschaftlich vorherrschenden Arbeitsform ab. So bezeichnet Arendt als »Animal laborans« den der Natur verhafteten, arbeitenden Menschen, der die niedrigste Tätigkeitsform ausführt und sich von der eigenen Existenz durch das Ausweichen auf andere Bedürfnisse (wie den Konsum) am weitesten entfernt (ebd.: 102f, 150). Eine Stufe über ihm steht der herstellende Homo faber (ebd.:161ff.), der in der Lage ist, eine künstliche eigene Welt zu schaffen, und damit den Kreislauf des Entstehens und Vergehens durchbricht. Während Arbeit im Wesentlichen geistlos verrichtet wird, zeugt das Herstellen von bildnerischem und schöpferischem Vermögen. Arendt konstatiert, dass sich in der Moderne das Animal laborans durchgesetzt habe und auf Kosten des Menschen wirke, sei doch das Animal laborans angepasst (ebd.: 407ff.).
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(1977) ist eines der meistbeachteten Selbstzeugnisse der sogenannten »68Bewegung«. Reidy stellt fest, dass bisher den Roman-Abschnitten, die sich mit der Arbeitswelt befassen, kaum Beachtung zugekommen sei, obwohl diese als interpretativer Schlüssel der Autobiographie, aber auch des Lebens von Bernward Vesper dienen können. Die Autobiographie vollziehe den Weg eines sich selbst als Bourgeois wahrnehmenden Menschen hin zu einer neuen, revolutionären Subjektivität nach. Hierfür rekonstruiert der Aufsatz die Erfahrungen des Protagonisten mit der Arbeitswelt und bettet sie in genau den theoretischen Kontext ein, der für Vesper die entscheidenden Deutungsmuster geliefert habe, die Theorie des Substitutionalismus. Diese Marx-ferne Antwort der New Left auf die Frage nach dem revolutionären Subjekt jenseits des Proletariats analysiert Julian Reidy bis hin zu ihren Ursprüngen, die er in Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein (1922) verortet sieht. Annemarie Matthies analysiert die Romane Machwerk. Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer (2008) von Volker Braun, wir schlafen nicht (2004) von Kathrin Röggla und Mobbing (2007) von Annette Pehnt. Sie stellt heraus, wie alle drei um den Topos der Sinnhaftigkeit der Arbeit für das Individuum kreisen. Dieser Topos gilt in den Romanen als Maßstab der Kritik an der jeweils geschilderten Arbeitswelt. Selbstverwirklichung und Anerkennung − die ideellen Dimensionen des Diskurses um Arbeit − bleiben den Protagonisten verwehrt. Matthies zeigt, wie die Romane dies zwar kritisieren, dabei aber den Inhalt des Maßstabs unhinterfragt übernehmen und so den Bedeutungstopos paradoxerweise über die Dekonstruktion desselben reproduzieren. An den kritischen Blick von Matthies auf die Arbeitswelt in der Gegenwartsliteratur anschließend, entwirft Florian Öchsner eine nicht minder kritische Zeitdiagnose, indem er auf die Beziehung von Arbeit und Leben aus der Perspektive der Subjekte und die Verarbeitung des Scheiterns in der Gegenwartsliteratur eingeht. Anhand von Enno Stahls Diese Seelen (2008) und Wilhelm Genazinos Das Glück in glücksfernen Zeiten (2009) analysiert er die in der Literatur dargestellten subjektiven und psychischen Verarbeitungsstrategien von Arbeit und den Komplex Arbeit-Subjekt-Leben. Durch die in seinem Beitrag dargestellten Protagonisten erhalten sozialwissenschaftliche Konzepte wie Bröcklings »unternehmerisches Selbst« und Pongratz’ und Voß’ »Arbeitskraftunternehmer« eine kontrastreiche Schärfe. Dabei wird die Leistungsideologie in einen gesellschaftlichen und ökonomischen Kontext gestellt: Leistung kann nicht allein zum Erfolg führen und benötigt sowohl zwischenmenschliche als auch kapitale Randbedingungen, die nicht alle leistungsorientierten Subjekte erreichen können (und vielleicht auch nicht erreichen wollen). Im Beitrag werden nicht nur die Vermarktung des Subjekts und der eingeschränkte Handlungs-
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raum des Individuums thematisiert, sondern auch die Ängste vor Armut und sozialer Unsicherheit sowie die Selbstzweifel im Scheitern an ökonomischen Bedingungen. Nerea Vöing skizziert die bis in die Gegenwart reichende Kontinuität des Topos »Melancholie« als ein Mittel, um epochale technisch-wirtschaftliche Umbrüche sicht- und beschreibbar zu machen. Auf diese Tradition bezieht Vöing die Darlegungen Richard Sennetts zum »new capitalism«, zur postfordistischen Leistungs- und Risikogesellschaft sowie besonders zu dessen Theorem des Drifts. In Anlehnung an Sennett liest sie den Werdegang der sich durch auffallende Passivität auszeichnenden Protagonisten in Térezia Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent (2009), Fréderic Beigbeders 99 Francs (2001) und Bret Easton Ellis’ American Psycho (1991) als »Fallgeschichten«: Alle drei werden in unterschiedlicher Drastik und gradueller Abstufung als Scheiternde gezeigt. Sie ›driften‹, weil es ihnen, bezogen auf die Anforderungen ihres Arbeitslebens, nicht gelingt, umgeben von Jobnomaden eine gefestigte Persönlichkeit mit stabilem Selbstkonzept zu entwickeln. Alle Erzählungen erscheinen als Gesellschaftsdiagnosen: Es gibt kein Außerhalb, keine Freiräume und keine durch subjektive Handlungsstrategien entwickelten Gegenentwürfe. Scheiternde Figuren präsentiert zwar auch der 2010 erschienene Roman Sunset Park von Paul Auster, den Nadine Boettcher analysiert. Durch die Besetzung eines leerstehenden Hauses gelingt ihnen jedoch – wenn auch nur vorübergehend – die Errichtung eines Freiraumes, eines Gegenentwurfes. Boettcher spricht hier in Anlehnung an Foucault von einer »Heterotopie«. Die Hausbesetzung entlastet die Protagonisten teilweise von ökonomischen Zwängen und ermöglicht es ihnen, Tätigkeiten nachzugehen, die für die jeweilige Figur bedeutsam und identitätsstiftend sind. Boettcher analysiert den verhandelten Zusammenhang zwischen Identität, Arbeits- und Lebensverhältnissen sowie die Infragestellung des Versprechens der großen Metanarration des ›Amerikanischen Traums‹, jeder könne etwas werden durch seiner Hände Arbeit. Damit thematisiert der Roman über die immobilienkrisengeschüttelte USA implizit auch das Ausklammern der ökonomischen Bedingungen aus der Leistungsideologie. Alexander Zimbulov befasst sich mit dem höchst individuellen Verfahren »autobiographischer Poetik« Charles Bukowskis, deren wichtiges Ziel die Abgrenzung von der Arbeiterschicht und die Überwindung seiner sozialen Herkunft sei. Bukowskis autobiographische Arbeiten zeichnen den mühsamen Weg des Arbeiters hin zum wirtschaftlich erfolgreichen Schriftsteller nach, wobei die zuvor erlittenen widrigen Berufsverhältnisse vom Autor als eine notwendige Voraussetzung für das eigene ›Werk‹ gedeutet werden, das, Zimbulow folgend, dadurch erst hervorgebracht worden sei. Gerade in den späteren Texten zeige
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sich jedoch ein Wandel. Die Schriftstellerei, zuvor eine Art subversiver Gegenpol zur bloßen Sicherung des Lebensunterhalts im Rahmen der regulären Lohnarbeit, erfahre als eine Folge von materiellem Erfolg und empfundener Sicherheit eine neue Bewertung. Statt Rückzugs- oder Verweigerungsstrategien zu implizieren, diene sie nunmehr der Einlösung all jener zuvor hinterfragten Versprechen des American Dream. Dem »Dirty Old Man« sei demnach nicht der Ausstieg aus der Arbeitswelt gelungen, denn Bukowski übertrage das Leistungsprinzip seiner früher durchlebten Arbeitswirklichkeit nunmehr auf seine literarische Produktion. Widrigen Arbeitsverhältnissen sind auch die Protagonistinnen und Protagonisten der Romane ausgesetzt, die Alexander Preisingers Beitrag zugrunde liegen. Mit Sebastian Christs … und wünschen Ihnen für die Zukunft alles Gute! (2009), Judith Lieres Probezeit (2008) und Carina Kleins Wo geht’s denn hier nach oben? (2001) analysiert er drei Vertreter des zeitgenössischen Genres des Praktikantenromans und kommt zu einem ernüchternden Fazit: Mit ihrer überaus homogenen Wahrnehmung und Interpretation der ökonomischen Verhältnisse gerinnt ›der Praktikantenroman‹ zu einer höchst konventionellen Gattung. Mittels der von der Pariser Schule vertretenen Semiotik zeichnet Preisinger die hohe Verdichtung des geteilten Wissens über die Arbeitsverhältnisse nach. Die festgestellte Homogenität in der Darstellung der Wirtschaftsverhältnisse zeige sich etwa in der Deutung des idealen ökonomischen Subjektes, die weitestgehend mit Diskursen korreliert, die in den Theorien Richard Sennetts, Luc Boltanskis und Ève Chiapellos oder Ulrich Bröcklings konstitutiv sind. So vereinfachend wie die Darstellung gerate auch das utopische Potenzial der Romane: Zwischen der Assimilation an den gegenwärtigen Kapitalismus und einer affirmativen Rückbesinnung auf den Kapitalismus der Großelterngeneration bleibe nichts Drittes. In seiner Analyse des deutschsprachigen Fernsehfilms Die Beischlafdiebin (1998) legt Stephan Hilpert dar, weshalb die Kritik des Filmemachers Christian Petzold am Arbeitsverständnis des ausgehenden 20. Jahrhunderts í in seiner ernüchternden Wirkung í weiterhin als Deutungsmuster für die Arbeitsbedingungen in Deutschland überzeugen kann. Um die filmische Umsetzung des Endes sozialer Bindungen theoretisch zu fassen, nutzt er die Bourdieu’sche Kategorie des »sozialen Kapitals«, die auf dessen Theorie aufbauenden Studien Loïc Wacquants zur Körperlichkeit und die von Catherine Hakim hergeleitete Kategorie des »erotischen Kapitals«. Mittels letzterer gelingt es, zentrale Verhaltensdimensionen der Protagonistinnen zu erfassen. Die im Film vorgenommenen geschlechtlichen Zuschreibungen der Arbeitswelt berücksichtigt der Beitrag ebenso wie die Gemeinsamkeiten des Sich-selbst-Verkaufens in legalen und illegalen
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Kontexten und stellt den Zusammenhang von Arbeit und zwischenmenschlichen Verhaltensweisen der Täuschung, Verstellung und Selbstinszenierung in den Vordergrund.
P OSITIONIERUNGEN : R EPRÄSENTATIONEN DER A RBEITSWELT AN DER S CHNITTSTELLE VON D OKUMENTATION UND F IKTION Der Frage, inwiefern dokumentarische Verfahren, die für zahlreiche ArbeitsRepräsentationen konstitutiv sind, Erwerbsarbeit dokumentieren, reflektieren und dekonstruieren, widmet sich der Beitrag von Susanna Brogi und Katja Hartosch. Den Schwerpunkt legen die Autorinnen auf die Verfahren derjenigen Kulturschaffenden, die in den darauffolgenden Interviews selbst zu Wort kommen, und situieren diese so in einem kulturwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext. Ausgehend von einer historischen Einordnung entsprechender Produktionen aus Theater, Literatur, Film und Fotografie treten das erkenntnistheoretische Problem der Relation von Faktualem und Fiktionalem sowie die kulturkritischen Positionierungen der zeitgenössischen Beiträge hervor. Zuletzt kommen sechs Kunst- und Kulturschaffende zu Wort, deren Beobachtungen gegenwärtiger Arbeitswelten bei den Rezipierenden die grundlegende Frage aufwerfen kann: »Was tun wir da eigentlich?« So hat Kathrin Röggla für ihren 2004 erschienenen Roman wir schlafen nicht zahlreiche Interviews mit Unternehmensberatern geführt und deren Selbsterzählungen komponiert zu einer Symphonie des sich selbst regierenden, marktförmigen und flexiblen Subjekts. Röggla spricht in diesem Zusammenhang auch über die Bedeutung von Angst als einer treibenden Kraft im Rahmen der Subjektivierung. Mit einem ebenso ethnographischen Blick sowie einer gleichfalls überzeugenden Montagetechnik zeigt Carmen Losmann in ihrem Dokumentarfilm Work Hard, Play Hard Akteure aus den Human-Resources-Abteilungen großer Konzerne, die den Slogan des »Change« wie eine Glücksformel und Garant für mehr Wachstum vor sich hertreiben, und Architekten, die die Sprache der Unternehmensberater zu materialisieren versuchen, indem sie Räume für selbstvergessenes Arbeiten kreieren. Work Hard, Play Hard führt Rituale der Disziplinierung des Arbeitssubjekts vor, vom Personalentwicklungsgespräch bis zum Teamtraining im Klettergarten, in denen »Commitment« abgefragt oder hergestellt werden soll, um individuelle Ziele mit Unternehmenszielen in Übereinstimmung zu bringen. Als Kontrafakturen bekannter Kunstwerke erscheinen die künstlerischen Arbeiten Kerstin Polzins und Anja Schoellers. In den im Umbruch begriffenen
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AEG-Werkshallen des ehemaligen Technikkonzerns haben sie ihr Projekt ERFAHRUNGsPRODUKTion. Zeitgenössische Kunst im Zwischenraum industrieller Produktion (zwischenbericht 2008) realisiert und sich auf eine Spurensuche nach der ›geistigen Substanz‹ moderner und zeitgenössischer Kunst begeben. Die frühere Bedeutung des Ortes als Arbeitsplatz und Industriestandort rückt nicht nur im Gespräch in den Mittelpunkt, sondern ist auch – wenn auch in unterschiedlich starker Deutlichkeit – für die künstlerische Produktion bedeutsam. Wie die Bedingungen für eine museale Dar- und Ausstellbarkeit von ›Arbeit‹ aussehen und welche Facetten von ›Arbeit‹ Eingang in zeitgenössische Museen finden, wird am Beispiel des Museums der Arbeit Hamburg ausgelotet. Das Interview mit der (bisherigen8) Direktorin Prof. Dr. Kirsten Baumann sowie dem stellvertretenden Direktor Stefan Rahner thematisiert die Angebote des Museums zum Themenkomplex ›Arbeit‹, wenn beispielsweise Arbeitsorte nachempfunden, Branchen und Berufszweige präsentiert oder die medialen SelbstInszenierungen von Firmen veranschaulicht werden. Die Reflexion umfasst ›Arbeit‹ im Kontext des gesellschaftlich-technischen Wandels und setzt sich mit den konkreten musealen Gegebenheiten auseinander. Dieser Sammelband ging aus der Tagung (Re-)Präsentationen der Arbeitswelt hervor, die an der Universität Erlangen-Nürnberg stattfand. Wir möchten folgenden Personen und Institutionen danken, die uns bei der Veröffentlichung dieses Bandes auf vielfältige Weise unterstützt haben: allen voran der Universitätsleitung, den Instituten für Soziologie und Amerikanistik, dem Departement für Germanistik und Komparatistik, der Graduiertenschule, dem Büro für Gender und Diversity, der Fritz und Maria Hofmann-Stiftung, der Friedrich-EbertStiftung, der Hans-Böckler-Stiftung, der Kulturstiftung Erlangen, der Bayerischen Amerika-Akademie und dem Verein Gradnet. Außerdem danken wir herzlich Irmgard Karner und Stefanie Kliem sowie für ihre wertvolle redaktionelle Unterstüzung Peter Gajda und Johannes Barthel, der auch die Tagung zusammen mit uns vorbereitete und durchführte. Für ihre Hilfe beim abschließenden Korrektorat danken wir Dr. Christine Henschel. Unser Dank gilt selbstverständlich in besonderer Weise den Autorinnen und Autoren der Beiträge zu diesem Band, mit denen sie die Diskussion um Arbeitswelten bereichern und sicher weitere Forschungsimpulse geben werden. Nicht zuletzt danken wir denen, die uns im Rahmen der den Band beschließenden Gespräche ihre Zeit geschenkt, aber auch ihr Wissen und ihre Intentionen mitgeteilt haben: Prof. Dr. Kirsten Baumann,
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Die Direktorin trat Ende August 2013 von ihrem Amt zurück; das Interview entstand vor dem Rücktritt.
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Carmen Losmann, Kerstin Polzin, Stefan Rahner, Kathrin Röggla und Anja Schoeller.
L ITERATUR Achatz, Juliane et al. (2012): »Übergänge am Arbeitsmarkt und Qualität von Beschäftigung«, in: Herbert Brücker et al. (Hg.), Handbuch Arbeitsmarkt 2013. Analysen, Daten, Fakten (= IAB-Bibliothek, Bd. 334), Bielefeld: Bertelsmann. Arendt, Hannah (2007): Vita activa oder vom tätigen Leben, München/Zürich: Piper. Baxmann, Inge et al. (Hg.) (2009): Arbeit und Rhythmus – Lebensformen im Wandel, Paderborn/München: Fink. Becker, Sabina (2000): Neue Sachlichkeit. Bd. 2: Quellen und Dokumente, Köln/Weimar/Wien: Böhlau. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2006): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK. Brecht, Bertolt (1967): »Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment«, in: ders., Gesammelte Werke. Bd. 18: Schriften zur Literatur und Kunst 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 139–209. Brogi, Susanna (2012a): »Ein noch nicht ausgeschöpftes Kapital. Literatur und Künste in der Armutsforschung«, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 4, S. 55–59. Brogi, Susanna (2012b): »Hinwendung zur Armut, Vereinnahmung des Anderen. Erträge der aktuellen Prekaritätsforschung« – Sammelrezension zu: Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft. Hg. v. Lukas Clemens/Nina Trauth/Herbert Uerlings, Darmstadt: Primus 2011, sowie Katharina Pewny: Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance, Bielefeld: transcript 2011, in: KulturPoetik 12, Heft 1, S. 126–134. Chaplin, Charles (R.) (1936): Modern Times – A story of industry, individual enterprise – humanity crusading in the pursuit of happiness, US. Conze, Werner (1972): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1, Stuttgart: Klett. Deiters, Franz-Josef et al. (Hg.) (2009): Narrative der Arbeit – Narratives of Work (= Limbus, Bd. 2), Freiburg i.Br./Berlin/Wien: Rombach. Dingeldey, Irene (2011): Der aktivierende Wohlfahrtsstaat: Governance der Arbeitsmarktpolitik in Dänemark, Großbritannien und Deutschland (= Schriften des Zentrums für Sozialpolitik, Bd. 24), Frankfurt a.M./New York: Campus.
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Dörre, Klaus et al. (2013): Bewährungsproben für die Unterschicht? Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik. Hg. v. Klaus Dörre und Stephan Lessenich (= International Labour Studies – Internationale Arbeitsstudien, Bd. 3), Frankfurt a.M./New York: Campus. Ecker, Gisela/Lillge, Claudia (Hg.) (2011): Kulturen der Arbeit, München: Fink. Engler, Wolfgang (2005): Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft, Berlin: Aufbau. Foucault, Michel (1991): Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay v. Ralf Konersmann. Übers. v. Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Fischer. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1969): Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805/06. Hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg: Meiner. Heimburger, Susanne (2010): Kapitalistischer Geist und literarische Kritik. Arbeitswelten in deutschsprachigen Gegenwartstexten (= Forschungen zur deutschsprachigen Literatur nach 1945), München: Edition Text + Kritik. Kalina, Thorsten/Weinkopf, Claudia (2013): Niedriglohnbeschäftigung 2011. IAQ-Report Nr. 2013-01, Duisburg: Institut Arbeit und Qualifikation. Kley, Antje (2009): Ethik medialer Repräsentation im englischen und amerikanischen Roman, 1741–2000, Heidelberg: Winter. Lazzarato, Maurizio (1998): »Verwertung und Kommunikation. Gesellschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen des Postfordismus«, in: Antonio Negri/Maurizio Lazzarato/Paolo Virno, Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion. Hg. v. Thomas Atzert, Berlin: ID. Lessenich, Stephan (2008): Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld: transcript. Luhmann, Niklas (1995): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lukas, Clemens/Trauth, Nina/Uerlings, Herbert (Hg.) (2011): Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft. Begleitband zur Ausstellung ›Fremdheit und Armut‹, Darmstadt: Primus. Meuser, Michael/Sackmann, Reinhold (Hg.) (1992): Analyse sozialer Deutungsmuster. Beiträge zur empirischen Wissenssoziologie (= Bremer Soziologische Texte, Bd. 5), Pfaffenweiler: Centaurus. Münch, Richard (2009): Das Regime des liberalen Kapitalismus. Inklusion und Exklusion im neuen Wohlfahrtsstaat, Frankfurt a.M./New York: Campus. Promberger, Markus (2012): »Mythos der Vollbeschäftigung und Arbeitsmarkt der Zukunft«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 14/15, S. 30í38. Röggla, Kathrin (2004): wir schlafen nicht. Bühnentext, Weinheim: o.V.
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Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2005): Die Chancen nutzen – Reformen mutig voranbringen. Jahresgutachten 2005/06, Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. Schößler, Franziska/Bähr, Christine (Hg.) (2009): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld: transcript. Schütz, Alfred (2003): »Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft«, in: Hubert Knoblauch/Ronald Kurt/Hans-Georg Soeffner, Die kommunikative Ordnung der Lebenswelt (= ASW, Bd. 2), Konstanz: UVK, S. 119–197. Trinczek, Rainer (2011): »Überlegungen zum Wandel von Arbeit«, in: WSIMitteilungen 64, Heft 11, S. 606í614. Zwischenbericht – Kerstin Polzin und Anja Schoeller (2008): ERFAHRUNGsPRODUKTion. Zeitgenössische Kunst im Zwischenraum industrieller Produktion. Hg. v. Zentrifuge. Verein für Kommunikation, Kunst und Kultur e.V. Katalog anlässlich der Ausstellung vom 16.01. bis zum 28.02.2009, Nürnberg
Zeitreise durch die Arbeitswelt Kulturen der Arbeit im Wandel C AROLIN F REIER Sowohl die Verachtung der Arbeit im Altertum, wie ihre Verherrlichung in der Neuzeit orientieren sich im Wesentlichen an der Haltung oder Tätigkeit eines arbeitenden Subjekts, dessen Mühsal die Alten mißtrauten und dessen Produktivität die Moderne preist. HANNAH ARENDT
Ob als Bauer in der Lebensmittelproduktion, als Handwerker in der Werkstatt tätig, als Lehrkraft an der Tafel unterrichtend, als Unternehmer weltweit im Einsatz − Arbeit, verstanden als mehr oder minder mittelbare Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur zum Ziele der Existenzsicherung, begleitet die Menschheit seit ihren Ursprüngen. Die Deutungen von Arbeit unterscheiden sich jedoch historisch, sozial und kulturell beträchtlich. Als »Gesamtheit der Verhaltenskonfigurationen einer Gesellschaft, die durch Symbole vermittelt werden, in Werkzeugen und Produkten Gestalt annehmen, in Wertvorstellungen und Ideen bewusst werden« (Fuchs-Heinritz 1994: 379), kann nicht nur Kultur, sondern auch Arbeitskultur aufgefasst werden. Eingebettet in differierende (Sozial-)Kulturen geht eine Berufsform mit unterschiedlichen Verhaltensmustern einher; dadurch können sich Berufsbilder aber auch wandeln. Zu denken wäre etwa an die Entwicklung des Sekretärs vom angesehenen und hochdotierten Männerberuf zur weiblich konnotierten, mäßig entlohnten Verwaltungstätigkeit. Berufsbilder können sich aber auch durch andere Arbeitsinhalte und technische Weiterent-
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wicklungen ändern. Dieser Beitrag legt den Fokus jedoch auf verschiedene Vorstellungen über die Werte des Arbeitenden oder des Arbeitserzeugnisses.1 In den kapitalistischen Gesellschaften ist die abhängige Lohnarbeit die prägende Arbeitsart, mit je eigenen Formen von Sozialbeziehungen, Entlohnungssystemen, sozialen Sicherungssystemen und der dazugehörigen Arbeitsmarktpolitik. Da Erwerbstätigkeit nicht nur die Lebenserhaltung materiell sichert, sondern auch identitätsstiftend wirkt (etwa in dem sie gesellschaftlichen Statuts und Sozialprestige transportiert), bringt sie auch soziale Lebensformen hervor und vergesellschaftet die Individuen als zentrale Instanz, durch die die Menschen ihre Identität und Subjektivität als Arbeitende (vgl. Baethge 1991) in der Erwerbsarbeitsgesellschaft (vgl. Bonß 1999) herstellen. Die Betrachtung der jeweiligen Arbeitskultur erfasst diese meist nicht in ihrer Gesamtheit, sondern liefert die Repräsentation eines Ausschnitts. In neueren Studien ist die gegenwärtige Arbeitskultur beispielsweise charakterisiert durch eine stärkere Subjektivierung des Arbeitens (vgl. Pongratz/Voss 2003; Bröckling 2007) und eine höhere Selbstdisziplinierung des (post-)modernen Subjekts, das immer mehr zum Unternehmer seiner selbst wird und dabei oftmals im Räderwerk der Ökonomie als erschöpftes Selbst (vgl. Ehrenberg 2011) erscheint. Insbesondere im Hinblick auf die Frage, warum Menschen einen Antrieb zur Arbeit haben beziehungsweise haben sollen und wie die Sinnzuschreibungen und damit die Repräsentationen der arbeitenden Tätigkeiten aussehen, differieren die Positionen. Sind die Resultate der Arbeit von Bedeutung oder erhält Arbeit einen Selbstzweck? Und mit welchem Verständnis von Arbeit verrichten die Menschen ihr Werk? Um auf diese Fragen Antworten zu finden, wird eine Zeitreise durch verschiedene Arbeitswelten unternommen, und mittels dieser werden differierende Repräsentationen der Erwerbskulturen sowie Bezüge zur Gegenwart aufgedeckt (Abschnitt 1). Welche Bedeutung der heutigen Arbeitskultur im Verhältnis von Kultur und Struktur zukommt, klärt der Abschnitt 2, denn die kulturell differierenden Repräsentationen von Arbeit sind auch durch strukturelle Bedingungen gerahmt.
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Zur Analyse des Wertkomplexes Arbeit in der Literatur und der kulturwissenschaftlichen Analyse der historischen Erfolgsgenese des affirmativen Arbeitsethos siehe den Artikel von Thorsten Unger in diesem Band.
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1. P HILOSOPHISCHE UND H ISTORISCHE B ETRACHTUNG DES A RBEITSBEGRIFFS Die mit dem Arbeitsbegriff verbundenen Deutungsmuster sind für die Wirklichkeitskonstruktion und die Repräsentation der Arbeit von entscheidender Bedeutung. Am Beginn der nun folgenden Reise steht die Klassische Antike, denn nach Wolfgang Engler findet sich bei Platon »die erste systematische Klassifikation der ›Arbeitswelt‹ des abendländischen Kulturkreises« (2005: 27). Darüber hinaus bieten Platons und Aristoteles’ Ansichten einen Kontrast zur heute dominierenden Erwerbskultur in den hochentwickelten Industriestaaten: Die heutzutage gegenüber der Arbeit vernachlässigte Muße fungierte in der Antike als Lebensmittelpunkt und Systemvoraussetzung. Und »wer«, fragt De Grazia treffend, »würde heutzutage behaupten, daß ein Staat zusammenbrechen könnte, wenn er nicht weiß, wie die Muße zu verwenden ist?« (De Grazia 1972: 56f.) 1.1 Klassische Antike: Mühsal körperlicher Arbeit In der Antike zeigt sich eine starke ideelle und faktische Trennung von Arbeit und Nicht-Arbeit in der Gesellschaftsstruktur. Insbesondere körperlicher Tätigkeit für die Reproduktion des individuellen Lebens kommt ein minderwertiger Status zu. In der »Politeia« entwirft Platon einen Idealstaat mit arbeitsteiligem Gemeinwesen. Demnach sei der Einzelne nur zu bestimmten Tätigkeiten begabt, doch im staatlichen Zusammenschluss könnten die vielfältigen Anforderungen bewältigt werden. Jeder Mensch habe eine ihm zugeteilte Position im dreiteilig gegliederten Philosophenstaat: im herrschenden Stand der Philosophen (Lehrstand), in dem mit der Verteidigung betrauten Wehrstand oder dem Nährstand, der die Gemeinschaft versorgt (vgl. Kunzmann/Burkard/Wiedmann 1991: 45). Der letzte Stand, aus Unfreien und Nicht-Bürgern bestehend, leistet die gesamte Reproduktion und einen Großteil der körperlichen Arbeit (vgl. Platon 1994). Dagegen repräsentierten die Philosophen die Fähigkeit zur Muße, die es ihnen ermöglicht, die Leitung und Macht des Staates zu tragen, der zweifelsohne als autokratisch charakterisiert werden kann. Dieser privilegierte Teil der Gesellschaft, die »freien Bürger«, also sozial höher gestellte Männer, sollen in der Muße für den Staatsdienst reifen und sich politisch betätigen. Aristoteles baut auf Platons Annahmen auf, wobei er das menschliche Leben in vier Phasen gliedert: Tätigkeit und Muße, Krieg und Frieden (vgl. De Grazia 1972: 57ff.). Ein Bürger besitze die Fähigkeit, sowohl ein tätiges Leben in Kriegszeiten zu führen als auch müßig im Frieden zu leben. Um ein gerechtes Leben zu führen, sei Weisheit nötig, die – wie Glückseligkeit – nur in der Muße zu finden sei. Aristo-
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teles verwendet das Wort »Muße« (scholƝ) synonym für »übrige Zeit« und »Freizeit«, aber verbindet damit auch politische Tätigkeit (1981, insbesondere Buch VII). Jedoch bedinge Muße eine Zeit frei von Verpflichtungen, für eine Aktivität um ihrer selbst willen. Arbeit ist für Aristoteles fast das Gegenteil von Muße. Die mühevolle Tätigkeit des größeren Teils der griechischen Bevölkerung, also der Sklaven und Handwerker, ist mit dem Begriff ponos verbunden. Dieses Wort meint »Mühe«, »Plage« (vgl. Zimmermann 2003: 22) und »Mühseligkeit im Sinne von ermüdender, fast schmerzhaft harter körperlicher Anstrengung« (De Grazia 1972: 58). »Als eine banausische Arbeit [...] hat man jene aufzufassen, die den Körper oder die Seele oder den Intellekt der Freigeborenen zum Umgang mit der Tugend und deren Ausübung untauglich macht. Darum nennen wir alle Handwerke banausisch, die den Körper in eine schlechte Verfassung bringen, und ebenso die Lohnarbeit. Denn sie machen das Denken unruhig und niedrig.« (Aristoteles 1981: 35–40)
Durch die Rezeption der Werke Platons, Aristoteles’ und auch Epikurs gelangt das Muße-Ideal in die römische Antike. Muße und Unmuße finden in den lateinischen Begriffen otium und negotium ihren Ausdruck. Otium ist eine Zeit der Ruhe, des Nichtstuns, der freien Zeit, des Studiums und literarischer Beschäftigung. Während Senecas Auffassung von otium nahe am Begriff der »Kontemplation« bleibt, wie ihn Aristoteles und Epikur verstehen, stellt Cicero (wie die meisten römischen Schriftsteller) otium und negotium als tätige und untätige Zeit klar gegenüber (vgl. De Grazia 1972: 64). Dies ist der wesentliche Unterschied zur griechischen scholƝ, da es hier einen Rückzug in ein Privatleben als Abgrenzung von den anstrengenden Staatsgeschäften geben kann. Diese Vorstellung lässt sich in der modernen Gegenüberstellung von Freizeit und Arbeitszeit wiederfinden. Kennzeichnend für die Antike ist eine Abwertung des Handwerks und der Lohnarbeit (vgl. Conze 1972: 155) sowie eine Differenzierung des Arbeitsbegriffs in »dumpfe Verrichtung« (Zimmermann 2003: 23), eine Tätigkeit, die dem Lebensunterhalt dient, und »schaffendes Handeln«, eine Kategorie, die Hannah Arendt im 20. Jahrhundert aufgreifen wird (siehe die Ausführungen zur Moderne). Die als körperliche Mühsal aufgefasste Arbeit bleibt hier denjenigen im Staate vorbehalten, die dem Nährstand angehören beziehungsweise ihre Arbeitsleistung zur eigenen Ernährung sowie der des Staates verausgaben müssen. Antrieb zu Arbeit, die die Gesellschaft nährt und reproduziert, ist in dieser Arbeitskultur einem spezifischen Stand zugewiesen, der von der politischen Steuerung sowie der Kontemplation ausgeschlossen ist. Ein der Arbeit innewohnender
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Selbstzweck, der auch der Identitätsbildung zuträglich sein kann, ist in der Antike eher an Muße und politische Betätigung gebunden, die meist nur dem privilegierten Teil der Bevölkerung zuteil werden. Die technische Entwicklung führt im Laufe der Zeit dazu, dass sehr viel weniger körperliche Arbeit erbracht werden muss, um die Menschen ernähren zu können. Dennoch kommt heute der Muße, Kontemplation und Nicht-Arbeit keine so hohe Bedeutung zu. Sie erfreut sich in Zeiten der entgrenzten Arbeit allerdings einer größeren Aufmerksamkeit: Muße, Müßiggang, Nichtstun oder die Sehnsucht nach Freizeit und Spaß werden zu Begrifflichkeiten, die in öffentlichen Diskursen verstärkt aufgegriffen werden oder Produkte interessanter erscheinen lassen sollen (wie etwa den Geschenkband Zeit schenken; vgl. Breckhoff 2009). In der Postmoderne würde die Vermittlung von Arbeit und Muße als Ort der gesellschaftlichen Sinndistribution bedeuten, dass eine nicht mit Muße vermittelte Arbeit ebenso sinnlos erscheint wie die arbeitsfreie Muße (vgl. Röttgers 2008: 181). 1.2 Arbeit im europäischen Mittelalter und der Renaissance Die Arbeitskultur im europäischen Mittelalter − der nächsten Station der Reise − ist, wie die der Antike, von einer abwertenden Arbeitsbeurteilung geprägt. Wiederum verrichten die niederen Stände (zumeist Leibeigene) das Gros der gesellschaftlich benötigten Tätigkeiten. Der vorbürgerlichen Gesellschaft mit ihren Standes- und Geschlechtergrenzen (wie schon bei Platon) ist soziale Immobilität eingeschrieben, das Leistungsprinzip im Sinne der Güterproduktion belanglos (vgl. Negt 2000: 9). Allerdings verändern sich die Konturen: Maßgeblich prägend ist nun die christliche Auffassung von Arbeit als Buße und Sühne für den Sündenfall (vgl. 1. Mose 2 und 3). So ist im Mittelalter die Episode der Verdammung zur Arbeit im Zyklus des Sündenfalls eines der beliebtesten Sujets mythisch-religiöser Darstellungen. Die Frau wird zu mühevoller Kindergeburt, der Mann zu anstrengender Feldarbeit verurteilt: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen« (1. Mose 3,19). Dem steht eine positive Arbeitskonnotation zur Seite, nach der der Mensch als Ebenbild Gottes durch Arbeit am Schöpfungswerk teilhat. Dieses widersprüchliche Verhältnis wird beispielsweise in Klöstern des Frühmittelalters deutlich. Dort wurde versucht, das Modell einer idealen Sozietät zu leben, die Arbeit als zentralen Bestandteil enthielt, wie in der das Arbeiten deutlich aufwertenden Benediktinerregel »ora et labora« vorgegeben. Mittels Handarbeit demonstriert der Mönch einerseits seine Buße und Demut, doch da die Arbeit in einer Vorbildfunktion für die Gesellschaft vollbracht wird, wird diese niedrige und erniedrigende Arbeit zugleich aufgewertet (vgl. Zimmermann 2003: 23). Begleitet wird
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Arbeit in diesem Verständnis auch von Muße, im Sinne der Kontemplation, die auch der transzendenten Öffnung diene. Als Gelehrte des Spätmittelalters sich vermehrt antiken Autoren zuwenden, wird das Muße-Ideal in gewisser Weise reaktiviert (vgl. Schmitz-Scherzer 1974; Tokarski 1985: 27). Scholia/ascholia und otium/negotium wird das Wortpaar vita contemplativa/vita activa zur Seite gestellt. Hinzu kommt ein spezifisches Arbeitsverständnis: Solange eine Tätigkeit innerhalb des eigenen Haushalts zum Zwecke der Eigenversorgung (oder der Versorgung anderer Mitglieder der Dorfgemeinschaft) mit lebensnotwendigen Gütern ausgeführt wird, gilt diese oft nicht als Arbeit im engeren Sinne. Arbeit und Leben beziehungsweise Freizeit gelten als Einheit, was sich in der praktisch nicht existenten Trennung von Arbeits- und Wohnräumen einerseits sowie privater und öffentlicher Sphäre andererseits widerspiegelt. Die mittelalterliche Güterproduktion wird in dieser Auffassung nicht als Arbeit verstanden, sie ist vielmehr »eine Betätigung lebendiger Menschen«, die sich in ihrem Werke ›ausleben‹, »der Bauer wie der Handwerker stehen hinter ihrem Erzeugnis; sie vertreten es mit Künstlerehre« (Sombart 1987: 37). Handwerker schaffen Werke – vorrangig ist für sie die soziale Anerkennung, nicht Reichtum. Es gilt das »Ideal des allseits gebildeten Produzenten« (Negt 1984: 43). Aus einer ganz auf die Kultur des Arbeitens beschränkten Sichtweise wird die Arbeit noch nicht in Beziehung zum Reichtumserwerb gesetzt, sie wird vielmehr als eine Notwendigkeit für diejenigen angesehen, die nichts als ihre Armeskraft zur Verfügung haben, während die herrschenden Stände das Privileg der Befreiung von der manuellen Arbeit genießen (vgl. Castel 2000: 151). Die christliche Glaubenslehre fordert eine Verachtung des persönlichen Gewinnstrebens. Für Güter, die auf dem Markt verkauft werden, soll das Prinzip des »gerechten Preises« gelten, der sich allein an der standesgemäßen Versorgung des Verkäufers orientiert; außerdem herrscht das ›kanonische Zinsverbot‹ der Kirche, sodass kaum Anreize zur Kreditvergabe bestehen, die wiederum die Produktion ausgeweitet hätten (vgl. Rachfahl 1978: 82). Dieses Wirtschaften sowie die oftmals überlebenssichernde gegenseitige Fürsorge der Unterschichten fasst der Wirtschaftshistoriker Edward P. Thompson unter dem Begriff der moralischen Ökonomie der Armen zusammen, die er als eine »geschlossene, traditionsbestimmte Auffassung von sozialen Normen und Verpflichtungen und von den angemessenen wirtschaftlichen Funktionen mehrerer Glieder innerhalb des Gemeinwesens« (1980: 69f.) charakterisiert. Verletzungen dieses ökonomischen Ehrenkodex, die letztlich eine existentielle Bedrohung darstellen, können zum Aufruhr führen.
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In dieser Arbeitskultur wird weltliche Arbeit zunächst als Lebenspflicht aufgefasst, Kirche und Glaube des Christentums sind Sinnstifter der Arbeit und verbinden sie mit Moral und Buße. Die Arbeitsmotivation geht also weit über die Sicherung der Reproduktion hinaus. Durch die von Max Weber beschriebene Entzauberung der Welt, nach der die Welt durch Rationalisierung, Wissenschaft und Technisierung statt durch »unberechenbare Mächte« (Weber 2002: 488) geprägt ist, scheint auch die christliche Verbindung der Buße mit der Arbeit an Bedeutung verloren zu haben. Im Zuge der gegenwärtigen Aktivierungspolitik zeigt sich jedoch wieder eine verstärkte Betonung des Dienstes für die Gemeinschaft, indem eine Arbeit aufgenommen wird. Auch die Trennung der Arbeits- und Wohnbereiche wird im Zeitalter der Telearbeit und des Home Office, für Wissensarbeiter und Selbstständige ohnehin, teilweise aufgehoben. Allerdings ist die Arbeit in der heutigen Zeit profaniert, während in der Reformation und Neuzeit die Arbeit als Gottesdienst und Dienst am Mitmenschen gesehen wurde. 1.3 Reformation, Neuzeit und der Weg in die Moderne In der Neuzeit erfährt die gesellschaftliche Prägung der Arbeitskultur eine grundlegende Wandlung. Mit der Ausdehnung des Fernhandels werden Handwerker im späten 15. Jahrhundert verstärkt abhängig von Verlegern (ähnlich den heutigen Unternehmern) und Kaufleuten. Gleichzeitig wächst mit der voranschreitenden Urbanisierung die Arbeitsteilung, die wiederum den Bedeutungszuwachs von Märkten bedingt. Durch die Erkenntnisfortschritte der Naturwissenschaften wandelt sich das Menschenbild vom Beherrschten zum Beherrscher und Gestalter der äußeren Natur.2 Die entscheidende Wende tritt in Europa jedoch mit der Reformation im 16. Jahrhundert ein: Arbeit steigt allmählich in der abendländischen Wertehierarchie auf. Martin Luther greift die vita contemplativa an, indem er die göttliche Berufung zum geistlichen Dienen auf eine von Gott gestellte berufliche Aufgabe im Diesseits ausdehnt. Die bis dato vorherrschende Begrenzung des Arbeitszweckes auf die Lebensreproduktion wird damit aufgehoben und arbeitendes Tätig-Sein aufgewertet. »Als die Hinwendung alles Irdischen zu Gott im frühneuzeitlichen Bewußtsein der Menschen langsam schwand, wurde die Muße ihrer transzendenten Legitimation beraubt, und diese Entwicklung führte dazu, daß nur noch das, was sichtbar Früchte trägt in dieser
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Auch wenn die Gestaltung der Natur durch den Menschen zu dieser Zeit in einen universellen Gottesbegriff eingebettet ist.
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Welt, als ›Gottesdienst‹ angesehen wurde. Das Muße-Ideal verwandelte sich in der Neuzeit langsam hin zu einem Arbeitsideal.« (Nahrstedt 1972: 291)
Aus Luthers Gleichstellung von vita activa und vita contemplativa geht nicht nur hervor, dass alle Christenmenschen arbeiten sollen, sondern auch ein spezifisches Berufsethos, das sich insbesondere bei puritanischen Religionsgemeinschaften manifestiert und über die longue durée (Braudel 1977) zur Berufspflicht wurde. Max Weber analysiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1920) eine dem Kapitalismus adäquate Persönlichkeitsstruktur der Handelnden. Erst die spezifische Arbeitskultur ermöglicht demzufolge die Vorherrschaft des rationalen Kapitalismus, der sich nicht allein aus materiellen Gegebenheiten speist. Das der traditionellen Ethik folgende Bedarfswirtschaftssystem wird von dem durch den Geist des Kapitalismus motivierte Erwerbswirtschaftssystem abgelöst, in dem Kapitalakkumulation jenseits der Bedarfsdeckung in den Vordergrund tritt (vgl. Weber 2005: 258). Die puritanischen Religionsgemeinschaften entwickeln Luthers Vorstellung von Arbeitsteilung weiter: Verstand Luther die Berufsgliederung noch als Teil des göttlichen Weltplanes, in dem jeder Mensch in seinem ihm zugedachten Berufsstand verharren sollte, so ist den puritanischen Gemeinschaften zufolge nicht Arbeit an sich, sondern rationale Berufsarbeit Gottes Verheißung – der Wechsel in einen Gott wohlgefälligeren Beruf ist dabei durchaus möglich. In der gewandelten Berufsethik wird Arbeit als Lebenszweck und Beruf als Berufung mit dem Ziel guter Berufserfüllung gesehen. Über die individuelle Arbeitsleistung soll die Selbstverherrlichung Gottes betrieben und der (Glaubens-)Gemeinschaft im Diesseits gedient werden. Der Mensch wird ›Sklave der Arbeit‹ um ihrer selbst willen (vgl. Rachfahl 1978: 60). Das Berufsethos umfasst ferner eine innerweltliche Askese: die Disziplinierung der Bedürfnisse, strebsame Arbeit und straffe Zeitökonomie – jede verlorene Minute der Arbeit für Gottes Ruhm ist eine Sünde. Nicht einzelne Taten, sondern eine Rationalisierung des lebenslänglichen Handelns (›Methode der ganzen Lebensführung‹ Weber 1920: 115–120) werde notwendig. So besteht, unabhängig vom Vermögensstand, eine Arbeitspflicht. Maßstab für den Wert einer Arbeit ist, wieweit sie gläubig dienend getan wird, nicht dagegen, was sie an Gewinn einbringt, auch nicht im Sinne des ›guten Werks‹ vor Gott (vgl. Conze 1972: 163). Die Wurzeln des asketischen Protestantismus liegen im Calvinismus, Pietismus, Methodismus und den aus der Täufer-Bewegung entstanden Gemeinschaften (vgl. Weber 1920: 84f.). Nach der calvinistischen Lehre der Gnadenwahl ist der Gläubige gänzlich machtlos und kann mit seinem Handeln nicht beeinflussen, ob er zur Seligkeit oder Verdammnis bestimmt ist. Die Prädestination
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ist dem menschlichen Geist verschlossen, und kirchlich-sakramentale Gnadenakte können die Vorherbestimmung nicht beeinflussen. Calvin verweist auf die Wichtigkeit, darauf zu vertrauen, dass man zu den Erwählten gehört. Mangelnde Selbstgewissheit des status gratiae folge aus unzulänglichem Glauben. An eine Verbindung zwischen Arbeit und Prädestinationslehre glauben erst die Nachfolger Calvins. Sie gehen davon aus, dass Selbstgewissheit einzig durch rastlose Berufsarbeit zu erlangen ist, da sie den Zweifel bezwinge und die Sicherheit des Gnadenstandes verleihe – denn wirtschaftlicher Erfolg sei das Zeichen des Auserwählten-Status. Glaube und Gnadenstand müssten in der Lebensführung erkennbar sein. Verdammung könne daran erkannt werden, dass Gott nicht allein seine Gnade, sondern ebenso weltliche Gaben – die Früchte der Arbeit – entziehe (Weber 1920: 90). Der Glaube müsse sich im weltlichen Berufsleben bewähren. Wirtschaftlicher Erfolg wird erstrebenswert, als Gotte Wille aufgefasst, dabei soll »triebhafter Habgier« mit Konsumverzicht begegnet werden, so Weber (ebd.: 190). Dem Berufsethos puritanischer Religionsgemeinschaften schreibt Weber die Wirkung zu, dass die Individuen sich den harten Arbeitsbedingungen unterwarfen, die den Beginn des Kapitalismus prägten − das Berufsethos entwickelt sich in der Folge zum ›Geist des Kapitalismus‹. Dieser fungiert als psychischer Habitus. Erst das simultane Auftreten der strukturellen Voraussetzungen der kapitalistischen Wirtschaftsform mit der psychologischen Triebkraft des kapitalistischen Geistes führe zur modernen kapitalistischen Kultur. So habe sich ein klassenübergreifendes Ethos entwickelt, das zur unternehmerischen Profitmaximierung führe, um mit dem eigenen Reichtum Gottes Ruhm zu mehren und um das Symptom der Erwählung durch den Erfolg zu erfahren (vgl. Seyfarth/Sprondel 1973: 215). Entscheidend ist, dass eine adäquate Rechtfertigungsnorm für kapitalistisches Wirtschaftshandeln aus der Prädestinationslehre hervorgeht. So verliert der Berufsmensch im Reichtumserwerb moralische Bedenken und erzielt religiös legitimiert Profite. Die zunächst von Akteuren der puritanischen Religionsgemeinschaften gelebte Vorstellung überträgt sich auf das aufstrebende Bürgertum; mit der Zeit gehen die religiösen Wurzeln verloren. Es folgt eine mechanische Orientierung am bürgerlichen Lebensstil (vgl. Korte/Schäfers 2000: 106), bis die Individuen in der Moderne allein aus wirtschaftlichem Kalkül arbeiten. Der kapitalistische Geist wird zur Handlungsnorm, die als elementaren Bestandteil rational-kalkulierte Berufsarbeit zum Zweck der Kapitalmehrung beinhaltet. Das Berufsethos mündet in eine Berufspflicht, die zur Norm individuellen Verhaltens wird. Zugunsten eines utilitaristischen Kalküls verliert das Berufsethos seine religiöse Basis und Moral, die Kapitalerwerb und Profitabilität mit der Nächsten-
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liebe verbinden wollten. Sittliches Leben und ökonomische Zwänge führen zu einem harten Konkurrenzkampf unter den Individuen der kapitalistischen Gesellschaft. Kern dieser Arbeitskultur ist die Rationalität des Wirtschaftens, die sich in asketischer Lebensweise, Zeitökonomie und wissenschaftlicher Analyse der Konjunktur äußert und in der menschliches Handeln zur Richtschnur wird – sich also in rationaler Arbeit verwirklicht. Der Antrieb zur Erwerbstätigkeit wurzelt in der religiös-motivierten guten Berufserfüllung als Dienst an Gott. Während die Säkularisierung des Denkens das Individuum aus religiösen Handlungssträngen befreit, schränkt der moderne Kapitalismus es wieder in seinen Handlungen ein: durch die moderne Bürokratie. So bringt der kapitalistische Geist die gesellschaftliche Organisation und Bürokratisierung als institutionelle Rationalität mit sich. 1.4 Die Moderne In der Moderne verändert die Arbeitskultur ihr Antlitz nochmals grundlegend. Hinzu tritt etwa der Werkcharakter der Erwerbstätigkeit: Durch die neuartigen industriellen Produktionsmethoden entfernt sich das arbeitende Subjekt tendenziell mehr von seinem Produkt. Bis in die 1980er Jahre intensiviert sich die Arbeitsteilung, und die Produktion industrieller Erzeugnisse unterliegt zahlreichen Wandlungen, für die die Regulationstheorien des Taylorismus, Fordismus, Toyotismus und Post-Fordismus stehen. Die von Frederick W. Taylor begründete »wissenschaftliche Betriebsführung« zielt darauf, die Produktivität mittels optimaler Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft zu steigern (Taylor 1995). Auf Grundlage der Analyse der Arbeitstätigkeit mittels Zeitmessung, Bewegungs- und Werkzeugstudien wird diese standardisiert und in beschleunigt durchführbare Schritte für den einzelnen Arbeiter zerlegt.3 Durch eine Arbeitszusammenführung unter der Leitung des Managements (zentralisierte und hierarchische Arbeitsorganisation) soll bei minimalem Zeiteinsatz die größtmögliche Ausnutzung von Maschinen und menschlicher Arbeitskraft erreicht werden. Die Methodik wird zunächst in den USA angewandt und setzt sich weltweit durch. Am Beginn des 20. Jahrhunderts wird Taylors betriebswirtschaftliche Lehre von Henry Ford umgesetzt, weshalb Antonio Gramsci die Periode, die durch den Rationalisierungsgewinn des Taylorismus
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Zur Konditionierung des menschlichen Körpers für die Arbeit durch den Tanz zu Beginn des 20. Jahrhunderts siehe den Beitrag von Julia Zupfer in diesem Band.
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geprägt ist, »Fordismus« nennt (vgl. Gramsci 1967). Ford führt die arbeitsteilige Fließbandproduktion ein und zahlt den Arbeitern vergleichsweise hohe Löhne – hiermit ist auch das »Normalarbeitsverhältnis« eng verbunden (Fuchs-Heinritz 1994: 208). So geht mit der Massenproduktion eine gewisse Verbürgerlichung des Lebensstils einher, denn durch die höheren Löhne kann mehr konsumiert werden. Frauen werden weitgehend in reproduktive Tätigkeiten zurückgedrängt (»hausfrauisiert«; vgl. Mies/Werlhof/Bennholdt-Thomsen 1983), was u.a. auf die überwiegend positiven Deutungen zu geschlechtlicher Arbeitsteilung in der Arbeitskultur zurückgeführt werden kann, allen voran in den neuen Produkten der Massenkultur wie Radio, Film und Fernsehen. Die Erwerbsarbeit führt zu einer immer sicherer erscheinenden Existenzsicherung und wird zu einem zunehmend selbstverständlichen Gut, zumindest in Nordamerika und Europa. Doch bis Mitte des 20. Jahrhunderts mehren sich die Forderungen nach Humanisierung und Demokratisierung der Arbeit. Die durch die beiden Ölkrisen ausgelöste Rezession offenbart zusätzlich Schwächen der einseitig auf Massenproduktion ausgerichteten Industrie, und der Fordismus gerät langfristig in die Krise. Unberührt bleibt zunächst die japanische Industrie, die ihre Arbeitsorganisation überwiegend an dem Autohersteller Toyota orientiert. Der Toyotismus ist geprägt von ›flexibler Spezialisierung‹: Die Arbeitsteilung ist gegenüber dem Taylorismus reduziert, die Produktion verläuft in Gruppen, die die Verantwortung für Planung, Arbeitsvorbereitung und Qualitätskontrolle übernehmen. Bei Toyota waren die Gruppen weitgehend an der Fertigung ganzer Fahrzeuge beteiligt. Dies steigert die Identifikation mit der Arbeit, und die Kreativität der Arbeiter wird zugleich für einen optimierten Fertigungsablauf verantwortlich gemacht. In der Moderne wird die Kultur des Erwerbs insbesondere durch funktionale Differenzierung (also Autonomie und Eigengesetzlichkeit des Teilsystems Wirtschaft gegenüber anderen Subsystemen), Rationalisierung (wie bei Weber angesprochen: Naturbeherrschung und Organisierung menschlicher Kapazitäten durch Wissenschaft) und Individualisierung (Herauslösung des Individuums aus Solidarverbänden mit der Verbreitung von Lohnarbeit und arbeitsteiliger Organisation der Produktion) geprägt (vgl. Schumm/Wilhelm 1991: 229f.). Ergänzend prognostiziert Daniel Bell eine Informations- und Wissensgesellschaft, in der die Mehrheit im Dienstleistungsbereich tätig sein wird und körperliche Arbeit immer mehr an kulturstiftender und volkswirtschaftlicher Bedeutung verliert (vgl. Bell 1989). Mit der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsstrukturen dehnt sich das Arbeitsprinzip auf das gesamte gesellschaftliche Leben aus. In dem expandierenden Einflussbereich von Arbeit vollzieht sich eine Disziplinierung und Selbstkontrolle, die klassisch von Norbert Elias und Michel Foucault analysiert wurde. Die angesprochenen Aspekte veranlassen u.a. Hannah Arendt, die Ge-
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sellschaft des 20. Jahrhunderts als »Arbeitsgesellschaft« zu charakterisieren. In den 1980er Jahren wird jedoch die Krise der Arbeitsgesellschaft postuliert: Neben den Toyotismus als betriebswirtschaftlicher Bewältigungsstrategie treten immer häufiger Prognosen der Auswirkungen von Informations- und Kommunikationstechnologien (Informatisierung der Arbeit), eines Wertewandels und einer neuen Freizeitkultur auf. Auch Ansprüche an die Qualität der Arbeit (Humanisierung des Arbeitslebens) sowie die voranschreitende Ersetzung lebendiger Arbeit (standardisierter, tayloristischer Bewegungsabläufe) durch Maschinen werden thematisiert. In diesem Kontext kommt die sozialwissenschaftliche Diskussion vom Ende der Arbeitsgesellschaft auf (vgl. Matthes 1983): Infolge von Rationalisierungsprozessen werde Erwerbsarbeit zu einem knappen Gut, und zukünftig seien anderweitige Einkommensquellen zu erschließen. Da Hannah Arendts Aufschlüsselung des Arbeitsbegriffs ein erkenntnisförderndes Analyseraster für diesen Prozess vor und nach der Krise der Arbeit bietet, soll im Folgenden mit Vita activa oder Vom tätigen Leben beantwortet werden, »[w]as wir tun, wenn wir tätig sind« (1996: 14), und was die Gesellschaft in die Krise führt. Für Arendt ist Arbeit ihrem Wesen nach von einer Paradoxie gekennzeichnet: Der arbeitende Mensch wird durch Automatisierung und Technisierung überflüssig, während gleichzeitig alles zu Arbeit wird (etwa Kontemplation, die einst höchste geistige Tätigkeit). Die Theoretikerin will dem ›modernen Arbeitsglauben‹ den Todesstoß geben und seinen Mythos über den Rückbezug auf die Antike durch Herstellen ersetzen. Die vita activa ist ihr zufolge von drei Grundtätigkeiten gekennzeichnet: Arbeit, Herstellen und Handeln (vgl. ebd.: 16ff.). Dabei versteht Arendt Arbeit als anthropologische Konstante: Sie sei Tätigkeit, die lebensnotwendige Verbrauchsgüter schafft und das Weiterleben der Gattung sichert (vgl. ebd.: 117). Während der arbeitende Mensch als Animal laborans der Natur verhaftet sei, stehe eine Stufe höher der Homo faber. Er könne eine künstliche eigene Welt schaffen, den Kreislauf des Entstehens und Vergehens durchbrechen. Im Herstellen werde dem »von der Natur abhängigen Wesen« (ebd.: 16) für sein begrenztes Leben Beständigkeit verliehen. Die höchste Tätigkeit sei die des Handelns, die in menschlicher Interaktion auftritt – ohne materielle Vermittlung. Mit dem Sichtbarwerden unter Menschen vollziehe das Individuum gewissermaßen eine zweite Geburt und leite einen Neuanfang ein, der den Raum menschlicher Freiheit eröffne.4
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In der klassischen Antike war Gesellschaft in die Bereiche Haushalt/Familie und Polis getrennt. In Ersterem, dem Oikos, wirkt Arbeit, die für die Versorgung und Ernährung
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Während in der Antike das Leben des Philosophen und später politisches Handeln das Ideal des Tätig-Seins darstellt, verdrängt das Herstellen mit Beginn der Neuzeit das Handeln. Durch den Einfluss der Arbeiterbewegung werden Unterschiede der drei Grundtätigkeiten nivelliert und gehen in einem allumfassenden Arbeitsbegriff auf, der von einem weitgehenden Verlust von Öffentlichkeit geprägt sei, so Arendt. Arbeit werde so vom Mittel zum eigentlichen Lebensinhalt. In der Moderne setze sich das Animal laborans durch und wirke auf Kosten des Menschen. Das Animal laborans sei angepasst, es »taucht in dem Strom des Lebensprozesses« unter und betäubt seine Empfindungen, um »reibungsloser ›funktionieren‹« zu können (ebd.: 327 und 410f.). Sein Wirk- und Lebensbereich seien Arbeit, Familie und Konsum, und es sei in seinen Bedürfnissen gefangen. Sein Leben sei durch ein ›allgemeines Unbehagen‹ gekennzeichnet. Woran diese Menschen leiden, »ist einfach das zutiefst gestörte Gleichgewicht zwischen Arbeit und Verzehr, zwischen Tätigsein und Ruhe, und dies Leiden verschärft sich dadurch, daß gerade das Animal laborans auf dem besteht, was es ›Glück‹ nennt [...], daß wir wirklich angefangen haben, in einer Arbeitsgesellschaft zu leben, die als eine Gesellschaft von Konsumenten nicht mehr genug Arbeit hat, um das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Konsum herzustellen und damit den arbeitenden und konsumierenden Massen das zu geben, was sie Glück nennen.« (Ebd.: 158)
Arendt zufolge ist die Arbeitsgesellschaft erschüttert, weil das Einzige ausgeht, auf das sich diese Gesellschaft versteht, während höhere Betätigungsformen nur aus der Überlieferung bekannt seien. Dementsprechend orientiert sich Arendts Vorstellung von Tätig-Sein an einem Ideal des von menschlicher Mühe unabhängigen Daseins. Neben diesem, der modernen Arbeitskultur gegenüber eher kritischen, existiert jedoch ein gegenläufiger Diskurs, der das Potential zur Selbstverwirklichung in der Arbeit betont: »Die Arbeit ist der Eckstein, auf dem die Welt ruht, sie ist die Wurzel unserer Selbstachtung« (Ford 1923: 140, zit. n. Engler 2005: 21). Ende der 1980er Jahre wird das »Ende der Arbeitsteilung« (Kern/Schumann 1984) in Aussicht gestellt. Zeitflexibilisierung soll den überwiegend starr regulierten Normalarbeitstag auflockern und die Arbeitszeit mit den Erfordernissen von Familie und Freizeit vereinbaren. Die Humanisierung der Arbeit soll eine stärkere Orientierung von Arbeitsplatz und -tätigkeit an den menschlichen Be-
benötigt wird. Dieser Raum ist Bedingung für den Arendt’schen Raum der Freiheit, die Polis, in der Bürger via Sprache und Handeln ihr Wesen herauskehren können.
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dürfnissen bewirken. Die Zwänge des Marktes sind nun durch eine identitätsstiftende Funktion von Arbeit überlagert: Es entwickeln sich Arbeitsbedürfnisse, da Arbeit das Selbstwertgefühl stabilisiere respektive erhöhe, und Erwerbsarbeit tritt als Zeugnis der individuellen und gesellschaftlichen Anerkennung auf. Richard Sennett konstatiert, dass zugleich Werte und Arbeitsformen ab der Mitte des 20. Jahrhunderts pluralistisch sind; langjährige Tätigkeiten an einem Arbeitsplatz oder in einer Berufssparte und damit der Fortbestand traditioneller Bindungen und Identitätselemente werden unwahrscheinlicher, und das Ideal des flexiblen Menschen entsteht (vgl. Sennett 1998). Dezentralisierung entgrenzt die Arbeitswelt, wie Manfred Moldaschl konstatiert (2003): Sie führt ferner zu einer Subjektivierung der Arbeit – der Wiederentdeckung des Subjekts unter geänderten Vorzeichen. Die Subjektivität der Arbeitenden soll stärker in Wertschöpfungsprozesse eingehen; somit verlagert sich die Problematik der Transformation von Arbeitskraft in Arbeit in den Aufgabenbereich des Beschäftigten selbst. In diesem Zusammenhang wird das Bedürfnis nach Anerkennung als Motivationsfaktor sowie identitätsstabilisierendes Element gesehen: »Der markanteste Zug des subjektiven Verhältnisses der Jugendlichen [und sicherlich auch der Erwachsenen] zur Erwerbsarbeit besteht in dem starken Rückbezug auf die eigene Emotionalität und Persönlichkeitsentfaltung, in der Offenheit, mit der sie ihr Bedürfnis nach Selbstdarstellung und -entwicklung auch in der Arbeit reklamieren.« (Baethge 1991: 262)
Martin Baethge behandelt hier die normative Subjektivierung und die Forderungen nach einer mit Freiräumen versehenen Erwerbstätigkeit. Doch die Modernisierung der Arbeitstätigkeit und neue Freiheiten ԟ wie Aufgabenintegration, Verantwortungsdelegation, Vertrauensarbeitszeit ԟ sowie steigende Qualifikationsanforderungen werden von den Sozialwissenschaften bald differenzierter betrachtet, denn die politisch-öffentlich recht eindimensional aufgefassten Kategorien von Freiheit, Selbstbestimmung und -entfaltung führen unter dem Stichwort »Subjektivierung« lediglich zu einer veränderten Balance von Autonomie und Herrschaft, von Freiheit und Zwang: »Die Möglichkeit, die eigene Subjektivität in den Arbeitsprozess einbringen zu können, bedeutet zugleich den Zwang, sie zu ökonomisieren, also die Subjektivität an den ökonomischen Zielen des Betriebes auszurichten und diese zu internalisieren. Subjektivierung zielt auf eine Aufhebung der Differenz zwischen Verwertungsinteressen und Arbeitskraftinteressen, doch die Interessen der Subjekte können nicht gänzlich ökonomisiert werden.« (Minssen 2006: 153)
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Diese Ambivalenz der Subjektivierung wird insbesondere im Typus des Arbeitskraftunternehmers (Pongratz/Voß 2003) deutlich, den eine erweiterte SelbstKontrolle, -Ökonomisierung sowie -Rationalisierung charakterisiert und dem Ergebnisse als Orientierung dienen, nicht die Arbeitsweisen.5 Erwerbsarbeit ist demzufolge sowohl für die soziale Anerkennung und Teilhabe als auch als Teil der Selbstkonstitution zentral. Dies gilt insbesondere für den Mann – zunehmend für die Frau. Frauen haben verstärkt Zugang zum Arbeitsmarkt und ihre Normalbiographie wird von Erwerbsarbeit geprägt (vgl. Voss/Warsewa 2006: 145f.). Anderweitige Lebensweisen oder Tätigkeiten, z.B. Ehrenamt oder Freizeitbeschäftigung, sind ihr nachgeordnet. Begleitet von einer Ökonomisierung, die alle Lebensbereiche umfasst, ist die Arbeitskultur im 20. Jahrhundert geprägt von einer zunehmenden Subjektivierung über neue Steuerungsformen von Arbeit, in der das Individuum sich selbst organisiert, möglichst flexibel den Anforderungen des Marktes gegenübersteht und sich der Freiraum für die Gestaltung des Lebens außerhalb der Arbeitswelt minimiert. Die Individuen sollen sich mit ihrer Erwerbstätigkeit identifizieren, sich als Unternehmer ihrer selbst optimieren, und ihre Individualität wird für den Wertschöpfungsprozess von Bedeutung. Ökonomisch entscheidend für die Qualität der Erwerbsarbeit ist jedoch nicht der Weg zum Ergebnis, sondern das Ergebnis selbst. Dennoch sind für das arbeitende Individuum nicht nur die Resultate der Arbeit von Bedeutung, denn in dem Produkt, dem Ergebnis, ist ja auch ein Stück ihrer selbst, ihrer Kreativität, ihres Wissens, ihrer Problemlösung, ihrer Individualität verankert, sodass der Antrieb zur Arbeit auch in vielen Bereichen durchaus als Selbstzweck verstanden werden kann.
2. K APITALISIERUNG DER A RBEIT − D AS V ERHÄLTNIS VON K ULTUR UND S TRUKTUR Wie die Reise durch verschiedene Kulturen der Arbeit zeigt, ist Erwerbsarbeit durch die gesellschaftlichen Konnotationen in der Neuzeit zu einem bedeutenden bis hin zum subjekt-bestimmenden Gegenstand geworden. Die Kultur des Erwerbs erklärt die individuelle Bereitschaft zur Arbeit jedoch nur zum Teil. Die Arbeitskulturen sind auch durch eine materielle Dimension bestimmt. Mit der
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Einen Überblick über die breite wissenschaftliche Debatte liefert Manfred Moldaschl (2010). Weitere Informationen über Entwicklungen der Destandardisierung von Beschäftigungsverhältnissen, der Prekarisierung und Flexibilisierung von Arbeit sowie der Subjektvierung und Intensivierung bietet etwa Rainer Trinczek (2011).
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materiellen Strukturebene stehen sie in einem wechselseitigen Spannungsverhältnis. Die oben ausgeführte Dominanz kann der Erwerbsarbeit nur in einer kapitalistischen Gesellschaft zuteilwerden, die menschliche Arbeit als Ware begreift. Karl Polanyi, der in seiner Untersuchung The Great Transformation (1977) den Wandel von Gesellschaftsordnungen vom 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts untersucht, sieht eine große Gefahr: den selbstregulierenden Markt. Der Marktmechanismus wird dabei als soziales Konstrukt aufgefasst, das als übergeordnetes Regulativ die Gesellschaftsstruktur prägt. Als sich selbst regulierendes System von Märkten gilt Polanyi die Marktwirtschaft, die idealtypisch ausschließlich über Marktpreise gesteuert wird. Volkswirtschaften können allerdings einen Markt (oder Tauschhandel) entwickeln, ohne vom Markt und seinen Gesetzmäßigkeiten grundlegend bestimmt zu werden (vgl. ebd.: 65). The Great Transformation vollzieht den Wandel von Gesellschaften nach, in denen wirtschaftliches Handeln in einen übergreifenden kulturellen Zusammenhang eingebettet war, bevor sie zum Typ der freien Marktwirtschaft übergingen. Während in erstgenannten Gesellschaften die Wirtschaftsordnung eine Funktion der Gesellschaftsordnung sei (vgl. ebd.: 98), also von dieser abhängig, kehre sich das Verhältnis in der freien Marktwirtschaft um. Alle übrigen sozialen und gesellschaftlichen Bereiche werden von der Ökonomie determiniert. In dem Moment, da sich ein selbstregulierendes System von Märkten mit den von ihnen benötigten wirtschaftlichen Institutionen herausgebildet habe (Entbettung der Ökonomie),6 bestimme dieses nicht nur das Wirtschaftshandeln, sondern alle gesellschaftlichen Sphären, da diese so gestaltet werden müssten, dass das System im Einklang mit seinen eigenen Gesetzen funktionieren kann. Die Selbstregulation des Marktes kann Polanyi zufolge (formuliert mit dem ihm eigenen Pathos) jedoch nicht aufrechterhalten werden, da dies die Gesellschaft zerstören würde (vgl. ebd.: 100). »Das System, das über die Arbeitskraft eines Menschen verfügt, würde gleichzeitig über die physische, psychologische und moralische Ganzheit ›Mensch‹ verfügen, der mit dem Etikett ›Arbeitskraft‹ versehen ist. […] Aber keine Gesellschaft könnte die Auswirkungen eines derartigen Systems grober Fiktionen auch nur kurze Zeit ertragen, wenn ihre menschliche und natürliche Substanz sowie ihre Wirtschaftsstruktur gegen das Wüten dieses teuflischen Mechanismus nicht geschützt würden.« (Ebd.)
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Unter »Entbettung der Ökonomie« versteht Karl Polanyi die Kapitalisierung von Arbeit und Boden. Die zuvor eher gebrauchswertorientierte Nutzung von menschlicher Arbeit und natürlichen Ressourcen werde in dem selbstregulierenden Markt stärker vernutzt (vgl. ebd.: 170).
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Entsprechend beobachtet Polanyi eine Gegenbewegung, die die Marktfreiheit in den Bereichen Arbeit und Boden einschränkt (vgl. ebd.: 170). Kollektive Sicherungssysteme wie die gesetzliche Arbeitslosenversicherung, aber auch Fabrikgesetze und Gewerkschaften, tragen dazu bei, einen sozialen Schutz zu installieren, der den »menschlichen Charakter« der Arbeit bewahre (ebd.: 226), indem Mobilität und Flexibilität der Arbeiter und ihrer Löhne (nach unten) begrenzt wird. Diese soziale Regulierung mindert die Gefährdung individuellen Lebens im Erwerbsausfall und erlaubt Zukunftsoptimismus und Vertrauen, da arbeitsmarktexterne Existenzsicherungspfade (Dekommodifizierung nach Esping-Andersen 1990) eine Pauperisierung verhindern, das Individuum in Marktbeziehungen schützen und vom Zwang, die Arbeitskraft zu vermarkten, zumindest teilund/oder zeitweise befreien. So kann es sich in Polanyis Verständnis auch beim heutigen ersten Arbeitsmarkt nicht um einen »freien Markt« handeln – wenngleich es sich um ein institutionalisiertes System von Regelungen für das komplexe Zusammenspiel von Auswahl- und Zuweisungsprozessen handelt, in dem Arbeitskräfte und -positionen ebenso wie »Lebenschancen« verteilt werden (Daheim/Schönbauer 1993: 132): Beispielsweise verläuft die Preisbildung nicht ausschließlich über den Markt; die Aushandlungsprozesse von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden und weitere staatliche Regelungen garantieren gewisse Rahmenbedingungen des Arbeitsverhältnisses. Engler zufolge resultiert der Markt sogar gerade aus einer bewussten Intervention der Regierung, die die Marktorganisation aus nichtökonomischen Gründen einführte (vgl. Engler 2005: 308) – wobei Opielka davon ausgeht, dass der Sieg der Arbeitsgesellschaft über die Verlohnarbeiterung (Claus Offe) nur durch den Wohlfahrtsstaat gelingen konnte (vgl. Opielka 2004: 69). Mit Rückgriff auf Polany (1977) können demnach die die Arbeitskulturen umgebenden Strukturen als ökonomische Systeme gedeutet werden, die je nach Ausweitung der ökonomischen Sphäre mit einer Kommodifizierung der Arbeitskraft einhergehen und als selbstregulierende Märkte beschrieben werden. Gerade aufgrund dieser Kapitalisierung von Arbeit opponieren Arbeitnehmer-orientierte Interessensgruppen und der Wohlfahrtsstaat7 um die Balance zwischen Arbeit und Leben. Die Träger der Modernisierungsidee und der Humanisierung der Arbeit führen jedoch einen Wandel der Arbeitswelt herbei, der durch die janusköpfigen Bedingungen gekennzeichnet ist, die für die Moderne beschrieben wurden: Die Wiederentdeckung des Subjekts beinhaltet einerseits die Freiheit, die Persönlichkeit in das Arbeitsverhältnis einzubringen, vermarktet jedoch auch
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Einblicke in künstlerische Repräsentationen eines an der Armutsverhinderung versagenden Wohlfahrtsstaates gibt Susanna Brogi (2012).
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die Persönlichkeit und zwingt dazu, die eigene Subjektivität an ökonomischen Zielen der Arbeitgeber-Institution auszurichten. Die arbeitsaffirmierende Kultur basiert auf einem spezifischen Subjektbild, das bereits die Arbeitskultur ab dem 18. Jahrhundert prägt und im Folgenden erläutert wird. Zentral für den Entstehungsprozess ist der mit dem Aufkommen des klassischen Liberalismus sich durchsetzende Imperativ der freien Arbeit (vgl. Castel 2000: 154f.). So stehen die angesprochenen Wandlungsprozesse in einem reziproken Verhältnis zum aufkommenden bürgerlichen Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts, der sich u.a. für die Anerkennung und den Schutz individueller Grundrechte und -freiheiten, Gleichheit vor dem Gesetz und Rechtssicherheit einsetzte. Mit naturrechtlicher Begründung setzt die Gesellschaft Recht. So wird dem Individuum größere Freiheit zugesprochen und zugleich genommen, denn es handelt sich gleichzeitig um eine Freiheit von stabilisierenden Elementen, so werden beispielsweise Armut und Fürsorge in die Verantwortung des Individuums verlagert. Die Vorstellung von Erwerbsarbeit birgt demzufolge einen Zwang und ein Versprechen. Dem Zwang, einer erwerbsförmig organisierten Tätigkeit nachzugehen, steht das Versprechen gegenüber, ansonsten in der Gesellschaft frei zu sein, wenn die Besitzrechte und weitere gesellschaftliche Normen gewahrt bleiben. Gemäß den liberalen Denktraditionen soll sich dem Individuum durch Freiheit die Welt erschließen. Dies geschehe über die Fähigkeit zur Arbeit, die nach Adam Smith − mit einigem rhetorischen Pathos − den Reichtum der Nation sichere: »Deshalb ist der Wert einer Ware für seinen Besitzer, der sie nicht selbst nutzen oder konsumieren, sondern gegen andere tauschen möchte, gleich der Menge Arbeit, die ihm ermöglicht, sie zu kaufen oder darüber zu verfügen. Arbeit ist demnach das wahre oder tatsächliche Maß für den Tauschwert aller Güter. […] Nicht mit Gold oder Silber, sondern mit Arbeit wurde aller Reichtum dieser Welt letztlich erworben.« (Smith 1776: 28, zit. n. Castel 2000: 154)
Freie Subjekte machen die politischen Lenkung einer Gesellschaft überflüssig, gemäß der ökonomischen Anthropologie, die auf J. Townsends Naturalismus und dem Bevölkerungswachstumsgesetz von Robert T. Malthus8 aufbaut: Die
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Malthus sieht die Ursache für den Pauperismus, der England Ende des 18. und im 19. Jahrhundert kennzeichnet, im rasanten Bevölkerungszuwachs, mit dem die Nahrungsmittelproduktion nicht standhalten konnte. Wenn die Bevölkerungszahl die Menge an produzierten Nahrungsmitteln überschreitet, komme es zur Anwendung der
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Gesellschaft divergiert in Besitzer von Eigentum und arbeitende Menschen. Ein ›Kräftegleichgewicht‹ werde durch die Begrenzung der zweiten Gruppe über die zur Verfügung stehenden Lebensmittel erreicht. Unter der Voraussetzung der Sicherung des Eigentums wird fortwährende Arbeit über Hunger gewährleistet (vgl. Polanyi 1977: 149ff.). An dieser Theorie zeigt sich offensichtlich die Problematik, die Karl Marx mit dem doppelt freien Lohnarbeiter aufzeigt, der insbesondere durch das Fehlen einer sozialen Absicherung zur Erwerbstätigkeit gezwungen ist und in sozialer Ungleichheit und Ausgrenzung agiert (vgl. Marx 1968: 742f.). In der klassischen ökonomischen Theorie wird menschliches Handeln also über das Naturgesetz des Hungers erklärt, wobei Smith zurückhaltender Selbsterhalt und Eigennutz vorbringt.9 Der wettbewerbsbestimmte Markt wird vom Homo oeconomicus getragen, der, in seinem Eigeninteresse handelnd, letztlich dem Wohle der Gemeinschaft dienen soll (invisible hand nach Smith). Über die Entfaltung der bürgerlichen Rechte und der unternehmerischen Freiheit wird ein Rechtssubjekt geschaffen, das seine Arbeitskraft frei verkauft – was eine Gesellschaft mit monetärem System und Bürokratie bedingt. Anhand einer Vertragsmatrix sollen die Individuen autonom handeln: »Diese positiven Vorrechte des Individualismus finden so auf Individuen Anwendung, denen die Freiheit vor allem in Gestalt eines als Mangel an Bindungen und die Autonomie nur in Form eines Mangels an Unterstützung begegnet.« (Castel 2000: 405) Die Vertragsstruktur beinhaltet Garantien für die freie und legale Vertragsschließung, jedoch keine soziale Sicherung, die über ein Kollektiv, unabhängig von den Vertragspartnern, gedeckt wäre. Obwohl der insbesondere durch die negativen Folgen der Vertragsordnung bedingte Pauperismus nicht alle Schichten erfasst, ist der Vertrag für Castel ein Beispiel der völligen Entsozialisierung (vgl. ebd.). In der weiteren Entwicklung der Arbeitsgesellschaft tritt eine Wende ein, und Prozesse der Entindividualisierung federn Risiken kollektiv ab. Die Sozialpolitik stützt die brüchige Struktur des Arbeitsvertrages und wirkt der Freiheit der Unternehmen entgegen, um diese Folgen der Individualität zu mildern.
»preventive checks« (Förderung der Verhütung, Verehelichungsbeschränkungen) oder zur Wirkung der »positive checks« (Hungersnöte, Armut, Seuchen). Nach dem Absinken der Bevölkerungszahl beginne der Kreislauf erneut (Malthus 2004: 17ff.). 9
David Ricardos Weiterentwicklung der klassischen ökonomischen Theorie führt nach Polanyi zu einer künstlichen Trennung von ökonomischer und sozialer Ordnung, die die Eigengesetzlichkeit des autonomen Wirtschaftssystems bewirkt.
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So ist der modernen Arbeitskultur der Weg geebnet, in der ein rechtlich freies Individuum, in ein kollektives Sicherungssystem zur Reproduktion seiner Arbeitskraft eingebunden, seinen Erwerb bestreitet. Als rechtlich freies Subjekt kann es angerufen werden, im Sinne der Weber’schen Methode der ganzen Lebensführung sich wie das Bröckling’sche unternehmerischem Selbst unaufhörlich zu optimieren und seine Individualität und Kreativität in den Wertschöpfungsprozess einzuspeisen. »Als ›Kunde seiner selbst‹ ist er sein eigener König, ein Wesen mit Bedürfnissen, die vom ›Lieferanten seiner selbst‹ erkannt und befriedigt werden wollen.« (Bröckling 2007: 66) Damit präsentiert und reproduziert das unternehmerische Selbst die subjektivierte Arbeitskultur. Das Individuum identifiziert sich mit dem Produkt seiner Erwerbstätigkeit und individualisiert die eigene Position auf dem Markt. Doch bedeutend ist nicht nur der Marktwert des Produktes, sondern auch die soziale Anerkennung, da das Arbeitsergebnis auch als Werkstück seiner selbst verstanden werden kann.
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Über die verschiedenen Entwicklungsstationen der Erwerbskulturen wurde die Hinwendung zu einem positiven Arbeitsbezug dargestellt. Die weiteren Stationen dieser Reise durch die Arbeitskulturen sind offen, da gegenwärtig die soziale Sicherheit und das Wohlstandsversprechen für Erwerbstätige an entscheidenden Stellen Einschränkungen erfahren. Denn entgegen dem in dieser Arbeitskultur zentralen Erwerbsarbeitsprimat befindet sich (nicht nur) die deutsche Gesellschaft mit dem Auslaufen des langen fordistischen Nachkriegsbooms in einer Krise – seit Anfang der 1980er Jahre zeigt die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit in Europa ein ökonomisches Ungleichgewicht zwischen Wachstum, Produktivität und Arbeitsmarkt. Nun stellt sich auch das Phänomen des »Jobless Growth« ein, denn trotz wirtschaftlicher Prosperität werden zu wenige Stellen geschaffen und mehr Arbeitskräfte ›freigesetzt‹. In Deutschland steigt der Anteil der Niedriglohnbeschäftigung sowie prekärer Erwerbstätigkeit (vgl. Kalina/Weinkopf 2013; Promberger 2012) und der Anteil von Personen, die ihre Erwerbstätigkeit über sozialstaatliche Leistungen aufstocken müssen (vgl. Achatz et al. 2012; Bruckmeier/Graf/Rudolpf 2007). Doch in der zeitgenössischen Bundesrepublik wird als übergeordnetes arbeitsmarktpolitisches Ziel die (Wieder-)Herstellung der »Arbeitsgesellschaft« (Opielka 2004: 86ff.) angestrebt, eine Gesellschaft, deren Wohlstandssicherung auf dem Erwerbsprinzip basiert und in dem kollektive Sicherungssysteme verhindern sollen, dass bei Ausfall der Erwerbstätigkeit die Reproduktion individuellen Lebens in Frage gestellt wird. Allerdings verliert
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Castel zufolge genau jene um Arbeit gewobene Regulierung ihre integrierende Kraft und in der postindustriellen Gesellschaft entsteht so eine neue Verwundbarkeit durch das Ausfransen der Absicherungen (vgl. Castel 2000: 29f.).
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Arbeit und Nichtarbeit in der Literatur Texte dreier Jahrhundertwenden T HORSTEN U NGER
Das alte Thema ›Arbeit‹ ist auf neue Weise in die Literatur zurückgekehrt. Hatte die Literatur der Arbeitswelt in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts industrielle Arbeitsbedingungen in den Mittelpunkt gerückt, die Maloche am Fließband und die Organisation von Streiks, so zeigen Romane und Bühnenstücke der letzten fünfzehn Jahre vermehrt Menschen in Führungspositionen. Leitende Angestellte, Manager, Selbstständige repräsentieren die ›postindustrielle‹ Arbeitswelt und die Diskurse der New Economy und des New Management. Die ›Ich-AG‹ ist im literarischen Feld angekommen, und zwar nicht nur als Gegenstand der Literatur. Vielmehr eignet sich dieses Stichwort auch, um die Existenzweise eines beträchtlichen Teils junger und älterer Literaten im angebrochenen 21. Jahrhundert zu bezeichnen. Im Sinne einer Historisierung gegenwärtiger Debatten steht in diesem Beitrag jedoch die Vergangenheit im Zentrum. Wie behandelte die Literatur früherer Jahrhunderte den Wertkomplex der Arbeit? Was ist dort über verschiedene Formen von Nichtarbeit, über Faulheit, Müßiggang, Arbeitslosigkeit zu lesen? Welche habituellen Einstellungen zur Arbeit haben die Jahrhunderte überdauert? Diesen Fragen wird anhand von ausgewählten Textbeispielen aus der Zeit um 1800 und um 1900 nachgegangen; ein Ausblick führt am Schluss in die Gegenwart um 2000. Arbeitsgeschichtlich stehen diese Schnitte in Deutschland 1800 für die spätfeudalistische Zeit einer in Gang kommenden industriellen Entwicklung im Zeichen der Kohle, der Dampfmaschine und der Manufakturen, 1900 für die Zeit der zweiten industriellen Revolution im Zeichen von Öl, Elektromotoren und der Rationalisierung nach Prinzipien Taylors und Fords sowie 2000 für die Zeit der dritten industriellen Revolution im Zeichen der Computertechnologie und einer Fabrik ohne Arbeiter.
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1. A RBEIT
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UM
1800
Im Jahrhundert der Aufklärung griffen die bürgerlichen Sozialschichten, die auch Träger der Literatur und des sich ausdifferenzierenden literarischen Marktes waren, das Konzept der Arbeit emanzipatorisch auf und setzten es zur Stärkung der eigenen, zunehmend über Leistung definierten Position gegenüber dem Adel ein. »Arbeit ist des Bürgers Zierde«, dichtete Friedrich Schiller (1759– 1805) und meint damit keineswegs ein akzidentelles Ornament; vielmehr bezeichnet »Zierde« hier sowohl das, was dem Bürger pflichtgemäß zukommt, was sein Wohlergehen und seinen Wohlstand befördert, als auch das, was ihn ehrt, was er im positiven Sinne als Grundlage seiner gesellschaftlichen Identität ansehen kann: »Arbeit ist des Bürgers Zierde, Segen ist der Mühe Preis, Ehrt den König seine Würde, Ehret uns der Hände Fleiß.« (Schiller [1800] 1987: 439, V. 318–321)
Das Lied von der Glocke erschien erstmals im Musenalmanach exakt des Jahres 1800. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein lernten Generationen von Schülerinnen und Schülern Schillers Verse auswendig; das Gedicht trug so ein Mosaiksteinchen bei zur Verinnerlichung eines positiven Habitus im Feld der Arbeit. Dieser ist bei Schiller mit einem klaren gendering verbunden, denn die Rede ist sowohl von Berufsarbeit des Mannes, die auf Erwerb ausgerichtet ist, als auch von Arbeitsleistungen im bürgerlichen Haushalt und bei der Erziehung der Kinder, die von der Frau erwartet werden: »Der Mann muß hinaus Ins feindliche Leben, Muß wirken und streben Und pflanzen und schaffen Erlisten, erraffen, Muß wetten und wagen, Das Glück zu erjagen. […] Und drinnen waltet Die züchtige Hausfrau, Die Mutter der Kinder, Und herrschet weise Im häuslichen Kreise,
A RBEIT
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Und lehret die Mädchen Und wehret den Knaben, Und reget ohn Ende Die fleißigen Hände, Und mehrt den Gewinn Mit ordnendem Sinn.« (Ebd.: 432f., V. 106–126)
Damit konnte Schillers Lied von der Glocke in den Schulen auch für die Geschlechtererziehung eingesetzt werden. Doch mögen gerade diese Inhalte dazu beigetragen haben, dass Deutschdidaktiker des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts das Gedicht nicht mehr für zeitgemäß hielten, sodass es seit den siebziger Jahren im schulischen Lektürekanon in den Hintergrund trat.1 Wenn das 18. Jahrhundert in seinen Schriften eine positive Einstellung zur Berufsarbeit verbreitete, so konnte es an Weichenstellungen der Reformationszeit anschließen, denn diese bildet vor der Aufklärung die wichtigste Etappe auf dem Weg zu einer Neubewertung des vorher eher negativ besetzten Begriffs. Wie nämlich schon das mittelhochdeutsche Wörterbuch arbeit, arebeit mit »mühe, mühsal, not die man leidet od. freiwillig übernimmt«, übersetzt (Lexer 1983: 7), so war Arbeit in den Jahrhunderten vor der Reformation nicht gut angesehen.2 Im mittelalterlichen Mönchtum blieb sie als vita activa klar der kontemplativen Lebensweise, der vita contemplativa, untergeordnet; Letztere aber galt als Königsweg zum Heil. Auch in der bekannten Benediktinerregel ›ora et labora‹ sollte Arbeit lediglich die demütige Haltung des Mönchs unter Beweis stellen (vgl. Vontobel 1946: 5). Für alle Menschen führte indes Thomas von Aquin (ca. 1225–1274) als wesentliche Funktionen der Arbeit neben der Beschaffung von Nahrung die Beseitigung des Müßiggangs und die Zähmung des Leibes an (vgl. Conze 1972: 162). Solch asketische Funktionszuweisungen finden sich auch noch bei Martin Luther (1483–1546). Entscheidend für seine positive Neubewertung ist aber die besondere sittliche Würde, die Arbeit in der reformatorischen Theologie bekommt: Als Berufsarbeit ist sie unmittelbar Dienst am Nächsten und geradezu Gottesdienst. Demgegenüber ist das kontemplative Leben der Mönche dem tätigen Leben nicht mehr übergeordnet. Ohnehin zählt
1
Zum Thema Arbeit in der Literatur der Weimarer Klassik vgl. weiterführend Berghahn/Müller (1979) und Buschinger (1986). Zu dem ergiebigen Forschungsfeld ›Arbeit und Geschlechterrollen‹, das hier mit Schillers Lied von der Glocke lediglich angerissen sei, vgl. aus historischer Perspektive orientierend und mit weiterführender Literatur Hausen (2000).
2
Vgl. zur Geschichte des Arbeitsbegriffs seit der Antike Conze (1972).
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im Verhältnis zu Gott allein der Glaube. Ansonsten sind alle Menschen zu einer Berufsarbeit aufgefordert, die als praktische Nächstenliebe gelten kann und insofern Gott wohlgefällig ist. Dabei sind alle Berufe vor Gott gleichwertig, auch kirchliche Tätigkeiten sind schlichte Funktionen im Dienst am Nächsten und nicht mehr wert als andere Berufe. Jedem Menschen gleich welchen Standes sei eben »sein besonderes Werk zu eigen gegeben«, heißt es in Luthers Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation (Luther [1520] 1990: 44f.): »Ein Schuster, ein Schmied, ein Bauer, ein jeglicher hat seines Handwerks Amt und Werk, und dennoch sind sie alle gleich geweihte Priester und Bischöfe, und ein jeglicher soll mit seinem Amt oder Werk den anderen nützlich und dienstlich sein […].« (Ebd.: 17). Auch wenn diese berufsethischen Überlegungen an den Arbeitsbedingungen des spätmittelalterlichen Handwerks und dem festen Gefüge einer ständisch gegliederten Gesellschaft orientiert sind, worin der durch Geburt bestimmte Berufsstand kaum zu verändern war, bedeutet Luthers Position für die Alltagsarbeit der niederen Stände doch eine beachtliche Aufwertung.3 Hieran konnte die Aufklärung unter säkularen Vorzeichen mit innerweltlichen Begründungen anschließen, wie sich anhand von Joachim Heinrich Campes (1746–1818) Vorlesebuch Robinson der Jüngere von 1779 zeigen lässt. Das Beispiel eignet sich gut, weil es den literarischen mit dem pädagogischen Diskurs verbindet.4 Campe arbeitete nach dem Studium der Evangelischen Theologie und einer Tätigkeit als Hauslehrer und Prediger ab 1776 für einige Jahre am von Johann Bernhard Basedow (1724–1790) gegründeten Philanthropinum in Dessau, Erziehungsanstalt, Reformschule und zugleich Ausbildungsstätte für Lehrer. Die an dieser einflussreichen Einrichtung tätigen Philanthropen setzten auf die Entfaltung der natürlichen Anlagen des Kindes durch eine praktische, weltorientierte Erziehung im Geiste der Vernunft. Eine große Rolle spielte hierbei eine positive Arbeitsorientierung, sodass der Philanthropismus nach der Reformation als zweite wichtige Bewegung angesehen werden kann, die im Diskurs über Arbeit einen entscheidenden Schub hin zu einem positiven Arbeitsverständnis gebracht hat.
3
Vgl. zur Bewertung der lutherischen Position Vontobel (1946: 7) sowie Conze (1972:
4
Bei der Besprechung von Campes Robinson greife ich auf die vorzügliche Untersu-
166). chung von Koller (1991) zurück. Vgl. auch Blödorn (2006) und Schönert [1989] (2007) sowie zu Parallelen zwischen Campe und dem Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten Konzept der Arbeitsschule des Reformpädagogen Georg Kerschensteiner (1854–1932) Unger (2004: 58–61).
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Hans-Christoph Koller konstatiert für die philanthropische Perspektive sechs wesentliche Aspekte des Wertes der Arbeit: 1.) in anthropologischer Hinsicht werde Arbeit nicht als äußere Pflicht, sondern als inneres Bedürfnis gegen die Langeweile gesehen; 2.) in pragmatischer Hinsicht sei Arbeit zur Sicherung des Lebensunterhalts notwendig; 3.) in sozialer Hinsicht ermögliche Arbeit Wohltätigkeit im Gemeinwesen; 4.) in moralischer Hinsicht sei Arbeitsamkeit eine Tugend und bewahre vor Lastern; 5.) in medizinischer Hinsicht fördere Arbeit die Gesundheit; 6.) und in pädagogischer Hinsicht lassen sich durch Arbeit gesellschaftlich notwendige Kenntnisse vermitteln (vgl. Koller 1991: 42–46). Diese Aspekte sind in Robinson der Jüngere präsent. Denn Campe übersetzt hier nicht einfach die Vorlage von Daniel Defoe, The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe von 1719; schließlich gab es bereits mehrere Übersetzungen sowie diverse »Robinsonaden«, Romane also, die das Defoe’sche Erzählschema aufnahmen: Schiffbruch, Leben auf einsamer Insel, utopische Idealgesellschaft (vgl. Stach/Gädeke-Schmidt 1991; Fohrmann 1981; Kayser 2004). Campe macht daraus vielmehr einen durch und durch pädagogischen Text (vgl. hierzu auch Fertig 1977). Dazu schafft er zunächst einen Erzählrahmen und verlegt Robinsons Geschichte in die Binnenerzählung. Bei Defoe fungierte Robinson selbst als homodiegetischer Ich-Erzähler, der seine eigenen Erlebnisse schilderte. Campe konstruiert dagegen eine Rahmenhandlung und setzt einen Familienvater ein, der als heterodiegetischer Erzähler seinen Kindern Robinsons Erlebnisse und Reflexionen nahebringt. Dabei unterbricht der Vater die Erzählung immer wieder, um die Kinder ihre Einsichten und Bewertungen formulieren zu lassen, und hält sich auch selbst nicht mit Kommentaren zurück. Campe erzählt also nicht einfach Robinson, sondern er führt vor, wie man Robinson so erzählt, dass Kinder und Erwachsene möglichst viel daraus lernen können. Zu den wesentlichen Lerninhalten gehören ein positives Verhältnis zur Arbeit und ein konsequentes Vermeiden des Müßiggangs. Eine solche Arbeitseinstellung sollen die Kinder als Habitus ausprägen. Dazu gehört es bereits, dass sie an diesen Erzählabenden beim Zuhören nicht die Hände in den Schoß legen, sondern nebenbei einige einfache Arbeiten übernehmen: »Vater. Aber, was denkt ihr denn zu machen unter der Zeit, daß ich euch erzäle? So ganz müssig werdet ihr doch wohl nicht gern da sizzen wollen? Johannes. Ja, wenn wir nur was zu machen hätten! Mutter. Hier sind Erbsen auszukrüllen! Hier türksche Bonen abzustreifen; wer hat Lust? Alle. Ich! ich! ich! ich! Gotlieb. Ich, und meine Lotte und du, Fritzchen, wollen Erbsen auskrüllen: nicht?
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Lotte. Nein, mit Erlaubniß, ich muß erst den Kettenstich machen, den Mutter mir gezeigt hat.« (Campe [1779/80] 1981: 20)
Indem die Kinder Erbsen auskrüllen oder einen Kettenstich sticken, vermeiden sie Müßiggang und setzen ganz im Sinne der Philanthropen direkt handwerklich um, was ihnen kognitiv als positive Arbeitshaltung vermittelt wird. Dazu gehört die Einsicht, dass Arbeit die Aneignung notwendiger Lebenstechniken ermöglicht und zur umfassenden Bildung beiträgt. So erklärt Campes Familienvater den Bildungseffekt technischer Entwicklungen zur Bedürfnisbefriedigung: »Diesen Bedürfnissen also haben wir es zu verdanken, daß wir klug und verständig werden. Denn wenn uns die gebratenen Tauben in den Mund flögen; wenn Häuser, Betten, Kleider, Speise und Trank und alles Andere, was wir zur Erhaltung und zur Bequemlichkeit des Lebens nöthig haben, so ganz von selbst und schon ganz fertig aus der Erde hervorwüchsen; so würden wir sicherlich weiter nichts thun, als essen, trinken und schlafen; und dan würden wir bis an unsern Tod so dum bleiben, als das liebe Vieh.« (Ebd.: 61)
Gängige Schlaraffenland-Vorstellungen (vgl. hierzu Richter 1984: 39–42, 174f.) illustrieren hier eine müßiggängerische Lebensweise, verlieren unter Bildungsaspekten aber ihren Reiz: Wer nicht arbeitet, bleibt dumm. Als Verstehenshintergrund ist dabei noch einmal an die identitätsstiftende Funktion von Arbeit zur Emanzipation des Bürgertums vom Adel zu erinnern. Wer Müßiggang pflegt und lediglich isst, trinkt und schläft, wie man es Aristokraten nachsagt, muss sich einen Vergleich mit dem lieben Vieh gefallen lassen. Je stärker indessen der identitätsstiftende Faktor ins Gewicht fällt, desto mehr gewinnt die Arbeit für die Angehörigen des Bürgertums auch einen verpflichtenden Charakter. Für den aber, der zur Arbeit verpflichtet ist, ist es hilfreich, zusätzlich der Meinung zu sein, er werde durch Arbeit klug. Als weiteren positiven und zur Arbeit motivierenden Aspekt stellt Campe die Arbeitsfreude heraus. Zwingt die Regenzeit zum Nichtstun, leidet Robinson auf seiner Insel an Langeweile: »Nichts zu thun zu haben, und ganz allein zu sein – Kinder, was das für ein Leiden sei, davon habt ihr noch gar keine Vorstellung!« (Campe [1779/80] 1981: 142f.), kommentiert der Familienvater. Arbeit, worunter bei Campe vornehmlich die handwerkliche Herstellung von Gegenständen zur Meisterung des Alltags verstanden wird, gibt Robinson dagegen das Gefühl innerer Ausgeglichenheit:
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»So oft ihm eine solche neue Arbeit glükte, hatte er eine unaussprechliche Freude darüber; und dan pflegte er zu sich selbst zu sagen: was bin ich doch in meiner Jugend für ein grosser Nar gewesen, daß ich meine meiste Zeit mit Müssiggang zubrachte!« (Ebd.: 71)
Die schon im Mittelalter und bei Luther zu findende scharfe Entgegensetzung von Arbeit und Müßiggang ist in Campes Robinson durchgehend präsent. An einer späteren Stelle wird Müßiggang auch von einem der Kinder ausdrücklich verworfen: »Wenn man nichts zu thun hat«, weiß der kleine Johannes, »so fält einem lauter dum Zeug ein!« (Ebd.: 169f.) Es stellt sich die Frage, warum die Philanthropen so sehr gegen den Müßiggang ins Feld zogen. Hierzu ist einzuschieben, dass Müßiggang auch in dieser Zeit nicht das gleiche ist wie Muße. Johann Christoph Adelungs (1732–1806) Wörterbuch von 1798 definiert Muße als »die von ordentlichen Beschäftigungen, von Berufsgeschäften übrige oder freye Zeit [...]. Ingleichen die völlige Freyheit von allen pflichtmäßigen Beschäftigungen.« ([1798] 1990: Sp. 328) Muße bedeutet also nicht Untätigkeit, sondern vielmehr die Möglichkeit, frei zwischen Untätigkeit und Tätigkeit wählen zu können, ohne zu der gewählten Tätigkeit verpflichtet zu sein. Seit alters her ist man der Auffassung, dass Muße etwa zur Produktion von Kunst erforderlich sei. Schon Aristoteles (384–322 v.Chr.) nennt in der Nikomachischen Ethik Muße eine Voraussetzung für menschliches Glück, das er mit ›Tätigsein des Geistes‹, das nach keinem außerhalb gelegenen Ziele strebt, und mit ›Selbstgenügsamkeit‹ genauer beschreibt (vgl. 2003: 289f.). Als »Müßiggang« bezeichnet Adelung demgegenüber »die unthätige Unterlassung der pflichtmäßigen Arbeit, und in engerm Verstande, die Fertigkeit dieser Unterlassung« ([1798] 1990: Sp. 330). Um Müßiggang handelt es sich demnach, wenn man nicht arbeitet, obwohl man arbeiten müsste. Der Hinweis auf die Fertigkeit dieser Unterlassung verweist auf die Gefahr, eine müßiggängerische Lebensweise zu einem Habitus auszuprägen. Robinsons Müßiggang während der Regenzeit unterliegt dieser Gefahr keineswegs und wäre allenfalls eine Form von erzwungenem Müßiggang; dass er sich Beschäftigungen sucht, um nicht untätig sein zu müssen, ließe sich besser als Tätigkeit in der Muße fassen. Dass dies bei Campe trotzdem unter der Kategorie des Müßiggangs abgehandelt wird, zeigt, dass es zur gewünschten Arbeitshaltung gehört, sich durchgehend zur Arbeit verpflichtet zu fühlen, um der Gefahr des Müßiggangs aktiv zu widerstehen. Es gibt immer etwas zu tun, ist die Einsicht, die den Kindern an Robinsons Beispiel vorgeführt wird. Diese Haltung steht im Geist einer aufklärerischen Ökonomisierung und ist auch staatswirtschaftlich erwünscht. In ihrer Untersuchung bürgerlicher Trauerspiele zeigt Margit Fiederer im Rekurs auf ökonomische Schriften des 18. Jahrhunderts, wie
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hier der Müßiggang im »schärfsten Kontrast zu den ökonomischen Tugenden, besonders zur Pflicht der Arbeitsamkeit«, gesehen wird, weil er als ›unwirtschaftliches Laster‹ die Verbesserung des allgemeinen Wohlstands hemmt (2002: 293–322, bes. 307). Argumente gegen den Müßiggang finden sich also nicht nur im moralischen, sondern auch im zeitgenössischen ökonomischen Diskurs. Damit ist aber noch nicht Johannes’ Bemerkung zum Thema Müßiggang erklärt, dass einem lauter dummes Zeug einfalle. Was den Müßiggang für Kinder und Jugendliche so gefährlich macht, lässt sich indes aus der ›Seelenkunde‹ des 18. Jahrhunderts beleuchten, also aus dem psychologisch-pädagogischen Diskurs. Mitte der achtziger Jahre wurde von Campe eine Preisfrage zu dem Thema ausgeschrieben: »Wie man Kinder und junge Leute vor dem Leib und Seele verwüstenden Laster der Unzucht überhaupt und der Selbstschwächung insonderheit verwahren, oder, dafern sie schon angesteckt seyn sollten, wie man sie davon heilen könne?« Mit dem ersten Preis wurde Johann Friedrich Oest (1755– 1815) für seinen Aufsatz ausgezeichnet, der 1787 erschien und häufig nachgedruckt wurde. Darin heißt es: »Arbeit schreckt ab, weil sie leicht ermüdet. Müßiggang und Nichtsthun gewinnen Reize. Bei weniger zerstreuender Arbeit nimmt immer die Sinnlichkeit zu und die Einbildungskraft ist nie geschäftiger, als wenn man müßig ist. Nun sind Schritte zu allen Lastern leicht möglich, aber zu keinem leichter, als zum Misbrauch des Erzeugungstriebes. Er wird am leichtesten rege, bekömmt leicht Nahrung und es sind der Wege so viel, ihn auf gewisse Art zu befriedigen! Jede wollüstige Vorstellung thut ihm schon zum Theil Gnüge. Ein unthätiger Mensch kann also zu keiner Zeit von sinnlichem Vergnügen mit wenigerer Mühe gelangen. Er braucht sich wenig darum aus der Stelle bewegen. Die ihm, beim Mangel andrer Beschäftigungen, durch seine desto stärker beschäftigte Einbildungskraft sehr nahe liegende Befriedigungsart, die unter dem Namen der Selbstschwächung bekannt ist, kann bei einem sehr geringen Maaße körperlicher Kräfte statt finden. Und sie wird es um so mehr, je weniger zu andern zerstreuenden Beschäftigungen Gelegenheit oder Vorrath an Kräften da ist. Müßiggang und Unthätigkeit war immer die ersten Quelle zur Unkeuschheit.« ([1787] 1991: 71f.)
Im Umkreis der Philanthropen fürchtet man also, dass Müßiggang die Selbstbefriedigung befördere. Wer sich dagegen mit einer Handarbeit beschäftigt, läuft nicht Gefahr, die Hände anderweitig einzusetzen. Werfen wir von hier aus einen Blick auf eine Gegenposition, die wenig später in der Zeit der Frühromantik formuliert wird, nämlich von Friedrich Schlegel (1772–1829) in seinem 1799 erschienenen Romanfragment Lucinde. Als Roman
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über den Roman kann man diesen Text lesen, als Schlegels Versuch, seine eigene Romantheorie geistreich umzusetzen (vgl. Dischner 1980: 29–31; Fuest 2008: 57). In 13 Kapiteln wechseln Briefpassagen, eine dithyrambische Phantasie, eine Allegorie über die Frechheit, Metamorphosen und Tändeleien einander ab. Inhaltlich geht es um die Körper und Seele gleichermaßen umfassende Liebe des Protagonisten Julius zu Lucinde, die teils eher besungen als geschildert wird und ihre Erfüllung in einer auf Liebe und Erotik basierenden Ehe findet. Den Zeitgenossen wurde Lucinde zu einem Skandal, weil man den Roman autobiographisch las und hinter männlichen wie weiblichen Romanfiguren reale Personen und deren reale Erlebnisse sah; solche Enthüllungen fand man entschieden zu frivol. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert das fünfte Kapitel mit dem Titel Idylle über den Müßiggang. »Idylle« nennt man eine kleine literarische Form mit einem räumlichen Arrangement, in dem Menschen, meist Schäfer, in einem harmonischen Verhältnis zur Natur vorgeführt werden. Idyllendichtung kommt aus der Antike und wurde im 18. Jahrhundert in der Anakreontik wiederbelebt. Häufig werden harmonische Glücksmomente an einem locus amoenus vorgeführt, an einem ›lieblichen Ort‹, einer Ideallandschaft mit Frühlingsblumen, einem plätschernden Bach und Vogelgesang. Diese Motivik greift Schlegel auf, stellt aber vor allem heraus, dass solche Momente nur im Zustand des Müßiggangs zu erleben sind. Dabei schaltet er eine ausführliche Reflexion über den Müßiggang ein, in welcher Müßiggang und Muße einander angenähert werden (vgl. Saller 2007: 183–186). Die Idylle schließt bei Schlegel mit der Schilderung eines allegorisch-mythologischen Theaters, auf dem sich Prometheus und Herkules hinsichtlich ihres Verhältnisses zu Arbeit und Müßiggang gegenüberstehen. In allen Teilen scheint der Text darauf abzuzielen, die zeitgenössische kulturelle Bewertung von Arbeit und Müßiggang, wie wir sie aus Robinson rekonstruiert haben, geradezu umzukehren. »O Müßiggang, Müßiggang!«, lässt Schlegel Julius ausrufen, »dich atmen die Seligen, und selig ist wer dich hat und hegt, du heiliges Kleinod! einziges Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradiese blieb.« ([1799] 1963: 32). Müßiggang wird hier also der Sphäre der Götter zugeordnet; und wer es versteht, müßig zu gehen, ähnelt den Göttern. Über Arbeit dagegen heißt es: »Nichts ist es, dieses leere unruhige Treiben, als eine nordische Unart und wirkt auch nichts als Langeweile, fremde und eigene.« (Ebd.: 34) Nicht also Müßiggang ist hier mit Langeweile verbunden wie bei Robinson während der Regenzeit, sondern im Gegenteil die Arbeit. Es ist das dem Arbeiten inhärente repetitive Moment, das diese Langeweile bewirkt, wie später an Prometheus gezeigt wird. Zugleich wird Arbeitsamkeit klimaspezifisch dem Habitus der Menschen in den nördlicheren Regionen zugeordnet. Schlegel rekurriert damit auf ein Gefüge von Selbst- und Fremdbildern im Feld der Ar-
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beit, das bis heute stabil geblieben ist, und bringt es mit dem zeitgenössischen Orientdiskurs in Verbindung: »Je schöner das Klima ist, je passiver ist man. Nur Italiäner wissen zu gehen, und nur die im Orient verstehen zu liegen; wo hat sich aber der Geist zarter und süßer gebildet als in Indien? Und unter allen Himmelsstrichen ist es das Recht des Müßiggangs was Vornehme und Gemeine unterscheidet, und das eigentliche Prinzip des Adels.« (Ebd.: 34f.)
Grenzte sich sonst das Bürgertum gerade durch Arbeit vom Adel ab, so erscheint beim Frühromantiker Schlegel ausgerechnet die Lebensweise des Adels als erstrebenswert. Im erotischen Kontext der Passage macht aber der Erzähler Julius deutlich, was er dabei mit Müßiggang auch verbindet: »Gleich einem Weisen des Orients war ich ganz versunken in ein heiliges Hinbrüten und ruhiges Anschauen der ewigen Substanzen, vorzüglich der deinigen und der meinigen. Größe in Ruhe, sagen die Meister, sei der höchste Gegenstand der bildenden Kunst; und ohne es deutlich zu wollen, oder mich unwürdig zu bemühen, bildete und dichtete ich auch unsre ewigen Substanzen in diesem würdigen Styl. Ich erinnerte mich, und ich sah uns, wie gelinder Schlaf die Umarmten mitten in der Umarmung umfing. Dann und wann öffnete einer die Augen, lächelte über den süßen Schlaf des andern und wurde wach genug um ein scherzendes Wort, eine Liebkosung zu beginnen: aber noch ehe der angefangene Mutwille geendigt war, sanken wir beide fest verschlungen in den seligen Schoß einer halbbesonnenen Selbstvergessenheit zurück.« (Ebd.: 33f.)
Die kontemplativ bildende und dichtende Aufmerksamkeit auf die »ewigen Substanzen« entpuppt sich in romantischer Ironie als körperliches Liebesspiel von Julius und Lucinde und geht in Umarmung und Schlaf über. Schlaf und Erotik sind die gepriesenen Aspekte des Müßiggangs; und da weder Schlaf noch Erotik als langweilig gelten, leuchtet von hierher ein, dass Schlegel nicht Müßiggang, sondern Arbeit mit Langeweile in Verbindung bringt. Die Idylle über den Müßiggang schließt mit der Schilderung eines allegorischen Theaterspiels, das vor Julius’ Augen abläuft. Zu sehen ist zunächst Prometheus wie er »[…] Menschen verfertigte. Er war an einer langen Kette gefesselt, und arbeitete mit der größten Hast und Anstrengung; auch standen einige ungeheure Gesellen daneben, die ihn unaufhörlich antrieben und geißelten. Leim und andre Materialien waren im Überfluß da; das Feuer nahm er aus einer großen Kohlenpfanne.« (Ebd.: 35f.)
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Prometheus wird hier in der Weise vorgeführt, wie ihn das 18. Jahrhundert im Sturm und Drang wiederbelebt hatte. Er erscheint als derjenige, der den Menschen das Feuer gebracht hat, damit sie ihre Umwelt durch Arbeit gestalten können, und als der, welcher Menschen formt. »Hier sitz’ ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde« (Goethe [1773] 1993: 46), heißt es in Goethes (1749– 1832) Versen im Prometheus-Gedicht. Bei Schlegel ist Prometheus allerdings weder Befreier noch selbst frei, sondern mit einer langen Kette an den Kaukasus geschmiedet und wird zu pausenloser Arbeit angetrieben, nämlich zur Formung von Menschen. Die antreibenden Gesellen werfen die fertiggestellten Menschen unter die Zuschauer der Theateraufführung, wo sie gar nicht mehr von den anderen zu unterscheiden sind. Diese prometheische Serienproduktion gewissermaßen am Fließband taugt als Möglichkeit der Individuation offensichtlich nicht. Auch von Selbstfindung in der Arbeit ist keine Rede. Kleine kommentierende Satanisken, die allenthalben herumwuseln, betonen noch einmal, dass auf diese Weise keinerlei Individualität zu haben sei: »›Er fehlt nur in der Methode!‹ fuhr der Satanikus fort: ›Wie kann man allein Menschen bilden wollen? Das sind gar nicht die rechten Werkzeuge.‹ Und dabei winkte er auf eine rohe Figur vom Gott der Gärten, die ganz im Hintergrunde der Bühne zwischen einem Amor und einer sehr schönen unbekleideten Venus stand.« (Schlegel [1799] 1963: 36f.)
Nicht also mit der Arbeit der Hände lassen sich Menschen zustande bringen. Und – die Wortwahl erlaubt eine Übertragung auf den pädagogischen Diskurs – mit der Hände Arbeit lässt sich auch nichts für die Bildung der Menschen tun. Vielmehr müsse man für die Produktion von Menschen wie zu deren ›Bildung‹ schon die rechten Werkzeuge benutzen, nämlich ›deine und meine ewigen Substanzen‹, wie sie an den Skulpturen der Venus in besonders schöner und des Priapos in besonders großer Form zu sehen und gleichsam als ewige Substanzen in Stein gemeißelt sind. Außerdem braucht man Amor, also Liebe, und die ist am besten im Müßiggang zu haben. Prometheus gegenüber steht sodann Herkules, der von diesen Dingen, den Satanisken zufolge, mehr versteht: »Darin dachte unser Freund Herkules richtiger, der funfzig Mädchen in einer Nacht für das Heil der Menschheit beschäftigen konnte, und zwar heroische. Er hat auch gearbeitet und viel grimmige Untiere erwürgt, aber das Ziel seiner Laufbahn war doch immer ein edler Müßiggang, und darum ist er auch in den Olymp gekommen. Nicht so dieser Prometheus, der Erfinder der Erziehung und Aufklärung. Von ihm habt ihr es, daß ihr nie ruhig sein könnt, und euch immer so treibt; daher kommt es, daß ihr, wenn ihr sonst gar nichts
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zu tun habt, auf eine alberne Weise sogar nach Charakter streben müßt, oder euch einer den andern beobachten und ergründen wollt. Ein solches Beginnen ist niederträchtig. Prometheus aber, weil er die Menschen zur Arbeit verführt hat, so muß er nun auch arbeiten, er mag wollen oder nicht. Er wird noch Langeweile genug haben, und nie von seinen Fesseln frei werden.« (Ebd.: 37)
Herkules’ Ziel des edlen Müßiggangs liegt also in der Befassung mit jenen 50 Mädchen, von denen die Mythologie berichtet. Auch wenn der erotische Subtext in den Vordergrund rückt und sich aus Schlegels Idylle keine »konsistente Theorie des Müßiggangs« ableiten lässt, wie die neueste Forschung herausstellt (vgl. Fuest 2008: 57), wird hier doch zeitgleich artikulierten bürgerlichen Identitätskonzepten, die sich auf Arbeitsamkeit und Bildung stützen, auf ironischsubversive Weise widersprochen. Der Fortgang der Industrialisierung auch in den deutschen Kleinstaaten blieb freilich von Diskursbeiträgen dieser Art unberührt.5
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UM
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Einhundert Jahre später ist die industrielle Entwicklung auch in Deutschland rasant fortgeschritten. Die Dampf-Eisenbahn hatte im 19. Jahrhundert Güter auf die Schiene gebracht und die wirtschaftliche Mobilität enorm erhöht. Jetzt eröffnen die Energieträger Erdöl und Strom und entsprechende Erfindungen neue Möglichkeiten. Telefon und Telegraphie beschleunigen die Kommunikation; Automobile schaffen Unabhängigkeit von der Schiene; Luftschiffe, bald auch Flugzeuge gestatten schnellen Post- und Warentransport über große Strecken. In den industriellen Produktionsabläufen selbst ist man bestrebt, die Effizienz der Arbeitsabläufe durch eine Verfeinerung der Arbeitsteilung zu erhöhen. Allen voran steht Frederick Winslow Taylor (1856–1915) für die Etablierung neuer Rationalisierungsprinzipien zur planmäßigen Produktionssteigerung. Taylor untersuchte körperliche Arbeitsabläufe mit dem Ziel, unnütze Wege und überflüssigen Kraftaufwand bei der Arbeit zu vermeiden. Auch die Rhythmisierung von Arbeitsprozessen wurde zur Beschleunigung genutzt. Jeder Arbeiter sollte »the highest grade of work for which his natural abilities fit him« verrichten können (Taylor [1911] 1947: 9). Im Zeichen Tayloristischer ›Produktionsoptimierung‹ wurden indessen auch Akkordmarken hochgesteckt und in vielen Betrieben so-
5
Zu vielfältigen ökonomischen Aspekten der Zeit um 1800 vgl. mit Fokus auf Goethe neuerdings auch den instruktiven Ausstellungskatalog von Hierholzer/Richter (2012).
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genannte speed bosses eingeführt, Antreiber zur restlosen Nutzung der Arbeitszeit im Produktionsablauf (vgl. Ven 1972: 241f.). An Taylors Prinzipien der Weg- und Kraftersparnis anschließend, entwickelte Henry Ford (1863–1947) für die Automobilproduktion ein ausgeklügeltes Fließfertigungssystem, in dem Montageanlagen »die Arbeit zu den Arbeitern hinschafften, statt umgekehrt« (Ford [1923]: 93). Zum Gesamtkonzept des ›Fordismus‹ gehören neben der Rationalisierung und Beschleunigung der Serienfertigung indessen auch die Verringerung der Preise der hergestellten Waren sowie die Erhöhung der Arbeitslöhne; Ford setzte auf Massenkonsum und eine angemessene Beteiligung auch der Industriearbeiter am Wohlstand. In Deutschland wurden Taylorismus und Fordismus kritisch, aber auch mit einiger Faszination diskutiert.6 In der Weimarer Republik lässt sich an der Haltung zu Ford’schen Prinzipien die Spaltung der politischen Linken erkennen: Während kommunistische Gruppen den Fordismus ablehnten, weil er letztlich die Macht der Unternehmer zementierte, konnten Sozialdemokraten der Perspektive, Wohlstand für alle zu sichern, etwas abgewinnen. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Proletarisierung der Arbeitskräfte, die mit der Industrialisierung einherging, im Anschluss an Analysen und Forderungen von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) eine breite Arbeiterbewegung entstanden war. Zur Zeit der Jahrhundertwende war sie als Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) eine Massenpartei und wichtige politische Kraft, die dann in der Weimarer Republik als Regierungspartei staatstragend werden sollte. Der Blick nach Amerika ist für diese Zeit auch deshalb relevant, weil der Arbeitsbegriff spätestens seit der Reichgründung 1871 verstärkt im Diskurs der nationalen Integration funktionalisiert wurde. Man bezog sich dabei auf Wilhelm Heinrich Riehls (1823–1897) Abhandlung Von deutscher Arbeit (1861). Riehl entwickelt darin das Modell einer nationalen »Volkspersönlichkeit«, die sich durch ihre Arbeit ständig legitimieren müsse und im Wettstreit mit anderen Nationen stehe. »Faule Völker werden hinweggearbeitet [Herv. i.O.] von den fleißigeren«, schreibt er in Übertragung Darwin’scher Evolutionstheoreme auf die Konkurrenz der Nationen, »denn sie können ihre Persönlichkeit nicht behaupten« (1861: 62). Es versteht sich, dass Riehl für Deutschland große Chancen sieht und von einem positiven deutschen Arbeitsgeist ausgeht; zur Optimierung empfiehlt er, jeder Arbeiter müsse sich von dem Bewusstsein begeistern lassen,
6
Fords Autobiographie Mein Leben und Werk (1923) wurde in den 1920er Jahren in Deutschland in mehr als 200 000 Exemplaren verkauft. Zu Henry Ford als einem typischen amerikanischen Selfmademan vgl. ausführlicher Unger (2004: 119–129).
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»daß er nicht bloß für sich und die Seinen, sondern zugleich auch für die Nation [Herv. i.O.] arbeitet« (ebd.: 107).7 Die enormen Leistungen einer anderen Nation, nämlich der Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrer rasanten industriellen und wirtschaftlichen Entwicklung und einem einzigartigen Städtewachstum, wurden indes um die Jahrhundertwende von Mitteleuropa aus mit Staunen, Respekt, aber auch mit Sorge wahrgenommen.8 War da etwa fern im Westen jemand noch fleißiger als der deutsche Arbeiter? Dieses Selbst- und Fremdbildgefüge, aber auch der technische und arbeitsökonomische Diskurs um 1900 lassen sich an einem Science-FictionRoman gut in den Blick bringen, nämlich an Bernhard Kellermanns (1879–1951) Der Tunnel (1913). Der Roman wurde schnell in 23 Sprachen übersetzt und gilt als erster deutscher Weltbestseller (vgl. Waldmann 1982: 133; Fuld 1989: 180).9 Es geht darin um den Bau eines ›submarinen‹ Eisenbahntunnels unter dem Atlantik, der die Neue mit der Alten Welt, Amerika mit Europa verbindet. Dazu braucht man unermüdliche Arbeit; für Müßiggänger ist bei so einem Projekt kein Platz. Protagonist ist der amerikanische Ingenieur Mac Allan. Unter seiner Leitung werden von einer internationalen Arbeiterschaft an fünf Stellen gleichzeitig – an der amerikanischen Ostküste, auf den Bermudas, auf den Azoren, in Nordspanien und in Frankreich – Tunnelbohrungen vorangebracht. Eine verheerende Explosion in der amerikanischen Baustelle führt zu Massenaufständen der Arbeiter und zu einer weltweiten Wirtschaftskrise. Aber mit einer Verzögerung von zehn Jahren werden schließlich die Bohrungen erfolgreich miteinander verbunden, und am 1. Juni des 26. Baujahrs fährt die erste Eisenbahn in vierundzwanzig Stunden durch den Tunnel von Amerika nach Frankreich. Mit dem fiktiven Ingenieur Mac Allan zeichnet Kellermann einen amerikanischen Selfmademan, der in vielen erzählerischen Einzelheiten dem realen Ingenieur Henry Ford ähnelt. Mac Allan hat den Aufstieg von ganz unten geschafft. Nach einem Bergbau-Studium entwickelt er die Idee des interkontinentalen Tun-
7
Zur nationalen Semantisierung von Arbeit vgl. auch Schönert (1988) sowie Trommler
8
Neben New York ist Chicago das beste Beispiel: 1800 gab es die Stadt praktisch noch
(1979). nicht. 1880 hatte sie ca. 0,5 Mio. Einwohner, 1900 1,7 Mio. und 1920 bereits 2,7 Mio. (vgl. Sautter 2000: 118). 9
In den Ausführungen zu Kellermanns Der Tunnel stütze ich mich auf meine eigene Untersuchung in Unger (2004: 129–142). Einige Passagen aus diesem Buchabschnitt übernehme ich ohne Zitatmarkierung und ohne weitere Spezialnachweise wörtlich oder nahezu wörtlich.
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nels und verfolgt sie mit größter Konsequenz. Für seine Hochleistungsbohrer erfindet er eigens einen neuartigen Stahl, annähernd so hart wie Diamanten, aber billiger, und gewinnt die amerikanische Hochfinanz für eine Anschubfinanzierung. Eine Aktiengesellschaft wird gegründet, das »Atlantic-Tunnel-Syndikat«, in dessen Namen Mac Allan als Chefingenieur das Projekt auf den Weg bringt. Weiteres Kapital wird von Kleinanlegern aktiviert, um das Tunnelprojekt auf eine breite und internationale Basis zu stellen. Denn: »Nicht eine Rotte von Kapitalisten und Spekulanten sollte den Tunnel bauen, er sollte Eigentum des Volkes, Amerikas, der ganzen Welt werden.« (Kellermann [1913] 1995: 111) Im Wertgefüge des Romans um die Begriffe Arbeit und Müßiggang stehen die Spekulanten, die ohne Arbeit viel Geld verdienen, auf der Seite des Müßiggangs, rücken also in die Position ein, die bei Campe und Schlegel der Adel innehatte. Zum »effizienzorientierten modernen Techniker […]« (Segeberg 1987b: 419), dem entsagungsvoll arbeitenden Ingenieur Mac Allan, gestaltet Kellermann einen Gegenspieler in der Figur des Leiters des Finanzressorts des Syndikats, S. Woolf. Bei seiner Ausgestaltung greift der Autor auf Anfang des 20. Jahrhunderts gängige rassistische Klischees zurück. S. Woolf, eigentlich Samuel Wolfsohn, wird als ungarischer Jude aus einfachsten Verhältnissen eingeführt, der sich in Amerika ›hinaufgeschwungen‹ habe. ›Hinaufgearbeitet‹ eben nicht, denn Woolfs Methoden haben mit der ehrlichen Arbeit eines Selfmademan wenig zu tun. Vielmehr operiert er hart an der Grenze zum Betrug, und es gelingen ihm »Geschäfte, die fünfundzwanzig und vierzig Prozent abwarfen und die nur im Finanzleben für erlaubt gelten« (Kellermann [1913] 1995: 155). Bald zeigt sich, dass Woolf mit Geld des Syndikats auf eigene Rechnung spekuliert. Zu seiner Geldgier kommt noch eine sinnlich-ausschweifende, müßiggängerische Lebensweise. Damit ist Woolf das krasse Gegenbild zu Mac Allan, dessen Arbeitseinsatz dem Gemeinwohl dient und zu dessen rationaler Lebensführung fraglos eine entschiedene Triebkontrolle gehört. Durch Woolfs Machenschaften wird das Syndikat in eine schwere Finanzkrise gestürzt, die sich zu einer regelrechten Weltwirtschaftskrise ausweitet. Seiner Entlassung kommt er durch Freitod zuvor (vgl. ebd.: 290–296). Wird die Charakterkomponente des Betrügerischen von Kellermann unter Rückgriff auf Rassenklischees pointiert (vgl. z.B. ebd.: 275), so wird andererseits Allans kompromisslose Härte gegenüber Woolf national zugeordnet: »Plötzlich erkannte er [Woolf], dass Allan ein Amerikaner war, ein geborener und er nur ein gewordener, und Allan war stärker.« (Ebd.: 279) Gegenübergestellt sind hier also ein jüdischer Einwanderer und ein Amerikaner; diesen zugeordnet werden Praktiken des Geldverdienens ohne Arbeit, selbstsüchtiger Mü-
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ßiggang und Verschwendungssucht gegenüber harter Arbeit für das gesamtgesellschaftliche Wohl und persönlicher Entsagungsbereitschaft. Das mit Mac Allan vorgeführte Fremdbild einer amerikanischen Arbeitshaltung wird im Roman auch auf das Tunnelprojekt insgesamt bezogen. Im Horizont von Science-Fiction muss es nicht verwundern, dass es den real erst 1994 fertiggestellten Dover-Calais-Tunnel in der seit 1913 zu lesenden Romanwelt bereits gibt. Mit Bezug auf diesen Prototypen kann Mac Allan in seinen Werbereden darauf hinweisen, dass für den transatlantischen Tunnel ja keine eigentlich neue Technik entwickelt werden müsse, sondern lediglich ein schon erprobtes Verfahren kühn in globale Dimensionen auszuweiten sei:10 »Der Dover-Calais-Tunnel hat eine Länge von rund fünfzig Kilometern. Mein Tunnel hat eine Länge von rund fünftausend Kilometern. Meine Aufgabe besteht demnach lediglich darin, die Arbeit der Engländer und Franzosen zu verhundertfachen, wenn ich auch keineswegs die größeren Schwierigkeiten verkenne.« (Ebd.: 53)
Als eine Potenzierung europäischen Arbeitens und eine enorme Steigerung der Arbeitsintensität wird also die Arbeit des Amerikaners eingeführt. Eben darin spiegelt der Roman das Staunen Europas über die rasante Entwicklung der Vereinigten Staaten in dieser Zeit. Im Fall Mac Allans ist der Erfolg das Resultat seines pausenlosen Arbeitseinsatzes und seiner herausragenden Arbeitsleistung. Von Anfang an erscheint er »absorbiert von der Arbeit« (ebd.: 141) und verlangt sich Entsagungen im Privatleben ab. In seiner ersten Ehe mit der deutschstämmigen, musisch begabten Maud kommt die Ehefrau nicht auf ihre Kosten, weil in Mac Allans ganz auf das Arbeitsleben ausgerichteten Lebensweise für ›Kultur‹ kein Platz ist: »Zuweilen kam ihr der Gedanke, als ob sie nicht recht in dieses Amerika hineinpasse, wo alles Busineß war und nur Busineß, als ob sie glücklicher geworden wäre da drüben in der Alten Welt, wo sie noch Erholung und Geschäft zu trennen verstanden.« (Ebd.: 32) Mac Allan dagegen verspürt kein Bedürfnis nach Muße und verbringt nur ein Minimum an Zeit in der Familie. Nach Mauds Tod heiratet er Ethel Lloyd, die Tochter eines Financiers, die sich für sein technisches Projekt
10 Segeberg zeigt, inwieweit Kellermann mit der Idee der Atlantikuntertunnelung auf den zeitgenössischen Technik-Diskurs zurückgreift (vgl. Segeberg 1987a: 173–183). Im vorliegenden Zusammenhang kann nicht darauf eingegangen werden, wie das an Mac Allan vorgeführte Arbeitsethos und das Gefüge von nationalen Selbst- und Fremdbildern der Arbeit sowohl in der Nazi-Zeit als auch in der DDR ideologisch instrumentalisiert wurde (vgl. hierzu ebd.: 200–205; Segeberg 1987b: 420f.).
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begeistert zeigt. Die Ehe hat den klar herausgestellten Nebenzweck, die Finanzen des Schwiegervaters für das Tunnelprojekt zu sichern. Im beidseitigen vollen Bewusstsein dieser Zusatzfunktion (vgl. ebd.: 349–354) läuft die Ehe vortrefflich. Vorgeführt wird auf diese Weise, wie der amerikanische Ingenieur sein Privatleben für sein Lebenswerk funktionalisiert. Die ›Verhundertfachung‹ der Arbeit der Engländer und Franzosen zeigt sich also zum einen in einer Totalisierung: Mac Allans Leben ist Arbeit. Zum anderen wird die ›Verhundertfachung‹ illustriert durch eine ungeheure Steigerung des Arbeitstempos, die er auf den Baustellen des Tunnels von seinen Mitarbeitern und den Arbeitern fordert. Gearbeitet wird umschichtig Tag und Nacht. Das »Allansche Tempo«, das alle mit sich fortreißt (ebd.: 70), findet seine Entsprechung im raschen Erzähltempo des Romans. Dieser Eindruck entsteht durch ein mehrsträngiges Erzählen, wobei der Erzähler, vergleichbar der filmischen Montagetechnik, mit scharfen Schnitten zwischen verschiedenen Erzählebenen wechselt. Es entstehen abrupte Blickwechsel und der Eindruck, es seien hier Augenblicksaufnahmen zusammenmontiert. Auf der Mikroebene finden sich ausführlich erzählte Passagen aus dem Arbeitsalltag neben summarischen Zusammenfassungen von Arbeitsabschnitten, bei denen kurze, bilderreich und suggestiv pointierende Sätze den Eindruck großen Tempos hervorrufen: »Mac Allans Arbeit war nicht jene Arbeit, die die Welt bisher kannte, sie war Raserei, ein höllischer Kampf um Sekunden. Er rannte sich den Weg durchs Gestein!« (Ebd.: 128) Die Arbeiter selbst treten im Roman als amorphe Masse in Erscheinung. Von Ingenieuren beaufsichtigt, sind sie im Tunnel zu Tausenden beschäftigt. Der Erzähler lässt sie wiederholt stilistisch kollektiviert in einer dumpfen Einheit zerfließen; einzelne Arbeiter werden an keiner Stelle Handlungsträger. Insbesondere nutzt Kellermann die Verben zum variierten Kollektivsubjekt ›Masse‹, um die in ihr wohnende Kraft und das Gewaltpotential zu illustrieren. Das »Heer der Arbeitslosen [...] wälzte sich [...] nach Downtown« (ebd.: 66), drinnen im Tunnel »tobte der tausendarmige Mensch!« (ebd.: 128), und bei einer Arbeiterdemonstration in New York ist es in einer kühnen synästhetischen Metonymie »der dampfende, laute Schweiß, der sich [...] vorbeiwälzte« (ebd.: 245). Für diese Schilderung der Arbeitermassen ist weniger die Stellung des Autors zum wirtschaftspolitischen System ausschlaggebend als vielmehr ein Bezug zum zeitgenössischen Diskurs über Massen. 1908 war die erste Auflage von Gustave Le Bons (1841–1931) Studie zur Psychologie der Massen in deutscher Übersetzung erschienen, deren Thesen sich in Kellermanns Vorführung der Beeinflussbarkeit der Massen niederschlagen.
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Im vorliegenden Zusammenhang ist bedeutsam, auf welche Weise das an der Figur Mac Allan vorgeführte Arbeitsethos und die Arbeit am Werk des Tunnels selbst eine ideologische Komponente erhalten: Der Roman präsentiert nämlich in mehrfacher Hinsicht ›Arbeit als Religion‹. Dabei wird erstens das semantische Feld der christlichen Religion für bildhafte Beschreibungen der Arbeit im Tunnel herangezogen. So wird der Arbeitsbereich im Innern des Tunnels in unmittelbarer Umgebung der Bohrer die »Hölle« genannt, und die Arbeiter an dieser tiefsten Stelle heißen »hellmen«, während die »purgatory-men« unmittelbar davor, im »Fegfeuer«, mit dem Abtransport von Gestein beschäftigt sind (ebd.: 134). Eine alljährliche Generalinspektion der amerikanischen Baustelle heißt »jüngstes Gericht« (ebd.: 170). Unmittelbar nach einer Katastrophe hören Rettungsmannschaften tief drinnen geradezu satanisches Gelächter von Überlebenden, die glauben, »sie seien in der Hölle« (ebd.: 223). Die »Edison Bioskop Gesellschaft«, eine für die Berichterstattung über den Tunnelbau gegründete Mediengesellschaft, mit deren ständiger Präsenz Kellermann der Erzählung vom Tunnelbau eine zweite Repräsentationsebene unterlegt, zeigt in den Wochenschauen der Welt »die ganze Bibel der modernen Arbeit« (ebd.: 161). Vor allem aber wird Arbeit zweitens explizit als Religion bezeichnet und übernimmt religiöse Funktionen. Schlüsselstelle hierfür ist eine Ansprache Mac Allans an die Arbeiterschaft, mit der er sie nach der Tunnelkatastrophe bewegen will, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Arbeit stifte Gemeinschaft, sie sei das »Schicksal« aller, der Ingenieure wie der Arbeiter, die Arbeit am Tunnel gebe »Tausenden Brot« (ebd.: 234). Und am Schluss pointiert er: »Die Arbeit ist nicht ein bloßes Mittel, satt zu werden! Die Arbeit ist ein Ideal. Die Arbeit ist die Religion unserer Zeit!« (Ebd.)11 Damit stellt der Roman Anfang des 20. Jahrhunderts die Diagnose einer neuen Haltung zur Arbeit, mit der sich Mac Allans Arbeitswut noch einmal in einem anderen Licht betrachten lässt. Religiös wirkt in der Tat die Unbedingtheit, mit der er sich in den Dienst seines Projektes stellt und alle konkurrierenden Sinnangebote wie Familie und Kultur hintanstellt. In diesem Sinne religiös verstanden, fordert die Arbeit auch ihre Opfer. Die Schlüsselstelle hierzu ist die Schilderung des Todes von Mac Allans erster Ehefrau Maud. Maud opfert sich nämlich selbst, indem sie sich nach der Tunnelkatastrophe der aufgebrachten Masse entgegenstellt und gesteinigt wird. Durch dieses Opfer werden weitere Zerstörungen der Produktionsanlagen abgewendet und die Arbeit am Tunnel kann fortgesetzt werden. In einer geradezu grotesken Umkehrung des Jesusworts (Joh
11 Die religiöse Dimension stellt auch Kittstein (2005) heraus, der Mac Allan geradezu als »Messias« bezeichnet.
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8,7) bekennt eine »rasende Italienerin [...] höhnend und gellend: ›Ich habe die ersten Steine geworfen. Ich!‹« (Kellermann [1913] 1995: 212) Andererseits spielen Religionsgemeinschaften im engeren Sinne im Roman kaum eine Rolle. Nur im Zusammenhang mit den Beerdigungsfeierlichkeiten für die beim Tunnelunglück getöteten Arbeiter berichtet der Roman von Geistlichen der verschiedensten Kirchen, die im Krematorium der Tunnelstadt zusammenkommen: »Das kleine Krematorium […] arbeitete Tag und Nacht. Priester der verschiedenen Religionen und Sekten hatten sich zur Verfügung gestellt und erfüllten abwechselnd das traurige Zeremoniell. Viele Nächte hindurch war das kleine Krematorium im Wald tageshell erleuchtet und noch immer standen endlose Reihen von Holzsärgen in der Halle.« (Ebd.: 229)
Die Stelle zeigt, wie auch die Religionen unter dem Paradigma der Arbeit stehen. Die Priester treten auf als Spezialisten zur professionellen Entsorgung von Opfern der Arbeit. Die endlosen »Reihen von Holzsärgen« verweisen auf die Arbeitsleistung, die von ihnen zu erbringen ist, und zwar ›umschichtig‹, gewissermaßen nach industriellen, um nicht zu sagen nach tayloristischen Methoden. Dass es indessen eine gefährliche Haltung ist, sich auf religiöse Weise der Arbeit hinzugeben, zeigt sich spätestens, wenn die Arbeit ausgeht. Nach dem Ersten Weltkrieg und den ›goldenen‹ zwanziger Jahren des Wirtschaftsaufschwungs war es die Weltwirtschaftskrise in der Folge des Börsensturzes Ende Oktober 1929, die Millionen von Menschen mit der Erfahrung von Arbeitslosigkeit, mithin einer weiteren Form des erzwungenen Müßiggangs, konfrontierte. Literarisch entstand in dieser Zeit der Arbeitslosenroman als ein neues Subgenre, das Autoren wie Rudolf Brunngraber, Hans Fallada und Leonhard Frank erprobten (vgl. orientierend Unger 2007; Schütz 2009). Aber auch in Drama, Hörspiel und Film wurde das Thema Arbeitslosigkeit aufgegriffen. Die Arbeitslosenliteratur dieser Zeit stellt an Beispielen aus der Industriearbeiterschaft, aber häufiger noch an kleinen und mittleren Angestellten immer wieder heraus, dass die Erwerbslosigkeit der Protagonisten nicht selbst verschuldet, sondern durch strukturelle Faktoren verursacht sei. Grundsätzlich aber zielen die Werke darauf ab, einer idealistischen Überhöhung von Arbeit entgegenzuwirken. Denn bei den arbeitslosen Romanfiguren ist keineswegs von einem Leben für die Arbeit die Rede, noch weniger von Arbeit als Religion, sondern es rücken ganz elementare Funktionen der Arbeit in den Vordergrund wie die Sicherung des Lebensunterhalts, eine sinnvolle Strukturierung des Alltags, ein anerkannter sozialer Status und Sozialkontakte außerhalb der familialen Primärbindungen. Insofern
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entfaltet die Arbeitslosenliteratur der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre ein Gegenmodell zu Kellermanns Darstellung.
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Ein für alle Mal im Diskurs überwunden ist das Denkmodell einer religiösen Überhöhung von Arbeit mit der Arbeitslosenliteratur der Weltwirtschaftskrise keineswegs. Was Kellermann 1913 im Zukunftsroman vorführt, diagnostiziert 1995 Rainer Hank (*1953) in seinem Buch Arbeit – Die Religion des 20. Jahrhunderts für die postfordistische Gegenwart. Die Arbeit habe sich »ihre Alternativen einverleibt«, konstatiert der Wirtschaftsjournalist (1995: 114); auch Freizeit werde zu Arbeit, und noch unseren Urlaub ließen wir von Animateuren planen. Arbeit sei alleinige »Instanz von Sinn [...], seit konkurrierende Angebote sich in den Hintergrund drängen ließen« (ebd.: 9f.). Religion werde »seit langem schon als Agentur von Dienstleistungen verstanden«, und: »für das säkulare 20. Jahrhundert tritt die Verheißung der alles besiegenden Arbeit an die Stelle der Religion« (ebd.: 10f.). Insofern hätte Kellermann prospektiv in Mac Allan den aktuellen Zeittyp recht genau porträtiert. Entpuppt sich dieser amerikanische Ingenieur, der in harter, entsagungsvoller Arbeit aufgeht, also nachträglich als weltweite Siegerfigur? Eindeutig scheint das der gegenwärtige, von Extremen beherrschte Diskurs über Arbeit nicht zu bestätigen. Viel ist auf der einen Seite die Rede von Menschen, die von ihrem Arbeitslohn nicht leben können und zusätzlich Unterstützungsleistungen beziehen. Menschen mit akademischem Abschluss, die sich von Praktikum zu Praktikum hangeln oder von einem befristeten Vertrag zum nächsten, arbeiten gewiss nicht zu wenig, aber unter prekären Rahmenbedingungen. Auf der anderen Seite – und dies wäre eher der Typus Mac Allan – stehen Menschen in Spitzenpositionen, von denen es heißt, sie arbeiteten zu viel, und zwar nicht nur Manager, sondern auch höhere Angestellte, kleine Selbstständige und Freiberufler. Rings um die Sammelkategorie »Arbeitsstress« gibt es ein neues Wortfeld, zu dem Begriffe wie Burn Out, Workoholic oder gar Karôshi gehören. So bezeichnet man es in Japan, wenn Menschen durch berufsbedingten Arbeitsstress sterben, sich gewissermaßen ›tot arbeiten‹ (vgl. Himeoka 2000). In der gegenwärtigen Publizistik wird der Ansatz des ›New Management‹ mit der von Hank diagnostizierten Verwischung der Grenzen von Arbeit und Muße besonders in einer Sachbuchsparte erkennbar, nämlich in der boomenden Ratgeberliteratur zum persönlichen Zeitmanagement. Die populären Bücher Lothar J. Seiwerts (*1952) erreichen Auflagen, von denen viele Literaten nur
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träumen; Das neue 1 x 1 des Zeitmanagement (1984) war 2011 in der 33. Auflage zu kaufen, die Kurzform 30 Minuten Zeitmanagement (1998) 2012 in der 18. Der Autor ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler. Seine Ratgeber empfehlen eine rationale Lebensführung, eine effiziente, erfolgsorientierte Zeitnutzung durch Planung und konsequente Prioritätensetzung; Henry Ford taucht dabei als Lieferant eines Mottos wieder auf (vgl. Seiwert 2011: 46). Zum Konzept gehört ein ganzheitlicher Anspruch. Es geht nicht nur um das Berufsleben, sondern um effizientes Zeitmanagement für die gesamte Lebensführung, das Privatleben eingeschlossen. »20 % der Schreibtischarbeit ermöglicht 80 % des Arbeitserfolges«, erläutert Seiwert das ›Pareto-Prinzip‹, aber es gilt ebenfalls: »20 % der Beziehungen bescheren 80 % des persönlichen Glücks.« (Ebd.: 29) Indem man in allen Lebensbereichen den ertragreichsten 20 % die höchste Priorität einräumt und vieles von den restlichen 80 % nachordnet oder ganz lässt, gewinnt man nicht zuletzt Phasen der Entspannung und beugt Karôshi und Burn Out-Syndromen vor. Aber auf diese Weise wird auch das Sozial- und Privatleben nach Paradigmen des Arbeitslebens gewissermaßen betriebswirtschaftlich durchorganisiert. Auf gesundheitliche Gefährdungen durch Überarbeitung nimmt auch der Wissenschaftsjournalist Ulrich Schnabel (*1962) in seinem Buch Muße. Vom Glück des Nichtstuns (2010) Bezug. Schnabel legt dar, warum Muße in unserer schnelllebigen Zeit wichtig ist, und präsentiert als Vorbilder prominente Müßiggänger wie John Lennon und Doris Dörrie. Der Band geht auf die gleichen Probleme ein wie die Zeitmanagement-Anleitungen und wird unversehens selbst zu einem Ratgeber. So kann man darin testen, ob man ein Burn-Out-Kandidat ist (vgl. Schnabel 2010: 26f.), und für die Veränderung von eingerissenen Gewohnheiten gibt es eine Checkliste (vgl. ebd.: 251). Ziel ist, sich Freiräume für Muße zu schaffen. Vorbildlich seien dazu Betriebe, die ihren Mitarbeitern zum Beispiel ein Nickerchen in der Mittagszeit oder Sonderurlaub zur Abfassung eines Buches erlauben. Die Beispiele zeigen allerdings, wie auch bei Schnabel Muße vor dem Horizont des Arbeitsalltags gesehen wird. Darüber kann auch das »Trainingsprogramm für die Ruhe« nicht hinwegtäuschen, in dem er zum Beispiel Spaziergänge in schönen Landschaften, eine Atemmeditation und Joggen empfiehlt (vgl. ebd.: 255–258). Subversiv kritische Stimmen zur betriebswirtschaftlichen Organisation des Privatlebens finden sich dagegen in der belletristischen Literatur, die längst nicht mehr Kapitalismuskritik am Beispiel von Industriearbeitern vorführt, sondern den Diskurs der Durchdringung von Arbeit und Muße aufgreift und hierzu Menschen in Führungspositionen beleuchtet. Romane wie Rainer Merkels Das Jahr der Wunder (2001), Joachim Zelters Schule der Arbeitslosen (2006) oder Kathrin
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Rögglas wir schlafen nicht (2004) entlarven wesentliche Positionen des New Management als leere Versprechungen. Merkel präsentiert ein Start-upUnternehmen als eine Art moderne Idylle; durch distanzierende und ironische Darstellungsweisen eines Ich-Erzählers fallen Anspruch und Wirklichkeit jedoch völlig auseinander, und die Idylle mündet letztlich in eine freiwillige »Selbstüberforderung und Selbstausbeutung« (Heimburger 2010: 181). Zelter zeigt ein Trainingscamp für Langzeitarbeitslose, in dem die Klienten Selbstoptimierung nach Prinzipien des New Management erlernen sollen und zum Beispiel in nächtlichen Vorstellungsgesprächen gedrillt werden; angesichts der Tatsache, dass für die betroffenen Menschen faktisch keine Arbeit da ist, erscheint das harte Trainingsprogramm völlig absurd. Röggla führt psychogrammartig und ausschließlich in indirekter Rede wiedergegebene Selbstaussagen von sechs Menschen im Umfeld einer New Economy-Messe vor; ein Unternehmensberater kommt beispielsweise zu Wort, ein Online-Redakteur und eine Key Account Managerin. Krass stehen die phrasenartig wiedergegebenen neoliberalen Leitbilder der an die Substanz gehenden Lebenswirklichkeit dieser Figuren gegenüber (vgl. auch Stahl 2007: 96f.). »Kapitalismuskritik als Sprachkritik« nennt Susanne Heimburger Rögglas Verfahrensweise (2010: 216). Die Autorin untersucht in ihrer Karlsruher Dissertation ein Korpus von rund 40 Romanen, Erzählungen und Dramen aus dem Zeitraum von 1997 bis 2006 im Blick auf die Präsentation aktueller Arbeitswelten in der Literatur (vgl. dazu Unger 2011). Sie führt überzeugend vor, wie darin der aktuelle Diskurs aufgegriffen wird und die Literatur ihre subversiven Möglichkeiten auch der gegenwärtigen Arbeitswelt gegenüber ausspielt. So zeigen die herangezogenen Textbeispiele dreier Jahrhundertwenden, dass zum einen die jeweils dominierenden Positionen in den Debatten über den Wertkomplex der Arbeit publizistisch wirkungsvoll aufbereitet werden, zum anderen aber zeitgenössische literarische Werke jeweils die Kehrseite der Medaille vorführen. Gegen die philanthropische Arbeitserziehung mit der Ächtung des Müßiggangs erheben frühromantische Texte Einspruch und bestreiten den alleinigen Bildungswert der Arbeit; gegen die asketisch-religiöse Hingabe an die Arbeit nach dem Modell des ökonomisch versierten amerikanischen Ingenieurs erhebt die Arbeitslosenliteratur Einspruch und zeigt eindrücklich die Misere derjenigen, die aus strukturellen Gründen keiner Erwerbsarbeit nachgehen können; gegen neoliberale Ratgeber, die ökonomisches Zeitmanagement auch für das Privatleben empfehlen und die Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit nivellieren, erhebt eine in sozialer Hinsicht neu ausgerichtete Literatur Einspruch und führt das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit des New Management
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in der betrieblichen und privaten Realität vor. Ohne den großen historischen Erfolg eines positiven Arbeitsethos und seine Leistung für die Entwicklung von Wohlstand und Lebensqualität zu bestreiten, widersprechen also viele Literaten einer einseitigen, quasireligiösen Überhöhung der Arbeit; komplementär dazu plädieren sie für Muße und – zuweilen – Müßiggang.
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A RBEIT
UND
N ICHTARBEIT
IN DER
L ITERATUR
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Die ›gegenwärtigen prosaischen Zustände‹ Der Wandel der Arbeitswelt in Ästhetik und Dichtung des Klassizismus V ARUN F. O RT Tausend Beweise rufen euch einstimmig zu: Prosa ist die eigentliche Natur der Modernen. FRIEDRICH SCHLEGEL
P OESIE
IM PROSAISCHEN
Z EITALTER
Den Beginn der literarischen Auseinandersetzung mit den materiellen Grundlagen der zeitgenössischen Gesellschaft assoziiert man in Deutschland vor allem mit der engagierten Literatur der Restaurationsepoche. Obwohl deren programmatische Abkehr von der idealistischen Ästhetik neue Wirklichkeitsbereiche erschließt, verbindet sie mit der Kunstperiode, dass realistische Darstellungen des zeitgenössischen Kleinbürgertums, speziell des Handwerks, sich kaum finden und, wo sie vorkommen, dem ideologischen Verdikt der Rezensenten verfallen. So urteilt Rudolf Gottschall über Otto Ludwigs Roman Zwischen Himmel und Erde (1856): »[W]enn wir auch den kräftigen Naturwuchs des Ludwigschen Talents anerkennen, […] so dürfen wir doch die Vorliebe für das Absonderliche, Außergewöhnliche, Gewagte nicht als einen Vorzug ›moderner Richtung‹ preisen und in der Vertiefung in das kleinliche Detail eines Handwerks keinen ersprießlichen Zuwachs an plastischer Kraft der Darstellung in unserer Literatur begrüßen.« (Gottschall 1997: 124f.)
Ähnlich rezensierte man schon Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785), dem in seiner Zeit einzigen Handwerkerroman: »Da Herr Moritz doch für Leute
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schreibt, die lesen, das heißt nicht für Handwerker und dgl., so hätte er sich auch für [sic] Szenen hüten sollen, deren Details seinen Lesern statt Theilnahme, Langeweile erregen müssen« (zit. n. Roberts 1939: 14f.). Dass zwischen beiden Rezensionen ein Abstand von 71 Jahren liegt, zeigt nicht nur einen ästhetik-, sondern einen sozialgeschichtlichen Zusammenhang idealistischer und realistischer Literatur deutlich an. Ihren gemeinsamen Hintergrund bilden die gleichzeitigen Prozesse der Auflösung der stratifizierten Feudalgesellschaft und der Herausbildung der funktional differenzierten modernen Gesellschaftsordnung. Der Motor dieses Wandels ist die bürgerliche Wirtschafts- und Arbeitskraft; Hauptsymptome dieser Transformation sind in der Arbeitsteilung und der Ausbreitung des Marktes auszumachen. Die Literaten dieser Schwellenepoche – in Deutschland zuerst Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe – beziehen sich auf den Komplex dieser Umbruchsphänomene mit dem Begriff ›Prosa‹. In ihm verbinden sich stiltheoretische, medien- und kulturgeschichtliche Aspekte, die den sozialen Wandel auf den Siegeszug der informativen Prosaliteratur und die Entstehung eines literarischen Marktes infolge des Buchdrucks zurückführen (vgl. Barck 2003: 88ff.). Trotz der programmatischen Gegensätze sind Klassiker und Romantiker sich einig darin, dass einerseits die Gesellschaftsanamnese die poetologische Theorie fundieren, dass aber andererseits die Poesie das ›Prosaische‹ ausschließen müsse, um ihre Autonomie nicht zu gefährden. Besonders drastisch artikuliert Goethe im Urteil über den eigenen Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) die Frontstellung des Klassizismus gegen alle, die Poesie verwässernden Prosagenres, da diese »Mittelgeschlechter […] nur für Liebhaber und Pfuscher [seien], so wie die Sümpfe für Amphibien.« (Goethe 2005, Bd. 8.1: 452) Die Paradoxie des Klassizismus, wenn nicht der sattelzeitlichen Literatur als Ganzes, die im Begriff der ›Prosa‹ kondensiert, ist damit offengelegt: Während die Literatur dieser Zeit dem lebensweltlichen Phänomen der Arbeit ambivalent gegenübersteht, reflektiert die Ästhetik den sozialen Umbruch eingehend genug, dass sich daraus die Notwendigkeit seiner Thematisierung ergäbe. Als Gegenstandsbereich aber wird die Arbeitswelt für die Dichtung ausgeklammert, rücken die klein- und unterbürgerlichen Schichten nicht ins Blickfeld. Diesen Problemkreis zu durchdringen versucht dieser Beitrag mit dem Leitgedanken, dass die Prosasierung der Gesellschaft schon vor der poetischen Bearbeitung ›realistischer‹ Themen die klassizistische Dichtung an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit führt. Zur Erprobung dieser These sollen im ersten Teil als ›Poetiken der Arbeitsteilung‹ Schillers Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) und Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorlesungen zur Ästhetik (1817–
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PROSAISCHEN
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1829), im zweiten Teil als ›Poetisierungen der Arbeitsteilung‹ Schillers Lied von der Glocke (1799) und Goethes Festspiel Pandora (1808) einander gegenübergestellt werden. Je einer der Vergleichstexte ist vor, der andere nach 1800 entstanden, wodurch die ›Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‹ als Signatur des sozialen Umbruchs verdeutlicht werden soll. Zudem werden die Texte entgegen ihrer Chronologie behandelt, um nicht durch simple Ableitungsverhältnisse die spätere Position als die modernere auszuweisen, sondern stattdessen die gemeinsame, problemgeschichtliche Motivationsbasis freizulegen.
P OETIKEN
DER
A RBEITSTEILUNG
Hegel hielt seine Vorlesungen zur Ästhetik an der Universität Berlin in den Jahren des wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Aufstiegs Preußens. Daher mag es zwar nicht verwundern, dass Hegel im modernen Staat die Prägekraft der Gesellschaft erblickt, das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (1797) allerdings dokumentiert die Ablehnung des Staates als etwas Mechanisches, das den Einzelnen einer Zwecksetzung subordiniert (vgl. Hegel 1979, Bd. 1: 234f.). Rund dreißig Jahre später definiert er den Staat als »das an und für sich Vernünftige«, in dessen Allgemeinheit die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt. Demgegenüber besteht für die Individuen die »höchste Pflicht […], Mitglieder des Staats zu sein.« (Ebd., Bd. 7: 399) Diese Orientierung am Selbst- und Endzweck des Staates ragt in Hegels ästhetische Theorie hinein, was besonders in den Reflexionen über das Wesen der Kunst und ihre Möglichkeit in der Gegenwart deutlich wird. Die moderne Gesellschaft ist geprägt von der Existenz allgemeiner Gesetze wie Institutionen, die den Handlungsspielraum der unter ihnen lebenden Individuen begrenzen. Dadurch erfährt der Einzelne sich als heteronom (vgl. ebd., Bd. 13: 240; ebd., Bd. 15: 258f.), was bezeichnenderweise nicht nur für die Bürger gilt, sondern auch für den Monarchen, der nur noch ein »abstrakter Mittelpunkt innerhalb ausgebildeter und durch Gesetz und Verfassung feststehender Einrichtungen [ist]« (ebd., Bd. 13: 253). In diesem Punkt erscheint es irrelevant, ob der Staat als Organismus oder Automaton betrachtet wird: Herrschaft wird versachlicht, menschliche Beziehung depersonalisiert – Tendenzen, die der Entstehung frühkapitalistischer Produktionsverhältnisse zurechenbar sind. Auch in Hegels Ästhetik wird diese gesellschaftliche Entwicklung im Bereich der Arbeit reflektiert: »Im wahren Staat nämlich ist die Arbeit für das Allgemeine, wie in der bürgerlichen Gesellschaft die Tätigkeit für Handel und Gewerbe usf., aufs allermannigfachste geteilt, so
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daß nun der gesamte Staat nicht als die konkrete Handlung eines Individuums erscheint […], sondern die zahllosen Beschäftigungen und Tätigkeiten des Staatslebens müssen einer ebenso zahllosen Menge Handelnder zugewiesen sein.« (Ebd.: 241)
Als Ursache für das zunehmende Abstraktwerden des Staates wird die Arbeitsteilung genannt, die hier als funktionale Ausdifferenzierung angesprochen ist. Für diesen Weltzustand prägt Hegel die Formel der ›gegenwärtigen prosaischen Zustände‹ (vgl. ebd.: 253). Als Kontrastbild wird der ›allgemeine epische Weltzustand‹ (vgl. ebd.: 235) gesetzt, der als Ideal menschlicher Existenz im antiken Heros verkörpert wird, wie ihn etwa Homers Ilias in Achill darstellt. Im Gegensatz zum modernen Menschen ist der griechische Held kraft seiner freien Handlung »der Träger und die ausschließliche Wirklichkeit« von »Recht, Gesetz, Sittlichkeit usw.« (Ebd.: 255). Die Resultate der Arbeit, deren Einheit und Ursprung im modernen Staat sich in einer Unzahl von Teilhandlungen verliert, sind im heroischen Zeitalter noch auf Willen und Handlung eines konkreten Individuums zurückzuführen. Folgt man dieser Darstellung, gelangt man zu dem Schluss, dass die Idee der Freiheit, entsprechend ihrer überindividuellen Realisierung im modernen Staat, menschheitsgeschichtlich in der griechischen Antike im einzelnen Menschen verwirklicht war. Wenngleich Hegel eine Restitution jener Gesellschaftsverhältnisse als einen zivilisatorischen Rückschritt ablehnt, postuliert er ein natürliches Interesse, den Zustand individueller Selbstständigkeit zu rekonstruieren – eine Aufgabe, die vornehmlich der Literatur zukomme. Verräterisch ist, dass eine Begründung für dieses Interesse ausbleibt. Sie kann auch nicht geboten werden, da sie die abstrakte bürgerliche Staatsordnung doch wieder als die mechanische Fessel des Individuums ausweisen würde, als die das Älteste Systemprogramm sie ins Unrecht setzte. Aus diesem Interesse jedenfalls leitet Hegel einen normativen Poesiebegriff ab, der besser vor dem Hintergrund seiner Auffassung zu verstehen ist, die Kunst sei neben Religion und Philosophie eine der drei Darstellungsformen des absoluten Geistes, in denen die absolute Idee zu der ihr gemäßen Erscheinung gelange (vgl. ebd.: 128). Dieses Ziel sei nur in der klassischen Kunst des antiken Griechenlands erreicht worden. Das Ideal menschlicher Tätigkeit als Hervorbringen fällt mit dem Hervorbringen des Ideals im Kunstwerk zusammen (vgl. ebd., Bd. 14: 25ff.). Mit dem Überschreiten dieser teleologischen Vollstufe formuliert Hegel für die Gegenwart, die sich einer ungeheuren Traditionsfülle an Stoffen und Formen gegenübersieht, die berüchtigte These vom Ende der Kunst und begründet sie mit dem Argument: »Bei dieser Breite und Mannigfaltigkeit des Stoffs ist nun v.a. die Forderung zu stellen, daß sich in Rücksicht auf die Behandlungsweise überall zugleich die heutige Gegenwärtigkeit des Geistes kundgebe.« (Ebd.:
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238) Würde nicht aber das auf die Aufnahme des Prosaischen hinauslaufen? Dass Hegel dennoch fordert, die Poesie solle »der vollkommenen Freiheit des Willens und Hervorbringens wegen« (ebd., Bd. 13: 251) von den Fürsten der mythischen oder historischen Vergangenheit handeln, deutet auf eine Aporie dieser Kunstauffassung hin, deren Widerspruch in der Ästhetik nicht aufgelöst wird. Die »untergeordneten Stände […]« – d.h. die Bürger – gelangen außerhalb der Komödie nicht in den Blick, da sie nicht frei handeln, sondern innerhalb der Schranken der »unüberwindliche[n] Macht der bürgerlichen Ordnung« (ebd.: 251f.). Die arbeitenden Klassen, das Kleinbürgertum und das Proletariat, die mehr noch als die Bürger »mit ihren Leidenschaften und Interessen durchweg ins Gedränge und in die Not der ihnen äußeren Notwendigkeit« (ebd.) geraten, werden als literaturunwürdig erachtet, da ihre heteronome Arbeitsform nicht dem am Heros orientieren Arbeitsideal entspricht. Wenn Hegel schließlich ausführt, dass allein die Auflösung der Ordnung in Kriegszeiten den Bürger als Protagonisten der ernsten Genres legitimiert (vgl. ebd.), überführt er sich einer Staatsgläubigkeit, die einen Mangel an Einsicht in die Kontingenz der bürgerlichen Gesellschaft enthüllt. Demgegenüber bezieht Schillers Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen die arbeitenden Klassen mit ein, die »durch den Kampf mit der Not […] ermüdet und abgespannt« sind (Schiller 2004, Bd. 5: 591f.). Die Kulturkritik des 6. Briefes verfolgt die Genese der modernen Gesellschaft und fokussiert dabei das Phänomen der Arbeit: »Sobald auf der einen Seite die erweiterte Erfahrung und das bestimmtere Denken eine schärfere Scheidung der Wissenschaften, auf der andern das verwickeltere Uhrwerk der Staaten eine strengere Absonderung der Stände und Geschäfte notwendig machte, so zerriß auch der innere Bund der menschlichen Natur, und ein verderblicher Streit entzweite ihre harmonischen Kräfte.« (Ebd.: 583)
Die ›Absonderung der Stände und Geschäfte‹ erscheint als Ursache sowohl des zivilisatorischen Fortschritts als auch der gesellschaftlichen Antagonismen. Für den einzelnen Menschen bedeutet die berufliche Spezialisierung gemessen an seinem Potenzial Verkümmerung, da er »zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft« (ebd.: 584) gerät. Dieter Stürzel (1987: 67f.) hat darauf aufmerksam gemacht, dass Schiller zwar mit dem Konzept der Arbeitsteilung »weit in das neuzeitliche Denken vor[stößt]«, dieses aber auf die feudalabsolutistische Ständegesellschaft unter soziopolitischen und nicht etwa unter sozioökonomischen Aspekten bezieht.
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Demgegenüber fällt auf, dass die Arbeitsteilung nicht geburtlich, sondern funktional als Ausdifferenzierung im Hinblick auf Tätigkeitsbereiche begründet wird. Dass sich hierin eine ökonomische Perspektive andeutet, legt Schillers Vertrautheit mit Adam Fergusons Essay on the History of Civil Society (1766) nahe, in dem die sozialen Antagonismen des frühindustriellen Englands auf Arbeitsteilung und ungleiche Eigentumsverhältnisse zurückgeführt werden (vgl. Berghahn/Müller 1979: 54). Schillers geschichtsphilosophischer Ansatz erlaubt es, aus der Kulturkritik heraus eine Zukunftsperspektive zu formulieren. Wie auch bei Hegel kommt eine Restitution vormoderner Zustände nicht in Frage, da die Produktivitätssteigerung durch Arbeitsteilung als conditio sine qua non des hohen Zivilisierungsgrades erkannt wird. Daraus ergeben sich die Forderungen, die Totalität des Individuums wiederherzustellen, die Gesellschaft zu reformieren und dabei nicht hinter die Errungenschaften der Zivilisation zurückzufallen. Das kulturelle Instrument für diese diffizile Operation erblickt Schiller in der schönen Kunst. Die Begründung gelingt ihm aufgrund der Reduktion sämtlicher in den Ästhetischen Briefen behandelter Antagonismen auf die Dichotomie von Form und Stoff beziehungsweise Vernunft und Sinnlichkeit: Sie findet sich zuunterst in der Triebstruktur des Menschen als Gegeneinander von Form- und Stofftrieb, da deren harmonische Interaktion in der arbeitsteiligen Gesellschaft gestört ist (vgl. Schiller 2004, Bd. 5: 604ff.). In der Gegenwart spiegelt sich dieses Ungleichgewicht im Einzelnen auf höherer Stufe in der gesellschaftlichen Entkopplung von Aristokratie und Bürgertum – oder in Schillers Vokabular: im Gegensatz von Barbar und Wildem (vgl. ebd.: 579). Die Versöhnung dieser Antagonismen kann die Poesie leisten, da in ihr zwischen Vernunft und Sinnlichkeit kein Ungleichgewicht herrscht, sondern die Form notwendige Funktion des Inhalts ist, sodass dieser wiederum völlig zu Geist sublimiert wird (vgl. ebd.: 639). Dadurch erwirken Produktion wie auch Rezeption des Schönen die harmonische Produktivität der entgegengesetzten Grundtriebe – den ästhetischen Zustand –, aus deren Wechselspiel der Spieltrieb hervorgeht (vgl. ebd.: 611–619). Sein Profil gewinnt der Spielbegriff hauptsächlich aus der Opposition zum Arbeitsbegriff: »Das Tier arbeitet, wenn ein Mangel die Triebfeder seiner Tätigkeit ist und es spielt, wenn der Reichtum der Kraft diese Triebfeder ist, wenn das überflüssige Leben sich selbst zur Tätigkeit stachelt. […] Von dem Zwang des Bedürfnisses oder dem physischen Ernst nimmt sie [die Natur] durch den Zwang des Überflusses oder das physische Spiel den Übergang zum ästhetischen Spiel […].« (Ebd.: 663)
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Arbeit und Spiel werden bezeichnenderweise als Spezies desselben Genus konzipiert, nämlich als Formen der Tätigkeit, die sich hinsichtlich ihres Telos unterscheiden: Während die Arbeit durch ihre Zwecksetzung als heteronom gekennzeichnet ist, werden das Spiel, die Kunst und der Genuss als selbstreferenzielle Handlungen als deren notwendiges Gegengewicht ausgewiesen. Somit entdeckt Schiller über den Spielbegriff die Funktion des Überflusses für die Kultur (vgl. Stürzel 1987: 74). Im abschließenden 27. Brief (vgl. Schiller 2004, Bd. 5: 661– 669) macht Schiller deutlich, dass die Therapie der Menschennatur auf eine Versöhnung der gesellschaftlichen Antagonismen hinausläuft, indem er das Bild eines ›ästhetischen Staates‹ zeichnet. Während nämlich im ›dynamischen Staat‹ das Recht des Stärkeren und im ›ethischen Staat‹ abstrakte Pflichten den menschlichen Umgang bestimmen, vermögen Geschmack und Schönheit im ›ästhetischen Staat‹ in den Individuen einen geselligen Charakter heranzubilden, der das Vernünftige zur Natur werden lässt. Das Vorbild dieser Idealgesellschaft wird bereits im 6. Brief benannt: die »griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines unabhängigen Lebens genoß und, wenn es not tat, zum Ganzen werden konnte« (ebd.: 584). Allerdings sieht Schiller, anders als Hegel, im griechischen Polis-Wesen das Ideal nicht verkörpert, denn aus seinen historischen Studien wusste er, dass die Öffentlichkeitsbezogenheit der griechischen Bürgerexistenz auf der Auslagerung aller Privatangelegenheiten auf den Sklavenstand basierte (vgl. ebd., Bd. 4: 811). Für Schiller ist der Staat das Mittel, das Individuum der Endzweck; daher rühmt er die attischen Gesetze, deren Gültigkeit durch den Stifter Solon auf 100 Jahre beschränkt wurde (ebd.: 815, 831). Diesem Kontingenzbewusstsein im Politischen entspricht in den Ästhetischen Briefen der Vorbehalt, die Poesie auf Inhalte zu verpflichten. In anderen Schriften bezieht Schiller vordergründig konventionelle Positionen: So beschränkt er die Darstellung des Niedrigen auf die Komödie, unter wirkästhetischen Prämissen löst er sich jedoch von einer moralischen Beurteilung. Nicht der Stoff, sondern die Behandlungsweise durch den Dichter mache das Kunstwerk aus (vgl. ebd., Bd. 5: 639, 993), daher könne »uns eine teuflische Tat, sobald sie nur Kraft verrät, ästhetisch gefallen.« (Ebd.: 541)
P OETISIERUNGEN
DER
A RBEITSTEILUNG
Die »zwei großen Triebräder«, die Goethe (2005, Bd. 18.2: 359) in der Natur am Werk sah, Polarität und deren Überwindung durch Steigerung, strukturieren auch
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die Dramaturgie des Festspiels Pandora (ebd., Bd. 9: 151–185).1 Schon das Bühnenbild präsentiert eine in Gegensätze zerrissene Welt (vgl. Diener 1968: 97–103): Die linke, dem Westen zugewandte Seite, auf der eine ungezähmte Berglandschaft bis in den Himmel ragt, ist das Herrschaftsgebiet des Prometheus, des Inbegriffs des Homo faber. Als strenger Patriarch regiert er ein Volk von Schmieden, das notdürftig in den Fels getriebene Höhlen bewohnt. Auf der rechten Seite, die im Osten den Blick auf das offene Meer freigibt, erstreckt sich das von Hirten besiedelte Reich des Epimetheus, der, in Trauer verloren, auf die Rückkehr seiner verschwundenen Gattin Pandora wartet. Holzgebäude in umzäunten Gärten und Obstbäume zeigen Eigentumsbildung und Naturgestaltung an. Die Entfremdung der Brüder steht für die Polarität von Tun und Denken, Arbeit und Kontemplation, die getrennt unfruchtbar bleiben. Mit dem ersten Auftritt ruft Prometheus seine Schmiede ans Werk: »Der Fackel Flamme morgendlich dem Stern voran In Vaterhänden aufgeschwungen kündest du Tag vor dem Tage! Göttlich werde du verehrt. […] Vorleuchtend meinem wackern arbeitstreuen Volk, So ruf’ ich laut euch Erzgewält’ger nun hervor. Erhebt die starken Arme leicht, daß taktbewegt Ein kräft’ger Hämmerchortanz laut erschallend, rasch Uns das Geschmolz’ne vielfach strecke zum Gebrauch.« (V. 155–167)
Auf diesen Ruf hin werden in den Höhlen die Feuer entfacht. Der durch die Flamme erzeugte »Tag vor dem Tage« spricht eine doppelte ›Unzeit‹ an: Zum einen beruht der menschliche Gebrauch des Feuers nicht auf der freiwilligen Gabe seiner Besitzer, der Götter, sondern auf einer verfrühten räuberischen Aneignung; zum anderen schafft die Flamme einen künstlichen Tag, der den Rhythmus der Arbeit gegen die Rhythmen der Natur phasenverschiebt, die in der Festspieldramaturgie eine geschichtsphilosophische Bedeutung gewinnen (vgl. Diener 1968: 85f.): In der anfänglichen Tageshelle, die in die Vorgeschichte ausgelagert ist, herrschte Harmonie, als Pandora – das Symbol höchsten Glücks – auf der Erde weilte. Darauf folgt die Nacht, in der äußere und innere Elemente entfesselt werden und für Entzweiung sorgen; schließlich bricht eine versöhnte Harmonie auf höherer Stufe mit dem Sonnenaufgang an.
1
Die folgenden Versangaben beziehen sich auf diesen Text.
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Durch das Anzünden der Schmiedeöfen vor Sonnenaufgang, die Bündelung und Koordination der Arbeitsvorgänge durch Prometheus wird die manufakturelle Produktionsweise, die als ›mechanische‹ Industrie das ›organische‹ Handwerk zunehmend verdrängt, in die mythische Vorzeit projiziert. Als Geheimrat war Goethe seit 1776 mit der Wiederbelebung des Bergbaus in Ilmenau befasst und schrieb an Schiller diesbezüglich, er bemerke »überall den Übergang vom Handwerk zum Maschinenwerk« (Goethe 2005, Bd. 8.1: 102). Durch diese Überblendung mit der Proto-Industrie wirkt das Schmiedehandwerk wie ein in die mythische Welt einmontierter Fremdkörper. Deutlich wird dies in der Interaktion der Schmiede mit den Hirten des Epimetheus, worin ein geschichtsphilosophisches Modell der Kulturentwicklung allegorisiert wird (vgl. Graevenitz 1993: 84): Ein Hirte erbittet zum Schneiden einer Rohrflöte von den Schmieden Werkzeug, das der Naturbeherrschung dient. Ein zweiter Hirte möchte Waffen zur Verteidigung seiner Herde; er dringt auf Selbsterhaltung. Der dritte will statt seiner Schilfflöte ein »ehern Rohr« (V. 285), wodurch die Gestaltung des Natürlichen der Hervorbringung von Künstlichem weicht. Trotz des natürlichen Entwicklungsganges sticht das Blechinstrument aus der bukolischen Szenerie als heterogen hervor. Den letzten Schritt läutet Prometheus mit seinem Aufruf zur Waffenproduktion ein, um sein zahlreich gewordenes Volk zur Eroberung der Welt auszusenden (vgl. V. 300–308). Das gestörte Kräftegleichgewicht entlädt sich in einer Katastrophe, als Phileros, der Sohn des Prometheus, sich in Epimetheus’ Tochter, Epimeleia, verliebt. In blinder Eifersucht auf einen Hirten verübt Phileros durch ein geschmiedetes Werkzeug – ein Beil – den ersten Mord und verletzt sogar die Geliebte. Darauf bricht Krieg aus zwischen den Gruppen: Die Hirten rächen ihren ermordeten Gesellen, woraufhin die prometheischen Krieger im Gebiet des Epimetheus brandschatzen. Vom Vater verstoßen, stürzt sich Phileros ins Meer, während gleichzeitig Epimeleia in eine Feuersbrunst gerät. Auf dieser Handlungsstufe wiederholen sich in äußerster Steigerung (vgl. Graevenitz 1993: 84f.) der Bruderkonflikt im Bürgerkrieg und Epimetheus’ Liebe zu Pandora in Phileros’ Leidenschaft für Epimeleia, symbolisch gespiegelt im Toben der Elemente. Das Festspiel endet damit, dass Heer und Hirten im Verbund das Feuer löschen und Eos, die sich aus den Fluten erhebt, den Ozean besänftigt; beide Titanenkinder kehren geläutert wieder, und ein Fest hebt an, in dem Phileros, mit den Attributen des Dionysos ausgestattet, als Präfiguration des Messias erscheint (vgl. ebd.: 86f.). Das Fest, das aus der Verbindung von Phileros und Epimeleia, von Tun und Denken, entsteht, bildet, analog zu Schillers Spielkonzeption, den Kontrast zur prometheischen Arbeit. So schließt sich mit dem natürlichen Tagesanbruch der symbolische Kreis, der vom widernatürlichen Licht der Arbeiter eröffnet wurde.
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Diese von der prometheischen Welt ausgehende Motivkette beginnt mit dem geraubten, irdischen Feuer der Fackel und zieht sich über die Schmiedeöfen in die epimetheische Sphäre als alles gefährdender Brand, der – symbolisch – durch das himmlische Feuer der Morgenröte gelöscht wird. Mit diesem Höhepunkt bricht das Festspiel ab, die geplante Wiederkehr der Titelfigur gestaltete Goethe nicht mehr. Das Schema der Weiterführung (vgl. Goethe 2005, Bd. 9: 1146ff.) verrät jedoch, dass mit Pandoras Rückkehr und durch die Gaben aus ihrer Kypsele die verfeindeten Sozietäten in einer neuen Gesellschaftsordnung versöhnt werden sollten, in der Schillers Entwurf eines ästhetischen Staates durchscheint. Prometheus, der sich schon gegenüber dem Fest verschlossen hat – »Was kündest du für Feste mir? Sie lieb ich nicht« (V. 1043) –, will »die ȀȣʌıİȜİ [Kypsele] vergraben und verstürzt wissen« und »insistiert auf unbedingtes Beseitigen« (ebd.: 1146). Während Epimetheus verjüngt und an Pandoras Seite in den Himmel auffährt, kann sein Bruder in die neue Gesellschaftsordnung nicht integriert werden. Gerade im Fragmentcharakter, der die utopische Vision nur andeutet, drückt sich aus, dass die klassizistische Formensprache als symbolisches Deutungsinstrument der sozialen Wirklichkeit an eine Grenze gelangt ist. Statt in einer mythischen Vorzeit spielt Schillers Lied von der Glocke (Schiller 2004, Bd. 1: 429–442)2 in einer zeitgenössischen Gießerei. In zehn kunstvollen Liedstrophen erteilt der Meister fachmännisch Befehle an die Gesellen, welche Arbeitsschritte zu erledigen sind: »Nehmet Holz vom Fichtenstamme, Doch recht trocken laßt es sein, Daß die eingepreßte Flamme Schlage zu dem Schwalch hinein. Kocht des Kupfers Brei, Schnell das Zinn herbei, Daß die zähe Glockenspeise Fließe nach der rechten Weise.« (V. 21–28)
Der Text stellt den Vorgang nicht durch einen externen Erzähler dar, sondern erzeugt ihn (vgl. Enzensberger 1966): Wort und Tat bilden eine organische Einheit, deren Verlust ein Grundmovens von Schillers Poetik bildet (vgl. Schiller 2004, Bd. 5: 431ff., 639, 705f.). Die Wahl eines metallurgischen Handwerks
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Die folgenden Versangaben beziehen sich auf diesen Text.
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knüpft an eine alteuropäische Topik des Poeta faber an, in der die Spracharbeit mit der Gewinnung, Veredlung und dem Formguss des Metalls verglichen wird. Die Glocke »Concordia« (V. 393), deren Aufstieg »aus der [irdischen] Gruft« »in die Himmelsluft« (V. 419, 421) die Ballade nachzeichnet, ist damit gleichzeitig poetologisches Symbol. Dieses Zunftlied sprengt Schiller, indem er Abschnitte von bis zu 72 Versen Länge einschaltet, teils zu Strophen gruppiert, in denen der Meister zwischen den Stadien des Glockengusses und dem menschlichen Leben mehr oder weniger plausible Analogien herstellt, die »das ursprüngliche Gedicht […] in eine unförmige Allegorie [verwandeln]« (Berghahn 1996: 273). Die Reinheit des Erzes gibt Anlass zur Darstellung der Unschuld der Jugend und der ersten Liebe, die Mischung von ›Sprödem‹ und ›Harten‹ erlaubt die Be- und Festschreibung der Geschlechterrollen, die Zerschlagung der Gussform leitet über in eine Warnung vor Bürgerkrieg und Revolution (vgl. Hofmann 2005: 288). Das Urteil, hier werde eine spießbürgerliche Idylle entworfen, relativiert sich mit Blick auf die geschilderten Arbeitsvorgänge: Im Vordergrund stehen Feldarbeit, Viehhüten und Wollspinnerei (vgl. V. 109, 128ff., 278–282, 437). Spezifisch bürgerliche Berufe fehlen jedoch völlig; »Kunstfleiß«, »Wissenschaften« und »Handelsverkehr«, die Schiller (2004, Bd. 4: 816) an anderer Stelle als kulturelle Promotoren erkennt, werden vom Gewimmel der »[t]ausend fleißge[n] Hände« (V. 311) verdeckt. Diese rustikale Szenerie wird von typisierten Figuren bevölkert, die durch fast schon pleonastische Epitheta zu Klischees verblassen (vgl. Enzensberger 1966). Diese ›Stadtflucht‹ mag dem Bewusstsein des lyrischen Sprechers, dem Meister, zugeordnet werden, handelt es sich doch bei der Ballade um ein Rollengedicht. Im Einklang damit zeugt gerade die Handwerksdarstellung von großer Präzision. Schiller stützte sich für sie sowohl auf literarische Prätexte als auch auf den Artikel »Glocke« in Johann Georg Krünitz’ Oeconomischtechnologischer Enzyklopädie und schöpfte außerdem aus direkter Anschauung: 1788 besuchte er in Rudolstadt mehrmals eine Glockengießerei (vgl. Hofmann 2005: 287; Berghahn 1996: 269f.). Diese intensive Auseinandersetzung mit der Materie – das Gedicht entstand zwischen 1797 und 1799 – schlägt sich in einer exakten, technisch richtigen Beschreibung des Gussvorgangs nieder, die mit Fachtermini wie ›Schwalch‹, ›Aschensalz‹ oder ›Glockenspeise‹ die Sachkenntnis des Meisters wie auch des Autors belegen kann. Formal bestechend illustrieren die Trochäen das rhythmische Hämmerschlagen, das man mit dem metallurgischen Handwerk verbindet. Die nach vier Zeilen eingeschobenen, um eine Hebung reduzierten Verse mit ihrem Wechsel vom eher erzählerischen Kreuz- zum
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kurzschrittigen Paarreim erzeugen eine rhythmische Steigerung, welche die Sentenzbildung am Strophenschluss begünstigt. Der metrische Bau der eingeschobenen ›Kommentarstrophen‹ gibt in seiner Formlosigkeit Rätsel auf, die in der Forschung nur gestreift, nie aber begründet werden. Vom inhaltlichen Gesichtspunkt her lassen sie sich am ehesten als strophisch und metrisch digressiv charakterisieren. Eine komplette Analyse der 345 Kommentarverse ist an dieser Stelle nicht möglich, doch schon die Interpretation der wesentlichen metrischen Auffälligkeiten ist äußerst aufschlussreich: Acht der insgesamt neun Einschübe sind vollständig oder überwiegend jambisch, wodurch sie den Trochäus des Zunftliedes ausbremsen und in die Reflexion überleiten. Allein die siebte, durchgehend trochäische Kommentarstrophe (V. 274–333) bildet eine metrische Brücke zwischen den sie einschließenden Liedstrophen. Inhaltlich werden hier Fest und Muße mit Ernte- und Brachzeit verbunden (V. 282–294); der bruchlose Übergang zwischen Arbeits- und Jahreszeitenrhythmus wird formal gespiegelt. Metrisch aufschlussreich ist der vierte Einschub (V. 88– 146), der dreigliedrige Versfüße nutzt: Auf sechs einleitende Jamben folgt eine trochäische Passage, in die nach acht Versen eine Doppelsenkung eingeschaltet wird, die den Übergang zu einem daktylischen Grundmetrum vorbereitet, das bei V. 133–140 anapästisch verkürzt und schließlich über drei metrisch völlig unklare Zeilen in vierhebige Trochäen überführt wird. Dieser entweder komplex oder »lustlos[…]« (Enzensberger 1966) gearbeitete Abschnitt verunmöglicht durch das Aufeinanderprallen der Versfüße jede Skansion und nötigt zu einer prosanahen Akzentuierung, die nur durch den Reim ihren Verscharakter behält. Dies gilt bezeichnenderweise für alle Kommentarstrophen, deren häufige Trochäen durch den Zusammenschluss weiblicher Kadenzen und betonter Versanfänge einen fließenden Sprachduktus begünstigen, der durch Versbrüche, Enjambements und das praktische Fehlen syntaktischer Inversionen unterstützt wird. Diese Tendenz, die formal an die Prosanähe des Blankverses erinnert, wird durch stellenweisen Reimverzicht noch weiter vorangetrieben. Insgesamt finden sich in den Kommentarstrophen 34 Waisen, meist in dichter Folge, die mit fast zehn Prozent Textanalteil einen für ein Reimgedicht breiten Raum besetzen. Dieser Befund ist meines Erachtens bezeichnend für die epochale Schwellensituation: Trotz seines Formwillens und eines Arsenals idyllisierender Genrebilder gelingt es Schiller nicht bruchlos, die ›Prosa‹ der Gesellschaft in die Versform zu überführen; vielmehr nähert diese seine »poetische=rhythmische« (Goethe 2005, Bd. 8.1: 449) Sprache eben dieser Prosa formal an.
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F AZIT Zwischen Schillers und Hegels ästhetischer Theorie springen einige Parallelen ins Auge: Beide gehen von der Arbeitsteilung als gesellschaftlicher Bedingung der Kunst aus. Beide nehmen an, in der Kunst erscheine das Ideal, das im Gegensatz zur Realität steht. Bei Hegel begründet die Forderung nach Gegenwärtigkeit der Kunst bei gleichzeitiger Festlegung auf die Rekonstruktion eines zivilisatorisch nicht mehr realisierbaren Ideals die Unvereinbarkeit von Poesie und Realität. Unter diesen Bedingungen besitzt die Poesie keine transformative Kraft in Bezug auf die Wirklichkeit; ihre Funktion ist höchstens eine kompensatorischeskapistische. Bei Schiller ist der Gegensatz zwischen Poesie und ›Prosa der Wirklichkeit‹ sowohl soziologisch als auch anthropologisch motiviert. Über das verkettende Motiv der Form/Stoff-Dichotomie kann die Kunst aber als Remedium des Menschen und der Gesellschaft dienen. Gerade in seiner ästhetischen Hauptschrift klammert Schiller die gegenwärtige Wirklichkeit nicht aus, sondern ebnet durch die Idee, dass die formale Gestaltung des Kunstwerks – und sei es in Prosa abgefasst – eine Funktion seines Inhalts darstellt, den Weg für eine immense stoffliche und formästhetische Erweiterung der Literatur, an der er selbst nicht mehr beteiligt war. Diesen Weg jedoch erprobend, zeigen Schillers und Goethes Handwerksdarstellungen, dass sich aus der Transformation der Arbeitswelt die Notwendigkeit ergibt, sie entgegen des eigenen ästhetischen Programms zu thematisieren. Erscheint das Handwerk in der Glocke noch als das Natürliche und Poetische, aus dem die abstrakte Ordnung des Bürgertums prosaisch hervorbricht, steht es in der Pandora bereits für die industrielle Arbeit, die den Menschen von sich selbst entfremdet. In beiden Fällen handelt es sich in gewisser Hinsicht um scheiternde Werke, denn so wenig Goethes Pandora in ihrer Symbolsprache die moderne Gesellschaftsproblematik zu bewältigen vermochte, gelang dies Schillers Glocke bezüglich der poetischen Formgebung. Gerade aber in ihrem Scheitern legen sie Zeugnis ab von der Peripetie der Poesie in die Prosa, vom Allgemeinwerden des ökonomischen Denkens, dem sich auch die autonomistische Literatur nicht entziehen kann.
L ITERATUR Barck, Karlheinz (2003): »Prosaisch – poetisch«, in: ders. et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5: Postmoderne bis Synästhesie, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 87–112.
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Organisation der Kraft. Kunst-Arbeit im Zeitalter der Thermodynamik G OTTFRIED S CHNÖDL
I NSPIRATION
UND
P ERSPIRATION
Die Entstehung eines seiner Gedichte beschreibt Goethe am 14.3.1830 folgendermaßen: »Ich hatte davon vorher durchaus keine Eindrücke und keine Ahnung, sondern sie kamen plötzlich über mich und wollten augenblicklich gemacht sein, so daß ich sie auf der Stelle instinktmäßig und traumartig niederzuschreiben mich getrieben fühlte. In solchem nachtwandlerischen Zustande geschah es oft, daß ich einen ganz schief liegenden Papierbogen vor mir hatte und daß ich dieses erst bemerkte, wenn alles geschrieben war, oder wenn ich zum Weiterschreiben keinen Platz fand. Ich habe mehrere solcher in der Diagonale geschriebenen Blätter besessen; sie sind mir jedoch nach und nach abhanden gekommen, so daß es mir leid tut, keine Proben solcher poetischen Vertiefung mehr vorzeigen zu können.« (Zit. n. Eckermann 1884, 215)
Vertiefung, Instinkt, ein nachtwandlerischer Zustand – die Produktion von Kunst scheint auf ein Moment angewiesen, das schwer zu beschreiben ist. Auch die Systematiker der Genieästhetik bringen es selten zu inhaltsreichen Definitionen, sondern gehen in der Regel negativ vor. So unterscheidet Kant die Kunst von der Natur, der Wissenschaft und vom Handwerk (vgl. Kant 1974: 237f.). Im Zentrum der letzteren Unterscheidung steht die Differenz zwischen »freier« und »Lohnkunst«. Diese, von Kant als »Arbeit« bezeichnet, sei eine »Beschäftigung, die für sich selbst unangenehm (beschwerlich), und nur durch ihre Wirkung (z.B. den Lohn) anlockend ist«, während die freie Kunst »für sich selbst angenehm« (ebd.: 238) sei. In der freien Kunst reüssiert nur das Genie, insofern es einen Zu-
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satz zur »normalen Arbeitsleistung« erbringt. Denn umgekehrt gilt, wie Kant in seinen nachgelassenen Reflexionen zur Anthropologie und Logik notiert: »Eine Produktion ohne Genie ist Arbeit« (zit. n. Kulenkampff 1974: 99). Der sich hier so unverblümt aussprechende Bruch zwischen Kunst und Arbeit steht im Zentrum einer ganzen Reihe von ästhetischen Versuchen. In den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen fordert Schiller bekanntlich gar die Abschaffung der Arbeit bzw. deren Aufgehen im Spiel zumindest für »eine Klasse von Menschen [...], welche, ohne zu arbeiten, tätig ist.« (Schiller 1963, Bd. 5: 768) Diese und ähnliche Konzeptionen durchziehen nicht nur die Genieästhetik um 1800, sondern betreffen mitunter jede Form von ›genialer‹ Produktion. Die Herstellung des Neuen, Noch-nie-da-Gewesenen bleibt selbst noch im Falle des Ingenieurs Thomas Edison an eine Unwägbarkeit gebunden, an ein Moment, das sich nicht positiv beschreiben lässt, sondern gerade dort auftritt, wo mit der banalen Arbeit alleine kein Auslangen gefunden wird. Auch der Erfinder bedarf nicht nur des Schweißes: »Genius is one per cent inspiration and ninety-nine per cent perspiration.« (Newton 1987: 24)1 Ein solcher Bruch zwischen Arbeit und Kunst, auch wenn er nicht nur die Zeit der Klassik, sondern auch noch weite Teile des späteren 19. Jahrhunderts bestimmt und zum Teil bis in die rezente Diskussionen hinein zu verfolgen ist,2 hebt sich jedoch deutlich von einer aktuellen, gegenläufigen Tendenz ab. Mit Blick auf derzeitige Entwicklungen v.a. im Bereich der Erwerbsarbeit etwa kann konstatiert werden, dass sich die Bereiche Kunst und Arbeit in den letzten Jahren immer stärker angenähert haben. So gewinnen im Rahmen der Erwerbsarbeit Fähigkeiten wie Selbstmotivation, -kontrolle und -organisation immer stärkere und – insofern gleichzeitig die tradierte Grenze zwischen Arbeit und Freizeit immer durchlässiger wird – auch immer breitere Bedeutung. In den Arbeitsdiskurs schleichen sich Begriffe und Vorstellungen ein, die ihren Ursprung im Bereich der Kunst haben – kaum ein Stellenangebot etwa, das den Arbeitsuchenden nicht die Möglichkeit freier Selbstverwirklichung im Rahmen der angebotenen Arbeit in Aussicht stellte. Auch hinsichtlich der Arbeitsabläufe scheint eine im-
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Zum Thema »Genie und Arbeit« hielt Eberhard Ortland am 06.11.2006 einen Vortrag am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Dieser Vortrag ist bislang unveröffentlicht. Eine frühere, leider aber auch bedeutend kürzere Version findet sich unter: http://www.momo-berlin.de/Ortland.html
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Besonders deutlich wird diese Haltung im Kontrast. Vgl. hierzu etwa Roberto Ohrt (2005), der die Praxis Kunstschaffender, von ihrer »Arbeit« zu sprechen, harsch kritisiert und in deutlichem Rückgriff auf überkommene Konzepte von Kunst eine stärkere Abgrenzung dieser zum Bereich »Arbeit« fordert.
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mer größere Nähe zwischen Kunst und Arbeit zu bestehen: Paulo Virno etwa verweist auf die wachsende Relevanz von »Virtuosität« und »Arbeit ohne Werk« sowohl im Rahmen künstlerischer als auch postfordistischer Arbeit (zit. n. Diederichsen 2008: 149). Und selbst eine eindeutig kritische Beschreibung, wie sie etwa Louis Althusser bereits im Jahr 1986 gibt, lässt eine Analogie zwischen zwei Formen von Tätigkeit erkennen, die sich v.a. durch Selbstorganisation auszeichnen: »Die heutigen Arbeitgeber sind nicht mehr die Barbaren von einst, die ihre Arbeiter wie rohe Tiere behandeln. Sie bringen ihren Arbeitern vielmehr bei, sich selbst auszunutzen und ihre eigene Ausbeutung in den wachsenden Freiräumen zu organisieren, die sich durch die Vollautomatisierung überall auffächern werden.« (Althusser 2010: 91)
Normale Arbeit wird demnach – wie etwa der Kunst- und Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen angibt – immer »kunstähnlicher« (Diederichsen 2008: 149). Schon im Jahr 2000 schlägt daher Thomas Röbke in seiner gleichnamigen Untersuchung vor, den Künstler als »Vorreiter« der neuen Formen von Arbeit zu begreifen (vgl. Röbke 2000). Der Künstler/die Künstlerin als Arbeitskraftunternehmer avant la lettre? Die diskursive Engführung von künstlerischer Tätigkeit und Arbeit, wie sie in diesem aktuellen Diskurs augenfällig wird, ist jedoch höchstens in ihrer spezifischen Ausprägung als rezentes Phänomen zu beschreiben.3 Vielmehr kann – und das ist die These, die in der Folge skizziert werden soll – bereits im 19. Jahrhundert die Tendenz konstatiert werden, künstlerische Tätigkeit nicht aus ihrem Widerspruch zur Arbeit, sondern vielmehr als (wenn auch meist als eine in gewisser Weise besondere) Arbeit zu beschreiben. Der zentrale Anknüpfungspunkt ist hierbei der radikal erweiterte Arbeitsbegriff, den eine Naturwissenschaft bereitstellt, die sich an den ersten Hauptsatz der Thermodynamik hält. Dieser besagt, dass »[u]nterschiedliche Formen von Energie [...] ineinander wandelbar [sind], [...] aber quantitativ erhalten« bleiben (Osietzki 1998: 323). Vor einem solchen Hintergrund bedeutet Arbeit, anders als in früheren Kontexten etwa der physiokratischen Ökonomie, nicht mehr notwendigerweise eine produktive, also ökonomisch nützliche, Aktivität, sondern einen Krafteinsatz, der mit anderen Krafteinsätzen verglichen und in andere Kraftformen konvertiert werden kann (vgl. Vogl 2002: 30). Von einem ökonomischen
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Der Unterschied scheint vor allem in der Blickrichtung zu liegen: Während in aktuellen Diskursen Termini aus dem Bereich der Kunst in den Bereich der Arbeit übernommen werden, vollziehen sich die Übernahmen um 1900 in die Gegenrichtung.
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Begriff, der an die Produktion von Reichtum gekoppelt war (vgl. Foucault 1971), wird die Arbeit damit zu einem Konzept, das »eine systematische Stelle im Zusammenhang neuer [...] Steuerungsideen besetzt« (Vogl 2002: 17). Im Rahmen thermodynamischer Konzepte wird die künstlerische Tätigkeit von Beginn an als Kraftumsetzung beschrieben. So veröffentlicht der Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier bereits im Jahr der Französischen Revolution mit seinem Memorandum Über die Atmung der Tiere einen Text, dessen Ziel der Nachweis des Äquivalents von mechanischer Arbeit und einer in lebenden Organismen ablaufenden, anhand des verbrauchten Sauerstoffs messbaren Verbrennung bildet. Steigt die Arbeitsleistung, so der Grundgedanke Lavoisiers, dann steigt auch der Sauerstoffverbrauch, und abhängig davon nimmt wiederum die Ermüdung des Organismus zu. Damit bereitet Lavoisier einen thermodynamischen Arbeitsbegriff vor, der Kraftquanten quantifizier- und konvertierbar erscheinen lässt. Insofern dieser Begriff schlechthin jede Form der Kraftumsetzung umfasst, kann Lavoisier damit auch universale Gültigkeit in allen Bereichen der Naturwissenschaft beanspruchen – ein Anspruch, den Helmholtz ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit durchschlagendem Erfolg erneuern wird.4 Schon Lavoisier macht jedoch explizit, dass mit seinem Arbeitsbegriff auch die Grenze zwischen mechanischer und höherer – geistiger oder künstlerischer Arbeit – gefallen ist: »Eine derartige Beobachtung führt dazu, Krafteinsätze zu vergleichen, zwischen denen keine Beziehung zu bestehen scheint. Zum Beispiel kann man ermitteln, wieviel Pfunden Gewicht die Anstrengung eines Menschen entsprechen, der eine Rede hält, oder eines Musikers, der ein Instrument spielt. Man könnte sogar abschätzen, wieviel Mechanik in der Arbeit des Philosophen steckt, der nachdenkt, des Literaten, der schreibt, des Musikers, der komponiert. Diese rein moralisch betrachteten Wirkungen haben etwas Physikalisches und Materielles an sich, das es in dieser Hinsicht erlaubt, sie mit denen des Tagelöhners zu vergleichen.« (Lavoisier 1862, Bd. 2; vgl. Vatin 1998: 349f.; Vogl 2002: 30)
In ganz ähnlicher Form wird Helmholtz mehr als ein halbes Jahrhundert später die Arbeit des »Violinspielers« auf dieselben Umsetzungsprozesse zurückführen, die auch die Arbeit des »Grobschmieds« bestimmen (Helmholtz 1876: 143). In diesem neuen Kontext wird selbst noch die genialste Hervorbringung zur Folge eines Krafteinsatzes, der zumindest potentiell mess- und berechenbar ist.
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Zur Bedeutung von Helmholtz’ Konzepten in den verschiedensten Diskursen und Wissensgebieten vgl. Rabinbach (1990).
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Die Beschreibung der Kunst als eine Form von Arbeit findet sich jedoch nicht nur bei Naturwissenschaftlern wie Lavoisier oder Helmholtz wieder, sondern tritt in verschiedenen Diskursen auf. Ein Beispiel, das deutlich macht, dass die Eingliederung der Kunst in einen Arbeitsbegriff, dessen Konzeption durch die Thermodynamik beeinflusst ist, nicht nur zu neuen Perspektiven auf die Kunst führt, sondern ebenso gut auf den Arbeitsbegriff selbst zurückschlägt, stellt die Herangehensweise Marx’ dar. Ähnlich wie bei Lavoisier oder Helmholtz, die durch den Blick auf den organischen Stoffwechsel zur Konzeption der thermodynamischen Kraftumsetzung und -erhaltung gelangen,5 finden sich auch bei Marx immer wieder Verweise auf organische Umsetzungsprozesse. Im Kapital etwa begreift Marx die Arbeit als »einen Prozeß zwischen Mensch und Natur, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert« (Marx/Engels 1971, Bd. 23: 192). In ihrer Vita activa verweist Hannah Arendt angesichts dieser Stelle auf die deutliche »biologisch-physiologische Gebundenheit dieser Tätigkeit« (also der Arbeit) und gibt zu bedenken, dass bei Marx »Arbeit und Konsumieren nur zwei verschiedene Formen oder Stadien in dem Kreislauf des biologischen Lebensprozesses sind« (Arendt 2002: 117). Tatsächlich scheint das In-Eins-Fallen der beiden Aspekte Arbeit und Konsumieren für Marx ein grundlegendes, jeder späteren Differenzierung vorgängiges Faktum darzustellen. In den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie von 1858 wird dies besonders deutlich. Hier betont Marx bereits eingangs: »Produktion ist unmittelbar auch Konsumtion« (Marx/Engels 1971, Bd. 13: 622). Damit ist zunächst nur gesagt, dass jeder »Akt der Produktion« »auch ein Akt der Konsumtion« ist, insofern die Produktionsmittel »gebraucht und abgenutzt« und »aufgezehrt« werden; und dass gleichzeitig jede Konsumtion auch Produktion ist, »wie in der Natur die Konsumtion der Elemente und der chemischen Stoffe Produktion der Pflanze ist« (ebd.). Durch die gesellschaftlich bedingte Vermittlung der produzierten Waren (Distribution) aber wird diese unmittelbare Identität aufgebrochen (ebd.: 626). Insofern die Distribution als nachträgliche gesellschaftliche Vermittlung begriffen werden kann, ist davon auszugehen, dass die – mit Blick auf Marx’ Metaphern so zu bezeichnende – ›natürliche Form der Tätigkeit‹ demnach eine Kraft- und Stoffumsetzung (etwa der Pflanze) darstellt, die
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Lavoisiers Interesse an der Atmung steht Helmholtz’ frühe Beschäftigung mit den Umsetzungen zur Seite, die bei Fäulnis- und Gärungsprozessen stattfinden (vgl. Helmholtz 1843).
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sich nicht mehr in Produktion und Konsumtion trennen lässt. Sie muss vielmehr als eine unteilbare und unmittelbare Lebensäußerung begriffen werden. Vor diesem Hintergrund kommt Marx’ Vorstellung der künstlerischen Tätigkeit eine Schlüsselrolle zu, insofern gerade in dieser Tätigkeit, anders als im Falle anderer Arbeiten, die beiden Pole von Produktion und Konsumtion, Arbeit und Leben, ebenso unmittelbar vereint scheinen wie in dem bewusstlosen Stoffwechsel der Pflanze. Die beste – wenn auch keineswegs besonders ausführliche – Beschreibung dieses Konzepts künstlerischer Tätigkeit findet sich in einem kurzen Abschnitt aus den Grundrissen, der mit Kritik an Adam Smith’ Auffassung von Arbeit unter allen Produktionsweisen als »Opfer und Last« überschrieben ist. Mit dem zentralen Argument des Abschnittes wendet sich Marx gegen die Auffassung Adam Smiths, dass jedes Arbeitsquantum durch ein gleich großes Opfer erkauft sei: »Gleiche Quantitäten der Arbeit müssen zu allen Zeiten und an allen Orten für den, welcher arbeitet, einen gleichen Wert haben. In seinem normalen Zustand von Gesundheit, Kraft und Tätigkeit und nach dem gewöhnlichen Grad von Geschicklichkeit und Gewandtheit, die er besitzen kann, muß er immer die nämliche Portion seiner Ruhe, Freiheit und seines Glücks geben.« (Marx/Engels 1971, Bd. 42: 504)
Der Vorstellung Smiths, die »Ruhe« erscheine als »der adäquate Zustand, als identisch mit ›Freiheit‹ und ›Glück‹« setzt Marx nun jedoch nicht nur die Arbeit als eine Tätigkeit entgegen, die Freiheit und Glück gerade produziert und daher aus politischen Gründen zu begrüßen ist, sondern er setzt an die Stelle des Smith’schen Ruhebedürfnisses ein »Bedürfnis [nach] einer normalen Portion von Arbeit [...] und von Aufhebung der Ruhe« (ebd.: 505). An die Seite der »äußre[n] Zwangsarbeit« (ebd.) wird damit ein innerer Zwang gestellt, ein Bedürfnis nach Arbeit, das sich eben dann zeigt, wenn, wie im Falle der künstlerischen Tätigkeit, äußere Zwänge wegfallen. Dieses Bedürfnis nach Arbeit wird bereits durch die Arbeit selbst befriedigt; Bedürfnis und Befriedigung fallen hier ebenso in eins wie Konsumtion und Produktion. Damit ist die Entfremdung aufgehoben, die Marx als das Auseinanderfallen von Konsumtion und Produktion begreift, etwa wenn er dem Kapitalismus vorwirft, dieser führe dazu, dass »der Arbeiter zum Produkt seiner Arbeit als einem fremden Gegenstand sich verhält« (Marx/Engels 1971, Bd. 5: 83), dass also, wieder mit Arendt gesprochen, »die Dinge der Welt [...] dem menschlichen Leben ›entfremdet‹ sind« (Arendt 2002: 440). Als geradezu paradigmatisch nichtentfremdete Arbeit wird die künstlerische Tätigkeit denn auch beschrieben. So betont Marx zwar zum einen den Arbeits-
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charakter der Kunst. Diese sei gerade nicht, wie Joseph Fourier gemeint hatte, »bloßer Spaß«, sondern vielmehr »verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung« (Marx/Engels 1971, Bd. 42: 505). Im Rückgriff auf Konzepte Hegels geht Marx davon aus, dass Kunst gerade als Arbeit ihr emanzipatorisches Potential gewinnen und zum Weg der eigentlichen Menschwerdung werden würde. »Selbstverwirklichung«, »reale Freiheit« und die »Vergegenständlichung des Subjekts« werde durch die zwanglose und freie Arbeit, durch die »travail attractif«, erst möglich (ebd.). Als Beispiel einer solchen freien Arbeit gilt gerade die abstrakteste Kunst, das »Komponieren« (ebd.). Die Stellung der Kunst zeigt sich hier bereits in dem Umstand, dass Marx neben dieser keine weiteren Beispiele für die freie Arbeit angibt, und andererseits die spezifische Form der Kunstarbeit als das Vorbild der zukünftigen Arbeit begreift: »Die Arbeit der materiellen Produktion kann diesen Charakter [den die Kunstarbeit aktuell bereits besitzt] nur erhalten, dadurch, daß 1) ihr gesellschaftlicher Charakter gesetzt ist, 2) daß sie wissenschaftlichen Charakters, zugleich allgemeine Arbeit ist, nicht Anstrengung des Menschen als bestimmt dressierte Naturkraft, sondern als Subjekt, das in dem Produktionsprozeß nicht in bloß natürlicher, naturwüchsiger Form, sondern als alle Naturkräfte regelnde Tätigkeit erscheint.« (Ebd.)
Die Kunstarbeit wird also als das Vorbild der kommunistischen Produktion dargestellt, als eine bewusste Steuerung natürlicher Prozesse. Gleichzeitig aber stellt sie selbst zumindest einen quasi-natürlichen Prozess dar, ist unmittelbare Konsumtion des eigenen Tuns, Arbeit ohne äußeren Zwang, aus einem postulierten inneren Bedürfnis, das – anders als der schnelle Übergang vom Komponieren zum Kommunismus zu suggerieren versucht – sich nicht mehr politisch oder gesellschaftlich, sondern nur noch anthropologisch oder recht eigentlich biologisch-physiologisch verorten lässt. Die Passage ermöglicht zwei sich widersprechende Lesarten: Ist die Kunst-Arbeit nun unmittelbares Leben, oder erfüllt sie die Funktion, dieses Leben sich selbst bewusst werden zu lassen, Selbstverwirklichung zu ermöglichen? Versteht Marx die Kunst-Arbeit aus einer solchen Idee eines ursprünglichen Arbeitsbedürfnisses, so ist bei Nietzsche der Überschuss an Energie, der »Druck der Fülle, aus der Spannung von Kräften« (Nietzsche 1988, Bd. 13: 20), der über den Weg künstlerischer Tätigkeit auf Entladung drängt, der Ansatzpunkt strukturell ähnlicher Überlegungen. Kunst-Arbeit ist hier an ein »thatsächliches Mehr an Kraft« (ebd.: 529) gebunden, wie Nietzsche in der kurzen Gliederung des geplanten Hauptwerkes einer Physiologie der Kunst (ebd.) schreibt, die dem Grundsatz folgt, »Ästhetik [sei] ja nichts als eine angewandte Physiologie«
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(ebd., Bd. 6: 26 u. 50).6 Und sie ist, wie man bereits in Die fröhliche Wissenschaft lesen kann, mit der Lust verknüpft, die eine solche Entladung verspricht. Unter dem Titel Arbeit und Langeweile schreibt Nietzsche darin: »Sich Arbeit [zu] suchen um des Lohnes willen – darin sind sich in den Ländern der Civilisation jetzt fast alle Menschen gleich; ihnen allen ist Arbeit ein Mittel, und nicht selber das Ziel; wesshalb [sic] sie in der Wahl der Arbeit wenig fein sind [...]. Nun giebt es seltenere Menschen, welche lieber zu Grunde gehen wollen, als ohne L u s t an der Arbeit arbeiten: jene Wählerischen, schwer zu Befriedigenden, denen mit einem reichlichen Gewinn nicht gedient wird, wenn die Arbeit nicht selber der Gewinn aller Gewinne ist. Zu dieser seltenen Gattung von Menschen gehören die Künstler und Contemplativen aller Art [...]. Alle diese wollen Arbeit und Noth, sofern sie mit Lust verbunden ist, und die schwerste, härteste Arbeit, wenn es sein muss.« (Ebd., Bd. 3: 409)
Kunst-Arbeit wird damit zu einem Abbild für Nietzsches »Lehre [...] eine[r] Umwerthung der Werthe, vermöge deren den aufgehäuften Kräften ein Weg, ein Wohin gezeigt wird [...]: indem sie Kraft auslöst, die bis zur Qual zusammengedrängt und gestaut war, bringt sie Glück.« (Ebd., Bd. 13: 20)
Wie bei Marx zeigt sich das Potential der Kunst-Arbeit auch bei Nietzsche in dem Moment, da sich in ihr die Steuerung dieser Kraftumsetzung auf gleichsam natürlichem Weg vollzieht, bzw. darin, dass eine solche Steuerung gar nicht nötig ist: Ohne den äußeren Zwang des Lohnes wird die Kunst-Arbeit zu einem Relais, durch das überschüssige Kraft ohne Widerstand abgeführt und schon dadurch Lust erweckt werden kann. Ebenso wie bei Marx – der zwischen einer Kunst als Lebensäußerung und einer Kunst als bewusster Arbeit der Selbstverwirklichung schwankt – wird bei Nietzsche die Kunst gleichzeitig zu einer natürlichen Lebensäußerung und zu einer Tätigkeit, der eine gewisse Funktion für das Leben zukommt (und damit von diesem geschieden ist): Sie wirkt als Ventil für aufgestaute Kräfte.
6
Zu Nietzsches Rezeption der Thermodynamik vgl. Stingelin (1999). Eine kurze Erwähnung der von Nietzsche geplanten Physiologie der Kunst findet sich bei Windgätter (2007: 124).
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Diese doppelte Bedeutung der Kunstarbeit – einerseits als Lebensäußerung, andererseits als dem Leben in einer funktionalen Relation entgegengesetzt – ist nicht leicht zu vermitteln. Sie spiegelt einen Bruch, der in der Entwicklung der Thermodynamik als Widerstreit zwischen dem mechanistischen und dem vitalistischen Paradigma sichtbar wird. Hier ist die Frage, ob bestimmte Umsetzungsund Handlungsprozesse des lebenden Organismus – wie etwa durch die angewandte Arbeitswissenschaft oder die Medizin – reguliert, gesteuert und optimiert werden müssen oder ob gerade ihr ungestörter, natürlicher Ablauf selbst das Optimum darstellt. Dies würde dann jedoch auch bedeuten, dass die Lebensprozesse die rationalen Modelle nicht nur in ihrer Wirksamkeit übersteigen, sondern sich auch ihrer wissenschaftlichen Durchdringung zumindest bis zu einem gewissen Grad entziehen würden (vgl. Neswald 2006: 295–335; Sinding 1998; Tanner 1998). Insofern Nietzsche das Leben selbst als optimalen Verwalter der Kraft annimmt, kann er die Kunst nur dann schätzen, wenn diese unmittelbare Lebensäußerung ist. Dies und damit der Wert von künstlerischer Tätigkeit ist jedoch auch im Werk Nietzsches nicht gesichert. Mit Blick auf Richard Wagner und im Widerspruch zu der oben skizzierten positiven Darstellung der Kunst etwa notiert er in einem nachgelassenen Fragment kryptisch: »Der starke freie Mensch ist Nicht-Künstler« (Nietzsche 1988, Bd. 8: 487). Deutet eine solche Aussage bereits auf einen gewissen Zweifel hin, so scheint etwa ab 1900 die Gleichsetzung von Kunst-Arbeit mit einer natürlichen und für den Künstler/die Künstlerin unmittelbar sinnvollen Kraft- und Zeitorganisation endgültig problematisch zu werden. So zieht etwa Mitte der 1920er Jahre die italienische Fotokünstlerin Tina Modotti eine ernüchternde Bilanz: »Ich habe zuviel Kunst in mein Leben gesteckt, [...] nun reicht es nicht mehr für meine Arbeit« (zit. n. Manguel 2002: 85). Noch pessimistischer lässt sich die Figur des »Künstlers« vernehmen, die der Kritiker, Literat und Essayist Hermann Bahr in seinem platonisierenden Dialog vom Marsyas aus dem Jahr 1906 auftreten lässt: »Im Schaffen ist mir oft, als ob ich durch das Werk, das mich plagt, wenn mir gelingt, es auszutragen, gereinigt und erweitert und gesteigert werden müßte. Bin ich es aber los, dann, in der Ermattung, die den Wallungen folgt, scheint mich mit dem Werke meine beste Kraft verlassen zu haben, und ich bleibe ausgehöhlt, ausgepumpt, erschöpft, nichtig und leer zurück, schlechter als ich war.« (Bahr 1906: 53)
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Hier deutet sich bereits die Gefahr der Selbstausbeutung, als die spezifische Ausbeutungsform freier Tätigkeit, an. Die Abwesenheit äußerer Zwänge gilt zwar auch Bahr und dem Großteil seiner Zeitgenossen noch immer als eine der Besonderheiten künstlerischer Tätigkeit, diese wird jedoch nicht mehr als per se natürliche Lebensäußerung begriffen, ja es steht sogar zunehmend in Frage, ob sie überhaupt als dem Menschen zuträgliche Form von Kraftumsetzung gelten, ob sie in der Kraftökonomie des Lebens einen positiven Beitrag leisten kann. Mit Blick auf Bahrs Dialog vom Marsyas kann diese Entwicklung an die zeitgenössischen Transformationen des Arbeitsbegriffs rückgebunden werden, die sich im Rahmen der Physiologie, Psychophysik oder der Arbeitswissenschaft abzeichnen. War bei Marx und – wenn auch unter Vorbehalt – bei Nietzsche gerade der unproblematische Krafthaushalt des Künstlers/der Künstlerin noch Ausweis der Besonderheit, die Kunst-Arbeit von anderer, vor allem durch äußere Umstände erzwungener Lohnarbeit, unterscheiden sollte, so klingen einige Passagen aus Bahrs Dialog wie ein Echo auf Aussagen, wie sie die zeitgenössische Arbeitswissenschaft zur schädigenden Wirkung übertriebener Erwerbsarbeit trifft. Im Jahr der Entstehung von Bahrs Marsyas schreibt etwa der Arbeitswissenschaftler Angelo Mosso, Erschöpfung »seems to consume our noblest qualities – those which distinguish the brain of civilised from that of savage men« (zit. n. Rabinbach 1990: 43). Erschöpfung markiert hier die Grenze einer Arbeit, die konsequent als Kraftumsetzung und Verbrauch von Energiereserven verstanden wird (vgl. ebd.: 19–44 und 179–205). Vor diesem Hintergrund ist es irrelevant, ob die Überanstrengung durch äußere Umstände erzwungen oder durch freien Entschluss in Kauf genommen wird. Auch vom herzustellenden Produkt, dem Kunstwerk, sieht Bahr explizit ab (vgl. Bahr 1906: 21), ja er betrachtet dies zumindest zunächst vielmehr als eine Art Friedhof der Energien und damit als eine Konkurrenz für einen anderen, weniger gefährlichen Umgang mit den eigenen Kraftreserven: »Vielleicht ist dieselbe Kraft in allen Menschen, nur daß die einen sie auf das Leben verteilen, die anderen aber geben sie an ihre Werke ab.« (Ebd.: 54) Vor dem Hintergrund des Krafterhaltungssatzes, den Bahr durch seine Lektüre Helmholtz’, Kraeplins oder Ribots in verschiedenen Kontexten rezipiert hat (vgl. Bahr 1994–2003) ist der Künstler/die Künstlerin dazu gezwungen, hinsichtlich seiner/ihrer künstlerischen Tätigkeit mit derselben Kraft zu rechnen, die auch für jede andere Tätigkeit, ja für den Lebensprozess selbst benötigt wird. Die Annäherung des Künstlerischen an den Habitus des Bourgeois, wie sie ab 1900 vor allem bei Malern/Malerinnen und Schriftstellern/Schriftstellerinnen zu konstatieren ist, kann demnach als eine Strategie verstanden werden, eine Ökonomie der Kraft auch im Bereich künstlerischer Tätigkeit zu etablieren.
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Während Goethe 1830 im Gespräch mit Eckermann, wie eingangs erwähnt, noch von der zu nachtschlafender Zeit aufbrechenden »poetischen Vertiefung« und einer »instinktmäßig und traumartigen« Niederschrift von Gedichten spricht, gibt etwa der Maler Max Liebermann im Jahr 1910, in einem Interview mit der Allgemeinen Zeitung des Judentums, an, er »schlafe, trinke, gehe spazieren und arbeite mit der Regelmäßigkeit einer Turmuhr.« (Zit. n. Küster 1988: 106) Ähnlich halten es die Schriftsteller Robert Musil oder Thomas Mann, die ihre Schreibarbeit mit vollendeter Regelmäßigkeit zu genau festgesetzten Tageszeiten zu erledigen vorgeben und so das Problem zumindest der zeitlichen Organisation künstlerischer Tätigkeit durch einen festen, an bürgerlichen Vorbildern ausgerichteten und damit der Selbstausbeutung zumindest nicht allzu verdächtigen Stundenplan zu lösen versuchen. Dennoch scheint das Vertrauen auf eine natürliche Selbststeuerung im Bereich der Kunst nicht völlig gebrochen, sondern vielmehr verschoben. Derselbe Bahr, der die Gefahr einer Überarbeitung, einer tiefgehenden Erschöpfung durch übermäßige künstlerische Tätigkeit so eindringlich schildert und unter die Überschrift einer Kunst aus Mangel stellt, erkennt die Vorbedingung einer optimalen Selbstorganisation, einer Kunst aus Fülle, weniger in einem nietzscheanischen Überschuss an Kraft als vielmehr in einem genauen Wissen um die Steuerung und Organisation der eigenen Energien. Die Frage nach der Organisation der Kraft im Rahmen der Kunst-Arbeit wird so nicht, wie bei Nietzsche und Marx, bereits mit dem Umstand beantwortet, dass es sich hierbei um Kunst und damit um freie Arbeit handle, deren Ausübung dem Künstler/der Künstlerin jederzeit Selbstverwirklichung oder Lust bedeute bzw. bereits selbst ein Akt wäre, dessen Natürlichkeit an den Stoffwechsel gemahnt. Vielmehr verbindet sich die Kraftökonomie künstlerischer Tätigkeit mit der Forderung nach individueller Selbsterkenntnis: »Am Ende«, so antwortet Bahrs Meister dem verzweifelten Künstler auf seine Frage, wie eine sinnvolle Kraft- und Zeitorganisation auszusehen habe, »kommt’s doch immer nur darauf an, daß einer wisse, welche Hitze er vertragen kann« (Bahr 1906: 70).
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Ganzheitlichkeit und Konditionierung Zur Körperbildung im frühen 20. Jahrhundert J ULIA Z UPFER
Mit der durch Friedrich Nietzsche eingeleiteten Rückbesinnung auf die sinnlichen und kinetischen Fähigkeiten des Menschen wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Körper als Bewegungsproduzent und der Tanz als dessen Ausdruck neu erschlossen:1 »Der Tanz […] wurde gerade aufgrund seiner Nicht-Rückführbarkeit auf sprachliche und damit logisch gegebene Bedeutungsstrukturen zum Paradigma einer Kunst, die zu ihrer ›Urform‹ zurückkehrt.« (Baxmann 2000: 154) Entgegen dieses Anspruchs ergaben sich als weitere Effekte dieser Rückbesinnung neue Möglichkeiten für die Nutzbarmachung menschlicher Körper im Sinne arbeitsweltlicher Bedürfnisse. Die Genese produktivitätsfördernder Resultate aus diesem ganzheitlichen Anspruch wird im Folgenden rekonstruiert. Besonders der Ausdruckstanz2 beschäftigte sich mit den Möglichkeiten des körperlichen Darstellungsvermögens und experimentierte mit der wiederent-
1
Mit seiner Philosophie gegen eine rein rationale Weltanschauung, seiner Kritik an der deutschen Scheinkultur, die sich gegen eine Überbetonung des Intellekts aussprach, und seiner Hinwendung zur Körperlichkeit als einem antirationalistischen Konzept von Sinnlichkeit idealisierte Nietzsche in Also sprach Zarathustra (1885) jenen »Tänzermenschen«, der in seinem Körper eine Art ursprünglichen Wissens speicherte: »Nur im Tanz weiß ich der höchsten Dinge Gleichnisse zu reden.« (Nietzsche 1968: 140; vgl. Baxmann 2000: 25f.)
2
Unter »Ausdruckstanz« werden verallgemeinernd alle tänzerischen Erscheinungsformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammengefasst, die sich als Reaktion und Protest gegen den kodifizierten Formenkanon des Balletts wandten (vgl. Müller/Stöckemann 1993: 22f.).
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deckten Fülle von Bewegungsabläufen des menschlichen Körpers (vgl. Faust 2006: 96f.). Diese Rückkehr zur Fokussierung auf das Sinnliche und Körperliche im Menschen ist mit einer Neubetrachtung des Rhythmus verbunden, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark diskutiert wurde. Das Gefühl, in einer »entrhythmisierten« Zeit zu leben, wurde auf die industrialisierten Arbeits- und Lebensverhältnisse zurückgeführt (Brandstetter 2005: 34). Mit einer angestrebten Re-Rhythmisierung des Menschen verband man die Hoffnung, dem entgegenwirken zu können – so auch der Nationalökonom Karl Bücher (1847–1930). In seinem Werk Arbeit und Rhythmus, das 1896 erschien, stellte er – Bezug nehmend auf rhythmische Arbeitsgesänge – die Verbindung von Arbeit, Kunst und Spiel her. Im Rhythmus erkannte er einen sozial vereinheitlichenden Faktor (vgl. Baxmann et al. 2009: 26). Büchers Werk übte starken Einfluss auf die Diskussion um den Körper in der sich wandelnden technisierten Arbeitswelt aus. Besonders im Tanz schien die Rückkehr zum Rhythmischen möglich, da dieser als Ausdruck ursprünglicher Bewegung verstanden wurde (vgl. Hardt 2004: 32). Im Blick blieben dabei stets die Auswirkungen der modernen Arbeitswelt auf den Körper (vgl. Huschka 2002: 155). Exemplarisch für den Übergang von Körpertechniken3 der Arbeit in die Neukonzeption von Tanz und Körperbildung kann der Ausdruckstanz gedeutet werden. Rudolf von Laban4 etwa, der als Begründer des Ausdruckstanzes gilt, beschrieb in seinem programmatischen Text Was ist Arbeit die Arbeit als den »Nerf [sic] des Lebens« (Laban um 1920: 173) und drückte so sein Ideal einer Einheit von Leben und Arbeit aus. Im Tanz, dem Mittel zur ganzheitlichen Bil-
3
Marcel Mauss versteht unter dem Begriff »Körpertechniken« gesellschaftlich geform-
4
Der Tänzer, Choreograph und Tanztheoretiker Rudolf von Laban wurde 1879 in
te menschliche Bewegungen. Sie sind somit sozial bedingt (vgl. Mauss 1975). Preßburg geboren. 1910 gründete er die Laban-Schule in München. Von 1911 bis 1927 entwickelte Laban in den Sommermonaten in der Künstlerkolonie Monte Verità Ideen zu einer neuen Bewegungspädagogik und zur Entstehung der Tanztherapie. Ebenso begründete er eine eigene Bewegungsnotation, die Kinetographie, zur Aufzeichnung menschlicher Bewegung. Diese wurde später u.a. zur Labannotation weiterentwickelt. Ende der 1930er Jahre emigrierte Laban nach England, wo er u.a. mit dem Industriellen F.C. Lawrence an der Beobachtung der Bewegungen von Arbeiterinnen in einer Waffenfabrik arbeitete und dort seine Effort-Theorie ausarbeitete. Auch seine Tanzpädagogik entwickelte Laban in den Jahren in England hinsichtlich der Nutzung der Erkenntnisse aus Arbeitsuntersuchungen für den Tanzunterricht weiter. Laban starb 1958 in Weybridge, Surrey (vgl. Preston-Dunlop 1998; Maletic 1987).
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dung des Menschen, erkannte man, ebenso wie in der Körperbildung, Potenzial für die Arbeitswelt. Der ganzheitliche Anspruch der Körperbildung koppelte sich, so die These, an eine gezielte Konditionierung des menschlichen Körpers für die Arbeit. Somit befand sich der Körper in einem ambivalenten Spannungsfeld: Tanztheoretiker und Arbeitswissenschaftler formulierten zeitgleich harmonische wie ökonomische Ansprüche an den tanzenden bzw. arbeitenden Körper. Tanzpädagogiker strebten eine Befreiung des Körpers von gesellschaftlichen Zwängen an, assimilierten diesen jedoch parallel dazu an äußere Umstände.
H ARMONIE
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Ö KONOMIE
Neben Rudolf von Laban beschäftigten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche Tänzer und Gymnastiker theoretisch wie praktisch mit dem Thema Körper und dessen Ausbildung. Auch die Körperbildung hatte sich die Schaffung eines Neuen Menschen5 vorgenommen; sie strebte dabei nach einer gestei-
5
Der Neue Mensch war Konzept, Utopie und gesellschaftliches Experiment zugleich. Als Ideal postuliert, war der Neue Mensch nicht nur politische Utopie für Diktaturen im 20. Jahrhundert, sondern auch Sozialutopie der fordistischen Gesellschaft: »Die Maschine galt als Vorbild für den ›Neuen Menschen‹, der – eingetaktet in ihre Bewegung – sein Leben dynamisiert.« (Baxmann et al. 2009: 18) Wie sich die Erziehung zum Neuen Menschen gestalten sollte, erläutert die Publikation ›Neue Erziehung‹ ›Neuer Mensch‹. Ansätze zur Erziehungs- und Bildungsreform in Deutschland zwischen Kaiserreich und Diktatur (Herrmann 1987). Die Forschungsliteratur beschäftigt sich umfassend mit dem Begriff, Konzept sowie Motiv des Neuen Menschen Ende des 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert, darunter auch die Publikation Der neue Mensch. Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen: »Als Reaktion auf die als krisenhaft empfundene Modernisierung ist die Suche nach einem Neuen Menschen zu sehen, der als Zielpunkt einer ›neuen Zeit‹ mit ›neuen Werten‹ erschien. Im Zentrum dieser Suche stand die Idee einer radikalen Erneuerung.« (Gerstner/Könczöl/Nentwig 2006: VIII) Eine Vielfalt der Ideen vom Neuen Menschen zeigt der Ausstellungskatalog Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts (Lepp/Roth/Vogel 1999). Im Fokus des Schaffens eines Neuen Menschen stand dabei, auch wenn die Praktiken an sich stark schwankten, der Körper (vgl. Hardt 2004). So auch Frank Becker: »Gerade weil der Mensch des industriellen Zeitalters seinen Körper verkümmern ließ, so das Credo, gingen ihm auch seelische und geistige Erlebnisdimensionen verloren – der Neue Mensch eroberte sich seinen Körper zurück, aber nicht, um nun ganz im Körperlichen aufzugehen, sondern um durch dessen angemes-
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gerten Bewegungsfähigkeit und gesamtsinnlichen Wahrnehmungskraft. Durch die prekären und unhygienischen Verhältnisse der industrialisierten Lebenswelt – so die Meinung der Gymnastiker – verkümmerten die Großstadtmenschen. Genauso sah es in den 1920er Jahren auch der Kulturtheoretiker Fritz Winther: »[B]ald in Fabrik oder Büro dem Takt von Betrieb oder Maschine angegliedert; bald reine Vernunft, blutleere Gewebe und Theorien spinnend; bald nur Leib, manchmal fast eingeschränkt auf mechanische Bewegung; im Genuß ein Bündel von Lüsten ohne Richtung, bald hierhin bald dorthin gerissen, oder sich reißend; dreifach gespalten in Körper, Seele und Vernunft« (1922: 3).
Gymnastik sollte laut Winther zu körperlich-geistiger Einheit zurückführen: »Eine Hauptaufgabe der Gymnastik ist die Schulung des Körpers im Sinne der Bewegungsgesetzlichkeit, überhaupt im Sinne der Kraftökonomie für Leben, Sport und Tanz« (1920: 21). Dabei zielte das Training optimaler Leistung und Konzentration nicht nur auf die technische Beherrschung körperlicher Bewegung und deren Einheit mit »seelischer Lebendigkeit und Ursprünglichkeit« (Bode 1913: 7) ab, sondern auch auf die Ausbildung eines effektiven Arbeiterkörpers. Rudolf Bodes Ausdrucksgymnastik praktizierte An- und Entspannungsübungen, um den Rhythmus von Ruhe und Bewegung neu nachzuvollziehen und Spannungen des Alltags zu lösen. Einer Trennung von Beruf und Freizeit geschuldeten »Bizentralität« (Böhme 1930: 5) des Lebens galt es entgegenzuwirken, so der damalige Tanzkritiker Fritz Böhme. Ziel war es, den Menschen durch Körperbewegung und Tanz zu »innerer Gesundheit« (ebd.) zurückzuführen. Besonders das Erfahren des eigenen Körpers und die Entwicklung von zum Beispiel Zielstrebigkeit und Kreativität unterstütze die Rhythmische Erziehung des Menschen (vgl. Böhme 1922). Körper- und Charakterbildung fanden sich in den Konzepten der Gymnastiker und der Tänzer wieder. Gymnastik als »ausgleichendes Gegengewicht« (Bode 1923: 15) zur einseitigen Arbeitsbewegung stand jedoch gleichzeitig im Lichte einer Erneuerung der körperlich-geistigen Kräfte für die Arbeit. So engagierte sich beispielsweise die Gesellschaft für gymnastische Körperkultur für die Anwendung der Gymnastik im Berufsleben und bot in Unternehmen wie dem Schuhhaus Leiser oder der A.E.G. Gymnastikunterricht für Angestellte an (vgl. Brief der Gesellschaft für gymnastische Körperkultur e.V. 1928).
sene Würdigung auch positive Wirkungen auf Seele und Geist zu erzeugen.« (Becker 2006: 90)
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Dieses ambivalente Verhältnis von Ganzheitlichkeitsanspruch und Konditionierungspraxis in der Körperbildung ist bezeichnend für die Zeit. Die Gymnastiker reagierten damit auf Anforderungen der Arbeitswelt, die durch Entwicklungen in der Arbeitswissenschaft neu konstruiert wurden: Die Erfindung der Fließband-Technologie durch Henry Ford forcierte die Spezialisierung auf bestimmte Arbeitsschritte und die Anpassung des Körpers an die vorgegebene Geschwindigkeit der Maschinen: »Sein [Henry Fords] Prinzip war es, die Arbeitsfunktion der einzelnen organischen Prothesen am technischen Körper der Produktion auf ein Minimum zu begrenzen. Dies geschah durch die extreme Reduktion der am Arbeitsplatz notwendigen Aktivität.« (Berr 1990: 54)
So entstand eine Hierarchie zwischen Maschine und Mensch, bei der der Rhythmus des menschlichen Körpers dem Takt der Maschine unterlag: »[D]ie unorganische Mechanik ist in absoluter Weise zwingend. Sie macht ohne eine Chance des Ausgleichs jedes abweichende Verhalten, jede Verzögerung in einem Teilprozeß als Funktionsstörung des Gesamtprozesses sichtbar. Die Herrschaftsfunktion dringt damit als automatisierte Regulation und Kontrolle an die Schnittstelle zu den atomisierten Teilfunktionen vor. Je kürzer dabei der Takt, desto stärker dringt die Kontrolle in jeden Augenblick des Verhaltens vor, besetzt jede Bewegung mit den Zwängen der Macht.« (Ebd.: 54)
Die Machtstruktur der Maschine (vgl. Giedion 1994) war auch den Zeitstudien des Arbeitswissenschaftlers F.W. Taylor inhärent, der ein Verfahren der Maschinisierung der Arbeiter durch Strukturierung der Arbeitsabläufe in einzelne Sequenzen anvisierte.6 »Der Berufsmensch der zwanziger und dreißiger Jahre, so sehr ihm seine Profession geradezu physiognomisch eingeschrieben wird, ist und bleibt ein Spezialist, er fügt sich unveränderlich in die verzweigte Ordnung der Arbeitstätigkeiten ein und bleibt, wie es Taylor wünschte, an seinem Platz, bis er nicht mehr von ihm zu unterscheiden ist.« (Horn 2002: 118)
6
Zudem sollte, vorausgesetzt, das Arbeitspensum wurde in der vorgegebenen Zeit erreicht, die Leistung durch Lohnerhöhungen gesteigert werden.
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Mit den Bewegungsstudien des amerikanischen Arbeitswissenschaftlers Frank Gilbreth fand die Körperbewegung Anfang der 1920er Jahre Einzug in die moderne Arbeitswissenschaft, die durch die tayloristische Maschinisierung der Arbeitsschritte geprägt war. Ziel war es, maximale Wirkung durch minimalen Kraftaufwand pro Arbeitssequenz zu erreichen. So musste der Körper des Arbeiters in diesen optimalen Bewegungsablauf eingepasst werden. Eignungsprüfungen und Berufsberatungen standen folglich hoch im Kurs: Aus exakten Beschreibungen von Berufsbildern fertigte etwa der Arbeitspsychologe Otto Lipmann passende Anforderungs- und Leistungsprofile an. Eine »Frageliste zur psychologischen Charakteristik der mittleren (kaufmännischen, handwerklichen und industriellen) Berufe« (Lipmann 1922: 39) führte beispielsweise erforderliche Eigenschaften für Berufe wie Bäcker, Brauer, Buchhalter, Industriekaufmann oder Polsterer auf. Unter anderem handelte es sich um das Erkennen und Unterscheiden von Gegenständen, das Bemerken von Temperaturunterschieden und das Lesevermögen. Aber auch Kritikfähigkeit und die Fähigkeit zu parallel ausführbaren, verschiedene Sinne beanspruchenden Handlungen interessierten die Eignungsprüfer. Die Arbeitsuchenden mussten schließlich in Eignungstests und Fragebogen angeben, in welchem Maße diese Kriterien jeweils auf sie zutrafen. Dem Arbeiter wurden Fähigkeiten abverlangt, die weit über das handwerkliche Können hinausgingen. Giese führte in seinem Handbuch psychotechnischer Eignungsprüfungen (1925) explizit Persönlichkeitstests zu Produktivität, Spontaneität, Ethik und Humor des Befragten auf. Geschicklichkeit, geistige Flexibilität, handwerkliches Können, schnelle Auffassungsgabe und Kreativität galten als ideale Voraussetzungen. Giese erarbeitete zugleich die Vorstellung einer wechselseitigen Beziehung von Arbeit und Körperbildung. In dem Aufsatz Gymnastik und Taylorsystem (1924) formulierte er den Willen, aus den Bewegungsstudien Anregungen für die Gymnastik zu schöpfen: »Das Taylorsystem ist daher nicht nur Sache der Unternehmer – es sucht durch eine wissenschaftliche Prüfung der Ermüdungswirkungen von Arbeiten dem Tätigen das Leben zu erleichtern und seinen körperlich-geistigen Verschleiß aufzuhalten.« (Giese 1924: 155)
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Rudolf von Laban Der Ausdruckstänzer Rudolf von Laban erarbeitete ein umfassendes Konzept der tänzerischen Erziehung für Laien, das die geistige und seelische »Gesamterhöhung des Menschen« (Laban 1930: 1) zum Ziel hatte. Besonders im Tanz erkannte er die Möglichkeit, durch die Zivilisation verschüttete Kräfte freizulegen und auf diese Weise eine Art impliziten Wissens zu bergen. Mit der Übersiedlung nach Hamburg 1922 forcierte Laban die Gründung einer künstlerischen Laientanzbewegung. Mit einer etwa 50-köpfigen Tanztruppe begann er in leer stehenden Sälen des Zoologischen Gartens in Hamburg seine Schule auszubauen. Mitglieder der Tanzbühne Laban waren unter anderem Kurt Jooss, Hertha Feist, Sylvia Bodmer und Albrecht Knust. Der Laban’sche Schulbetrieb etablierte sich fest in Hamburg als Hamburger Bewegungschöre Rudolf von Laban. Dort wurden Tänzer und Leiter von Bewegungschören ausgebildet; angeboten wurde aber auch bewegungschorischer und gymnastischer Unterricht für Laien. Labans Bewegungschöre bestanden aus mehreren Tänzern, die unter Anleitung eines Chorleiters eine Abfolge bestimmter Bewegungen ausübten. Um als Lehrer tätig zu sein, musste ein Laban-Diplom erworben werden. Die Ausbildung von professionellen Tänzern, Tanzpädagogen und Bewegungschorleitern war bald darauf auch in Berlin, Essen (Zentralschule Laban) und Würzburg (Choreographisches Institut) möglich. Uraufführungen großer Gruppenwerke Labans fanden in Hamburg statt und wurden von der Tanzbühne gemeinsam mit Laien einstudiert. Ausgebildete Laban-Schüler übernahmen die Leitung verschiedener LabanSchulen: Albrecht Knust in Hamburg, Martin Gleisner in Thüringen und Berlin, Jenny Gertz in Hamburg und Halle (vgl. Gleisner 1929: 147). Die Kurse begannen mit einfachster Körperschulung, Vorkenntnisse wurden nicht erwartet. Auch der Mitgliedsbeitrag war niedrig (vgl. Laban 1926: 139). Mit der Frühgymnastik vor der Berufsarbeit richtete sich das Angebot der Bewegungschöre auch an die arbeitende Bevölkerung. Auf dem Trainingsplan der tänzerischen Körperbildung standen meist Dehnungs-, Lockerungs- und Kräftigungsübungen, etwa eine Übung, bei, der parallel zum Kreisen der Hüfte, auch Arme und Oberkörper angespannt werden sollten. Dieses Trainieren von Muskelkraft, körperlicher Vitalität und Dehnbarkeit kam eindeutig den körperlichen Anforderungen an den Arbeiter, wie sie etwa in den Berufseignungstests abgefragt wurden, entgegen. Zugleich sollte auch Einfluss auf Geist und Lebensweise des Teilnehmers genommen werden. Ein Anzeigenblatt der Berliner Bewegungschöre Laban etwa warb mit der Intention, die Kräfte des Tanzes der All-
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gemeinbildung und Erziehung nutzbar zu machen und gleichzeitig den freien Ausdruck des bewegten Körpers und die Tanzfreude in der Übung und der Feier umzusetzen (vgl. Anzeigenblatt Berliner Bewegungschöre Laban o.J.). Die Verfeinerung der Alltagsbewegungen machte sich Laban in seinem 1926 in Würzburg gegründeten Choreographischen Institut Laban zu einer zentralen Aufgabe: »Arbeitsgebiete: Alltagsbewegungen, Übungs- und Ausdrucksbewegungen, Berufsbewegungen, sportliche Bewegung, räumliche, musikalische, hygienische Gymnastik« (Laban 1927: 1). Bewegungschorleiter eigneten sich die Fähigkeit zur Vermittlung von Alltags- und Berufsbewegungsformen an, um selbst Laienbewegungschöre in Tanzschulen tänzerisch und gymnastisch ausbilden zu können. Der Unterricht von Laien fand im Rahmen von Bewegungschören statt. Große Gruppen übten unter der Anleitung von Chorleitern Bewegungsabfolgen ein. Ein Vortänzer führte die Gruppe an. Obwohl sich die Gruppe dem Vortänzer anpassten sollte, waren individuelle Abweichungen oder Interpretationen erlaubt und beabsichtigt. Auch konnte sich die Gruppe in kleinere Teile aufspalten. Sich in der Gruppe zurechtzufinden und zu synchronisieren, nahm dabei immer Bezug auf die aktuell vorherrschenden Verhältnisse, die intelligente, kräftige und leistungsfähige Menschen in der Arbeitswelt forderten. Diesem Anspruch kam Laban mit seiner Vision von einer Gemeinschaftskultur entgegen: »Zusammenschluss. Gemeinsames Wirken, gemeinsames Schaffen. Ein Symbol unserer Zeit. Nicht nur in den ungeheuren Betrieben unserer Großstädte mit ihrer imposanten Arbeitsteilung. Auch im Fest, im Spiel, bei der Feier ist der Einzelne heute Repräsentant der Allgemeinheit, die in gleicher Bildung der Einzelnen dem großen Werk einer neuartigen Kultur zustrebt.« (Laban o.J.: 1)
Im Fest erkannte Laban die Möglichkeit, die beklagte Trennung von Arbeit und Leben aufzuheben: »Nicht in der Rückbesinnung auf die Natur oder das ›Natürliche‹ sondern durch Training von Geist, Körper und Gefühl bildet die Tanzkunst den ›neuen Menschen‹, der die Basis für die Erneuerung von Arbeit, Fest und Kultur bilden sollte.« (Gruß 2009: 183)
Es ist offensichtlich, dass die Technik des Bewegungschors Anknüpfungspunkte für eine politische Vereinnahmung von linker wie rechter Seite bot, sowohl für Arbeiterbewegungschöre auf Veranstaltungen der KPD und SPD (vgl. ebd.: 186) als auch für nationalsozialistische Massenveranstaltungen im Sinne der Volks-
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gemeinschaft.7 Diese Schnittmenge findet sich auch in den Biographien ihrer Protagonisten wieder. Laban, der teilweise choreographische Engagements für die Nationalsozialisten übernahm, wurde dann jedoch Repressionen ausgesetzt, die ihn 1936 nach England emigrieren ließen. Labans pädagogisches Anliegen, mit dem Laientanz Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ganzheitliche Körperbildung zu ermöglichen, verfolgten auch die Laban-Schülerinnen Hertha Feist und Jenny Gertz. Gleichzeitig beinhalten die Bestrebungen der beiden Tänzerinnen, die »körperlichen und geistigen Kräfte des Menschen in Einklang« (Feist 1921: 1) zu bringen, eine auf Effizienz und Produktivität ausgerichtete Konditionierung der Körper. Hertha Feist Mit ihrem Konzept des Laientanzes verfolgte Hertha Feist8 besonders das Ziel einer ausgeprägten Persönlichkeitsbildung: das Selbst und die Anderen ergrün-
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In ihrem Text »Der tanzende Arbeiter – Revolutionär, Volkskörper oder ›Held der Arbeit‹« arbeitet Melanie Gruß detailliert die politische Instrumentalisierung der Laban’schen Bewegungschorpraxis im Nationalsozialismus heraus: »Aufgrund seines Vermögens, über das körperlich-rhythmische Erlebnis der Gemeinschaft einen Volkskörper herzustellen und im Prinzip des Führens und Geführtwerdens den Führergedanken zu verinnerlichen, wurde der Bewegungschor als Volkstanz der deutschen Rasse stilisiert.« (2009: 189) Auch wurden Bewegungschöre von der sozialistischen Arbeiterjugend aufgenommen, um die Körper- und Bewegungsschulung mit der Herausbildung politischer Einsichten und der sozialistischen Weltanschauung zu verbinden (vgl. Wetterich 1993). Laban selbst war seit 1934 Leiter der Deutschen Tanzbühne und organisierte Tanzfestspiele im Auftrag der Reichskulturkammer. Für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin sollte er ein Chorisches Weihespiel entwerfen. Es kam jedoch nur zur Generalprobe, denn im Juni 1936 verbot das Propagandaministerium unter Goebbels das Weihespiel. Laban emigrierte schließlich nach England (vgl. Dörr 2004: 448–468).
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Hertha Feist (1896–1990), Tänzerin, Pädagogin und Choreographin, studierte bei Jaques-Dalcroze in Hellerau, danach Gymnastik bei Rudolf Bode und schließlich Tanz bei Rudolf von Laban. 1923 eröffnete sie ihre Schule für Tanz und Gymnastik Hertha Feist in Berlin zur Berufs- und Laienausbildung, die bis 1943 bestand. Ab 1924 unterrichtete sie Tänzerische Gymnastik (nach) Laban an der Deutschen Hochschule für Leibesübung in Berlin. Sie engagierte sich besonders für die Integration des Tanzes in das Sportstudium. Später lehrte sie an der Volkshochschule in Hannover (vgl. Peter 1990).
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den, Stärken entwickeln, Schwächen abbauen sowie einen Charakter ausbilden. Elastizität, geistige Kraft und die Steigerung des Selbstwertgefühles sollten, genau wie die Selbst- und Fremdeinschätzung, durch ihre Gymnastik trainiert und im Alltag wie im Beruf gefordert werden. Daraus erklärte sich Feist auch das gesteigerte Interesse von Männern an der Bewegungsschulung: »Nicht nur Mädchen und Frauen, die sich jugendfrisch, hübsch, gesund erhalten wollen, wenden diesem Mittel erhöhter Körperpflege gegenwärtig erhöhte Aufmerksamkeit zu, auch die beruflich stark eingespannten Männer lernen mehr und mehr begreifen, dass es in unserem Zeitalter unerhörter Fortschritte auf einen ziel- und zweckbewussten Körper ebensosehr [sic] ankommt wie auf den Geist, der immer neue Wissensgebiete erobert und phantastische Erscheinungsformen der hochgesteigerten Maschinentechnik schafft.« (Feist o.J.: 1)
Die Körperbildung stand auch im Zeichen einer Dynamisierung des Körpers, denn gerade der Arbeitnehmer musste mit den Entwicklungen der Technik – Geschwindigkeit, Taktung und Bewegungsabfolgen der Maschinen – mithalten, um im Berufsleben zu bestehen. Gleichzeitig sollte die körperliche wie geistige Widerstandskraft gestärkt und auf das Verhalten Einfluss genommen werden: »[I]n der Bewegung gibt es für den Menschen keine Lüge, da ist jede Äusserung eine Charakteristik seines Selbst. Darum erwirbt der Mensch durch die rhythmische Gymnastik nicht Ellenbogenfreiheit, sondern Seelenfreiheit, nicht Kraft zur Überwindung des Andern durch Muskelbildung, sondern durch eine grössere und stärkere Leistung. Ausserdem zeigen die Menschen, die heute Gymnastik treiben, mehr Widerstandskraft gegen die Keime körperlicher und seelischer Krankheiten, wodurch sie zur allgemeinen Gesundung der Menschen beitragen« (Feist 1929: 4).
Gerade in der Anwendung der in der Körperbildung angeeigneten Fähigkeiten liege der Erfolg, gibt Feist zu verstehen. Seelenfreiheit, als soziale Form der Durchsetzungsfähigkeit, kontrastiere mit der als unsozial markierten Ellenbogenfreiheit. Erst mit der Veränderung des Menschen durch Erziehung könne sich folglich eine Veränderung der Umwelt vollziehen. Weiterhin verspreche die Gemeinschaft gymnastisch tätiger Menschen Entspannung und Abstand vom Berufsalltag: »Und diese Lebendigkeit, die man sich nach getaner Arbeit erringen kann, ist etwas absolut Positives. Alle Zerrissenheit, Gedrücktheit, Zerfahrenheit, mit denen die Menschen oft belastet sind, werden abgestreift in diesen frohen Stunden der körperlichen Tätigkeit, wo
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sie mit anderen Menschen gemeinsam zusammenschwingen. Diese Gemeinschaft ist es, die sie über den Alltag hinaushebt und die ihnen mehr als Ersatz für andere Geselligkeiten bietet.« (Feist o.J.: 2)
Wie Laban nutzte auch Feist speziell die Technik des Bewegungschores zur körperlichen und geistigen Bildung von Kindern und Jugendlichen. Der Unterricht beinhaltete Körperdehnungs- und Kräftigungsübungen, Balletttechniken sowie Spiele und Gemeinschaftstänze. Neben der Ausbildung von Körpergefühl und der Korrektur fehlerhafter Haltungen richtete sie den Fokus auf die Förderung individueller Begabungen. Mit Konzentrations-, Bewegungs-, Gruppen- und Kreativübungen strebte der Laientanz danach, die teilnehmenden Kinder für ihren Lebensweg zu stärken. Jenny Gertz Besonders deutlich wird dies auch im Laienunterricht der Tänzerin und Tanzpädagogin Jenny Gertz.9 Die koedukativen Laienbewegungschöre waren ihre Reaktion auf die prekäre Lebens- und Wohnsituation der großstädtischen Arbeiterschicht. Orientiert an Laban, strebte sie die körperliche Gesundung, Entkrampfung der Glieder und das Wecken der Kreativität der Kinder an: »Ich habe die Gymnastik bei Laban immer als etwas Lebensbejahendes, vollkommen Natürliches empfunden, fern von jedem Gefühlsüberschwung, der einem in anderen Systemen so oft begegnet, und was für die Erziehung des Kindes von ganz besonderer Bedeu-
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Die Tänzerin und Tanzpädagogin Jenny Gertz (1891–1966) studierte bei Rudolf von Laban, erhielt 1923 ihr Diplom zur Bewegungschorleiterin und arbeitete daraufhin als stellvertretende Direktorin der Hamburger Bewegungschöre Rudolf von Laban unter der Leitung des Choreographen Albrecht Knust. 1927 wechselte sie an die Weltliche Schule in Halle/Saale und stellte koedukative Laienbewegungschöre für Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf. Aufgrund ihres kommunistischen Engagements wurden Gertz und ihre Assistentin, die Ausdruckstänzerin und Tanzpädagogin Ilse Loesch (1909–2006), 1933 von der Gestapo festgenommen. Nach dem Verbot ihrer Bewegungschöre emigrierte Gertz 1934 nach Prag und 1939 schließlich nach England. Dort studierte sie an der Tanzschule von Kurt Jooss in Dartington Hall und praktizierte ab 1940 als Lehrerin für Körperkultur und Erziehung an der St. Johns College Choir School in London. 1947 kehrte Jenny Gertz nach Halle/Saale zurück und leitete dort bis 1953 den Kinderclub Jenny Gertz (vgl. Personalbogen Jenny Gertz).
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tung ist: das Schöpferische im Kinde wird geweckt und treibt so herrliche Blüten« (Gertz 1926: 53).
Befreiung von körperlichen Hemmungen sowie sozial tradierten und einschränkenden Verhaltensmustern setzte sich Gertz als pädagogisches Ziel ihrer Hamburger Laienbewegungschöre. Häufig tanzten die Teilnehmer nackt. Beim freien Improvisieren erlernten die Kinder nach Gertz das Aufeinander-Reagieren. Dazu setzten sie zwischenmenschliche Verhaltensweisen in Bewegung um. Die Haltungen der Kinder auf den Fotografien veranschaulichen dies: Abbildung 1: Kinderübungen Jenny Gertz, Hamburg um 1926
Quelle: Universitätsbibliothek Leipzig
Die Fotografie »Kinderübung« zeigt eine Auseinandersetzung mit Gemeinschafts- und Konfliktverhalten. In den Posen der Kinder sind Bewegungen des Angriffs und der Abwehr zu erkennen. Zudem ist die von Gertz praktizierte Technik des Führens erkennbar, bei der jedes Kind im Bewegungschor über einen bestimmten Zeitraum die Leitung des Chores übernahm. Es machte Bewegungen vor, die die Gruppe daraufhin imitierte. Nötig dafür war sowohl Durchsetzungskraft als auch Einfühlungsvermögen. Der Geführte wiederum lernte sich unterzuordnen und sich dem Leiter sowie den anderen Gruppenmitgliedern anzuschließen. So formierte Gertz ihre Bewegungschöre gerne in der Gruppenform
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des sogenannten Haufens, der sich ihrer Auffassung nach besonders für eine gemeinschaftliche Erziehung eignete: »Die Erziehung des Individuums erfolgte durch das Führen im Haufen. Das führende Kind war an der Spitze des Haufens, entwickelte seine Ideen, und die übrigen machten seine Bewegungen nach. Da jedes Kind einmal führen konnte, nahm sich jeder vor, deutlich das auszudrücken, was er wollte, denn bei undeutlichen und zu individuellen schwierigen Formen hatten die Anfänger keine rechte Lust zu kopieren. Zweierlei war wichtig für jedes führende Kind, es musste zunächst nicht zu schnell das Thema wechseln und möglichst einfache Bewegungen machen und auch daran denken, dass die Bewegung hoch und groß war, um am Ende des Haufens nachgemacht zu werden. Auch hatte jeder, der nah hinter dem Führenden stand, die doppelte Pflicht, schnell zu begreifen, gut nachzumachen und sehr gut aufzupassen.« (Gertz o.J.: 94)
Abbildung 2: Kinderbewegungschor Jenny Gertz, Hamburg um 1925
Quelle: Universitätsbibliothek Leipzig
Auf dem Foto »Kinderbewegungschor Jenny Gertz« sind Bewegung des Anziehens und Abstoßens ablesbar. Die Kinder ahmen mit ihren Körpern offensive und defensive Verhaltensmuster nach. Das führende Kind, das einzeln links der Gruppe steht, wirkt mit bestimmender Körper- und Armstellung auf seine Gruppe ein. Dessen vermutlich wellenartige Vor- und Rückbewegungen des Oberkörpers beeinflussen die Gruppe. Diese reagiert auf den Bewegungsrhythmus
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des führenden Kindes, indem sich manche Kinder abwenden, andere durch ihre Arm- und Fingerstellung eine abwehrende Haltung einnehmen. Diese Reaktion ist ganz im Sinne der Tanzpädagogin Gertz: »Wir stürzen vorwärts, wir stürzen rückwärts, und die Kinder bekommen einen Begriff von der Dimension vor/rück. […] Es läßt sich leicht vorstellen, daß durch derartige Übungen nicht nur die Bewegung des Kindes zielstrebiger, sondern auch geistig die Grundlage zu mathematischer Erkenntnis gelegt wird, und derart erzogene Kinder für das tägliche Leben zu klarem, zielbewussten Handeln angeregt werden.« (Gertz 1928: 94)
Die Ausrichtung auf das praktische Leben in Schule, Alltag und Beruf war ein wichtiger Bestandteil des Erziehungskonzeptes von Jenny Gertz. Das Trainieren von offensiven und defensiven Verhaltensformen ist ein Grundmuster in den Bewegungsübungen der Laienbewegungschöre. Zahlreiche Motive zeigen einzelne Tänzer, die sich am Boden krümmen, während die anderen Chortänzer mit schlagenden Armbewegungen in deren Richtung zielen. Diese kämpferischen Positionen bildeten menschliche Verhaltensstrukturen innerhalb der bestehenden Gesellschaft ab. Durch dieses Training verwirklichte Gertz ihr Erziehungskonzept der Entfaltung individueller Fähigkeiten des Kindes. Die Gemeinschaft der Kinder spielt dabei eine große Rolle. Wenden sich die Chortänzer zum Beispiel im Haufen mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern gegen eine externe Person, grenzen sie sich in ihrer Gemeinschaft nach außen ab. Innerhalb des Kollektivs des Laienbewegungschores konnte das Kind so Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Verhaltens sich selbst, den anderen in der Gruppe gegenüber und auch mit der Gruppe gegen ein Außerhalb austesten. Ab 1927 unterhielt Gertz Kinderbewegungschöre in Halle (Saale). Die Teilnehmer stammten meist aus proletarischen Familien. Die Altersspanne lag zwischen 2,5 und 16 Jahren, wobei Gertz die Kinder und Jugendlichen entweder nach Altersgruppen unterteilte oder gemeinsam tanzen ließ. Teil der Bewegungschorarbeit war das gemeinsame Verreisen in den Ferien. Jenny Gertz erachtete diese Reisen als wichtig, um den Kindern einen Ausgleich zum Stadtleben zu ermöglichen. Daher setzte sie sich besonders für die Reisefinanzierung materiell schlecht gestellter Teilnehmer aus proletarischen Familien ein (vgl. Loesch 1932: 1). 1929 fand eine Fahrt mit dem Bewegungschor in die Schweiz statt. Die Kinder entwarfen in diesen Tagen Figuren, die sie, so Gertz, als Andenken mit nach Halle nehmen wollten.
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Abbildung 3: »Abschiedsblume« Kinderbewegungschor Jenny Gertz, Schweiz 1929
Quelle: Universitätsbibliothek Leipzig
Die Figur »Abschiedsblume« ahmt die Form einer Blüte nach. Mit dieser Pose will der Kinderbewegungschor durch Körperbewegungen den Rhythmus der Natur erfassen: »Blumen, Bäume, Sonne, Schnee – alles wird bewegungsmäßig in seinen differenzierten Formen und Rhythmen von den Kindern erfasst und läßt sie körperlich empfinden, was schnell, was langsam, was schwer, was leicht, was eng, was weit ist und bringt jedes Kind zu der ihm eigenen Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeit. Zu großen Spielen verarbeitet, erziehen diese Dinge die Kinder zur Unterordnung unter ein Ganzes, zeigen ihnen, wie wenn auch nur eines versagt, das ganze Spiel verdorben wird. Führerqualitäten werden entwickelt, wie auch das Verständnis für Kollektivarbeit.« (Loesch 1932: 1)
Diesem Spiel lag ein praktischer Alltagsnutzen zugrunde, dem der Laienbewegungschor mit seiner sozialisierenden Funktion entgegenkam – die Anpassung an eine Gruppe und die Ausbildung von Führungsqualitäten für das reale Leben: »Ihr Körper ist gesünder, widerstandsfähiger, abgehärteter, ihre Augen strahlen vor innerer Kraftspannung. Der Geist ist lebendiger. Schüchterne Kinder drängen sich vor, rücksichtslose Naturen lernen sich fügen. Nicht nur in der Stunde beim Spiel, sondern auch
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draußen in der Schule und Elternhaus, auf der Straße, in fremder Umgebung, überall ist der wohltuende Einfluß der vielseitigen Bewegtheit durch die Erziehung im Labanschen Kinderbewegungschor spürbar.« (Gertz 1928: 95)
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Jenny Gertz und Hertha Feist wollten mit ihren tanzpädagogischen Konzepten auf den gesellschaftlichen Alltag der industrialisierten Arbeitswelt reagieren: »Gertz griff in ihrer Arbeit mit den Kindern ein Bewegungspotential in den Übungen wie bei Vorführungen auf, das mit dem bekannten Bewegungshabitus der Arbeiter spielte, ihn umgestaltete und für die künstlerische und pädagogische Arbeit nutzbar machte. In diesem Sinne war Gertz’ Bewegungschorarbeit sowohl eine körperliche Schulung als auch eine ästhetische, in der es galt, Raumdimensionen, Gruppenanordnung und andere abstrakte Elemente zu meistern, die aber in keinem Fall dem Ideal einer nur ›schönen‹ Kunst entsprachen, dem viele bürgerliche Sozialdemokraten nacheiferten.« (Hardt 2004: 244)
Die pädagogische Tätigkeit zielte darauf ab, die Teilnehmer sowohl körperlich als auch gesellschaftlich zu stärken. Synchronisations- und Reflexübungen sollten zu einer Flexibilisierung und Dynamisierung des Körpers beitragen. Gleichzeitig sollten Konflikte in hierarchischen Gesellschaftsstrukturen tanzend umgesetzt und verarbeitet werden. Bewegungen des Anziehens und Abstoßens sowie des Angriffs und Rückzugs kam dabei die Funktion zu, zwischenmenschliche Konfliktsituationen auszubalancieren. Solchen Tanzerfahrungen wurde das Potenzial zuerkannt, sich im Arbeitsleben positiv auf die Teamfähigkeit auszuwirken. Die nach Labans Vorbild von Gertz und Feist praktizierte Technik des Bewegungschors strebte aus Sicht der Akteurinnen danach, Durchsetzungsvermögen und Gemeinschaftsgefühl, Elastizität und Kraft, Genauigkeit und Kreativität zu stärken. Doch offenbart die Analyse, dass die ausgebildeten Fähigkeiten ebenfalls die Anforderungen des Arbeitsmarktes bedienten. Diese gesellschaftliche Assimilation stand im Kontrast zum Ganzheitlichkeitsanspruch der Körperbildung, deren Ziel, die körperliche wie sinnliche Ausbildung des Menschen, somit gleichzeitig zur gesteigerten Nutzbarmachung eines effizienten und produktiven Körpers in der realen Arbeitswelt führte.
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A BBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Kinderübungen Jenny Gertz, Hamburg um 1926, Universitätsbibliothek Leipzig, Slg. Ilse Loesch, Kasten I, Ordner I, A3 (24) (TAL). Abbildung 2: Kinderbewegungschor Jenny Gertz, Hamburg um 1925, Universitätsbibliothek Leipzig, Slg. Jenny Gertz, III. 1.–5.10 (Fotos) (3) (TAL). Abbildung 3: »Abschiedsblume«. Kinderbewegungschor Jenny Gertz, Schweiz 1929,Universitätsbibliothek Leipzig, Slg. Jenny Gertz, III. 1.–5.10. (Fotos) (36) (TAL).
›Arbeit‹ und ›Leben‹ – zur diskursiven Konstruktion einer folgenschweren Aufspaltung K ATHRIN S CHÖDEL Geld oder Leben!
Was wird unter ›Arbeit‹ in gegenwärtigen Diskursen verstanden? Was wird überhaupt, um den Konferenztitel aufzugreifen, als ›Arbeitswelt‹ ›präsentiert‹? Der folgende Beitrag widmet sich diesen grundlegenden Fragestellungen über die Analyse der diskursiv konstituierten Dichotomie von ›Arbeit‹ und ›Leben‹, die sowohl alltagssprachlich als auch in spezielleren Diskursen zum Thema Arbeit1 häufig zu finden ist. Das Ziel der so unternommenen ›Arbeit am Begriff‹ ist es, herrschende Diskurse in Frage zu stellen, um damit ein Denken jenseits des Gegebenen, ja jenseits dessen, was allgemein als ›realistisch‹ betrachtet wird, anzuregen. Zunächst ist unmittelbar einleuchtend, dass es nahezu selbstverständlich als ein Mangel gilt, kein Realist zu sein: Ein Denken, das die Wirklichkeit verfehlt, kann zwar als ein fiktional-spielerisches seine Funktion haben, als direkt handlungsleitend aber ist es untauglich. Das ›Realistische‹ jedoch ist nicht das faktisch ›Reale‹, sondern es ist eine aus dem Wirklichen abgeleitete Vermutung über Unbekanntes oder Zukünftiges. Diese kann durch Beobachtungen und Argumente gestützt sein; doch das, was allgemein als ›realistisch‹ aufgefasst wird, ist häufig eine nicht im Einzelnen begründete diskursive Setzung, die sich durch die Behauptung ihres scheinbar objektiven Realitätsbezugs gegen Kritik abschottet. Deshalb kann stets hinterfragt werden, welche Aussagen es sind, die von dem Stigma des ›Unrealistischen‹ getroffen werden, und von wel-
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Zum Beispiel in vielen Veröffentlichungen zu Gender und Arbeit, etwa von gewerkschaftlicher Seite (vgl. ver.di 2011).
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chen Interessen eine solche Zuordnung geleitet ist. Als Realisten erscheinen in hegemonialen Diskursen diejenigen, die sich an der gegebenen gesellschaftlichen Wirklichkeit orientieren und so an die herrschenden Verhältnisse angepasst sind. Ihren Konformismus rechtfertigen sie damit, Vorstellungen von radikalen Veränderungen als ›unrealistisch‹ zu brandmarken.2 Deshalb ist diese Haltung bei den Herrschenden beliebt: Sie akzeptiert die Herrschaft nicht nur als real, sondern verbietet sich selbst mit dem Argument, alles andere sei ›unrealistisch‹, eine grundsätzliche Kritik an ihr. Damit aber wird unterdrückt, was man mit Musils Wortschöpfung als »Möglichkeitssinn« bezeichnen kann: das Denken, das über die gegebene Realität hinausweist, letztlich aber ebenfalls auf Wirklichkeit abzielt, wenn auch auf eine andere als die schon bestehende.3 Wenn in dominierenden Diskursen aufgrund des Interesses der Machterhaltung die als ›realistisch‹ anerkannten Sichtweisen einseitige, legitimatorische und affirmative Vorstellungen sind, kann ein aus dieser Perspektive ›unrealistisches‹ Denken der Erkenntnis des Wirklichen sogar wesentlich näher sein als das zähe Festhalten am Gegebenen als einzig ›realistischer‹ Möglichkeit.4 Die noch immer breite Zustimmung zum kapitalistischen Wirtschaftssystem wird durch ein komplexes Netz ideologischer Konstrukte aufrechterhalten, die sich über Massenmedien bis zur Hochkultur erstrecken und die häufig sowohl die aktuelle Realität verfehlen als auch – je nach Sichtweise – (un-)realistische Alternativvorstellungen verhindern. In Bezug auf das Thema Arbeit möchte ich einen speziellen Grund für den Mangel an »Möglichkeitssinn« fokussieren: die Vorstellung vom glücklichen privaten Leben; diese bedeutet gleichzeitig, wie im
2
Angeregt wurde diese Einleitung zum ›Realismus‹ von einer Radiosendung über das Buch Das Gespenst des Kapitals von Joseph Vogl (2010), in der der Autor wie selbstverständlich dafür gelobt wurde, dass es ihm nicht um eine Abschaffung des Kapitalismus gehe, denn dazu sei er »Realist genug« (Fabian 2011). Es wird also nicht gesagt, dass Vogl wisse, dass ein Ende des Kapitalismus wohl schwerlich bald herbeigeführt werden könne, sondern es wird besonders positiv hervorgehoben, dass er in jedem Moment Realist bleibe in dem Sinne, dass er bei aller Kritik die gegebene Realität letztlich bejahe.
3
Der Erzähler in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften erläutert, dass auch der »Möglichkeitssinn« (1978, Bd. 1: 16) ein »Wirklichkeitssinn« ist, »aber es ist ein Sinn für die mögliche Wirklichkeit« (ebd.: 17).
4
Diese Überlegungen wurden durch die Diskussion im Anschluss an meinen Konferenzbeitrag ergänzt; dafür und für weitere Anregungen danke ich den Diskutierenden auf der Konferenz sowie im ›privaten‹ Kreis, ganz besonders Uwe Betz und Joachim Heilmann.
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Folgenden ausgeführt wird, eine Abwertung der Öffentlichkeit, aber auch der Arbeitswelt – eine Unterscheidung, die zunächst näher betrachtet wird. Beide Bereiche werden im Kontext der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit einerseits oft in ihrer tatsächlichen Beschaffenheit verkannt und dadurch andererseits ihrer weiteren Potentiale beraubt. Im Verlauf dieses Beitrags werden dann weitere Beispiele für die zum Teil unterschwellige Rechtfertigung der gegebenen Wirtschaftsordnung und die Abwehr von Alternativen analysiert, um schließlich über die Dekonstruktion der Dichotomie von ›Arbeit‹ und ›Leben‹ zu einem Gegenmodell im Modus des Möglichkeitssinns zu kommen.
1. A RBEITSWELT
UND
Ö FFENTLICHKEIT
Dass es eine diskursiv konstruierte Opposition zwischen ›Arbeit‹ und ›Leben‹ gibt, obwohl Erstere naturgemäß Teil des Lebens ist, zeigt sich etwa in dem gebräuchlichen Ausdruck ›Work-Life-Balance‹: Leben steht hier für das Privatund Familienleben. Wenn der allgemeine Begriff ›Leben‹ aber dafür verwendet wird, wie auch in den ebenfalls gängigen Formulierungen ›das Verhältnis von Arbeit und Leben‹5 oder die ›Vereinbarkeit von Arbeit und Leben‹,6 so bringt das zum Ausdruck, dass diese Seite des Gegensatzes als das eigentliche ›Leben‹ in einem umfassenden, den ganzen Menschen betreffenden Sinn gilt. Mit ›Arbeit‹ dagegen ist, was ebenso implizit eindeutig verstanden wird, allein Erwerbsarbeit gemeint. Diese wiederum wird durch die Verwendung des unspezifischen Begriffs ›Arbeit‹ tendenziell verallgemeinert zu der einzig möglichen Form von Arbeit. Die begriffliche Opposition zwischen ›Work‹ und ›Life‹ beruht dabei zum einen auf der Gegenüberstellung von Arbeit und Privatheit, die im Folgenden erkundet wird. Zum anderen setzt die Forderung nach einer ›Vereinbarkeit von Arbeit und Leben‹ implizit voraus, dass Erstere droht, negativ in die Seite des Lebens einzugreifen, zum Beispiel durch eine schlechte Balance zwischen Arbeits- und Freizeit. Die Dichotomie Arbeit und Leben bringt so potentiell tatsächliche Probleme der kapitalistischen Wirtschaftsform zum Ausdruck, denn die Wahrnehmung einer Beeinträchtigung des Lebens durch die Arbeit ist durchaus eine verbreitete Erfahrung. Eine Variante der berühmten unangenehmen Entscheidung zwischen ›Geld oder Leben!‹ gilt so immer wieder ganz alltäglich als meist aporetische Wahl zwischen Geldverdienen oder Leben – zwischen dem
5
Diese findet sich etwa auch in der Skizze des Konferenzthemas auf www.gradnet.de
6
So formuliert zum Beispiel bei ver.di (2011).
(o.A. 2011).
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Leben selbst und den dafür benötigten Mitteln. Dass Arbeit als Gegensatz zu ganzheitlich verstandenem Leben gesehen wird, entspricht in der Tat der grundsätzlichen Entfremdung kapitalistischer Erwerbsarbeit, nachdem sie in der Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse unternehmerischen Zwecken dient, die mit den Bedürfnissen der lohnabhängig Arbeitenden nichts zu tun haben, weder was die Ergebnisse und den Ertrag der Arbeit noch was die Arbeitsbedingungen selbst betrifft. Daher kann Arbeit unter diesen Voraussetzungen allenfalls auf Umwegen zu einem positiv besetzten Teil des eigenen Lebens werden.7 In der verallgemeinernden Gegensatzkonstruktion aber wird die Abtrennung der Arbeit vom Leben gerade nicht kritisch reflektiert, sondern naturalisiert. Die sprachliche Festschreibung vermag ihr eine scheinbar zwingende Logik zu verleihen, sodass sie – wie andere sprachlich etablierte Begriffsoppositionen – leicht als eine notwendige Grundkonstellation wahrgenommen werden kann. Diskursiv verdrängt werden dabei zum einen Vorstellungen von Formen der Arbeit, die gerade auch Leben im emphatischen Sinn sein könnten: Der Möglichkeitssinn wird beschnitten.8 Zum anderen ist durch die Gegensatzkonstruktion zwischen privatem Raum und Arbeitswelt aber auch der Wirklichkeitssinn affiziert, indem eine Tatsache aus dem Blick gerät, die Ökonomen selbstverständlich klar ist: dass Arbeit im Kapitalismus größtenteils privatwirtschaftlich organisiert ist. Der private Bereich gilt vielmehr insgesamt als ein der Arbeitswelt entgegengesetzter, etwa auch wenn aktuell ein verstärktes Übergreifen der Arbeit in die Privatsphäre als ›Entgrenzung der Arbeit‹ thematisiert wird. Die im Haus ausgeübte ›private‹ Rolle der Versorgung ist, trotz des Begriffs ›Hausarbeit‹, weitgehend definiert als eine von Arbeit freie. Dies hat Barbara Duden in ihrer Kritik des damit verbundenen Frauenbildes als eine Entwicklung, die sich im späten 18. Jahrhundert vollzog, beschrieben: »Durch die relative Entwertung der gebrauchswertorientierten Arbeit der Frau gegenüber der in Geld bezahlten Tätigkeit des Mannes war auch ein Anstoß gegeben, die Arbeit der Frau neu einzuschätzen: sie konnte idyllisch [Herv. i.O.] verklärt werden. Es ist das Wesen der Idylle, die Arbeit der Mühe zu entkleiden und sie in eine schön anzusehende liebende Zuwendung umzuinterpretieren.« (Duden 1977: 134)
Wie in diesem Aufsatz gibt es insbesondere in feministischen Theorien ein kritisches Bewusstsein für den Arbeitscharakter der Hausarbeit, das sich gegen ihre
7
Vgl. zu der Tendenz zu einer solchen verstärkten Identifikation mit der Erwerbsarbeit,
8
Vgl. dazu ebenfalls Abschnitt 5.
die unter dem Stichwort ›Subjektivierung‹ diskutiert wird, Abschnitt 5.
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Idyllisierung wehrt und auch bisweilen ihre Bezahlung einfordert. Doch umgekehrt wird das Gegensatzpaar Arbeit und Privatheit selten problematisiert: Dass auch die Arbeit, die außerhalb des privaten Haushalts geleistet wird, auf privatwirtschaftlicher Basis erfolgt, wird in diesem Kontext kaum reflektiert. Erwerbsarbeit ist zwar in der Tat oft wenig individuell beeinflussbar, sondern vollzieht sich in Abhängigkeit – dass der private Haushalt dagegen unabhängig ist, gehört zu den Idealisierungen, die die dichotomische Konstruktion privat/öffentlich untermauert –, aber die Grundlage für die »in Geld bezahlte[...] Tätigkeit« (ebd.) ist ein Wirtschaftssystem, das auf dem Privateigentum von Produktionsmitteln bis hin zum fertigen Produkt und dem erwirtschafteten Gewinn beruht. Dies könnte bedeuten, dass zumindest der Kapitaleigner nicht an seiner Work-Life-Balance ›arbeiten‹ muss, zumindest wenn seine Bilanz stimmt: Seine Arbeit kommt seinem privaten Wohlstand zugute, und als sogenannter ›Arbeitgeber‹ gibt er seine eigene Arbeitskraft jedenfalls ganz direkt sich selbst. Doch auch in diesem Fall wird die gesamte Sphäre der Produktion und des Gelderwerbs nach der Dichotomie Arbeit/Leben der nichtprivaten Arbeit zugerechnet. Selbst in Bezug auf den Privateigentümer von Produktionsmitteln gilt Arbeiten so als eine öffentliche Tätigkeit, ja sogar als Pflichterfüllung gegenüber der Gemeinschaft. Der Arbeitsplatz erscheint als der Ort, an dem das private Individuum, nachdem es sein ›trautes Heim‹ verlässt,9 Teil der Öffentlichkeit wird. Arbeit wird dabei als eine moralische Aufgabe verstanden, die vornehmlich als Dienst an der Allgemeinheit gilt, nicht als einzig mögliche Quelle des privaten Gelderwerbs. Deutlich wird dies etwa in der moralisch negativen Bewertung von Arbeitslosigkeit oder auch in dem erwähnten Begriff ›Arbeitgeber‹, der den Eindruck erweckt, Unternehmen würden betrieben, um anderen Arbeit zu geben, nicht um von deren Arbeitskraft zu profitieren. Ungeachtet also der Tatsache, dass Arbeit im Kapitalismus von der großen Mehrheit geleistet wird, um Lebenshaltungskosten bestreiten zu können, oder, wie für die wenigen, der eigenen Bereicherung dient, wird sie als Beitrag zum Gemeinwohl verstanden.10 So wird die private Organisation der Arbeit diskursiv in den Hintergrund gedrängt. Die Bereiche Arbeitswelt und Öffentlichkeit werden folglich oft miteinander überblendet, was dazu führt, dass die in der Sphäre von Arbeit und Markt vorherrschenden Gesetze auf
9
Vgl. zu der Konstruktion des idyllischen Heims Duden (1977: 125–140, besonders 132f.).
10 Einzig die Spekulation mit Finanzkapital ist besonders in jüngerer Zeit in Verruf geraten. Sie wird von der moralisch positiven Beurteilung kapitalistischer Geschäfte häufig gerade deswegen ausgenommen, weil ihr der Arbeitscharakter abgesprochen wird, was die hier betrachtete ideologische Verbindung von Arbeit und Moral bestätigt.
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Vorstellungen von ›Öffentlichkeit‹ im Allgemeinen übertragen werden: Pflichterfüllung, Leistung und (Miss-)Erfolg unter widrigen Bedingungen, Zwang, Ausschluss und Konkurrenz erscheinen geradezu als notwendige Elemente öffentlichen Lebens.
2. A RBEIT
UND PRIVATES
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Das idyllisierte Heim ist der Gegenpol zu der negativ verstandenen Öffentlichkeit: Es soll vor den Konkurrenzverhältnissen ebenso geschützt sein wie vor den Belastungen der Arbeit. Allerdings ist dieser Ort, wie inzwischen häufig hervorgehoben wird, bedroht, er verkommt zum Ort der Regeneration für die Arbeit, ist geprägt von fortgesetztem Selbstmanagement und wird von den Anforderungen der Arbeitswelt zunehmend heimgesucht. Was Nietzsche schon 1882 feststellte, ist heute weit verbreitet: »der Hang zur Freude nennt sich bereits ›Bedürfnis der Erholung‹ und fängt an sich vor sich selber zu schämen. ›Man ist es seiner Gesundheit schuldig‹ – so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird.« (1954: 191)
Hier wird noch einmal die moralisch positive Bewertung der Arbeit deutlich, die zur verschämten Rechtfertigung von Zeiten der Muße führt. Der zitierte Satz beginnt entsprechend mit der Feststellung: »Die Arbeit [Herv. i.O.] bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite« (ebd.). Das ›Leben‹ ist dann allein Vorbereitung der Arbeit und notwendige Erholung von ihr: ›Fit for Job‹ könnte das Motto dieser Freizeitbeschäftigungen heute lauten. Nietzsches in dem zitierten Abschnitt, unter der Überschrift »Muße und Müßiggang«, formulierte Klage über den Verlust von Kontemplation, von Zeit zu »lange[m] Nachsinnen« (ebd.: 190), »zum Spazierengehen mit Gedanken und Freunden« (ebd.: 191) ist bis heute ebenfalls höchst relevant und beschreibt den Verlust einer Quelle des Möglichkeitssinns. Dieser Verlust wird doppelt verstärkt durch beide Pole des hier betrachteten Gegensatzes: einerseits durch die genannte Ausuferung der Belastungen durch Arbeit, andererseits aber auch durch das entgegengesetzte Ideal des privaten Lebens, das die Suche nach dem glücklichen Leben auf die eigenen vier Wände beschränkt. Die Denkmöglichkeiten für ›Arbeit‹ und ›Leben‹ verkümmern so gleichermaßen. Dabei wird die private Sphäre gerade durch den ihr zugewiesenen Kompensationsauftrag häufig zu einer zusätzlichen Belastung: Die Sorge für das ›Funktionieren‹ des Privaten als harmonischem Idyll wird zu einer weiteren Pflicht, die noch verschärft wird, wenn sie sich mit der ebenfalls
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privat geleisteten Aufgabe der Kindererziehung und dem Ziel des Familienidylls verbindet. Eine Kritik, die allein das private Leben gegen die Arbeit zu verteidigen sucht, greift daher zu kurz, indem sie grundlegende Probleme unangetastet lässt. Die Bedrohung des ›Lebens‹ durch die Arbeit ist ein Ergebnis davon, dass die Arbeitswelt tatsächlich eine bedrohliche ist, nicht nur in ihrer zeitlichen Beanspruchung des Einzelnen, sondern auch in ihrer häufig mangelnden Qualität, was etwa Abwechslungsreichtum und vor allem Mitbestimmungsmöglichkeiten sowie Gestaltungsspielräume angeht. Eine Kritik an der schlechten Work-LifeBalance müsste aus diesen Gründen letztlich dazu führen, die gesamte Organisation der Arbeit zu überdenken. In diesem (Möglichkeits-)Sinn wird am Ende meines Beitrags dafür argumentiert, die Dichotomie Arbeit und Leben theoretisch und praktisch so aufzuheben, dass die Arbeitswelt zu einer tatsächlich öffentlichen würde, statt aus privatwirtschaftlicher Konkurrenz und Gewinnwirtschaft zu resultieren. Damit könnte eine öffentliche Arbeitssphäre entstehen, die weniger ›am Leben fräße‹,11 als es vielmehr zu erweitern, indem etwa Raum zu selbstbestimmtem Handeln und Kreativität wie auch Muße zum »Spazierengehen mit Gedanken und Freunden« entstünde. Es könnte sowohl mehr ›Leben‹ in der Arbeit als auch neben ihr möglich werden. Doch die gängige diskursive Trennung zwischen privater Sphäre von Harmonie und Glück und öffentlichem Arbeits- und Kampfplatz fördert eine Fokussierung üblicher Kritik an der Arbeitswelt auf die Vereinnahmung des Privaten und führt zu einem Mangel an Konzeptionen öffentlichen Lebens.
3. P RIVATES G LÜCK VERSUS ÖFFENTLICHER A RBEITS - UND K AMPFPLATZ Die Gegensatzkonstruktionen Öffentlichkeit und Privatheit sowie Arbeit und Leben können zurückgeführt werden auf die sich seit dem 18. Jahrhundert durch die Ausweitung von Handel, Verwaltung und schließlich die zunehmende industrielle Produktion vollziehende »Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben« (Hausen 1976) und deren ideologische Untermauerung durch die Konstruktion einer ›weiblichen‹, idyllischen häuslichen Sphäre und einer ›männlichen‹ Welt der rauen Öffentlichkeit und mühevollen Arbeit. Die Beschränkungen, die die so konstruierten Geschlechterrollen für Frauen bedeuten, sind häufig be-
11 Unter dem Titel »Wenn der Job am Leben frisst« betrachtet etwa die Süddeutsche Zeitung das Problem des zunehmenden »Zwang[s], freiwillig mehr zu arbeiten« (Holzapfel 2005: o.S.). Vgl. dazu auch Abschnitt 5.
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schrieben worden. Doch zugleich wurde die Rolle der Frau durch denselben Diskurs aufgewertet, indem der häusliche Bereich nun zum Ort des Glücks und der Harmonie, ja der eigentlichen ›Menschlichkeit‹ wurde.12 Umgekehrt wurde die dem Mann zugewiesene Sphäre all der Eigenschaften, die nun das Privatleben auszeichnen, beraubt. Das öffentliche Leben in dieser Konzeption ist es im Grunde kaum wert, für die weibliche Teilnahme daran zu kämpfen. Auch der Mann kann nur im »Kreise der Familie zu einem ›Menschen‹ [...] [werden], der er im ›feindlichen Leben‹ nicht sein konnte.« (Duden 1977: 136) So bilden nun ›Menschlichkeit‹ und ›Öffentlichkeit‹ einen Gegensatz. Die Fortsetzung von Schillers bekannter Formulierung, »Der Mann muss hinaus/ Ins feindliche Leben« (Schiller 1996: 258), zeigt, um welche Art ›feindliche‹ Öffentlichkeit es sich dabei handelt. Im Lied von der Glocke (1799) heißt es weiter: »Der Mann [...] Muß wirken und streben Und pflanzen und schaffen, Erlisten, erraffen, Muß wetten und wagen, Das Glück zu erjagen.«
Der Mann also ist ein Händler, der auf dem Markt zu spekulieren versuchen muss, wobei List und Wagnis und sogar eine gewisse Raffgier als nötig erachtet werden. Die mangelnde soziale Harmonie wird damit sehr deutlich formuliert. Als Gegensatz zu der ›feindlichen‹ und gefährlichen Außen-Welt erscheint die Sphäre des privaten Zusammenhalts in der häuslichen Gemeinschaft, die durch die Frau aufrechterhalten wird. Nur dort sind Gemeinschaftlichkeit und Miteinander situiert.13 Die bei Schiller besonders plakativ ausgeführten Gegensatzkonstruktionen werden zwar heute bezüglich der eindeutigen Kodierung eines männlichen und eines weiblichen Bereichs immer wieder hinterfragt, doch die grundlegende Opposition zwischen den beiden Sphären wird mit großer Selbstverständlichkeit aufrechterhalten, und sie sind bis heute ganz ähnlich besetzt wie schon am Ende des 18. Jahrhunderts.14 Man kann sogar sagen, dass sich in Anbe-
12 Vgl. Hausen (1976: 378f.); Duden (1977: 133). 13 Vgl. Hausen (1976: 378f.); Hausen (1992: 84). Dort wird, wie in der hier geführten Argumentation, betont, dass »öffentliche[s] Erwerbs- und Staatsleben«, also die Sphären der Arbeit und der Politik, zusammen den Gegensatz zum Privaten bilden. 14 Vgl. Hausen (1976: 381); Hausen (1992: 84f.).
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tracht der aktuellen Krisen diese Grenzziehung noch verschärft; so ist etwa in den Mittelschichten eine stärkere Abschottung im privaten Raum zu beobachten. Als ein Selbstschutz ist dies angesichts der oben beschriebenen Entwicklung der Arbeitswelt nachvollziehbar, in den Konsequenzen aber ist es fatal: Gesamtgesellschaftliche, politische Änderungen werden kaum noch ins Auge gefasst, wenn alle Kraft auf den Versuch verwendet wird, allein die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen und ein Idyll zu pflegen, das oft genug zum Scheitern verurteilt ist, weil es als Ausgleich für die Frustrationen der Arbeitswelt überfordert ist und zugleich schon grundsätzlich ungeeignet, den Mangel an einem ersprießlichen öffentlichen Leben15 zu kompensieren. Doch unterstützt wird der Rückzug ins Private durch seine hier betrachtete ideologische Untermauerung. Während ›privat‹, das zunächst ›das Abgesonderte‹ bedeutet,16 assoziiert wird mit Zusammengehörigkeit und Miteinander – dann aber nur im engsten Kreis –, wird das allgemeine Gegeneinander privater Wirtschaftssubjekte, wie dargelegt, ›Öffentlichkeit‹ genannt und nicht als die notwendige Kehrseite derselben privaten Medaille erkannt. Eine andere Form von Öffentlichkeit als dieses Gegeneinander von Privatleuten wird so nahezu undenkbar. Die öffentliche Sphäre ist insgesamt negativ besetzt. In der Tat müssen ja Kooperation und Solidarität, gegenseitige Hilfe und gemeinsame Anstrengungen immer wieder unternommen werden unter wirtschaftlichen Bedingungen, in denen jeder Einzelne grundsätzlich gegen den anderen antritt, sei es bei einer Stellenbewerbung, sei es bei der Frage, wer, wie und wo noch günstiger produzieren kann, oder wer als nächstes entlassen wird: ›Mitarbeiter‹ haben mit einem tatsächlichen MiteinanderArbeiten wenig zu tun. Doch zwischen einer Kritik an der aktuellen, in der Tat negativen Realität des öffentlichen Lebens und Möglichkeiten eines solchen überhaupt wird, wie im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele gezeigt wird, selten deutlich unterschieden.
4. D IE BESTE ALLER W ELTEN : OHNE G ELD – GEMEINSAM HEISST GEGENEINANDER
KEIN
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Mit der grundsätzlich negativen Konzeption von Arbeit wie Öffentlichkeit ist ein Glaube daran verbunden, dass die kapitalistische Gewinnwirtschaft letztlich die
15 Vgl. dazu Abschnitt 5. 16 Von lateinisch privare: ‚berauben‘, ‚absondern‘.
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beste aller möglichen Wirtschaftsformen sei.17 Nachdem andere Arten von öffentlichem Leben nicht denkbar erscheinen, wird die Konkurrenz um Arbeit und Gelderwerb wie der Schutz von bzw. der Kampf um Privateigentum und die Reste von Privatidyllen, die noch bestehen, häufig als einzige Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens präsentiert. Um dies zu belegen, könnte man aktuelle Tageszeitungen wie auch etwa Publikationen für Kinder und Jugendliche analysieren und würde fast ausschließlich auf Beispiele stoßen, wie das gegebene System als das – zwar im Detail verbesserungswürdige – aber im Grunde ›beste aller möglichen Systeme‹ dargestellt wird, ganz als hätte die Menschheit schon alle Möglichkeiten ausprobiert. Ein Buch für »Kinder und Erwachsene« (Auerbach/Weindel 2010), das scheinbar gerade den Möglichkeitssinn anspricht, kann als ein charakteristisches Beispiel für die Limitierung der Phantasie, was gesellschaftliche Veränderungen angeht, dienen. Im Vorwort zu Was wäre, wenn wir fliegen könnten? Gedankenspiele und Wissenswertes für Kinder und Erwachsene heißt es: »unser Buch mit den Was-wäre-wenn-Spielen soll euch ermuntern, mal in ganz andere Richtungen zu denken [...] Mit diesem Buch möchten wir eure Welt auf den Kopf stellen, euch zum Träumen, Fantasieren und Nachdenken anregen, euch entführen ins Land der tausend Möglichkeiten.« (Ebd.: 13)
Doch das Buch leistet an vielen Stellen eher eine Beschränkung der Phantasie anstatt Anstöße zum Weiterdenken zu geben, so auch in dem Kapitel, das der Frage »Was wäre, wenn es kein Geld auf der Welt gäbe?« nachgeht: eine Frage, die durchaus geeignet wäre, die »Welt auf den Kopf [zu] stellen«, nachdem sie alle Bereiche der kapitalistischen Wirtschaft berührt – Erwerbsarbeit und Markt, Profit(-maximierung) und Ausbeutung durch Arbeit, Kreditwesen und Finanzkrise. Schon die Illustration am Anfang des Kapitels legt jedoch eine eindeutige und einfache Antwort auf die Frage nahe, die allenfalls der Text noch konterkarieren könnte, nämlich dass ein Leben ohne Geld absurd wäre. In der Zeichnung von Anja Filler sind Schuhe mit ›Preisschildern‹ wie »1 Lebensversicherung«, »80 Kugeln Eis« und »200 Äpfel« versehen, unter einer Menge riesiger Äpfel ist
17 Die religiösen Konnotationen dieser Formulierungen sind als Hinweis auf die Absolutsetzung des Gegebenen und seine moralisch-werthafte Überhöhung in oft nicht weiter hinterfragten, gar mit Tabus belegten Glaubenssätzen gedacht. Diese bieten eine starke Legitimation des Bestehenden auch noch im Angesicht manifester und umfassender Probleme, indem sie eine rationale Konfrontation mit diesen Problemen und ihren Ursachen verhindern.
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denn auch die ›Verkäuferin‹ der Schuhe fast vergraben (ebd.: 196). Der zugehörige Text stützt die Aussage des Bildes rundum: Wie selbstverständlich geht er davon aus, dass eine Tauschwirtschaft ohne Geld die einzig denkbare, aber ›unrealistische‹ Alternative zu der Welt mit Geld wäre. »Probleme«, die es »mit dem Geld« gibt (ebd.: 198), finden zwar Erwähnung, aber der Zusammenhang von Geldwirtschaft und Armut und Reichtum etwa wird dabei als ›Meinung‹ ›mancher‹ in Form einer fragwürdigen alltagssprachlichen Anthropomorphisierung und moralischen Aufladung des Geldes als solchem referiert, jedoch nicht einmal ansatzweise erklärt: »Das Geld sei schuld daran, dass der Unterschied zwischen Armen und Reichen wachse, meinen manche.« (Ebd.: 198f.) Die Autorinnen verzichten auf jede, auch nur vergröberte Erläuterung des Zusammenhangs zwischen gewinnwirtschaftlichem Handel und Profit auf der einen, Verlust, Abhängigkeit und Ausbeutung auf der anderen Seite, ebenso wie auf die Darstellung so anschaulicher Gegensätze wie Fabrikbesitzer und Arbeiter. Die Kinder können offenbar nicht so weit »ins Land der tausend Möglichkeiten« »entführ[t]« werden, dass die Idee einer nicht auf Privateigentum und Tausch beruhenden Wirtschaftsweise auch nur am Horizont aufschiene. Der ernüchternd ›realistische‹ Schluss des Kapitels lautet: »Den Unterschied zwischen Arm und Reich könnten wir dadurch [durch eine geldlose Tauschwirtschaft] vermutlich nicht abschaffen. Derjenige, der wenig kann oder besitzt, könnte viel weniger tauschen – genauso wie beim Geld.« (Ebd.: 201)
Mit dieser denkbar mutlosen Vermutung und traurigen Beschreibung des Gegebenen endet das Thema Geld und Tausch, das nächste Kapitel heißt keineswegs: »Was wäre, wenn es kein Eigentum gäbe?« Oder spezieller und, die oben beschriebene Illustration aufgreifend, kindgemäß konkret: »Was wäre, wenn die Schuhfabriken und die Apfelbäume uns allen gemeinsam gehörten?« Doch auch die Antworten auf diese Fragen wären innerhalb des herrschenden Diskurses, dem sich das hier vorgestellte Buch anschließt bzw. den es für die zukünftigen Generationen ganz eifrig untermauert, vorhersehbar: Das Ergebnis des scheinbar offenen Durchspielens von Alternativen ist die Alternativlosigkeit; selbst im »Land der tausend Möglichkeiten« (ebd.: 13) herrscht weiterhin die gegebene Organisation von Wirtschaft und Arbeitswelt.18
18 Als ein Gegenbeispiel zu dieser unkritischen Art der Kinder- und Jugendliteratur soll hier das Buch Wie kommt der Hunger in die Welt? Ein Gespräch mit meinem Sohn von Jean Ziegler nicht unerwähnt bleiben (2002).
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Dass diese Art des ›realistischen‹ Konformismus nicht nur Kinderbücher prägt, möchte ich nun an einem Zitat veranschaulichen, das zeigen kann, wie sehr es als eine Selbstverständlichkeit gilt, ein gemeinschaftliches Wirtschaften im Modus des Gegeneinander zu konzipieren und eine privatwirtschaftliche Lösung für die beste zu halten – ohne dass dies tatsächlich zu Ende gedacht würde. Anlässlich des Themas »7 Milliarden«, der geschätzten Zahl der Weltbevölkerung im Oktober 2011, beschäftigt sich die Süddeutsche Zeitung mit verschiedenen Problemen des anhaltenden Bevölkerungswachstums. Um die RessourcenKnappheit zu veranschaulichen, greift in diesem Kontext der Autor Patrick Illinger auf einen seines Erachtens wohl unmittelbar einleuchtenden Vergleich zurück: »Ein Vater hinterlässt seinen fünf Kindern ein Vermögen von 50 000 Euro.« (Illinger 2011) Zunächst scheint es also naheliegend, natürliche Ressourcen mit Geld zu vergleichen und die Erde mit einer patriarchalen »Erbschaft« (ebd.). Illinger fährt in seiner Erklärung fort: »Im besten Fall bekommt jedes der Nachkommen ein Fünftel davon und steht danach in der Verantwortung, sein Erbteil vernünftig und maßvoll zu verwalten. Doch was passiert, wenn die Hinterlassenschaft auf einem Gemeinschaftskonto deponiert wird und jeder Erbe – zum Beispiel per Kreditkarte – Zugriff auf das Guthaben bekommt? Es braucht nicht viel Phantasie, um sich den grausamen Wettlauf vorzustellen, bei dem die Erben alles daran setzen, möglichst viel des Vermögens zu verpulvern, bevor es der Rest der Verwandtschaft tut. Genau das passiert mit den Rohstoffen dieser Erde.« (Ebd.)
Vielleicht wäre es ja gut gewesen, doch ein wenig mehr »Phantasie«19 walten zu lassen: Nicht allzu subtil wird hier bestätigt, dass das Privateigentum, das zugleich den »Zugriff« auf Güter limitiert, die einzig mögliche Form einer ›Verwaltung‹ von Lebensgrundlagen und anderen Produkten menschlicher Arbeit darstellt. Auch wenn im Bild zwei Formen privater Vermögensweitergabe miteinander verglichen werden, ist deutlich, wie über das »Gemeinschaftskonto« der gemeinschaftliche »Zugriff« mit einer Verschwendung im »Wettlauf« mit den anderen verbunden wird. Das auf Einzelne aufgeteilte Erbe dagegen wird mit den Begriffen »Verantwortung« und »vernünftig und maßvoll [...] verwalten« assoziiert. Wie dies aussieht und auf welche Weise die fünf dann miteinander in Konkurrenz treten – geschweige denn welche Menschen, die nicht mit einem Erbe in den Wettbewerb starten, sie dabei ausstechen oder dazu verwenden, das geerbte Kapital für sich ›arbeiten‹ zu lassen –, wird ausgeblendet. Die vom
19 Die folgenden Zitate beziehen sich, soweit nicht anders benannt, noch einmal auf die zitierte Passage aus Illinger (2011).
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Autor imaginierte Aufteilung des Erbes in gleiche Teile, die er den »besten Fall« nennt, bleibt dabei ganz dem eingangs erwähnten Realismus verpflichtet, denn dieser beste Fall entspricht ja der geltenden Realität des Erbrechts. Darüber hinaus aber verfälscht Illingers metaphorisches Szenario die Realität der mit dem Bild gemeinten Situation. Das »Erbe«, also die Rohstoffe der Erde, sind keineswegs mit einem »Gemeinschaftskonto« vergleichbar, vielmehr sind sie längst aufgeteilt und genau deswegen ein Mittel im wirtschaftlichen »Wettlauf« der Nationen. Dies weicht von Illingers ›bestem Fall‹ zwar insoweit ab, als es keine Aufteilung zu gleichen Teilen gab, aber keineswegs in Richtung eines Zugriffs für alle. Die Alternative zwischen einer Aufteilung in Privateigentum und einem »grausamen Wettlauf« überhaupt ist eine falsche, von der hier dargestellten Ideologie motivierte: Gerade das Privateigentum als Grundsatz der gesamten wirtschaftlichen Ordnung und das ›feindliche‹ Gegeneinander gehören untrennbar zusammen – und das müsste in einer Analyse des Umgangs mit natürlichen Ressourcen thematisiert werden. Sie werden im Prozess ihrer gewinnwirtschaftlichen Verwertung »hemmungslos« ausgebeutet und nicht etwa deswegen, weil sie allgemein zugängliche »Gemeinschaftsgüter« wären.20 Ressourcen werden momentan keineswegs davon knapp, dass sich alle an ihnen bedienen würden, sondern davon, dass sie von wenigen möglichst gewinnbringend vernutzt werden. In seiner Kritik an der Verschwendung der Rohstoffe gelingt es Illinger jedoch, die bestehende Ordnung zu rechtfertigen: Zu bedauern bleibt ihm nur, dass die »Gemeinschaftsgüter«, wie Luft (vgl. ebd.), Erde und Wasser, nicht ganz und gar in Privateigentum verwandelt werden können. Der Möglichkeitssinn fragt dagegen, die von Illinger perpetuierte Assoziation von gemeinschaftlich und gegeneinander verlassend, ob die fünf Erben im Bild nicht am besten zusammen das gesamte Vermögen verwenden könnten. Oder er imaginiert sich, jenseits der rundum unpassenden Metapher, eine Produktions- und Arbeitsweise, die gemeinschaftlich organisiert wäre und nicht gewinnwirtschaftlich, sondern am tatsächlichen Bedarf aller orientiert. Diese könnte sowohl Ressourcen-schonender als die jetzige, von Illinger nur scheinbar kritisierte, als auch, um auf das Thema Arbeit zurückzukommen, weniger arbeitsintensiv gestaltet werden. Die Grundbedingung für eine solche Veränderung aber wäre, dass die Öffentlichkeit zu einer Sphäre würde, in der versucht wird, ge-
20 Illinger greift das umstrittene Konzept der »›tragedy of the commons‹ [...] ›Die Tragödie der Gemeinschaftsgüter‹« (2011) aus den Wirtschaftswissenschaften stark vereinfachend, ja verfälschend auf. Dies wird hier nicht näher betrachtet, da der Zeitungsartikel gerade als Beispiel für populäre Diskurse gewählt wurde, die über Massenmedien Verbreitung finden.
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meinsam »vernünftig« zu »verwalten« – mit Illingers auf den Einzelnen bezogenen Formulierungen ausgedrückt. Die öffentliche Sphäre dürfte gerade nicht das herrschende Gegeneinander einzelner Wirtschaftssubjekte bleiben, das durch Darstellungen wie die hier beispielhaft analysierten ideologisch überhöht wird.
5. M ÖGLICHKEITSSINN : ÖFFENTLICHES G LÜCK – ÖFFENTLICHES A RBEITS -L EBEN Als Beginn eines Denkens in die Richtung einer gemeinschaftlichen, öffentlichen Organisation von Arbeit und Produktion möchte ich mit einer Formulierung von Hannah Arendt dafür plädieren, die Möglichkeit eines ›öffentlichen Glücks‹21 stärker ins Auge zu fassen, damit also die Konnotation von ›privat‹ und ›Glück‹ ebenso aufzubrechen wie die von Öffentlichkeit und Kampfplatz. So würde die Möglichkeit denkbar, dass das Gemeinsame auch bzw. ganz besonders zu einem Ort der emphatischen Menschlichkeit und Vernunft – des Lebens – werden könnte. Statt die Trennung in den Konkurrenzkampf auf der einen Seite und die Abschottung in der privaten Familien-Sphäre auf der anderen immer weiter zu perpetuieren, müsste man es wagen, einander in einer politisierten Öffentlichkeit zu begegnen. Dabei müsste aber Politik nicht allein als Ausgleich wirtschaftlicher Krisen und damit als Rettung des bestehenden Systems aufgefasst werden, sondern als ein umfassendes politisches Denken, das radikale Kritik und scheinbar unrealistische Gegenentwürfe einbezieht. Erst dann kann es wiederum realistisch sein, von einem öffentlichen Glück zu sprechen.22 In der gegebenen Konkurrenzund Wettbewerbsgesellschaft wirkt dies fast lächerlich. Stattdessen müsste eine tatsächlich öffentliche Sphäre existieren, nicht nur die auf die Verwaltung der
21 Vgl. Arendt (1963: 168). Hier verwendet Arendt bezogen auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Idee des ›pursuit of happiness‹ den englischen Ausdruck »public happiness [Herv. i.O.]«; später spricht sie z.B. von »öffentlichem, politischem Glück« (ebd.: 169). Allerdings geht meine Argumentation im Folgenden in eine andere Richtung als Hannah Arendts, die die eigentlich politische Sphäre als grundsätzlich von der ökonomischen abzutrennen denkt (vgl. z.B. Arendt 2007: 40f.) – sie hält so an der Dichotomie von öffentlich und privat(-wirtschaftlich) fest, allerdings eben mit einer positiv besetzten Idee der politischen Öffentlichkeit. 22 Gemeint ist hier nicht, dass Glück, als ein intimes Gefühl des Individuums, öffentlich wird, sondern dass das öffentliche Debattieren, Entscheiden und Handeln Quelle des Glücks für die Einzelnen werden kann, sofern sie dies möchten.
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Privat-Wirtschaft beschränkte; eine öffentliche Organisation des Zusammenlebens in einem umfassenden Sinn, die auch die Sphäre der Arbeit miteinschlösse. Die Produktion dürfte dann auch nicht im Rahmen einer staatlich verwalteten Gewinnwirtschaft vonstattengehen, wie es in den sozialistischen Ländern der Fall war,23 sondern müsste als bedürfnisorientierte Wirtschaft konzipiert sein. Bedürfnisorientierung bedeutet zugleich Partizipation in allen Momenten des Produktionsprozesses: Was wird zu welchem Zweck und unter welchen Bedingungen produziert? Erst wenn diese Fragen nicht mehr den Marktgesetzen und dem Aushandeln der systembedingten Gegensätze zwischen Gewerkschaften und Unternehmern überlassen sind, sondern tatsächlich offen verhandelt werden, könnte eine Öffentlichkeit entstehen, die der Rede wert wäre. Doch wozu sollte man überhaupt nach einem ›öffentlichen Glück‹ streben, statt das eigene private Glück zu pflegen? Wenn wir Verhältnisse für selbstverständlich halten, in denen der eine kritische Vorträge an Universitäten hält, mancher sogar gut bezahlt, während der andere sein Leben lang Straßen kehrt,24 und das auch nur, wenn er überhaupt Arbeit findet; wenn wir uns in diesen Verhältnissen häuslich einrichten und allein auf eine private Glückssuche zurückziehen, wie dies sowohl tatsächlich als auch in medialen und künstlerischen Darstellungen fast ausschließlich geschieht, dann haben wir uns mit einem Zustand abgefunden, in dem auch das private Glück kaum funktionieren kann. Es ist zu sehr ›privatus‹ in der ursprünglichen Wortbedeutung, ›abgesondert‹ und ›beraubt‹, umgeben und bedroht von all dem, was davon ausgegrenzt wird, und das durch diese Ausgrenzungen erst noch potenziert wird. Die Privatsphäre ist längst selbst bewohnt von unglücklichen, miteinander konkurrierenden Menschen, von Armut und Existenzangst, Zeitmangel und Selbstausbeutung. Von der bedrohlichen Außenwelt ist diese Privatwelt schon eingeholt, von der Privatidylle zur Privatinsolvenz ist es nicht weit, und wenn das Management der Work-Life-Balance scheitert, droht der Burn-out. Meine Argumentation gegen eine Beschränkung auf das Private als einzige Quelle des Glücks soll jedoch nicht bedeuten, dass man auf ein Privatleben im
23 In diesem Kontext steht eine weitere ideologische Festschreibung: die Assoziation öffentlicher Verwaltung mit mangelnder Effizienz. Sie gehört zu einem Aspekt kapitalistischer Ideologie, der hier nicht behandelt werden konnte, nämlich der Behauptung, nur Konkurrenz schaffe Effizienz: eine Behauptung, die allerdings allein durch die Frage nach der allgemeinen Bedeutung des Ziels der Effizienz ins Wanken gebracht werden kann. 24 Vgl. die Fotografien von einem Straßenkehrer (von Kerstin Polzin und Anja Schoeller) im Programmheft der Konferenz (Barthel et al. 2011).
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Sinne von Intimität und auch auf eine private Sphäre, inklusive individueller Verfügungsgewalt über bestimmte Güter, als Rückzugsort für die Einzelnen gänzlich verzichten könnte. Aktuell ist im Gegensatz dazu eine Art der Aufhebung der Trennung von Leben und Arbeit festzustellen, die als negative Umkehrung der hier unternommenen Dekonstruktion dieser Dichotomie gesehen werden kann: Das Private wird in vielen Fällen, wie erwähnt, gänzlich der Arbeit unterstellt.25 Die Auflösung der Grenzen zwischen Arbeitszeit und ›Lebens-Zeit‹ geschieht im Sinne einer umfassenden Nutzung des ›Humankapitals‹, häufig in Form unbezahlter Mehrarbeit. Die zunehmende Verfügbarkeit außerhalb von vertraglich geregelten Arbeitszeiten und unabhängig von der Anwesenheit am Arbeitsplatz wird auch mit dem Begriff der ›Subjektivierung der Arbeit‹ in Zusammenhang gebracht, was eine Identifikation der Einzelnen mit der Arbeit wie auch stärker auf sie zugeschnittene Arbeitsbedingungen bezeichnen könnte, also eine Annäherung der Arbeit an das Leben im positiven Sinn. In wenigen privilegierten Fällen mag diese Tendenz in der Tat mit einer auch für die Arbeitenden wünschenswerten Flexibilität und besseren Möglichkeiten zu Kreativität und Mitgestaltung von Arbeitsabläufen einhergehen. Für die große Mehrheit aber erscheint die ›Subjektivierung‹ als ein zusätzlicher Zwang: Statt objektive Bedingungen zu schaffen, die eine gelingende Verbindung von Subjekt und Arbeit ermöglichen würden, wird es den Einzelnen unter den unverändert entfremdeten Arbeitsbedingungen auferlegt, auch noch eine Balance zwischen unternehmerischem Zweck und individueller Selbstverwirklichung herzustellen. Die Arbeit soll den Arbeitenden zu ihrem eigenen Lebenszweck werden, sodass ihr verstärktes persönliches Engagement der Vermehrung der Profitrate umso effizienter dienen kann. Die von der Arbeit nicht affizierten Freiräume, sowohl was zeitliche als auch was psychische Unabhängigkeit angeht, werden dabei immer kleiner. Es ist zunächst verständlich, wenn in Anbetracht dessen ein Schutz des Privatlebens eingefordert wird, doch dieser steht immer im notwendigen Gegensatz zu den Interessen der ›Arbeitgeber‹. Unter den herrschenden Bedingungen entsteht etwa die widersprüchliche Situation, dass technologischer Fortschritt sich im Bereich von Produktion wie Dienstleistung nahezu ausschließlich für Unternehmen positiv auswirkt, auf der anderen Seite stellt sich die technische Entwicklung als Gefährdung von Arbeitsplätzen dar, nicht als eine Erleichterung der Arbeit. Dies entspricht der Logik der kapitalistischen Wirtschaftsweise und ist kein besonderer Auswuchs davon, sondern ihre innerhalb des Systems vernunftgemäße Konsequenz. Daher würde die Forderung, dass Arbeit, etwa mit Hilfe
25 Dieses Phänomen wird auch in den Medien immer wieder kritisch beleuchtet, vgl. etwa den oben zitierten Artikel Holzapfels (2005).
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neuer Technologien, nach den Bedürfnissen der Einzelnen – auch nach mehr Ruhe, freier Zeit und abwechslungsreicheren Tätigkeiten – gestaltet werden sollte, erst ›realistisch‹, wenn die Arbeitswelt nicht mehr der Profitmaximierung und der Trennung in Kapitaleigner und diejenigen, die nur ihr eigenes ›Humankapital‹ besitzen, unterstehen würde. Das Öffentliche wäre dann nicht per se bedrohlich; es könnte ein öffentliches Arbeits-Leben entstehen, das aber keineswegs alle Bereiche individuellen wie gesellschaftlichen Lebens dominieren müsste. Möglichkeiten zur Mit- und Selbstbestimmung wären nicht, wie jetzt, weitgehend auf den privaten Bereich beschränkt, sondern würden sich auf Arbeit und öffentliches Leben ausdehnen. Anstatt also die Gegensätze Arbeit und Leben, öffentlich und privat damit zu untermauern, dass man sie etwa miteinander in Balance zu bringen versucht, wollte dieser Beitrag dazu anregen, öffentlich über die bestehenden Arbeitsverhältnisse nachzudenken, die eben für die meisten den weitaus größten Teil ihres privaten Lebens ausmachen.
L ITERATUR Arendt, Hannah (1963): Über die Revolution, München: Piper. Arendt, Hannah (2007): Vita activa oder vom tätigen Leben. 5. Aufl., München/Zürich: Piper. Auerbach, Isabelle/Weindel, Yvonne (2010): Was wäre, wenn wir fliegen könnten? Gedankenspiele und Wissenswertes für Kinder und Erwachsene, Berlin: Ullstein. Barthel, Johannes et al. (2011): (Re-)Präsentationen der Arbeitswelt. (Re-)presentations of Working Life. 10th Interdisciplinary and International Conference for Graduates and Postgraduates of Social Sciences, Humanities and Cultural Studies. 12.-13.11.2011. Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Programmheft, Erlangen: Gradnet e.V. Duden, Barbara (1977): »Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert«, in: Kursbuch 47, S. 125–140. Fabian, Roderich (2011): »Wie man Geister vertreibt: Joseph Vogl und ›Das Gespenst des Kapitals‹«. Radiosendung, Bayern 2: Zündfunk vom 15.05.2011. Hausen, Karin (1976): »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben«, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart: Klett, S. 363–393.
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Hausen, Karin (1992): »Öffentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftspolitische Konstruktionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen«, in: dies./Heide Wunder (Hg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 81–88. Holzapfel, Nicola (2005): »Wenn der Job am Leben frisst. Früher anfangen, später gehen: Über den unausgesprochenen Zwang, freiwillig mehr zu arbeiten«, http://www.sueddeutsche.de/karriere/arbeitszeit-wenn-der-job-am-lebenfrisst-1.499239 vom 27.02.2005. Illinger, Patrick (2011): »Letzte Tropfen«, in: Süddeutsche Zeitung vom 29./30.10.2011, S. 2/6. Musil, Robert (1978): Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Nietzsche, Friedrich (1954): Die Fröhliche Wissenschaft, in: ders., Werke in drei Bänden. Bd. 2, München: Hanser. o.A. (2011): »Konferenzhomepage. Thema: (Re-)Präsentationen der Arbeitswelt«, www.gradnet.de vom 25.05.2009. Schiller, Friedrich (1996): »Das Lied von der Glocke«, in: Gedichte von Friedrich Schiller. Hg. v. Norbert Oellers, Stuttgart: Reclam, S. 255–267. ver.di (2011): »Genderpolitischer DatenWegweiser. Vereinbarkeit von Arbeit und Leben / Beruf und Familie«, http://gender.verdi.de/publikationen/eigene_broschueren/genderwegweiser/genderpolitischer-datenwegweiser/themen_daten/vereinbarkeit vom 14.04.2011. Ziegler, Jean (2002): Wie kommt der Hunger in die Welt? Ein Gespräch mit meinem Sohn. Aus dem Französischen übertragen von Hanna van Laak, München: Goldmann.
Arbeit neu denken? Zur aktuellen Diskussion um einen erweiterten Arbeitsbegriff I RENE D ÖLLING
In der aktuellen soziologischen Diskussion gibt es eine breit angelegte Debatte zur ›Zukunft der Arbeit‹, darum, ob und wie Arbeit neu gedacht werden müsste beziehungsweise könnte. Dabei geht es zum einen um eine möglichst präzise, empirisch fundierte Bestandsaufnahme, um den Ambivalenzen und Konfliktpotenzialen der Veränderungen in der Arbeitswelt und ihren nicht zuletzt geschlechterspezifischen Auswirkungen auf die Arbeitskraft im engeren Sinne und auf die individuelle Lebensführung insgesamt auf die Spur zu kommen – und damit dem Neuen in seinem historischen Gewordensein und seinen inhärenten Möglichkeiten für die Übersteigung des Status quo. Die aktuellen soziologischen Diskussionen zeichnen sich des Weiteren aus durch konzeptionelle Überlegungen zu einem erweiterten Arbeitsbegriff (Stichwort: Care-Ökonomie), die auf Tendenzen reagieren, welche einen Rückgang industrieller Arbeit und Berufe und eine Zunahme von Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich, insbesondere im Care-Bereich, anzeigen. Damit wird konzeptionell und nicht zuletzt unter Rückgriff auf feministische Debatten zur sogenannten ›Reproduktionsarbeit‹ auf Entwicklungen aufmerksam macht, die auf eine Verwischung bzw. Aufhebung der bisher geläufigen Grenzen zwischen sogenannten ›produktiven‹ Tätigkeiten (Erwerbsarbeit) und ›reproduktiven‹, privat im Haushalt geleisteten Tätigkeiten der Vor- und Fürsorge durch Kommodifizierung und Professionalisierung der Letzteren hinweisen. Und schließlich kreist der soziologische Diskurs um die Frage, ob die Erwerbsarbeit tatsächlich auch im 21. Jahrhundert »das zentrale Integrationsmoment in die Gesellschaft« (Dobusch/Land 2010: 142) bleibt. Die Diskussion dieser Frage ist zugleich mit Reflexionen über das in der Soziologie entwickelte begriffliche und methodologische Instrumentarium verbunden. Also darüber, wieweit dieses der industriegesellschaftlichen Moderne verhaftet ist und
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ob es ausreicht dafür, die Zukunft nicht nur als Fortschreibung des Status quo zu sehen. Mit anderen Worten: Zur Debatte steht, ob nicht ein Paradigmenwechsel notwendig ist, um mögliche Potenziale für einen anderen Integrations- und Vergesellschaftungsmodus überhaupt erst intelligibel machen zu können. Anknüpfend insbesondere an die beiden letztgenannten Debattenstränge, möchte ich im Folgenden zunächst (1) rekonstruieren, warum und in welchem Sinne Arbeit bzw. genauer: Erwerbsarbeit in modernen, industriell geprägten Gesellschaften zu einem im umfassenden Sinne sozialen Platz- und Statusanweiser geworden ist, wie sehr dieser Integrations- und Vergesellschaftungsmodus unsere Lebensäußerungen weit über die Erwerbstätigkeit prägt und orientiert. Auf die strukturellen Trennungen von Tätigkeiten und auf die geschlechtlichen Implikationen, die damit verbunden sind, werde ich dabei nur kurz eingehen (dazu ausführlich Regina Becker-Schmidt in diesem Band). Ich möchte dann (2) die aus meiner Sicht wichtigsten Akzente in der Debatte um einen erweiterten Arbeitsbegriff und den Wechsel zu einer Care-Ökonomie herausarbeiten und abschließend (3) Argumente dafür vortragen, weshalb aus einer kapitalismuskritischen Sicht die Debatte um Care-Ökonomie verkürzt ist, wenn es um die Zukunft der Arbeit bzw. Arbeitsgesellschaft geht.
1. M ERKMALE
DES
(E RWERBS -)A RBEITSPARADIGMAS
Wir, die wir in einer spätkapitalistischen Gesellschaft leben, können uns kaum vorstellen, dass Arbeit nicht der zentrale Bezugspunkt unseres Lebens, unserer Weltsicht und unserer Normalitätsvorstellungen ist. Historisch gesehen hat sich dieses Phänomen aber erst vor ein paar Jahrhunderten herausgebildet und ist mit der Entwicklung der Industrieproduktion im 19. Jahrhundert hegemonial geworden. Mit der Entstehung moderner, auf kapitalistische Warenproduktion gegründeter Gesellschaften hat ›Arbeit‹ einen grundlegenden Bedeutungswandel erfahren (das trifft auch – und in spezifischer Weise – auf die ›real-sozialistische‹ Variante moderner Gesellschaften zu, vgl. Engler 2002). Arbeit stieg von einer der »unsichersten, ja unwürdigsten und elendsten Lebensstellungen« auf zu »einer Beschäftigung und einem Status«, zur »Basismatrix der modernen ›Lohnarbeitsgesellschaft‹« (Castel 2000: 11). War Arbeit, insbesondere die körperliche, bis dahin verachtet, wird sie nun zur Quelle allen Reichtums (Adam Smith) bzw. zur Grundlage menschlichen Fortschritts und zum entscheidenden Merkmal des gesellschaftlichen Wesens Mensch (Karl Marx) umgedeutet. Die so gefeierte Arbeit weist allerdings historische Formbestimmtheiten auf: Arbeit ist Lohnarbeit, sie beruht auf einem Vertrag zwischen Partnern mit ungleich verteilten Ressour-
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cen und Macht, was die Aneignung und Ausbeutung von Arbeitskraft zum Zweck der Mehrwerterzeugung ermöglicht. Und dementsprechend gilt als Arbeit nur die Erwerbs- bzw. Lohnarbeit, also diejenige Arbeit, die – als produktive klassifiziert – im kapitalistischen Verwertungsprozess Güter herstellt, deren abstrakter oder Geldwert auf dem Markt realisiert und als Profit wieder in die (erweiterte) Produktion gesteckt wird. In modernen Gesellschaften bilden Lohnbzw. Erwerbsarbeit und soziale Anerkennung/soziale Positionierung eine untrennbare Einheit. Mit dem Nationalstaat entwickelt sich im 19. Jahrhundert die Institution, die geeignet ist, die ›soziale Frage‹, also die Absicherung gegen die Risiken einer an Arbeitsfähigkeit gebundenen individuellen Existenz (mehr oder weniger) zu lösen. Diese Absicherungen (etwa bei Krankheit oder im Alter) richten sich zunächst insbesondere an Lohnarbeiter – zu denken wäre hier etwa an die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung. Im 20. Jahrhundert, vor allem in den beiden Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkrieges, erfährt der Sozialstaat seinen Höhepunkt: nicht nur wird der Kreis der Leistungen und der – in einer Vielzahl von Gruppen definierten – Anspruchsberechtigten erweitert, sodass schließlich nicht nur Lohnarbeiter, sondern generell Erwerbstätige (und ihre Angehörigen) zu Leistungsempfängern mit rechtlichen Ansprüchen werden. Der Sozialstaat schafft auch mit dem ›Sozialeigentum‹ (Castel) eine neue Form von Eigentum, die einerseits das Prinzip des Privateigentums nicht verletzt (die individuelle Zahlung ist der Zugang zu vielen Sozialleistungen), zugleich aber über dieses hinausweist (Sozialeigentum ist nicht vererbbar). Der Sozialstaat als »Garant des Transfereigentums« (Castel 2000: 278) bewahrt die von ihrer Arbeit lebenden Menschen vor »gesellschaftlicher Entmündigung« (ebd.: 277); er hat daher in einem umfassenden Sinne eine integrierende und vergesellschaftende Funktion. Lohn-/Erwerbs-Arbeit verschafft Anerkennung (vor allem in Geldform als Lohn oder Gehalt, aber auch in Form von Kreditwürdigkeit bzw. als Konsument/in oder Staatsbürger/in); sie bestimmt entscheidend über den individuellen Platz im gesellschaftlichen Kosmos, und sie prägt grundlegend individuelle Lebensführung und Identität. Heute gilt in einem umfassenden Sinne, dass alles, was Menschen alltäglich tun und denken, wahrnehmen und beurteilen, nicht ohne Bezug zu (Erwerbs-)Arbeit ist. Freizeit (und wie sie ›gefüllt‹ wird), überhaupt individuelle Zeitregime, Muße, Faulenzen und Sich-gehen-Lassen, Sport oder gesunde Ernährung lassen sich nur in Relation zur struktur- und normgebenden Arbeit, ihren Anforderungen an Leistungsfähigkeit, Verfügbarkeit und Motiviertheit fassen. Der Stellenwert, den verschiedene Tätigkeiten für die Einzelnen in ihrer Lebensführung haben, ist von der Unterscheidung in ›produktive‹, in der Regel bezahlte und sozial reputierliche, ›richtige‹ Arbeit einerseits, in ›reproduk-
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tive‹, meist unbezahlte und mit wenig bis keiner sozialen Reputation verknüpfte Tätigkeiten (Nicht-Arbeit) andererseits ebenso beeinflusst wie von den damit einhergehenden geschlechterhierarchischen Arbeitsteilungen. Der Vergesellschaftungsmodus ›Arbeit‹ schlägt sich nieder in inkorporierten Klassifikationen, in Visions- und Divisionsprinzipien (Bourdieu), die • • • •
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die allgemeine Weltsicht orientieren (›Arbeit ist die Grundlage der Gesellschaft‹) ebenso wie den Sinn für den eigenen Platz im sozialen Gefüge (nach ›Leistung‹ und beruflicher Qualifikation) sowie das Selbstwertgefühl (›ich bin wer, wenn ich Arbeit habe, ohne Arbeit ist das Leben sinnlos‹). Dieser Modus ist ablesbar an Machtgefällen in den unmittelbaren, z.B. familiären Beziehungen (wessen Leistungen haben den höheren Stellenwert für den Lebensstandard der Familie, wer übernimmt daraus folgend welche Tätigkeiten/Verantwortlichkeiten im familiären Alltag, wie lange wird von wem das Elterngeld in Anspruch genommen und so weiter). Dieser Modus wirkt auch in der inkorporierten heterosexuellen Norm, die eng mit der Sozialfigur des Ernährers der Familie bzw. der (hinzuverdienenden) Hausfrau oder der Erwerbsarbeit und haushälterische Tätigkeiten vereinbarenden (Ehe-)Frau verknüpft ist.1 Dieser scheint auf in den Klassifikationen des ›praktischen Sinns‹ (Bourdieu), wer als ehren- und anerkennenswert gilt, wer ›dazu gehört‹ und wer nicht (z.B. als Erwerbslose/r) und deshalb auch als ›Überflüssige/r‹, ›Sozialschmarotzer/in‹ etc. ausgegrenzt werden kann.2 Oder, wie Judith Butler es formuliert hat, dieser Modus wird sichtbar in allgemein geteilten Vorstellungen darüber, »welche Version des Körpers oder der Morphologie des menschlichen Lebens ganz allgemein als schützenswert, lebenswert und betrauerbar zugrunde gelegt wird« (2010: 57). Das
Die biologische Differenz, der ›natürliche‹ Unterschied, zwischen Mann und Frau liegt der Norm von der ›natürlichen‹ Heterosexualität zugrunde, und diese wird mit dem Konstrukt der Ehe bzw. dem ›naturgegebenen‹ Zusammenleben von Mann und Frau und den sozialen Arbeitsteilungen zwischen den (Ehe-)Leuten verknüpft.
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So ist etwa die Diskriminierung von Hartz IV-Bezieher/inne/n weit verbreitet und die Abgrenzung mittels vor-urteilender Floskeln wie ›Verlierer‹, ›Arbeitsunwillige‹, ›Faulenzer‹ etc. größer als Solidarisierung mit denen, die – als Resultat struktureller Zusammenhänge des neoliberalen Kapitalismus – zu sozial Abgehängten gemacht werden.
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heißt zum Beispiel, für wen Schutzmaßnahmen (etwa Sicherheit des Arbeitsplatzes, Kündigungsfristen, Bezahlung nach Tarif oder Anspruch auf Urlaub oder Extra-Zuwendungen) als selbstverständlich oder gerecht angesehen werden, welche Lebensformen bzw. Körperlichkeit als respektabel gelten3 und welche bzw. wessen verschlechterte oder bedrohte Lebensbedingungen (etwa von Facharbeitern, der Mittelschicht) als Unrecht beklagt oder wessen (miserable) Lebensbedingungen als hinnehmbar akzeptiert bzw. als irrelevant ausgeblendet werden (die materielle bzw. insbesondere die soziale Not von Langzeitarbeitslosen). Kurz: Das Arbeitsparadigma durchdringt alle Bereiche des gesellschaftlichen und individuellen Lebens, es wirkt keineswegs nur in der Arbeitswelt, und es sind eben nicht einfach oder nur ›die Verhältnisse‹, sondern auch und insbesondere seine Inkorporierung und seine alltägliche Anwendung in der praktischen Lebensführung, die seine Beständigkeit und Herrschaft sichern. Auf diesen Zusammenhang hat bereits Max Weber in seiner Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus hingewiesen. Er hat herausgearbeitet, dass es immer jeweils historisch bestimmter, kollektiv geteilter Formen und kultureller Normierungen der alltäglichen individuellen Lebensführung bedarf, um potenziellen Veränderungen in der Wirtschaftsweise, die sich objektiv etwa durch technische oder soziale Entwicklungen abzeichnen, zum Durchbruch zu verhelfen. Diese normativen Vorstellungen, wie das alltägliche Leben sinnvoll, gottgefällig, modern usw. geführt werden sollte, rekurrieren auf individuelle Bedürfnisse und weisen eine ›Wahlverwandtschaft‹ (also nicht unbedingt einen kausalen Zusammenhang) zu strukturell bedingten Erfordernissen auf. So waren es zunächst die Vorstellungen protestantischer, insbesondere calvinistischer, Gemeinden von der Erreichung göttlicher Gnade durch »rastlose Arbeit« (Weber 1993: 144) und einer dementsprechenden ›methodischen Lebensführung‹, die die Ausbildung eines auf rationale Verwendung von Zeit und Fähigkeiten gerichteten praktischen Sinns beförderten. Dieser setzte sich als ›kapitalistischer Geist‹ »in schwerem Kampf gegen eine Welt feindlicher Mächte« (ebd.: 17) durch4 und legte – auf
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Man denke etwa an die Abwertung übergewichtiger Menschen und die direkten und indirekten Zwänge, die von Medien, Ratgebern usw. ausgeübt werden, indem Schlankheit zur Norm erhoben wird – womit zugleich Gesundheit (und damit etwa die Nicht-Inanspruchnahme medizinischer Leistungen beziehungsweise die Entlastung der Kassen) suggeriert wird.
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Dass dieser ›schwere Kampf‹ mit teilweise brutalen Mitteln geführt wurde und massenhafte Verelendung und soziale Entwurzelung implizierte, hat u.a. Karl Marx in
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Seiten der Lohnarbeiter wie der Unternehmer, allerdings in je spezifischen Ausprägungen – den Grundstein für den Sieg der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Seine »volle ökonomische Wirkung« (ebd.: 149) entfaltete der auf »innerweltliche [...] Askese« (ebd.: 145) gerichtete ›Geist des Kapitalismus‹ in dem Maße, wie er aus religiösen Banden herausgelöst wurde und sich »allmählich in nüchterne Berufstugend aufzulösen begann« (ebd.: 149). Arbeit als Wert ›an sich‹, Unterordnung der alltäglichen Lebensführung unter die Forderungen der Berufsarbeit, aber auch der Glaube, dass das Konsumieren eines stetig steigenden Warenangebots das Signum für Fortschritt und individuellen Wohlstand ist – all das sind einverleibte individuelle Wertvorstellungen des ›kapitalistischen Geistes‹. Es ist dieser, zur Selbstverständlichkeit der alltäglichen Lebensführung gewordene ›Geist‹, der, wie Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts konstatiert, »heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen –, mit überwältigendem Zwang bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist« (ebd.: 153). Zwar hat sich – wie Boltanski und Chiapello (2003) in ihrer groß angelegten Untersuchung zum Neuen Geist des Kapitalismus zeigen – in den letzten 100 Jahren einiges in den konkreten Formen und Regularien der alltäglichen ›methodischen‹ Lebensführung verändert, nicht zuletzt dadurch, dass wichtige Bestandteile der Künstlerkritik5 in die Leitbilder der Unternehmenskultur von moderner (kreativer, selbstverantwortlicher) Arbeitskraft, Arbeits- und Zeitorganisation integriert wurden – am »stahlharte[n] Gehäuse« (Weber 1993: 153), in das das Erwerbsarbeitsparadigma die individuellen Lebensäußerungen zwingt, aber hat sich nichts Grundlegendes geändert. Gerade
seinem Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation im ersten Band des Kapital aufgezeigt; in jüngster Zeit hat Robert Castel (2000) in seiner Chronik der Lohnarbeit diesen Prozess historisch rekonstruiert. 5
Boltanski und Chiapello arbeiten im Anschluss an Weber heraus, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise immer auf Konstrukte aus anderen, nichtökonomischen (kulturellen) Ordnungen der Gesellschaft zurückgreifen muss (wie Freiheit, Autonomie des Einzelnen oder Gleichheit), um »gewöhnliche Menschen in konkreten Lebensumständen und insbesondere unter den Bedingungen des Arbeitslebens zur Mitwirkung zu bewegen[...]« (Boltanski/Chiapello 2003: 51). In einer spezifischen Form der ›Landnahme‹ werden auch Konstrukte aus Diskursen, die den Kapitalismus kritisieren, in den ›kapitalistischen Geist‹ integriert. So sind in die postfordistischen, neoliberalen Unternehmenskulturen Elemente der Künstlerkritik eingeflossen, die gegen entfremdete Arbeit, Massenkonsum und standardisierte Warenproduktion die Vorstellung des kreativen, authentischen, sich selbst verwirklichenden Menschen (Künstlers) setzte.
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weil die Prinzipien der Arbeitsgesellschaft (des Berufsethos) in ihrer inkorporierten, selbstverständlichen Existenzweise als praktischer Sinn kaum hinterfragt bzw. hinterfragbar sind, entfalten sie eine so mächtige, herrschaftssichernde Wirkung. Allerdings – auch das ist von Weber zu lernen – ist das Aufbrechen dieses stahlharten Gehäuses eben auch nur praktisch, durch Veränderungen der Lebensführung, die durch neuartige Konstellationen in den Bedingungen und Verhältnissen ermöglicht werden, realisierbar. Darauf werde ich am Ende dieses Beitrages noch einmal zu sprechen kommen. Aus den bis hierher entwickelten Merkmalen des Arbeitsparadigmas lässt sich zunächst einmal folgern: Dieses ist in einer bestimmten historischen Konstellation entstanden und beruht zum einen auf einer Verallgemeinerung und Wertschätzung der Arbeit und zum anderen – als Folge der kapitalistischen Wirtschaftsweise – auf einer Begrenzung dessen, was als Arbeit gesellschaftlich anerkannt wird, also auf der strukturellen Trennung von Erwerbsarbeit und Tätigkeiten der individuellen und generativen Reproduktion. Und das heißt auch: Als historisch unter bestimmten Bedingungen entstanden, ist das Arbeitsparadigma mit seinen strukturellen Trennungen und geschlechterhierarchischen Arbeitsteilungen generell veränder- bzw. aufhebbar. Für unser Problem, wie über Arbeit neu nachzudenken wäre, ergibt sich daraus zu fragen, erstens, ob sich aktuell Bedingungen, Konstellationen abzeichnen, die eine Aufhebung der bisherigen Trennungen von Erwerbs- und Reproduktionsarbeit, von sogenannten ›produktiven‹ und ›reproduktiven‹ Tätigkeiten ermöglichen, und zweitens, ob mit der Ausweitung des Arbeitsbegriffs auf bisher als ›Nicht-Arbeit‹ klassifizierte Tätigkeiten das (Erwerbs-)Arbeitsparadigma brüchig oder auf modifizierte Weise reproduziert wird. Um diese Fragen drehen sich aktuelle Diskussionen um einen erweiterten Arbeitsbegriff, auf die ich nun näher eingehen werde.
2. C ARE -Ö KONOMIE – S CHWERPUNKTE DER D ISKUSSION UM EINEN ERWEITERTEN A RBEITSBEGRIFF
AKTUELLEN
In der aktuellen Debatte um einen erweiterten Arbeitsbegriff lassen sich zwei Akzentsetzungen ausmachen. Zum einen werden vor allem von Arbeitssoziolog/inn/en Verschiebungen erfasst und analysiert, die sich seit längerem zwischen den Sektoren der Produktion, bei der Entstehung neuer Berufe bzw. den Anforderungen an die Arbeitskräfte feststellen lassen. Zum anderen werden – mit Bezug auf diese empirischen Daten – eher gesellschaftstheoretische Überle-
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gungen zu einer veränderten Wirtschaftsweise und zur Bewertung von verschiedenen Formen von Arbeit angestellt. In letzteren Debatten melden sich vor allem Sozialwissenschaftler/innen und Ökonom/inn/en zu Wort. Seit längerem bereits ist zu beobachten, dass die Zahl der in der industriellen Produktion Beschäftigten ab- und die derjenigen zunimmt, die im Dienstleistungs- oder tertiären Sektor beschäftigt sind. Expandierte der sekundäre Sektor (also der Bereich der Industrieproduktion) bis Ende der 1960er Jahre und waren bis zu diesem Zeitpunkt »hier knapp 50 % aller Erwerbstätigen beschäftigt« (Reuter/Zinn 2011: 463), so »arbeitet seit 1972 in Deutschland die Mehrheit der Erwerbstätigen in Branchen, die dem tertiären Sektor zugerechnet werden« (ebd.);6 nach einer Hochrechnung werden 2025 ca. 80 % aller Beschäftigten im tertiären Sektor tätig sein (vgl. Baethge 2011: 448). Nun weist der Dienstleistungssektor eine große Spannbreite von Berufen und Qualifikationen auf – sie reicht von unqualifizierten, relativ einfachen Tätigkeiten etwa in Gastronomie, Reinigungs- und Wachberufen am einen Pol bis zu hochqualifizierten Tätigkeiten in Lehr-, Rechts- oder Gesundheitsberufen am anderen. Dennoch lässt sich nach Martin Baethge ein gemeinsamer Kern von Arbeits- und Kompetenzprofilen ausmachen, die es erlauben, von einem »neuen Arbeitstypus« (ebd.: 450) zu sprechen. Dieser ist seiner Auffassung nach wesentlich durch »Interaktivität« gekennzeichnet. Am »stärksten ausgeprägt« ist dieser Arbeitstypus »in allen personenbezogenen sozialen und Gesundheitsdienstleistungen« (ebd.), wie auch in den Beratungs- und Kommunikationsdienstleistungen etwa von Banken und Versicherungen. Dabei geht es um eine Arbeit, die neben dem jeweiligen fachlichen Wissen oder technischen Fähigkeiten ganz entscheidend soziale Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit verlangt. Diese sind ausgerichtet darauf, mit Blick auf die spezifischen Bedürfnisse der Kund/inn/en und in Interaktion bzw. Ko-Produktion mit diesen zu einem Arbeitsergebnis zu kommen, das – idealerweise – sowohl den Wünschen und dem Willen der Kund/inn/en entspricht als auch die Qualität der Arbeit für die Beschäftigten berücksichtigt. Neben dem fachlichen Wissen sind zunehmend Fähigkeiten gefragt wie Einfühlungsvermögen, Anerkennung der Wünsche und Bedürfnisse der Kund/inn/en, Interessen-
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Es wird unterschieden zwischen primären Dienstleistungsberufen (Warenhandel und Vertrieb, Verkehrs-, Lager-, Transport-, Sicherheits- und Wachberufe, Gastronomieund Reinigungsberufe, kaufmännische und Büroberufe) und sekundären Dienstleistungsberufen (technisch-naturwissenschaftliche Berufe, Rechts-, Management- und wirtschaftswissenschaftliche Berufe, künstlerische, Medien-, geistes- und sozialwissenschaftliche Berufe, Gesundheits- und Sozialberufe sowie Lehrberufe) (vgl. Baethge 2011: 448).
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sausgleich und Konfliktbewältigung. Zwar waren und sind Rücksichtnahme auf und Solidarität mit Kolleg/inn/en auch in der industriellen Produktion Aspekte des Arbeitsprozesses, aber diese beziehen sich auf das Miteinander im Produktionsprozess. Dagegen ist für den neuen Arbeitstypus soziale Kompetenz entscheidend dafür, dass in der konkreten Interaktion zwischen Dienstleister und Klient/in/Kund/in überhaupt erst ein Produkt zustande kommt. Arbeitssoziologen wie Baethge verweisen in ihren Untersuchungen darauf, dass es unter den gegebenen Bedingungen ein »permanentes Spannungsverhältnis« gibt zwischen diesen »(arbeits-)prozessualen Aspekten der Interaktivität« (ebd.: 451) einerseits und den »systemischen Merkmalen und ihrer institutionellen Formbestimmtheit« andererseits. Damit ist gemeint, dass die gewünschte Interaktivität und KoProduktion in konkreten Abläufen im Widerspruchsverhältnis steht/stehen kann etwa zu Rationalitäts- und Effektivitätskriterien kapitalistischen Wirtschaftens. Diese können z.B. die Qualität von Pflegedienstleistungen durch Standardisierungen und Zeitdruck beeinträchtigen oder die Dienstleister zwingen, den Interessen des Unternehmens Priorität gegenüber den Bedürfnissen der Kund/inn/en einzuräumen (etwa bei der Beratung von Geldanlagen). In der Regel verbinden Arbeitssoziologen solche Einsichten allerdings nicht mit gesellschaftstheoretischen Überlegungen zu einer Transformation der Wirtschaftsweise. Da gehen Sozialwissenschaftler/innen bzw. Ökonom/inn/en einen Schritt weiter, die ihre Kritik an gegenwärtig starken Tendenzen, auch öffentliche und soziale Dienstleistungen nach Prinzipien der Konkurrenz, betriebswirtschaftlicher Rationalität und Renditenerzielung zu organisieren, verbinden mit Überlegungen zu einer Care-Ökonomie, die diesen Prinzipien nicht unterworfen ist. Sie machen sich stark für einen erweiterten Arbeitsbegriff, der konzeptionell mehr oder weniger explizit Bezug auf feministische Debatten und Kritiken am hegemonialen Arbeitsbegriff nimmt. Für die Frauenbewegung, die seit den 1970er Jahren entstand, und für den sich in ihrem Kontext entwickelnden wissenschaftlichen Feminismus gilt, dass sie bestehende Geschlechterungleichheiten als Verletzung des für moderne Gesellschaften charakteristischen Gleichheitsprinzips kritisierten und dies mit der Erforschung der Ursachen für dieses Phänomen verbanden. Sie machten als eine wesentliche Ursache die strukturelle Trennung von Öffentlichkeit/Erwerbssphäre und Privatheit/familiärer Haushalt aus, die mit der kapitalistischen, profitorientierten Wirtschaftsweise einhergeht. Sie zeigten auf, dass aus dieser strukturellen Trennung eine Aufspaltung zwischen sogenannten produktiven Tätigkeiten als (Erwerbs-)Arbeit und sogenannten reproduktiven Tätigkeiten der Vor-, Für- und Selbstsorge, der individuellen und generativen Reproduktion resultiert, mit der Folge einer unterschiedlichen, hierarchischen Bewertung und Anerkennung die-
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ser Tätigkeiten und einer normativen Zuweisung der Geschlechter zu einer dieser Sphären. Unter anderem Regina Becker-Schmidt hat in ihren Arbeiten aufgezeigt (vgl. ihren Beitrag in diesem Band), welche weitreichenden Folgen das für das Geschlechterverhältnis und für die komplexe benachteiligte Position von Frauen hatte und bis heute hat. In diesen frühen feministischen Debatten wurde Kritik daran geübt, dass unter ›Arbeit‹ einzig Erwerbsarbeit gefasst und anerkannt wird und dass die in die Privatsphäre verdrängten und als ›weiblich‹ konnotierten Hausarbeiten und reproduktiven Tätigkeiten für die individuelle wie die gesellschaftliche Existenz genauso wichtig sind wie die Produktion materieller und ideeller Güter. Eine Forderung war daher, Hausarbeit die gleiche gesellschaftliche Anerkennung zuteilwerden zu lassen wie der Erwerbsarbeit und sie gerecht zwischen Männern und Frauen zu verteilen. An diese Forderung wird in den gegenwärtigen Debatten um eine Care-Ökonomie angeknüpft. Ausgehend vom Anwachsen der – insbesondere personenbezogenen – Dienstleistungen sowie von ökonomischen Berechnungen, die ausweisen, dass die unbezahlte Arbeit im Haushalt sowie im Ehrenamt ein quantitativ größeres Volumen hat als die Erwerbsarbeit (vgl. Madörin 2007: 144), wird die Zukunft in einer Wohlfahrts- oder Reproduktionsökonomie gesehen, in deren Zentrum die »Ökonomie des Alltagslebens« (Madörin 2011: 1) und »eine bedürfnisorientierte, solidarische Care-Ökonomie« (Candeias 2011: 96) stehen. Konzeptionell liegt dem zugrunde, den Begriff der Arbeit zu erweitern, also damit nicht nur wie bisher bezahlte Erwerbsarbeit zu fassen, sondern auch die Tätigkeiten, die in den feministischen Debatten auch als ›Arbeit aus Liebe‹ bezeichnet wurden und vor allem Tätigkeiten meinen, die auf unmittelbare Existenzsicherung und auf die Gestaltung sozialer Beziehungen, auf ein fürsorgliches, emphatisches, solidarisches, ökologisch sensibles Miteinander zielen. Mit diesem erweiterten Arbeitsbegriff sollen nicht nur bisher ins PrivatUnsichtbare abgedrängte Tätigkeiten gesellschaftliche Anerkennung erfahren, sondern auch die bisherige Trennung zwischen Öffentlich und Privat, Erwerbsund Hausarbeit unterlaufen werden. Nicht ob sie in einer dieser beiden Sphären oder ob sie bezahlt oder unbezahlt verrichtet werden, soll der Maßstab ihrer Bewertung und Anerkennung sein, sondern dass sie primär der Wohlfahrt aller und der Einzelnen dienen. Die Care-Ökonomie wird als zukunftsträchtiger Sektor gesehen, der mit den primären Anforderungen an soziale Kompetenzen insbesondere Frauen den Zugang zu einer bezahlten, anerkannten Arbeit eröffnet. Etliche der Verfechter/innen dieses Konzepts wollen mit einer so verstandenen CareÖkonomie auch einen Gegenentwurf zu den aktuellen, neoliberalen Tendenzen liefern, die darauf hinauslaufen, auch und gerade den wachsenden Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen den Kriterien kapitalistischer Verwertungs-
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und Effizienzlogik zu unterwerfen, also das Soziale zu ökonomisieren (exemplarisch: Winker 2011). Allerdings weist dieser Gegenentwurf eines erweiterten Arbeitsbegriffs und einer daran orientierten Wohlfahrtsökonomie (noch) beträchtliche konzeptionelle Schwächen auf. 1. Es bleibt unklar, worauf im Übrigen auch Protagonist/inn/en der CareÖkonomie wie Mascha Madörin hinweisen, was genau zu den Care-Tätigkeiten zu zählen ist und wer die Adressaten von Care-Arbeit sind. Unklar ist, ob mit Care-Ökonomie eine Form des Wirtschaftens gemeint ist, die primär auf die Wohlfahrt aller zielt, oder ob damit lediglich ein bestimmter Wirtschaftsbereich gemeint ist, in dem die Bedürfnisse (zeitweilig) Abhängiger (wie Kinder oder Pflegebedürftige) und eine emotional und körperlich intensive Beziehung zwischen Betreuten und Betreuer/inne/n im Zentrum stehen. Damit bleibt ungeklärt, ob die Care-Ökonomie sich lediglich den Bedürfnissen einer bestimmten Klientel zuwendet oder ob damit ein grundlegender Paradigmenwechsel des Wirtschaftens gemeint ist. 2. Zu wenig wird in den Debatten auf die Frage eingegangen, wo denn im Gegebenen der heutigen Wirtschaftsweise die Brüche bzw. Potenzialitäten für eine solche Umgestaltung der Ökonomie liegen (könnten). Es fehlen, anders gesagt, Analysen einer möglichen Transformation kapitalistischen Wirtschaftens.7 3. Beiden eingangs skizzierten Diskurssträngen ist gemeinsam, dass sie am (Erwerbs-)Arbeitsparadigma festhalten. Zwar kritisieren Arbeitssoziolog/inn/en, dass der Dienstleistungssektor zu einem »Experimentierfeld für die Einführung geringer Löhne und die Ausweitung neuer, oft prekärer Beschäftigungsformen« (Bosch/Weinkopf 2011: 439) geworden ist und das Entgelt, das insbesondere Frauen in den meisten Beschäftigungen im Dienstleistungssektor erhalten, für eine selbstständige Existenzsicherung nicht ausreicht. Aber sie sehen den tertiären Sektor als Wachstumsbereich an, in dem künftig immer mehr Menschen erwerbstätig sein werden, und stellen nicht in Frage, dass auch in Zukunft Erwerbstätigkeit den zentralen Bereich der Lebensführung bilden wird. Und die
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Exemplarisch kann hierfür der Ansatz von Gabriele Winker (2011) stehen. Nach einer ausführlichen Darstellung der Krise, in die im Postfordismus die ›soziale Reproduktion‹ (gemeint ist der komplexe Zusammenhang von Zeit und Ressourcen für die Selbstsorge und Sorge um andere, von Arbeits- und Lebensweise, Sozial- und insbesondere Familienpolitik) geraten ist, schließt sie unvermittelt auf die Notwendigkeit einer ›Care-Revolution‹, einer anderen Form des Wirtschaftens – erstens ohne analytisch aufzuzeigen, wo im Gegebenen Ansatzpunkte dafür sein könnten, dass eine solche Revolution zum Anliegen Vieler wird/werden kann, und zweitens ohne konzeptionell das Arbeitsparadigma zu hinterfragen.
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Anhänger/innen der Care-Ökonomie wollen zwar den Arbeitsbegriff um Tätigkeiten erweitern, die bisher wenig soziale Anerkennung fanden, aber indem sie mit dieser Erweiterung tendenziell alle Tätigkeiten zu Arbeit machen (man denke an ›Beziehungs-‹, ›Gefühls-‹, ›Körperarbeit‹ und so weiter) und so aufwerten wollen, schreiben sie auch die Dominanz des Ökonomischen und damit der (Erwerbs-)Arbeit als herrschendem Vergesellschaftungsmodus fort. Beiden entgehen dadurch Entwicklungen, in denen sich möglicherweise Transformationen hin zu einem anderen Modus abzeichnen. Ich möchte daher im letzten Teil meines Beitrages auf Konzepte zu sprechen kommen, die für eine Beschränkung des Arbeitsbegriffs und für eine stärkere konzeptionelle und analytische Fokussierung auf ›Nicht-Arbeit‹ plädieren. Dabei sollen auch die Überlegungen Webers zur Lebensführung wieder aufgegriffen werden.
3. P LÄDOYER
FÜR
›N ICHT -A RBEIT ‹
In letzter Zeit finden sich im sozial- und politikwissenschaftlichen Diskurs (wieder8) Stimmen, die nicht für einen erweiterten Arbeitsbegriff plädieren, sondern im Gegenteil dafür, diesen Terminus auf Erwerbsarbeit zu begrenzen (vgl. Hirsch 2010; Dölling 2010; 2011). Sie fokussieren auf einen »Kampf um eine neue Hegemonie jenseits der Hegemonie der Erwerbsarbeit« (Hirsch 2010: 72). Zugrunde liegt diesen Konzepten die Annahme, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise mit ihrer Rationalitätslogik und ihrer Profitorientierung nicht durch einen radikalen, revolutionären Akt beseitigt werden kann. Vielmehr ist von einer langfristigen Transformation auszugehen, in der Potenziale zu einem veränderten Vergesellschaftungs- und Integrationsmodus, die in den Widersprüchen moderner Gesellschaften stecken, als Ergebnis von symbolischen und politischen Kämpfen gestärkt und hegemonial werden können (nicht zwangsläufig müssen!). In diesen Auseinandersetzungen geht es um »die Erschließung von freien Potentialen und freier Zeit für nicht-ökonomische Arbeit [sic] und Fähigkeiten« (ebd.). Auch in diesen Konzepten wird mehr oder weniger explizit auf feministische Argumente Bezug genommen. Mit den Vertreter/inne/n der Care-Ökonomie teilen ihre Protagonist/inn/en die Auffassung, dass die sogenannten ›reproduktiven‹ Tätigkeiten eine andere gesellschaftliche Anerkennung finden müssen als in der
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Solche Diskussionen hat es in der Soziologie immer mal wieder gegeben; ich gehe auf sie hier nicht ein, sondern beziehe mich auf aktuelle Debatten, die Bezug nehmen auf Veränderungen, die moderne Gesellschaften in ihrer postfordistischen Phase kennzeichnen.
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bisherigen Geschichte moderner kapitalistisch-bürgerlicher Gesellschaften. Zugleich bringen die Kritiker/innen des Arbeitsparadigmas ein anderes Moment ins Spiel, das – zumindest in den Anfängen und in einigen Gruppierungen innerhalb des Feminismus – neben den bereits genannten Argumenten auch eine Rolle spielte. Hier wurde die Erforschung der Ursachen für die strukturelle Trennung von Erwerbs- und Hausarbeit mit einer expliziten Kapitalismuskritik verbunden. Den Entfremdungen in der Lohnarbeit, also der Entfremdung des Arbeiters vom Produkt und den Zielen der Produktion sowie von sich selbst, wurden die nicht beziehungsweise weniger entfremdeten Tätigkeiten und Zeitstrukturen entgegengesetzt, die – verbannt in die private Sphäre und gesellschaftlich abgewertet – Potenziale enthalten, die auf ein empathisches, solidarisches, ökologisch sensibles Miteinander und auf gute Bedingungen für ein würdevolles Leben aller zielen (›Arbeit aus Liebe‹ wurde dies damals genannt und die menschliche, soziale Qualität der Tätigkeiten betont, die etwa in der verantwortlichen Fürsorge der Mütter für das Gedeihen ihrer Kinder oder in den alltäglich wiederkehrenden Verrichtungen für das individuelle Wohlergehen steckt). Deshalb, so die Folgerung, sollten diese Tätigkeiten auch nicht der Logik kapitalistischen, also profitorientierten Wirtschaftens unterworfen beziehungsweise ihr (wieder) entzogen werden.9 Daran wird im aktuellen ›arbeitskritischen‹ Ansatz angeknüpft. Der analytische Fokus sollte darauf gerichtet sein, wo und wie die Logik, die Herrschaft kapitalistischer Ökonomie nicht ausgedehnt, sondern eingeschränkt werden kann. Auf ›Nicht-Arbeit‹10 sollte daher der Blick geworfen werden, also auf Tätigkeiten, die bisher noch nicht oder weniger stark als die Erwerbssphäre der
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Das klang an in der sogenannten ›Hausarbeitsdebatte‹ (Della Costa und andere) und wurde weitergeführt in den Überlegungen von Claudia Werlhof und Maria Mies zur Subsistenzproduktion. Aus der Subsistenzperspektive ist »das Ziel: Leben« (Mies/Werlhof/Bennholdt-Thomsen 1983), und sie steht im Gegensatz zur Warenproduktion mit deren Tendenz, »alles autonome Leben in Waren zu verwandeln« (Mies 2001: 181).
10 Für ›Nicht-Arbeit‹, also für Tätigkeiten, die im weitesten Sinne auf die Für- und Selbstsorge, auf die Befriedigung von Bedürfnissen des sozialen Miteinander und auf das Erfahren wechselseitiger Angewiesenheit sowie auf die Gestaltung entsprechender Lebensbedingungen gerichtet sind, gibt es bislang keinen ›guten‹ Begriff. Häufig wird von Tätigkeiten in Abgrenzung von Erwerbsarbeit gesprochen oder von ›Eigenarbeit‹ (Nebelung) beziehungsweise von »nicht-ökonomischen Formen von Arbeit« (Hirsch 2010: 71). Diese Begriffsschwäche kann als Anzeichen dafür gelesen werden, wie sehr der soziologische Diskurs noch von den Denkmustern der industriegesellschaftlichen Moderne geprägt ist.
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ökonomischen Logik unterworfen sind und in denen Menschen (wieder) mehr Souveränität über das eigene Leben und die Fähigkeit zu einer Gestaltung ihrer Lebensbedingungen entwickeln können, die an ihren individuellen Bedürfnissen und kollektiven Interessen orientiert ist. Nun kann man gegen solche Konzepte einwenden, dass sie utopisch wären – zum einen ist für die große Mehrheit der Individuen Erwerbstätigkeit immer noch und sogar verstärkt zentral für Existenzsicherung, soziale Position und Identität. Und zum anderen scheint es kaum objektive Bedingungen für einen solchen Paradigmenwechsel zu geben. Es sind aber auch – gegenläufig dazu – Veränderungen und Verschiebungen zu beobachten, die auf ein Erodieren des Arbeitsparadigmas hinweisen. Um einige zu benennen: Erwerbsarbeit wird zunehmend und in einem umfassenden Sinne prekär: Als (kurzzeitig) befristete und/oder niedrig entlohnte Beschäftigung, als Teilzeit- oder Leiharbeit kann sie für immer mehr Menschen immer weniger die an sie geknüpften Erwartungen einer auskömmlichen Bezahlung, einer langfristigen Planung und Absicherung des individuellen und des familiären Lebens, einer ausreichenden Rente und einer bezahlbaren medizinischen Versorgung erfüllen. Die Flexibilisierung von Arbeitszeiten, Forderungen nach Mobilität und möglichst ständiger Verfügbarkeit führen zu Übergriffen der Ökonomie auf individuelle Zeit und private Räume, die auf zugespitzte Weise, beschrieben als ›Ökonomisierung des Sozialen‹, Autonomie und souveräne Zeitverfügung in der alltäglichen Lebensführung behindern und sie – als erfahrener Mangel – zu einem umkämpften Gut werden lassen.11 Mit der neuartigen ›geschlechtsneutralen Anrufung‹ der Subjekte als Erwerbstätige,12 die alle notwendigen Tätigkeiten zur individuellen und generativen Reproduktion individualisiert, eigenverantwortlich und im ›Betriebsinteres-
11 Gewerkschaftliche Forderungen nach einer Begrenzung der Übergriffe der Wirtschaft auf die individuelle Zeit oder auch die Regelung bei VW, dass Mitarbeiter/innen am Feierabend nicht mehr per Handy behelligt werden dürfen, zeigen solche praktisch vorhandenen Bedürfnisse an. 12 Menschen werden von gesellschaftlichen Institutionen, vom Staat, auf dem Arbeitsmarkt, im Recht usw. immer in einer bestimmten Form ›angerufen‹. In der fordistischen Phase der Moderne geschah das explizit durch ihre Anrufung als Männer oder Frauen (Ernährer, Hausfrau zum Beispiel). Im Postfordismus ändert sich die Form der Anrufung – dominant werden die Menschen jetzt geschlechtsneutral angesprochen (ohne dass sich geschlechtliche Arbeitsteilungen tatsächlich verändert hätten). So sollen alle – unabhängig von sonstigen Verpflichtungen – erwerbstätig sein, die bisherige Anrufung von Frauen als Hausfrauen beziehungsweise Mütter ›veraltet‹ hingegen.
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se‹ möglichst reibungslos regeln, gewinnt – da bislang gängige geschlechtliche Arbeitsteilungen nicht mehr so selbstverständlich funktionieren – für viele die Frage an Brisanz, wie Bedürfnisse nach guten familiären und sozialen Beziehungen, nach Zeit für sich und andere befriedigt werden können und welchen Stellenwert generell Tätigkeiten der Für- und Selbstsorge in der Gesellschaft haben sollen. Langzeitarbeitslose bzw. gänzlich aus dem Erwerbsleben Entlassene sind nicht einfach eine undifferenzierte Masse resignierter, passiver, sozial abgehängter ›Überflüssiger‹, wie sie gerne, und nicht nur vom Boulevard, klassifiziert werden. Viele suchen in individuellen Arrangements nach neuen Formen eines für sie sinn- und würdevollen Lebens ›jenseits der Arbeit‹ (vgl. Völker 2008b; 2009) oder engagieren sich in Projekten der »Eigenarbeit«, wie Christine Nebelung »Konzepte neuer [sic; vgl. Fußnote 9] Arbeit« (Nebelung 2009: 266) nennt, in denen Akteur/inn/e/n selbsttätig, »orientiert an eigenen Bedürfnissen, Fähigkeiten, Interessen und Möglichkeiten« (ebd.), Dinge tun, die – von der Nachbarschaftshilfe bis zur ehrenamtlichen kommunalen Selbstverwaltung – in ihrer lokalen Umgebung als wichtig anerkannt werden. Anknüpfend an Regina BeckerSchmidt kann auch formuliert werden: Die ›verwahrloste Fürsorge‹ (vgl. Becker-Schmidt 2011), die sie als Resultat der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik konstatiert, wird von vielen – sozial und qua Geschlecht bzw. Ethnie durchaus differenziert – als Zerrissenheit zwischen Anforderungen und Bedürfnissen, als unvereinbarer Widerspruch in der alltäglichen Lebensführung erfahren. Die Kehrseite wachsender Anforderungen an die Kreativität, die Selbstregulierung und Autonomie der Arbeitskräfte zeigt sich vielen in steigendem Maße als frühzeitiges Verschleißen der Kräfte, als enorme psychische Belastung und nicht zuletzt als Hemmnis für Familiengründung und glückende familiäre Beziehungen. Diese Entwicklungen, ihre Wirkungen für die individuelle Lebensführung, nicht zuletzt die Tatsache, dass die kapitalistische Ökonomie die Tendenz zur ›Landnahme‹ hat (vgl. Dörre 2009; Boltanski/Chiapello 2003), das heißt zur Ausdehnung ihrer Logik auf andere Teilbereiche der Gesellschaft, stehen im Mittelpunkt des ›arbeitskritischen‹ Ansatzes. Seine Anhänger/innen plädieren dafür, konzeptionell und empirisch die Möglichkeiten für einen Paradigmenwechsel auszuloten. Diese Möglichkeiten, die auf eine Vorrangstellung der ›Nicht-Arbeit‹ gegenüber der Erwerbsarbeit hinausliefen, sind vor allem – um an die im ersten Teil gemachten Hinweise Max Webers anzuschließen – im Bereich der praktischen Lebensführung zu suchen. In den skizzierten gegenläufigen Entwicklungen zum Erwerbsarbeitsparadigma zeigen sich Konfliktpotenziale in der Lebensführung verschiedener Akteursgruppen, die auf ein Brüchig-Werden des Arbeitsparadigmas deuten und einen Nährboden für einen Vergesellschaftungsmodus jenseits der Erwerbsarbeit bilden (können). Ein neuartiger Verge-
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sellschaftungs- und Integrationsmodus stellt sich allerdings nicht automatisch, ›gesetzmäßig‹, auf Grund objektiver Konstellationen her; er ist immer das Ergebnis von sozialen und politischen Auseinandersetzungen, Kämpfen und Kräfteverhältnissen, in denen entschieden wird, ob Menschen die sich abzeichnenden neuen Möglichkeiten des Zusammenlebens als für sich sinnvoll, erstrebenswert usw. ansehen und sich entsprechend praktisch engagieren. Dazu bedarf es eines öffentlichen, auch wissenschaftlichen Diskurses, der Konflikte und Erfahrungen nicht als individuell-singuläre und marginale behandelt, sondern ihnen eine andere, kollektiv geteilte und anerkannte, potenziell gesellschaftsverändernde Dimension gibt. Und dazu bedarf es der Benennung objektiver Bedingungen dafür (und ihrer politischen Durchsetzung), dass Menschen es für sich als sinnvoll ansehen, sich von den Wirkungen des Erwerbsarbeitsparadigmas praktisch zu lösen: Arbeitszeitverkürzungen, ein (bedingungsloses) Grundeinkommen, allgemein zugängliche Bildungsangebote sind zum Beispiel elementare Voraussetzungen dafür, dass Menschen in Formen direkter Demokratie, durch Engagement in lokalen Projekten und durch Einflussnahme auf ihre unmittelbaren Lebensbedingungen Formen der Lebensführung erproben und Tätigkeiten neu bewerten, die weniger oder gar nicht mehr von den Zwängen kapitalistischer Lohnarbeit bestimmt sind. Zugegeben: Angesichts heutiger globaler Entwicklungen mit ihren Machtverhältnissen und ihren konkreten, oftmals individuelle Angstund Ohnmachtsgefühle erzeugenden Auswirkungen auf das Alltagsleben scheinen solche Überlegungen weit hergeholt und wenig realisierbar. Aber den hegemonialen, scheinbar selbstverständlichen Denkrahmen zu überschreiten, wenn es um die Zukunft der Arbeit bzw. Arbeitsgesellschaft geht, bietet auch die Chance, aus einer anderen Perspektive auf heute zu gestaltende Bedingungen und Prozesse zu blicken und dabei möglicherweise Akzente zu setzen, die über den Status quo hinausweisen.
L ITERATUR Baethge, Martin (2011): »Qualifikation, Kompetenzentwicklung und Professionalisierung im Dienstleistungssektor«, in: WSI-Mitteilungen 64, Heft 9, S. 447–455. Becker-Schmidt, Regina (2011): »›Verwahrloste Fürsorge‹ – ein Krisenherd gesellschaftlicher Reproduktion«, in: Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 3, Heft 3, S. 9–23. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK.
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Geschlechts- und klassenspezifische Benachteiligungsstrukturen in den Arbeitsverhältnissen von Frauen R EGINA B ECKER -S CHMIDT
1. »K LASSE «
UND »G ESCHLECHT « IN AKTUELLEN GESELLSCHAFTLICHEN T RANSFORMATIONSPROZESSEN
Ungleichheitsforschung ist gegenwärtig mit einem alarmierenden gesellschaftlichen Missverhältnis konfrontiert. In den Händen weniger konzentrieren sich Unternehmensgewinne und politisch-ökonomische Machtmittel. In einer kleinen Gruppe von Spitzenverdienern und Vermögenden zieht sich der Großteil des gesellschaftlichen Reichtums zusammen. Nur ein Drittel der bundesrepublikanischen Bevölkerung verfügt über ein gesichertes Einkommen. Etwas über dreißig Prozent der Population versucht, den Unwägbarkeiten des Arbeitsmarkts durch einen Wechsel von der Lohnarbeit in selbstständige Mini-Unternehmungen, durch Zusatzausbildung, Umschulung, durch die Akzeptanz von Qualifikationseinbußen und Verdienstminderungen bei der Stellensuche zu begegnen, ohne dass sich dadurch jedoch eine verlässliche Planungsperspektive für die Zukunft herstellen ließe. Der Rest ist durch ein strukturell bedingtes Wegbrechen von Arbeitsplätzen akut gefährdet oder bereits dauerhaft erwerbsarbeitslos (vgl. Dörre 2007: 290f.). Für jene, die nicht auf längere Sicht mit einem Einkommen rechnen können, das für eine selbstständige Existenzsicherung ausreicht, hat sich die Bezeichnung »Prekariat« eingebürgert; für die Gefahr, dort zu landen, der Begriff »Prekarisierung«. Nach wie vor wird über die politisch-ökonomische Distribution von »Arbeit« Herrschaft ausgeübt – die ungleiche Verteilung von Muße und beruflichem Stress, von bezahlten und unbezahlten, von gut und
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schlecht entlohnten Tätigkeiten, von Berufsmöglichkeiten mit und ohne Aufstiegschancen, von sozial anerkannten Beschäftigungen und solchen ohne soziales Ansehen markiert gesellschaftliche Hierarchisierung. Rezente Konjunkturen im Beschäftigungssystem gehen mit Verschiebungen von Ungleichheitslagen einher. Demarkationslinien zwischen Oben und Unten, Mitte und Rand der Gesellschaft scheinen zu verschwimmen. Das erschwert es, heute noch ohne Reflexion auf strukturelle Veränderungen von »Klassen« zu sprechen. Angesichts des Drucks weltweiten Wettbewerbs und feindlicher betrieblicher Übernahmen im transnationalen Maßstab ist die Gruppe der untereinander konkurrierenden Unternehmer in sich stärker fraktioniert als früher. Auch die Klasse der Lohnabhängigen hat sich in ihrer sozialen Zusammensetzung aufgefächert. Mit der Ausweitung des Dienstleistungssektors, der in seiner Ausdehnung der Produktionssphäre den Rang abgelaufen hat, gliedert sich die Bevölkerung vielgestaltiger als es ein Zwei-Klassen-Modell vorgibt, das sich an dem antagonistischen Verhältnis zwischen Industriearbeiter/innen und Kapitalvertretungen orientiert. Aber trotz der Differenzierungen, die wir zu beachten haben, ist der Klassenbegriff nicht einfach ad acta zu legen. Auch im Hier und Jetzt hebt sich ein Block von politischen Führungskräften, kulturellen Gatekeepern und ökonomischen Shareholdern in ihren Möglichkeiten, auf gesellschaftliche Entwicklungen nach eigenen Vorstellungen und Interessen Einfluss zu nehmen, deutlich vom Rest der Bevölkerung ab, deren Entscheidungsspielräume entschieden enger gesteckt sind. Im Produktions- wie im Dienstleistungssektor sind Erwerbstätige mit unternehmerischen Zielsetzungen konfrontiert, an denen sie wenig ändern können. Einer kleinen Zahl von Funktionseliten, die politisch und ökonomisch weitreichende Beschlüsse fassen können, steht eine Mehrheit abhängig Beschäftigter gegenüber, die keine derartigen Machtbefugnisse haben. Die Relation zwischen der Zahl von Unternehmern, die über Gewinne sowie über Einstellungen und Entlassungen in Betrieben befinden können, und den Massen auf dem Arbeitsmarkt, deren Möglichkeiten der Gegenwehr begrenzt sind, ist unverhältnismäßig. Das rechtfertigt es meines Erachtens, weiterhin von einer Klasse der Verfügenden und einer Klasse abhängig Beschäftigter zu sprechen (vgl. Becker-Schmidt 2007a: 69f.). Auch in der Frage, ob wir es noch mit sozialen Ungleichheitslagen im Geschlechterverhältnis zu tun haben, herrscht unter dem Eindruck widersprüchlicher Entwicklungen Unsicherheit: Es gibt Frauen, die Karriere machen, und andere, die verarmen. Die Zahl der Männer nimmt zu, die – wie viele weibliche Beschäftigte – berufliche Abstiege zu verkraften haben; gleichzeitig ist in Berufsbereichen des mittleren und gehobenen Dienstes die Zahl von männlichen Angestellten groß, die an Frauen vorbei nach oben gelangen. Auch an den unte-
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A RBEITSVERHÄLTNISSEN
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ren Rändern der Erwerbssphäre, in den Niedriglohnbereichen, verändert sich die Relation zwischen Frauen und Männern. Sind dort bislang noch Frauen überrepräsentiert, so beginnen jetzt Männer, die von Arbeitslosigkeit bedroht sind, in diese Arbeitsmarktsegmente nachzurücken. Männliche Beschäftigte steigen ab, während weibliche durch sie verdrängt werden (vgl. Dörre 2007: 294ff.). Es ist nicht zu bestreiten, dass heutzutage Frauen und Männer von sozialer Unsicherheit bedroht sind. Aber ein Blick auf Sozialstrukturanalysen belegt, dass Frauen gegenüber Männern gesellschaftlich immer noch benachteiligt sind. Sie verdienen im Durchschnitt weniger, sind im Alter in geringerem Maße durch Sozialleistungen abgesichert, befinden sich im Durchschnitt häufiger in ungesicherten Arbeitsverhältnissen und tragen die größere Last in der Bewältigung des Alltags. Auch wenn sie Karriere machen, stoßen sie eher an Grenzen des Aufstieges als ihre Kollegen (vgl. Becker-Schmidt 2008: 38ff.). Zu hören ist allerdings ebenso das Argument, dass heutzutage die sozialen Unterschiede zwischen Frauen oft größer seien als die zwischen Frauen und Männern. Angesichts wachsender Bemühungen um Gleichstellung in Institutionen und Organisationen scheint die Kategorie »Geschlecht« ihre gesellschaftsstrukturierende Relevanz zu verlieren (vgl. Wilz 2007: 114ff.; Heintz 2006: 213ff.). Dem ist entgegenzuhalten, dass diese Aussage nicht überzeugt, sobald die sozialen Chancen von Frauen und Männern miteinander verglichen werden, die aus einem vergleichbaren gesellschaftlichen (Klassen-)Milieu kommen. Dann tritt nämlich ein zentraler Unterschied in der sozialen Stellung der Geschlechter zutage: Frauen werden anders als Männer nicht nur aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit, sondern gleichzeitig immer noch wegen ihres Geschlechts mit erheblichen gesellschaftlichen Beeinträchtigungen konfrontiert. Gegen sie gerichtete gesellschaftliche Diskriminierungen nehmen mit abnehmendem sozialem Status zu. Ebenso wenig ist jedoch zu übersehen, dass sich männliche Privilegienstrukturen auch in sozialen Schichten bemerkbar machen, in denen sich Frauen beruflich qualifizieren und aufsteigen konnten. In der Mehrzahl der Familien übernehmen Frauen mehr Versorgungsarbeit als ihre Partner; im Beschäftigungssystem ist in der Regel die Konkurrenz von Mitarbeitern gegenüber Kolleginnen deutlicher zu spüren als umgekehrt; in den politisch-ökonomischen Machtsphären haben weibliche Stimmen – von Ausnahmen abgesehen – weniger Gewicht als männliche. Darüber hinaus gibt es ein geschlechtliches Gefälle in den gesellschaftlichen Leistungsanforderungen. Das wird sichtbar, wenn wir statt einzelner Tätigkeitsfelder oder einzelner institutionalisierter Zusammenhänge, in denen geschlechtliche Arbeitsteilung oder Segmentierung zu beobachten sind, das gesamte Arbeitsensemble von Frauen (Hausarbeit, care work, Erwerbstätigkeit, gemeinnützige Arbeit) ins Auge fassen. In seiner Aufspaltung in private und marktvermittelte Praxen, vor
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allem in seiner Kombination von bezahlten und unbezahlten Tätigkeiten, ist es anders zusammengesetzt als das von Männern (vgl. Becker-Schmidt 2002: 41; 2007b: 264). So absolvieren Frauen durchschnittlich im Vergleich zu Männern nicht nur täglich ein größeres Arbeitspensum. Zwei Drittel ihrer gesamten Arbeitszeit ist überdies mit unbezahlten sozialen Tätigkeiten (im Haushalt, in der Elternschaft, im Ehrenamt) ausgefüllt (vgl. Stiegler 2007: 1). Diese Disparitäten fordern dazu heraus, in einer geschichtlichen Perspektive zu untersuchen, welche gesellschaftlichen Mechanismen geschlechtliche Ungleichheitslagen hervorgebracht haben und weiter hervorbringen.
2. M ACHT UND G ESCHLECHT : S OZIALHISTORISCHE Z USAMMENHÄNGE ZWISCHEN L OGIKEN DER S TEREOTYPISIERUNG , DER S TATUSZUWEISUNG UND DER A RBEITS ( VER ) TEILUNG Im Phänomen »Frauendiskriminierung« lassen sich zwei Herrschaftslogiken ausmachen, die zwar seit der Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ineinander verstrickt sind, aber doch ihre je eigene Geschichte haben. Frauenunterdrückung durch männliche Herrschaft gibt es schon vor der kapitalistischen Vernutzung von Frauenarbeit. Ich werde darum zunächst die Dimensionen androzentrischer Logiken herausarbeiten, die von der neuen Ökonomie im Rahmen ihrer Verwertungsinteressen absorbiert wurden. Solche Logiken lassen sich besonders gut daran erkennen, welche Praxisfelder in patriarchalischer Weise Frauen bzw. Männern zugeschrieben werden und welche Formen geschlechtlicher Arbeitsteilung in ihnen verankert sind. Vorstellungen von frauen- bzw. männerspezifischen Befähigungspotentialen, in denen sich im öffentlichen Bewusstsein vor allem Maskulinitätskonzepte Bahn gebrochen haben, sind verbunden mit Vorurteilen darüber, wie soziale Tätigkeitsbereiche entlang der Trennlinie »Geschlecht« aufzuteilen seien. So befestigen hierarchische Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit eine Sozialordnung, in der gesellschaftlich anerkannte politisch-ökonomische Aktivitäten Männern vorbehalten bleiben und die weniger geschätzte Familienarbeit Frauen überantwortet wird (vgl. BeckerSchmidt 1987: 10ff.; Knapp 1990: 24ff.; Gerhard 1990a: 188ff.). Im Übergang von vorindustriellen zu industriellen Produktions- und Wirtschaftsweisen entpuppt sich eine solche Entgegensetzung als wirklichkeitsfremd. Vor allem am ständig ansteigenden Anteil von Frauen an der Erwerbsbevölkerung wird deutlich, dass die vorrangige Verortung eines als weiblich postulierten Arbeitsvermögens im Privaten der Realität nicht entspricht. So müssen Weiblichkeitskon-
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struktionen, um glaubwürdig zu bleiben, umgeschrieben werden. Das geschieht vor allem durch einen Austausch von obsolet gewordenen Etikettierungen durch neue Klischees, die weniger leicht durchschaubar sind. Dabei bleiben zwei Grundprinzipien geschlechtlicher Ungleichsetzung bestehen: zum einen die Polarisierung der Geschlechter (vgl. Knapp 1995: 167ff.); zum anderen – exemplarisch abzulesen an Professionalisierungsprozessen – die Erfindung immer neuer Geschlechtskonstruktionen, die davon überzeugen sollen, dass die Arbeit von Männern höher einzustufen sind als die von Frauen (vgl. Gildemeister/Wetterer 1992: 223). In den industriell-kapitalistischen Denkformen, denen zufolge marktvermittelte Arbeit als produktiv gilt, die in der Familie organisierte oder als hausarbeitsnah taxierte dagegen als nur reproduktiv, leben solche ideologischen Verknüpfungen von Arbeit und Geschlecht fort. Sie halten die disparitäre Arbeitsteilung in privaten Lebenswelten und die Ungleichbehandlung von Frauen im Beschäftigungssystem aufrecht. Zu den männerbündischen Strategien, Privilegienstrukturen aus patriarchalischen Zeiten aufrechtzuerhalten, tritt im Kapitalismus das Interesse an der Perpetuierung des Modells vom Mann, der das Geld für das Familienbudget verdient, und der Frau, welche durch unbezahlte Hausarbeit die Angehörigen versorgt. Die Unternehmer profitieren von diesem Leitbild zum einen, weil sie für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft nicht aufzukommen brauchen, zum anderen, weil sie – mit dem Argument, Frauen seien aufgrund ihrer Familienbindung im Betrieb weniger verfügbar – deren Arbeitskraft billiger einkaufen (vgl. Gottschall 2009: 120ff.). Nicht zuletzt schaffen sie sich mit der Besserstellung der Männer eine betriebstreue Arbeitermannschaft. Frauendiskriminierung erfährt somit über den gesellschaftlichen Umbruch hinweg neue Konturen, in denen alte Strukturierungsmuster geschlechtlicher Ungleichbehandlung virulent bleiben. 2.1 Geschlechtliche Differenzsetzung als Modus sozialer Hierarchisierung und gesellschaftlicher Herrschaftssicherung Wenden wir uns zunächst der Frage zu, in welchen historischen Prozessen, die bis in unsere Zeit reichen, Frauen zum nachrangigen Geschlecht gemacht werden. Dieser Vorgang hat zwei Stränge, die schwer voneinander zu trennen sind. Zum einen haben wir es mit der Ausbildung von Geschlechtskonstruktionen zu tun, in denen Frauen und Männer in ihrem Habitus, ihren Fähigkeitsprofilen und Handlungsmustern als ungleich präsentiert werden. Solche Differenzsetzungen, welche zur Entgegensetzung der Geschlechter führen, sind Anknüpfungspunkte für deren Hierarchisierung (vgl. Gildemeister 2004; Wetterer 2004). Dabei findet
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die Ausbildung von Rangordnungen nicht nur auf der normativen Ebene statt. Klischees, die geschlechtliche Ungleichheit postulieren, dienen dazu, die nichtegalitäre Positionierung von Frauen und Männer im Sozialgefüge als plausibel erscheinen zu lassen. Mechanismen diskriminierender Typisierung und asymmetrischer Statuszuweisung sind zwei Seiten einer Medaille. In beiden Dimensionen werden die Geschlechter zueinander in relationale Beziehungen gesetzt. Dieser Logik folgt die soziale Bewertung von Arbeitsfeldern: Praxen in privaten Lebenswelten, für die Frauen geeignet erscheinen, wird wenig soziale Bedeutung beigemessen. In markt- und politikvermittelten Aktionsräumen, denen größere gesellschaftliche Relevanz zuerkannt wird, sind jedoch Männer präsenter (vgl. Krüger 1995: 133ff.; Becker-Schmidt 2004a: 219). Die Ausrichtung von gesellschaftlichen Arbeitsbereichen entweder auf Frauen oder auf Männer findet ihre Begründung in der Behauptung von geschlechtsspezifischen Befähigungsprofilen, die ohne Ansehen von Individualität entweder dem einen oder dem anderen sozialen »Geschlecht« zugeschrieben werden (vgl. Knapp 2010: 29ff.). 2.2 Zur Konstitution von Genus-Gruppen durch Prozesse der »Versämtlichung« (Hedwig Dohm) 1 Die Annahme, dass sich soziale Geschlechtskonstruktionen nicht einfach auf einzelne Frauen und einzelne Männer beziehen, sondern dass sie gesellschaftlich-kulturelle Vorstellungen von »Frausein«/»Mannsein« bzw. »Frauenarbeit«/»Männerarbeit« transportieren, hat eine methodologische Voraussetzung. Es muss sich zeigen lassen, dass »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« Konzepte sind, die Frauen und Männer zu gegeneinander abgrenzbaren sozialen Gesamtheiten formieren, welche in Rapport zueinander stehen. Wir nennen diese Gesamtheiten »Genus-Gruppen«. Das impliziert die Frage, durch welche gesellschaftlichen Modalitäten Genus-Gruppen zustande kommen. Es liegt auf der Hand, dass hier – wie bereits beschrieben – Vorgänge der Stereotypisierung am Werk sind: Frauen und Männern werden durch Generalisierungen, die von ihnen als Personen mit je eigenen Besonderheiten abstrahieren, unter Vorurteile subsumiert, die als Indikatoren für »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« Geltung beanspruchen. In ihnen stecken jene Diskriminierungen, welche die Geschlechter etikettieren, polarisieren und hierarchisieren. Es gelingt zwar nicht, durch »Versämtlichung« Genus-Gruppen zu schaffen, die in sich völlig homogen sind. In geschlechtliche Ungleichheits-
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Der Begriff »Versämtlichung« wird in der Frauenrechtsbewegung Hedwig Dohm zugeschrieben (Knapp 2001: 270).
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lagen sind klassenspezifische und ethniebezogene Benachteiligungsstrukturen eingelassen, aus denen sich differente Lebensbedingungen für gut situierte und sozial schlechter gestellte Frauen, für privilegierte Männer und solche mit niedrigerem sozialen Status herleiten lassen (vgl. Klinger 2003: 14ff.). Die Interferenz von sozialer Herkunft und Geschlecht macht es notwendig, nicht nur Differenzierungen innerhalb der sozialen Lebenslagen beider Genus-Gruppen wahrzunehmen, sondern auch die relative Variabilität von Geschlechtskonstruktionen im Auge zu behalten: Weder Maskulinitätskonzepte noch Weiblichkeitsbilder sind ohne Bezug auf Klassenzugehörigkeit und kulturelle bzw. ethnische Herkunft zu verstehen. Dennoch können wir daran festhalten, dass die Vergesellschaftung von Frauen und Männern in Ansehung ihres Geschlechts erfolgt. Allerdings verläuft diejenige von Frauen in vielgestaltigeren und widersprüchlicheren Bahnen als die von Männern (vgl. Becker-Schmidt 1987; 2004; Knapp 1990: 11ff.).
3. IDEELLE UND MATERIELLE GEWALT IN GESCHLECHTLICHEN ARBEITS- UND LEBENSVERHÄLTNISSEN In der Vergesellschaftung der Geschlechter, in welcher »Arbeit« eine wichtige Vermittlungsfunktion zukommt, haben wir es offensichtlich mit einer Doppelbewegung zu tun: Die beiden Genus-Gruppen werden zwar voneinander getrennt, gleichzeitig aber durch Kontrastierung und ungleiche Positionierung zueinander in Beziehung gesetzt. Im Begriff »Geschlechterverhältnis« finden wir die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs: Frauen und Männer erfahren ihre soziale Wertigkeit und gesellschaftliche Stellung in Abgleichung zueinander. Das ist nur möglich, wenn zwischen ihnen Unterschiede gemacht werden, die soziale Folgen haben (vgl. Gildemeister 2004a). »Geschlecht« ist in seiner bipolaren Konstruktion ein Relationsbegriff. Relationen wie »ebenbürtig/minderwertig«, »sozial gleich/ungleich«, »für bestimmte Praxen geeignet/weniger befähigt« geben im Geschlechterverhältnis die sozialpsychologischen und gesellschaftlichen Maßstäbe dafür ab, welche Formen der Anerkennung und welche sozialen Räume Frauen im Vergleich zu Männern zugestanden werden. Wenn wir von »Relationen« sprechen, müssen wir zwei gesellschaftliche Ebenen in den Blick nehmen, die wechselseitig aufeinander einwirken. Die eine Ebene nennen wir die »symbolische Ordnung«. In sie sind die sozialkulturellen Vorgaben für die Ausrichtung weiblicher und männlicher Lebensführung einge-
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schrieben. In diesem Kontext spielt die Analyse von Geschlechtskonstruktionen eine wichtige Rolle: Ohne Kennzeichnungen, die »Frausein« und »Mannsein« mit Bedeutung aufladen, ließe sich nicht von getrennten, aber gleichzeitig aufeinander bezogenen Genus-Gruppen reden. Aber ohne die gesellschaftliche Strukturierung des Geschlechterverhältnisses, in dem soziale Chancen der materiellen Lebenssicherung, kulturellen Partizipation und politischen Mitbestimmung zwischen den Genus-Gruppen ungleich verteilt sind, könnte die normative Ordnung ihre Wirkmächtigkeit nicht entfalten. Gehen wir zunächst genauer auf die Ebene ideeller Gewalt ein. Eingebettet in die symbolische Ordnung, geben die Bestimmungen, aus denen die Konstrukte »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« zusammengesetzt sind, ihre synergetischen Effekte preis. Zuschreibungen, unterstellte Handlungspotentiale und Zuweisung sozialer Zuständigkeiten, aus denen Rechte und Pflichten erwachsen, sind Markierungen, die sich – wie Elemente eines Clusters oder eines Syndroms – zu zwei Konfigurationen zusammenschließen, welche auf je eines der beiden Geschlechter gemünzt sind. Mit ihrer Hilfe werden unter gesellschaftlichgeschichtlichen Rahmenbedingungen Geschlechterordnungen etabliert und Tätigkeitsfelder abgesteckt, die eher für Männer, jedoch weniger für Frauen, in der Regel für Frauen, aber nicht so sehr für Männer als besonders geeignet erscheinen. In der Vergeschlechtlichung von Eigenschaften und Befähigungen ist mitzudenken, dass diese auf Formen der Arbeitsteilung zwischen den GenusGruppen abzielen. Frauen wird angezeigt, dass ihr Platz im Privaten und in den unteren Rängen des Erwerbssystems angesiedelt ist, Männern, dass sie für Höheres im Staat und in der Öffentlichkeit geschaffen sind (vgl. Knapp 1990: 33; Krüger 1995: 195ff.; Kreisky 1995: 85ff.). Bleibt zu klären, welcher Stützpfeiler jene symbolische Ordnung absichert, in der Vorstellungen von Geschlechterdifferenzen institutionalisiert werden, welche die Hierarchisierung der Genus-Gruppen im Privaten und in öffentlichen Arenen rechtfertigen sollen. In geschichtlicher Perspektive hat das System der Zweigeschlechtlichkeit hier eine prominente Bedeutung. Denn in ihm wird nicht nur Heterosexualität als einzig gültige Lebensform zur Regel gemacht. Die rigide Entgegensetzung von Weiblichkeit und Männlichkeit erzwingt zwei Geschlechtsidentitäten, die sich wechselseitig ausgrenzen (vgl. Butler 1990: 41ff.). Das schließt Mechanismen der praxisbezogenen Inklusion und Exklusion ein. Denn auf der Basis von normativen Setzungen allein hätte das System der Zweigeschlechtlichkeit die Arbeits- und Lebensverhältnisse von Frauen und Männern nicht nach dem Prinzip weiblicher Nachrangigkeit strukturieren können. Es bedurfte gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse, in denen sich männliche Hegemonien – in der Familie, im Gewerbe, in Kultur und Politik – ausbilden konn-
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ten. Damit haben wir die zweite Ebene von Verhältnisbestimmungen betreten, nämlich die der materiellen Gewalt.2 Auf dieser Ebene geht es um die Proportionen, in denen Frauen im Vergleich zu Männern über vergegenständlichte Machtmittel verfügen und in gesellschaftlichen Einflusssphären vertreten sind. 3.1 Verfügung über Machtmittel zur Durchsetzung geschlechtlicher Arbeitsteilung und männlicher Hegemonie Es ist zunächst das Zwangssystem der Zweigeschlechtlichkeit, auf dem Männerherrschaft und Frauendiskriminierung basieren (vgl. Rubin 1975: 157ff.). Aber welche gesellschaftlichen Gruppen verkörpern jene sozialen Kräfte, die über jene Herrschaftsmittel verfügen, Zweigeschlechtlichkeit als Norm der Lebensführung sowie Heterosexualität als ein »Dispositiv der Macht« (Foucault 1977: 91ff.) durchzusetzen? In der Beantwortung dieser Frage tritt in Erscheinung, dass das Zwangssystem der Zweigeschlechtlichkeit nicht einfach ein disziplinierendes Institut ist, welches Sexualität in die Bahnen repressiver Normalität kanalisiert. Seine Wirkmächtigkeit hat einen weit darüber hinausgehenden gesellschaftsstrukturierenden Charakter. Es impliziert nämlich, dass Geburtenkontrolle, matri- oder patrilineare Genealogien, familiale Autoritäts-, Eigentumsund Arbeitsverteilung, die männliche Hegemonie sichern (hierzu BeckerSchmidt 2007b: 205ff.). Das Zwangssystem der Zweigeschlechtlichkeit erweist sich als Herrschaftsinstrument, das der Sicherung männlicher Privilegien dient (erfahrbar am Zugriff auf den weiblichen Körper und die Arbeit von Frauen, an der Autorität des Mannes als Familienoberhaupt und Familienernährer, an seinen Privilegien in der Öffentlichkeit). Wir haben es hier mit einem Verfügungszusammenhang zu tun, in dem sich patriarchalische und staatliche Gewaltmonopole Geltung verschaffen. Deren Vertreter (kirchliche und weltliche Obrigkeiten, Wissensproduzenten, Eigentümer, Rechtsgelehrte) besitzen aufgrund des Monopols an Herrschaftswissen und ihrer Stellung in politisch, gesellschaftlich und kulturell einflussreichen Institutionen die Ermächtigung zu bestimmen, was Männer und was Frauen zu tun und zu lassen haben. In den Rechts- und Eigentumsordnungen der europäischen ständischen und bürgerlichen Gesellschaft sind
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Pierre Bourdieu hat in seiner Studie »Die männliche Herrschaft« (1995) gezeigt, wie ideelle und materielle Gewalt ineinander verflochten sind. Ohne die Aufhebung von Vorurteilen in den Köpfen der Menschen gibt es keine Handlungsimpulse für sozialen Wandel. Und umgekehrt gilt: Ohne Risse in den Bastionen gesellschaftlicher Herrschaft lassen sich sozialstrukturelle Veränderungen zu mehr Egalität schwerlich durchsetzen (dazu in feministischer Perspektive Dölling 2007: 109ff.).
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jene Maskulinitätskonzepte ausschlaggebend, die Männern die Verfügung über ihre Ehefrauen einräumen (vgl. Gerhard 1990a). Ein wichtiges Ziel dieser männerbündischen Ordnung ist die Befestigung geschlechtlicher Arbeitsteilung. Das beginnt zunächst in der Familie, in welcher dem Mann die Position des Ernährers zugestanden, der Frau dagegen die ihm untergeordnete Stellung der Hausfrau zuerteilt wird. Daran ändert sich auch nichts, als Frauen auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen (vgl. Bock/Duden 1977; Hausen 1978). Die asymmetrische Verteilung von unbezahlter und bezahlter Arbeit im Geschlechterverhältnis tritt als Kristallisationspunkt sozialer Ungleichheitslagen zwischen den Genus-Gruppen zutage. Denn es bleibt nicht bei der geschlechtlichen Arbeitsteilung in der Familie. Sie wird im Zuge der Ausweitung der Erwerbszweige, in denen Frauen Beschäftigung finden, zum Modell für engendering-Prozesse in Betrieben und Dienstleistungsunternehmen. Die ungleiche Distribution von Hausarbeit zwischen den Geschlechtern weitet sich zu frauendiskriminierenden Segregationslinien im Erwerbssystem aus. Auch nach Auflösung vorbürgerlicher patriarchalischer Strukturen bleiben Männerbünde bestehen, die den Zugang zu Professionen, Ausbildungsstätten und politischen Interessenorganisationen unter Ausschluss von Frauen kontrollieren. Helga Krüger hat die Verkettung von Ungleichbehandlungen, die für Frauen in der Familie ihren Anfang nehmen und sich in allen Institutionen fortsetzen, die sie in ihrer Biographie durchlaufen, zum Kern ihrer Gesellschaftskritik gemacht (vgl. Krüger 2007: 185ff.). In dieser Konfiguration kristallisiert sich ein Nexus von sozialen Arrangements heraus, der Disparität als vorherrschende Relation im Geschlechterverhältnis konstituiert. 3.2 Zum Zusammenhang von männlicher Macht, der Rangordnung sozialer Sphären und geschlechtlichen Ungleichheitslagen Die Etablierung geschlechtlicher Arbeitsteilung geht einher mit grundlegenden Veränderungen in der sozialen und wirtschaftlichen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, welche ständische Sozialordnungen hinter sich lässt (vgl. Beer 1990: 149ff.). Die Durchsetzung des Geldwesens führt zur Ausklammerung der Hauswirtschaft aus der marktvermittelten Ökonomie und zur Privatisierung der Hausarbeit, die unbezahlt Frauen überantwortet wird. Marktsphären, Arenen des Politischen und kulturelle Foren werden dagegen zu Männerdomänen. Da den Sphären der Öffentlichkeit und des Marktes mehr gesellschaftliche Bedeutung zuerkannt wird als den privaten Lebenswelten und da in den sozial höher bewerteten Bereichen Männer überrepräsentiert sind, während Frauen den gesellschaft-
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lich unterschätzten häuslichen Praxen zugeordnet werden, ist die Hierarchisierung der Geschlechter verknüpft mit der Über- und Unterordnung von gesellschaftlichen Sektoren. Asymmetrischen Relationen im Geschlechterverhältnis sind somit rückgebunden an die Rangordnung von Sozialbereichen (vgl. BeckerSchmidt 2004b: 219f.; 2007b: 261). Diese Wechselwirkung macht deutlich, dass die Strukturierung des Sozialgefüges insgesamt mit der Ausbildung geschlechtlicher Ungleichheitslagen eng zusammenhängt und dass sich umgekehrt die Ausgestaltung des Geschlechterverhältnisses in der Formation der Gesellschaft niederschlägt. Das zeigt sich in spezifischer Weise in der Entwicklung des Kapitalismus.
4. G ESCHLECHT – K LASSE /K LASSE – G ESCHLECHT : W ECHSELSEITIGE Ü BERFORMUNGEN IM M EDIUM ANDROZENTRISCHER UND KAPITALISTISCHER H ERRSCHAFTSLOGIKEN 4.1 Transformation von Geschlechterverhältnissen durch kapitalistische Wirtschaftsweisen Geschlechtliche Ungleichheitslagen werden in Klassengesellschaften, in denen Männerherrschaft nicht einfach verschwindet, neu konfiguriert. In der Fortschreibung privater geschlechtlicher Arbeitsteilung und in der Frauendiskriminierung durch betriebliche engendering-Prozesse konvergieren androzentrische und politisch-ökonomische Interessen. Männer, denen die Position der Familienernährer zuerkannt wird, sind von Hausarbeit weitgehend freigestellt. Sie haben so nicht nur den Rücken frei für ihre Arbeit im Betrieb, sie genießen dort auch eine Vorrangstellung gegenüber Frauen, die in der kapitalistischen Produktion als Arbeitskräfte zweiter Klasse eingesetzt werden. Ihre Ungleichbehandlung setzt sich in der Vereinnahmung von Praxen fort, die im Privaten angesiedelt sind: Unternehmen profitieren von unbezahlter Hausarbeit und care work, welche für die Regeneration des menschlichen Arbeitsvermögens unerlässlich sind, und muten Frauen im gleichen Atemzug Arbeitsbedingungen zu, die von ihren häuslichen Belastungen abstrahieren. Alle Beschäftigten bekommen im Übergang von der fordistischen zur postfordistischen Organisation lohnabhängiger Arbeit die ausgefeilten Strategien zu spüren, mit denen Verwertungsprozesse intensiviert werden. Männer wie Frauen sind konfrontiert mit einer forcierten Zeitökonomie, mit wachsenden Ansprüchen an die Selbstverantwortlichkeit, Selbstkontrolle und Einsatzbereitschaft im
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Unternehmen. Darüber hinaus verstärken sich Übergriffe unternehmerischer Verwertungsstrategien auf die Privatsphäre. Die Erledigung von beruflichen Tätigkeiten wird nach Hause verlagert, disponible Zeit in den eigenen vier Wänden durch die Verpflichtung eingeschränkt, sich für betriebliche Belange je nach Schichtplan oder Abruf zur Verfügung zu halten. Aber die Belastungen, die mit der temporalen und räumlichen Flexibilisierung im Erwerbsleben einhergehen, sind für Frauen erheblich größer als für Männer (vgl. Aulenbacher 2005: 205ff.; Jürgens 2006: 104ff.). Für Frauen gerät nämlich ihr gesamtes Arbeitsensemble – Haushaltung, care work, Ehrenamt und marktvermittelte Beschäftigung – in den Sog kapitalistischer Profitinteressen. Sie (zer-)stören Balancen, die für Frauen im täglichen Spagat zwischen Familie und Beruf notwendige Bedingungen für die Bewältigung von Mehrfachbelastungen sind. Dazu gehören die Chancen, Kräfte austarieren zu können, die für zwei Arbeitsplätze reichen müssen; mit einer Begrenzung der Erwerbsarbeitszeit rechnen zu dürfen, die Freiräume für Aktivitäten lässt, die nach anderen Uhren laufen und anderen Bedürfnissen folgen als Erwerbsarbeit; und nicht zuletzt ein Gleichgewicht zwischen Beschäftigung und Ruhe für die eigene Regeneration zu finden. Die Aufrechterhaltung des privaten Lebenszusammenhalts, die Ansprüche an Kinderbetreuung und die psychosoziale Unterstützung von Angehörigen bedürfen mentaler Energien, die im Begriff »Arbeit« nicht aufgehen. Diese Energien speisen sich aus Quellen der Beziehungsfähigkeit. Je mehr ein marktorientiertes Arbeitsverständnis in die Privatsphäre vordringt, das auf Effektivität, kalkulierbaren Aufwand, Leistung und reibungslose Abläufe geeicht ist, desto gefährdeter sind jene Subjektpotentiale, die Kapazitäten wie Empathie, Zuwendungsbereitschaft und Anteilnahme beinhalten. Dieses menschliche Vermögen bleibt nur lebendig, wenn es keiner Instrumentalisierung unterliegt. Permanente Erschöpfung durch Fremdbestimmung und Überstrapazierung führen dagegen dazu, dass denjenigen, die sich um das Wohl und Wehe von Familienmitgliedern kümmern, die Kräfte ausgehen. Deren Auszehrung tangiert auch die Regenerationschancen der Menschen, die von ihnen versorgt werden. Frauen fürchten sich darum nicht nur vor dem Verschleiß ihrer Arbeitskraft und vor Arbeitslosigkeit, sondern auch davor, den häuslichen Anforderungen – den körperlichen und vor allem den mentalen – irgendwann nicht mehr gewachsen zu sein. Kerstin Jürgens hat unter dem Stichwort »Gesellschaftliche Reproduktionskrise« (2010) aufgezeigt, wie im Zuge gegenwärtiger Transformationsprozesse in der Erwerbsbevölkerung soziale Unsicherheiten und psychische Verunsicherungen anwachsen. Vor allem wird es jedoch für Frauen immer schwieriger, die eigene Gesundheit zu schützen und Kräfte für marktvermittelte Aufgaben und die Unterstützung von Angehörigen aufzubringen (vgl. Jürgens 2010: 578). Das Phänomen »Überforderungssyndromatik« (ebd.) hat of-
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fensichtlich für Frauen ein anderes Gewicht als für Männer. Dabei sind klassenspezifische Einflussfaktoren zu berücksichtigen: Unwägbarkeiten in der Existenzsicherung schmälern die psychosozialen Überschüsse, die für Mitmenschlichkeit unabdingbar sind. 4.2 Geschlechtliche Ungleichheitslagen im Spannungsfeld zwischen kapitalistischen Wirtschaftsweisen und rechtsstaatlichen Prinzipien Nicht nur kapitalistisches Wirtschaften führte zu Umstrukturierungen von Geschlechterverhältnissen. Überformungen lassen sich auch in umgekehrter Richtung nachzeichnen. Indem patriarchalische Geschlechterarrangements zu Organisationsprinzipien von Ungleichheitslagen im Kapitalismus wurden, bildeten sich in der bürgerlich-liberalen Gesellschaft Konflikte heraus, die soziale Spannungen erzeugten. Der ständische Patriarchalismus war »als gesellschaftliche Norm der Unterordnung der Frau unter den Mann, als Ausschlusskriterium der Verfügung über Eigentum, des Zugangs zu Professionen und dem Wissen dieser Gesellschaft eine wichtige Voraussetzung der Industrialisierung« (Beer 1990: 252). Mit der Fortführung tradierter Formen der Frauendiskriminierung wurden in die kapitalistische Produktionsweise jedoch Elemente integriert, die mit den politischen Zielsetzungen des bürgerlichen Nationalstaates unvereinbar sind. In ihm wurden Rechtsstaatlichkeit und eine demokratische Verfassung proklamiert, welche die Ungleichbehandlung qua Geschlecht, Klasse und Rasse für unzulässig erklärte. Die Ungleichzeitigkeit von Patriarchalismus und Kapitalismus führte zur Kritik an vorindustriellen Geschlechterordnungen, die in einer sich modernisierenden Gesellschaft als unzeitgemäß erschienen. Frauenpolitik griff solche Unstimmigkeiten auf und artikulierte Forderungen, sie zu beheben. Heutige Gleichstellungsgesetze haben hier ihre Wurzeln. Sie sind zwar in mancherlei Hinsicht formal geblieben, aber dennoch sind ihre Erfolge nicht zu bestreiten. Dazu trugen die Frauen selbst bei. Ihnen ist es gelungen, sich den Zugang zu allen Ausbildungsstätten zu erstreiten und Qualifikationen zu erwerben, die neue berufliche Optionen eröffnen. Sie haben mit ihrem massenhaften Eintritt ins Erwerbsleben an ökonomischer Selbstständigkeit gewonnen, auch wenn diese oft nicht ausreicht, um die eigene Existenz angemessen zu sichern. Androzentrische Weltbilder wurden erschüttert, als Frauen in Domänen vordrangen, die vormals Männern vorbehalten waren. Das System der Zweigeschlechtlichkeit, eine Bastion autoritärer Genderregimes, ist zwar bisher nicht aus den Angeln gehoben worden, hat aber doch an Boden verloren. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind rechtlich anerkannt, auch wenn die Diskriminierung von Schwulen, Lesben
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und Transsexuellen fortbesteht und Heterosexualität im Alltag oft noch als Selbstverständlichkeit gilt. In der jüngeren Generation wachsen die Ansprüche an egalitäre Paarbeziehungen – zumindest auf der symbolischen Ebene scheinen Geschlechtskonstruktionen an Plausibilität zu verlieren (vgl. König 2012: 208ff.). Auch in den Strukturen männlicher Hegemonie gibt es Bruchstellen. Das Modell des Familienernährers ist durch die Erosion von Normalarbeitsverhältnissen ins Wanken geraten, von denen vormals Männer profitierten (vgl. Meuser 2010: 129). Überdies scheint die herkömmliche Familienform krisenanfällig zu sein. Dafür spricht die steigende Zahl von Alleinlebenden, Kinderlosen, Ehescheidungen und die mit Nachdruck erhobene Forderung nach einer ausreichenden Zahl von Einrichtungen der Kinderbetreuung. Ein Bild von neuen Vätern taucht am Horizont auf, die sich mehr mit ihrem Nachwuchs beschäftigen wollen. Forderungen nach der Gleichstellung und Gleichbehandlung der Geschlechter im Beschäftigungssystem sind rechtlich inkompatibel mit kapitalistischem Wirtschaften. Die Häufung prekärer Arbeitsverhältnisse in der weiblichen Genus-Gruppe wird somit in ihrer Offensichtlichkeit ebenso angreifbar wie die ungleiche Entlohnung von Frauen. 4.3 Zur Gleichzeitigkeit von Veränderungen und Beharrungstendenzen in den Lebens- und Arbeitsverhältnissen der Geschlechter Wo Wind ist, der etwas bewegt, gibt es auch Gegenwind. So werden zwar Wünsche nach egalitären Partnerbeziehungen artikuliert, aber die geschlechtliche Arbeitsteilung im Haushalt sowie die Asymmetrie von unbezahlten und bezahlten Tätigkeiten im Geschlechterverhältnis sind nicht beseitigt (vgl. König 2012: 50). Prestigeverluste von Männern durch Statuseinbußen verunsichern zwar deren Selbstverständnis; daraus lässt sich jedoch nicht unbedingt schließen, dass aufgrund solcher Erfahrungen hegemoniale Maskulinitätskonzepte aufgegeben werden. Empirische Untersuchungen zeigen, dass z.B. arbeitslose Männer an der Illusion festhalten, sie seien die Herren im Haus, obwohl ihre Ehefrauen den Unterhalt für die Familie bestreiten (vgl. Meuser 2010: 331). Nicht nur im Alltagsbewusstsein stoßen wir auf Widersprüche im Umgang mit Geschlechtskonstruktionen und Phänomenen der Frauendiskriminierung. Auch auf der Ebene institutioneller Geschlechterpolitik treffen wir auf gegenläufige Tendenzen. Wir erleben im Augenblick in der BRD eine Familienpolitik, die den Gleichstellungsbemühungen zuwiderläuft, Frauen mit Kindern den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Mit finanziellen Anreizen sollen Mütter zu Hause gehalten werden, um sich ganz ihren Kindern widmen zu können. Väter, die vom Staat bezahlte
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Elternzeit in Anspruch nehmen wollen, bekommen berufliche Schwierigkeiten, wenn sie eine betriebliche Auszeit beantragen. Über die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf wird in Gleichstellungsbüros und in Betrieben immer noch diskutiert, als handele es sich um eine »Frauenfrage«. Ausgeblendet wird, dass wir es hier mit gesellschaftlichen Strukturproblemen zu tun haben, die sozialpolitisch zu lösen wären (vgl. Jürgens 2006: 104ff.). Es gibt Segmente im Beschäftigungssystem, wo sich für Frauen mit guter Qualifikation die Berufschancen verbessert haben; es gibt andere, erheblich größere Bereiche, wo Frauen weiterhin diskriminierenden Arbeitsbedingungen ausgeliefert sind. Aus solchen Ungleichzeitigkeiten und Gegenläufigkeiten ergibt sich eine Reihe von Forschungsfragen.
5. O FFENE F RAGEN Tradierte Geschlechterordnungen werden angesichts der Erosion des Wohlfahrtsstaates, angesichts von Prekarisierungsschüben, denen Männer und Frauen ausgesetzt sind, sowie angesichts der Pluralisierung von privaten Lebensformen immer problematischer. Was hindert Männer und Frauen daran, und umgekehrt: Was bewegt sie dazu, nach neuen Formen der gemeinsamen Erwirtschaftung des Einkommens zu suchen, alte Muster der Verteilung von Haus- und Berufsarbeit zu verabschieden, die Elternschaft so einzurichten, dass alle Aufgaben der Kindererziehung und Kinderversorgung paritätisch verteilt werden? In Zusammenarbeit mit Irene Dölling hat Susanne Völker den Begriff »erschöpfte Geschlechterarrangements« (Völker 2009: 268ff.; Dölling/Völker 2008: 57ff.) geprägt und damit die Hoffnung ausgedrückt, dass Tendenzen in diese Richtung längerfristig zu gängiger Praxis werden könnten. Hier müsste Forschung ansetzen. Wie groß ist der Wunsch nach Umgestaltungen im Geschlechterverhältnis bei Frauen, wie stark bei Männern? Woran scheitern Versuche in Lebensgemeinschaften, flexible Zuständigkeiten untereinander auszuhandeln? Wo stößt sozialer Widerstand gegen geschlechtliche Differenzsetzung auf innere Barrieren, wo auf gesellschaftliche Machtfelder der Reaktion? Welche Erfahrungen tragen dazu bei, Haus- und Berufsarbeit gleich zu gewichten, welche ermutigen zu alternativen Lebensweisen, in denen die Priorität markförmiger Arbeit aufgehoben wird (vgl. Dölling, in diesem Band)? Welche klassenspezifischen Unterschiede gibt es im alltäglichen Umgang mit ideellen und materiellen geschlechtlichen Differenzsetzungen? Es stehen Untersuchungen aus, welche Problemstellungen im Feld »gender and work« in einem erweiterten gesellschaftlichen Rahmen untersuchen. Wir
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haben zu wenige Kenntnisse über die Wechselwirkungen von Geschlecht, Klasse und Migration. An welchen Schnittstellen sich überkreuzender Diskriminierungsstrukturen kumulieren Formen der Ungleichbehandlung? Welche Widerstandsformen bilden sich in den unterschiedlichen Konstellationen von Intersektionalität heraus? Einsichten in die kulturabhängigen Muster von symbolischen Geschlechterordnungen und hegemonialen männlichen Herrschaftsansprüchen könnten helfen, im Dialog über Ähnlichkeiten und Differenzen in der Konfrontation mit frauendiskriminierenden Disparitäten, mehr voneinander zu lernen.
L ITERATUR Aulenbacher, Brigitte (2005): Rationalisierung und Geschlecht in soziologischen Gegenwartsanalysen, Wiesbaden: VS. Aulenbacher, Brigitte/Funder, Maria/Jacobsen, Heike/Völker, Susanne (Hg.) (2007): Arbeit und Geschlecht im Umbruch der modernen Gesellschaft, Wiesbaden: VS. Aulenbacher, Brigitte/Wetterer, Angelika (Hg.) (2009): Arbeit. Perspektiven und Diagnosen der Geschlechterforschung, Münster: Westfälisches Dampfboot. Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hg.) (2004): Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden: VS. Becker-Schmidt, Regina (1987): »Die doppelte Vergesellschaftung, die doppelte Unterdrückung. Besonderheiten in der Frauenforschung in den Sozialwissenschaften«, in: Ina Wagner/Ina Unterkirchner (Hg.), Die andere Hälfte der Gesellschaft, Wien: Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, S. 10–28. Becker-Schmidt, Regina (2002): »Theorizing Gender Arrangements«, in: dies. (Hg.), Gender and Work in Transition. Globalization in Western, Middle and Eastern Europe, Opladen: Leske + Budrich, S. 25–49. Becker-Schmidt, Regina (2004a): »Doppelte Vergesellschaftung von Frauen: Divergenzen und Brückenschläge zwischen Privat- und Erwerbsleben«, in: Becker/Kortendiek, Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung, S. 62–71. Becker-Schmidt, Regina (2004b): »Zum Zusammenhang von Erkenntniskritik und Sozialkritik in der Geschlechterforschung«, in: Therese Frey Steffen/Caroline Rosenthal/Anke Väth (Hg.), Gender Studies, Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 201– 222.
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B ENACHTEILIGUNGSSTRUKTUREN
IN
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VON
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Anerkennung. Macht. Hierarchie Praktiken der Suche nach Anerkennung und die Reproduktion von Geschlechterhierarchien am Beispiel der beruflichen Arbeitsteilung G ABRIELE F ISCHER 1 »A man and his son were in a car crash. The father died, but the son was critically injured and rushed to hospital. When he reached the operating table, the doctor on duty looked at him and said ›Oh god, it's my son!!!‹ How can this be?«2
Dieses Rätsel habe ich vor kurzem auf einer Internetseite gefunden. Leider funktioniert es nur auf Englisch. Ein Junge kommt nach einem Unfall schwer verletzt in den Operationssaal, sein Vater ist bei dem Unfall ums Leben gekommen. Trotzdem sagt »the doctor on duty« im OP: »Oh Gott, das ist mein Sohn!!!« Ist der Vater wieder auferstanden? Natürlich nicht. »The doctor on duty was his mother« – die Lösung liegt auf der Hand. Das Rätsel spielt mit der weit verbreiteten Vorstellung, Chirurgen seien männlich und könnten nur männlich sein. Wie in der Chirurgie gibt es in vielen Berufen noch immer eine gewisse Selbstverständlichkeit der geschlechtlichen Zuordnung. In den letzten Jahrzehnten hat sich bezüglich der Geschlechterverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland zwar einiges verändert. Es gibt so gut wie keine rechtlichen Beschränkungen mehr hinsichtlich der Berufswahl, Frauen können theoretisch alles
1
An dieser Stelle möchte ich mich bei Dr. Imke Schmincke, Philip Zölls und Marianne
2
http://www.answerbag.com/q_view/629350 vom 05.04.2012.
Walther für die konstruktiven Kommentare bedanken.
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erreichen, alles erscheint möglich. Aber noch immer existieren Grenzen des Machbaren. Dies lässt sich an der Debatte um Frauen in Führungspositionen, dem ›gender wage gap‹ und der beruflichen Segregation feststellen. Letztere wird als eine der wichtigsten Ursachen für die Ungleichheit der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt angesehen, denn so genannte ›Frauenberufe‹ genießen weniger Prestige und bieten schlechtere Einkommensmöglichkeiten (vgl. Dressel/Wanger 2008; Teubner 2008).3 Auch wenn sich hinsichtlich der geschlechterdifferenzierenden Arbeitsteilung viel verändert hat, so zeigt sich auch hier ein Beharrungsvermögen. Die Prozesse werden differenzierter, es kommt zunehmend zu intraprofessionellen Arbeitsteilungen, indem einzelne Tätigkeiten geschlechtlich codiert und hierarchisiert werden (vgl. Wetterer 2002). Parallel zur zunehmenden Selbstverständlichkeit der Erwerbstätigkeit von Frauen zeigt sich eine Pluralisierung von Lebensformen. Bei der Wahl der Familienform, der Beziehungsform oder der Wohnform scheint es ebenso eine große Freiheit zu geben wie bei der Karriereplanung oder der Schwerpunktsetzung zwischen Erwerbsarbeit und Nicht-Erwerbsarbeit. Trotzdem halten sich geschlechtshierarchische Muster auch hier beharrlich. Reproduktionsarbeiten werden nach wie vor überwiegend von Frauen übernommen (vgl. BMFSFJ 2011). Die doppelte Vergesellschaftung von Frauen (vgl. Becker-Schmidt 2010; Becker-Schmidt et al. 1982), also die Herausforderung, sich in den beiden gesellschaftlichen Bereichen der Produktion und Reproduktion zu bewähren, ist mittlerweile die Regel geworden. In heterosexuellen Partnerschaften ist die Aufteilung der Hausarbeit etwas, das an Geschlechtergrenzen entlang verhandelt wird, auch wenn dies nicht unbedingt dem Selbstbild der beteiligten Männer und Frauen entspricht (vgl. Kaufmann 1994). Die AkteurInnen gestalten ihren Lebensentwurf also in einem komplexen Knäuel aus Möglichkeiten und Grenzen, aus diskursiver Gleichheit und Praktiken der Ungleichheit,4 die sich in unterschiedlichen Lebensbereichen unterschiedlich darstellen. Gerade der Diskurs des ›everything goes‹ der Postmoderne, der alles als denk- und machbar erscheinen lässt, fördert die Notwendigkeit, den gewählten Lebensentwurf vor sich selbst und vor anderen begründen zu müssen. Dabei ist für Selbstvergewisserung, für positiven Selbstbezug und für gesellschaftliche Teilhabe Anerkennung und damit die »normative Stütze bejahender konkreter wie verallgemeinerter Anderer« (Wagner 2004: 144) von großer Bedeutung. Doch welche Rolle spielen die Hierarchien dabei?
3
Zur Gleichursprünglichkeit von Geschlechterdifferenz und Geschlechterhierarchie
4
Angelika Wetterer nennt diese Gleichzeitigkeit »rhetorische Modernisierung« (2003).
vgl. Gildemeister/Wetterer (1992).
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Die Suche nach Anerkennung kann als Suche nach Bestätigung des Selbst im jeweiligen Feld gelesen werden. Führt diese Suche nach Bestätigung zu einer Verfestigung von Hierarchien, da die Anerkennung innerhalb dieser hierarchischen Felder erfolgt? Ist Anerkennung also die »normative Stütze« für Lebensentwürfe, die mit diesen Hierarchien kompatibel sind? Wird Anerkennung vielleicht sogar nur dann entgegengebracht, wenn bestimmte geschlechterhierarchische Aspekte innerhalb und außerhalb des Erwerbslebens erfüllt sind? Führt die Anerkennung als »vergeschlechtlichte Andere« und damit die Anerkennung der Geschlechterdifferenz zu einer Verfestigung von Geschlechterhierarchien? Oder im Gegenteil: Dient Anerkennung genau der Überwindung von Geschlechterhierarchien? Um diese Fragen zu untersuchen, werden im Folgenden zunächst theoretische Konzepte, die sich mit Anerkennung beschäftigen, vorgestellt und kritisch diskutiert. Im Anschluss daran werden Strategien der Suche nach Anerkennung in hierarchischen Feldern auf der Basis von biographischen Fallrekonstruktionen empirisch analysiert.5
A NERKENNUNG –
EIN AMBIVALENTES
K ONZEPT
Anerkennungstheorien, die ihren Ursprung in moralphilosophischen Debatten haben, finden zunehmend Einzug in die soziologische Arbeitsmarktforschung (z.B. Holtgrewe/Voswinkel/Wagner 2000; Honneth 2009). Eine wichtige Grundlage für die Auseinandersetzung um das Thema Anerkennung stellt Axel Honneths Buch Kampf um Anerkennung (1994) dar. Kampf um Anerkennung – Axel Honneth Mit Rückgriff auf Hegel und Mead erläutert Honneth, welche Rolle Anerkennung für die Subjektkonstitution spielt. Er unterscheidet dabei die drei Formen der Anerkennung Liebe, Recht und soziale Wertschätzung (vgl. ebd.: 148ff.). Die letztgenannte Form, also die soziale Wertschätzung, erzeugt Prestige. Damit ist diese Form für das Themenfeld der Geschlechterhierarchie in der beruflichen Arbeitsteilung von besonderer Bedeutung. Nach Honneth beruht soziale Wertschätzung auf der »Leistung gemäß kulturellen Standards« (ebd.: 209). Entspricht eine Leistung gesellschaftlich ausge-
5
Diese Analysen erstelle ich auf Basis des empirischen Materials, das ich für meine Dissertation erhebe. Sowohl die Erhebung als auch die Analyse dauern noch an.
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handelten kulturellen Standards oder Normen, ist sie anerkennungswürdig. Dabei bemisst sich die Definition dieser anerkennungswürdigen Leistung »[…] grundsätzlich an den Interpretationen, die historisch jeweils von den gesellschaftlichen Zielsetzungen vorherrschen« (ebd.: 205). Es gibt also kein universales und immer gültiges Raster, an dem sich anerkennungswürdige Leistungen messen lassen. Die der Anerkennung zugrunde liegenden Normen werden in einem bestimmten historischen und gesellschaftlichen Kontext ausgehandelt und sind nur in diesem zu verstehen. Honneth wählt für diese Aushandlungen den Begriff des »kulturellen Dauerkonflikts« (ebd.). Trotz dieses Aushandlungsaspekts, der hier eingeführt wird, geht Honneth von gesamtgesellschaftlich geltenden Normen aus, die den Orientierungsrahmen für Anerkennung und den Kampf darum abstecken. Im Zusammenspiel von Anerkennung mit Ungleichheit und Ungerechtigkeit ist Honneths Lesart des Kampfes um Anerkennung durchweg positiv. Er sieht diesen Kampf als zentral an für die Überwindung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Damit gibt er diesen Hierarchien eine moralisch-normative Bewertung.6 Zwar thematisiert er, dass gerade aus der sozialen Wertschätzung durchaus Hierarchien, wie beispielsweise Berufsprestige, resultieren können. In seiner Perspektive stellt der Kampf um Anerkennung jedoch die Voraussetzung dafür dar, diese Hierarchien zu überwinden (vgl. ebd.: 205ff.). Anerkennung in postmodernen Gesellschaften Honneths Ausführungen zum Kampf um Anerkennung sind in den letzten Jahren von verschiedenen WissenschaftlerInnen kritisch diskutiert und um die Geschlechterperspektive ergänzt worden. Gabriele Wagner (2004) macht in ihrem Buch Anerkennung und Individualisierung deutlich, wie komplex sich die Suche nach Anerkennung in postmodernen Gesellschaften gestaltet. Sie schreibt: »Mit der Pluralisierung der Inklusion in verschiedene, sich fortlaufend wandelnde gesellschaftliche Sphären und der damit verknüpften Multiplikation von Perspektiven geht auf der normativen Ebene eine Vervielfältigung von Referenzen der Anerkennung einher.« (Ebd.: 271) Sie folgt Honneth in der Einschätzung, dass die an Anerkennung gebundenen Normengefüge ausgehandelt werden. Im Gegensatz zu ihm geht Wagner allerdings von einer Pluralisierung der Anerken-
6
Diesbezüglich entwickelte sich eine kontroverse Debatte zwischen Axel Honneth und Nancy Fraser. Fraser postuliert, dass nicht Anerkennung, sondern vor allem Umverteilung und damit eine ökonomische Dimension die zentrale Ressource für die Überwindung von Ungerechtigkeit darstellt. Vgl. hierzu ausführlich Fraser/Honneth (2003).
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nungsfelder in postmodernen Gesellschaften aus.7 Die AkteurInnen befinden sich somit in komplexen Konglomeraten von Verhaltensanforderungen, in denen sie sich bewegen und nach Anerkennung suchen. Sie stehen dabei vor der Herausforderung, die jeweils geltenden Erwartungen, Ansprüche und Anforderungen zu erkennen, für sich zu deuten und ihr Verhalten entsprechend daran zu orientieren. Dies führt einerseits zu einer Pluralisierung von Erwartungen, die sich nicht immer entsprechen, sondern sich durchaus auch widersprechen können. Andererseits ist durch diese Pluralisierung, verbunden mit der »Erosion einer hegemonialen Normalitätsvorstellung« (ebd.), nicht von vornherein klar, wofür Anerkennung entgegengebracht wird. Unsicherheiten bezüglich der Anerkennungserwartung und die Gefahr der Missbilligung sind die Folge. Andererseits kann Missbilligung genau aufgrund der Pluralisierung kompensiert werden, indem Anerkennung in einem anderen Feld gesucht und gefunden wird. Ute-Luise Fischer (2009) stellt in ihrer Auseinandersetzung mit Honneths Anerkennungstheorie fest, dass der Kampf um Anerkennung nicht – wie Honneth das postuliert – der Antrieb für soziales Handeln ist, denn aufgrund der Pluralisierung von Anerkennungsfeldern können AkteurInnen nicht mehr von vornherein wissen, wofür sie Anerkennung bekommen werden. Zudem stehen Handlungen und Anerkennung in einem Wechselverhältnis (vgl. ebd.: 47). Anerkennung ist das Ergebnis von Handlungen, die »gelungene Lösungen« (ebd.) hervorgebracht haben. Die Anerkennung für dieses Handeln gestaltet Anerkennungsverhältnisse insofern mit, als sie als Wissen neuen Handlungen zugrunde liegt und damit Erwartungen an Anerkennung für zukünftiges Handeln generiert. Somit gestaltet Anerkennung gleichzeitig Anerkennungsverhältnisse und die Anerkennungswahrscheinlichkeit zukünftiger Handlungen mit. Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass Anerkennung nicht als Ergebnis, sondern als reflexiver Prozess gelesen werden kann. Anerkennung als Machttechnik Aus den bisherigen Überlegungen ist offensichtlich geworden, wie eng Anerkennung an Normen geknüpft ist. Auch wenn sich Pluralisierungen von Normen und Anerkennungsfeldern feststellen lassen, so bleiben es in der bisherigen Lesart doch Normen, aus denen sich Anerkennung ableitet. Im Honneth’schen Sinne
7
Auch Joachim Renn kritisiert in seiner Abhandlung zu Honneths Anerkennungstheorie die ihr zugrunde liegende Annahme eines hegemonialen Normengefüges. Das Konzept sei in dieser Form nicht ohne Weiteres auf moderne, pluralisierte Gesellschaften zu übertragen (vgl. Renn 2011).
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sind Normen Wertvorstellungen, die ausgehandelt werden und an denen sich eine Gesellschaft orientiert. Der Normbegriff ist in diesem Zusammenhang gleichzusetzen mit Moralvorstellungen über ›gutes‹ Zusammenleben. Poststrukturalistische Perspektiven betonen dagegen eher den regulativen und ausschließenden Charakter von Normen. Somit können Normen als die oben beschriebene Grenze des Möglichen verstanden werden, die die theoretischen Freiheiten einschränken. Foucault (1976) sieht Normen als eine wesentliche Form von Macht. In seiner Lesart sind sie das Ergebnis von Disziplinierungen, über die sie zur Gewohnheit werden. Normen stellen über diskursives Wissen Normales und Normalitäten her. Über die Disziplinierung haben sie sich in die Körper eingeschrieben und werden von AkteurInnen oftmals unbewusst befolgt. Normen werden so zu einer Machttechnik (vgl. ebd.). Foucault siedelt Macht nicht in Institutionen, bei Souveränen oder in Machtapparaten an, er sieht Macht als ein Beziehungsgeflecht, über das Handeln »nicht direkt und unmittelbar auf andere, sondern auf deren Handeln einwirkt. Eine handelnde Einwirkung auf Handeln, auf mögliches oder tatsächliches, zukünftiges oder gegenwärtiges Handeln« (Foucault 2005: 255). Damit Macht produktiv werden kann, sind jeweils handelnde »Andere« und Handlungsfreiheit wichtige Voraussetzungen (ebd.). Macht wirkt also nicht repressiv, indem sie Handeln unterdrückt, sondern sie strukturiert das Handeln der AkteurInnen, das sie selbst gestalten und über das sie selbst entscheiden. Subjekte unterwerfen ihr Handeln der Macht. Dabei spielen Normen eine wichtige Rolle, denn Macht tritt in Gestalt von Normen auf. Dadurch ist sie als Macht nicht sofort sichtbar, sondern »verbirgt sich als Macht und wird sich als Gesellschaft geben« (Foucault 1976: 123). Normen als Machttechnik zu sehen, wirft ein vollkommen anderes Licht auf die Anerkennungsthematik. Über die enge Bindung von Anerkennung an Normen kann Anerkennung als Anerkennung der Normen selbst gelesen werden und damit als legitimierende Praxis des regulativen Charakters von Normen. AkteurInnen orientieren ihr Handeln an Normen, die sie subjektiv als anerkennungswürdig deuten. Damit stecken sie für sich den Rahmen des Vorstellbaren und »Normalen« ab. Für die jeweilige Handlung Anerkennung zu bekommen, bestärkt diesen Rahmen und wirkt dann zum einen strukturierend auf zukünftige Handlungen, zum anderen manifestierend auf geltende Normen zurück.8
8
Hier wird hier ein weiterer Aspekt relevant, der in diesem Rahmen nicht ausgeführt werden kann: die Erfahrung. Sowohl Foucault als auch Joan W. Scott haben sich mit dem Begriff der »Erfahrung« auseinandergesetzt und deutlich gemacht, wie stark
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Die Suche nach Anerkennung folgt also einer ambivalenten Logik: Sie ist einerseits notwendig für positiven Selbstbezug und gesellschaftliche Teilhabe. Andererseits kann sie dazu beitragen, Ungleichheiten und Hierarchien über die Anerkennung von Normen, auf denen diese Ungleichheiten und Hierarchien gründen, zu reproduzieren. Wie funktionieren also Anerkennung und das Bedürfnis nach Anerkennung in postmodernen Gesellschaften? Die Bedeutung von Anerkennung für positiven Selbstbezug und gesellschaftliche Integration ist unbestritten. Wie also organisieren AkteurInnen in dem komplexen Geflecht aus unterschiedlichsten Anerkennungsfeldern für sich Praktiken der Suche nach Anerkennung? Lassen sich unterschiedliche Felder identifizieren, in denen die Suche nach Anerkennung zur Überwindung von Hierarchien führt oder zu deren Verfestigung? Das Feld, in dem die Fragen der Anerkennung hier empirisch untersucht werden, ist der geschlechtshierarchische Arbeitsmarkt, genauer, die geschlechterdifferenzierende Segregation. Die einleitenden Ausführungen haben gezeigt, dass diese Segregation – auch wenn sie häufig als horizontal bezeichnet wird – durchaus eine vertikale Komponente beinhaltet. Berufe und berufliche Tätigkeiten, die männlich codiert sind, eröffnen meist bessere Verdienstmöglichkeiten und genießen mehr Prestige. Diese (geschlechter-)hierarchischen Strukturen sind nicht gesetzt, sondern Ergebnis von sozialen Interaktionen, die diese verstärken oder verändern. Sie fließen als Wissen in die Entscheidungen und Interaktionen der AkteurInnen bezüglich ihrer Berufswahl, Berufslaufbahn, der Gestaltung ihres Lebens und Erwerbslebens ein, wobei nicht ein oder das Wissen über Prestigehierarchien vorliegt, sondern jeweils subjektive Deutungen.
S CHNEIDEN IST
NICHT GLEICH
S CHNEIDEN
Um Praktiken der Suche nach Anerkennung im geschlechtshierarchischen Feld der beruflichen Arbeitsteilung untersuchen zu können, habe ich zwei Berufsgruppen gewählt, die hinsichtlich der gesellschaftlichen Anerkennung stark kontrastieren und in denen eine bemerkenswerte Geschlechterdynamik zu beobachten ist: das Frisörhandwerk und die Chirurgie.
vermeintlich subjektive Erfahrungen sozial geformt sind (Foucault 1996; Lorenz 2007; Scott 1994).
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Chirurgie Die Chirurgie ist der Teil der Medizin, der das größte Prestige genießt. Die Chirurgie ist aber genau der Bereich, zu dem Medizinerinnen noch immer schwer Zugang haben. Aufgrund drohender Nachwuchsprobleme bezieht das Werben für den Beruf mittlerweile gezielt Frauen ein. Der Berufsverband deutscher Chirurgen wirbt auf einer eigenen Internetseite für Nachwuchs und richtet sich dabei sichtbar auch an Frauen.9 Innerhalb des Berufsverbands gibt es zudem eine aktive Organisation von Chirurginnen, die die Diskussion um Frauen in der Chirurgie initiiert hat. Gerade Professionen wie die Medizin besitzen ihren Status vor allem aufgrund einer formalen Qualifikationsordnung in Form des Medizinstudiums. Seit der Zulassung von Frauen zu diesem Studium ist deren Anteil mittlerweile auf 40 % angestiegen (vgl. Hibbeler/Korzilius 2008). Frauen haben aber innerhalb der Medizin nicht die gleichen Möglichkeiten wie ihre männlichen Kollegen. In der Chirurgie liegt der Frauenanteil bei 2 %. Dagegen ist der Frauenanteil in weniger prestigeträchtigen Bereichen wie der Frauenheilkunde und Geburtshilfe deutlich höher (55 %).10 Der Prozess der professionsinternen geschlechtlichen Arbeitsteilung (vgl. Wetterer 2002) dauert an. Eine Umfrage bei Chirurginnen unterstreicht dies: Frauen übernehmen überwiegend Anamnese und zuarbeitende Tätigkeiten, während Männer überwiegend prestigeträchtige11 chirurgische Tätigkeiten ausüben (vgl. Leschber 2008). Frisörhandwerk Der Frisörberuf genießt im Gegensatz zur Chirurgie ein geringes gesellschaftliches Prestige. Aktuell ist der Frisörberuf ein Frauenberuf (der Frauenanteil betrug von 1999 bis 2009 kontinuierlich 93 %12). Der Frisörberuf hat im Laufe der Geschichte sein Geschlecht gewechselt vom Barbier zum Frisör zur Frisörin (vgl. Mai 1995; Paul-Kohlhoff 2004). Im Zusammenhang mit der zunehmenden Wichtigkeit von Schönheit hat sich auch das Berufsbild des Frisörs verändert. Kreativität hat an Bedeutung gewonnen, was den Beruf für Männer wieder attraktiver macht. Sowohl die Salons als auch die Frisörinnen und Frisöre selbst
9
http://www.chirurg-werden.de/de/chirurgie.html vom 15.05.2012.
10 Die Zahlen entstammen der Bundesärztestatistik 2008 vom 31.12.2008. 11 Leider wurden in der Veröffentlichung keine Beispiele für prestigeträchtige chirurgische Tätigkeiten genannt. 12 Quelle: IAB, Berufe im Spiegel der Statistik.
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verkörpern einen gewissen (Lebens-)Stil. Frisörinnen und Frisöre bringen sich als kreative Dienstleistende mit ihrer Persönlichkeit ein. Die AkteurInnen in diesen beiden Berufsfeldern sehen sich also sehr unterschiedlichen Anforderungen gegenüber – sowohl bezüglich der geschlechtlich codierten Tätigkeiten als auch bezüglich der Positionierungen als vergeschlechtlichtes Selbst in ihren jeweiligen Berufsfeldern.
E IN B LICK
IN VERSCHIEDENE
L EBENSWELTEN
Angesichts der oben ausgeführten Pluralisierung von Anerkennungsfeldern wäre eine Fokussierung der Analyse auf die Praktiken der Suche nach Anerkennung in dem jeweiligen Berufsfeld verkürzt. Die Dynamiken der Kompensation von Missachtung in einem Feld durch Anerkennung in einem anderen können nur herausgearbeitet werden, wenn den AkteurInnen die Möglichkeit gegeben wird, den Raum ihrer Anerkennungsfelder aufzuspannen und mögliche Anerkennungskonflikte zu beschreiben. Um Geschlechterhierarchien im Berufsfeld zu untersuchen, ist es daher notwendig, die Perspektive über das konkrete Berufsfeld hinaus auszudehnen und auch andere Lebensbereiche mit in den Blick zu nehmen. Basis der empirischen Analyse stellen daher lebensgeschichtliche Interviews mit Männern und Frauen in den jeweiligen Berufsfeldern dar. Die Analyse erfolgt mit biographischen Fallrekonstruktionen nach Gabriele Rosenthal (vgl. Rosenthal 2005; dies. 1995). »Immer Vollzeit, immer Chirurgie« – Dagmar C. »Und da denke ich als Chirurgin, das musst Du Vollzeit machen, das kannst Du nicht in Teilzeit machen. Du musst reinkommen, Du musst Übung haben, Du musst Routine kriegen und das geht nicht in Teilzeit, sage ich mal so.«
In diesen kurzen Sätzen formuliert Dagmar C. ganz klar ihre Interpretation einer Berufsnorm in der Chirurgie: Immer Vollzeit. Und für sie ist klar: Das muss so sein, das geht nicht anders. Dagmar C., 48, kommt aus einer Arbeiterfamilie. Der Vater war immer berufstätig, die Mutter Hausfrau. Sie machte gegen den Willen ihrer Eltern Abitur, hatte aber nicht den ausreichenden Notendurchschnitt für ihr Traumstudium Medizin. Nach dem Abitur zog sie schnell von zu Hause aus und absolvierte zunächst eine Krankenpflegeausbildung. Sie studierte dann doch noch Medizin, finanzierte sich das Studium selbst, indem sie nebenher noch als Kranken-
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schwester arbeitete. Während ihrer Ausbildung bekam sie drei Kinder. Mit ihrer Facharztprüfung als Chirurgin war ihr klar, dass sie Vollzeit arbeiten wollte, auch weil sie sonst in ihrem Beruf nach eigener Einschätzung keinen Fuß auf den Boden bekommen hätte. Ihr Mann übernahm die Hauptverantwortung für Haushalt und Kinder. Sie hat, abgesehen von kleinen Unterbrechungen, immer Vollzeit in der Chirurgie gearbeitet. Dagmar C. hat sich mit ihrem Lebensweg radikal von dem entfernt, was ihre Eltern für sie vorgesehen hatten. Sie erkämpfte sich gegen deren Vorstellungen einen hohen Bildungsstandard und bezeichnet sich aufgrund dieser Erfahrung als Einzelkämpferin – eine, wie sie selbst sagt, wichtige Voraussetzung für das Arbeiten in der Chirurgie. In Abgrenzung zu dem, was ihr die Mutter vorgelebt hat, ist für Dagmar C. Unabhängigkeit von großer Bedeutung. Sie definiert diese Unabhängigkeit ausschließlich als finanzielle Autonomie. Unabhängigkeit bedeutet für sie die Möglichkeit, im Zweifelsfall für sich selbst sorgen zu können. Dies verbunden mit dem hohen Stellenwert von (Erwerbs-)Arbeit, der ihr in der Ursprungsfamilie über den Vater vermittelt worden war, führt bei Dagmar C. zu einer starken Erwerbsorientierung. Aus dem Erwerbstätigsein und dem Gefühl der Unabhängigkeit zieht sie einen wichtigen Teil des positiven Selbstbezugs. Im Berufsfeld hat sie neben fachlichen Anforderungen mit Geschlechternormen zu kämpfen, gegen die sie sich einerseits auflehnt, die sie andererseits aber als ihre annimmt. Zu Letzteren gehört beispielsweise die Übernahme schwieriger PatientInnengespräche, für die man sie, die Frau, für besser geeignet hält – und auch sie stimmt dem zu. Die Anerkennung als Frau geht hier einher mit der Übernahme von weniger angesehenen Tätigkeiten innerhalb des eigenen Berufsfelds. Dagmar C. kümmert sich jedoch selbstbewusst darum, dass diese Tätigkeiten nicht die Überhand gewinnen. So kämpft sie darum, häufig genug im OPPlan zu stehen. Ebenso wie die anderen Chirurginnen, die ich interviewt habe, betont sie, wie gerne sie in einem männlichen Umfeld arbeite. Sie sehe die Vorteile im Vergleich zu dem Arbeiten als Krankenschwester, wo sie lange Jahre in einem rein weiblichen Team tätig war. Gleichzeitig – und das tun ihre Kolleginnen ebenfalls – beschreibt sie, wie schwierig es ist, in den Kreis von Männern hineinzukommen und dort eine gleiche Sprache zu sprechen. Viele arbeitsrelevante Dinge besprechen die Kollegen nach der Arbeit bei Kneipenbesuchen. Dort möchte und kann sie nicht dabei sein. Sie muss somit andere Wege finden, ihre Bedürfnisse durchzusetzen. Hier zeigt sich eine Gleichzeitigkeit von Anerkennung als »vergeschlechtlichter Anderer«, die Hierarchien erzeugt und Ausgrenzung über Geschlechternormen, die nur schwer angeeignet werden können.
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Dagmar C. ist es in ihrer Erzählung sehr wichtig, ihre Familie als intakt und glücklich zu beschreiben. Sie tut dies in Abgrenzung zu ihren männlichen Kollegen, die überwiegend geschieden sind und höchstens zwei Kinder haben, nicht drei wie sie. Es scheint für sie elementar zu sein, dass die Entscheidung für ihren beruflichen Weg keine negativen Auswirkungen auf das Leben ihrer Familie hatte. Sie genießt die Bewunderung, die ihr als Chirurgin mit drei Kindern entgegengebracht wird, die sie bisweilen jedoch mit Verwunderung wahrnimmt. Dagmar C. nimmt in der innerfamiliären Arbeitsteilung eher die Aufgaben wahr, die in traditioneller Sichtweise Vätern zugeschrieben werden: Sie arbeitet, verdient das Geld für die Familie, während ihr Mann die Betreuungsaufgaben der Kinder übernimmt. Möglicherweise schreibt Dagmar C. der Anerkennung als »gute Mutter« gerade deswegen eine wichtige Bedeutung zu. Die mütterliche Künstlerin – Viktoria F. Viktoria F., 49, hat auf dem Weg zum eigenen Frisörsalon einige Umwege gemacht. Sie kommt aus einer kleinen Stadt im Nordwesten Deutschlands. Ihr Vater wurde ein Pflegefall als sie elf Jahre war, seine Krankheit bestimmte ihre Zeit als Jugendliche. Als Älteste von drei Schwestern musste sie sehr früh Verantwortung übernehmen. Die Mutter arbeitete mit in der Bäckerei der Eltern, auch Viktoria F. war als Kind viel in der Backstube der Großeltern und bekam so – wie sie selbst sagt – schon sehr früh mit, wie es ist, ein Geschäft zu haben. Viktoria F. ging aufs Gymnasium, wurde sehr jung schwanger und bekam kurz nach dem Abitur ihre Tochter. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt starb Viktoria F.s Vater. Nach dem Abitur folgte sie dem Vater ihres Kindes in eine Großstadt, weit entfernt vom Wohnort ihrer Familie. Die Beziehung ging kurz darauf in die Brüche. Viktoria F. zog in eine Frauen-WG und begann BWL und Sinologie zu studieren. Es stellte sich relativ schnell heraus, dass sie das Studium mit dem kleinen Kind nicht durchziehen konnte, sie brach ab und verdiente ihren Lebensunterhalt mit verschiedenen Jobs. Eine schwere Hepatitis brachte sie zum Nachdenken über ihr weiteres berufliches Leben. Sie entschied sich für eine Berufsausbildung als Frisörin. Davon erhoffte sie sich, überall auf der Welt arbeiten zu können. Die Ausbildung war für Vikoria F. nicht leicht. Zum einen wird aus ihrer Erzählung deutlich, wie sie darum kämpfte, neben der Ausbildung noch ihren Ansprüchen als Mutter gerecht zu werden. Zum anderen wechselte sie mehrmals die Lehrstelle, weil sie mit den Hierarchien nicht klar kam oder es in den Salons nicht aushielt. Zu dieser Zeit – in den 1980er Jahren – hatten Frisörinnen noch ein deutlich anderes Prestige als heute. Die Stichworte, die auch Vikoria F. selbst
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sehr abwertend nennt, sind die der »Dauerwelle« und »Waschen, Schneiden, Legen«. Trotz ihres Widerstands beendete sie ihre Lehre. Bei der Prüfung war sie zwar eine der Besten, wollte sich aber nicht weiter qualifizieren. Sie sah sich selbst als kreative Frau, für die es in der damaligen Zeit im Frisörhandwerk aus ihrer Perspektive keinen Platz gab. Die folgende Passage verdeutlicht das von Viktoria F. wahrgenommene Spannungsverhältnis zwischen der Faszination an dem Beruf und dem Hadern mit der Vergeschlechtlichung darin: »Frisöre sind alles verrückte Menschen, definitiv also die, die ich spannend finde; die, die auch neue Sachen kreieren. Das sind alles wirklich viele Schwule, also nicht Schwule, aber so in diese Richtung sind das Leute, und ich finde das auch faszinierend, wenn auch Männer toll die Haare schneiden können […] also die Frauen sind nachgerückt jetzt irgendwie, die mitkreieren. Früher war es einfach so, Schwule waren die non plus ultra Frisöre in den 80ern. Ich kannte da niemanden, der als Frau gut war, oder hab das nicht so mitgekriegt, und Frauen haben eher so in den Klitschen gearbeitet in den kleinen Schischilädchen, so Waschen-Schneiden-Fönen-Läden.«
Ein geplanter Auslandsaufenthalt in einem Frisörsalon in San Francisco, den ihr ein früherer Chef unmittelbar nach Abschluss der Lehre ermöglicht hatte, scheiterte daran, dass ihre damals zehnjährige Tochter sich weigerte mitzukommen. Für Viktoria F. stand nicht zur Debatte, ihr Kind zu dem Umzug zu zwingen, um ihren eigenen Traum zu verwirklichen. Das hätte ihrer Vorstellung vom Muttersein widersprochen. In den folgenden fast 20 Jahren jobbte sie in verschiedenen Bereichen. Die Idee, sich als Frisörin selbstständig zu machen, war dabei immer in ihrem Kopf. Als sie sich Ende der 90er Jahre selbstständig machen wollte, stellte sie den Plan zurück, weil sie ein zweites Kind bekam und sich dafür Zeit nehmen wollte. Der Traum von einem Leben in einer intakten Kleinfamilie scheiterte, als sie sich von dem Vater des zweiten Kindes trennte. Nach einer Krise, in die Viktoria F. nach der Trennung stürzte, konzentrierte sie sich auf ihre berufliche Entwicklung. Im Gegensatz zu Dagmar C. hatte sie lange Zeit dem Beruf keinen zentralen Stellenwert gegeben. Der positive Selbstbezug über die Erwerbsarbeit gewann erst dann an Bedeutung, als sie aufhörte, an eine Kleinfamilie zu glauben. Obwohl ihr Sohn zu diesem Zeitpunkt mit neun Jahren noch betreuungsbedürftig war, fasste sie diesmal den Entschluss, sich selbstständig zu machen. Als das Projekt, ein Tangohostel zu eröffnen, an zu hohen Mietkosten scheiterte, machte sie sich letztlich als Frisörin selbstständig. Die Fokussierung auf ihre berufliche Entwicklung passte gut zusammen mit dem Wandel des Berufsbilds. Mittlerweile wurden auch Frauen kreative und modische Haarschnitte zugetraut, was ihrem Selbstbild einer kreativen Frau ent-
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sprach. Die Erzählung über ihre Tätigkeit als Frisörin zeigt, wie zufrieden sie mit der Entscheidung ist. Dabei betont sie immer wieder, dass ihr diese Form der Berufstätigkeit die Möglichkeit gibt, ihren Teil der Erziehungsarbeit für ihren Sohn zu übernehmen, da sie sich die Zeit relativ gut einteilen kann. Sie beschreibt sich selbst in dem Salon als handwerklich gute Frisörin, die von ihren KundInnen entsprechende Rückmeldungen bekommt. Ihre Persönlichkeit, ihre Rolle als Unterhalterin in dem Salon und als Ratgeberin für alle Lebenslagen erachtet sie als wichtig für ihren Erfolg. Sie möchte gerne die lebenserfahrene Freundin für Jüngere sein und mit ihrer Arbeit Menschen glücklich machen.
A NERKENNUNGSPRAKTIKEN Zunächst zeigt sich in beiden Fällen, dass die Ursprungsfamilie als Vermittlerin eines ersten Normengefüges von nachhaltiger Bedeutung ist. Dabei legen die beiden Fallrekonstruktionen nahe, dass der Umgang mit dem in der Ursprungsfamilie vermittelten Normenwissen – und nicht nur das vermittelte Normenwissen selbst – einen wichtigen Bezugsrahmen für die spätere Gestaltung des Lebenswegs und der beruflichen Laufbahn darstellt. Die sehr unterschiedliche Art und Weise, wie dieses Normenwissen subjektiv interpretiert, angeeignet oder verworfen wird, strukturiert im Übergang von der Ursprungsfamilie zur Eigenständigkeit die wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten der Interviewten als die, die sie in den jeweiligen Feldern sein wollen. Für Dagmar C. ist der Wunsch, es anders zu machen als ihre Mutter, eine wichtige Triebkraft für ihren Lebensweg. Hätte sie sich dem Normengefüge ihrer Eltern unterworfen und damit die Anerkennung ihrer Eltern angestrebt, wäre sie nie zu dem prestigeträchtigen Beruf gekommen, den sie nun ausübt. Wäre zum Zeitpunkt des Übertritts aufs Gymnasium oder zum Zeitpunkt des Studienbeginns für Dagmar C. die Anerkennung ihrer Eltern als ›gute‹ Tochter wichtiger gewesen als die eigene schulische Entwicklung, hätten sich sowohl Geschlechterhierarchien als auch Hierarchien der beruflichen Arbeitsteilung sicherlich verfestigt. Allerdings richtete sich die Suche nach Anerkennung von Dagmar C. bald nicht mehr an die Eltern. Sie suchte andere Kreise, in denen sie ihre zu dem Zeitpunkt vorherrschenden Vorstellungen vom Leben teilen konnte und damit Anerkennung fand. In Viktoria F.s Erzählung finden sich wenig explizite Hinweise auf ein Normenwissen aus der Ursprungsfamilie, dem sie selbst für ihren späteren Weg Bedeutung beimisst. Aus der Rekonstruktion lassen sich jedoch Bezüge herausar-
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beiten: Die lange Krankheit und der frühe Tod des Vaters haben sie stark geprägt. Sie als Älteste musste früh Verantwortung übernehmen. Sie beschreibt die Enge und Schwere ihrer Jugend und das daraus resultierende Bedürfnis nach Freiheit und Lebensfreude, das bis heute anhält und ihr das Leben und Arbeiten in fest vorgegebenen Strukturen erschwert. Viktoria F. lernte in ihrer Ursprungsfamilie zum einen, dass Frauen durchaus ohne männliches Familienoberhaupt die Familie organisieren zu können. Zum anderen übernahm sie ein klassisch weibliches Selbstverständnis der Fürsorge für andere. Über die Erfahrungen, die sie als Kind und Jugendliche in der Bäckerei ihrer Großeltern gemacht hat, stellte für sie Selbstständigkeit keine angstbesetzte Erwerbsform dar. Aus den Erzählungen der beiden Frauen lassen sich drei Felder herausarbeiten, die für die hier gestellte Frage nach Anerkennung und Hierarchie relevant sind. Erwerbsorientierung Einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Erzählungen stellt die jeweilige Erwerbsorientierung dar. Dagmar C. hat zwar mit vielen Normen ihrer Ursprungsfamilie gebrochen, die hohe Erwerbsorientierung jedoch hat sie übernommen und für sich als Frau angeeignet. In ihrer Erzählung wird sehr deutlich, wie wichtig für sie die Berufstätigkeit ist – und zwar in Vollzeit. Nur über diese klare Entscheidung für Erwerbstätigkeit konnte sie das arbeitsintensive Studium mit Kindern und ihre studienbegleitende Tätigkeit als Krankenschwester überhaupt durchstehen. Die Chirurgie verlangt ohnehin eine klare Entscheidung für den Beruf. Für Viktoria F. ist das Berufsleben zunächst nicht von so großer Bedeutung. Sie beschreibt, wie sehr sie es genießt, nicht zu arbeiten. Erst als die Kleinfamilie scheitert, konzentriert sie sich stärker auf ihre Erwerbssituation. Sie kompensiert das Fehlen einer intakten Familie in ihrem Leben mit der Suche nach Anerkennung über Erfolg in einem eigenen beruflichen Projekt. Ihre Erzählung zeigt deutlich, wie viel Anerkennung und positiven Selbstbezug sie aus ihrer Tätigkeit zieht. Dieser positive Selbstbezug aus ihrer Arbeit als Frisörin wird jedoch erst möglich, als sich das gesellschaftliche Bild von Frisörinnen verändert hat und sich stärker mit Kreativität verbinden lässt. Anders als bei Dagmar C., die sich der Berufsnorm anpasst, entscheidet sich Viktoria F. erst wirklich für den Beruf, als sie ihn mit ihrem Selbstbild zusammenbringen kann. Des Weiteren spielt die Anerkennung als Person, die unterhalten und Lebenstipps geben kann, für Viktoria F. eine wichtige Rolle im Erwerbsleben. Hier kombiniert sich Handwerk mit dem Konzept der personenbezogenen Dienstleistungen, bei denen Geschlechter-
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zuschreibungen und Heteronormativität eine wichtige Rolle spielen (vgl. McDowell 1999). Diese Anerkennung als Person, Frau, mütterliche Freundin entspräche – obwohl sie außerhalb der Familie stattfindet – in Honneths Konzept eher der Anerkennungsform der Liebe. Geschlechterordnungen im Beruf Beide Frauen thematisieren Geschlechterverhältnisse im Beruf, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise. Über ihre Sonderrolle als Frau in der Chirurgie und ihre eigene Auseinandersetzung mit der Rolle ihrer Mutter stellen für Dagmar C. Geschlechterverhältnisse im Beruf ein wichtiges Thema dar. Gerade in ihrem Berufsfeld, in dem sich die Geschlechterverhältnisse ändern, ergeben sich jedoch keine eindeutigen Strategien im Umgang damit. Das Gefühl des Andersseins und des »zur Anderen«-gemacht-Werdens existiert parallel mit dem Streben nach Passfähigkeit in die männliche Welt und der Einschätzung, lieber mit Männern zu arbeiten als im »Zickenkrieg«, den sie aus ihrer Zeit als Krankenschwester kennt. Damit grenzt sie sich von einem bestimmten Frauenbild ab. Sie befindet sich in einem Aushandlungsprozess, der sie immer wieder zu einer Positionierung in einem widersprüchlichen Feld fordert. Für Viktoria F. war es lange Zeit wichtig, sich vom vergeschlechtlichten, negativen Bild der Frisörin, das gesellschaftlich vorherrschte und das sie in ihrer Ausbildung selbst erlebt hatte, ebenso abzugrenzen wie von dem Bild des exzentrischen, schwulen Frisörs. Erst als sich die Verbindung des Frisörberufs mit Kreativität immer mehr durchsetzte und damit das Kreative, anders als in den 1980er Jahren, nicht mehr ausschließlich mit schwulen Männern in Verbindung gebracht wurde, konkretisierte sie ihre Pläne und eröffnete einen eigenen Salon. Für Viktoria F. war es eine Voraussetzung, dass ihre Vorstellung von Weiblichkeit und Kreativität im Beruf gesellschaftlich anerkannt und lebbar werden. Familienaufgaben Ein weiteres zentrales Themenfeld, das beide ansprechen, ist die Familie. Auch wenn oder vielleicht gerade weil sich Dagmar C. für den Beruf entschieden hat, ist es für sie wichtig, ihre Familie als intakt darzustellen. Sie tut dies in Abgrenzung zu ihren Kollegen, die zum einen in der Mehrheit geschieden sind und wenn überhaupt, dann weniger Kinder haben als sie. Sie weist die Zuschreibung der »Rabenmutter«, der sie durchaus ausgesetzt war, deutlich zurück. Auch in Viktoria F.s Erzählung gibt es zahlreiche Stellen, an denen sie die Fürsorge für ihre Kinder hervorhebt und darstellt, wie sie die Vereinbarkeit von Erziehungs-
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aufgaben und Beruf gemeistert hat. Viktoria F. wird mit dem Bild konfrontiert, als alleinerziehende Mutter defizitär zu sein. Dagegen wehrt sie sich, indem sie bei der Schilderung ihrer beruflichen Entwicklung stets die Verantwortung für und die Sorge um das Wohlergehen ihrer Kinder mit einbezieht.
S CHLUSSFOLGERUNGEN Die empirischen Analysen deuten auf eine hohe Komplexität von Anerkennungspraktiken hin. Zum einen lassen sich Kompensationsstrategien bei der Suche nach Anerkennung herauslesen. Das unterstützt die Zweifel an der Existenz eines eindeutig bestimmbaren Kampfes um Anerkennung in postmodernen Gesellschaften. Die Pluralisierung von wahrgenommenen Anerkennungsfeldern ist das Resultat – wie Gabriele Wagner (2004) ausführt – der Pluralisierung von Lebensformen. Sie ergibt sich damit zusammenhängend auch darüber, wie AkteurInnen ihr Normenwissen generieren. Wie die Analysen zeigen, sind es nicht nur familial vermittelte Normengefüge selbst, die den ersten Orientierungsrahmen bilden, sondern deren subjektive Deutung und Weiterentwicklung durch die AkteurInnen. Somit lassen sich gesellschaftlich geltende Normen – wie sie in Honneths Anerkennungskonzept vorausgesetzt werden – für Anerkennungspraktiken nicht rekonstruieren. Vielmehr basieren Anerkennungspraktiken auf Deutungen, die sich im Lebensverlauf – auch aufgrund von Anerkennungs- und Missachtungs-Erfahrungen – verändern können. Erwerbsarbeit und Familie stellen nach wie vor zwei wichtige Bereiche des positiven Selbstbezuges dar. Innerhalb dieser Felder wird verhandelt, was dort als ›normal‹ und vorstellbar gedeutet werden kann. Auch wenn Anerkennungspraktiken vielschichtig sind, so zeigte sich doch eine Beharrlichkeit der Suche nach Anerkennung als ›gute Mutter‹. Diese Form der Anerkennung scheint zumindest in weiblichen Selbstentwürfen nach wie vor einen wichtigen Moment positiven Selbstbezugs darzustellen. Zwar wird die Norm der ›guten Mutter‹ subjektiv unterschiedlich gedeutet, sie markiert jedoch innerhalb der jeweiligen Deutungsmuster einen wichtigen Handlungsrahmen. Dies verweist auf die Machtförmigkeit dieser Norm im Foucault’schen Sinne. Das Scheitern als Mutter – sowohl im eigenen Ansehen als auch in den Augen verallgemeinerter Anderer – würde in beiden Fällen einen wesentlichen Bestandteil des jeweiligen Selbst zerstören, sodass die Suche nach Anerkennung als ›gute Mutter‹ das Handeln strukturiert. Hier wird deutlich, dass die Pluralisierung von Lebensformen zwar die Möglichkeit eröffnet, verschiedene Praktiken der ›guten Mutter‹ zu leben. Die Anerkennung als solche bleibt dabei aber von wichtiger Bedeutung.
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Neben der ökonomischen Notwendigkeit von Erwerbsarbeit wird sie auch über Anerkennung zu einem wichtigen Bestandteil positiven Selbstbezugs. Dies geschieht auf vielfältige Art und Weise. Anerkennung im Erwerbsleben beinhaltet oftmals, die in den jeweiligen Berufsfeldern geltenden Hierarchien ebenfalls anzuerkennen und sich in diese einzufügen. Damit finden über Anerkennungsprozesse Reproduktionen der jeweils geltenden Hierarchien statt. Gleichzeitig zeigt sich über diesen Mechanismus, wie sich über Anerkennung subjektive Deutungen dessen, was innerhalb des Erwerbslebens und des jeweiligen Berufsfelds als anerkennungswürdig interpretiert wird, verändern. Anerkennungsprozesse strukturieren damit Deutungsmuster, die wiederum Grundlage für Anerkennung werden. Die Ergebnisse der hier vorgestellten empirischen Analyse deuten darauf hin, dass Anerkennungspraktiken ein komplexes Geflecht aus subjektiven sich teilweise widersprechenden Deutungen und gesellschaftlichen Erwartungen zugrunde liegt. An welchen Stellen Anerkennung zur Überwindung von Ungleichheit beiträgt und wann sie Hierarchien reproduziert, muss also aus den Kontexten heraus mit einem differenzierten Blick ermittelt werden. Dies gilt vor allem dann, wenn Geschlechterverhältnisse systematisch in die Analysen einbezogen werden. Die Vorstellung eines Kampfes um Anerkennung, mit dem gesellschaftliche Ungleichheit überwunden werden kann, erscheint damit etwas fragwürdig.
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Zeitautonomie und Kontrollverlust Belastende Arbeit, erschöpfte Subjekte? L AURA H ANEMANN , Y ANNICK K ALFF 1 »Heutzutage arbeitet der Werktätige sein Leben lang unter gleichen Bedingungen, und sein Schicksal ist genauso absurd. Tragisch ist es aber nur in den wenigen Augenblicken, in denen der Arbeiter bewußt wird.« ALBERT CAMUS/DER MYTHOS VON SISYPHOS
A RBEIT UND E RSCHÖPFUNG : E INE ZEITGENÖSSISCHE D IAGNOSE Das Burnout-Syndrom, depressive Erkrankungen und akute Bedrohungen der Psyche scheinen momentan allgegenwärtig zu sein und erfahren in letzter Zeit große mediale Öffentlichkeit. Mit dem gesundheitsbedingten Rücktritt des Fußballtrainers Ralf Rangnick im September 2011 und der Zunahme von BurnoutErscheinungen bei Professoren – von der in der Wissensbeilage der »Zeit« vom 04. November 2011 zu lesen war – seien nur zwei Beispiele herausgegriffen. Die Beiträge verweisen darauf, dass die gesellschaftliche Thematisierung psychischer Erkrankungen zunimmt, dahingehend dass die Frage nach dem Zusammenhang von Arbeit bzw. Arbeitsbelastung und Erschöpfung gestellt wird. Ralf Rangnicks Rücktritt wurde beispielsweise begründet mit der Erschöpfung durch
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Wir möchten uns bei allen Beteiligten für die rege Diskussion und die wertvollen Hinweise und Anmerkungen recht herzlich bedanken – auch bei allen, mit denen wir uns am Rande der Tagung in interessanten Diskussionen intensiv austauschen konnten.
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den Druck der Leistungsgesellschaft. In der Breite des medialen Echos sind aber gleichzeitig Stimmen zu hören, die vor einer zu undifferenzierten Allgemeindiagnose ›Burnout‹ warnen. Für eine sich an diesem gesellschaftlichen Phänomen orientierende sozialwissenschaftliche Analyse ist besondere Vorsicht geboten, da das Burnout-Syndrom bisher als keine medizinisch klar abgrenzbare Gesundheitsstörung definiert und anerkannt ist.2 In einem besonderen Maße gilt es daher zu abstrahieren, inwiefern man von »Burnout« und »Depression« zu reden hat oder inwieweit man die gesellschaftliche Rede über dieses Symptom einzufangen versucht. Im Rahmen dieses Artikels soll der Ansatz verfolgt werden, die gestiegene Aufmerksamkeit für diese Krankheitsbilder selbst als soziologisch zu interpretierende Hinweise auf sich verändernde Realitäten anzusehen. Die gesellschaftliche Diagnostik kann als Indikator für eine veränderte Sensibilität für Arbeits- und Lebensbelastung herangezogen werden und dient uns somit als Heuristik für eine sich verändernde Bedeutung psychischer Gesundheit. Für eine konkretere soziologische Verortung unserer eigenen analytischen Perspektive, im Gegenzug zu einer durch den Diskurs produzierten Dynamik des Krankheitsbildes, gilt es diese Gratwanderung als eigentliche Forschungsperspektive zu reflektieren und sparsam mit psychologischen oder medizinischen Diagnosen zu sein. Wir fragen uns deshalb, wie der intensivere Diskurs über Depression und Burnout und die vermutete Veränderung in der sozialen Bedeutung des Leidens selbst soziologisch eingefangen werden können. Wie ist das Verhältnis von Krankheit und Arbeit bzw. den Lebensbedingungen heute zu bestimmen? Wie ist mit der Auffälligkeit umzugehen, dass Arbeit oder Arbeitsbedingungen – subjektiv wie diagnostisch – immer häufiger als erschöpfend oder krankmachend gedeutet werden? Was heißt es, wenn sich die Arbeit immer mehr in diesen angesprochenen Krankheitsbildern (re-)präsentiert, die einen direkten Bezug zur Erwerbsgesellschaft herstellen und als negative Abgrenzung die ›Schattenseite‹ der Arbeit skizzieren? Wie wir im Folgenden darstellen, ist es zu einem großen Teil die Organisation der Zeit, die für uns das Spezifische der strukturellen Veränderungen von Arbeit ausmacht, welche scheinbar Besorgnis wecken und Leiden hervorrufen können. Ausgehend von diesen Überlegungen werden wir im weiteren Beitrag vier Thesen zum Zusammenhang von Zeitlichkeit und neuen Ar-
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Depression wird von der ICD zur Gruppe affektiver Störungen gezählt, die sich insbesondere durch Stimmungsschwankungen und ein sich änderndes Aktivitätsniveau auszeichnet. Burnout hingegen ist kaum näher bestimmt als ein Zustand der »totalen Erschöpfung« und des »Ausgebranntseins«, und wird in der Gruppe »Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung« (DIMDI 2012) verortet.
Z EITAUTONOMIE
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beitsformen darlegen und ihren Bezug zum Arbeitsbild in soziopathologischen Diskussionen erörtern. Jene Bilder von Arbeit, die in einem Krankheitsdiskurs tragend zur Schau gestellt werden, erfassen unser Bewusstsein und unsere Alltagshandlungen und wirken wieder auf das Bild von Arbeit zurück. Es taucht dabei ein Zusammenhang immer wieder auf: Viele Arbeitsverhältnisse weisen offensichtlich mehr strukturellen Zwang auf, als die sie begleitende ›Freiheitssemantik‹ von subjektivierter und autonomer Arbeit zu erfüllen vermag. Wendet sich die Arbeit, ganz im Sinne des Freud’schen »Unbehagen in der Kultur« (Freud 2009), nun also wieder radikal gegen uns und vereinnahmt uns voll, wird uns gar im Sinne Dirk Baeckers »gefährlich« (2007: 56)? Ulrich Bröckling hat Das unternehmerische Selbst als neues Leitbild und neue Subjektivierungsweise analysiert (vgl. 2007), Hans Pongratz und G. Günter Voß sprechen in diesem Kontext vom »Arbeitskraftunternehmer« (vgl. 1998) und beschreiben damit stark marktförmig ausgestaltete Arbeitsbeziehungen und eine »neue Qualität eigenverantwortliche[r] Strukturierungsleistungen [Herv. i.O.]« (Pongratz/Voß 2003: 9), bei der es zu einer systematisch erweiterten Selbstkontrolle der Arbeitenden kommt. Eigenverantwortung, Selbstorganisation und der erweiterte Zugriff auf die viel beschworenen »Soft Skills« der Arbeitenden werden hierbei als neue Formen der Selbstausbeutung und -steuerung unter dem Stichwort der »Subjektivierung« (Kleemann/Voß 2010) diskutiert, aber auch als ein weiterer Schritt in Richtung humanisierter Arbeit begriffen. Die Resultate bleiben strikt ambivalent: In dieser vielschichtigen Dynamik wird es unumgänglich, seine eigenen Potenziale einzubringen und zu entfalten, sich selbst der Arbeit zu verschreiben, die kein anderes Äußerliches mehr ist, sondern Teil der eigenen individuellen Identifikation wird – mit aller Last und Lust die damit verbunden scheint. Im Schlaglicht dieser arbeitssoziologischen Rahmung scheinen Depression und das Burnout-Syndrom als Reaktion und Folge von Arbeitsanforderungen aufzutauchen, denen der Einzelne genügen will, aber nicht gerecht werden kann.
E IN NEUES S PRECHEN ÜBER DIE K RANKHEIT DER A UTONOMIE : DIE Ü BERFORDERUNG DURCH F LEXIBILITÄT UND G ESCHWINDIGKEIT Auch der französische Soziologe Alain Ehrenberg untersucht die Doppeldeutigkeit von autonomer Selbstverwaltung und strenger Selbstverantwortung. Der von ihm gewählte Zugang erscheint an dieser Stelle gewinnbringend, um die geforderte analytisch und soziologisch präzise Forschungshaltung einzulösen. Er be-
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schreibt in Das Unbehagen in der Gesellschaft, wie Subjektivität und psychisches Leiden innerhalb der Gesellschaft und den Sozialwissenschaften eine bedeutende Rolle eingenommen haben. Laut Ehrenberg ist die seelische Gesundheit dabei zur zeitgenössischen Sprache geworden, »die ein Sprechen und Handeln angesichts der Probleme, Dilemmata und Konflikte ermöglicht, die von der Autonomie hervorgerufen werden« (Ehrenberg 2011: 23). Damit erfährt soziales Leiden erstens eine Aufwertung und wird zu einem zentralen gesellschaftlichen Wert. Zweitens nimmt die seelische Gesundheit als Erzählung die Debatte um die Subjektivierung in sich auf und verleiht, so Ehrenbergs Analyse, der gesellschaftlichen Sorge um die Verwirklichung des Ideals der Autonomie Ausdruck. Drittens werden damit Depression und Burnout als Reaktion auf die Anforderungen eigenverantwortlicher Selbstverwirklichung und als Pathologie der Verantwortung interpretiert, bei der das Individuum unter der Norm leidet, die es dazu verpflichtet, es selbst zu werden (vgl. ebd.: 17). In dieser Lesart wird Depression als eine Erschöpfung oder »Krankheit der Verantwortlichkeit« (Ehrenberg 2008: 15) in einer Gesellschaft konnotiert, »deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative« (ebd.: 20). Aufschlussreich ist hierbei, dass den depressiv Erkrankten die Spannung zwischen dem Möglichen und Unmöglichen zerreißt und er daran ermüdet, authentisch er selbst zu werden. Seit den 80er Jahren tritt die Depression in einer Symptomatik auf, bei der die Hemmung, die Verlangsamung, die Störung der Handlungen augenscheinlich werden. Depression zeigt sich als eine Krankheit, die uns anhält; mit der Konsequenz, dass der Depressive von einer Zeit ohne Zukunft erfasst ist (vgl. Ehrenberg 2011: 304). Hartmut Rosa erklärt diesen Zustand mit dem Verzicht auf langfristige, kontextübergreifende Lebensziele, bei dem das Selbst im biographischen Vollzug die Richtung seines Lebens verliert und dieses narrativ nicht mehr als Entwicklungsgeschichte rekonstruieren kann. »Das Leben bewegt sich nirgendwo hin, es tritt letztendlich mit hohem (Veränderungs-) Tempo auf der Stelle [Herv. entf.]« (Rosa 2005: 384). Für Rosa stellt der Prozess der Modernisierung vor allem eine strukturelle und kulturelle Transformation der Temporalstrukturen dar, die sich durch eine Beschleunigung des Wandels kennzeichnen lassen. Fruchtbar an diesem Ansatz ist die theoretische Herangehensweise, Zeit als eine Schlüsselkategorie der soziologischen Analyse zu begreifen. Denn Zeitstrukturen und –horizonte verbinden die Akteurs- und Systemperspektiven, über sie kann sowohl die Transformation von subjektiven Handlungslogiken und Selbstverhältnissen untersucht sowie der ›objektive‹ Wandel der Sozialstrukturen beleuchtet werden. Die Beschleunigung des Lebenstempos geht laut Rosa mit einer Erlebnisverdichtung und einer Veränderung der Zeiterfahrung des Alltagslebens einher. Folgen
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sind permanente Erreichbarkeit und die damit verbundenen Unterbrechungen der Arbeitsabläufe, die durch Flexibilisierung, De-Institutionalisierung von Praktiken und Informationsüberfluss entstehen. Damit steigt der Bedarf nach Koordination und Synchronisation der Handlungen jedoch stetig (vgl. ebd.). Für uns ist an dieser Stelle entscheidend, dass die Entlastungsdimension, die kollektive Rhythmen und Zeitstrukturen haben, dadurch immer mehr abnimmt. In der Debatte um die Zunahme von Depression, subjektiv erlebtem Stress oder dem Burnout-Syndrom muss also auch nach einem sich verändernden Erleben von Zeitlichkeit gefragt werden. In den Disziplinen übergreifenden Erklärungsmustern arbeitsbedingter Belastungen – mit Rückgriff auf Psychologie, Erziehungswissenschaften und Psychoanalyse – scheint in unseren Augen vor allem die Zunahme von Kritik bedeutsam, die die Makrologik ›sozialer Beschleunigung‹ mit Arbeitsverhältnissen und Krankheit als subjektive Verarbeitungsund Umgangsformen verknüpft: »Wir erleben, erleiden und erdulden eine Beschleunigung und Verdichtung in den Alltagswelten, die zu den Grundgefühlen beitragen, getrieben zu sein, nichts auslassen zu dürfen, immer auf dem Sprung sein zu müssen, keine Zeit zu vergeuden und Umwege als Ressourcenvergeudung zu betrachten. Verkürzte Schulzeiten, Verschulung des Studiums, um den jung-dynamischen ›Arbeitskraftunternehmer‹ möglichst schnell in die Berufswelt zu transportieren« (Keupp 2010: 46).
In der Debatte richtet sich die Kritik auf den Wandel der Arbeitsbedingungen, der sich in Kurzlebigkeit, hohem Veränderungsdruck und stetigen Umbauprozessen in Unternehmen und der gesamten Arbeitswelt zeigt und der es dem Einzelnen erschwert, sich zu orientieren. Das Problem ist selbstverständlich vielschichtig: Neben der Transformation der Zeitstrukturen haben ebenso sich wandelnde Anerkennungsprozesse, Wertschätzungsmechanismen und Reziprozität einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Legitimationsstrukturen von Leistung und Arbeit, stellt doch Letztere nach wie vor eine wesentliche Dimension sozialer Anerkennung dar. Daneben scheint uns in der aktuellen Thematisierung von Arbeitsverhältnissen die »Dynamisierung der Zeit« (Nowotny 1993) relevant zu sein: »Zeitgewinn wird zu einer Überlebensstrategie im Konkurrenzkampf der globalen Märkte, aber auch der individuellen Selbstbehauptung auf dem Arbeits- und Bildungsmarkt, in den Institutionen, in der Lebensführung« (King/Gerisch 2009b: 8). Es wird ein scheinbar atemlos durch das ökonomische Diktat der Zeit getriebener Mensch beschrieben, und in diesem Kontext werden die Verbreitung
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von Depression und Burnout auf die »Überforderung durch Flexibilität und Geschwindigkeit« (ebd.: 9) zurückgeführt. Somit können zwei Ergebnisse festgehalten werden: Folgt man der Argumentation Ehrenbergs, wird die Zunahme von Depressionserkrankungen in den Kontext von Überforderungen durch Subjektivierungsanforderungen gestellt, denen der Einzelne genügen will, aber nicht gerecht werden kann. Getragen werde diese Debatte, so Ehrenberg, von einem Unbehagen über die – gefühlte – Abnahme gesellschaftlicher Bindungen, infolge dessen der Einzelne regelrecht auf sich selbst und seine Subjektivität zurückgeworfen wird. Die seelische Gesundheit – und damit Depression und Burnout – ist dabei zur Ausdrucksform von Leiden einer an Autonomie orientierten Gesellschaft geworden (vgl. Ehrenberg 2008: 23). Rosa beschreibt in zeitdiagnostischer Absicht Mechanismen, welche dem Transformationsprozess inhärent sind und sich auf die Prinzipien der Moderne berufen, diese aber gleichzeitig verändern. Die Logik der sozialen Beschleunigung ist tief in den Prinzipien der Rationalisierung, Individualisierung, Domestizierung und Differenzierung eingeschrieben und bewirkt eine zeitliche Beschleunigung, welche immer mehr aus den Fugen geraten erscheint (vgl. Rosa 2005: 89ff.). Im Kontext unserer Überlegungen sind diese Analysen vor allem unter dem Aspekt des Autonomieanspruchs der Moderne zu betrachten: Beide Autoren betrachten einen spezifischen problembehafteten Mechanismus, der als Bedrohung der eigentlichen Zusage der Moderne begriffen werden kann: das Versprechen des ›Selbst‹.
V IER T HESEN
ZU NEUER SELBSTSTÄNDIGER
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Vor diesem Hintergrund möchten wir am Beispiel von Projektarbeit und der Arbeit von Solo-Selbstständigen im Folgenden vier Thesen zu der Verbindung von Arbeitsstrukturen und -bedingungen und der Dimension einer neuen Zeitlichkeit zur Diskussion stellen.3 Wir begreifen einerseits diese Formen als emergierende Prototypen einer sich ändernden Erwerbsgesellschaft, auf welche neue Arbeitsund Steuerungsformen in zugespitzter Weise zutreffen (vgl. Pongratz/Voß 2003). Andererseits sehen wir die Organisationsform der Projektarbeit und veränderte Formen der Selbstständigkeit als Vorreiter oder plastische Darstellung
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Im Rahmen des Promotionskollegs »Zeitstrukturen des Sozialen« beschäftigt sich Laura Hanemann in einer qualitativ angelegten Studie mit den Zeit- und Lebensverläufen älterer Solo-Selbstständiger. Yannick Kalff interpretiert die Erzeugung von Zeitstrukturen in Projektarbeit und Projektorganisation.
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neuer Arbeitsformen indirekter Steuerung, welche vor allem durch ein Zeitdiktat wirkungsmächtig ist. Die Dimension der Zeit ist in beiden Arbeitsformen relevant, oder mit Sergio Bologna gesprochen: »Man könnte die Behauptung aufstellen, der grundlegende Unterschied zwischen Lohnarbeit und selbstständiger Arbeit liege in der Organisation der Zeit« (Bologna 2006: 18). In den eigenen Untersuchungen zu Solo-Selbstständigen werden sowohl erweiterte Handlungsfreiheiten konstatiert, die sich teilweise im Aufbau eigener Arbeitskraft und Zeitökonomie zeigen, als auch ein verstärkter Wettbewerbsdruck und gesteigertes arbeitsinhaltliches Engagement. Die Dimension der Zeit scheint dabei eine Doppelbegründung einzunehmen: sowohl Freiräume schaffend als auch sie ins Gegenteil verkehrend. An dieser Stelle beschränken wir uns jedoch auf Kontrollverluste einer Zeitautonomie, die durch neue und vordergründig flexibilisierte Arbeitsverhältnisse und Rahmungen entstehen. Damit nehmen wir sowohl Bezug auf den Diskurs um beschleunigte und krankmachende Arbeitsprozesse als auch auf ein spezifisches Zeiterleben. (An-)Ordnung von Zeit Selbstorganisierte, autonome Arbeit wie beispielsweise Projektarbeit ist gekennzeichnet durch einen spezifischen Charakter der (An-)Ordnung von Zeit, welche ein steuerndes Moment darstellt. Dieser Steuerungsmechanismus ist wirkmächtig und kann mit Foucault als Dispositiv betrachtet werden,4 welches die relationalen Beziehungen der Akteure koordiniert, kontrolliert und diszipliniert. Es wird alles unter ein »latentes Diktat« der Zeit gesetzt, welches schon Luhmann treffend beschrieb, als »die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten« (Luhmann 1971). Zeit zeigt sich hier als Steuerungselement eines neuen Herrschaftsmodus. »Die moderne Gesellschaft steuert sich über Fristen, Termine und Deadlines. ›Zeit‹ erscheint dabei aber nicht als ein soziales Konstrukt, sondern als eine simple Natursache: Sie ist da, und sie ist knapp« (Rosa 2009: 44, Hervorhebung im Original). Die im Begriff ›Dispositiv‹ enthaltene Bedeutungsebene der Strategie erfasst diesen Umstand treffend und beschreibt den planerischen und ordnenden Aspekt des Projektmanagements. Interpretiert man Projektarbeit als Kernbeschäftigungsmechanismus der ›neuen‹ Erwerbskultur –
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Als »Dispositiv« fasst Foucault einen sehr weiten Begriff, der erstens verschiedenartige Elemente sprachlicher, sozialer, materieller Natur usw. umfasst, zweitens die Beziehung zwischen den einzelnen Elementen charakterisiert und drittens eine historisch-situative Gegebenheit darstellt, auf welche es versucht zu reagieren: »einen Notstand (urgence)« (vgl. Foucault 1978: 119f.).
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und eine Vielzahl an sozialwissenschaftlichen Publikationen lassen diesen Schluss zu –,5 springt vor allem der Modus selbstverwalteter und selbstorganisierter Arbeit ins Auge. Entsprechend einer Anleitung zur Selbstanleitung ist das Projektmanagement ein Steuerungsmechanismus, der durch die Planung und Organisation der eigenen wie fremden Arbeitskraft Bedarfe erzeugt, sichtbar macht und zurechnet. Die Übersetzungen von Zielen, die an ein Projekt herangetragen werden, in konkrete Schritte zur Erfüllung produzieren einen Pfad, den das Projekt durchläuft – und mit ihm eben auch die Angestellten. Wichtigster Orientierungsanker ist die zeitliche Dimension, die scheinbar ›objektiv‹ durch den Terminplaner immer wieder ins Bewusstsein gerufen wird und deren Knappheit ein latenter Druck und immanenter Zwang zur ökonomischen Arbeitsgestaltung ist. Der kontrollierende Blick des Vorarbeiters weicht dem selbstkritischen Blick auf die Uhr, auf das Datum und das persönliche Unbehagen, dass es »knapp werden könnte«. Letztlich ist das Projektmanagement selbst ein Mechanismus, der stark verschleiernd Kontrollmechanismen anbringt, um die Arbeit zu ›bewerten‹ und dies in einem durch und durch nach DIN-Norm standardisierten Verfahren. Der Plan als (An-)Ordnung von Zeit ist Struktur und Kontrolle zugleich, indem er immer wieder Notwendigkeit und Faktizität vor Augen führt – der Druck aber ein rein individueller bleibt, der zwar das Team ergreift, aber auf den/die Einzelne/n durchschlägt. Der Plan, für alle sichtbar, ist dabei das ›schwarze Brett‹, das den Verzug, den einzelnen Schritt genau sichtbar macht und zuschreibt. Arbeit in der Organisation, so Dirk Baecker, ist immer »als Arbeit an der Arbeit« zu verstehen, an der »nichts evident, aber alles prekär ist« (Baecker 2002: 235). Die Begrenzung und Reduzierung der Möglichkeiten ›auszuscheren‹, ist hier umschrieben als die ›Arbeit an der Arbeit‹ und veranschaulicht die Prekarität, die diese Ordnung mit sich bringt. Die Projektplanung, welche den Arbeitsprozess festlegt, gleicht einer Karte, mit welcher man durch die Enge und Untiefen des Projektes navigiert, welche einem den Weg vorschreibt. (An-)Ordnung von Zeit erzeugt ein temporales Kraftfeld mit den nötigen Sach-, Sozial- und eben Zeitzwängen; einen – wie Foucault ihn nannte – »Notstand (urgence)« (Foucault 1978: 120). Als Dispositiv ist dann im Sinne Deleuzes hier auch die konkrete Arbeit des Kartographierens zu verstehen, das Ausmessen und Erkunden eines neuen Landes, der Ordnung der Zeit zur eigenen Disziplinierung (vgl. Deleuze 1991: 153). In der Arbeitsplanung nimmt die Zeit als diffuses Konstrukt eine
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Vergleiche beispielsweise die Diskussion um die projektbasierte Polis, die neue politische Grammatik eines flexiblen Kapitalismus bei Boltanski und Chiapello (2003); außerdem die Durchsetzung des Projektbegriffs als Rationalitätsform – als Regierungsprinzip – bei Bröckling (2005) und Klopotek (2006).
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doppelte Rolle ein: Sie ist die Dimension, entlang welcher sich eine Tätigkeit, ein Projekt etc. strukturiert; außerdem ist sie der Mechanismus, der dafür Sorge trägt, dass eben jene Aufgabe auf einen Zeitpunkt hin erfüllt wird. Sie ist eine neue Dimension der Steuerung im (spät)modernen Erwerbsarbeitsprozess. Zeit als diffuser Anspruch Eine zeitliche Spezifik der Selbstständigkeit ist die Trennung von Entlohnung und Arbeitszeit. Sighard Neckel beschreibt, wie das Leistungsprinzip im Finanzkapitalismus durch eine »Kultur des Erfolgs« oder eine »Pflicht zum Erfolg« ersetzt wird (2008). Dies hat zur Folge, dass das zu schaffende Produkt als Resultat entlohnt wird, die investierte Leistung aber zunehmend unberücksichtigt bleibt. Der marktvermittelte Erfolg tritt in den Vordergrund. Damit wird einerseits das eigene Referenzsystem von Leistung und Belohnung fragil, andererseits muss aber pausenlos weitergearbeitet werden, um den Erfolg immer wieder herzustellen. Die paradoxe Situation, die Normen der Leistungserbringung zu erfüllen, ohne dadurch Entlastung zu erfahren, lässt sich sozialpsychologisch als Entgrenzungsphänomen beschreiben, auf welches mit Verdichtung und Intensivierung der Arbeitsprozesse reagiert wird. Christine Morgenroth führt neben dieser Internalisierung der Forderung nach Beschleunigung die Dimension der Simultanität ein: »Wenn Beschleunigung alleine nicht mehr ausreicht, um die gesteckten Ziele zu erreichen, müssen erneut alternative Modi der Zeitverwendung gefunden werden. Gegenwärtig […] findet ein Paradigmenwechsel in der Zeitverwendung und im Zeiterleben statt, auf die Beschleunigung folgt die Vergleichzeitigung« (Morgenroth 2009: 102).
Doch auch durch Simultanität scheint die paradoxe Temporalität der Unabschließbarkeit und der permanenten Verlagerung der Entlastungsdimension in die Zukunft nicht aufgelöst werden zu können. Solch ein schrankenloser Arbeitstag führt zu einer veränderten Erfahrung und Wahrnehmung von Zeit und damit einer anderen Beziehung zur Zeit. In selbstständig und projektförmig organisierter Arbeit ist die permanente Gegenwart das bestimmende Zeitmaß. Nicole Aubert spricht in diesem Zusammenhang von einer »›durch fortwährende Beschleunigung und Dringlichkeit geprägte Beziehung zur Zeit‹ [die sich] gesellschaftlich durchgesetzt hat« (Aubert 2009: 87). Sie beschreibt, wie sich in den letzten 20 Jahren durch ökonomische und technologische Grundlagen eine neue Art und Weise entwickelt hat, die Zeit zu erleben. Diese neue Beziehung zur Zeit ist, so Aubert, durch das Augenblickliche, das Unmittelbare und eine Kultur der
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Dringlichkeit geprägt (vgl. ebd.: 88ff.). Wenn Arbeitsaufträge die Dringlichkeit eines Notfalls erhalten und alles – zumindest theoretisch – unmittelbar erreichbar ist, verlagert sich der Wettbewerb dahingehend, dass man schneller sein muss als der/die Andere. Wenn aber alles gleichzeitig dringend und wichtig ist, hat das Auswirkungen auf die eigenen Energieressourcen und auf das eigene Zeitmanagement. Die Zeit, in der man nicht verfügbar ist, die man sich schaffen kann, um zu erholen, zu antizipieren, innezuhalten und die Zukunft vorzubereiten, droht durch die permanente und allgegenwärtige Gleichzeitigkeit von Dringendem und Wichtigem ins Abseits zu geraten. Aubert spricht in diesem Zusammenhang von krankhaften Veränderungen, »die man als pathologisches Hyperfunktionieren oder pathologische Überhitzung bezeichnen könnte« (ebd.: 93). Auch in dieser Metapher scheint das Bild des ausgebrannten, des Burnoutgefährdeten Menschen angelegt. Die Betonung und Beschleunigung der Gegenwart lässt Zeit zu einem diffusen Anspruch werden, in dem die Forderung nach permanenter Verfügbarkeit enthalten ist. Die zeitliche Flexibilisierung von Arbeit versinnbildlicht in ihrer »drastischen Vervielfältigung der Arbeitsformen in Dauer, Lage und Regulierungsformen« (Morgenroth 2009: 103) diese Entwicklungen, welche auf Kosten der Privatsphäre gehen. Die Unerreichbarkeit eines Endpunktes in der eigenen Tätigkeit wird damit auch zu einem Problem der Lebenszeiteinteilung – ›Auszeiten‹, Sabbaticals oder Ähnliches bekommen nicht mehr die Bedeutung eines konkreten Sich-Heraus-Nehmens, sondern sind ebenso klar definierte Zeiträume, in denen beinahe genauso klar und detailliert geplant wird, wie man sich wo selbst findet. Absicherung und Zeit Kommen zu dieser neuen Zeitlichkeit der Selbstständigkeit fehlende oder erodierende sozialstaatliche Schutzmechanismen hinzu, lässt sich eine Individualisierung des Schutzes beobachten. Gerade die Destabilisierung des sozialstaatlichen Sicherungsgefüges, wie sie beispielsweise Stephan Lessenich unter dem Stichwort ›Aktivierung‹ beschreibt, verdeutlicht eine Dynamik der Verantwortungsübertragung auf das Individuum. Es wird aktiviert, um sein Potenzial selbst erweitern und ausschöpfen zu können (vgl. Lessenich 2008: 73ff.). Dieser Umstand, gepaart mit der weiter oben beschriebenen Erosion der faktischen Bedeutsamkeit des Leistungsprinzips, führt zu einem intensivierten Spannungsverhältnis zwischen Arbeit und Vorsorge, welches für Selbstständige noch einmal verschärft wird. Der besondere Zwang dieser neuen Formation des flexiblen Kapitalismus liegt in der Dialektik zwischen Mobilität und Kontrolle, welcher unsere beiden Gruppen ausgesetzt sind. Natürlich tangieren – gerade in Fragen der
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sozialen Sicherung – die staatlichen Interventionen beide Gruppen unterschiedlich, aber in der Kommodifizierung der Ware Arbeitskraft lässt sich die Adressierung beider Gruppen als ›unternehmerisch geprägt‹ durchaus nachweisen.6 Auch der sich wiederholende Hinweis, Projekte als eigenes Unternehmen zu betrachten, findet sich häufig in entsprechender Ratgeberliteratur (unter anderem Blazek/Zillmer 2001). Die Bedingungen selbstständiger Arbeit werden durch diese Transformation des Wohlfahrtsstaates gestützt und arbeiten dem Wandel der Erwerbsgesellschaft quasi zu, indem die Grundzüge des ökonomischen, unternehmerischen Denkens in die Subjekte hineinverlagert werden. Im Kontext unstetiger, flexibler und auftragsbasierter Erwerbsarbeit werden Schutz, Verantwortung und damit auch dessen Risiken individualisiert. Druck und Gefahr einer nicht ausreichenden Altersvorsorge sowie die beinahe dogmatische Verpflichtung zu privater Vorsorge – sofern man sie denn überhaupt in ausreichendem Maße leisten kann – sind in gewisser Weise zum kontemporären Pochen des ›neoliberalen‹ Gewissens geworden. Zeit und Lebensverlauf zwischen subjektiver Unsicherheit und objektivem ›Unsicherheitsregime‹ Durch die zeitlich neu angelegte selbstständige Arbeit und die Arbeit in Projekten droht das kurzfristige Alltagshandeln zum bestimmenden Prinzip zu werden und zu Lasten der lebenszeitlichen Perspektive zu gehen. Wenn die Gegenwartsorientierung zunehmend an Bedeutung gewinnt und die Planungssicherheit für den Lebensverlauf wegfällt, können sich Situationen subjektiver Unsicherheit in ein objektives ›Unsicherheitsregime‹ verkehren. Wie Pierre Bourdieu in seiner Studie zu algerischen Bauern in der Kabylei bereits 1977 deutlich machen konnte, ist mit ökonomischen Prozessen eine Zeitlichkeit des Sozialen verbunden (vgl. Bourdieu 1977). Bourdieu zeigt auf, wie in unseren modernen Gesellschaften Wirtschafts- und Zeitstrukturen verbunden sind und unser ökonomisches Denken und Handeln prägen. Die ökonomischen Begriffe des Sparens, des Kredites und der Investition verweisen auf Zeitordnungen, die sich durch ihre Fixierung auf die Zukunft auszeichnen. »Die Vergangenheit gilt es zu überwinden und zu zerstören, die Gegenwart ist alleine als Startpunkt in die Zukunft von Interesse. Die Vernichtung des Vergangenen, das Nichtruhenkönnen in der Gegenwart sind die Prinzipien modernen kapitalistischen Wirtschaftens« (Vogel 2009: 2). Diese ökonomische Taktung scheint sich gerade bei Selbstständigen
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So stellen Pongratz und Voß die Frage, ob ihr Idealtypus des Arbeitskraftunternehmers in der Projektarbeit zu finden sei – und bejahen diese (vgl. 2003: 200f.).
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und in Projektarbeit immer weiter auszudehnen und auch zur Funktionslogik ›des Privaten‹ zu werden. Für eine konkrete Lebens- oder Familienplanung – und allgemeiner eine Bemächtigung von Zukunft – bedarf es einerseits eines bestimmten Niveaus an ökonomischer Sicherheit, das mit regelmäßigen Einkünften und einer Arbeitsplatz- und Auftragssicherheit verknüpft ist. Damit verbunden, aber nicht zu reduzieren auf die ökonomische Dimension, ist andererseits die Erfahrung von Kontroll- und Gestaltungsvermögen oder -verlust. Wegen kurzfristiger Projekte und Aufträge und aufgrund mangelnder Absicherung muss die nahe Zukunft ständig und immer wieder antizipiert werden, was zur Folge hat, dass die Gegenwart zum bestimmenden Zeitmaß wird. Wenn in der Gegenwart kein Platz bleibt, um die Zukunft zu ersinnen, zu planen und die Gegenwart darauf abzielend zu verändern, dann scheint sich Zeit in ein ›Unsicherheitsregime‹ zu verkehren. Die Bedürfnisse der Erwerbsarbeitssphäre schlagen hier auf die Sphäre der Freizeit oder des Privaten durch und vereinnahmen sie nach Belieben. Carmen Leccardi beschreibt in ihrer Untersuchung zum Zeiterleben italienischer Jugendlicher die Fähigkeit, eine aktive Haltung zur Zeit zu entwickeln: »Im Mittelpunkt dieser Haltung stehen dabei die Verweigerung jeder Unterwerfung und der Wunsch, sich nicht von der Geschwindigkeit der Ereignisse überrollen zu lassen, die Veränderungen zu kontrollieren und zum Handeln bereit zu sein, keine Zeit zu verschwenden, die Dinge nicht einfach auf sich zukommen zu lassen und sich nicht an die Kandare der verbreiteten Unsicherheit legen zu lassen« (Leccardi 2009: 257).
Dieses Zitat verweist darauf, dass der Wert der Autonomie heute mehr und mehr darüber verhandelt wird, eine eigenbestimmte Haltung zur Zeit zu haben. Gleichzeitig betont es das Gefühl der Jugendlichen, dafür individuell Verantwortung zu tragen und verweist damit implizit auf Gegebenheiten, in denen die Möglichkeit, die Ereignisse autonom zu beeinflussen, nicht mehr gegeben sind.
(R E -)P RÄSENTATION VON A RBEIT MODERNE A NTINOMIE ?
ALS
Zusammenfassend lässt sich in autonomen und selbstständigen Arbeitsformen ein latenter Widerspruch feststellen, der sich gerade in der Dimension der Zeitlichkeit zeigt: Einerseits wird Souveränität über die eigene Zeit suggeriert, die jedoch andererseits die Subjekte der neuen Arbeitsformen schnell zu Getriebenen eines neuartigen Zeitregimes werden lässt. Es zeigt sich die gestiegene Relevanz zeitlicher Strukturen für Arbeits- und Organisationsprozesse. Das Erleben
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von Handlungsmacht speist sich aber immer mehr aus einer eigenbestimmten Haltung zur Zeit. In Anlehnung an Hartmut Rosa ließe sich eine Krise des Versprechens der Moderne diskutieren: Das Versprechen des ›Selbst‹, welches hier nur auf Kosten einer Unterwerfung unter ein unsicheres und unstetiges Zeitregime möglich scheint. Im öffentlichen Diskurs über Depression, gerade in den Sozialwissenschaften, scheint sich Autonomie in ihr Gegenteil zu verkehren. Mit Ehrenberg gesprochen, zeigt sie sich als »eine Krankheit der Verantwortlichkeit, in der ein Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht« (Ehrenberg 2008: 15): Die Selbstbeherrschung scheint verloren, der Kontakt zur Außenwelt gestört, die eigene Lebensweise kann nicht mehr bestimmt werden, eine Unfähigkeit zu leben als solche (vgl. ebd.: 20). Der Begriff der Depression verweist somit auf eine Veränderung der Individualität, in der Autonomie als Last erlebt wird. Rosa spricht in diesem Sinne von abstrakten, »ziel- und substanzlose[n] Wettbewerbs- und Steigerungszwänge[n]« (Rosa 2009: 42), die aus unhinterfragten und aus »als ›naturhaft‹ erfahrene[n], stumme[n] Zeitnormen« (ebd.: 44) resultieren. Die Beschleunigungskräfte der Moderne führen, so Rosa, in ihrer spätmodernen Phase immer häufiger zu Entfremdungsformen, die mit einem »›Verstummen der Welt‹, einem Resonanzverlust« (ebd.: 52), beschreiben werden können. Das gesellschaftliche Reden über arbeitsbedingte Erschöpfung und Depression spiegelt immer auch ein Bild eben jener Arbeit, die sich hier einerseits als negative Abgrenzung verstehen lässt: Alles, was die Arbeit fordert – schnelle, dynamische und flexible Reaktionszeiten, Kurzfristigkeit und Begrenztheit – ist jenes, was die Depression dem Selbst radikal verneint. Es stellt ruhig, es entschleunigt, aber es delegitimiert. Der Psychiater Markus Pawelzik beschreibt in der ZEIT, wie im Gegensatz zur Depression Burnout als ein nicht stigmatisierendes Etikett erscheint, weil es »nicht als Folge individuellen Versagens begriffen wird: Denn wer ausgebrannt ist, muss schließlich einmal gebrannt haben« (Pawelzik 2011: 2). Somit verraten uns das Krankheitsbild des Burnout-Syndroms und seine Aktualität auch etwas über das gesellschaftliche Selbstverständnis. In den sozialen Pathologien, den kumulierten Gründen und Auswirkungen der psychischen Leiden, findet sich eine spezifische Repräsentation von Arbeit, nämlich zum einen als umkämpfter, gefährlicher Prozess, der sich als negatives Außen zu der eigentlichen Bedeutung von Arbeit versteht. Zum anderen erscheinen sie als Resultat einer Gesellschaft, die fit und ausdauernd sein will, um ihre modernistischen Ideale der Selbstverwirklichung, Selbstverwaltung und Authentizität zu gewährleisten – aber doch wieder mit ihnen in Konflikt gerät. Es ist diese Ambivalenz, die eine immanente Spannung in den Individuen und den Arbeitszusammenhängen erzeugt. Und es ist dieses immanente Versprechen struktureller Frei-
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heit im Arbeitsprozess, welches ebenso mit dieser Ambivalenz der philosophischen und politischen Moderne spielt. Die Verlockung der Tätigkeit, nicht immer und immer wieder dasselbe machen zu müssen, ist das abgekaufte Versprechen selbstständiger und projektförmiger Arbeit: Die Aussicht, immer neue, andere Projekte zu bestreiten und mit neuen, anderen Menschen zusammenzukommen, ist »[d]as identitätsstiftende moderne Prinzip der Bewegung« (Rosa 2012: 264), das im »Beschleunigungsimperativ in eine ziellose, kontingente Veränderung« führt, welche Rosa an mehreren Stellen im Sinne Virilios als ›rasenden Stillstand‹ beschreibt. Aber es ist eben die immanente Logik der von Boltanski und Chiapello beschriebenen projektbasierten Polis, nie fertig zu sein, immer neu zu beginnen, die vereint, was Deleuze in Disziplinar- und Kontrollgesellschaft unterschied: das immer wiederkehrende Neuanfangen und das stetige nie Fertigwerden (vgl. Deleuze 1993: 257). Heute, scheint es, kann man die Arbeit und die in ihr verlangte/gewährte Autonomie nur noch vollständig erfassen, wenn man das Gegenbild der Erschöpfung, des Burnouts und der Depression hinzunimmt – das Bewusstwerden einer Verlangsamung. Die gesellschaftliche Rede über die Erschöpfung an der Arbeit und an der Freiheit in den Narrativen subjektivierter und selbstständiger Arbeit sind deutliche Belege hierfür. Was eingangs mit Camus als absurde Arbeit des Sisyphos beschrieben wurde, ist die Tragik, welche einer bewussten Auseinandersetzung mit immer gleicher Arbeit innewohnt – aber heute scheint diese Metapher auch und, wie wir gezeigt haben, gerade für selbstständige, abwechslungsreiche und qualifizierte Arbeit zu gelten.
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Zwischen subjektiven Bezügen zu Erwerbsarbeit und den Normen der Arbeitsmarktpolitik Erwerbslose in einem schwierigen Spannungsfeld A RIADNE S ONDERMANN Es ist zwar ein seltenes Handwerk, und auf der andern Seite einen Job zu finden, ist extrem schwierig, aber es macht natürlich irgendwo stolz, dass man sagt, es ist ein außergewöhnlicher Beruf. HERR AHLERS, EIN ERWERBSLOSER KLAVIERBAUER
1. E RWERBSLOSE ALS T EIL DER A RBEITSGESELLSCHAFT UND SUBJEKTIVE B EDEUTUNGSDIMENSIONEN VON E RWERBSARBEIT Die Arbeitswelt und die Bedingungen, unter denen Arbeitnehmer/innen einer Erwerbsarbeit nachgehen, sind zweifellos Wandlungsprozessen unterworfen, die in der Soziologie seit Längerem diskutiert werden. Subjektivierung und Prekarisierung sind zentrale Begriffe, mithilfe derer die Veränderungen der Beschäftigungsverhältnisse, aber auch des subjektiven Verhältnisses gegenüber der eigenen Erwerbstätigkeit analysiert und beschrieben werden. Damit verbunden ist nicht selten eine Kritik: Mit Blick auf Arbeitnehmer/innen, die mit diesen Prozessen konfrontiert sind, wird die Zunahme an Unsicherheit und einer Entgrenzung von Arbeit betont, die eine Distanzierung oder Rückzugsmomente von der (hegemonialen) Erwerbsarbeitsnorm deutlich erschweren (wenn nicht sogar ver-
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unmöglichen).1 Darüber hinaus ist aber auch das gewachsene Risiko thematisch, mehr oder weniger dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu werden. Unter dem Krisenbegriff der Exklusion werden die negativen Folgen für jene problematisiert, die langfristig »im Schatten der Arbeitsgesellschaft« (Kronauer/Vogel/Gerlach 1993) leben und kaum wieder die Chance auf eine Integration über Erwerbsarbeit bekommen. Die Kritik an diesen Prozessen möchte ich im Folgenden keineswegs in Frage stellen. Ungeachtet dessen werde ich eine etwas andere Perspektive einnehmen, indem ich anhand von leitfadengestützten Interviews mit Erwerbslosen2 von positiven subjektiven Bezügen zur Erwerbsarbeit ausgehe. Es handelt sich dabei durchgängig um erwerbslose Klient/innen aus Arbeitsagenturen und Jobcentern, die über (teils langjährige) Berufserfahrungen verfügen und weder von der Dauer ihrer Erwerbslosigkeit noch von ihrem eigenen Selbstverständnis her der Gruppe der so genannten »Überzähligen« (vgl. u.a. Castel 2000) angehören. Dies bedeutet eben auch, dass in meinem Beitrag Personen zur Sprache kommen, für die Erwerbsarbeit – wie beispielsweise für den eingangs zitierten Klavierbauer – mehr bedeutet als (jedwede) Integration in den Arbeitsmarkt. Die Erwerbslosen, um die es gehen wird, haben qua Ausbildung und beruflicher Sozialisation subjektive Bezüge zu ihrer Erwerbsarbeit und damit auch eigene (berufsmilieuspezifische) Vorstellungen von einer ›guten‹ oder sinnstiftenden Arbeit entwickelt. Das Spektrum reicht dabei, um einen ersten Eindruck zu vermitteln, von einer handwerklichen Orientierung (vgl. Sennett 2009) über einen Produzentenstolz beziehungsweise eine Malocherehre (vgl. klassisch hierzu Popitz et al. 1957) bis zu der intrinsischen Motivation von Akademiker/innen, sich ein verfeinertes berufliches Profil zu schaffen, mit dem im Studium erworbene Qualifikationen zu einer sinnstiftenden Tätigkeit zusammengeführt werden.
1
Auch auf der 10. Erlanger Graduiertenkonferenz »(Re-)Präsentationen der Arbeitswelt« wurden diese Prozesse auf breiter Basis – nicht nur aus soziologischer, sondern beispielsweise auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive – diskutiert und kritisiert. Im Mittelpunkt standen dabei nicht zuletzt höher qualifizierte Arbeitnehmer/innen, die sich mit den Bedingungen recht frei gestaltbarer, dabei aber auch unsicheren Formen der Beschäftigung auseinanderzusetzen haben.
2
Es handelt sich um Interviews mit Erwerbslosen aus dem Bereich des SGB III und SGB II, die ihm Rahmen des Kooperationsprojekts zwischen der Universität Siegen und dem IAB (Nürnberg) »Organisationsreform der Arbeitsämter und neue Maßnahmen für Arbeitssuchende: Soziale Ungleichheit und Partizipationschancen Betroffener« (Projektleitung: Prof. Dr. Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, Mitarbeiter/innen: Dr. Olaf Behrend und Ariadne Sondermann) geführt wurden.
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Gemeinsam ist dieser ersten Auswahl, dass es um mehr als einen instrumentellen Bezug geht, bei der Erwerbsarbeit in erster Linie Mittel zum Zweck (der Existenzsicherung oder des Erreichens eines bestimmten Einkommens beziehungsweise Lebensstandards) ist.3 Genau eine solche instrumentelle Orientierung wird Erwerbslosen aber von arbeitsmarktpolitischer Seite in erster Linie zugeschrieben und (wenn überhaupt noch) zugestanden. Damit ist das (im Titel genannte) Spannungsfeld angesprochen, in das alle jene Klient/innen der Arbeitsverwaltung geraten, denen es um mehr geht als die ›reine‹ Integration in Erwerbsarbeit. Auch wenn sie als Erwerbstätige oftmals schon Erfahrungen mit Prekarisierung und einer Entwertung ihrer Qualifikationen machen mussten, stellen die Kontakte zu den Arbeitsagenturen beziehungsweise Jobcentern für sie einen besonders krisenhaften Kumulationspunkt dar, wenn es darum geht, sich mit der Bindung an die erlernte Tätigkeit beziehungsweise mit eigenen Deutungen einer noch zumutbaren Beschäftigung gefährdet zu sehen. Insofern steht im Folgenden weniger die Kritik an Prekarisierungs- und Subjektivierungsprozessen innerhalb der Arbeitswelt im Vordergrund als die schwierige Situation von Erwerbslosen, die ihre subjektiven Bezüge zur Erwerbsarbeit gegenüber einer Arbeitsverwaltung zu verteidigen haben, die im Sinne der Aktivierungsprogrammatik des »Förderns und Forderns« eine möglichst ›anspruchslose‹ Haltung ihrer Klient/innen durchzusetzen versucht. Anhand von Beispielen sollen diese Fragen näher betrachtet werden: Welche (berufsmilieuspezifischen) Vorstellungen und Ansprüche an Arbeit spiegelt das Datenmaterial wider? In welcher Weise werden Erwerbslose seit den »Hartz-Reformen« mit Forderungen konfrontiert, die ihren subjektiven Bezügen zu Erwerbsarbeit zuwiderlaufen? Und, wie gehen sie konkreter mit dem Spannungsfeld um, für ihre Existenzsicherung mit der unmittelbaren Gefahr
3
Innerhalb der Industriesoziologie werden diese darüber hinausreichenden Bedeutungsdimensionen mit dem Theorem des doppelten Bezugs auf Erwerbsarbeit (vgl. Kern/Schumann 1983) beziehungsweise aktueller mit den beiden Modi der reproduktiv-arbeitskraftbezogenen und der subjektiv-sinnhaften, tätigkeitsbezogenen Integration über Erwerbsarbeit auf den Begriff gebracht (vgl. Doerre 2009), ohne dass die zweite Seite dabei zwangsläufig näher nach jeweils berufsmilieuspezifischen Bezügen und Deutungen ausdifferenziert worden wäre. Enger von empirischem Datenmaterial (biographischen Interviews) ausgehend, wurden solcherlei Bezüge zur Erwerbsarbeit beispielsweise von Alheit/Dausien (1985) rekonstruiert, die auch für Erwerbstätige, die unter ›eigentlich‹ restriktiven Bedingungen arbeiten, einen »Subjektivitätsüberschuss« konstatieren.
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konfrontiert zu sein, ihre gewachsenen Vorstellungen von einer für sie sinnstiftenden Beschäftigung aufgeben zu müssen?
2. D AS
REDUKTIONISTISCHE V ERSTÄNDNIS VON E RWERBSARBEIT IM S INNE DER »H ARTZ R EFORMEN «: I NTEGRATION IN A RBEIT › ÜBER ALLES ‹
Bevor es um diesen empirischen Blick auf das Datenmaterial gehen wird, zunächst aber ein kurzer Überblick über einige arbeitsmarktpolitische Veränderungen, die wesentlich zu einer Entwertung subjektiver Bezüge zu Erwerbsarbeit beigetragen haben. Mit den so genannten »Hartz-Reformen« wurden verschiedene Prozesse in Gang gesetzt beziehungsweise forciert, darunter ganz prominent die Einführung des ALG II, mit der die materielle Absicherung im Falle anhaltender Erwerbslosigkeit fundamental verändert (vom Statuserhalt zur minimalen Existenzsicherung umgestellt) wurde. Damit einhergehend, propagierte man – und dies ist hier zentral – ein Verständnis von Erwerbsarbeit, bei dem einer subjektiven Bindung (sei es über Status oder eine starke intrinsische Motivation) an eine bestimmte Tätigkeit kaum noch ein Wert beigemessen wurde, der von staatlicher Seite zu schützen wäre. Die Reformen und die dazugehörige Programmatik des »Förderns und Forderns« folgen zwar der Logik, die Erwerbsarbeitsnorm weiter zu forcieren, indem beispielsweise auch der Kreis der zu aktivierenden Adressat/innen ausgeweitet wurde. Damit verbunden war gleichzeitig aber die normative Erwartung an Erwerbslose, mögliche Ansprüche an Erwerbsarbeit weitgehend zu reduzieren. Diskurse über Erwerbsarbeit und Erwerbslose – die Ebene der (Re-)Präsentationen Diese normative Erwartung spiegelt sich bereits deutlich auf der Ebene der Diskurse wider, die die Arbeitsmarktreformen seither begleiten. Im Sinne einer neosozialen Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik wird eine neue Reziprozität (vgl. zu den Begriffen u.a. Lessenich 2008) vorausgesetzt, nach der Erwerbslose für ihre materielle Absicherung eine Gegenleistung zu erbringen haben. Unter dieser Gegenleistung wird vor allem eine Haltung verstanden, nach der (in einer arbeitsethischen Zuspitzung) die Aufnahme jedweder Arbeit als ›besser‹ zu betrachten sei, als weiterhin staatliche Transferleistungen zu beziehen. Diese Erwartung an Erwerbslose wurde immer mehr zu einer kaum noch hinterfragbaren
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Selbstverständlichkeit. Die Übernahme von Eigenverantwortung soll für Erwerbslose eben nicht nur bedeuten, sich eigeninitiativ um Arbeit zu bemühen, sondern auch, von ›überhöhten‹ Vorstellungen Abschied zu nehmen, die einer baldigen Erwerbsaufnahme im Weg stehen könnten. Begriffe wie Beschäftigungsfähigkeit und (noch mehr) der im SGB II zentrale Maßstab der Erwerbsfähigkeit weisen deutlich auf die Maxime hin, unter der Erwerbsarbeit betrachtet wird: Es geht um eine Zuspitzung oder Verengung auf die ökonomische Dimension (auf die Erwerbsteilhabe im Sinne eines Jobs), zugunsten derer das Konzept des Berufs beziehungsweise der Beruflichkeit in den Hintergrund rückt. Über die materielle Dimension hinaus wird Arbeit höchstens noch die (autoritär-pädagogisch anmutende) Funktion zugeschrieben, Tugenden wie Selbstdisziplin oder Durchhaltevermögen zu vermitteln, die arbeitsmarktfernen Personen – also den langzeitarbeitslosen Chancenlosen, denen meist eine per se mangelnde Motivation unterstellt wird – weitgehend fehlten. Die Krise von Erwerbslosen, denen es an solchen Tugenden nicht mangelt, die aber eine Bindung an die erlernte Tätigkeit entwickelt haben und sich eine adäquate Beschäftigung wünschen, ist hingegen kaum ein Thema beziehungsweise wird auf die Frage nach einem angemessenen Einkommen reduziert: Die Motivationen bei der Arbeitssuche werden meist unter das schlichte Modell eines homo oeconomicus subsumiert, also auf die Zielsetzung reduziert, dass sich Erwerbsarbeit finanziell (entweder im Vergleich zu den Transferleistungen oder zum letzten Erwerbseinkommen) lohnen müsse.4 Dass Erwerbslose noch anderen Motivationen folgen und unter der Gefahr der Entwertung weitergehender subjektiver Bezüge zu ihrem Beruf leiden könnten, wird hingegen weitgehend in der öffentlichen Diskussion ausgespart. Stattdessen wird zumeist dem unterkomplexen Begriffspaar von guten (zu allem bereiten) und schlechten (unmotivierten, arbeitsunwilligen) Erwerbslosen gefolgt. Die Ebene der Gesetze im Zeichen des »Förderns und Forderns« Erwerbslose geraten freilich nicht nur aufgrund solcher Diskurse unter Legitimationsdruck, sondern sind als Klient/innen der Arbeitsverwaltung ganz unmittelbar mit dem skizzierten, reduktionistischen Verständnis von Erwerbsarbeit konfrontiert. Dieses begegnet ihnen in Form sanktionsbewehrter Vorgaben, mit de-
4
Zur Dramaturgie des Beratungsgespräches von Vermittlungsfachangestellten der Bundesagentur für Arbeit vgl. den Beitrag von Sowa und Staples in diesem Band.
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nen ihre Bemühungen um Arbeit in die ›richtige Richtung‹ gelenkt werden sollen. Dies gilt bereits für Klient/innen der Arbeitsagenturen: Obwohl die Transferleistungen nach dem SGB III noch dem Prinzip des Statuserhalts folgen, müssen sich auch Erwerbslose in diesem Bereich mit der Gefährdung ihrer Ansprüche an Arbeit auseinandersetzen: Zum einen natürlich durch die Androhung, im Falle anhaltender Erwerbslosigkeit in den Bereich des SGB II wechseln zu müssen, zum anderen aber auch, indem sie keinen Qualifikationsschutz, sondern nur mehr einen gewissen (zeitlich gestuften) Einkommensschutz geltend machen können. Um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, zu wenig motiviert zu sein, sind sie insofern dazu angehalten, sich auf Stellen zu bewerben, die nicht ihren Qualifikationen entsprechen und/oder mit größerer Mobilität verbunden sind (vgl. Sondermann/Ludwig-Mayerhofer/Behrend 2007). Noch verstärkt gilt dies für Klient/innen aus dem Bereich des SGB II. Über einen fehlenden Qualifikationsschutz hinaus gilt für sie keinerlei Einkommensschutz mehr. Sie müssen prinzipiell auch Stellen annehmen, die nur der Reduzierung ihrer Hilfebedürftigkeit dienen, also nicht mehr für die Existenzsicherung ausreichen, die in diesem Fall durch so genannte »aufstockende Leistungen« gewährleistet wird (vgl. u.a. Brütt 2011). Mit dieser normativen Vorgabe wird selbst der Anspruch verobsoletiert, qua Erwerbsarbeit unabhängig von staatlichen Leistungen zu werden, den man (gerade angesichts oftmals weitreichenderer subjektiver Bezüge zu Erwerbsarbeit) sicher als eine Art Minimalanspruch bezeichnen kann. Darüber hinaus wurden im Bereich des SGB II so genannte »Ein-Euro-Jobs« eingeführt, mit denen (anders als bei den klassischen AB-Maßnahmen) keine Anrechte mehr auf Leistungen nach dem SGB III erworben werden können und die damit von einer regulären Beschäftigung weiter entkoppelt wurden. Ferner dienen sie nicht nur dazu, arbeitsmarktferne Personen wieder an einen Arbeitsalltag heranzuführen und insofern zu fördern, sondern werden auch in disziplinierender – fordernder – Absicht dazu verwendet, die Arbeitsbereitschaft derjenigen zu überprüfen, die nach Einschätzung der Fachkräfte zu den ›unwilligen‹ Klient/innen gehören (vgl. Ludwig-Mayerhofer/Behrend/Sondermann 2009).
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3. A RBEIT IST WEITAUS MEHR ALS E XISTENZSICHERUNG – D IE K LUFT ZWISCHEN EIGENEN A NSPRÜCHEN UND ARBEITSMARKTPOLITISCHEN N ORMEN »[…] dass ich dann auch mal sag: Ok, ich restauriere ein altes, schönes Instrument und schau dann wie es rauskommt und wenn man das dann anspielt, wie schön das dann ist. Also das ist auch so ne Sache, wo man sagt, das hat man selber wieder auf Vordermann gebracht, das schaut wieder super aus. Und das ist schon ne Sache, das baut einen dann schon auch auf, wenn man dann sieht, man hat mit den eigenen Händen wieder was zustande gebracht, was dann schön wieder rauskommt nach langen Jahren.« (Herr Ahlers, erwerbsloser Klavierbauer)
Bereits der kurze Überblick unter 2.) dürfte hinreichend verdeutlichen, dass sich die Handlungsspielräume von Erwerbslosen sehr eingeschränkt haben, bei ihren Bemühungen um eine neue Stelle eigene Vorstellungen von einer adäquaten Beschäftigung geltend zu machen. Welche subjektiven Bezüge zur Arbeit stehen damit in Gefahr, aufgegeben werden zu müssen? Herr Ahlers (der Klavierbauer, der bereits zum Einstieg meines Beitrags zitiert wurde), äußert hier klar, was ihm sein Beruf bedeutet. Es sind konkrete Arbeitsvollzüge und eine ästhetisch-sinnliche Dimension, über die er seine Tätigkeit als Klavierbauer beschreibt: Die Bewährung darüber, »mit den eigenen Händen wieder was zustande gebracht«, es über die präzise und ausdauernde Arbeit an einem Instrument geschafft zu haben, dass dieses optisch und klanglich »schön wieder rauskommt nach langen Jahren«. Die Sinnstiftung verläuft hier über eine handwerkliche Orientierung, die, folgt man Sennett (2009), darin besteht, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen und sich dabei an strengen Maßstäben (hier: am Ideal der Werkgerechtigkeit) auszurichten. Sennett sieht diese Einstellung zur Arbeit nicht allein im Bereich des traditionellen Handwerks, sondern u.a. auch bei Künstler/innen oder Programmierer/innen gegeben. Diese Ausweitung der Perspektive auf andere Berufsfelder bestätigt sich im Datenmaterial. Herr Sarberg äußert sich beispielsweise folgendermaßen zu seinen Bemühungen, die eigenen Programmierfähigkeiten weiter zu verfeinern: »Das ist jetzt ein sehr hoher Aufwand, den ich auch gern betreibe. […] Wenn ich keine Arbeit habe, betreib ich den gleichen Aufwand. […] ich mach das ja auch nicht um zu arbeiten. Ja, das ist mein Leben, ich mache das, ja, und nichts anderes.«
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Er weist eine instrumentelle Orientierung sehr weit von sich, wenn er äußert, den Aufwand nicht zu betreiben, »um zu arbeiten«, sondern Arbeit und Leben stattdessen in eins setzt. Ähnlich geht es Frau Lauer, einer Tänzerin, die immer wieder zwischen ALG II-Bezug und Bühnenengagements wechselt und in den Phasen der Erwerbslosigkeit Stunden bei einem Schauspiellehrer nimmt, »der einfach unheimlich schnell Sachen aus einem rausholt«. Über ihre Suche nach einer neuen Stelle hinaus bleiben beide als Erwerbslose im Alltag ganz unmittelbar mit ihrer beruflichen Tätigkeit verbunden: Durch ihre Bemühungen, ihre Fähigkeiten zu verfeinern, für die sie bereit sind, Opfer zu bringen, indem sie Weiterbildungen selbst bezahlen oder sich Geld bei Freunden leihen. Eine Forderung nach mehr beruflicher Flexibilität bedeutete für sie (und vergleichbar intrinsisch motivierte Erwerbslose) weitaus mehr als ›nur‹ eine mögliche (finanzielle) Abwärtsmobilität: Eine Abkehr von ihrer jeweiligen Tätigkeit wäre vielmehr mit einer umfänglichen Krise, einer gravierenden Entwertung ihrer Sinnstiftung über Arbeit, verbunden. Subjektive Bezüge zur erlernten Tätigkeit, die über das pragmatische oder instrumentelle Motiv des Gelderwerbs hinausreichen, finden sich aber keineswegs nur bei Erwerbslosen, deren Berufe ohnehin mit einer hohen Identifikation, einer starken intrinsischen Bindung, assoziiert werden. Auch jene Erwerbslose aus manuellen Tätigkeitsfeldern, die eher einer pflichtethischen Motivation folgen und ihre Beschäftigung darüber als sinnstiftend erfahren, sich im Sinne einer Malocherehre zu bewähren und durch körperliche Arbeit ein vorgegebenes Pensum zu bewältigen, sehen eigene Ansprüche durch mögliche Forderungen der Arbeitsverwaltung bedroht. Herr Seidel, ein Gestellbauer, zeigt sich beispielsweise stolz darauf, früher nur »mit sieben Mann« Polstermöbel für ein großes Unternehmen angefertigt zu haben (»eine ganze Produktion […] geführt«). Dass er dort nicht viel Geld verdiente, war für ihn kein Problem: »Hab ich mich nie damit beschäftigt jehabt. Ich hab meine geregelte Arbeit gehabt. […] Ich hab kein Auto gebraucht, nichts. Mir hat’s einfach Spaß gemacht. […] Mir ging’s nich schlecht, ich konnte meine Wohnung finanzieren.«
Insofern erwartet er auch bei seiner Stellensuche kein Einkommen, das wesentlich über seine derzeitigen Regelleistungen im SGB II hinausreicht. Wichtiger sind ihm eine kollegiale Vergemeinschaftung, wie er sie früher erlebte, und das Gefühl, sich als tüchtige Arbeitskraft beweisen zu können. Die Arbeitsverwaltung nimmt er dennoch in erster Linie als Gegenspieler wahr. Vor allem die
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»Ein-Euro-Jobs« sind für ihn eine latente Gefahr, da sie aus seiner Sicht für einen besonders respektlosen Umgang mit Erwerbslosen stehen: »[…] ich finds trotzdem nen Hohn und nen Spott, die Leute für’n Euro diese Arbeiten machen zu lassen. Wenn man sacht jut, Leute ihr kricht drei Euro, dann würden die Leute das auch gerne machen. Bloß dann zu sachen wenn de krank bist krichste nich bezahlt. Willste Urlaub machen krichste nich bezahlt. Kommt was andres dazwischen krichste nich bezahlt.«
Herr Seidel legt hier die Kriterien eines ›normalen‹ Arbeitsverhältnisses an. Es zeigt sich wiederum sehr deutlich, dass sich eine ›richtige‹ Arbeit für ihn nicht in erster Linie an einem hohen Verdienst bemisst; er geht ja von einem sehr geringen Stundenlohn aus, für den er und andere Erwerbslose diese Arbeit »gerne machen« würden. Entscheidend ist für ihn, dass eine prinzipielle Wertschätzung der Leistung erhalten bleibt, die durch die Entkopplung der »Ein-Euro-Jobs« von einer regulären Beschäftigung gänzlich verloren ginge. Aber auch reguläre Beschäftigungsverhältnisse können für Erwerbslose aus vergleichbaren manuellen Berufsfeldern zum Problem werden und ihre Krise verstärken. Frau Sauerbach, die zuletzt als gering bezahlte Produktionshelferin tätig war, folgt weiterhin ihrem pflichtethischen Motto »Arbeit ist Arbeit«. Sie ist bereit, erneut eine Stelle mit niedrigem Einkommen anzunehmen, um abends die »Befriedigung«, das Wissen zu haben, »hast was gemacht«. Dennoch gibt es auch für sie Grenzen der Zumutbarkeit, die eng mit ihren subjektiven Bezügen zu Erwerbsarbeit zusammenhängen. Während sie im Grunde jedwede körperlich-manuelle Beschäftigung annehmen würde, ist eine Tätigkeit im Callcenter für sie eine Option, die sie nicht erneut ergreifen möchte. Sie hatte sich (gemäß ihrer pflichtethischen Devise, alle Möglichkeiten auszuschöpfen) bereits in diesem Bereich versucht, dabei aber die Erfahrung der völlig fehlenden Sinnstiftung machen müssen: Nicht nur die habituelle Distanz gegenüber der Anforderung, mit fremden Leuten telefonieren zu müssen, war krisenhaft für sie, sondern gerade auch, »nichts Handgreifliches« gehabt und sich abends gefragt zu haben: »für was bist’ n jetzt den ganzen Tag oder die Stunden da hingegangen?«. Bereits bis hierhin dürfte deutlich geworden sein, dass Erwerbslose aus ganz unterschiedlichen Berufsfeldern mit ihren je subjektiven Bezügen zu Erwerbsarbeit etwas zu verlieren haben, wenn man die Prämissen der aktuellen Arbeitsmarktpolitik zugrunde legt. Was bedeutet dies aber mit Blick auf die Interaktionen mit den Fachkräften der Arbeitsverwaltung? Wie verhalten sich Erwerbslose in den konkreten Kontakten mit ihren Vermittler/innen, und welche Folgen las-
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sen sich hinsichtlich ihrer Arbeitssuche und ihren Orientierungen aus den Interviews rekonstruieren?
4. S UBJEKTIVE A NEIGNUNG DES S PANNUNGSFELDES UND FOLGENREICHE K ONSEQUENZEN : D ER ›E RFOLG ‹ DES F ÖRDERNS UND F ORDERNS »Ich werde mich einfach mal mit meiner Rüstung da rein begeben und erst mal gucken, was er will.« (Herr Schulz, Anfang 30, erwerbsloser Akademiker)
Bevor ich dies anhand weniger Beispiele illustrieren werde, zunächst einige Anmerkungen zu der grundsätzlichen Handlungskonstellation in der Arbeitsverwaltung, die gerade angesichts der mit den Reformen eingeführten Kundensemantik notwendig erscheinen: Die Handlungskonstellation ist als legitime herrschaftliche asymmetrisch in den Machtverhältnissen; Erwerbslose müssen (anders als Kund/innen) für ihre Leistungen dorthin kommen und die Regeln der Verwaltungsinstitution befolgen. Den Fachkräften kommt dabei ein doppeltes und widersprüchliches Mandat zu, indem sie gleichermaßen beraten und Kontrolle ausüben sollen (vgl. Magnin 2004). Bei der konkreten Ausgestaltung können sie (trotz zunehmenden Controllings) Handlungsspielräume nutzen, da die Gespräche mit den Klient/innen nicht standardisierbar sind. In der Praxis bedeutet dies, dass sie nicht zuletzt auf naturwüchsige Pädagogik(en) und Deutungsmuster zurückgreifen, bei denen das Ziel (zumal unter den Bedingungen der »Hartz-Reformen«), auf das Verhalten und die Haltung der Klient/innen im Sinne des Aktivierungsprinzips Einfluss zu nehmen, eine wichtige Rolle spielt (vgl. Ludwig-Mayerhofer/Behrend/Sondermann 2009; Behrend et al. 2006). Für erwerbslose Klient/innen stellt sich die Situation hingegen anders dar: Sie kommen meist mit einer umfänglichen Krise in die Arbeitsverwaltung, da Erwerbslosigkeit aufgrund der Relevanz von Erwerbsarbeit die ganze Person, ihre Autonomie und das eigene Selbstverständnis, betrifft. Hinzu kommt, dass eigene Wünsche oder Pläne aufgrund des genannten doppelten Mandates nicht ›einfach‹ offen (wie in einem Beratungskontext bei einem Coach) besprochen oder ausgehandelt werden können. Erwerbslose wissen vielmehr darum, dass Vorgaben und Forderungen – auch wenn sie ihnen in pädagogischer beziehungsweise pädagogisierender Weise nähergebracht werden – letztlich sanktionsbewehrt durchgesetzt werden können. Eine Form, mit dieser Situation umzugehen, spiegelt sich recht prägnant in dem Bild der »Rüstung« wider, das Herr Schulz, ein Akademiker Anfang 30,
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verwendet, um seine grundsätzliche Haltung in den Interaktionen zu beschreiben. Die Kontakte zu den Fachkräften der Arbeitsagentur, aber auch zu Arbeitgebern, die ihm (wenn auch nur sehr selten) von der Arbeitsverwaltung vermittelt werden, sieht er nicht als Unterstützung bei seiner eigentlichen Zielsetzung: Denn während es der Arbeitsverwaltung darum geht, dass er möglichst schnell wieder eine Stelle annimmt, die dem für ihn angelegten standardisierten Profil entspricht, strebt er selbst einen beruflichen Neuanfang an. Nach Phasen der prekären Beschäftigung, die er zunehmend als Belastung erlebte, möchte er die Erwerbslosigkeit nicht zuletzt für eine Neuorientierung nutzen, um nicht wieder in eine vergleichbare Situation zu geraten. Er verhält sich ›eigentlich‹ im Sinne des Ideals eines eigenverantwortlich agierenden Arbeitsmarktakteurs, indem er eine Weiterbildung selbst finanziert und sich über die Marktchancen als selbstständiger Coach und Berater in seiner Region informiert. Die Arbeitsverwaltung nimmt er ungeachtet dessen als latente Gefährdung wahr: Er weiß darum, dass eine längere Orientierungsphase, über die kein unmittelbarer Nachweis erbracht werden kann, nicht vorgesehen ist. Insofern versucht er sich an dem Spagat, seinem ›geheimen Plan‹ zu folgen, gleichzeitig aber auch durch Bewerbungen und Vorstellungsgespräche dem von der Arbeitsverwaltung propagierten Bild des motivierten Erwerbslosen zu entsprechen. Die »Rüstung«, in die er sich nach eigener Aussage begibt, dient nicht der Vermeidung von Arbeit, im Gegenteil: Mit dieser möchte er die Chance auf einen nachhaltigeren beruflichen Neuanfang gegenüber der Integration in wiederum unsichere Beschäftigungsverhältnisse verteidigen. Das Bestreben (oder besser: die Notwendigkeit), die eigenen subjektiven Bezüge zu Erwerbsarbeit durch deren Nichtthematisierung beziehungsweise durch ein vorsichtiges Verhalten in den Gesprächen mit den Fachkräften zu schützen, findet sich der Tendenz nach bei vielen der befragten Erwerbslosen. In den Interviews äußern sie sich hingegen offener zu dem Spannungsverhältnis zwischen eigenen Wünschen und hegemonialer, arbeitsmarktpolitischer Norm. Bei Herrn Ahlers, dem Klavierbauer, wird der daraus resultierende innere Konflikt beispielsweise sehr deutlich: »Und ich muss ich ganz klar sagen, ich bin dann auch so weit, dass ich, wenn das jetzt nicht klappen sollte, das eine und das andere nicht, dass ich dann einfach so flexibel bin und sag: Ok gut, wenn beides wirklich keinen Wert hat und ich da wirklich nirgends unterkomm, dass ich in ein andern Berufszweig oder in ne andre Sparte wechsle. […] Aber bereit zu solchen Schritten zu sein, heißt aber für mich vorher wirklich, die andern Möglichkeiten zu 100 Prozent oder über 100 Prozent ausgelotet zu haben.«
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Angesichts seiner (zuvor bereits thematischen) starken Identifikation mit seinem Beruf dürfte es kaum überraschen, dass ihm der Wechsel in einen anderen »Berufszweig« spürbare Probleme bereitet: Er möchte die Option, weiterhin im Klavierbau tätig zu sein, möglichst zu »über 100 Prozent ausgelotet« haben, bevor er sich auf Alternativen einlässt. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier Folgendes erwähnt: Der Abwägungsprozess, den er hier expliziert, resultiert keineswegs nur daraus, Klient der Arbeitsverwaltung und damit deren »Fördern und Fordern« ausgesetzt zu sein. Vielmehr erlebt Herr Ahlers (wie es auf alle der Befragten zutrifft) die Erwerbslosigkeit per se als Krise: Das Deutungsmuster, nach dem eine vollwertige gesellschaftliche Teilhabe ganz wesentlich an Erwerbsarbeit geknüpft ist, wird allgemein geteilt und forciert auch ohne weitere Interventionen seitens der Arbeitsverwaltung den Wunsch nach einem möglichst baldigen Ende der Erwerbslosigkeit. Auch Herr Ahlers möchte dementsprechend schnell wieder als Erwerbstätiger Teil der Arbeitsgesellschaft werden. Die Arbeitsverwaltung spielt bei seinem Abwägungsprozess dennoch eine Rolle: Auch wenn ihn seine Vermittlerin derzeit noch wenig fordert, belastet ihn das Wissen, mit andauernder Erwerbslosigkeit (erst recht nach einem Wechsel in den Bereich des SGB II) unter zunehmenden Druck zu geraten, seine berufliche Bindung aufzugeben und – wie Kollegen aus dem Klavierbau, die bereits jetzt »im LKW sitzen und Sprudel ausfahren« – gänzlich anderen Tätigkeiten nachzugehen. Bereits diese Beispiele lassen den ›Erfolg‹ der Reformen deutlich werden: Selbst wenn noch wenig manifester Druck auf Klient/innen ausgeübt wird, spielen die zugespitzten arbeitsmarktpolitischen Normen bei den eigenen Überlegungen und Bemühungen eine wichtige Rolle – die Befürchtung, subjektive Bezüge zur Erwerbsarbeit beschneiden oder aufgeben zu müssen, wird im Gegenzug nicht erst im Falle eines unmittelbaren Forderns seitens der Fachkräfte virulent, sondern verstärkt die Krise, erwerbslos zu sein, bereits weitaus früher. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang freilich im Falle einer manifesteren Disziplinierung seitens der Arbeitsverwaltung. Herr Engelke, ein Gas- und Wasserinstallateur, musste eine solche erfahren, obwohl er sich bereits vielfach in Bereichen beworben hatte, die nicht seiner Ausbildung entsprachen. Angesichts seiner Krise, erwerbslos zu sein, ist er bereit, auf eine qualifikationsgerechte Beschäftigung zu verzichten, sofern es sich bei dem Arbeitgeber um keine Zeitarbeitsfirma handelt. Bei seinen Bewerbungen ohnehin bereits mit Gehaltsangeboten konfrontiert, die seinem Status eines »Altgesellen« in keiner Weise entsprechen, treiben Zeitarbeitsfirmen die Entwertung seines Facharbeiterstolzes für ihn in besonderer Weise auf die Spitze:
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Durch die oftmals noch geringere Bezahlung, vor allem aber durch die fehlende Chance, sich qua allmählicher Bewährung in einem neuen Tätigkeitsfeld ›hocharbeiten‹ zu können. Die Praxis der Arbeitsverwaltung, ihm fast nur Stellenangebote solcher Firmen zuzuschicken, quittiert er mit der Äußerung, dass es »denen […] scheißegal [sei], was die Leute so für Angebote kriegen, weil es wird ja gesacht, nehmen Sie diesen Job nicht an, dann kürzen wir Ihnen erst mal das Arbeitslosengeld oder Sie kriegen gar kein Arbeitslosengeld mehr.«
Anstelle von Leistungskürzungen wurde Herrn Engelke allerdings ein »EinEuro-Job« angedroht, um seine Arbeitsbereitschaft zu überprüfen, die man aufgrund seiner Ablehnung entsprechender Stellen anzweifelte. Die Androhung verfehlte ihren Zweck, ihn zu Zugeständnissen zu erziehen, keineswegs: Um dem »Ein-Euro-Job« zu entgehen, arbeitete er tatsächlich für Zeitarbeitsfirmen, wo sich die vom ihm antizipierten negativen Erfahrungen (verzögerte oder ausbleibende Bezahlung, Prinzip des ›Hire and Fire‹) bewahrheiten. Mit dem Jobcenter hatte er danach zwar keine Probleme mehr, da er nun wohl als ausreichend arbeitsbereit beziehungsweise einsichtig galt; für ihn selbst waren diese Erfahrungen jedoch äußerst krisenhaft – nicht nur, weil sein Facharbeiterstolz damit vollends entwertet wurde, sondern auch, weil er sich den Forderungen der Arbeitsverwaltung letztlich hilflos beugen musste.
5. F AZIT »Zwar haben sich Inhalt und Sinn der Arbeit grundlegend gewandelt, aber die Veränderung hat sich in so unterschiedlichen und manchmal sogar gegensätzlichen Richtungen vollzogen, dass die Komplexität der Situationen, in denen die sozialen Subjekte ihr Verhältnis zur Arbeit aushandeln, ernsthafte soziologische Untersuchungen verlangt, ganz im Gegensatz zu den modischen Prophezeiungen kultureller Umbrüche, die angeblich zu einem allgemeinen und unwiderruflichen Niedergang des ›Wertes der Arbeit‹ führen.« (Castel 2011: 114)
Die Beispiele aus dem Datenmaterial lassen Bedeutungsdimensionen von Erwerbsarbeit sichtbar werden, die im öffentlichen Diskurs über Arbeitslosigkeit kaum thematisch sind – sei es, weil sie Erwerbslosen in autoritärer Weise abgesprochen werden, oder sei es, weil chancenlose Langzeiterwerbslose in den Blick genommen werden, die in ihrer Biographie kaum einen engeren, subjektiven Bezug zu einer bestimmten Tätigkeit entwickeln konnten.
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In den vorliegenden Fällen ist das Verhältnis zur Erwerbsarbeit weitaus komplexer als es die Dichotomie von Integration und Ausschluss nahelegt, unter die das Problem der Erwerbslosigkeit häufig subsumiert wird. Alle der befragten Erwerbslosen orientieren sich am ersten Arbeitsmarkt und leiden in starkem Maße an ihrer Erwerbslosigkeit. Was ihnen Erwerbsarbeit bedeutet, reicht aufgrund ihrer beruflichen Sozialisation und der konkreten Erfahrungen, die sie als Erwerbstätige gemacht haben, aber weiter als der alleinige Wunsch, unabhängig von Transferleistungen zu werden: Neben ökonomischer Autonomie geht es ihnen gerade auch, dies habe ich zeigen können, um Bedeutungsdimensionen, die die konkrete Praxis und inhaltliche Seite von Erwerbsarbeit betreffen und die Möglichkeit, die eigene Arbeit als positiv erleben zu können, ganz wesentlich mitbestimmen. Insofern befinden sie sich in einem schwierigen Abwägungsprozess: Trotz oftmals klarer Vorstellungen von einer ›guten‹ oder sinnstiftenden Beschäftigung sind sie gleichzeitig auch zu Kompromissen und Zugeständnissen bereit, um möglichst bald wieder erwerbstätig zu sein. Gehören sie schon insoweit zu jenen »sozialen Subjekten«, die, wie es Castel formuliert, »ihr Verhältnis zur Arbeit« in einer komplexen Situation »aushandeln« müssen, erschwert sich die Lage für sie ganz wesentlich durch die Arbeitsverwaltung beziehungsweise durch die forcierte Durchsetzung einer schlichten Arbeitsethik im Zuge der »Hartz-Reformen«. Da man ihnen offenbar nicht mehr zutraut, selbst daran interessiert zu sein, wieder einer Arbeit nachzugehen, und stattdessen davon ausgeht, Erwerbslose (gemäß eines kaum noch zeitgemäßen pädagogischen Modells) qua latenter wie manifester Disziplinierung erst ›motivieren‹ zu müssen, ist die Abhängigkeit von Transferleistungen für nicht wenige von ihnen mit einer (teils massiven) Entwertung und Gefährdung ihrer subjektiven Bezüge zu Erwerbsarbeit verknüpft. Dieser Punkt bleibt unberücksichtigt, wenn es im medialen Diskurs, wie es oft der Fall ist, um die Angehörigen der so genannten »neuen Unterschicht« geht, denen bereits eine grundsätzliche Erwerbsorientierung beziehungsweise Arbeitsbereitschaft weitgehend abgesprochen wird. Die Beispiele aus dem Datenmaterial zeigen darüber hinaus, dass die soziologischen Krisenbegriffe von Exklusion und Prekarisierung nicht ausreichen, um der Perspektive von Erwerbslosen auf Arbeit gerecht zu werden. Damit möchte ich den Blick auf Ausschließungsmechanismen und den Verlust von Sicherheit und Stabilität, die Arbeit einst bot, keineswegs kritisieren – es handelt sich selbstverständlich um wichtige Themen, mit denen neue Ungleichheitsdimensionen und Verletzbarkeiten sichtbar gemacht werden. Was bei diesem Fokus aber häufiger aus dem Blick gerät, ist eben, was Arbeit subjektiv dennoch oder darüber hinaus im positiven Sinne bedeuten kann. Wenn man sich stärker auf diese
S UBJEKTIVE B EZÜGE
ZU
E RWERBSARBEIT , N ORMEN
DER
A RBEITSMARKTPOLITIK
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Perspektive einlässt, wird im Gegenzug deutlicher, dass das »Fördern und Fordern« der Arbeitsverwaltung oftmals mit einer Krise für Erwerbslose verbunden ist, die über den Verlust ökonomischer Sicherheit und Planbarkeit hinausreicht: Es kann auch und gerade um den Verlust der Chance gehen, sich noch mit seiner Arbeit – mit ihrem Inhalt und der konkreten Praxis – zu identifizieren. Dieses Problem betrifft ebenfalls, und dies halte ich für einen ganz wesentlichen Punkt, geringer qualifizierte Erwerbslose, die einer eher ›einfachen‹, manuellen Tätigkeit nachgehen. Während man die hohe Motivation von Beschäftigten anderer Berufsfelder betont (Künstler/innen und Kreative, aber auch Wissenschaftler/innen, die trotz prekärer Existenzweise ihre Interessen in schöpferischer Weise verfolgen, bilden hier gewissermaßen die ›Speerspitze‹ in der Diskussion), geraten anderweitige subjektive Bezüge zur eigenen Tätigkeit (wie beispielsweise der Stolz darauf, qua körperlicher Arbeit ein größeres und greifbares Pensum zu bewältigen) in den Hintergrund. Um die Entwertung oder Relativierung solcher Deutungen ›guter‹ oder sinnstiftender Arbeit nicht zu reproduzieren, scheint der abschließende Hinweis äußerst wichtig, dass auch solche Arbeitnehmer/innen durch das »Fördern und Fordern« nicht wenig zu verlieren haben.
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Re-Präsentation eines idealen Arbeitsmarktes in Beratungsgesprächen der Bundesagentur für Arbeit F RANK S OWA , R ONALD S TAPLES
Re-Präsentation, Dramaturgie, Inszenierung; Begriffe, die eine zentrale Funktion in unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen einnehmen und seit geraumer Zeit in die soziologische Analyse von Gegenwartsgesellschaften wie in die Kultursoziologie diffundiert sind. In unserem Beitrag stellen sie analytische Werkzeuge dar, um den empirischen Gegenstand – Beratungsgespräche in der Bundesagentur für Arbeit (BA) – funktional und formal zu reflektieren.1 Wir wollen zeigen, wie der Mythos eines idealen Arbeitsmarktes, zusammengesetzt aus selbstregulierenden Teilarbeitsmärkten, qua Inszenierung2 ›Beratungsgespräch‹ sozial aufgeführt wird. Zusammenfassend gesagt, wollen wir eine Rekonstruktion und Interpretation der Beobachtung einer spezifischen Praxis
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Die Autoren danken Barbara Knapp, Elke Lowien-Bolenz, Carmen Pilger, Christian Sprenger und Stefan Theuer für ihr großes Engagement und ihre Unterstützung im intensiven Erhebungsprozess des qualitativen Forschungsprojektes Praxis des Vermittlungsprozesses: Qualitative Evaluation des Modellversuchs ›Erhöhte Arbeitsvermittlerkapazität in ausgewählten Regionaltypen (1:70)‹ des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB).
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Eine eingehende Diskussion des Inszenierungsbegriffs kann im Rahmen dieses Textes nicht geleistet werden, siehe zur Relevanz von Inszenierung in der Gesellschaft Suchanek/Hölscher (2009). Im Sinne Martin Seels (2007) jedoch kann auch das Beratungsgespräch mit seiner spezifischen Form als Inszenierung beschrieben werden, als ein Erscheinenlassen von Wirklichkeit, oder anders ausgedrückt, eine spezifische kleinteilige Rahmung von sozialer Wirklichkeit.
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und der sie prägenden Praktiken vorstellen.3 Um den empirischen Gegenstand ›Beratungsgespräch‹ mit dem Konzept der ›sozialen Aufführung‹ vergleichen zu können, bedienen wir uns als tertium comparationis Begriffen, die vornehmlich in ästhetischen Kontexten gebraucht werden. Methodologisch bewegen wir uns damit auf einem theoriegenerierenden Feld (Glaser/Strauss 1998), auf welchem wir versuchen, durch Anwendung ›disziplinfremder‹ Begriffe auf das ›konventionell‹ gewonnene Datenmaterial, dieses zu interpretieren und diesen sozialen Tatbestand rekonstruktiv zu problematisieren.4 Ein kurzer Blick in das Sozialgesetzbuch III (SGB III) liefert einen ersten Hinweis darauf, in welches Dispositiv die Praxis der Arbeitsvermittlung eingebettet ist bzw. welcher institutionellen Rahmung die ›aktive Arbeitsmarktpolitik‹ unterliegt. Am Beginn des Gesetzestextes § 1 Satz 1 heißt es: »Die Arbeitsförderung soll dem Entstehen von Arbeitslosigkeit entgegenwirken, die Dauer der Arbeitslosigkeit verkürzen und den Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt unterstützen.« Der Unterstützungsanspruch in § 1 zeigt an, dass ein Ausgleich, eine Mediation zwischen Angebot und Nachfrage das Ziel des Gesetzes ist. Ebenso impliziert diese Formulierung, dass dieser Ausgleich keine Utopie, sondern eine realistische Möglichkeit ist, worauf das Verb ›unterstützen‹ hindeutet. Diesem Primat, der auf Ausgleich zielenden Unterstützung, werden alle anderen Ziele der Arbeitsmarktpolitik nachgeordnet. Indizien hierfür finden sich beispielsweise in § 4 zum Vorrang der Vermittlung oder in § 16, der eine Definition von Arbeitslosigkeit festschreibt: Im Satz 2 heißt es dazu: »Teilnehmer an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik gelten als nicht arbeitslos.« Das Streben nach Ausgleich hat somit Auswirkungen auf die Zuerkennungs- bzw. Zuschreibungsweise des rechtlichen Status als Arbeitsloser. Die Imagination des Funktionierens eines als einheitlich vorgestellten Arbeitsmarktes schlägt sich auf unterschiedlichen Akteursebenen der Arbeits-
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Die hier verwendeten Daten – teilnehmende Beobachtung von 94 Beratungsgesprächen in Dienststellen der Bundesagentur für Arbeit, flankiert von leitfadengestützten Interviews mit Arbeitsuchenden, Führungs- und Vermittlungsfachkräften – wurden im Zuge eines Forschungsprojekts am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) erhoben, das einen von 1. Mai 2007 bis 31. Dezember 2010 laufenden Modellversuch der Bundesagentur für Arbeit evaluierte (Hofmann et al. 2010; 2012).
4
Erving Goffman hat in Wir alle spielen Theater (Goffman 2001) einen ähnlichen Weg gewählt, wenngleich nur konzeptionell. Nichtsdestotrotz ist uns aus erkenntnistheoretischer Perspektive unsere Re-Konstruktion der ›sozialen Aufführung Beratungsgespräch‹ bewusst (vgl. Meinefeld 1995).
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marktpolitik nieder: Wie in der kurzen Nachlese des Gesetzestextes angedeutet, wird diese Vorstellung in arbeitsmarktpolitischen Texten repräsentiert. Sie findet sich nicht nur in den Sozialgesetzbüchern, sondern auch in Berichten der Bundesregierung oder internen Papieren der Bundesagentur wie den Handlungsempfehlungen und Geschäftsanweisungen (HEGA). Diese (konventionelle) Repräsentation erlangt jedoch durch die »Re-Präsentation« in der Praxis der Arbeitsvermittlung zwingende, d.h. handlungsleitende Präsenz. Diesen hier verwandten Begriff von »Re-Präsentation« beschreibt Hans-Ulrich Gumbrecht als ›Wiedervergegenwärtigen‹, präziser: »Solche Re-Präsentation ist nicht Stellvertretung für etwas abwesend Bleibendes, sondern die Produktion der erneuten Präsenz von etwas zuvor abwesend Gewesenem« (Gumbrecht 2001: 65). In der Interaktion zwischen Vermittlungsfachkraft und Arbeitslosem respektive ›Kunden‹ wird ein Begriff von Arbeitsmarkt gegenwärtig, welcher nach dem Dispositiv des sich selbst ausgleichenden, nach Balance von Angebot und Nachfrage strebenden Marktes gestaltet ist. In der Aufführung des Arbeitsvermittlungsgesprächs wird dieses Ideal für den Arbeitslosen wahrnehmbar und handlungsleitend, da die inhaltlichen Aushandlungsprozesse in dem Arbeitsvermittlungsgespräch, durch diese Re-Präsentation normiert werden. Die konventionellen Handlungsalternativen der Arbeitsuchenden können sich dann nur mehr in dem re-präsentierten Korridor bewegen. Im Kontext unserer Untersuchung hat diese Form von sozialer Aufführung gravierende Auswirkungen auf das Handeln wie die Handlungsfähigkeit der betroffenen Akteure, also der Arbeitsuchenden und (mit anderer Konsequenz natürlich) auch der Arbeitsvermittler als Agenten der Organisation; ihre Handlungsoptionen werden sukzessive eingeschränkt bis sie sich auf den sehr schmalen Korridor der immer weiter notwendigen Steigerung von Bewerbungsaktivitäten zubewegen. Die auf den legislativen Rahmenbedingungen aufsattelnden behördlichen Strategien für die soziale Aufführung des Beratungs- und Vermittlungsgespräches werden im folgenden Abschnitt erläutert.
1
D IE STAATLICHE B EARBEITUNG VON A RBEITSLOSIGKEIT IM R ECHTSKREIS
DES
SGB III
Aus der Sicht der Bundesagentur für Arbeit hat sie sich von einer Behörde zu einem modernen Dienstleister am Arbeitsmarkt entwickelt (vgl. Weise 2011; Weise/Alt/Becker 2009). Dieser Dienstleister verpflichtet sich der betriebswirtschaftlichen Logik (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006). So wird der Ressourceneinsatz durch Handlungsprogramme vorgegeben (vgl. Kalten-
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born/Knerr/Schiwarov 2006). Seit der Einführung des Kundenzentrums der Zukunft (vgl. Mauer 2006; Schütz/Ochs 2005; Schütz/Oschmiansky 2006; Sell 2006; Vaut 2004) sind die ›Kundenströme‹ innerhalb der Agenturen neu geregelt; terminierte Vorsprachen sorgen für kürzere Wartezeiten der Arbeitsuchenden, telefonische Anfragen werden von einem Service-Center entgegengenommen und entlasten die Vermittlungsfachkräfte. Diese sind nunmehr arbeitsteilig organisiert (vgl. Sowa/Theuer 2010): Arbeitnehmerorientierte Vermittlungsfachkräfte kümmern sich um Arbeitsuchende, während arbeitgeberorientierte Vermittlungsfachkräfte Stellenangebote von Arbeitgebern akquirieren. In der arbeitnehmerorientierten Vermittlung ist das erste Beratungsgespräch in der Agentur für Arbeit von besonderer Relevanz, denn in diesem wird von jedem Arbeitsuchenden ein detailliertes Profil erstellt. Dabei werden nicht nur zertifizierte Fertigkeiten und Berufs- und Bildungsabschlüsse kategorisiert, sondern in zunehmendem Maße individuelle Fähigkeiten und Neigungen. Dies geschieht seit 2009 mithilfe des so genannten 4-Phasen-Modells der arbeitnehmerorientierten Integrationsarbeit. Dieses Konzept bildet für die Vermittlungsfachkräfte in den beiden Rechtskreisen SGB II und SGB III einen verbindlichen strukturellen Rahmen, in dem sie fallangemessen und individuell handeln können. Zudem strukturiert es das Beratungsgespräch, das sich konzeptionell in vier Phasen gliedert: (1) Profiling/Situationsanalyse, (2) Zielfestlegung, (3) Strategieauswahl (ggf. Auswahl von Strategiebündel), sowie (4) Umsetzung und Nachhaltung. Es deutet sich an, dass diese vier Phasen verbindliche und aufeinander aufbauende dramaturgische Elemente bilden, die nicht nur ein umfassendes Bewerberprofil des Arbeitsuchenden ermöglichen sollen, sondern, was für unser Interesse an dieser Stelle wichtiger ist, einer spezifischen und mithin ›zwingenden‹ Aufführungsform entsprechen. Damit verbindet sich auch eine relativ stringente Rollenverteilung zwischen Vermittlungsfachkraft und Arbeitsuchendem.
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D AS V ERMITTLUNGS - UND B ERATUNGSGESPRÄCH ALS A UFFÜHRUNG – M YTHOS DES ›A RBEITSMARKTES ‹
Das Gespräch zwischen Arbeitsvermittler und Arbeitslosen ist in einen sehr voraussetzungsreichen institutionellen Kontext eingebettet. Einerseits tritt ein Individuum einem anderen gegenüber, was an sich schon eine komplexe Situation darstellt. Darüber hinaus interagiert ein um institutionelle Versicherungsleistung ansuchendes Individuum mit einem Vertreter einer Institution, in diesem Fall einer bürokratischen Organisation. Der so angesprochene Akteur (die Vermitt-
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lungsfachkraft) ist qua funktional ausdifferenzierter behördlicher Struktur in seinen Handlungsalternativen eingeschränkt, dabei jedoch im Gegensatz zum ›Kunden‹ mit einem weitaus höheren Maß an Handlungsmacht ausgestattet, gerade weil er in die organisationalen, judikativ vorgeprägten Strukturen (gesetzlicher Auftrag) eingebettet bzw. involviert ist. Man kann schon nach einem flüchtigen Blick feststellen, dass das ›Genre‹ des Arbeitsvermittlungsgespräches einem relativ stringenten Drehbuch folgt, das neben der Haupthandlung nur wenige Nebenschauplätze zulässt. Um Form und Funktionieren dieser Art von Interaktionen in bürokratischen Organisationen angemessen beschreiben und analysieren zu können, rekonstruieren wir beobachtete Beratungsgespräche als spezifische soziale Aufführungen.5 Die Interpretation dieser Gespräche als soziale Aufführungen erlaubt es, uns von der Verhaftung im konkreten Gegenstand zu lösen und dadurch die Möglichkeit zu gewinnen, seine Struktur schärfer extrapolieren zu können. Die Bundesagentur für Arbeit versteht sich als ein ›Dienstleister am Arbeitsmarkt‹, was auch schon im Gesetzestext durch die Betonung der Unterstützungsfunktion der Bundesagentur deutlich wird. Der jeweilige Vollzug der sozialen Aufführung des Arbeitsvermittlungsgesprächs entfaltet vermittels seiner Dramaturgie jedoch eine Initiation des Individuums als Unterwerfung6 unter spezifische, gesetzlich verankerte und organisational ausformulierte Handlungsrichtlinien. Gliedert man die Aufführung ›Erstgespräch‹ nach dieser ›performativen Strategie‹, dann können in dieser Aufführung drei große Subjektivierungsabschnitte isoliert werden, die vereinfacht auf die Dreiteilung in der klassischen Dramentheorie bezogen werden (vgl. Freytag 1965). Auch wenn sich das Beratungsgespräch nach dem 4-Phasenmodell in vier Phasen teilt, übersetzen wir dieses in das ästhetische Register der Dreiteilung, da sich viele inhaltliche Elemente des Beratungsgesprächs überschneiden. Die Dreiteilung bezieht sich in unserer
5
Der Aufführungscharakter von Interaktionen in unterschiedlichen Situationen ist von Erving Goffman extensiv untersucht worden (Goffman 2001; 2005; 2008). Jedoch gibt es auch in der neueren Kultursoziologie Ansätze, die sich mit sozialen Inszenierungsfragen auseinandersetzen, etwa Herbert Willems und Christoph Wulf aus einem sozialanthropologischen Blickwinkel (Willems 2009b; Wulf 2005).
6
Mit dem Begriff der ›Unterwerfung‹ kennzeichnet Judith Butler eine spezifische Form der Subjektivierung, der Subjektivation, welche geprägt ist durch Machtkonstellationen. Die Unterwerfung kennzeichnet dabei begrifflich nicht das Unterwerfen unter einen anderen Willen, sondern einen Prozess, in welchem ein Individuum zu einem spezifischen Subjekt wird, und zwar durch die performative ›Anerkennung‹ (Subjektivierung) spezifischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse (vgl. Butler 2001).
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Übersetzung mehr auf den Prozess der Subjektivierung und Stufen der RePräsentation als auf inhaltliche Momente arbeitsvermittlerischer Provenienz. In unserem Fall heißt das, dass die Kündigung oder die Befristung des Arbeitsvertrages bereits die Aufnahme und die Art des Kontakts des Individuums mit der behördlichen Organisation präformieren. In unserer Übersetzung in eine dreigliedrige Dramaturgie fassen wir die Interaktionen zwischen Vermittlungsfachkraft und Arbeitsuchenden in den drei Aufführungsteilen Exposition, Peripetie und Katastrophe (bzw. die Auflösung des Konflikts) zusammen (Aristoteles 1994). Gleichwohl sich inhaltliche Überschneidungen ergeben und die Praxis nicht die Abgeschlossenheit der analytischen Form erreichen kann, machen die von uns rekonstruierten Aufführungsteile die teils bezwingenden Handlungsanleitungen sichtbar, die Grundlage der so aufgeführten Beratungsgespräche sind. Die analytischen Unterscheidungsmerkmale der Aufführungsteile7 werden im Folgenden skizziert. In der Exposition werden dem arbeitsuchenden Individuum Merkmale zugeschrieben, die eine berufsbiographische Subjektivierung ermöglichen sollen, und die Rollen werden verteilt sowie facettiert, die typischerweise in der Arbeitsvermittlung eingenommen werden. Die Bandbreite, die eine Vermittlungsfachkraft hier besetzen kann, reicht von psychosozialer BeraterIn über Verwaltungsexekutionskraft bis hin zu offensiv disziplinierender PädagogIn. Die Arbeitsuchenden hingegen verfügen zumeist nur über die Rolle, die sich aus ihrer ehemaligen Berufs-Position ergibt, wonach sich auch tendenziell die Rollenausrichtung der Vermittlungsfachkraft ausrichtet. Der potenzielle Konflikt entfaltet sich entlang dem Einsatz der der Vermittlungsfachkraft zur Verfügung stehenden Steuermöglichkeiten im Gesprächsverlauf: Dem subjektivierten Arbeitsuchenden wird die generelle und folgend seine persönliche Arbeitsmarktlage aufgezeigt, was mithin spezifische Handlungsfolgen (auf beiden Seiten des Tisches) auslösen kann. Bisweilen kommen computergestützte Elemente wie eine Berechnungshilfe der jeweiligen Arbeitsmarktchancen (BAC) zum Einsatz, um die individuellen Lagen auf dem Arbeitsmarkt zu visualisieren und ggf. entscheidungsunterstützend wirken können.
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»Drama« und »Aufführung« sind in der Theaterwissenschaft zwei streng zu unterscheidende Begriffe, da ersterer seinen Ursprung und auch aktuelle Verwendung in den Literaturwissenschaften findet und sein Gegenstand der geschriebene Dramentext (eine literarische Gattung) ist, und zweiterer den zentralen empirischen Gegenstand der jüngeren Theaterwissenschaften bezeichnet, also auf einen spezifischen raumzeitlichen ästhetischen Darstellungsprozess abhebt, siehe dazu exemplarisch Lehmann (1999).
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Um einerseits den ›worst case‹ der Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder möglichst kurz zu halten und gleichzeitig den Anspruch auf die Versicherungsleistung stetig zu legitimieren, werden im Element der Peripetie die Verpflichtungen des Aspiranten erläutert, ausgehandelt und festgelegt. Als Umschlag bzw. zentrales Element der Handlungsentwicklung ist diese Verpflichtungsfestlegung (im Normalfall die Anzahl nachzuweisender Bewerbungsbemühungen in periodischen Zeitabständen) deswegen zu werten, da sich in ihr die Bereitschaft des/der Arbeitsuchenden, sich aktivieren zu lassen, und der individuelle Grad an konventionalem Handeln zeigen. Durch die formale Festlegung auf sanktionsbewehrte Eigenleistungen verändert sich spätestens an diesem Punkt die Interaktionsform von kooperativ hin zu direktiv. Die Freiheitsgrade für künftige Handlungsmöglichkeiten, um die drohende oder bereits eingetretene Arbeitslosigkeit abzuwenden verengen sich auf den Korridor der formal festgelegten Optionen. Denn zu der Option durch falsches Handeln weiter in Arbeitslosigkeit zu verharren, gesellt sich die Gefahr zudem für dieses Handeln sanktioniert zu werden. Im dritten und finalen ›Handlungsteil‹ des Beratungsgesprächs – Katastrophe – signieren in einer abschließenden schriftlichen Vereinbarung beide beteiligten Akteure das Ergebnis der vorangegangenen Interaktionen. Vornehmlich legt dieser Als-ob-Vertrag8 konkrete, individuelle Handlungsweisen des/der Arbeitsuchenden fest. Organisationsseitig werden häufig Verpflichtungen eingetragen, die dem Wortlaut des gesetzlichen Auftrages sehr ähnlich sind und selten auf individuelle Belange eingehen (vgl. Schütz et al. 2011). Die Aufführung des Beratungsgespräches wird somit weitgehend determiniert durch klar bestimmte Handlungselemente und deren Position im Kontext des Gesamtgesprächs ist festgelegt.9 Nicht wenige öffentliche Gesprächsformate sind intensiv strukturiert und gegenstandszentriert; ein Arzt–Patientengespräch folgt ebenfalls einer spezi-
8
Die Form der Eingliederungsvereinbarung ähnelt zwar stark einem Vertrag, jedoch ist diese Vereinbarung nicht vom wechselseitigen Einvernehmen der Vertragsparteien abhängig. Verweigert ein Arbeitsuchender die Zustimmung zu einer spezifischen Vereinbarung, so können seine individuellen Verpflichtungen per Verwaltungsakt durchgesetzt werden.
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In bürokratischen Organisationsformen gibt es formalisierte Schnittstellen, um mit der Organisation zu interagieren. Das Vermittlungsgespräch in der Bundesagentur stellt genauso eine Schnittstelle dar. Jedoch ist dieses Gespräch kein frei führbarer Dialog, sondern ebenfalls stark formalisiert. Die Rekonstruktion dieses formalisierten Gesprächsverlaufs mit den Begriffen des Dramas soll deutlich machen, dass die einzelnen Gesprächsteile einen bestimmten Gesprächsverlauf und Ergebnis begünstigen sollen.
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fischen Dramaturgie und endet mit einer ›Katastrophe‹, einer Diagnose und einer zugehörigen Handlungsempfehlung, um den Heilungsprozess anzustoßen. Im Fall des Beratungsgesprächs als ›Kunde‹ der Bundesagentur für Arbeit scheint jedoch ein Spezialfall des »Individuums im öffentlichen Austausch« (Goffman 2000a) vorzuliegen. Denn hier verknüpfen sich zwei Merkmalskomplexe zu einem für den Einzelnen nur mehr schwer zu überblickenden Anspruchs- und Handlungszusammenhang. Das Individuum interagiert, metaphorisch gesprochen, schon lange vor dem Erstgespräch mit der Organisation und zwar mittels einer wie auch immer gearteten Meldung und der Bearbeitung eines, im Einzelfall sehr umfangreichen Arbeitspaketes, welches den Leistungsanspruch des Einzelnen legitimieren soll und die Subjektivierung zum Arbeitslosen vorbereitet. Hinzu tritt dann die Interaktion der Vermittlungsfachkraft mit dem potenziellen Kunden nach der oben skizzierten ›Dramaturgie bürokratisch institutionalisierter Arbeitslosigkeit‹. Der vielleicht gravierendste Unterschied zu einem Arzt/Patientenverhältnis ist dabei die Subjektivierung qua Signatur: damit unterwirft sich der Arbeitsuchende und erlangt den rechtlich relevanten Status des ›Arbeitslosen‹. Es ist ein Akt der gleichzeitigen Fremd- und Selbstzuschreibung. Im Vergleich dazu gewährt der Patient dem Arzt einen viel höheren Vertrauensvorschuss und akzeptiert eine Diagnose und die damit verbundene Verhaltensempfehlung gemeinhin ohne eine vertragsäquivalente Dokumentation. Um die theoretischen Überlegungen zu konkretisieren, werden nun in zwei Stufen Exempel aus der qualitativen Erhebung vorgestellt. In der Zweistufigkeit soll sich deutlich zeigen, wie (1) der Mythos von sich selbst regulierenden Teilarbeitsmärkten die organisationalen Strukturen prägt sowie sich in der (widersprüchlichen) Konzeption der Marktkunden äußert und sich (2) im einzelnen Beratungsgespräch re-präsentiert.
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E MPIRISCHE B EFUNDE : I DEALER A RBEITSMARKT , M ARKTKUNDEN UND DIE D RAMATURGIE DES B ERATUNGSGESPRÄCHES
3.1 Derjenige, der nicht da sein dürfte: Der Marktkunde der Agentur für Arbeit Mit der Einrichtung des Kundenzentrums der Zukunft wurde eine Segmentierung der Arbeitsuchenden nach ihrem Beratungs- und Betreuungsbedarf vorgenommen, um die Ressourcen der Bundesagentur für Arbeit – darunter fallen nicht nur die Ausgaben für Maßnahmen, sondern auch die Arbeitszeit der Ver-
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mittlungsfachkräfte – zielgruppenspezifisch einzusetzen. In den Vorschlägen zur Kundensegmentierung, die die Kommission ›Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt‹ den politischen Entscheidern unterbreitete, finden sich neben Beratungs- und Betreuungskunden die so genannten Informationskunden wieder. Für die letztgenannte Gruppe sollen in erster Linie Informationen bereitgestellt werden, da sie – so die Annahme – selbst in der Lage sind, erfolgreich eine neue Stelle zu finden (Kommission »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« 2002: 70f.). In die Praxis diffundierte die Kundendifferenzierung in die Gruppen Marktkunden, Beratungskunden Aktivieren, Beratungskunden Fördern und Betreuungskunden (vgl. Bieber et al. 2005), später differenzierten sich die Profillagen noch weiter aus (Markt-, Aktivierungs-, Förder-, Entwicklungs-, Stabilisierungs- und Unterstützungsprofil). Die Informationskunden wurden damit zu Marktkunden (Marktprofil), also Kunden, die sich grundsätzlich ohne die Unterstützung der Bundesagentur selbst vermitteln können. Vermittlungsfachkräfte ordnen Arbeitsuchende dieser Kategorie zu, wenn sie keinen Handlungsbedarf feststellen, wenn also das Engagement der Kunden hoch ist, die Arbeitsmarktbedingungen für die gesuchte Tätigkeit sowie die nachgewiesenen Qualifikationen des Arbeitsuchenden gut und keine Hemmnisse, wie zum Beispiel ein schlechter Gesundheitszustand, offensichtlich sind. In diesen Fällen streben die Vermittlungsfachkräfte eine schnellstmögliche und möglichst nachhaltige Vermittlung der Arbeitsuchenden in den ersten Arbeitsmarkt an. Von der ursprünglichen Idee der Informationskunden weicht jedoch das Konzept der Marktkunden ab, da diese Kunden in den Vermittlungsprozess der Bundesagentur für Arbeit vollständig integriert werden, d.h. wie alle anderen Kunden haben auch sie Beratungsgespräche mit ihrer Vermittlungsfachkraft in bestimmten Abständen und erhalten regelmäßig Stellenangebote in Form von Vermittlungsvorschlägen vom Arbeitgeberservice. Nimmt man einen idealen Arbeitsmarkt an, auf dem Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage sich ausgleichen, dann stellen Marktkunden die Repräsentanten des idealen Arbeitsmarktes dar: Sie sind diejenigen, die aufgrund der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt schnell wieder eine neue Stelle finden müssten. Zugespitzt formuliert: Sie sind diejenigen, die gar nicht da sein dürften.10
10 Wenn die selbstregulierenden Marktkräfte Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage nicht ausgleichen, sprechen Ökonomen von einem qualitativen Mismatch (vgl. Stops 2008). Die öffentliche Arbeitsvermittlung spielt auf den so genannten ›Suchmärkten‹, die typischerweise durch Informationsunsicherheiten geprägt sind, eine wichtige Rolle: Sie »filtert Informationen auf beiden Seiten des Marktes und kann Nutzen stiften, indem sie zu einer erfolgreichen Stellenbesetzung beiträgt. Sie erfüllt alle Voraussetzungen für eine marktfähige Dienstleistung, da für die Bereitstellung des knappen Gutes
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Diese Konstruktion der Marktkunden evoziert bei Vertretern der öffentlichen Arbeitsverwaltung nachvollziehbares Unbehagen, wenn diese sich bei einer sehr guten Arbeitsmarktlage arbeitsuchend melden oder wenn sich diejenigen, die nicht da sein dürften, längere Zeit in Leistungsbezug befinden. Manchen Marktkunden wird in diesen Fällen von Fach- und Führungskräften in den Agenturen für Arbeit unterstellt, dass sie keine Motivation hätten oder in erster Linie ihren Anspruch auf Leistung wahrnehmen würden. Außerdem würden sich Arbeitsuchende von anderen Dingen ablenken lassen, anstatt den Prozess der Stellensuche zu beschleunigen: »Das sind so die Klassiker, ich bin froh, dass ich jetzt mal zu Hause bin, ich habe sowieso noch einen Haufen zu tun« (Interview 07_02, Abs. 211). Daher müssen »diese vierzehn Tage Wohnungsrenovierung beim Kunden wieder aufs Wochenende […] [verlagert werden], wo es hingehört« (Abs. 213). Die Annahme eines idealen Arbeitsmarktes führt zu dem Widerspruch, dass sich Arbeitsuchende in der Agentur für Arbeit einfinden, die eigentlich gar nicht arbeitslos werden dürften. Da diese in die Vermittlungsprozesse der Bundesagentur für Arbeit integriert werden, finden – wie im folgenden Fall – regelmäßig Beratungsgespräche mit Vermittlungsfachkräften und Arbeitsuchenden statt. 3.2 Die Aufführung eines idealen Arbeitsmarktes anhand eines Fallbeispiels In dem von uns hier vorgestellten, etwa 70-minütigen Beratungsgespräch treffen die 50-jährige Vermittlerin Frau Z. und die 21-jährige Arbeitsuchende Frau B. aufeinander. Letztere befindet sich gerade in der Endphase ihrer Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten, der Prüfungstermin soll vier Wochen nach dem Gesprächstermin stattfinden. Danach endet das Arbeitsverhältnis. Aufgrund der Tatsache, dass sie von ihrem jetzigen Arbeitgeber kein verbindliches Übernahmeangebot erhalten hat, meldete Frau B. sich arbeitsuchend in der Agentur für Arbeit. Exposition Das beobachtete Beratungsgespräch ist ein Erstgespräch, in dem die Vermittlerin ein elektronisches Bewerberprofil anlegt, in dem der bisherige berufliche Werdegang, die Kenntnisse und Fähigkeiten und die Stärken aufgenommen werden.
Information – über die Verfügbarkeit und Qualität von Stellen und Bewerbern – eine Zahlungsbereitschaft bei ihren Kunden erwartet werden kann« (Konle-Seidl/Walwei 2002: 172).
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Frau Z. bestärkt die Arbeitsuchende gleich zu Beginn des Gesprächs in ihrer Entscheidung, sich aufgrund der unklaren Situation nach ihrer Abschlussprüfung arbeitsuchend gemeldet zu haben: »Ist ja richtig. Und da haben Sie vollkommen richtig reagiert, indem Sie sich arbeitsuchend erst mal gemeldet haben und, äh, damit die Möglichkeit natürlich wahrnehmen, so, äh, gut wie möglich auf dem Arbeitsmarkt sich unterzubringen. Vollkommen richtig« (Abs. 12). Die Vermittlungsfachkraft erwähnt bereits in dieser Passage den Arbeitsmarkt, auf dem sich die Kundin ›unterbringen‹ kann – das Einschalten der Agentur für Arbeit gibt ihr die ›Möglichkeit‹ dazu. Hierfür ist das Erstellen des Bewerberprofils von entscheidender Bedeutung, denn jenes enthält einen Katalog von potenziell relevanten berufsbiographischen Merkmalen, die Voraussetzung zur Vermittlung sind: Vom Bewerberprofil kann man in der BA gemeldete Stellen suchen, vom Stellenprofil kann man in der BA registrierte Arbeitsuchende, die so genannten Bewerber, suchen. Für das Erstellen eines Bewerberprofils nehmen sich beide Gesprächspartner 13 Minuten Zeit. Peripetie Im Anschluss daran führt Frau Z. einen Suchlauf für den Zielberuf ›medizinische Fachangestellte‹ durch. Das bedeutet, dass sie das erstellte Bewerberprofil von Frau B. mit den in der Jobbörse der BA gemeldeten Stellen vergleicht. Die Vermittlerin macht die Arbeitsuchende darauf aufmerksam, dass sich ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen, wenn sie bereit dazu ist, in einem größeren regionalen Umkreis Stellenangebote zu suchen (Abs. 171). Frau Z. findet eine Reihe von Stellenangeboten, zwei davon werden als Vermittlungsvorschläge ausgehändigt. Sie fordert Frau B. auf, selbstständig in der Jobbörse zu suchen: »Hier haben Sie die Möglichkeit auch selber zu schauen, das würde ich Ihnen auch immer empfehlen, da hineinzugehen in das System und sich die Stellen anzugucken und zu sehen, ähm, auch wenn wir jetzt ein bisschen suchen müssen, zu Ihrem Fachgebiet, aber es gibt doch eine ganze Reihe an Stellen und, ähm, da sollten Sie auch wirklich schon aktiv werden und gezielt gucken« (Abs. 206). Die Vermittlungsfachkraft fordert Frau B. auf, regelmäßig die Jobbörse zu besuchen: »Ich denke, wenn Sie da alle sieben Tage, also jede Woche einmal, reinschauen, dann haben Sie da gute Möglichkeiten eine ganze Reihe an Stellen zu finden, es wird ja auch immer aktualisiert« (Abs. 210). Nach ihrer Prüfung könne Frau B. auch im »Zweitagesrhythmus« (Abs. 210) Stellen suchen. Hier zeigt sich, dass die Vorstellung der selbstregulativen Mechanik des Arbeitsmarktes als notwendige Voraussetzung die unablässige Aktivität der ›Kunden‹ hat. Obwohl Frau B. bereits angekündigt hat, bundesweit nach Stellen zu suchen, setzt die Vermittlungsfachkraft die elektronische Berechnungshilfe Arbeits-
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marktchancen (BAC) ein, um der Arbeitsuchenden zu verdeutlichen, dass eine bundesweite Stellensuche erfolgsversprechend sei: Der Arbeitsmarkt erscheint in diesem Zusammenhang als der Ausgleich von Angebot und Nachfrage zwischen Arbeitsplätzen und Arbeitskräften. Als Erklärungsfaktor wird dabei ein ökonomischer Marktmechanismus gesehen. Marktwirtschaftliche Wirkungskräfte strukturieren demnach das Erwerbsgeschehen.11 Aus der Sicht der Vermittlerin Frau Z. sind genügend offene Stellen vorhanden, die eine Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt ermöglichen. Hinzu kommt, dass sich die Arbeitsuchende für die Vermittlungsfachkraft als ›konforme Kundin‹ herausstellt. Frau Z. verhehlt nicht, dass sie von der Arbeitsuchenden überzeugt ist, was sich durch deren Motivation oder Reisebereitschaft äußert (»Solche Kunden haben wir gern«, Abs. 115; »Ganz motiviert sind Sie aus meiner Sicht auch, und bemühen sich da«, Abs. 212). Diese Zuschreibung scheint die Vermittlungsfachkraft nicht nur aus dem verbal zustimmenden Verhalten von Frau B. zu gewinnen, sondern auch ihre nonverbalen Interaktionsanteile scheinen diesen ›Eindruck‹ zu verstärken (vgl. Goffman 2001). Frau B. nimmt während des ganzen Gesprächs eine sehr aufrechte Sitzhaltung ein, die Beine stehen entweder eng parallel zueinander oder sind übereinandergeschlagen. Ihre Kopfhaltung ist meist leicht nach vorne geneigt, in Richtung ihrer Gesprächspartnerin und viele Aufforderungen oder Fragen der Vermittlerin werden mit einem deutlichen Nicken quittiert. Beim Reden gestikuliert Frau B. sehr wenig mit den Händen, zumeist ruhen diese flach übereinandergelegt in ihrem Schoß. Abschließend stellt die Vermittlungsfachkraft fest: »Aus dem Profiling heraus, ähm, würde ich jetzt mal eine Standortbestimmung machen, und würde einfach mal sagen, äh, Sie sind ein Topkandidat für die Vermittlung, ähm, hier sind alle Bedingungen sehr gut erfüllt, Sie möchten gern bundesweit, äh, vermittelt werden« (Abs. 222). Bis auf die fehlende Berufserfahrung sind keine vermittlerischen Hemmnisse identifizierbar: »Und aus der Sicht heraus denke ich, dass Sie, äh, bei der Motivation doch ganz schnell vielleicht auch sogar ohne eine Arbeitslosigkeit, äh, was wir gerne anstreben würden, ähm, sofort eine Arbeit zu finden, ja« (Abs. 222). Schließlich prognostiziert Frau Z., dass die Integration in den Arbeitsmarkt schnell gelingen könne.
11 Ludger Pries hat darauf hingewiesen, dass in einer soziologischen Betrachtung der Markt nur eine von mehreren erwerbsstrukturierenden Institutionen darstellt (1998). Demnach werden individuelle Erwerbsverläufe kontext- und lebensphasenspezifisch von unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen strukturiert, zu denen Pries – neben dem Markt – auch Betrieb, Beruf, Clan und das wohlfahrtsstaatliche System der sozialen Sicherung zählt (vgl. ebd.).
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Katastrophe Nachdem die Vermittlerin Frau Z. die Bewerbungsunterlagen von Frau B. gesichtet, Verbesserungsvorschläge unterbreitet und Tipps zur Bewerbung gegeben hat, wechselt Frau Z. das Thema: Sie weist die Arbeitsuchende darauf hin, dass von ihr Aktivitäten verlangt werden, die in Form einer Eingliederungsvereinbarung festgehalten werden und die sie als Vermittlerin beim nächsten Gespräch überprüfen wird. Diesen Abschnitt des Gespräches leitet die Vermittlungsfachkraft mit den Worten »So, jetzt möchte ich was von Ihnen« (Abs. 298) ein. Neben anderen Dingen wird die Anzahl der Bewerbungen zwischen der Vermittlerin und der Arbeitsuchenden verhandelt und festgeschrieben. Diese ›Aushandlung‹ ist nicht wirklich ergebnisoffen.12 Schließlich werden rechtliche Belehrungen in die Eingliederungsvereinbarung aufgenommen: »Obligatorisch kommen die ganzen Belehrungen schon mit dran, dass Sie verpflichtet sind, uns in Kenntnis zu setzen, wenn es irgendwelche Veränderungen gibt« (Abs. 310). Frau Z. beendet die Erstellung der Eingliederungsvereinbarung und druckt sie der Arbeitsuchenden aus: »Diese Eingliederungsvereinbarung, die wir grad gemeinsam besprochen haben, würde ich jetzt für Sie noch mal ausdrucken, dass Sie das noch mal durchlesen und wenn Sie noch Fragen dazu haben, dann können Sie das jetzt auch gleich tun« (Abs. 312). Sehr höflich bedankt sich Frau B. für das Aushändigen der Eingliederungsvereinbarung: »Aber super, dass ich es noch mal ausgedruckt hab, dass man wirklich nichts vergisst« (Abs. 317). Die Arbeitsvermittlerin fordert Frau B. dazu auf, die ausgehändigten Unterlagen zu unterschreiben (Abs. 318). Das Gespräch endet mit dem Appell der Vermittlungsfachkraft an die Arbeitsuchende, ihre eigenen Aktivitäten zu forcieren: »Ja, dann wie gesagt, ähm, Ihr Suchlauf immer schön fleißig, nach Stellen suchen, bewerben, die Vermittlungsvorschläge, äh, entsprechend da reagieren und sich melden und äh, dann denke ich mal, dass es doch ganz schnell klappt. […]. Ja? Dann sage ich mal, alles Gute […]. Und ich sage mal nicht auf Wiedersehen, ich sage Tschüss« (Abs. 328– 332). In der Wahl der Verabschiedungsformel der Vermittlerin spiegelt komprimiert die gesamte re-präsentierende Performance wider. Sowohl Vermittlerin als auch Arbeitsuchende haben sich performativ zugesichert, dass bei Einhaltung der Randbedingungen eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt geradezu zwingend erfolgen wird.
12 Im Regelfall legt die Vermittlungsfachkraft die Anzahl der Bewerbungen aufgrund des bis dahin entstandenen Profils fest, ebenso entscheidet die Vermittlungsfachkraft, ob sie von ihrer Forderung aufgrund von Einwänden der Arbeitsuchenden abweicht.
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S CHLUSSFOLGERUNGEN
Die Analyse der Praxis von Beratungsgesprächen im Kontext des SGB III als eine ästhetische Praxis hat einige Vorteile gegenüber anderen interpretativen Ansätzen: Durch die Übertragung zeigt sich erst, in welchem streng normierten Setting das Beratungsgespräch stattfindet und wie stringent sich dieses Setting jenseits der Akteure entfaltet. Des Weiteren wird mittels dieser ästhetisierenden Übersetzung rekonstruierbar, wie die Akteure (Arbeitsuchende und Vermittlungsfachkraft) in der Interaktion die Optionen, die diese festen ›frames‹ (vgl. Goffman 2000b) bieten, adaptieren. Beide Interaktionsteilnehmer unterliegen dem inszenatorisch vorgegebenem Korridor, wenngleich die Vermittlungsfachkräfte als regelmäßige Spieler in diesem Rahmen einen Wissensvorsprung haben, was diesen die Interaktion zumindest in der Form erleichtert, dass sie ›um ihren Text wissen‹, während hingegen das arbeitsuchende Individuum dazu gezwungen ist, sich improvisierend an die Situation anzupassen.13 Diese ungleiche Ausgangslage verdeutlicht nicht nur das bestehende Machtgefälle, sondern sie zeigt vielmehr den sehr schmalen Grat zwischen notwendig institutionalisierten und standardisierten Prozessen in Organisationen bürokratischen Typs14 und den individuellen Problemlagen der Arbeitsuchenden, die sich gegen eine verallgemeinerte Problemlösungsstrategie sperren. Der Arbeitsmarkt ist damit nicht etwas Abwesendes, über das in stellvertretender Weise verhandelt wird, sondern die interagierenden Akteure stellen seine Präsenz vermittels ihrer Performativität her. Auch wenn damit nicht der volle Begriffsumfang der Gumbrecht’schen »Re-Präsentation« eingefangen werden kann, so sind wir der Ansicht, dass mittels dieser Begriffsanleihe eine präzise Beschreibung der Wirkungsweise der aufführenden Interaktion ›Beratungsgespräch‹ gelingt. Abschließend ist zu fragen, welche Funktion die Aufführung und die darin performierte Re-Präsentation eines idealen Arbeitsmarktes im Beratungsgespräch einnimmt. Wenn von einem marktförmigen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage ausgegangen wird, verlagert sich der Blick auf das arbeitsuchende Individuum, das – je länger die Arbeitslosigkeit andauert – gezwungen
13 Dabei bleibt die Möglichkeit unberührt, dass die Individuen in Beratungsgespräche gehen mit dem Bewusstsein um den normierten Rahmen des Gesprächs. Sowohl latent als auch manifest kann davon ausgegangen werden, dass kompetente Akteure in spätmodernen Gesellschaften in der Lage sind, unterschiedlichste Positionen einzunehmen und die erforderlichen Rollen zu spielen (vgl. Dahrendorf 2006). 14 Siehe hierzu maßgeblich Mayntz (1968).
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ist, sein Verhalten anzupassen und seine eigenen Aktivitäten zu erhöhen. Im Beratungsgespräch versichern sich beide Akteure, dass die gegenwärtige Situation der Arbeitslosigkeit ausschließlich durch individuelle Bemühungen der Arbeitsuchenden beendet werden kann. Die vorgestellte Dramaturgie des Beratungsgesprächs begünstigt somit einen bürokratisch gerahmten Prozess, in dessen Verlauf der/die Arbeitsuchende sich soweit subjektivieren lässt, dass er/sie am Ende der Aufführung qua Signatur den Mythos der sich ausgleichenden Arbeitsmärkte bestätigt und fortschreibt.
L ITERATUR Aristoteles (1994): Poetik, griechisch/deutsch, Stuttgart: Reclam. Bieber, Daniel/Hielscher, Volker/Ochs, Peter/Schwarz, Christine/Vaut, Simon (2005): Organisatorischer Umbau der Bundesagentur für Arbeit: Evaluation der Maßnahmen zur Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission. Arbeitspaket 2. Erster Zwischenbericht, Saarbrücken: o.V. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2006): Die Wirksamkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt: Bericht 2005 der Bundesregierung zur Wirkung der Umsetzung der Vorschläge der Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Ohne Grundsicherung für Arbeitsuchende). Umsetzung der Entschließung des Deutschen Bundestages vom 14.11.2002 (BT-Drs. 15/98), Berlin: o.V. Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dahrendorf, Ralf (2006): Homo Sociologicus, Wiesbaden: VS. Freytag, Gustav (1965): Die Technik des Dramas, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L. (1998): Grounded Theory: Strategien qualitativer Forschung, Bern u.a.: Huber. Goffman, Erving (2000a): Das Individuum im öffentlichen Austausch: Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Goffman, Erving (2000b): Rahmen-Analyse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Goffman, Erving (2001): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper. Goffman, Erving (2005): Rede-Weisen. Formen der Kommunikation in sozialen Situationen, Konstanz: UVK. Goffman, Erving (2008): Interaktionsrituale: Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Subjektivierungsweisen und die diskursiven Repräsentationen der Arbeitswelt S AŠA B OSANýIû »Anhand welcher Wahrheitsspiele gibt sich der Mensch sein eigenes Sein zu denken, wenn er sich als Irren wahrnimmt, wenn er sich als Kranken betrachtet, wenn er sich als lebendes, sprechendes,
arbeitendes
Wesen
reflektiert,
wenn er sich als Kriminellen beurteilt und bestraft?« MICHEL FOUCAULT
Michel Foucaults Forschungsinteresse galt zeitlebens der Frage, wie menschliche Selbstverhältnisse beschaffen sind. In dem einleitenden Zitat wird dabei Foucaults Überlegung sichtbar, wonach Menschen in keine unmittelbare Beziehung ›zu sich‹ treten können, sondern dies nur vermittelt über »Wahrheitsspiele« möglich ist. In der interpretativen Tradition der Soziologie besteht ebenfalls ein Grundkonsens darüber, dass »die Beziehungen der Menschen zur Welt durch kollektiv erzeugte symbolische Sinnsysteme oder Wissensordnungen vermittelt werden« (Keller 2005: 19), die u.a. im Sinne Foucaults durch »Wahrheitsspiele« erzeugt werden. Ausgehend von diesen theoretischen Grundannahmen kommt den Repräsentationen der Arbeitswelt eine herausragende Stellung zu, da es sich bei den wissenschaftlichen, medialen, künstlerischen, literarischen etc. Darstellungen von gegenwärtigen Erwerbswelten nicht lediglich um Bestandsaufnahmen der ökonomischen Verhältnisse der Gesellschaft handelt; vielmehr formen und konstituieren diese Repräsentationen als diskursive Praktiken diejenigen Gegenstände mit, von denen sie sprechen, wie man in Abwandlung eines berühmten Zitats von Foucault (vgl. 1988: 74) formulieren kann.
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Unbestritten ist, dass der viel beschworene Wandel der Arbeitswelt1 eine empirische Grundlage hat und man feststellen kann, dass beispielsweise das Normalarbeitsverhältnis erodiert und atypische Beschäftigung in enormem Maße zugenommen hat (vgl. Dietz/Walwei 2006; 2007) – eine Entwicklung, die insbesondere mit dem Konzept der ›Prekarisierung‹2 beschrieben wird. Ebenso lässt sich festhalten, dass die starren fordistischen Massenunternehmen als Reaktion auf die ›Krise der Arbeit‹ in den 1970er Jahren diverse Anpassungsstrategien verfolgen, um sich den flexibilisierten Markterfordernissen anzupassen (vgl. Kratzer 2003). Nicht zuletzt trägt der Wandel des Sozialstaats hin zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik dazu bei, die Arbeitsbeziehungen vollkommen neu zu strukturieren (vgl. Lessenich 2008). Mit der Anknüpfung an wissenssoziologisch-interpretative und diskurstheoretische Ansätze gehe ich jedoch davon aus, dass diese Fakten den Wandel der Arbeitswelt nicht aus sich heraus erfassen, sondern dass die Gesellschaftsbeschreibungen ein Ergebnis vielfältiger kultureller, gesellschaftlicher, politischer und medialer Auseinandersetzungen darüber sind, wie der ökonomische Wandel adäquat beschrieben werden kann. Bei den gegenwärtigen Repräsentationen der Arbeit handelt es sich demnach um kollektive Sinnsysteme, die u.a. in Diskursen erzeugt und die vermittelt über vielfältige Sozialisationserfahrungen, über interaktive und mediale Vermittlungsprozesse an die Individuen herangetragen werden und die wiederum die Selbst-Deutungsweisen der identitären Positionierung der Menschen als arbeitende Wesen beeinflussen – einen Prozess, den man im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung mit dem Begriff der Subjektivierung3 (vgl. Keller/Schneider/Viehöver 2012) theoretisch konzeptualisiert. Die Individuen reagieren demnach nicht nur auf gegebene und unmittelbar erfahrbare strukturelle Bedingungen einer ›Wissensgesellschaft‹ oder einer
1
Vgl. dazu Minssen (2000); Boltanski/Chiapello (2003); Sauer (2005); Senghaas-
2
Vgl. Bourdieu (2004); Brinkmann/Dörre/Röbenack (2006); Dörre/Kraemer/Speidel
Knobloch (2008). (2006); Castel (2008); Castel/Dörre (2009). 3
Wobei hiermit nicht die ›Subjektivierung von Arbeit‹ (vgl. Moldaschl/Voß 2002) gemeint ist. In diesem theoretischen Konzept geht es um die Bedürfnisse von Arbeitnehmern, die verstärkt ihre subjektiven Potentiale und Selbstverwirklichungsansprüche an die Arbeit herantragen und die Unternehmen gleichzeitig diese subjektiven Ressourcen in einem umfassenderen Sinne ökonomisch verwerten. Der Subjektivierungsbegriff zielt in diesem Artikel in Anlehnung an Foucault auf den doppelten Prozess der diskursiven Konstitution von Subjektmodellen und der Selbstmodellierung der Subjekte in Abhängigkeit von diesen Subjektvorgaben.
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›postfordistischen Arbeitswelt‹, vielmehr werden die strukturell-ökonomischen Gegebenheiten vermittelt über die diskursiven Repräsentationen der Arbeitswelt wahrgenommen. Es geht also vor allem darum zu erfassen, welche Erzählungen und Semantiken den Wandel der Arbeitswelt begleiten und wie die veränderten Strukturen narrativ aufgegriffen, rationalisiert und dabei als »einzig mögliche[r] Entwurf der Welt« (Legnaro/Birenheide 2008: 11) dargestellt werden. Im vorliegenden Artikel wird daher thematisiert, welche diskursiven Repräsentationen der Arbeitswelt gegenwärtig dominant sind und welche Machtwirkungen davon auf die Subjekte ausgehen können. Dazu wird im ersten Abschnitt das Programm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (vgl. Keller 2005; 2006; 2007) eingeführt, das die Annahmen aus der soziologisch-interpretativen und der an Foucault anschließenden diskurstheoretischen Tradition zusammenführt und damit ein ›Werkzeug‹ für die Analyse der Repräsentationen zur Verfügung stellt. Zudem wird daraus eine Subjektivierungsheuristik4 abgeleitet, um die Einflüsse auf menschliche Selbstverhältnisse modellhaft zu skizzieren und um mögliche Machtwirkungen von Diskursen in den Blick nehmen zu können. Nach dieser theoretischen Vorarbeit widmet sich der zweite Teil den materialen Analysen der Repräsentationen der Arbeitswelt und den darin enthaltenen Subjektmodellen, deren Wirkweisen schließlich im dritten Abschnitt exemplarisch anhand von angelernten und gering qualifizierten Arbeitnehmern5 aufgezeigt werden.
4
Für die theoretische Ausarbeitung einer Subjektivierungsheuristik und deren Anwendung am Beispiel einer empirischer Untersuchung über die Arbeitsmarktsubjektivierung angelernter Arbeiter vgl. Bosanþiü (2014).
5
Mit angelernten oder gering qualifizierten Arbeitern sind diejenigen Personen gemeint, die einer Tätigkeit nachgehen, deren Erlernen wenige Stunden oder Tage erfordert. Die durchgängige Verwendung der männlichen Schreibweise in diesem Artikel ist der Tatsache geschuldet, dass die diskursanalytischen Studien zur Genese von Subjektmodellen bisher die Genderperspektive kaum berücksichtigen und daher implizit eher männliche Subjektivitäten in den Blick nehmen (vgl. Bührmann 2004). Aufgrund dieses diskursanalytischen Genderbias sowie auch im Bezug auf die notwendige Kürze des Artikels erfolgt in den folgenden Überlegungen daher eine Konzentration auf männliche Subjektformen und Subjektivierungsweisen.
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1. D ISKURS – M ACHT – S UBJEKT Mit der These der diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit zielt Reiner Kellers (2005) Forschungsprogramm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse darauf, gesellschaftliche Deutungs- und Signifikationsprozesse als vorübergehende Feststellungen spezifischer Wissensordnungen zu begreifen, die aus den Aussagepraktiken von sozialen Akteuren in Diskursen hervorgehen. Macht spielt dabei eine wichtige Rolle, da die gegenstandskonstituierenden Aussagepraktiken der Akteure als »Wahrheitsspiele« (Foucault) konzipiert werden und soziale Akteure einerseits sich selbst den machtvollen diskursiven Formationsregeln ›unterwerfen‹ müssen, um als legitime Sprecher des Diskurses an der ›Produktion der Wahrheit‹ partizipieren zu können (ebd.: 230ff.) – die Diskurs-Akteure sind also bereits Effekte der Macht –, andererseits sorgen die mit Geltungsansprüchen versehenen Aussagepraktiken der Akteure für Machtwirkungen, indem sie gesellschaftliche Realitäten formen und Materialitäten erzeugen (ebd.: 235f.). Mit Kellers Anschluss an Foucault wird nicht nur das begriffliche Instrumentarium zur Analyse kollektiver Wissensbestände der interpretativ-wissenssoziologischen Tradition erweitert, sondern mit der ›Übersetzung‹ der Theoriesprachen eine sozialwissenschaftliche Verankerung der Foucault’schen Diskurstheorie erreicht (ebd.: 200). Im Wesentlichen geht es der Wissenssoziologischen Diskursanalyse um das Aufzeigen der Notwendigkeit einer akteurstheoretischen Fundierung von diskursanalytischen Ansätzen (ebd.: 204), denn ohne die Vorstellung von Handlungsträgerschaft wären Diskurse lediglich ahistorische, abstrakte Differenzsysteme, deren Transformation und Dynamik nicht hinreichend erklärt werden könnte. Die Strukturmuster und Regeln der diskursiven Wahrheitsproduktion sowie deren Effekte sind aber, so das entscheidende Argument Kellers (ebd.: 201), »Ergebnis des aktiv-interpretierenden Umgangs sozialer Akteure«, die Diskurse im Sinne von Regeln und Ressourcen aufgreifen und als Adressaten darauf reagieren. Dass die Einsetzung eines Akteurskonzepts aus der Tradition der interpretativen Soziologie nicht im Widerspruch zu Foucaults Subjektkonzeption steht, zeigt Keller durch eine Präzisierung und soziologische Fundierung der von Foucault zum Teil recht unterschiedlich gebrauchten Subjektkategorien: Dabei sind Sprecherpositionen »institutionell-diskursiv strukturierte Orte für legitime Aussagenproduktion innerhalb eines Diskurses« (ebd.: 230) und das Konzept dient dazu, die Modalitäten für die Genese, Zirkulation und Transformation von Diskursen zu untersuchen,. Weiterhin unterscheidet Keller davon Subjektpositionen als im Diskurs konstituierte Subjekt- und Identitätsvorstellungen, die an empirische Subjekte adressiert sind und die Konstitution von Selbst-Verhältnissen anleiten.
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Verdichten lassen sich diese Überlegungen in einem Modell der Subjektivierung, das den doppelten Prozess der diskursiven Erzeugung von Subjektpositionen und die davon abhängigen »tatsächlichen Subjektivierungsweisen« (Keller 2012: 102) handelnder und verkörperter Menschen meint. Subjektivierung ist demnach ein Prozess, in dem Menschen Vorstellungen über sich, das eigene Sein in der Welt und ihren Körper entwickeln, wobei dies durch gesellschaftliche Deutungsvorgaben beeinflusst ist. Im Bezug auf die Repräsentationen von Arbeit kann man entsprechend davon ausgehen, dass in den Diskursen über die Arbeitswelt bestimmte Subjektpositionen und Identitätsschablonen erzeugt werden, die den Subjekten nahelegen, wie sie ihr Selbst zu modellieren haben, um erfolgreich am Arbeitsmarktgeschehen partizipieren zu können. Damit gehen immer bestimmte Machtprozesse einher, die die Subjekte dazu bewegen, ihre Selbstbezüge an Normalisierungsdiskursen auszurichten (vgl. Foucault 1983: 172; 1994: 237). Den Individuen werden dazu auch »Identitätsverlockungen« (Butler 2001: 122) angeboten, die bei der Übernahme der ›normalen‹ Subjektpositionen Anerkennungsgewinne versprechen, wobei Anerkennung gleichzeitig ein wesentliches Moment identitärer Selbstbezüge darstellt (vgl. Honneth 1994). Als Anti-Subjekt bezeichnet Reckwitz (2006; 2008) im Anschluss an Foucault (vgl. Foucault 1983: 172) schließlich die für die Subjektpositionen konstitutive »Differenzmarkierung« (Reckwitz 2006: 45) zwischen positivem und negativem Subjektmodell: Die Machtwirkung dieser Negativmodelle kann als eine Art Drohung (zum Beispiel mit dem ökonomischen Untergang) gesehen werden, die die Subjekte zur Aneignung der erwünschten Subjektpositionen anhält. Im folgenden Abschnitt wird, davon ausgehend, zunächst aufgezeigt, welche hegemonialen Subjektmodelle in den Diskursen zur Arbeitswelt entstehen, um anschließend die interpretativ-deutenden Bezugnahmen der Individuen auf diese Diskurse in den Blick zu nehmen, die – so eine zentrale Annahme der Wissenssoziologischen Diskursanalyse – in ihren Bezugnahmen den Diskursen nicht in deterministischer Weise unterworfen sind: »Soziale Akteure sind Adressaten von Wissensbeständen und darin eingelassenen Wertungen, aber auch nach Maßgabe der soziohistorischen und situativen Bedingungen selbstreflexive Subjekte, die in ihrer alltäglichen Be-Deutungsleistung soziale Wissensbestände als Regelbestände mehr oder weniger eigensinnig interpretieren.« (Keller 2005: 216f.)
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2. A RBEITSMARKTSUBJEKTIVIERUNG In diesem Abschnitt wird anhand bereits vorhandener diskursanalytisch orientierter Studien rekonstruiert, wie das ›normale‹ Arbeitsmarktsubjekt in verschiedenen Diskursen der Gegenwart adressiert wird und wie demgegenüber angelernte und gering qualifizierte Arbeitnehmer als defizitäre Subjekte erscheinen, die durch Aktivierungs- und Qualifikationsmaßnahmen ›normalisiert‹ werden müssen. Als »Qualifikationsdiskurse« bezeichne ich dabei all diejenigen Diskursstränge im Rahmen verschiedener Diskurse über die Arbeitswelt, die den Subjekten nahelegen, wie sie ihr Selbst zu gestalten haben, um erfolgreich am Arbeitsmarkt teilnehmen zu können. Die hegemoniale Erzählung des Übergangs zu einer Wissensgesellschaft bildet dabei den Rahmen (vgl. Legnaro/Birenheide 2008: 143; Opitz 2004: 103), innerhalb dessen die verschiedenen Diskursstränge des Qualifikationsdiskurses verortet sind. Der Begriff der »Wissensgesellschaft« diente in den 1960er Jahren zur Prognose über den Verlauf des sich andeutenden ökonomischen Strukturwandels in den westlichen Industrienationen, doch in der weiteren Begriffsgeschichte sah man von dieser Engführung ab, und die Verwendung der Bezeichnung »Wissensgesellschaft« beanspruchte fortan, generell gesellschaftliche Transformationsprozesse zu beschreiben (vgl. Bittlingmayer 2005; Bittlingmayer/Bauer 2006). Letztlich zeigt sich jedoch, dass der Diskurs über die Wissensgesellschaft vor allem eine ökonomische Konzeption ist (vgl. Junge 2008): Nach Boden, Arbeit und Kapital werde Wissen zur »einzigen Ressource« (Miegel 2001) in der Produktion, so die gängige Argumentation in den öffentlichen Diskursen. Neben zahlreichen kritischen Auseinandersetzungen innerhalb der Sozialwissenschaften gelangen vor allem die positiven Deutungen des Wandels aus dem Wissenschaftsbetrieb in die politische und massenmediale Arena (vgl. Junge 2008: 113f.). Der Übergang zur Wissensgesellschaft wird dabei von zahlreichen Befreiungs- und Fortschrittsversprechen begleitet (vgl. ebd.: 114f.): So komme es beispielsweise zu einer Humanisierung der Arbeit, da die ›alte‹ Mühsal der industriellen Arbeit durch ›saubere‹ Wissensarbeit abgelöst werde. Die industriegesellschaftlichen sozialen Ungleichheiten würden ebenfalls zum Verschwinden gebracht, da Macht nicht mehr an Eigentum gebunden sei, sondern an Wissen – und Wissen diffundiere im Zeitalter der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien durch alle gesellschaftlichen Schichten. Neben den utopischen Heilsversprechen begleitet ein bedrohlicher Unterton die hegemoniale Erzählung von der Wissensgesellschaft (vgl. Rothe 2011: 275f.). Da Wissen zum zentralen Produktionsfaktor werde und nur ›in den Köpfen‹ der Menschen vorhanden sei, benötige die ›wissensbasierte Ökonomie‹ ge-
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nügend hochqualifizierte Arbeitskräfte. Nur dadurch sei es möglich, im Innovationswettbewerb der globalen Märkte zu bestehen (vgl. Junge 2008: 171; Legnaro/Birenheide 2008: 143ff.). Die Wettbewerbsfähigkeit könne also nur durch Investitionen in das Humankapital der Bevölkerung sichergestellt werden. Dies geht einher mit neuen Anforderungen und Zumutungen für die Individuen in Bezug auf ihre Qualifikationsbereitschaft (vgl. Rothe 2011: 289). Die vermeintliche Wissensgesellschaft konfrontiert ihre Subjekte daher mit einem vollkommen neuen Anforderungsprofil. Ausgehend von Foucaults Beschreibung der neoliberalen Theorie des Humankapitals (Foucault 2006: 305ff.), wird in der an ihn anschließenden Gouvernementalitätsforschung die Konzeption des unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007) diskutiert, das über die Zuschreibungen als freies, autonomes und eigenverantwortliches Individuum regiert werden bzw. sich selbst im Sinne dieser Imperative regieren soll. Die als ›neoliberal‹ (vgl. Bröckling/Krasmann/Lemke 2000) oder in anderen Kontexten auch als ›postfordistisch‹ (vgl. Opitz 2004) bezeichneten Führungstechniken fordern unternehmerisches Handeln von Menschen ein, die in keinem Sinne Unternehmer sind noch sein können. Diese Formen der Machtausübung gehen einher mit spezifischen Annahmen über die gesellschaftlichen Bedingungen, die die Fremd- und Selbstdisziplinierung als unternehmerisches Subjekt alternativlos erscheinen lassen. Die hegemoniale Erzählung, die das neue Subjektmodell gegen jedwede Kritik immunisiert, ist die des Übergangs zu einer Wissensgesellschaft. Die Wissensgesellschaft mit ihren unternehmerischen Individuen erscheint als einzig möglicher Gesellschaftsentwurf, der alle anderen politischen Pfade mit dem Verweis auf den globalen Konkurrenz- und Wettbewerbsdruck undenkbar erscheinen lässt. Ein weiterer Imperativ für die Arbeitssubjekte ist die Forderung nach Flexibilität. Der Begriff dient zunächst als Abgrenzungsvokabel gegenüber den starren fordistischen Verhältnissen (vgl. Boltanski/Chiapello 2003: 248f.): Waren ehemals Standardisierung, Normierung und Stabilisierung die Garanten für den wirtschaftlichen Erfolg, so wurden die Ausrichtungen im Zuge der Transformationsprozesse nicht nur unmodern, sondern galten vielmehr gar als Bedrohung der individuellen Freiheit (vgl. Lessenich 2008: 74). Gegenwärtig ist Flexibilität in allen gesellschaftlichen Bereichen gefordert, seien dies Organisationen, Institutionen, Regierungen, Betriebe, Arbeitsmärkte oder die Lebenswelten der Individuen (vgl. Legnaro/Birenheide 2008: 12). Der Aufstieg des Imperativs begann in den 1970er Jahren im Zuge der Entstehung neuer Managementstrategien und neuer Produktionskonzepte. Unternehmen sollten durch Flexibilisierungsmaßnahmen in die Lage versetzt werden, schneller auf Nachfrageänderungen zu rea-
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gieren, ihre Produktpalette zu diversifizieren, um dadurch insgesamt beständig innovations- und damit wettbewerbsfähig gehalten zu werden (vgl. Opitz 2004: 118). Die Unternehmen wurden intern durch Hierarchieabbau u.a. re-strukturiert, um die geforderte Flexibilität zu ermöglichen. Entscheidend war jedoch die notwendige Änderung des Anforderungsprofils für die Arbeiter und Angestellten. Hierbei zeigt sich, dass der Kapitalismus – wie auch in der fordistischen Phase, als disziplinierte und autoritätshörige Subjekte gefordert waren – in der Lage ist, diejenigen Individuen zu generieren, die er für die Produktionsweise benötigt, wie dies Sennett (1998) mit dem flexiblen Menschen zeigt oder auch Boltanski und Chiapello (2003) mit dem Projekt-Arbeiter demonstrieren. Flexibilität wird also zur Schlüsselqualifikation in der Wissensgesellschaft und geht zumeist mit dem Versprechen eines Freiheits- und Selbstverwirklichungsgewinns einher. Denn nur wer das ›Korsett des Normalarbeitsverhältnisses‹ zugunsten flexiblerer Beschäftigungsformen verwerfe, könne die benötigten unternehmerischen Fähigkeiten der Spontaneität und Kreativität ausbilden, und nur wer Initiative und Veränderungsbereitschaft aufweise, sei schließlich in der Lage, sich selbst zu verwirklichen. Versteht man den Flexibilisierungsimperativ als ein Regieren im Foucault’schen Sinne, so ist es notwendig, den Umbau des Sozialstaats als einen zentralen Faktor zu beschreiben, der »erleichtert oder erschwert, erweitert oder begrenzt, […] [und es] mehr oder weniger wahrscheinlich« (Foucault 1987: 255) macht, dass die Subjekte den Flexibilitätszumutungen entsprechen und die damit einhergehenden Prekarisierungstendenzen in Kauf nehmen (vgl. Boltanski/Chiapello 2003: 402; Legnaro/Birenheide 2008: 13). Unter dem Slogan des ›Förderns und Forderns‹ lässt sich diese neue Ausrichtung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger zusammenfassen (vgl. Lessenich 2008: 85ff.): Der Staat fordert, dass die Individuen in Bezug auf ihre Beschäftigungsfähigkeit, ihre Lebensrisiken, ihre Gesundheit etc. selbst aktiv werden und sich darum bemühen, ihr vorausgesetztes Potential der Selbsttätigkeit zu nutzen. Gefördert werden von staatlicher Seite im Gegenzug nur noch jeweils die Rahmenbedingungen, die die Aktivierung der Selbststeuerungspotentiale ermöglichen. Damit entsteht eine neue Aufgabenteilung zwischen Staat und Gesellschaft, die auf einer »Koproduktion« (Kocyba 2004) sozialer Leistungen beruht. Im Management des Regierens von Arbeitslosigkeit zeigt sich dies beispielhaft: So müssen Arbeitslose, um Sozialleistungen zu erhalten, nachweisen, dass sie eigeninitiativ »im Sinne des Integrationsziels tätig werden« (Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt 2002: 45). Der aktivierende Staat ist dabei nur insofern beteiligt, als er Möglichkeitsräume eröffnet, in denen die ›Arbeitssuchenden‹ aktiv werden können, und dabei das Aktivitätsniveau der ›Kunden‹ überwacht. Paradigmatisch ist dies in-
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sofern, als durch diese sozialpolitischen Neuorientierungen das Anforderungsprofil des Selbstunternehmers – welches sich eher auf Menschen mit mittlerer und höherer Qualifikation richtet – auch auf die gering qualifizierten und arbeitslosen Personen übertragen wird. Der Qualifikationsdiskurs generiert zusammengefasst (und etwas verkürzt dargestellt) folgendes Anforderungsprofil, wie ›normale‹ Arbeitssubjekte zu sein haben: Sie müssen bereit und in der Lage sein, sich permanent selbst bzgl. ihrer Qualifikation zu optimieren. Dabei wird das lebenslange und selbstgesteuerte Lernen zu einer gesellschaftlich vorherrschenden Norm, die jedoch nicht als Zwang erscheint, sondern als Weg zu persönlicher Entfaltung und Bereicherung angepriesen wird. Es wird insgesamt ein flexibles und lebenslang lernbereites Subjekt etabliert, das als Unternehmer seiner selbst die Verantwortung für die eigene Beschäftigungsfähigkeit in der Wissensgesellschaft übernimmt – zu seinem persönlichen, aber auch gesellschaftlichen Wohl(-stand).
3. S ELBSTVERHÄLTNISSE
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Was lässt sich daraus für die Selbstverhältnisse der angelernten und gering qualifizierten Arbeitnehmer ableiten? Offensichtlich handelt es sich bei den durch die Diskurse konstituierten Erwartungen an die Arbeitnehmer um eine permanente Überforderung, da die Subjektvorgaben derart hohe Anforderungen an die Arbeitsmarktteilnehmer richten, dass selbst hoch qualifizierte (und die weniger qualifizierten erst recht) zu scheitern drohen. Aufgrund der paradoxalen und unabschließbaren Struktur der Diskurse, die eine permanente und »totale Mobilmachung« (Bröckling 2000) erfordern und jedes Innehalten der Individuen mit der Drohung des Scheiterns zu unterbinden suchen, führt dies zwar nicht unweigerlich, jedoch in zunehmenden Maße zur Entstehung eines »erschöpften Selbst« (Ehrenberg 2004). Speziell im Bezug auf angelernte und gering qualifizierte Arbeiter bleibt festzuhalten, dass infolge der Dominanz der Wissensgesellschaftsdiskurse eine erfolgreiche Qualifizierung scheinbar für alle möglich geworden ist, weshalb ein Bildungsmisserfolg in den hegemonialen Diskursen häufig mit Bildungsverweigerung gleichgesetzt wird. Ulrich Beck (1986: 245) weist in diesem Zusammenhang auf die Stigmatisierungsgefahr geringer Bildung hin, die gegenwärtig »in die Nähe zum Analphabetentum gerückt« wird. Dies legt insgesamt den Schluss nahe, dass den Geringqualifizierten nur defizitäre diskursive Selbstdeutungsvorgaben in Bezug auf ihre Arbeitsmarktteilnahme zur Verfügung stehen, weswe-
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gen negative Selbsttypisierungsprozesse wahrscheinlich sind (vgl. Solga 2005). Dennoch gibt es historisch gewachsene Möglichkeiten angelernter Arbeitnehmer, sich trotz der gesellschaftlichen und diskursiven Geringschätzung einfacher und körperlicher Arbeit positiv auf die eigene Arbeitsmarktteilnahme zu beziehen. Ein zentraler Befund klassischer (Willis 1979) wie auch moderner Studien (Arnot 2004) ist die Deutungsstrategie ›Maskulinität‹: Die positive Besetzung der Körperlichkeit der Arbeit wird in Verbindung mit einem übersteigerten Männlichkeitsideal und der komplementären Abwertung geistiger Arbeit als eine Quelle des positiven Selbstbezugs trotz gesellschaftlicher Stigmatisierung genutzt. Damit zusammenhängend legt die arbeitssoziologische Rekonstruktion des ›Produzentenstolzes‹ (Geissler 1984: 63) nahe, dass angelernte Arbeitnehmer ohnehin ihre auf Körperlichkeit basierende Leistung als die eigentliche wertschaffende Arbeit begreifen und Wissensarbeit nur als notwendige Sekundärarbeit anerkennen – womit wiederum die Negativzuschreibungen aus den Wissensgesellschaftsdiskursen nicht nur abgewehrt, sondern vielmehr ›umgekehrt‹ werden können, da das eigene Selbstbild mit Primärarbeit in Verbindung gebracht wird, wohingegen die »Bürohengste« und »Sesselfurzer« (Weber-Menges 2004: 279) nicht ›richtig‹ arbeiten. Neuere arbeitssoziologische Studien zum Zusammenhang von »Arbeit und Anerkennung« (Holtgrewe/Voswinkel/Wagner 2000) verweisen darauf, dass die gesellschaftliche Stigmatisierung gering qualifizierter Arbeit dazu führen kann, das Arbeitsleben aus dem Selbstbild gleichsam ›auszuklammern‹ und sich auf Quellen außerhalb der Arbeit (zum Beispiel Familie) zu stützen, um zu einem positiven Selbstbild zu kommen. Studien aus dem Forschungskontext von prekaritäts- und anomietheoretisch fundierten Analysen (Dörre 2004; Heitmeyer 2012) deuten bezüglich der Selbstinterpretation der Arbeiter darauf hin, dass die Abgrenzung von marginalisierten Gruppen wie den Arbeitslosen oder den Migranten dazu dienen kann, die eigenen Selbstbeziehungen zu entstigmatisieren. Mit Michael Vester et al. (2001) ist schließlich noch zu vermuten, dass die ›Gelegenheitsorientierung‹ von gering qualifizierten Arbeitnehmern als ein Vorteil angesichts der Risiken und der Flexibilitätserfordernisse in der postfordistischen Wissensgesellschaft deutend in das Selbstverhältnis integriert werden. So ist es denkbar, dass angelernte und gering qualifizierte Arbeitnehmer die diskursiven Anrufungen des flexiblen Subjekts aufgreifen und ihr Selbst in diesem Sinne begreifen, obwohl sie in eher monotonen und unflexiblen Arbeitssituationen beschäftigt sind. Ebenso könnten sich angelernte Arbeitnehmer auf die Subjektpositionen des unternehmerischen Selbst in kreativer Weise beziehen, wenn sie – wie dies Schumann (1999) feststellt – aktiv Verbesserungsvorschläge zur
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Produktionsoptimierung im Betrieb einbringen oder Verständnis für Entlassungen oder Lohnkürzungen zeigen, da der globale Wettbewerbs- und Konkurrenzdruck dies fordert und sie nach eigenem Verständnis dabei mit ›ihrem Unternehmen‹ »in einem Boot« (ebd.: 61) sitzen.
F AZIT Wie gezeigt, kann davon ausgegangen werden, dass die diskursiven Repräsentationen der Arbeitswelt neben den tatsächlichen strukturellen, betrieblichen und arbeitsorganisatorischen Bedingungen wesentliche Einflussfaktoren für die Herstellung menschlicher (und in diesem Artikel: männlicher) Selbstverhältnisse darstellen. Einerseits bieten die hegemonialen Diskurse Identitätsmodelle zur Genese positiver Selbstbezüge an, anderseits bergen die diskursiven Repräsentationen sowohl Stigmatisierungsgefahren als auch Momente, die zur Überforderung des arbeitenden Selbst führen können. Mit dem Bezug auf die Wissenssoziologische Diskursanalyse wird insgesamt nicht behauptet, dass es keinerlei Bereiche des menschlichen Lebens gibt oder geben kann, die nicht durch andere, nichtdiskursive Ebenen der symbolischen Ordnungen der Gesellschaft geprägt sind oder hervorgebracht werden; so sind zum Beispiel der Einfluss des jeweiligen Arbeitsplatzes und die damit verbundenen körperlichen Belastungen sicher ein wesentlicher Aspekt, der in die Selbstverhältnisse eingeht. In diesem Artikel wird aber dafür plädiert, subjektfokussierte empirische Studien diskursanalytisch zu verankern und deren Potential zu nutzen, was entlang der diskursiven Repräsentationen der Arbeitswelt demonstriert werden sollte. Denn neben den Wirkungen der biographisch-alltäglichen und situativ-interaktiven Rahmenbedingungen für identitäre Positionierungsprozesse wirken auch Diskurse auf die Selbstdeutungsstrategien der Menschen ein. Dies wird am Beispiel der angelernten Arbeitnehmer deutlich, die sich im Prozess der Subjektivierung in kreativ-transformatorischer Weise auf diskursive Subjektpositionen beziehen und sich diese aneignen können, auch wenn sie selbst im Rahmen der hegemonialen Diskurse der unternehmerischen Wissensgesellschaft eher als Negativmodelle auftauchen.
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Das biographische Gepäck: Ehrenamtliches Engagement bei sri-lankisch-tamilischen Flüchtlingsfrauen R ADHIKA N ATARAJAN
1. F LUCHTMIGRIERTE
ALS
H ANDELNDE
Der einseitige Blick auf die mehrfache Unterdrückung einer Flüchtlingsfrau verschleiert unwillentlich deren Handlungsfähigkeit und verdeckt ihre Bemühungen und die Aushandlungsprozesse mit ihrem sozialen Umfeld in der je konkreten Situation. Dass eine Flüchtlingsfrau in mehreren Dimensionen benachteiligt ist und dass diese Ungleichheit nicht naturgegeben, sondern ständig neu hergestellt wird, steht außer Frage. Das zeigt sich beispielsweise in den massiv beschränkten Möglichkeiten zur Aufnahme und Ausübung von Erwerbsarbeit, die nach der erzwungenen Fluchtmigration zur Verfügung stehen. Allerdings werden Fluchtmigrierte als Empfänger_innen von Sozialarbeit und -leistungen, doch kaum als Handelnde und Initiative Ergreifende wahrgenommen. Genau diesen blinden Fleck erstrebt der Beitrag, bezogen auf sri-lankisch-tamilische Flüchtlingsfrauen, zu entfernen. Auf der Suche nach der Verwobenheit von Sprachkenntnissen, beruflichen (Selbst-)Verortungsmöglichkeiten und Geschlechterdynamiken in Fluchtmigrationskontexten1 kam diesbezüglich ein interessantes Phänomen zutage: Etliche
1
Als Grundlage für diesen Beitrag dienen offene biographisch-narrative Interviews mit sri-lankisch-tamilischen Flüchtlingsfrauen unterschiedlichen Alters beziehungsweise Einreisealters sowie verschiedener Aufenthaltsdauer im Bundesland Niedersachsen. Diese Interviews wurden im Rahmen meines von der Heinrich-Böll-Stiftung unter-
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Forschungssubjekte legten großen Wert auf die Darstellung ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit und wendeten in den narrativen Interviews dafür viel mehr Zeit und Beschreibungskunst auf als für die Erwerbsarbeit. Erst auf Nachfrage skizzierten sie kurz ihre gegen Bezahlung ausgeübte Tätigkeit. Durch ehrenamtliches Engagement können die Frauen offenbar neue Handlungsräume schaffen und gestalten. Die damit verbundene Erfahrung einer sichtbaren Anerkennung und einer anerkennenden Sichtbarkeit trägt als ein wichtiger Ansporn zum fortwährenden freiwilligen Engagement bei. Dieser aus den erhobenen Interviews induzierten Bedeutungsverlagerung folgend, setzt sich dieser Beitrag mit der Bedeutung ehrenamtlicher Arbeit für die biographischen Konstruktionen von tamilischen Flüchtlingsfrauen auseinander und möchte folgenden Fragen nachgehen: Welchen biographischen Kontexten entspringen die oft mehrere Jahre umfassenden ehrenamtlichen Tätigkeiten? Welche Bedeutung lässt sich dabei der dadurch erfahrenen Sichtbarkeit und Anerkennung beimessen? Um diese Fragen zu beantworten, werden in einem ersten Schritt die Strukturen der tamilischen Flüchtlingscommunity erläutert, das Themenfeld Erwerbsarbeit und das Ehrenamt bezogen auf die Community kurz beleuchtet sowie der Begriff eines ›biographischen Gepäcks‹ erörtert. In einem zweiten Schritt werden tamilische Flüchtlingsfrauen mit dem Fokus auf Erwerbsarbeit und ehrenamtliche Tätigkeiten vorgestellt, um anschließend Schlussfolgerungen zu ziehen. Die zwei, in Kurzbiographien dargestellten Frauen sind selbstverständlich weit vielschichtigere Persönlichkeiten als hier präsentiert. Ihr Leben wird hier lediglich durch ein Prisma betrachtet und die eine bunte Linie der Arbeit in ihre Farben zerlegt.
stützten Dissertationsprojekts geführt, das an der Schnittstelle von Spracherwerb, Fluchtmigration und Gender ansetzt und aktuell an der Leibniz Universität Hannover durchgeführt wird. Die Fragestellung richtet sich darauf, wie sich Sprach(en)erwerb und Alltagsbewältigung bei Flüchtlingsfrauen aus Sri Lanka gegenseitig bedingen und beeinflussen und wie sprachliche Wirklichkeiten der Migration dadurch konstruiert und konstituiert werden.
D AS
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IN DER
BIOGRAPHISCHE
G EPÄCK
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F LÜCHTLINGSCOMMUNITY
2.1 Flüchtlingscommunity Die Bezeichnung »tamilische Flüchtlingscommunity« bedarf einer näheren Erläuterung. In Sri Lanka herrschte bis Mai 2009 nahezu drei Jahrzehnte Bürgerkrieg. Als verheerende Folge dieser heftigen Auseinandersetzungen musste etwa ein Viertel der tamilischen Bevölkerung, ca. 800.000 Menschen, die Flucht ergreifen (vgl. Wickramasinghe 2006) und ihr ›Glück‹ in anderen Ländern und Kontinenten suchen. Die Frauen der ersten Migrationsgeneration,2 mit denen ich Interviews geführt habe, haben Erfahrung sowohl mit dem Leben in ländlichen Gebieten als auch in Großstädten. Denn es muss hinzugefügt werden, dass fast alle vor der Migration mindestens einmal innerhalb ihres Landes Sri Lanka fliehen mussten, sei es vor Pogromen in Großstädten, vor der sri-lankischen Armee und/oder vor den Bürgerkriegszuständen. Es bestätigt sich auch hier die Erkenntnis der Fluchtforschung, dass die Flucht in ein fremdes Land erst als letzte Möglichkeit ergriffen wird, nachdem eine gewisse Ausweglosigkeit empfunden wurde. Während einige Interviewpartnerinnen zum blutigsten Zeitpunkt des Bürgerkriegs das Land verlassen konnten, sind andere als Teil der Familienzusammenführung erst nach einer jahrelangen Trennung ihren Partnern gefolgt. Wieder andere haben über den Weg einer Ehe – sogar in Drittländern wie Indien, Singapur oder Thailand – mit schon nach Deutschland geflohenen Tamilen Deutschland erreicht. Auch sie betrachte ich als Flüchtlingsfrauen. Die tamilische Flüchtlingscommunity ist keineswegs homogen, denn sie stammt aus einer stark hierarchisch geordneten Gesellschaft nach Kasten, Status, Bildungszugang und Religion, unterscheidet sich je nach Herkunftsregion in Sri Lanka und dem Zufluchtsland, nach Aufenthaltsstatus und dem Grad des sozialen Abstiegs und in vereinzelten Fällen des Aufstiegs. Weiterhin unterscheidet sie sich sehr stark nach innertamilischer politischer Gesinnung, Überzeugung und Opferbereitschaft. Die einen sind für die Liberation Tigers of Tamil Eelam, andere vor ihr ins Ausland geflüchtet, wieder andere vor der sri-lankischen Armee und etliche als unglückliche Parteilose, die sich in der Schusslinie beider Seiten befanden. Aber nichtsdestotrotz mussten sie sich als mehr oder minder einheitlich wahrgenommene Flüchtlinge mit beziehungsweise ohne den dazugehörigen rechtlichen Anerkennungsstatus in der Ferne in einer bestimmten Weise
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Einfachheitshalber werden die als Erwachsene Migrierten der ersten Generation, die als Kinder und Jugendliche Migrierten der anderthalb Generation (1.5G) sowie die im Migrationsland Geborenen der zweiten Generation zugerechnet.
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näher rücken und auch die Unterprivilegierten und politisch Andersgesinnten unter sich zur Kenntnis nehmen. Im Laufe von drei Jahrzehnten hat die Community einige gemeinsame Länder und Kontinente umspannende Netzwerke im bis dato erfolglosen Kampf um einen separaten Tamilenstaat aufgebaut und aufrechterhalten. Willentlich oder unter unterschiedlich starkem gruppeninternem Zwang ließ sich der Großteil der Diaspora mobilisieren und steuerte zum blutigen Bürgerkrieg finanziell kräftig bei (vgl. Radtke 2009). In Deutschland leben laut Statistischem Bundesamt circa 60.000 Tamil_innen aus Sri Lanka, knapp die Hälfte davon sind Frauen (vgl. Baumann 2003). Die bisher einzige Arbeit über tamilische Flüchtlingsfrauen in Deutschland stammt von Marion Neumann (1994), die anhand von Interviews mit deutschsprechenden tamilischen Frauen in Berlin die Entfremdung der Frauen sowohl in der einstigen Heimat als auch in der Migration schildert. Angesichts der weiblichen Fluchtmigration in den 1990er Jahren schreiben Margit Gottstein et al. (1994) über tamilische Frauen in Sri Lanka und messen der Differenzlinie Kaste hohe Bedeutung bei. Johanna Vögeli (2003) beschreibt Tamilinnen in der Schweiz, wo etwa 38.000 Sri-Lanker_innen leben. Sie warnt vor vorschnellen, auf den Maßstäben der westlichen Emanzipation basierenden Trugschlüssen auf unterdrückte Flüchtlingsfrauen, denn die Frauen seien »[s]tärker als ihr denkt«. 2.2 Arbeit 2.2.1 Erwerbstätigkeit »Arbeit ist das halbe Leben«, heißt es im deutschen Volksmund, wobei unter Arbeit in erster Linie Erwerbsarbeit verstanden wird. Gerade in Migrationskontexten ist Erwerbsarbeit jeglicher Art überlebensnotwendig und existenzsichernd. Tamilische Männer der ersten Flüchtlingsgeneration scheinen mehrheitlich in der Gastronomie und Lebensmittelindustrie, die Frauen dieser Generation dagegen in der Reinigungs- und Textilbranche tätig zu sein, obwohl dazu keine repräsentativen statistischen Daten vorliegen (vgl. Salentin/Gröne 2002). Aus eigener Datenerhebung kann ergänzt werden, dass tamilische Männer im Niedriglohnsektor als Lageristen, Fabrikarbeiter, Dachdecker und Frauen der ersten Generation darüber hinaus als Friseurinnen, Büroangestellte und im Erziehungsbereich tätig sind. Die wenigsten in Partnerschaften lebenden Frauen können sich ein ausschließliches Hausfrauendasein finanziell leisten, selbst wenn sie das anstrebten. Mit Sicherheit kann festgestellt werden, dass die Angehörigen der 1.5G sowie der zweiten Generation mindestens einen Hauptschulabschluss erworben
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haben, meist jedoch höhere Bildungsabschlüsse erreichen und mittelschichtsadäquate Anstellungen anstreben. Der Flüchtlingsstatus bringt jedoch eine der generellen Aufstiegsorientierung widersprechende Einstellung zur Erwerbsarbeit mit sich. Zwar gehen die meisten tamilischen Flüchtlingsfrauen einer bezahlten Arbeit nach. Das gelingt oft allerdings nur weit unterhalb ihres Ausbildungsniveaus im schlecht bezahlten Dienstleistungssektor. Dabei verleihen die Hindernisse bei der Aufnahme einer angemessenen Berufstätigkeit und die dauerhafte Angewiesenheit auf den Wohlfahrtsstaat häufig den in Familien lebenden Frauen nicht den entscheidenden Impuls aus einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis herauszukommen, wenn der Ehemann doch einer Lohnarbeit nachgeht. Es ist eine Mischung aus patriarchaler Struktur mit einem matrilinearen und matrilokalen Vererbungssystem, die die tamilischen Flüchtlingsfrauen dennoch ermächtigt (vgl. Ruwanpura 2006), ihnen einige Handlungsmöglichkeiten eröffnet und ihre teilweise Sichtbarkeit fördert. Fast alle Frauen haben ihren matrilinear geerbten Land- und Grundbesitz in den Interviews erwähnt und einige haben das mitunter als Grund für die unterschiedlichen Aufenthaltstitel innerhalb der Familie angegeben, wonach die Kinder eventuell den deutschen Pass, die Frauen aber weiterhin im Rahmen der Familienzusammenführung den srilankischen Pass und damit Zugang zum Erbe behalten. Relevant ist dies insofern, dass dadurch die Einstellung zur Arbeit im Allgemeinen gefärbt wird und der soziale Abstieg insbesondere im diasporischen Kontext verkraftet werden kann. Hier scheint außerdem ehrenamtliches Engagement den Frauen einen Ausweg zu eröffnen. Arbeit ist somit mehr als das halbe Leben, wenn der Begriff die Erwerbs- und die ehrenamtliche Arbeit einschließt. 2.2.2 Ehrenamtliche Tätigkeit3 Nach dem alle fünf Jahre erhobenen Freiwilligen-Survey ist ein Drittel der deutschen Bevölkerung freiwillig engagiert und sogar mehr als zwei Drittel der Bevölkerung im so genannten ›dritten Sektor‹, »in Vereinen, Organisationen,
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Dieser Aufsatz stellt weder die Notwendigkeit ehrenamtlicher Tätigkeit für die Gesellschaft in Frage noch fokussiert es auf ein mögliches Versagen des Staats beim Fehlen entsprechender finanzieller Honorierung dieser Tätigkeit. Die Frage danach, ob der Staat dadurch seine Verpflichtung loswird und sie in der leichten beziehungsweise leichtfertigen Weiterdelegierung an Individuen, Vereine und Nichtregierungsorganisationen entgehen kann, bleibt damit offen.
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Gruppen oder öffentlichen Einrichtungen« aktiv beteiligt (Stand von 2009).4 Angesichts der hohen Beteiligung der autochthonen Bevölkerung an freiwilligen Tätigkeiten gibt es mehrere Studien zum Ehrenamt, die sich insbesondere mit Vereinen und mit Engagement in den sportlichen, karitativen, sozialen sowie kirchlichen Bereichen befassen. Eine umfassende Arbeit stellt der vom Bundestag in Auftrag gegebene Bericht und die Schriftenreihe der Enquete-Kommission über die Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements (2002) dar. Ausführlich auf soziales Kapital eingehend, untersucht der Bericht zum Ehrenamt u.a. den Bezug zwischen und die geschlechtliche Verteilung von Erwerbstätigkeit und ehrenamtlichem Engagement und kommt zu dem Schluss, dass männliche Vollzeitbeschäftigte trotz vermeintlicher Zeitknappheit eher freiwillig tätig und in Vereinen eingebunden sind als Arbeitsuchende sowie weibliche Teilzeitbeschäftigte. Eine getrennte Datenerhebung zu Migrant_innen wurde im 2. FreiwilligenSurvey von 2004 im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Senioren und Jugend vorgenommen, aber anstatt die migrationsbezogene Erhebung beim darauffolgenden Survey auszudifferenzieren, wurde ihr unverständlicherweise keine Beachtung mehr geschenkt. Nach definitorischen Überlegungen zum Migrationshintergrund5 wurden zum einen Vergleiche zwischen Migrant_innen und Nichtmigrant_innen gezogen (vgl. Geiss/Gensicke 2006). Mithilfe ergänzender Telefoninterviews mit Vertreter_innen der größten Migrantengruppe in
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Zur öffentlichen Anerkennung der Freiwilligentätigkeiten und einer Verbesserung der Rahmenbedingungen ernannten die Vereinten Nationen das Jahr 2001 zum Internationalen Jahr der Freiwilligen, und ein Jahrzehnt später wurde das Jahr 2011 zum Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit ausgerufen.
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Erst 2005 führte das Statistische Bundesamt den Begriff ›Migrationshintergrund‹ bei der Datenerhebung ein, der allerdings keiner juristischen Definition unterliegt, um schon fünf Jahre später beim Mikrozensus, auf die Ungenauigkeit hinweisend, eine weitere Unterscheidung mit dem Begriff ›Migrationserfahrung‹ zu treffen. Demnach müssen Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund keinerlei Migrationserfahrung haben und können in Deutschland geboren und sozialisiert sein und somit der zweiten oder weiteren (Migrations-)Generation angehören. Einzubetten ist dieser Diskurs in die politische Weigerung, Deutschland í trotz anderweitiger statistischer Realitäten í als Einwanderungsland anzuerkennen, indem 2004 zwar ein so genanntes Zuwanderungsgesetz erlassen wurde, jedoch mit der Zielsetzung einer Begrenzung beziehungsweise Steuerung der Zuwanderung (Natarajan 2013). Ihren wissenschaftlichen Niederschlag findet die politische Einstellung in der bis in die 1990er Jahre hineinreichenden Vernachlässigung der weiblichen Migrantinnen.
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Deutschland konnten zum Zweiten Mythen der ausschließlich eigenethnischen Orientierung der Deutsch-Türk_innen entzaubert werden (vgl. Halm/Sauer 2007). Die integrative Funktion von ehrenamtlichen Tätigkeiten betonend, wurden zum Dritten Flüchtlinge in der Rolle der Empfänger_innen von Sozialleistungen und sozialem Einsatz beschrieben, die in erster Linie den Senioren der Mehrheitsgesellschaft zugutekommen und bei diesen Berührungsängste abbauen würde (vgl. Han-Broich 2012). Es scheint jedoch keine wissenschaftliche Studie über Fluchtmigrierte als Handelnde sowie ehrenamtlich und freiwillig Engagierte zu geben, sei es innerhalb der gleichen Community, mit anderen Migrierten oder gemeinsam mit Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte, zumal ganz klar zwischen den Nachfahren der Arbeitsmigrierten und Fluchtmigrierten unterschieden werden muss.
3. I NTERSEKTIONALITÄT
UND BIOGRAPHISCHES
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»Intersektionalität« geht auf die US-amerikanische feministische Bürgerrechtsbewegung schwarzer Frauen zurück, die u.a. ins Bewusstsein gerufen haben, dass die Kategorie »Frauen« in erster Linie »weiße Frauen« und die Kategorie »Schwarze« eigentlich »schwarze Männer« meint und dass dadurch schwarze Frauen bei dieser Überkreuzung unsichtbar bleiben (Knapp 2012). Ein Vorläufer ist der so genannte doing-Ansatz, der darauf aufmerksam machte, dass Differenzlinien und dadurch soziale Ungleichheit ständig neu hergestellt werden und nicht gegeben sind (vgl. Fenstermaker/West 2002). Intersektionalitätsdebatten sind als reisende Theorien (vgl. Knapp 2005) über den Atlantik nach Europa gekommen, und in Deutschland werden sie wiederum in Migrationskontexten Änderungen unterzogen.6 Eine wichtige Einsicht für die Interviewauswertung liegt in der Erkenntnis, dass die Forschungssubjekte in und durch ihre Erzählungen ständig andere und neue Kategorien relevant machen. Die Aufgabe der Forscherin besteht darin, die relevant gemachten Differenzlinien zu untersuchen und näher zu beleuchten, anstatt mit fixen Kategorien zu operieren wie z.B. der ehemaligen Triade von Race, Klasse und Geschlecht (vgl. Kerner 2009) oder um eine vierte Kategorie erweitert, nämlich Körper (vgl. Winker/Degele 2009), oder sich sogar um 13 unter-
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Für eine Fortschreibung des doing-Ansatzes als »doing Migration« im Kontext von Sprache in der Migrationsgesellschaft siehe Natarajan (2013); zur Schnittstelle zwischen Intersektionalität, vergeschlechtlichten Erzählungen und Erinnerung in der Fluchtmigration siehe Natarajan (i.E.).
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schiedliche Kategorien (vgl. Lutz 2001) zu bemühen, die letztlich nicht unbedingt zum jeweiligen Interview passen, und dennoch mit den die Butler’sche Peinlichkeit ausdrückenden »et cetera« des Nichterwähnten zu hadern.7 Ausgehend von Bourdieus Theorie, hat Helma Lutz (2000) das Konzept des »biographischen Kapitals« als Ressource entwickelt. Diesen Begriff würde ich zum ›biographischen Gepäck‹ erweitern, denn dieses Bild verdichtet das Sammelsurium an sozialen Beziehungen, Erfahrungen, die Erwartungen an sich selbst und an das Migrationsland, aber auch die eigene Last und die kollektive Verstrickung in die Vergangenheit, das spezifische baggage of the past. Es ist die spezifische Dialektik in diesem Kontinuum von Verlust und Gewinn aufgrund der Flucht, zwischen dem, was man verlassen, zurückgelassen oder hinter sich gelassen hat, und dem, was man mitgebracht hat oder mitschleppen musste, die das biographische Gepäck ausmacht. Es enthält das Potenzial, sich umzuorientieren und neu zu erfinden, was zugleich emanzipatorische, aber auch rück-
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Damit die unterschiedlichen Stränge der Biographie-, Geschlechter-, Arbeits- und Migrationsforschungen als »et cetera« nicht unerwähnt bleiben: Schon der Anfang der Biographieforschung ist eng mit Migrationserfahrung und deren Verarbeitung verknüpft (Lutz 2010). Als die Wissenschaftler Florian Znaniecki und William Thomas Anfang des 20. Jahrhunderts Briefe von einem einfachen polnischen Migranten in den USA erforschten, haben sie die erste soziologische, empiriegestützte Biographiearbeit im modernen Sinne verfasst (vgl. Fuchs-Heinritz 2005). Knapp zwei Jahrzehnte später haben die Soziolog_innen Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld (1933) in ihrer klassischen Marienthal-Studie im europäischen Raum über Arbeitsverhältnisse sowie Zeiteinteilung und, wichtiger noch, über die Änderungen nach dem Verlust einer Erwerbsarbeit geschrieben, indem sie das Zeitgefühl komprimiert im Prozess des Straßenüberquerens eruierten. Im Zuge der Re-Etablierung der Lebenslaufforschung in den 1970er Jahren haben Martin Kohli und Kolleg_innen über den männlichen Erwerbstätigen geforscht (vgl. Rosenthal 2008; Fuchs-Heinritz 2005). Diese zahlreichen, zeitversetzten Anfänge bezeugen das Interesse an dem Fremden, dem Tätigen und an den biographischen Brüchen. Zu Recht hat die Frauen- und Geschlechterforschung das Fehlen einer Frauenbiographie schlechthin (vgl. Dausien 1996) und der einer Berufstätigen insbesondere bemängelt sowie die Dichotomie zwischen bezahlter und unentgeltlicher Arbeit hervorgehoben. Die Hannoverschen Feministinnen um Regina Becker-Schmidt und Gudrun-Axeli Knapp haben zwar in ihren Arbeiten die Rolle der Erwerbsarbeit im Leben von Arbeiterinnen sowie die doppelte Vergesellschaftung von Frauen untersucht (vgl. Knapp 2012; Becker-Schmidt 2010); nichtsdestotrotz blieben die Migrantin und ihre Anliegen in der von weißen Frauen dominierten Geschlechterforschung im deutschsprachigen Raum lange unberücksichtigt.
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schrittliche Momente einschließen kann. Nicht Migration an sich (vgl. Treibel 2009), sondern die sowohl lähmende als auch bestärkende Gestaltung der Gegenwart bestimmt die Prozesse der Sinnsetzung in der Auseinandersetzung mit der Fluchtsituation und der Ankunft in der Aufnahmegesellschaft. Das jeweilige biographische Gepäck ist ein bestimmendes Moment in diesen Prozessen. Auf den Bereich der Arbeit bezogen, hängen die Einstellung zur Erwerbsarbeit ebenso wie die empfundene Notwendigkeit zu ehrenamtlichem Engagement – teils als Ausgleich für die fehlende Zufriedenstellung bei der Erwerbsarbeit, aber auch teils als Bringschuld der eigenen Community und dem neuen Zuhause gegenüber – von diesem biographischen Gepäck ab. Wie sich diese Abhängigkeiten auf individueller Ebene auswirken und abspielen, veranschaulicht die im folgenden Abschnitt dargelegte Empirie.
4. E HRENAMT G EPÄCKS
IM
K ONTEXT
DES BIOGRAPHISCHEN
Die offen-narrativ geführten biographischen Interviews ermöglichten es den Forschungssubjekten, ihre je eigene Themensetzung beziehungsweise -gewichtung vorzunehmen (vgl. Rosenthal 2008). Bereits in der Erhebungsphase wurden mittels Abduktion Hypothesen generiert. Auch eine dem Prinzip der Offenheit und dem Prinzip der Kommunikation verpflichtete Forschung unterliegt implizit mehreren Vorannahmen. Bekanntermaßen sind es die für die Forschenden überraschenden Interviewäußerungen, die diese Annahmen offenbaren und damit den analytischen Zugriff ermöglichen. So irritierte insbesondere die geringe Bedeutung, die der deutschen Sprache als Voraussetzung für die Aufnahme von Erwerbsarbeit gegeben wurde. Weit bedeutsamer waren die Äußerungen, wonach Erwerbsarbeit weder maßgeblich sinnstiftend wirke noch einen adäquaten Kommunikations- und Entfaltungsraum biete. Der Schauplatz emotional besetzter Sinnstiftung war eher bei den ehrenamtlichen Tätigkeiten zu finden. Im Folgenden werden – um weder die Komplexität zu stark zu reduzieren noch subsumptionslogisch vorgehen zu müssen – kontextualisierte Kurzporträts von zwei Forschungssubjekten der ersten Migrationsgeneration dargestellt,8 mit dem Fokus auf der Trias von Erwerbsarbeit, ehrenamtlicher Tätigkeit und biographischem Gepäck.
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Zur Darstellung der teils in Deutschland sozialisierten und ausgebildeten 1.5G, bezogen auf die Intersektion von biographischem Gepäck und ehrenamtlichem Engagement, siehe Natarajan 2009.
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4.1 Kala: Sprache und politischer Zwist Kala9 war knapp 30 Jahre alt, als sie Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland kam. Nach ihrem Schulabschluss in der kosmopolitischen Hauptstadt Colombo war sie zehn Jahre als angestellte Buchhalterin erwerbstätig. Politisch-gesellschaftlich engagierte sie sich drei Jahre nebenberuflich als Radiomoderatorin für Frauenprogramme. Kurz nach ihrer ersten Anstellung brachen 1983 die Julipogrome in Colombo aus, bei denen mehrere Hundert Tamil_innen ermordet wurden. Die Familie brachte sich in das von Tamil_innen dominierte Gebiet im Norden des Landes in Sicherheit und wartete, bis sich die Lage beruhigt hatte. Kala und ihr Vater als Familienernährer_in kehrten nach einigen Wochen nach Colombo zurück, um aufgrund der Unruhen und ihrer Abwesenheit ihre festen Stellen nicht zu verlieren. Eheschließung und Familiengründung passten laut retrospektiver Selbstaussage zwar nicht in das Lebensbild von Kala, die als Älteste unter den Geschwistern auch finanzielle Verantwortung für die anderen tragen wollte. Doch der Vater suchte nach einem in Sicherheit lebenden, in diesem Falle im Ausland ansässigen, geeigneten Heiratskandidaten für Kala. Die Kastenlogik und das Sicherheitskriterium haben bei der Wahl ihres Ehemanns eine größere Rolle gespielt als das ansonsten bei arrangierten Ehen unter Tamil_innen hoch angesehene Bildungsniveau. Der dadurch geschlossene, heiratsmarktlogisch eher schlechte Kompromiss bedeutete im Klartext, dass ihr Mann zwar schon Ende der 1970er Jahre nach Deutschland kam und in der Gastronomie erwerbstätig war, aber aus ärmlicheren Verhältnissen stammte, einen niedrigen Schulabschluss hatte und aufgrund der gezwungenen Flucht psychisch angeschlagen und alkoholabhängig war. In Deutschland angekommen, lernte Kala die deutsche Sprache an der Volkshochschule und an anderen privaten Sprachschulen. Selbstbewusst äußert Kala, dass sie aufgrund ihrer Berufserfahrung und Gewandtheit die Rolle der Vermittlerin in allen familiären Angelegenheiten in der Öffentlichkeit übernommen habe, seien es Behördengänge oder kinderbezogene Arztbesuche und Schulgespräche. Als Buchhalterin oder Radiomoderatorin habe sie sich jedoch keine Stelle erhoffen können, zumal das Gesetz zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse erst Jahrzehnte später im April 2012 in Kraft treten sollte. Kala begann deshalb, als Reinigungskraft zu arbeiten. Für eine Ausbildung oder eine Umschulung sei sie zu alt gewesen, meint Kala. Ihre Sozialisation ließ es nicht leicht zu, dass sie sich aus- und weiterbilden
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Die Namen aller beschriebenen Frauen wurden geändert.
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lässt. Für Deutsche sei 35 noch ein Alter, in dem man sich neu erfinden, umorientieren und einen neuen Anfang wagen könne, meint sie. Aber mit 35 als südasiatische Mutter von zwei Kindern und ohne familiäre Unterstützung bei der Kindererziehung blieben ihr nicht viele Optionen. Aber sie ist sich durchaus des Konstrukts ›Alter‹ bewusst, das je nach Gesellschaft, Lebenserwartung und Wirtschaftslage umdefiniert wird, und reflektiert es in ihrem Gespräch. In Sri Lanka hätte sie höchstwahrscheinlich ihre Mutter dafür gewonnen, auf ihre Kinder aufzupassen, und wäre weiterhin berufstätig gewesen, denn ihr Ideal ist nicht die Kleinfamilie, die mit einem Verzicht auf den Beruf einhergeht. Berufstätigkeit ungeachtet des Geschlechts ist für sie der Normalfall. Mit diesem Kompromiss, nämlich einer Erwerbsarbeit weit unter ihrer Qualifikation, der mit einem biographischen Einschnitt gleichzusetzen wäre, kann sie sich nicht zufrieden geben. Ihre Energie und Freizeit investiert Kala nach der Jahrtausendwende in die kulturelle Rekonstruktion der Heimat in der Fremde (vgl. Baumann 2003). Zunächst arbeitet sie ehrenamtlich als Koordinatorin der tamilischen Samstagsschule.10 Dann wird sie dort als Lehrerin tätig und unterrichtet Kinder unterschiedlichen Alters in der tamilischen Sprache und der Geschichte Sri Lankas. Damit leistet sie ihren Beitrag dazu, dass die tamilische Sprache und Kultur in ihrer Familie und in ihrem Umkreis erhalten bleiben. In letzter Zeit macht sie auch bei den hinduistischen Tempelaktivitäten mit und ist Mitglied des Tempelkomitees. Sowohl die Sprachschule als auch der Tempel sind als eingetragene Vereine organisiert, was auch ein Zeichen der Etablierung und der festen Verankerung der Flüchtlingscommunity in Deutschland ist. Die politischen Geschehnisse und Umwälzungen Sri Lankas lassen die Menschen in der Fluchtmigration weder in Ruhe noch unberührt. Der Bürgerkrieg und für Kala noch konkreter der konfliktträchtige Streit zwischen unterschiedlichen tamilischen politischen Gruppen ist ein großer Teil ihres biographischen Gepäcks. Die einen wollten einen separaten tamilischen Staat, die nächsten wollten eher mehr Rechte und teilweise Autonomie für Tamil_innen innerhalb des
10 Tamilschulen, Thamilalayam genannt, wurden vor gut zwei Jahrzehnten auf Vereinsbasis in etlichen deutschen Städten mit sri-lankisch-tamilischen Einwohnern gegründet. Einmal die Woche werden kostenloser herkunftssprachlicher Unterricht und Gemeinschaftskunde für Schulkinder von ehrenamtlich tätigen Lehrkräften angeboten, der sogar zu einer international koordinierten, jährlich abzulegenden Prüfung führt. Nach Internetangaben gibt es 130 Schulen mit etwa 6.500 Schüler_innen und 650 Lehrkräften in der Bundesrepublik Deutschland (http://tbvgermany.com/tbv/ vom 11.06.2012).
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bestehenden Staates Sri Lanka, und wieder andere wollten mehr Mitsprache und demokratische Repräsentation (vgl. Fricke 2002). Das hat zeitweilig außerdem dazu geführt, dass Kala – aufgrund starker Meinungsunterschiede und eines Zwists – ihre Arbeit als Koordinatorin in der Tamilschule niedergelegt hat, bis sich die politische Lage geklärt und eine vermeintlich neue Machtverteilung bei den Organisator_innen vorgenommen wurde. Ihre teils verlorene Ehre in dem anerkennungslosen, nur im Flüchtlingskontext hinnehmbaren Beruf als Reinigungskraft versucht Kala durch das zeitintensive, doch Zugehörigkeitsgefühl schaffende ehrenamtliche Engagement wieder herzustellen. Ihr innigster Wunsch ist es außerdem gewesen, Nachrichtenleserin bei Radio Ceylon zu werden und mitten im Geschehen medial dabei zu sein. Ihren Wunsch konnte sie in Norddeutschland eine Weile erfüllen, indem sie sonntags bei einer alternativen Radiostation Sendungen für Migrantinnen moderieren und ausstrahlen durfte. Nur mit ihren ehrenamtlichen Tätigkeiten und ihrem Engagement in der tamilischen Community kann Kala das notwendige Übel der niedrigen Dienstleistungsarbeit ausgleichen. Ihr biographisches Gepäck stattet sie dabei mit der dafür benötigten Ausdauer und Zähheit aus. 4.2 Shanthi: Mangelnde Anerkennung trotz Sichtbarkeit Worunter die vereidigte Dolmetscherin und Integrationslotsin Shanthi11 am meisten leidet, sind – quasi raum- und zeitversetzt – die fehlende familiäre Anerkennung und die Reduzierung ihrer Lebensentscheidungen und -bemühungen auf ihren Singlestatus. Sie konnte sich nicht dazu bringen, eine arrangierte Ehe einzugehen. Betroffen ist sie dennoch von dem Unverständnis ihrer Geschwister, die zum Teil den Kontakt mit ihr abgebrochen hätten, und von den Anschuldigungen ihrer Mutter, die in Kanada Unterschlupf gefunden hat, »das schwarze Schaf der Familie« zu sein. Ende der 1980 Jahre ist die 18-jährige Halbwaise Shanthi mit familiärer Zustimmung nach Deutschland geflohen, hat Asyl beantragt und wurde von einer Pflegefamilie aufgenommen. Trotz lückenhafter Gesetzesvorlage zur Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für Asylbewerber_innen hat sie – dank einer vorteilhaften behördlichen Gesetzesauslegung – zunächst das Abitur, dann eine Ausbildung gemacht und sich daraufhin berufsbegleitend zur Baufachwirtin weiterqualifiziert. Ihre kaufmännischen Interessen hat sie zwar auf den Stationen ihrer bisherigen Karriere (in einer Baufirma, dann bei einer Bank und danach bei der
11 Zur Shanthis Mehrsprachigkeit und zum Spagat zwischen den verschiedenen Welten, denen sie gleichzeitig angehört, siehe Natarajan 2012.
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Stadtverwaltung) nicht einbringen können, aber sie weiß um ihr »Glück«, das im Interview refrainartig anklingt. Ohne einen wohlmeinenden Freundeskreis wäre sie nach eigenem Ermessen wohl Reinigungsfrau geworden, anstatt einer Vollbeschäftigung nachzugehen. Die schiere Unmöglichkeit, als Schülerin beziehungsweise Auszubildende finanziell für im Bürgerkrieg leidende Landsleute und Verwandte in Sri Lanka da zu sein, war der erste Schlag, dem Shanthi durch den Einsatz ihrer Sprachkenntnisse in Deutsch, Tamil und Englisch hierzulande entgegenwirkte. Nachdem sie einen todkranken Landsmann in rechtlichen Fragen als Dolmetscherin unterstützen musste, hat sie sich als Dolmetscherin vereidigen lassen. Die lokale Volkshochschule, an der sie über die Jahre Sprach- und andere Kurse belegte, hat sich ihrer angenommen und sie in ihr Programm mit einbezogen. Als der Nationale Integrationsplan auf der Bundes- und dann Landesebene umgesetzt wurde, ließ sie sich zur Integrationslotsin ausbilden, um Neumigrierten beratend zur Seite zu stehen. Neuerdings wirkt sie u.a. aufgrund ihres Aufwachsens in einer religiös und sprachlich pluralen Gesellschaft bei Veranstaltungsreihen zu Migration und Religion als Organisatorin mit. Ferner konnte sie ihre Umweltorientierung und ihre Berufserfahrung beim Gebäudemanagement zusammenführen und sich als Umweltlotsin in einer ökologischen Migrantenselbstorganisation für Nachhaltigkeit einsetzen. Dennoch wird die Kategorie ›Geschlecht‹ in der Fremdwahrnehmung ständig relevant gemacht, sodass sie in der Community als ledige Handelnde erhöht sichtbar wird, aber nicht genügend Anerkennung erfährt. Mit der Last, aber auch Stärke ihres biographischen Gepäcks kann sie Aspekte ihrer gegenwärtigen Lage aushandeln und ihrer Erwerbsarbeit und ihren ehrenamtlichen Tätigkeiten Sinn geben.
5. E INSICHTEN
UND
A USBLICKE
Die den Kurzporträts zugrunde liegenden Interviews belegen in überzeugender Form, dass eine Konzentration auf die Dimensionen der sozialen Ungleichheit und der Unterdrückung den Biographien nicht gerecht wird. Ein solches Analyseraster würde den Flüchtlingsfrauen fast jedwede Handlungsmächtigkeit und Agency sowie die Möglichkeit, Widerstand zu leisten, absprechen und damit nur die halbe Wahrheit ausdrücken. Das tut ihnen insofern Unrecht, als dass ihnen lediglich die Opferrolle zuerkannt wird, die jedoch mit der Empirie unvereinbar ist. Die Bereiche, mit denen sich die dargestellten Frauen auseinandersetzen und in die sie ihre Zeit und Energie investieren, sind je nach Interesse und Möglich-
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keit verschieden, tragen aber gewisse Ähnlichkeiten in der Tiefenstruktur. Um die darin enthaltenen Dimensionen nachzuvollziehen, muss Folgendes mit einbezogen werden: Wenn man Teil einer Flüchtlingscommunity ist, wenn eine ganze Community die Flucht ergreifen und sich mit einem Leben im Ausland arrangieren muss, dann redet man nicht mehr vom ›Glück‹ oder ›Unglück‹ im Alltagssinne. Es haftet nicht mehr an Einzelnen, sondern die Verantwortung lässt sich auf die Community verteilen, sogar abwälzen. Vergleiche mit anderen, die auf einen ähnlichen Werdegang zurückblicken beziehungsweise denen ähnliche Erlebnisse im Migrationsland widerfahren, sind zwar fast unvermeidlich, aber leichter zu bewältigen als solche mit sich selbst und mit den ausgebliebenen, aber einst möglichen Aufstiegschancen im Herkunftsland, in diesem Fall Sri Lanka. Kalas (4.1) Aushandlung mit ihrem Umfeld zeugt von einer Agency, die als Bedürfnis nach Sichtbarkeit und Anerkennung gerade aus dem Kontrast von Erwerbsarbeit und ehrenamtlicher Tätigkeit annähernd verstanden werden kann. Wenngleich nicht von Widerstand die Rede ist, lässt sich nicht leugnen, dass sie nicht alles über sich ergehen lässt. Indem Kala die Initiative ergreift, sich mit ihrer Situation auseinandersetzt, handelt sie. Kala ist als Reinigungsfrau unsichtbar: eine Voraussetzung des Berufs, der das Ergebnis des Putzens, nicht den Prozess des Saubermachens und keinesfalls die Reinigende in den Mittelpunkt stellt. Die Person der Reinigenden wird m.E. dreifach negiert: ersichtlich aufgrund des Tätigkeitsfelds, aber angeblich nicht unbedingt wegen ihres Geschlechts und des Fluchtmigrationsstatus. Aber zu diesem Beruf kann der weibliche Migrant wegen der Zugehörigkeit zu der doppelten Unterklasse der Migrierten und der Frau überhaupt erst Zugang finden. Unsichtbarkeit betrifft nicht nur Frauen, sondern auch Männer, wie eine Kurzanalyse der Geschlechterverhältnisse zwischen Kala und ihrem Mann offenbart. Sichtbarkeit erlangt Kala innerhalb der Community durch ihre Tätigkeit als Lehrerin, die sowohl eine kompensatorische Funktion erfüllt als auch von der Agency Kalas zeugt, während ihr Mann weitestgehend unsichtbar bleibt und ihr die Sichtbarkeit sowie die Verantwortung für die Kinder und die Familie in der Migrationsgesellschaft überlässt. Des Weiteren ist zwischen Sichtbarkeit mit und ohne begleitende Anerkennung zu unterscheiden. Migrantinnen erfahren eine gewisse überhöhte Sichtbarkeit in bestimmten Bereichen, die jedoch nicht mit Anerkennung einhergeht, dafür in Arbeitsbereichen eine umso größere Unsichtbarkeit. Das Bedürfnis nach tätigkeitsbezogener Anerkennung und Sichtbarkeit mag für alle Menschen ungeachtet vorhandener oder fehlender Migrationserfahrung gelten, doch die Lage bei Flüchtlingen wird durch weitere Dimensionen ergänzt und verkompliziert.
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Ferner besteht die Fremdwahrnehmung, die maßgeblich die Selbstwahrnehmung und -wertschätzung beeinflusst, nicht nur aus der Migrationsgesellschaft, sondern aus Anderen der eigenen Community im engeren sozialen Umfeld und zusätzlich, quasi zeit- und raumversetzt, aus der Wahrnehmung sowohl in der Heimat als auch in Teilen der diasporischen Community, die andere Zufluchtsländer wählten, wie bei Shanthi (4.2) zu beobachten ist. Damit verschlingen und vervielfachen sich Sichtbarkeits- und Anerkennungsverhältnisse auf komplexe Weise. Der Wunsch, eine Brücke zu schlagen, bildet in den beiden dargestellten und in den weiteren erhobenen Fällen das Sprungbrett und ist ein auslösendes Moment. Während einige mit ihrem ehrenamtlichen Engagement die Zukunft der eigenen Community gestalten wollen, verbindet andere das Engagement mit der Migrationsgesellschaft und verschafft ihnen eine neue Community. In Ergänzung oder im Kontrast zu einer wenig geschätzten entgeltlichen Erwerbsarbeit können ehrenamtliche Tätigkeiten für Individuen, insbesondere Fluchtmigrant_innen, sinnstiftend wirken. Die Bandbreite der ehrenamtlichen Tätigkeiten bei tamilischen Frauen reicht von sprach- und bildungsbezogenem Engagement als Dolmetscherin, Herkunftssprach- beziehungsweise Nachhilfelehrerin über Engagement in gesundheitlichen und ökologischen Bereichen bis hin zu staatlich geförderten neuen Formen des ehrenamtlichen Engagements als Integrationslotsin (vgl. Natarajan 2012). Dahingegen gehen Männer augenscheinlich eher schmalspurig politischen Aktivitäten zur Verwirklichung eines eigenen tamilischen Staates nach, die tamilische Frauen ebenfalls mitgestalten. Während die bezahlte Arbeit in der Selbstwahrnehmung kaum eine Quelle der Anerkennung ist, sondern vielmehr vor allem Enttäuschungen mit sich zu bringen scheint, lässt sich schlussfolgern, dass das Ehrenamt als aktives Handeln, bisweilen sogar als Errungenschaft, recht positiv besetzt ist. Deutlich wird, dass sich aus dem Verhältnis von Erwerbsarbeit, ehrenamtlichem Engagement und biographischem Gepäck ein Handlungsfeld eröffnet, das gleichzeitig davon strukturiert wird und das eine aktive und sinnhafte Auseinandersetzung mit der Fluchtmigration ermöglicht.
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»Nie mehr werd ich arbeiten können.« Arbeitswelten als paradigmatische Orte der Gesellschaftskritik im Werk Ingeborg Bachmanns C HRISTIAN D ÄUFEL Ich kann nicht mehr. Es ist etwas gerissen in mir. Zersprungen. Ich kann nicht mehr arbeiten, zur Stund aufstehen, mich aufraffen! Nie mehr werd ich arbeiten können. INGEBORG BACHMANN/DER SCHWEISSER
Die poetische und ästhetische Relevanz von Arbeitswelten im Werk Ingeborg Bachmanns wurde von der Forschung bisher nicht eigens untersucht. Dies verwundert umso mehr, als in den Prosawerken und Hörspielen der Autorin immer wieder auf das Arbeitsleben ganz unterschiedlicher Berufsgruppen Bezug genommen wird.1 Man denke etwa an die Erzählung Der Schweißer oder an den Fall des Postbeamten Otto Kranewitzer im Malina-Roman, der »mit Schimpf und Schande die Österreichische Post verlassen« musste, weil er plötzlich alle Postsendungen ungeöffnet in seiner Wohnung gestapelt hatte (Bachmann 1995, Bd. 3.1: 571). Die Entgegnung der Ich-Instanz auf die entsprechende Zeitungs-
1
Neben dem poetischen Werk sei außerdem auf journalistische Arbeiten Bachmanns verwiesen, etwa auf die unter dem Pseudonym Ruth Keller 1954 und 1955 entstandenen Rundfunkbeiträge und Zeitungsartikel, die 1998 unter dem Titel Römische Reportagen als Sammelband herausgegeben wurden. Neben den politischen Strukturen und Ereignissen widmet sich Bachmann darin wiederholt dem Arbeitsleben, wenn u.a. von den »Betriebswahlen in den Fiatwerken« (Bachmann 1998: 62) oder von den »schlechte[n] Einkommensverhältnisse[n]« (ebd.: 32) der Beamten und Soldaten berichtet wird.
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Notiz ließe sich als Motto zu vielen Werken Ingeborg Bachmanns lesen, in denen kleine Angestellte, Richter oder Arbeiter unter ihrem Berufsalltag leiden oder diesem nicht mehr zu entsprechen vermögen: »In jedem Beruf muß es [...] zumindest einen Menschen geben, der in einem tiefen Zweifel lebt und in einen Konflikt gerät« (ebd.). Umso erstaunlicher ist es, dass sich mit Ausnahme einiger weniger Studien, die vor dem Hintergrund unterschiedlicher Fragestellungen auch das Erwerbsleben einzelner Protagonisten berühren, bis dato keine Analyse der werkübergreifenden Konturierung von Arbeitswelten unter systematischen Gesichtspunkten gewidmet hat (vgl. Bartsch 1988: 79–84; Höller 1993: 75–94; Weigel 1999: 543–558; Lennox 2006: 297–339). Der folgende Beitrag versteht sich daher als ein erster Anstoß zur Überwindung dieses Desiderats. Er fokussiert eine Auswahl an Texten Bachmanns, in denen das Arbeitsleben einzelner Protagonisten oder gesellschaftlicher Gruppierungen beschrieben wird, um spezifische Darstellungsprinzipien und Verfahren der Konturierung von Arbeitswelten herauszuarbeiten und darüber hinaus der poetischen Bedeutung dieser ästhetischen Praxis vor dem Hintergrund zentraler werkübergreifender Themenkomplexe nachzugehen. Letzteres schließt vor allem die kultur- und gesellschaftskritische Dimension des Bachmann’schen Œuvres ein, die, wie gezeigt werden soll, den Gegenstand »Arbeit« nachhaltig prägt und in deren Kontext Arbeitswelten zu paradigmatischen Schauplätzen werden, an denen gesellschaftliche und soziale Konfliktkonstellationen besonders deutlich hervortreten. Neben Bachmanns Büchner-Preis-Rede Ein Ort für Zufälle rückt dabei vor allem ein Werk in den Mittelpunkt, das die Komplexität und Vielschichtigkeit arbeitsspezifischer Fragestellungen im Werk der Autorin erstmals voll zur Geltung bringt: das Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen.
»M EINE A RBEIT GEHT MEINER Z EIT VOR «. D ER K ONNEX VON A RBEITSZEIT UND F REIZEIT Ingeborg Bachmanns erstes Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen wird am 15. Februar 1952 erstmals beim österreichischen Sender Rot-Weiß-Rot unter der Regie von Walter Davy ausgestrahlt.2 Den Handlungsrahmen des Radiostücks bildet der Büroalltag einer nicht näher konkretisierten Firma, die von einem selbstherrlichen Generaldirektor beherrscht wird. Hauptfigur ist ein kleiner Angestellter namens Laurenz, der mustergültig die bürgerlichen Kardinaltugenden
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Neben dem Hörspiel existiert eine gleichnamige und im gleichen Jahr publizierte Erzählung, deren Inhalt und Aufbau leicht variiert (vgl. Schneider 2002: 111).
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Fleiß und Sparsamkeit repräsentiert (vgl. Bartsch 1982: 134; Lennox 2002: 86f.). Doch verdeutlicht das abfällige Verhalten der Vorgesetzten und Arbeitskollegen, dass dieser Arbeitsethos in seinem Umfeld eher mit Argwohn bedacht als goutiert wird. Insbesondere die Figur des Generaldirektors, dem die tagtäglichen Überstunden des Protagonisten Zeichen eines ineffektiven Arbeitens während der offiziellen Arbeitszeiten sind, personifiziert ein auf absolute Unterwerfung ausgerichtetes Leistungsdenken.3 Entsprechend reagiert er, als die Sekretärin Anna Laurenz ironisch mit den Worten »er ist sozusagen immer da« (Bachmann 1993, Bd. 1: 183) charakterisiert, äußerst ungehalten: »Damit kann man mir nicht imponieren. Bei mir zählt nur die Leistung … nur die Leistung!« (Ebd.) Die Textstelle ist symptomatisch für die Lebenssituation des unverheirateten Protagonisten, der ohne jedes innere Aufbegehren selbst sein Privatleben dem Beruf vollkommen unterordnet – »ich muß arbeiten, und meine Arbeit geht meiner Zeit vor« (ebd.: 213) – und doch dem Anforderungsprofil seiner Arbeitswelt kaum gerecht zu werden vermag. Bedingt durch diese permanente Konfliktsituation, beschränkt sich seine freie Zeit vollkommen auf die Funktion der notwendigen Erholung zur Schöpfung neuer Arbeitskraft und tendiert damit letztlich »zum Gegenteil ihres Begriffs« (Adorno 1998, Bd. 10.2: 646), der eigentlich auf eine von den Zwängen des Arbeitsalltags befreite Phase unmittelbaren Lebens abzielt.4 Liest man Bachmanns Text unter diesem Aspekt, dass sich die Formen der Verdinglichung in einer einzig dem Leistungsprinzip untergeordneten Arbeitswelt gerade auch auf jene Bereiche ausdehnen, die eigentlich der Abkehr von Arbeit beziehungsweise der individuellen Entfaltung dienen sollen,5 so kommt
3
Sara Lennox weist darauf hin, dass das Hörspiel buchstäblich »von einer Gleichung aus[gehe], die Benjamin Franklin, Max Weber und Karl Marx gleichermaßen schätzten und die impliziert, daß, wer immer dieser Logik folgt, bereits dem alles umfassenden Warencharakter des alltäglichen Lebens zum Opfer gefallen ist: ›Zeit ist Geld‹« (Lennox 2002: 86). Kurt Bartsch erkennt in der Darstellung des Alltags im Hörspiel eine »auf Fortschritt, bloße Nützlichkeit und Gewinn ausgerichtete[…] Gesellschaft« (Bartsch 1988: 81).
4
Zur Geschichte des Begriffes »Freizeit« sowie zur künstlerischen Auseinandersetzung
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Bartsch konstatiert, dass Bachmann »ein Bild von den Bedingungen der Arbeitswelt
mit dem Verhältnisses von Freizeit und Arbeitszeit vgl. Lillge (2011: 100f.). für kleine Angestellte [zeichnet], in der diese zwecks Gewinnoptimierung funktionalisiert sind, in der sich ihnen jedoch keine Möglichkeiten zu einem erfüllten, unentfremdeten Leben eröffnen, ja in der ihnen nicht einmal eigene Träume gestattet sind« (1988: 79).
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darin eine Problematik im Erwerbsleben zum Ausdruck, die seit Ende der 1950er Jahre in Soziologie und Kulturkritik zunehmend Beachtung gefunden hat. Denn im Unterschied zur verbreiteten, auf die Epoche der Industrialisierung zurückgehenden Auffassung, wonach Freizeit der Arbeitszeit entgegengesetzt ist (vgl. Lillge 2011: 100f.), hinterfragen insbesondere Jürgen Habermas, Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno diese starre Grenz[e]« (ebd.: 101) und betonen, dass sich das »Freizeitverhalten, je mehr es vorgibt, die Versagungen der Berufssphäre aufzuheben oder deren Belastungen abzugelten, umso mehr [...] in Wahrheit den Bedürfnissen der Berufsarbeit verhaftet« sei (Habermas 1958: 220; Marcuse 1965: 51f.). Schlussendlich bleibt, so Adorno in seiner Rundfunkrede Freizeit, die von Arbeit freie Zeit immer auf Arbeit bezogen, da sie »Arbeitskraft wiederherstell[t]« (1998, Bd. 10.2: 647) und als Konsumzeit die Produktion in Gang halten soll (vgl. auch Lillge 2011: 101). Die hier geäußerte Kritik an einem gesellschaftlichen System, das das Bedürfnis nach Freiheit funktionalisiert und damit die Zeitspanne der ›Unfreiheit‹ verlängert, lässt sich in Bachmanns Hörspiel nicht nur auf die dezidiert arbeitsorientierte Lebensweise des Protagonisten beziehen. Zwar deuten die Gespräche der Kollegen Anna und Mandl während der Arbeitszeit und in Abwesenheit des Generaldirektors über den Beginn des Feierabends, über Einkäufe, Kinofilme und Moden auf Alltagsstrategien hin, die vermeintlich weniger starr auf das Arbeitsleben fixiert sind und dem Freizeitvergnügen beziehungsweise dem Privatleben eine wesentlich größere Priorität beimessen, doch wird der anfängliche Eindruck eines freieren, auf individuelle Entfaltung abzielenden Lebens sukzessive unterminiert und im Falle des Kollegen Mandl dezidiert als bloßer Schein entlarvt.6 Besonders deutlich zeigt dies eine Szene, in der sich Laurenz und Mandl – beide sind aus unterschiedlichen Gründen ausnahmsweise früher als sonst in den
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Für Bartsch ist Laurenz’ Kollegin Anna »eine typische Repräsentantin der kleinen Angestellten, anfällig für die in den Medien angebotenen Scheinbildungen und Ersatzwelten«. Sie sei »nicht Herr ihrer Rede, sondern werde von der Sprache gewissermaßen assoziativ weitergetrieben« (Bartsch 1979: 117). Dem gegenüber vertritt Neva Slibar die These, dass Annas vermeintliches Geplauder aus zweiter Hand den Machtdiskurs außer Kraft setzt: »Tatsächlich zitiert sie in ihrer Geschwätzigkeit Illustrierte und Bekannte, es imponieren ihr nebensächliche Gesten und sie wundert sich über Aussprüche ihrer Kollegen. Indes ist gerade sie in diesem trostlosen Büroalltag das freundlichste, kommunikativste Geschöpf, zu Kollegialität ebenso bereit, wie sie jeden in Schutz nimmt und sogar die Launen des Generaldirektors zu rechtfertigen versucht« (Slibar 1995: 116f.).
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Feierabend gegangen – zufällig auf der Straße begegnen. Während Laurenz ziellos und gedankenversunken durch die Stadt spaziert, nutzt Mandl die gewonnene Zeit, um im Warenangebot der Geschäfte ein Geburtstagsgeschenk für seine Frau zu finden. Laurenz überredend, ihn dabei zu unterstützen, kommen beide ins Gespräch, aus dem hervorgeht, dass Mandl keinesfalls selbstbestimmter über seine Freizeit verfügt als sein Kollege. Gehetzt auf Grund der allzu knapp bemessenen Zeit, die ihm trotz seiner Anpassung an die Dynamik der Arbeitswelt bleibt (»[e]s muß alles immer sehr rasch gehen bei mir«), durchkämmt er nun ein schier unerschöpfliches Reservoir an Waren. Zum willenlosen (»hilflos«) Objekt einer profitorientierten Konsumsphäre geworden, fällt er erneut jenen Formen der Verdinglichung anheim, die auch das Arbeitsleben bestimmen. Laurenz hingegen weiß mit den Verheißungen der Konsumindustrie von vornherein nichts anzufangen. Während er auf Mandl wartet, dringen Reklamesprüche an sein Ohr, die kleine Geschenke für Ehefrauen und Kinder sowie angeblich preisgünstige Luxusartikel feilbieten. Aus dem allgemeinen Geräuschpegel der Straße treten dabei vor allem zwei Stimmen hervor, deren wiederholte Ausrufe nicht nur eine bestimmte Ware ins Zentrum rücken, sondern auch ein spezifisches Lebensgefühl vermitteln, das dem eigentlichen Faktum uneingeschränkter Fremdbestimmtheit diametral entgegensteht. Denn sowohl die Reklamesprüche des sogenannten »Rasierklingenmanns« als auch die einlullenden Lieder des »Drehorgelmanns« evozieren (entgegen der sich aufdrängenden Konnotationen von Gefahr beziehungsweise einem möglichen Herausfallen aus den Sicherheiten des bürgerlichen Lebens) eine beruhigende Alltäglichkeit, in der die Phasen der Erholung und Privatheit eindeutig vom anstrengenden Arbeitsleben geschieden sind: »Mit diesen Klingen können sie haarscharf trennen: Tag und Nacht, Wasser und Feuer, oben und unten, außen und innen« (ebd.: 191) beziehungsweise »Zwischen heute und morgen liegt die Nacht und der Traum, macht euch drum keine Sorgen, macht euch drum keine Sorgen, zwischen heute und morgen liegt die Nacht und der Traum« (ebd.: 193).7
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Vgl. dazu Adorno, der unter Verweis auf Karl Marx von der »messerscharfen Einteilung« von Arbeitszeit und Freizeit spricht, die den Menschen nach der herrschenden Arbeitsmoral als Norm eingebrannt worden sei und dazu beigetraten habe, dass die »Verdinglichung [...] die Freizeit vollständig fast sich unterworfen hat« (1998: 646). Im Gedicht Reklame führt Bachmann dem Hörspiel vergleichbare Slogans im Sprachgestus der Werbung vor Augen (»ohne sorge sei ohne sorge«) und entlarvt diese zugleich als Ablenkungsstrategien, indem sie ihnen eine zweite Stimme entgegensetzt, die im Gestus des ohnmächtigen Fragens nach Orientierung und Halt von einem existentiellen Krisenbewusstsein kündet: »Wohin aber gehen wir«, »was sollen wir tun«,
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Mit Blick auf die zuvor beschriebene Alltagsrealität werden, gemäß der Kritischen Theorie, der Sphäre des Konsums Attribute einer ›konzertierten Verblendungsmaschinerie‹ verliehen, deren Waren und Werbeslogans Nischen des vermeintlich freien, unmittelbaren Lebens verheißen, tatsächlich aber die uneingeschränkte Verdinglichung des arbeitenden Menschen kaschieren, der als Konsument in der Freizeit nur dem Anschein nach neue Arbeits-Kraft schöpft.8 Eine solche Lesart schließt zugleich ein, dass die kleinbürgerlich-genügsame, weder auf Konsum noch auf Karriere ausgerichtete Lebensweise der Hauptfigur letztlich im Widerspruch zu der gesellschaftlichen Wirklichkeit steht, die das Hörspiel unter deutlichen Anklängen an die Entwicklung Österreichs zur Zeit des beginnenden Wirtschaftswunders konturiert.9 Da dieser Protagonist auf die Machtverhältnisse und Normen sowohl außerhalb als auch innerhalb der Arbeitswelt offenbar mit Genügsamkeit und Gleichmaß reagiert, stellt seine Alltagsstrategie eher eine Störung des Systems denn eine bedingungslose Unterwerfung unter das Diktat der Wirtschaftswundergesellschaft dar. Werden die dadurch bedingten Konfliktkonstellationen in der zu Beginn und gegen Ende des Hörspiels konturierten Alltagswirklichkeit zunächst rein äußerlich als Irritationen des gesellschaftlichen Umfeldes indiziert, so integriert Bachmann in die Darstellung des Alltagslebens drei Binnenerzählungen, die im Stile einer »szenischen Dramatik« (Höller 1993: 80) die Deformationen im Inneren der Hauptfigur selbst, seine aus dem Alltagsleben verdrängten Ängste und Sehnsüchte, aber auch Aggressionen und Machtphantasien freilegen. Es handelt sich dabei um drei durch zahlreiche Indizien auf den realen Arbeitsalltag Bezug nehmende Träume, die sich nicht während der gewöhnlichen Nachtruhe einstellen, sondern die der Hauptfigur in einem seltsam anmutenden Laden probeweise feilgeboten werden. Das schlecht erleuchtete Innere dieses
»was aber geschieht [...] wenn Totenstille// eintritt.« (Bachmann 1993, Bd. 1: 114; vgl. Bartsch 1988: 74) 8
Auch Bartsch erkennt in der Unterhaltungs- und Werbeindustrie der Konsumgesellschaft, wie sie das Hörspiel skizziert, ein System, das dem Verdrängungsprozess existenzieller Nöte, aber auch individuellen Phantasien und Wünschen zuarbeitet (vgl. Bartsch 1988: 81). Marianne Schuller bezeichnet die Aufzehrung der Lebenszeit durch die »rigorose Teilung in Arbeits- und Freizeit« als ein »Grundideologem« der Geschäftswelt im Hörspiel (1984: 53).
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Zu den gesellschaftlichen Entwicklungen in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem hinsichtlich der Einflüsse des American way of life beziehungsweise der Etablierung der Freien Marktwirtschaft und deren Implikationen in Bachmanns Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen vgl. Lennox (2006: 302).
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Geschäfts, in das Laurenz »zufällig und wider Willen gerät« (Bartsch 1988: 79), steht in deutlichem Kontrast zur einladenden, hell erleuchteten Konsumwelt der Stadt, wodurch bereits ein veränderter »Erfahrungsmodus« eingeleitet wird.10 Im ersten Traum, den eine »gehetzte« Musik einleitet – laut Regie-Anweisung, »um das Angstmotiv zu illustrieren« (Bachmann 1993, Bd. 1: 195) –, erscheint die Arbeitswelt in ein traumatisches Szenario auf einem Bahndamm transformiert, bei dem Laurenz zusammen mit seinen Arbeitskollegen Mandl und Anna von übermächtigen Gewalten bedroht wird, die sich in Geräuschen einer heranrasenden Lokomotive11 und in Befehlsgebärden und Detonationsgeräuschen eines an den Zweiten Weltkrieg erinnernden Bombenangriffs aus der Luft manifestieren, den der Generaldirektor leitet. Angesichts dieser umfassenden Gewalt erscheint die unablässige Aufforderung des Protagonisten an seine resignierenden Kollegen, ihr Herz zu retten beziehungsweise sich mit dem Herzen gegen das drohende Schicksal zu stemmen, wie ein verzweifelter Aufruf zur Menschlichkeit in einer gefühllosen Welt, die von einem »destruktiven Prinzip der Überwältigung« (Höller 1993: 88) beherrscht wird.12 Entblößt dieser erste Traum die Subordinationsverhältnisse des realen Arbeitsalltags in bedrohlichen Bildern von Krieg und Zerstörung, so kehrt der zweite Traum diese vollkommen um: Laurenz erscheint nun selbst in der Rolle eines despotischen Generaldirektors, der einer »gigantischen, [...] noch nie dagewesenen weltumspannenden Organisation« vorsteht (Bachmann 1993, Bd. 1: 202). Dabei offenbaren sich die im Alltagsleben unterdrückten Machtphantasien und Aggressionen des Protagonisten, der sich nun als »Hoheit, Generaldirektor Minister Doktor Laurenz« (ebd.: 204) anreden lässt, in einer schier endlosen Kette an Befehlen, Drohungen und kriegerischen Aktionen, die gegenüber der Sekretärin Anna Züge patriarchalischer Allmacht annehmen (vgl. Höller 1993: 88f.), aber auch an Formen totalitärer Herrschaft erinnern, wie sie die nationalsozialistische Vergangenheit gezeigt hat.
10 Hans Höller spricht von einem »anderen Erfahrungsmodus« und einer »verdrängte[n] Wirklichkeit«, die die Träume im Gegensatz zur im Rahmenteil repräsentierten gesellschaftlichen Realität enthalten (1993: 76). 11 Zur Bedeutung des Motivs der »ungehemmt dahinrasenden Eisenbahn« beziehungsweise des »Eisenbahnunglücks« in der Literatur als »epochales Zeichen einer Welt, in der sich die technischen Mittel der Kontrolle durch den Menschen entzogen haben« vgl. Höller (1993: 80f.). 12 Die »ganze Zerstörung, die sich [im ersten Traum] über den Menschen hergemacht hat«, stelle, so Höller, »die Frage nach dem Verbleib der humanen Utopie des Menschen« (1993: 82).
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Im dritten und letzten Traum überwindet Laurenz schließlich seine kleinbürgerliche, von tagtäglicher Arbeit geprägte Existenz. Auslöser hierfür ist die Metamorphose seiner Geliebten Anna, die sich im Rahmen einer maritimen Bildlichkeit von Aufbruch, ungewisser Seefahrt und Schiffbruch mutig den Gefahren aussetzt, um im Moment des Untergangs die Gestalt einer schönen Wasserfrau anzunehmen, die im Einklang mit der Natur »ein Dasein ohne Herrschaft des Menschen über Menschen lebt« (ebd.: 89). In der Vereinigung mit diesem Naturwesen erlebt Laurenz einen »andere[n] Seinsmodus« (ebd.) ekstatischer Liebe, der den Tod überwunden hat und in seiner Zeitlosigkeit, die dem Uhrentakt des realen Arbeitsalltags diametral gegenüber steht, jenseits von Gewalt und Geschichte angesiedelt ist.13 In der Sprache des Traums konturiert Bachmann somit einen inneren psychischen Raum, in dem die Welt der Arbeit mit ihren rationalen Abläufen und Hierarchien als eine unerträgliche Ordnung erfahrbar wird. Dass dieser Darstellungsmodus einer verborgenen Innerlichkeit für das Hörspiel der 1950er Jahre nicht untypisch ist, wurde in der Forschung wiederholt betont (vgl. Höller 1993: 76f.). Insbesondere Günter Eichs Träume, die eine verdrängte gesellschaftliche Gewalt unvermittelt zum Ausdruck bringen, wurden zum Vorbild zahlreicher Hörspielproduktionen, sodass sich die Hörspielstudios, wie Hans Höller unter Verweis auf Werner Kloses Didaktik des Hörspiels anmerkt, »zeitweise in akustische Traumlabors verwandelte[n]« (Klose 1977: 39, zit. n. Höller 1993: 77). Ein Blick auf das Hörspiel der 1920er und 1930er Jahre zeigt indes, dass die Sprache der Träume schon früher für diese Textsorte fruchtbar gemacht worden war. In Hermann Kasacks Hörspiel Eine Stimme von Tausend etwa ist die Identitätskrise des jungen Angestellten Alexander, der sich im Regelwerk der Bürokratie und im Getriebe der Großstadt verloren fühlt, ebenfalls im Rahmen einer Doppelstruktur von Alltagsrealität und Traumwelt gestaltet; dem als unbefriedigend erfahrenen Betrieb des Büroalltags wird ein nächtlicher Erlebnisraum gegenübergestellt, in dem sich Zweifel des Protagonisten am Charakter des Büro-
13 Höller verweist auch auf die Nähe dieser Textpassage zur späteren Undine-Erzählung, in der immer wieder eine utopische »Liebe der Undine zu den Männern« aufblitze, »von denen sie immer aufs neue an die Institutionen der patriarchalischen Gesellschaft verraten wird« (1993: 90). Dem entsprechend konstatiert Undine verwundert: »Über euch muß ich lachen und staunen, Hans, Hans, über euch kleine Studenten und brave Arbeiter, die ihr euch Frauen nehmt zum Mitarbeiten, da arbeitet ihr beide, jeder wird klüger an einer anderen Fakultät, jeder kommt voran in einer anderen Fabrik, da strengt ihr euch an, legt das Geld zusammen und spannt euch vor die Zukunft« (Bachmann 1993, Bd. 1: 256).
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menschen manifestieren und sich dessen Sinnsuche in einem Durcheinander von inneren Stimmen ausdrückt: »Es ist Nacht, später als sonst. In dieser Minute ist alles von mir abgestreift, was das Leben klein macht und fronen lässt – der Bürotag, der Alltag. Es wacht etwas auf in mir, was ist das? Wer hört ihm zu? Wo ist der Sitz der Seele? Wo ist der Sitz des Traums, niemandem gültig als dem Träumer?« (Kasack 2004, zit. n. Meißner/Kaspar 2009: 128)
Wie Jochen Meißner und Frank Kaspar in einem Aufsatz zu Arbeitswelten im Hörspiel anmerken, spiegelt Kasacks Hörspiel von 1932 paradigmatisch die »Identitätskrise der gesellschaftlichen Gruppe der Angestellten« wider, die in den 1920er Jahren in Deutschland gegenüber den Arbeitern privilegiert war, »im Zuge von ökonomischer Rationalisierung und Inflation [jedoch] allmählich ihren Status verlor« (Meißner/Kaspar 2009: 130). Der damit einhergehende Schock, der sich gerade auch in der Angestelltenliteratur der Weimarer Republik niederschlägt (vgl. Heimburger 2010: 34f.), wird nach den Erlebnissen des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft allerdings durch wesentlich fundamentalere Erfahrungen des Ausgeliefertseins und der Verdinglichung überlagert. Entsprechend zeugen die teils surrealen, teils phantastischen Bilderwelten der Träume in Bachmanns Hörspiel nicht nur von unterdrückten Ängsten und Sehnsüchten im Arbeitsleben eines kleinen Angestellten, sondern offenbaren Erinnerungsspuren eines tieferliegenden geschichtlichen Traumas, das im Innern des Ich virulent geblieben ist und als »unverhüllte[r] Ausdruck der Barbarei« (Höller 1993: 82) den schwer durchschaubaren Herrschafts- und Subordinationsverhältnissen der Rahmenerzählung kontrapunktisch gegenübertritt. Anhand der Darstellung einer »rückhaltlose[n], zerstörerische[n] Erfahrung« (ebd.) von Krieg und Terror untergräbt Bachmanns Hörspiel somit die Vorstellung einer befriedeten Nachkriegsgesellschaft und desavouiert sublime Formen der Gewalt im Arbeitsleben der Menschen, die an jene offenen Gewaltexzesse der jüngsten Vergangenheit auf subtile Weise anschließen.14 Dieser tieferen Erkenntnis und der damit einhergehenden Konsequenz eines Ausstiegs aus dem herrschenden Realitätsprinzip verweigert sich Laurenz jedoch am Ende des Hörspiels. Denn auf Grund seiner arbeitsorientierten Lebenseinstel-
14 Höller sieht in der Traumerfahrung des Hörspiels einen frühen Entwurf dessen, was Bachmann später als »Geschichte im Ich« bezeichnen wird und mit der Aktualisierung all der Ausdrucksmöglichkeiten realisiert, die Sigmund Freud im »Traumgedächtnis« erkannte, insofern es »weit umfassender« sei als »das Gedächtnis im Wachzustand« (Höller 1993: 85).
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lung erscheint ihm der Preis der Träume, die kein Geld, sondern Lebenszeit kosten, viel zu hoch: »Danke schön, verzeihen Sie ... aber das geht wirklich über meine Verhältnisse« (Bachmann 1993: 214). Die am Schluss zum Ausdruck kommende Unfähigkeit des Protagonisten, aus dem gesellschaftlichen System der Entfremdung und Verblendung beziehungsweise aus dem durch Arbeit und Herrschaft sanktionierten Zeitverhältnis auf Dauer auszubrechen, erweist sich mit Blick auf das Gesamtwerk Ingeborg Bachmanns als eine Problemkonstante, die im Übergang vom Früh- zum Spätwerk jedoch eine gewisse Akzentverschiebung erfährt. Während etwa in den Erzählungen aus Das dreißigste Jahr der Fokus noch stärker auf gesellschaftlichen Konfliktkonstellationen liegt, in die männliche Protagonisten bei ihrem Versuch geraten, aus den vorgeprägten Rollenmustern und Konventionen auszubrechen, rücken im Roman-Projekt Todesarten vor allem private Gewaltkonstellationen in Ehe und Familie in den Blick, die aus Sicht der weiblichen Opfer rekonstruiert werden (vgl. Höller 1993: 231). Dass ungeachtet dieser perspektivischen Verschiebung auf den privaten Bereich als Keimzelle von Faschismus und gesellschaftlicher Gewalt dem Erwerbsleben werkübergreifend eine gewichtige Bedeutung zukommt, zeigen neben dem genannten Hörspiel eine ganze Reihe von Texten, in denen entsprechende Arbeitswelten mit ihren spezifischen Arbeitsabläufen als paradigmatische Orte von Subordination und Entfremdung vorgeführt werden. In Ein Wildermuth etwa unterminiert Bachmann das Bild eines völlig überarbeiteten Richters, der während eines Mordprozesses zusammenbricht, um einen von tieferliegenden Problemen gezeichneten Arbeitsalltag zu offenbaren, in dem der Protagonist mit seinem absoluten Wahrheitsanspruch an der »ausschnitthafte[n], fragmentarische[n], vielfältig subjektiv gebrochene Wahrheit« (Müller-Dietz 1994: 1924) im juristischen Diskurs verzweifelt.15 Etwas anders gestaltet sich der Konflikt im Arbeitsleben eines Gehbehinderten, den Bachmann ins Zentrum ihrer zu Lebzeiten unveröffentlichten Erzählung Der Hinkende rückt. Darin beschreibt ein Ich-Erzähler sein ganzes Leben als eine einzige Kränkung, wobei er nicht allein sein aus der Kindheit herrührendes körperliches Handicap für sein Unglück verantwortlich macht, sondern gerade
15 Das Gericht als eine der wichtigsten Arbeitswelten in der Literatur des 20. Jahrhunderts, deren künstlerische Gestaltung vermehrt mit Fragen der metaphysischen und moralischen Existenz des Menschen, aber auch mit der Kritik an bestehenden Rechtsverhältnissen und gesellschaftlichen Instanzen korrespondiert (vgl. Emmel 1963: 5), erscheint bei Bachmann somit als der Ort, an dem die ganze Problematik privater wie öffentlich gehandelter Wahrheitserkenntnis aufscheint.
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auch seinen eintönigen Arbeitsalltag in einer Telefonzentrale, die ihm wie eine »Gruft« (Bachmann 1993, Bd. 2: 76) erscheint, aus der es keinen Ausweg gibt. Vergleichbar dem Protagonisten in Ein Geschäft mit Träumen offenbart sich dem Erzähler das Grauen seiner gefangenen Existenz in aller Deutlichkeit in einem Traum, dessen surreale Bildersprache die Ausweglosigkeit des Arbeitstrotts unterstreicht: »Ich verbinde selbst im Traum: [...]. Ich verbinde diese riesige Nummer, die ich selbst bin, mit den nackten Würmern und dem springlebendigen Getier unter dem verhärteten Schlamm, auf den mein Kopf zu liegen kommt.« (Ebd.: 77)
Dem Motiv des gesellschaftlichen Außenseiters widmet sich auch Bachmanns späte Erzählung Probleme Probleme. Hauptfigur ist eine junge Frau namens Beatrix, die auf Grund tiefer seelischer Verletzungen den »gegenwartstypischen Anforderungen an räumliche, soziale und psychische Mobilität [nicht] gerecht zu werden vermag« (Schneider 2002: 163) und sich entgegen allen Aufforderungen, sich endlich eine »passende Arbeit« (Bachmann 1995, Bd. 4: 173) zu suchen, in einen tiefen traumlosen Schlaf flüchtet: »Aber Beatrix wußte genau, daß es einfach keine Arbeit gab, auch nicht in dem erbärmlichen Büro – denn auch dafür brachte sie keine Voraussetzungen mit – und daß man ihr nirgends erlauben werde, bis in den tiefen Nachmittag zu schlafen« (ebd.: 173f.).
Vergleicht man die genannten Textbeispiele hinsichtlich der darin evozierten Arbeitswelten, so zeigt sich bei aller Verschiedenheit der thematisierten Konfliktkonstellationen doch ein gemeinsamer Grundtenor, insofern das Berufsleben als eine Sphäre der Anpassung an gesellschaftliche Normen und Konventionen vorgeführt wird, denen sich die Protagonisten entweder unterwerfen, was mit weitreichenden Entsagungen und psychischen Deformationen verbunden ist, oder an denen sie letztlich scheitern. Indem sich die evozierten Orte der Arbeit zugleich als Schauplätze eines gesellschaftlichen Gesamtsystems erweisen, das den Menschen zu jeder Zeit in vorbestimmte Muster zwängt beziehungsweise den individuellen Leidenschaften Sublimierung oder Unterdrückung abverlangt, nähert sie Bachmann (wie oben bereits erwähnt) tendenziell kulturkritischen Positionen der Kritischen Theorie an.16 Maßgeblich ist hier neben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer Herbert Marcuse, dessen Studie Triebstruktur und
16 Zur Auseinandersetzung Bachmanns mit der Kritischen Theorie vgl. Schmaus (2002: 216–218, hier 216).
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Gesellschaft deutliche Spuren in Bachmanns Werk hinterlassen hat.17 Unter Bezugnahme auf Sigmund Freuds Spätwerk Das Unbehagen in der Kultur beschreibt Marcuse darin die menschliche Kultur als ein historisch gewachsenes System, das zur Selbsterhaltung auf fortgesetzter Sublimierung basiert: »Das Glück [individueller Freiheit] muß der Disziplin der Arbeit als Vollbeschäftigung untergeordnet werden, der Disziplin der monogamen Fortpflanzung, dem geltenden System von Recht und Ordnung« (Marcuse 1965: 9).18
Um den damit einhergehenden Zustand psychischer Verarmung zu verschleiern, biete die Konsumgesellschaft dem Menschen eine enorme Auswahl an Waren und Diensten, an unechten Freiheiten und Scheinindividualitäten an, die seine Bedürfnisse lenken und die er mit einer alles erfassenden Kontrolle über das Leben bezahlt: »Die Ideologie unserer Zeit besteht darin, daß Produktion und Konsum die Beherrschung des Menschen durch den Menschen rechtfertigen und ihr Dauer verleihen« (ebd.: 101). Mit Blick auf das groß angelegte Romanprojekt Todesarten, das Bachmann in den 1960er Jahren beginnt, lässt sich noch ein weiterer Einfluss kulturkritischer Positionen erkennen, der auf der »recht systematische[n] Beschäftigung mit dem historischen Materialismus« (Bachmann 1991: 42) beruht, wie Bachmann in einem Interview von 1963 selbst anmerkt. So finden sich in bestimmten Partien des Malina-Romans deutliche Anlehnungen an die marxistische Terminologie und zum Teil explizite Referenzen auf bestimmte Werke (vgl. Albrecht 2002: 249; Lennox 2006: 328f.), wenn das Ich nach einem Besuch der »großen Kaufhäuser auf der Mariahilfer Straße« (Bachmann 1995, Bd. 3.1: 599) – in Anlehnung an Karl Marx’ ersten Satz des ›Waren‹-Kapitels in Das Kapital – gereizt anmerkt, dass die »ganze Anhäufung von Waren« in den Geschäften »die Ware schwarz vor Augen« (ebd.) werden lasse oder dass in den fortgeschrittensten Formen eines weltweiten Marktes Verbrechen, Gewalt und Verdorbenheit ihren Ausdruck finden. Eine weitere signifikante Textstelle, die auf eine berühmte Schrift von Karl Marx anspielt, geht dieser Textpassage, in der das Ich die ökonomische und politische Entwicklung in Wien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs reflektiert,
17 Zur Bedeutung dieser Studie für Bachmanns Hörspiel Der gute Gott von Manhattan vgl. Lennox 2000. 18 Das Werk erschien in dem Jahr (1955) in Boston, in dem Bachmann dort an einem von Henry Kissinger geleiteten Harvard International Seminar teilnahm (vgl. Lennox 2002: 92f.).
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unmittelbar voraus. Dort konstatiert das Ich in Affinität zu den Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte[n]: »Jeder, der arbeitet, war, ohne es zu wissen, ein Prostituierter, wo habe ich das schon einmal gehört?« (Ebd.: 596)
»A LLES GEHT ENDLICH ARBEITEN , SCHWEIGEND «. A RBEIT ALS S TÜTZE DES S YSTEMS Wie in der Forschung wiederholt angemerkt, verweisen die genannten Textstellen auf eine eingehende Auseinandersetzung Bachmanns mit den Positionen des Marxismus, die vor allem in den 1960er Jahren einsetzt (vgl. Albrecht 2002: 249). Damit einher geht eine allmähliche Zuspitzung ihrer Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem, dessen verbrecherische Strukturen in nahezu allen Texten des Todesarten-Romanzyklus, aber auch in einigen öffentlichen Statements angesprochen werden.19 Zwar verweisen bereits einzelne Werke der 1950er Jahre auf eine kritische Haltung gegenüber den kommerziellen Auswüchsen der beginnenden Wirtschaftswundergesellschaft, doch unterscheidet sich der Ton hier noch deutlich von der Vehemenz, mit der das Konsumverhalten in Malina und in Das Buch Franza als Symptom einer kranken westlichen Welt angeprangert wird. Ein Schlüsseltext, der die ganze Tragweite dieser Thematik im Werk der Autorin erstmals voll entfaltet, ist die Büchner-Preis-Rede Ein Ort für Zufälle, die 1965 in überarbeiteter Form zusammen mit 13 Zeichnungen von Günter Grass im Wagenbach-Verlag erscheint. Am Beispiel der geteilten Stadt Berlin führt die Autorin darin einen massenhaften Konsumwahn vor Augen, der dem Verdrängen einer unfassbaren Gegenwart und unverarbeiteten Vergangenheit gilt (vgl. Weigel 1999: 375; Höller 1998: 30). Diese Gewaltpotenziale brechen allerdings in Form verrutschender Orte, bebender Gebäude, sich hebender Straßen und überlaufender Kanäle katastrophenartig über die Berliner Bevölkerung herein und scheinen doch dem städtischen Funktionsgefüge inhärent zu sein (vgl. Böschenstein 1997: 264f.). Als Reaktion darauf erfolgt eine Fülle an Verordnungen und Drohungen, Beruhigungsmaßnahmen und Beschwichtigungen, mit denen über das Ausmaß der Zerrüttung hinweggetäuscht und dem Aufkommen von Aufruhr und Massenpanik entgegengewirkt werden soll (vgl. Fries 1992: 278).
19 So äußert Bachmann noch in ihrem letzten Interview kurz vor ihrem Tod: »Und ich glaube nicht an diesen Materialismus, an diese Konsumgesellschaft, an diesen Kapitalismus, an diese Ungeheuerlichkeit, die hier stattfindet, an diese Bereicherung der Leute, die kein Recht haben, sich an uns zu bereichern« (Bachmann 1991: 145).
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Diesem Ziel ist ein Geflecht an Institutionen der Freizeit- und Vergnügungsindustrie, der Infrastruktur und der politisch-militärischen Administrative dienstbar, das zugleich den Bezugsrahmen für die Darstellung einer Vielzahl von Arbeitswelten bildet, die als Schauplätze einer kollektiven Kultur des Vergessens und Verdrängens vorgeführt werden (vgl. Böschenstein 1997: 268). Vergleichbar dem Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen ruft Bachmann dabei vor allem die berufliche Sphäre der Angestellten und Dienstleistenden in den Kaufhäusern und Cafés, Kneipen und S-Bahnhöfen auf, die als Handlanger und Stützen des Systems versuchen, in einer permanent zum Kollaps neigenden Wirklichkeit die Ordnung aufrechtzuerhalten. Paradigmatisch für diese Art der Darstellung ist der vierte Abschnitt, der mit dem Bild eines vom Schutt befreiten Bauplatzes am Lützowplatz einsetzt, auf dem Skelettreste und Brandspuren Indizien einer gewaltsamen Vergangenheit sind. Von dort wechselt die Handlung ins KaDeWe, wo die euphorische Stimmung der versammelten Menschenmasse zunehmend in Aggression und Zerstörungswut umkippt. Schließlich wälzt sich eine gewaltige Lawine aus Kunden, heruntergerissenen Dekorationsgegenständen und erbeuteten Waren die Stockwerke hinab: »Die [...] Dekoration wird abgerissen und von den obersten Stockwerken geworfen, die Rolltreppen sind verklemmt, die Lifts sind schon ganz vollgestopft mit Schals und Kleidern und Mänteln, die alle mitsollen […].« (Bachmann 1995, Bd. 1: 209)
Die Textpassage, die mit der verzweifelten Drohung »das muß alles bezahlt werden, das werdet ihr noch bezahlen!« (ebd.) der vom Erstickungstod bedrohten Verkäuferinnen endet, zeigt das ganze Dilemma der Angestellten. Als unterste Glieder eines ansonsten anonymen Systems, das sich lediglich durch unpersönliche Anweisungen und undurchschaubare Abläufe, Warnsignale und Geheimnamen, Gebührenerhöhungen und Versicherungsbescheide bemerkbar macht, sind sie den Gewalten vollkommen ausgeliefert, die nicht nur in der entstellten Außenwelt wüten, sondern gerade auch im Innern der Bevölkerung virulent sind. Betrachtet man die so evozierten Arbeitswelten unter thematischen und ästhetischen Gesichtspunkten, so lassen sich gewisse Übereinstimmungen hinsichtlich der Traumszenarien im zuvor besprochenen Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen erkennen (vgl. Höller 1993: 84). Auch in Bachmanns Berlin-Text werden verborgene Aspekte des Alltags als surrealer Ausnahmezustand erfahrbar. Wie die Landschaft im ersten Traum erscheint die Stadt Berlin nun als Schauplatz destruktiver Gewalten. Auch hier zeugen die Gebärden und Stimmen der
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Menschen, ihre Fluchtreaktionen, Erschöpfungszustände und Schreie vom Trauma, das, die Gegenwart des Kalten Krieges überschreitend, die nationalsozialistische Vergangenheit einbezieht. Bachmann verzichtet in Ein Ort für Zufälle jedoch auf die Trennung von Realitätsmodus und Traummodus zugunsten einer grotesken Bildlichkeit, in der die Dichotomie zwischen äußerer Erscheinungswelt und innerer Gefühlswelt aufgehoben ist.20 Dies geschieht mittels bestimmter Verfahren und Stilmittel, die zum gängigen Repertoire des Grotesken gezählt werden und zu denen die Verzerrung der natürlichen Proportionen ebenso gehört wie die Belebung gewöhnlich statischer Gegenstände und Körper, die Kombination und Vermengung eigentlich disparater Bereiche, die Aufhebung des zeitlichen Kontinuums sowie die Destabilisierung sprachlicher und narrativer Konventionen (vgl. Kayser 1960).21 Augenfällig wird diese Art der Konturierung einer grotesken Bildlichkeit im 6. Abschnitt. Die Not einer Schaffnerin am S-Bahnhof Bellevue äußert sich darin, dass sie einer menschlichen Karyatide – einer weiblichen Fassadenfigur – gleich vergeblich versucht, den drohenden Einsturz der S-Bahn-Station, über der die Züge hinwegrattern, zu verhindern: »Die Schaffnerin am Schalter muß die Decke mitsamt der S-Bahn stemmen, denn es dröhnt wieder. Die Frau hat zum Glück diese riesigen Muskeln und Hände, sie stützt, während sie gleichzeitig Fahrkarten ausgeben muß, schon wieder die S-Bahn, weil der Gegenzug zur Friedrichstraße darüber hinwegrollt. Da fällt doch ein Teil der Decke herunter, aber sie hebt ihn wieder auf, dann kommt der andere Teil herunter, auf dem auch die Siegessäule steht, dann rattert wieder die Bahn, Richtung Wannsee« (Bachmann 1995, Bd. 1: 210f.).
Als Vertreterin der institutionellen Ordnung mit beinahe mythischen Dimensionen ist die Schaffnerin letztlich der Belastung nicht gewachsen und steht damit sinnbildlich für die Ohnmacht des Menschen angesichts der Gewalten, die nicht von außen, durch einen Angriff, ausgelöst werden, sondern dem städtischen Funktionsgefüge, wie es die Struktur der Arbeitswelten repräsentiert, inhärent sind. Dass die Kultur des Verdrängens und Vergessens nicht nur Übermenschliches verlangt, sondern auch auf uneingeschränkter Gleichschaltung und Unterdrückung beruht, verdeutlicht das Ende des 7. Abschnittes, wo es nach einem Moment des Aufruhrs in deutlicher Anlehnung an den Kontext der Zwangsarbeit
20 Zur grotesken Bildlichkeit in Ein Ort für Zufälle vgl. Bartsch (1982: 81f.). 21 Böschenstein weist darauf hin, dass Berlin in Bachmanns Text ein »Ort des Monströsen« ist, »das Raum und Zeit aus allen Grenzen treibt« (1997: 264f.).
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heißt: »Alles geht endlich arbeiten, schweigend. Alle in weißen frischen Hemden, die im Nacken zugebunden sind« (ebd.: 211). Wer sich dennoch dem Diktat der Masse widersetzt und nicht so tut, als ob nichts wäre, den erfasst ein System der Ausgrenzung und Entmündigung, das in Form von getarnten Sicherheitsdiensten und Krankenhäusern auftritt. Vor allem mit der medizinischen Anstaltssphäre rückt Bachmann eine Arbeitswelt in den Mittelpunkt, die geradezu paradigmatisch für jene systemimmanente Gewalt in der scheinbar friedlichen Nachkriegsgesellschaft steht, die nur schwer zu erkennen ist, weil sie vom Gesetz gedeckt wird. Nicht Heilung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft sind das Ziel dieser Institution, sondern gewaltsame Unterdrückung und Beschwichtigung. Dabei sind es erneut mit den Nacht- und Hilfsschwestern die Angestellten am unteren Ende der Hierarchie, die sich dem schrecklichen Leiden der Kranken an der Realität stellen müssen, während sich bspw. die Versicherungen für nicht zuständig erklären oder die Chefärzte nicht gestört werden dürfen.
R ESÜMEE Der Blick auf ausgewählte Werke Ingeborg Bachmanns hat gezeigt, dass Arbeitswelten nicht nur ausnahmsweise Gegenstand der Darstellung sind, sondern in Texten unterschiedlicher Gattungszugehörigkeit und aus verschiedenen Arbeitsphasen Bedeutung erlangen. In der Regel handelt es sich dabei um paradigmatische Schauplätze eines gesellschaftlichen Gesamtsystems, das den Menschen in das Korsett einer vorgeprägten Lebens- und Denkweise zwängt, wobei diese Anpassungsleistung, wie an unterschiedlichen Protagonist(inn)en aufgezeigt wird, entweder mit psychischen Deformationen einhergeht oder, im Falle des Scheiterns, in Ausgrenzung und gewaltsame Unterdrückung mündet. Vor allem in Bachmanns Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen und in ihrer Büchner-Preis-Rede Ein Ort für Zufälle zeigt sich, dass die mit der entfremdeten Arbeit einhergehende Sublimierung von Sehnsüchten und Triebregungen über das Einzelschicksal hinausgeht und überindividuelle Traumata einschließt, deren Virulenz letztlich das gesamte System der Kultur in Frage stellt. Damit nähert sich die Darstellung der Arbeitswelten tendenziell kulturkritischen Positionen Theodor W. Adornos, Max Horkheimers und Herbert Marcuses (in der Nachfolge Marx’ und Freuds), die in der ökonomischen und bürokratischen Ordnung der westlichen Nachkriegsgesellschaft eine starke Tendenz zum Konformismus erkennen sowie eine Entmündigung des Subjekts in der Massenkultur, die zugleich als Ausdruck einer fatalen Kontinuität faschistisch-totalitärer Praktiken aufge-
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fasst wird.22 Gerade die besonders von Adorno immer wieder betonte strukturelle Komponente in Hinblick auf das Fortleben des Nationalsozialismus tritt in Bachmanns Schreiben seit Beginn der 1960er Jahre dominant in den Vordergrund. Sprechendes Beispiel hierfür ist die Arbeitswelt der Psychiatrie, in der, wie es unter anderem Das Buch Franza vorführt, jener gewaltsame Drang zur Objektivierung fortwirkt, der im Nationalsozialismus medizinische Versuche an Menschen möglich werden ließ. Betrachtet man die Arbeitswelten bei Bachmann unter ästhetischen Gesichtspunkten, so zeigt sich ein breites Spektrum an dramaturgischen und szenischen Gestaltungsmitteln, die sich surrealen, phantastischen und grotesken Bilderwelten annähern. Gemeinsam ist diesen Verfahren, dass sie die gewohnte Sichtweise unterminieren und verborgene, aus dem Alltagsleben verdrängte seelische Deformationen aufzudecken suchen. Dieser »inneren Bühne« (Höller 1993: 85), dem wirklichen Schauplatz der gesellschaftlichen Gewalt, gilt letztlich das groß angelegte Romanprojekt Todesarten. So schreibt Bachmann in ihrer Vorrede im Franza-Romanfragment: »Denn es ist das Innen, in dem alle Dramen stattfinden, kraft der Dimension, die wir oder imaginierte Personen diesem Leiden geben« (Bachmann 1995, Bd. 3: 76).
L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1998): Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden. Hg. v. Rolf Tiedemann, unter Mitwirkung v. Gretel Adorno/Susan Buck-Morss/ Klaus Schultz, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Albrecht, Monika (2002): »Die Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft«, in: dies./Göttsche, Bachmann-Handbuch, S. 246–252. Albrecht, Monika/Göttsche, Dirk (Hg.) (2002): Bachmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar: Metzler.
22 Neben den Reflexionen zur »Kulturindustrie« und den »Elemente[n] des Antisemitismus« in der Dialektik der Aufklärung vgl. unter anderem die Rede Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit, in der Adorno seine These vom »Nachleben des Nationalsozialismus« erörtert und in der er die mangelhafte Aufarbeitung der Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland letztlich auch auf das Fortbestehen totalitärer Potenziale in der Gesellschaft zurückführt. Die Aufsatzsammlung Eingriffe, die Adornos 1959 vorgetragene Rede Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit enthält, befindet sich in der Buchfassung von 1963 in Bachmanns Privatbibliothek.
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Bachmann, Ingeborg (1991): Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hg. v. Christine Koschel/Inge von Weidenbaum. 3. Aufl., München/Zürich: Piper. Bachmann, Ingeborg (1993): Werke in vier Bänden. Hg. v. Christine Koschel/Inge von Weidenbaum/Clemens Münster. 4. Aufl., München/Zürich: Piper. Bachmann, Ingeborg (1995): ›Todesarten‹-Projekt. Kritische Ausgabe in vier Bänden. Unter Leitung v. Robert Pichl hg. v. Monika Albrecht/Dirk Göttsche, München/Zürich: Piper. Bachmann, Ingeborg (1998): Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Edition u. Kommentar v. Hans Höller, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bartsch, Kurt (1979): »Die Hörspiele von Ingeborg Bachmann«, in: ders./Dietmar Goltschnigg/Gerhard Melzer/Wolfgang H. Schober (Hg.), Die Andere Welt. Aspekte der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Hellmuth Himmel, Bern/München: Francke, S. 71–122. Bartsch, Kurt (1982): ›Frühe Dunkelhaft‹ und Revolte. Zu geschichtlicher Erfahrung und utopischen Grenzüberschreitungen in erzählender Prosa von Ingeborg Bachmann, Graz [unveröffentlichte Universitätsschrift]. Bartsch, Kurt (1988): Ingeborg Bachmann, Stuttgart: Metzler. Böschenstein, Bernhard (1997): »Die Büchnerpreisreden von Paul Celan und Ingeborg Bachmann«, in: ders./Sigrid Weigel (Hg.), Poetische Korrespondenzen. Vierzehn Beiträge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 260–269. Emmel, Hildegard (1963): Das Gericht in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bern/München: Francke. Fries, Marilyn Sibley (1992): »Berlin and Böhmen: Bachmann, Benjamin, and the Debris of History«, in: Nancy Kaiser/David E. Wellbery (Hg.), Traditions of Experiment from the Enlightenment to the Present. Essays in Honor of Peter Demetz, Ann Arbor: The University of Michigan, S. 275–299. Habermas, Jürgen (1958): »Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit«, in: Gerhard Funke, Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker, Bonn: Athenäum, S. 219–231. Heimburger, Susanne (2010): Kapitalistischer Geist und literarische Kritik. Arbeitswelten in deutschsprachigen Gegenwartstexten (= Forschungen zur deutschsprachigen Literatur nach 1945), München: Edition Text + Kritik. Höller, Hans (1993): Ingeborg Bachmann. Das Werk. Von den frühesten Gedichten bis zum ›Todesarten‹-Zyklus, Frankfurt a.M.: Anton Hain. Kasack, Hermann (2004): Eine Stimme von Tausend. Hörspiel-Fragment, Berliner Funkstunde, 06.10.1932, auf: Hermann Kasack und der Rundfunk, CD-
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Publikation des Deutschen Rundfunkarchivs Wiesbaden und Potsdam (DRACD Nr. wo01). Kayser, Wolfgang (1960): Das Groteske in Malerei und Dichtung, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Klose, Werner (1977): Didaktik des Hörspiels. 2. erg. Aufl., Stuttgart: Reclam. Lennox, Sara (2000): »Zur Repräsentation von Weiblichkeit in Ingeborg Bachmanns ›Der Gute Gott von Manhattan‹«, in: Monika Albrecht/Dirk Göttsche (Hg.), »Über die Zeit schreiben«. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zum Werk Ingeborg Bachmanns. In 2 Bdn. Bd. 2, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 15–48. Lennox, Sara (2002): »Hörspiele«, in: Albrecht/Göttsche, Bachmann-Handbuch, S. 83–96. Lennox, Sara (2006): Cemetery of the Murdered Daughters: Feminism, History, and Ingeborg Bachmann. Amherst: University of Massachusetts. Lillge, Claudia (2011): »Helden der Arbeit/Helden der Freiheit. Poesien des Alltags im britischen New Wave-Kino«, in: Gisela Ecker/Claudia Lillge (Hg.), Kulturen der Arbeit, München: Fink, S. 85–115. Marcuse, Herbert (1965): Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Meißner, Jochen/Kaspar, Frank (2009): »Von synchronisierten Kollektiven zu dereguliertem Geschrei. Arbeitswelten im Hörspiel«, in: Inge Baxmann/Sebastian Göschel/Melanie Gruß/Vera Lauf (Hg.), Arbeit und Rhythmus. Lebensformen im Wandel, München: Fink, S. 117–139. Müller-Dietz, Heinz (1994): »Der Richter und die Wahrheit. Eine Reminiszenz an Ingeborg Bachmanns Erzählung ›Ein Wildermuth‹«, in: Neue juristische Wochenschrift 4, Heft 30, S. 1921–1924. Schmaus, Marion (2002): »Kritische Theorie und Soziologie«, in: Albrecht/ Göttsche, Bachmann-Handbuch, S. 216–218. Schneider, Jost (2002): »Simultan und Erzählfragmente aus dem Umfeld«, in: Albrecht/Göttsche, Bachmann-Handbuch, S. 159–171. Schuller, Marianne (1984): »Sprache und Hören in den Hörspielen und Libretti. Hörmodelle«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Ingeborg Bachmann (= Text und Kritik, Sonderband; Gastredaktion: Sigrid Weigel), München: Edition Text + Kritik, S. 50–57. Slibar, Neva (1995): »›Das Spiel ist aus‹ – oder fängt es gerade an? Zu den Hörspielen Ingeborg Bachmanns«, in: Edition Text + Kritik 6 (Neufassung), S. 111–122. Weigel, Sigrid (1999): Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses, Wien: Zsolnay.
Der Revolutionär im Büro Entfremdete Arbeit in Bernward Vespers Die Reise und zeitgenössische Paradigmenwechsel in der linken Ideologie J ULIAN R EIDY
Bernward Vespers 1977 posthum erschienenes autobiographisches Kultbuch Die Reise zählt zu den aufschlussreichsten und repräsentativsten Dokumenten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts – nicht nur Peter Weiss empfand den Text als »intellektuelle[n] Höhepunkt der Bewegung des Jahrs 68« (1982: 672).1 Kaum erforscht wurde allerdings bislang die Rolle der Arbeitswelt in Vespers autobiographischem ›Romanessay‹, was überrascht, da dieser Thematik in Die Reise eine sehr denkwürdige Passage gewidmet ist. In der Folge möchte ich daher zeigen, dass und in welcher Weise in Bernward Vespers autobiographischen Schilderungen seiner Arbeitswelt die Ideologie der sogenannten ›New Left‹ oder ›Neuen Linken‹ exemplarisch zu Tragen kommt.2
1
Siehe auch Assmanns Nobilitierung der Reise zum »Prototyp der Gattung [›Väterliteratur‹]« (2010: 206) oder die Einleitung der Herausgeber des Tagungsbands Deutsche Väter von 1981, in der Die Reise als »Vorläufer[…]« aller »Väter-Bücher« bezeichnet wird (Ermert/Striegnitz 1981: 1). Vgl. des Weiteren Ralf Zschachlitz’ Postulat, wonach Vesper für eine »symbolisch-repräsentative Rolle« prädestiniert sei, da er »alle wichtigen Charakteristika der 68er-Generation« in sich vereine: Als Sohn des Nazi-Poeten Will Vesper sei er der ideale Rebell, als Freund und Ex-Verlobter Gudrun Ensslins aber auch ein teilnehmender Beobachter der turbulenten Ereignisse um 1968 und des Abdriftens von Teilen der Protestbewegung in den Terrorismus (Zschachlitz 2008: 94).
2
Die folgenden Ausführungen basieren im Wesentlichen auf meiner Monographie Vergessen, was Eltern sind. Relektüre und literaturgeschichtliche Neusituierung der an-
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Nach seiner Schulzeit in einer Institution, die er als »bürgerliche ideologische gemischtwarenhandlung« (Vesper 2009: 653) empfand, tritt Vesper3 um 1960 als Lehrling in den Braunschweiger Westermann-Verlag ein, und zunächst scheint sich für den idiosynkratischen jungen Mann alles zum Besseren zu wenden: »Lehrling einer solchen Firma zu sein, die Beziehungen in der ganzen Welt unterhielt, verlieh mir ein Gefühl der Sicherheit« (ebd.: 553). Bald aber stellt sich Desillusionierung ein: »Ich war nach Braunschweig gekommen, um zu lernen, wie man Bücher macht [...]. Aber je länger ich an den Schreibtischen der Abteilungen saß, um so ferner rückten diese Ziele. Die Bücher und Zeitschriften lösten sich auf in Seiten, Zeilen und Lettern, und schließlich verlor ich sie ganz aus den Augen, versank in zahllose Einzelheiten [...]. Ich hörte den Gesprächen [...] zu, aber alles, was ich aufschnappte, blieb abstrakt. [...]. Meine Phantasie erlahmte [...]. Ich teilte mir den Tag im Kopf ein. [...] [A]m Freitag [...] fuhr ich mit dem Fahrrad nach Hause [...] und versuchte alles, was in der Woche geschehen war, zu vergessen.« (Ebd.: 554f.)
Kurz, der Marxist Vesper beschreibt rückblickend die Tätigkeit bei Westermann schul- und parteibuchmäßig als entfremdete Arbeit, als Arbeit also, die »[...] dem Arbeiter äusserlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, [was dazu führt,] dass er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruinirt. Der Arbeiter fühlt sich daher erst ausser der Arbeit bei sich und in der Arbeit ausser sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse ausser ihr zu befriedigen. [...] Sie gehört einem andern, sie ist der Verlust seiner selbst. [...] Wir haben den Akt der Entfremdung der praktischen
geblichen Väterliteratur (2012), die ich im Rahmen der Tagung »(Re-)Präsentationen der Arbeitswelt« am 12.11.2011 in Erlangen vorstellte. Ich gebe sie hier mit freundlicher Erlaubnis des Verlags wieder. 3
Zumindest in den hier zur Diskussion stehenden Passagen der Reise ist der Lejeune’sche ›autobiographische Pakt‹ als erfüllt zu betrachten, das heißt die Erzählinstanz ist mit dem empirischen Autor identisch. Zu betonen ist, dass dies nicht für den ganzen Roman gilt – im Rahmen dieses Artikels aber ist eine stringente Differenzierung zwischen realem Autor und Erzähler weder möglich noch zwingend erforderlich.
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menschlichen Thätigkeit, d[er] Arbeit, nach zwei Seiten hin betrachtet. 1) Das Verhältnis des Arbeiters zum Product der Arbeit als fremden und über ihn mächtigen Gegenstand [...]. 2) Das Verhältniß der Arbeit zum Akt der Production innerhalb der Arbeit. Dieß Verhältniß ist das Verhältniß des Arbeiters zu seiner eignen Thätigkeit als einer fremden, ihm nicht angehörigen, d[ie] Thätigkeit als Leiden« (Marx 2009: 87ff.).
Schon seine Schulzeit beschreibt Vesper in der Reise konsequent in der ersten Person Plural als kollektive Entfremdungserfahrung (Vesper 2009: 536ff.), und dasselbe geschieht hier mit seiner Schilderung des Berufseintritts: Diese ist deutlich dem marxistischen Konzept der entfremdeten Arbeit verpflichtet und steht somit in einem begrifflichen Rahmen, der für die intendierte Leserschaft der Reise unmittelbar transparent war. Bereits ein flüchtiger Blick auf die Passagen zum Westermann-Verlag zeigt mithin, dass es Vesper nicht darum geht, seinen eigenen Verlust an Lebenskraft im Büro als tragisches individuelles Schicksal autobiographisch zu stilisieren. Vielmehr steht auch hier ein dokumentarisch-repräsentativer Aspekt im Vordergrund, manifestiert sich doch in diesen Ausführungen nichts anderes als das von Jürgen Habermas bei Vespers ganzer Generation diagnostizierte »Unverständnis dafür, warum das Leben des einzelnen trotz dem hohen Stand der technologischen Entwicklung nach wie vor durch das Diktat der Berufsarbeit, [...] bestimmt ist, warum, mit einem Wort, der ›Kampf ums Dasein‹, die Disziplin der entfremdeten Arbeit, die Tilgung von Sinnlichkeit und ästhetischer Befriedigung aufrechterhalten werden.« (2008: 193)
In diesem Zusammenhang wird aber auch deutlich, dass Vesper eine bemerkenswerte intellektuelle Volte vornimmt: Marx’ Begriff der entfremdeten Arbeit bezieht sich auf ausgebeutete Proletarier, zu denen Vesper als Lehrling im Büro, einer im wahrsten Sinne des Wortes white-collar-Umgebung nun wirklich nicht gehört (einmal ist von den »weißen Kitteln« der »Angestellten« die Rede; Vesper 2009: 559). Trotzdem inszeniert er sich als Opfer einer Entfremdungserfahrung und verortet die authentische, befriedigende und vor allem verständliche, eben gerade nicht »fremde[…]« (Marx 2009: 88) Arbeit in einer Art Inversion von Marx’ These ausgerechnet in der Fabrik: »Von dem Flügel, in dem die Angestellten in ihren weißen Kitteln saßen, führen die Flure in den technischen Betrieb: [...] [D]ort stehen Drucker an den Rotationen, sitzen Retoucheure vor den Lichttischen, werden die Offsetplatten geätzt und die Planobogen gefalzt, zusammengetragen, genutet, gelumbeckt und gebunden. [...] Wenn man die dicken
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Metalltüren, die beide Komplexe trennen, öffnete, wischte einem der Maschinenraum den Schall vom Mund. [...] [T]rotz der Anstrengung, die es mich kostete, mich acht Stunden lang auf den Beinen zu halten, verging die Zeit hier schneller. Nie kommt die kriechende, klebrige Langeweile der Büros auf. Denn im Lärm der Maschinen, im Dunst der Druckerschwärze, im Papierstaub verwandelte die Arbeitskraft und die Geschicklichkeit der Arbeiter die Druckvorlage in Produkte, die zuvor nicht dagewesen waren, die nicht zustandegekommen wären, wenn nicht alle, von den Herstellern bis zum Packer, in sinnvoller Weise zusammengearbeitet hätten. [...] Nach einigen Monaten konnte ich den Produktionsverlauf [...] überblicken.« (Vesper 2009: 559f.)
Damit nicht genug: Die blue-collar-workers, die im Westermann’schen Maschinenraum eben gerade »sinnvolle[…]« (ebd.) und verständliche Arbeit leisten, erscheinen zudem keineswegs als ›Träger‹ einer wie auch immer gearteten ›Revolution‹, sondern als träge Kleinbürger, wie Vesper mit einigem Befremden bemerkt: »Von einigen wusste ich, dass sie einen kleinen Schrebergarten bearbeiteten, andre sammelten Briefmarken, spielten Akkordeon, lasen Krimis. [...] Einige waren in der Gewerkschaft, andre hatte ich beobachtet, wie sie ein Flugblatt der IG-Druck und Papier [...] zerknüllten [...]. In den fünfzehn Jahren seit Kriegsende hatten sie eine neue Wohnung, eine andre Einrichtung gekauft, [...] und gerade sparten die meisten, um sich Fernsehgeräte anzuschaffen.« (Ebd.: 561f.)
Diese Umformung von Marx’ Gedanken ist frappierend. Um sie zu verstehen, muss man Die Reise in ihre spezifischen geistesgeschichtlichen Kontexte einordnen. Das kann hier nur in sehr verkürzter Form geschehen, erweist sich aber im Hinblick auf die Darstellung der Arbeitswelt in Vespers ›Romanessay‹ dennoch als aufschlussreich. Bekanntlich ging den »Protestbewegungen des Jahres 1968« sowohl »in den USA« als auch in der »Bundesrepublik die Formierung einer intellektuellen neuen Linken bzw. New Left voraus« (Schmidtke 2003: 33). »[S]eit dem Ende der fünfziger Jahre« und nicht zuletzt als Reaktion auf die »Enthüllungen des stalinistischen Terrors« und die »Unterdrückung der Demokratiebewegung in Ungarn durch sowjetische Truppen«, erarbeitete diese New Left vor allem in Plattformen wie der New Left Review ein »neues linkes Selbstverständnis« (ebd.). Die wohl wichtigste Frage, die durch dieses neue Selbstverständnis aufgeworfen und beantwortet wurde, ist die Frage nach dem ›revolutionären Subjekt‹: Die Exponenten der New Left stellten wie Vesper fest, dass die Mitglieder der »Arbeiterklasse« – die Träger der Revolution im orthodoxen Marxismus – in der saturier-
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ten Nachkriegsgesellschaft wenig »revolutionären Elan« (ebd.: 36) zeigten. Habermas postulierte, dass »der nach wie vor bestehende Gegensatz sozioökonomischer Klassen« (2008: 194) durch den Nachkriegsboom in den westlichen Staaten in einem entscheidenden Maß abgeschwächt worden sei, was zu einer Pazifizierung der Arbeiterschicht geführt habe: »Die Verteilung sozialer Entschädigungen kann, auf der Grundlage eines institutionalisierten wissenschaftlichtechnischen Fortschritts, nach allen Erfahrungen so gesteuert werden, dass der systemgefährdende Klassenkonflikt [...] mit größter Wahrscheinlichkeit latent bleibt« (ebd.). So kamen prominente Vertreter der New Left wie der amerikanische Soziologe C. Wright Mills zu dem Schluss, dass »[n]icht mehr nur die Arbeiterklasse, [...] sondern [...] vielmehr die Studenten und jungen Kulturproduzenten [als] revolutionäres Subjekt zu betrachten« (zit. n. Schmidtke 2003: 36) seien. In Mills’ Worten: »The independent artist and intellectual are among the few remaining personalities equipped to resist and to fight the stereotyping and consequent death of genuinely lively things« (Mills 2008b: 19). Den Gedanken, dass die Arbeiterklasse »the [Herv. i.O.] [...] most important historic agency« bilde, hielt er auf Grund der »historical evidence« für reine »labor metaphysic«, für »Victorian Marxism«, kurz: für »unrealistic« (Mills 2008a: 263). Angesichts der »politischen Apathie« der Arbeiterklasse revidierten also reformerische linke Denker wie Mills Ende der 1950er Jahre einen Kernpunkt der marxistischen Theorie, indem sie »der jungen Intelligenz ein politisches Mandat zu[schrieben]« (Schmidtke 2003: 39), wie es zuvor allein dem Proletariat zustand. Diese Veränderung wird in der Theorie auch als »Substitutionalismus« (Markovits/Gorski 1993: 50; Bock 1976: 228f.)4 bezeichnet – die Arbeiterklasse wird ›substituiert‹ durch die Studenten und Intellektuellen, die einen größeren ›revolutionären Elan‹ haben:
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Die substitutionalistische Debatte über die Rolle des Proletariats als ›Träger‹ der Revolution begann allerdings nicht erst mit Mills und der New Left. Bereits Georg Lukács äußerte im 1922 publizierten Essayband Geschichte und Klassenbewusstsein Zweifel am revolutionären Eifer der Proletarier und konstatierte – man denke an Vespers bissige Bemerkung über die »Schrebergärten« der Westermann-Arbeiter – eine »Verbürgerlichung jener Arbeiterschichten [...], die aus den Monopolprofiten [...] eine – ihren Klassengenossen gegenüber – bevorzugte Stellung erhalten haben. Diese Schicht hat sich mit dem Eintritt in die imperialistische Phase des Kapitals überall entwickelt, und sie ist zweifellos eine wichtige Stütze der allgemein opportunistischen, revolutionsfeindlichen Entwicklung großer Teile der Arbeiterklasse geworden«. Dementsprechend postuliert Lukács für das Gelingen kommunistischer Revolutionen eine Interdependenz zwischen dem Proletariat und anderen gesellschaftlichen
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»[Rudi Dutschke’s and Bernd Rabehl’s] ›anti-authoritarian‹ current saw an objectively depoliticized mass society which only marginalized groups and outsiders could reinvigorate politically. [...] [W]e argue[…] that one of the New Left’s main characteristics was its substitution of students and other decommodified – often marginalized – groups for the traditional Left’s working class as the subject of history.« (Markovits/Gorski 1993: 50)
Dieser Substitutionalismus und mit ihm das »problem of revolutionary subjectivity« (Plowman 1998: 514) bilden meines Erachtens die Grundlage für ein fundiertes Verständnis der Darstellung der Arbeitswelt in der Reise, ja des Romans im Ganzen (vgl. Reidy 2012: 149ff.). Mit Blick auf diese Zusammenhänge wird deutlich, dass Vespers Ablehnung allen »subjektivistische[n] Blödsinn[s]« (Vesper 2009: 632) mit der damals zeittypischen Überzeugung zusammenhängt, wonach sich der Intellektuelle im Sinne der New Left als ›revolutionäres Subjekt‹ neu zu ›erfinden‹ habe. Man vergegenwärtige sich den in dieser Hinsicht exemplarischen Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums der Kommune 2, der konstatiert, dass »[d]er antiautoritäre Aufstand der bürgerlichen Individuen [...] immer auch ein Aufstand gegen sich selbst [ist]« (Kommune 2 1973: 308). Schon die Grundfrage dieses wichtigen Pamphlets scheint sich auf die Theorien der New Left und das Konzept des Substitutionalismus zu stützen und ist ohne Kenntnis dieses Zusammenhangs kaum verständlich: »Wie können bürgerliche Individuen ihre bürgerliche Herkunft und ihre davon geprägte psychische Struktur soweit überwinden, dass sie zu einer kontinuierlichen Praxis fähig werden?« (Ebd.: 11)
Schichten: »[E]s ist ein qualitativer und prinzipieller Unterschied, ob in einer Lage, wo der ökonomische Prozess im Proletariate eine spontane Massenbewegung hervorruft, der Stand der ganzen Gesellschaft ein [...] stabiler ist oder sich in ihm eine tiefgehende Umgruppierung aller gesellschaftlichen Kräfte, eine Erschütterung der Machtgrundlagen der herrschenden Gesellschaft vollzieht. Darum gewinnt die Erkenntnis von der bedeutsamen Rolle nicht proletarischer Schichten in der Revolution, von ihrem nicht rein proletarischen Charakter eine so entscheidende Bedeutung.« (1970: 465f., 468f.) Der Gedanke, den Lukács hier subtil entwickelt, portiert in nuce bereits das Konzept des Substitutionalismus, impliziert Lukács doch, was Mills Jahre später explizit macht: dass es nämlich »[a]ngesichts der sich abzeichnenden fehlenden Handlungsdisposition des Proletariats [noch] andere[…] Gruppe[n]« geben müsse, welche »die anzustrebende revolutionäre Bewegung initiieren« könnten – eben zum Beispiel »die literarische Intelligenz«, bei Lukács aber insbesondere auch »die Partei« (zit. n. Simonis 2010: 45).
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In diesem Kontext wird Die Reise als »revolutionary case history« (Plowman 1998: 513) lesbar, als prototypische Fallstudie eines substitutionalistischen Versuchs im Sinne der New Left: Der Autor will sich vom »Kind von Mittelklasseeltern« (Vesper 2009: 238) mit belasteter NS-Vergangenheit zu einem »subject poised to engage in transformative action« (Plowman 1998: 513) wandeln. Wie genau diese Deutung zutrifft, wird schon bei einer oberflächlichen Lektüre der Reise deutlich: An vielen Stellen behandelt Vesper ganz direkt das Problem der substitutionalistischen Herausbildung von revolutionärer Identität, mit dem sich Individuen konfrontiert sehen, die im orthodoxen Marxismus eben gerade nicht die Revolution vorantreiben. So »beneidet« die Erzählinstanz beispielsweise Pierre Vallières, den geistigen Anführer der Front de libération du Québec, um dessen »proletarische Abstammung«; er selber, als »Kind[…] der Bourgeoisie«, habe »gar keine andre Wahl als [seine] Klasse zu verurteilen« und müsse ein »viel radikaleres Umdenken, eine tiefgreifende Umstrukturierung« (Vesper 2009: 445f.) am eigenen Charakter vornehmen. An anderer Stelle fragt Vesper: »was sollte man noch tun?« – die Antwort: »sich auf die jugend beschränken[,] hier würde es leichter sein« (ebd.: 665). Kurz: »der kampf geht weiter«, und dazu gehört »auch der kampf, den wir gegen die reste der bürgerlichen verblendung in uns führen« (ebd.: 632), ein »kampf«, der für einen Intellektuellen wie Vesper also grundsätzlich in der Überwindung seiner bisherigen ›bürgerlichen‹ Identität und im Aufbau einer neuen, genuin revolutionären Identität besteht, wozu ihn das Konzept des Substitutionalismus ermächtigt. Am deutlichsten jedoch wird Vespers Bewusstsein für die Frage der revolutionären Subjektivität in der bereits diskutierten Passage über die Arbeitsverhältnisse im Westermann-Verlag, in welcher, wie gezeigt, eine Inversion der Marx’schen Kategorie der ›entfremdeten Arbeit‹ begegnet: Die Arbeit der »Angestellten« wird als entfremdet, die Arbeit der Proletarier im »Maschinenraum« dagegen als »sinnvoll[…]« (ebd.: 559f.) definiert. Diese Revision eines Kernbegriffs marxistischen Denkens wird meines Erachtens erst durch die Linse der New Left und des Substitutionalismus verständlich: Vesper erlebt im Westermann-Verlag gleichsam am eigenen Leib, dass die Arbeiterklasse träge und apathisch geworden ist und sich nur noch für »Schreberg[ä]rten«, »Briefmarken« und »Krimis« (ebd.: 561)5 interessiert, dass die neuen Opfer der kapitalistischen
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Vespers Enttäuschung über die Westermann-Arbeiterschaft, aus welcher seine Wendung zum Substitutionalismus resultierte, muss durch die Tatsache vertieft worden sein, dass die Erlebnisse im Verlag ausgerechnet dem verhassten Vater Recht gaben: »›Was willst Du‹, sagte mein Vater, ›der deutsche Arbeiter ist immun gegen den Bol-
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Ausbeutung im Büro, unter den white-collar-workers,6 in letzter Konsequenz auch unter den Intellektuellen und Studenten zu suchen sind – und sie werden in der Folge logischerweise die Träger der ersehnten Revolution sein, nicht die Arbeiter. In Vespers Gespräch mit Herrn Mackensen, einem der Inhaber des Westermann-Verlags, wird diese Einsicht durch einen Repräsentanten des Kapitalismus persönlich bestätigt: »›In Wirklichkeit liegt das Geheimnis [Herv. i.O.] [des Erfolgs des Westermann-Verlags] in den Köpfen unserer Mitarbeiter. Ich werde ihnen das gleich vorführen.‹ Knopfdruck. Tonband. ›Wissen Sie, mein Chef, der kann heute meinetwegen soviel verdienen, wie er will. Ich bin ihm nicht neidisch. [...] Ich habe mir drei Aktien zu 100.- DM gekauft – sie kosteten mich 840 Mark; von den rund tausend ersparten Mark, die ich, Gustav Kleinmann, 46 Jahre alt, besitze, wird dann nicht mehr viel übrig sein. Aber ich besitze ein Scheckbuch und zahle bargeldlos – wie unser Direktor. [...] Ich will kein Proletarier und kein Kapitalist sein; mehr, als ich bin, will ich nicht gelten, aber auch nicht weniger. Mein Vater [...] würde wahrscheinlich vor mir ausgespuckt haben. Schämst Du Dich nicht, würde er gesagt haben – Du, Du Kapitalist! Das war für ihn das schlimmste Schimpfwort, das es gab. Aber mein Vater ist schon eine Weile tot, und die Zeiten haben sich geändert.‹ Klick. Ende.« (Ebd.: 564)
Vesper macht mithin noch als Lehrling eine Erfahrung, die in den Schriften der New Left zu diesem Zeitpunkt bereits reflektiert worden war und die Theorie des Substitutionalismus gezeitigt hatte: Er sieht sich mit einer Arbeiterklasse konfrontiert, die saturiert und zufrieden ist und keinerlei Interesse an revolutionärer Tätigkeit verspürt. Die Revolution müssten er und seine Generationsgenossen schon selbst machen, und so erhält Vespers Gang an die Universität unmittelbar nach der Präsentation dieses Tonbands durch Herrn Mackensen auch eine neue Note: Die Revolution würde unter den verkehrten historischen Gegebenheiten – mit einem trägen Proletariat und entfremdeter Arbeit im Büro statt im Maschinenraum – eher an der Universität zu machen sein als im Betrieb. Ungefähr acht Jahre nach Vespers Erfahrungen im Westermann-Verlag versuchten junge Menschen dann ja auch tatsächlich, dieses Vorhaben zu realisieren. Auf dieser theoretischen Fundierung der Reise – ihrer Anbindung an die komplexen Theorien der New Left –, welche sich am deutlichsten in der Sicht
schewismus. Er war in Russland, er will sein Häuschen, den Blumentopf im Fenster und keine Kolchose. Darauf kann man sich verlassen.‹« (Vesper 2009: 461f.) 6
Über deren problematischen gesellschaftlichen Status Mills übrigens eine Studie verfasste: (Mills 2002).
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des Autors auf die Arbeitswelt manifestiert, basieren im weiteren Verlauf des Textes eingehende identitätspolitische Reflexionen des Autors, der sich vom »Kind von Mittelklasseeltern« (ebd.: 238) mit NS-Vergangenheit zu einem »subject poised to engage in transformative action« (Plowman 1998: 513) wandeln möchte. Dass und weshalb dieser Versuch einer ›revolutionären‹ Identitätskonstitution misslingt (vgl. ebd.; Reidy 2012), kann hier nicht im Detail ausgeführt werden – entscheidend ist an dieser Stelle allein der Hinweis auf die programmatische Funktion, welche die Darstellung der Arbeitswelt für die übergeordneten Wirkungsabsichten der Reise innehat.
L ITERATUR Assmann, Aleida (2010): »Hilflose Despoten. Väter in der deutschen Gegenwartsliteratur«, in: Dieter Thomä (Hg.), Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee, Berlin: Suhrkamp, S. 198–214. Bock, Hans Manfred (1976): Geschichte des ›linken Radikalismus‹ in Deutschland. Ein Versuch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ermert, Karl/Striegnitz, Brigitte (Hg.) (1981): Deutsche Väter. Über das Vaterbild in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (= Loccumer Protokolle, Bd. 6), Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum. Habermas, Jürgen (2008): Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lukács, Georg (1970): Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik, Neuwied/Berlin: Luchterhand. Markovits, Andrei S./Gorski, Philip S. (1993): The German Left. Red, Green and Beyond, Cambridge: Polity. Mills, C. Wright (2002): White Collar: The American Middle Classes. Fiftieth Anniversary Edition, Oxford: Oxford University. Mills, C. Wright (2008a): »Letter to the New Left«, in: Summers, The Politics of Truth, S. 255–266. Mills, C. Wright (2008b): »The Powerless People. The Role of the Intellectual in Society«, in: Summers, The Politics of Truth, S. 13–23. Plowman, Andrew (1998): »Bernward Vesper’s Die Reise: Politics and Autobiography between the Student Movement and the Act of Self-Invention. German Autumn. The Critical Reception of Die Reise«, in: German Studies Review 21, Heft 3, S. 507–524.
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Reidy, Julian (2012): Vergessen, was Eltern sind. Relektüre und literaturgeschichtliche Neusituierung der angeblichen Väterliteratur (= Palaestra, Bd. 336), Göttingen: V&R unipress. Schmidtke, Michael (2003): Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA, Frankfurt a.M./New York: Campus. Simonis, Linda (2010): »Georg Lukács«, in: Matías Martínez/Michael Scheffel (Hg.), Klassiker der modernen Literaturtheorie, München: Beck, S. 33–56. Summers, John H. (Hg.) (2008): The Politics of Truth: Selected Writings of C. Wright Mills, Oxford: Oxford University. Kommune 2 – Verschiedene Autoren (1973): Kommune 2. Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Kollektives Leben mit politischer Arbeit verbinden! Köln: Kiepenheuer & Witsch. Vesper, Bernward (2009): Die Reise, 7. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Weiss, Peter (1982): Notizbücher 1971–1980. Bd. 2 (= Neue Folge, Bd. 67), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Zschachlitz, Ralf (2008): »›Akzeptieren des Widerspruchs als oberstes Prinzip‹. Bernward Vespers Romanessay Die Reise als Dokument einer Befindlichkeit um 68«, in: Cahiers d’Études Gérmaniques 54, Heft 1, S. 93–117.
Defizitmeldungen, Desillusionierungen und Dekonstruktionen Der kritische Blick auf die Arbeitswelt in der Gegenwartsliteratur A NNEMARIE M ATTHIES
D IFFERENZEN : A RBEITSWELTEN SEIT 2000
IN DER
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Dass es gegenwärtig eine enorme Bandbreite an künstlerischen Repräsentationen der Arbeitswelt gibt, ist nicht zu übersehen.1 Nicht nur die bildende Kunst und das Theater, sondern insbesondere auch die erzählende Literatur ist seit der Jahrtausendwende mit der Inszenierung verschiedenster Arbeitswelten befasst, sodass in der Literaturwissenschaft seit einigen Jahren die ›Rückkehr der Arbeit in
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Das wieder erwachte Interesse an künstlerischen Bezugnahmen auf die Ökonomie wird auch an der Häufung von Veranstaltungen zu diesem Thema ersichtlich; neben der 10. Erlanger Graduiertenkonferenz, aus deren Zusammenhang der vorliegende Sammelband entstand, war im vergangenen Jahr im Leipziger Haus der Geschichte eine Ausstellung unter dem Titel Hauptsache Arbeit zu sehen; im Januar 2006 fand im Berliner Literaturhaus eine Tagung zum Thema Literarische Kritik der ökonomischen Kultur: Zur Rückkehr der Arbeitswelt in die Literatur statt; im Frühjahr 2007 gab es an der Universität Hamburg eine Vortragsreihe mit dem Titel Denn wovon lebt der Mensch? Literatur und Wirtschaft: Eine Bestandsaufnahme; und vom Juni 2009 bis zum April 2010 war im Deutschen Hygiene-Museum Dresden in Kooperation mit der Kulturstiftung des Bundes eine Ausstellung zum Thema Arbeit. Sinn und Sorge zu sehen.
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die Literatur‹ (vgl. Schütz 2007: 13) verhandelt wird. Eines offenbart dabei bereits ein oberflächlicher Blick: Ideologische Überhöhungen der ›schönen neuen Arbeitswelt‹, wie sie die Unterhaltungsliteratur für Frauen aus den 1990ern inszenierte,2 oder aber die abgeklärt-coole Unbetroffenheit, die sich in der PopLiteratur dieser Dekade finden ließ,3 gibt es hier nicht mehr. Stattdessen sind es durchweg kritische Perspektiven auf die Arbeit, die gegenwärtig Eingang in den sich neu etablierenden Kanon der Literatur der Arbeitswelt finden. Literaturwissenschaftliche Bezugnahmen auf die Gegenwartsromane der Arbeitswelt konzentrieren sich unter diesem Blickwinkel der Kritik insbesondere auf Werke der jüngeren deutschen AutorInnen-Generation (vgl. Chilese 2008; Stahl 2007a und 2007b; Preisinger 2009). Seit 2010 liegt eine erste Übersichtsarbeit zur erzählenden Literatur der Arbeitswelt vor, in der Susanne Heimburger an Gegenwartstexten vor allem zeigt, wie darin diejenigen prominenten Diskursstränge aufgenommen werden, die als Anknüpfungen und Fortschreibungen des von Foucault initiierten Großdiskurses um Gouvernementalität entstanden und mit einer Figur wie dem »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007) beziehungsweise dem Typus des »Arbeitskraftunternehmers« (Pongratz/Voß 2003) assoziiert sind – Theorien, die ihren sozialwissenschaftlichen Entstehungskontext längst verlassen haben. Diese Lesart ist zwar nachvollziehbar, lassen sich in etlichen Narrationen der Arbeitswelt doch deutliche poetologische sowie inhaltliche Verweise auf diesen Diskurs finden (vgl. Schütz 2007: 20; Heimburger 2010: 184ff.), doch greift sie stellenweise zu kurz: Mitnichten können Topoi wie die Flexibilisierung der Arbeit und deren Subjektivierung durch die Arbeitenden als genuine Bezugspunkte der Gegenwartsliteratur gelten; vielmehr rekurriert deren Fülle an Arbeitswelten auf verschiedenste diskursive Aussagen und Figuren ebenso wie auf empirische Arbeitswelten, mit denen ganz andere kritische Veranschaulichungen verbunden sind. So lassen sich neben Inszenierungen der postfordistisch-deregulierten Neuen Ökonomie durchaus sehr verschiedene – auch altbekannte – literarische Figuren in nicht unbedingt neuen Arbeitswelten finden. Diesen Differenzen geht mein Aufsatz anhand dreier sehr unterschiedlicher Romane der Arbeitswelt aus den Jahren 2004–2008 nach: In einem Vergleich
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Als Prototypen dieser Literatur können die Romane von Hera Lind und Gaby Hauptmann aus den 1990er Jahren gelten; von der Inszenierung rundum glücklicher Erfolgsfrauen hat sich auch dieses Genre mittlerweile verabschiedet und zu tradierten Erzählungen über das Glück in der Liebe zurückgefunden.
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An Christian Krachts Roman Faserland (1995) beispielsweise bemängelte die Literaturkritik unter anderem seine Gleichgültigkeit gegenüber politischen und sozialen Fragestellungen.
D EFIZITMELDUNGEN , D ESILLUSIONIERUNGEN
UND
D EKONSTRUKTIONEN
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werden Volker Brauns Schelmenroman Machwerk. Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer (2008), Kathrin Rögglas Roman aus der New Economy wir schlafen nicht (2004) und Annette Pehnts ›Angestelltenroman‹4 Mobbing (2007) hinsichtlich ihrer diskursiven und empirischen Rekurse, insbesondere aber in Bezug auf den Gehalt ihrer kritischen Perspektive analysiert. Der Romanvergleich verfolgt dabei nicht allein die Herausarbeitung von Differenzen. Er soll in einem Resümee vielmehr zeigen, dass es Identitäten zwischen den so unterschiedlichen Gegenwartsromanen der Arbeitswelt gibt, die weder auf Gemeinsamkeiten des ›Personals‹ und dessen spezifische Arbeitswelten noch auf geteilten Bezugnahmen auf inhaltlich ähnliche Diskursstränge basieren, sondern sich vor allem durch einen gemeinsamen Maßstab der Kritik an der Arbeitswelt erklären, der sich in den Werken geltend macht.
D IE N ACHWENDE -A RBEITSWELT IM S PIEGEL V OLKER B RAUNS R OMAN M ACHWERK
VON
Flick von Lauchhammer als sozialistischer Held der Arbeit Flick von Lauchhammer, der Protagonist in Brauns Roman Machwerk. Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer aus dem Jahr 2008, steht ganz in der Tradition literarischer Heldenfiguren der Arbeitswelt in der sozialistischen Kunst der Aufbauzeit: Angelehnt etwa an Figuren aus Eduard Claudius’ Roman Menschen an unserer Seite (1951) oder an Regina Hastedts Inszenierung des Adolf Hennecke in ihrer Reportage Die Tage mit Sepp Zach (1959)5 ist Flick allzeit und bedingungslos bereit zum selbstlosen Dienst in der Arbeit. Den bereits in der Figur angelegten Verweis auf die Arbeiterstilisierungen in der Literatur der DDR ergänzt Braun durch zahlreiche Liedtexte und Zitate aus dem Kontext der sozialistischen Arbeitswelt, die in Form steter Erzählerkommentare die Handlung deuten und immer wieder überdeutlich die innere Verfasstheit des Protagonisten exponieren. Dieser hängt nicht etwa sehnsüchtig einem überholten Ideal nach, sondern er verkörpert den sozialistischen Gründungsmythos, in dem der Arbeit
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Es handelt sich bei Pehnts Roman im streng literaturwissenschaftlichen Sinne nicht um einen Angestelltenroman; gleichwohl ist der Protagonist ein (ehemaliger) Angestellter, und sein Leiden an der Arbeit erklärt sich nicht zuletzt aus diesem Status.
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Die Inszenierung der Arbeitswelt und der in ihr tätigen Figuren in Hastedts Reportage wurde von Walter Ulbricht auf der ersten Bitterfelder Konferenz als vorbildlich gelobt (vgl. Schubbe/Ruß 1972: 553ff.).
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der Stellenwert einer umfassenden Instanz der Sinnstiftung zukommt und sie so nicht als das Reich der Notwendigkeit, sondern als das der Freiheit gefeiert wird: »Nun hätte der alte Sack an die Rente denken können, aber seine Mechanik war zu geölt, seine Unruhe zu lange aufgezogen worden, als daß er zur Ruhe kommen konnte. Er hatte sein ganzes Leben mit Arbeit zugebracht, sie war sein oberstes Lebensbedürfnis, und wurde, jetzt, da sie ihm entzogen war, eine wahre Sucht und Besessenheit« (Braun 2007: 14f.).
Nun ist Flick als langzeitarbeitsloser ehemaliger Havarist in Brandenburg situiert innerhalb einer Arbeitswelt, die für sein »oberstes Lebensbedürfnis« überhaupt gar keine Verwendung hat: Anno 2008 herrscht in Lauchhammer keine Aufbau-, sondern eine ›Abbruch‹-Stimmung, die Ökonomie, in der er sich wiederfindet, ist mitnichten auf den Dienst jedes Einzelnen angewiesen. Flick umgibt »eine Landschaft, durch die die Arbeit gegangen ist, die es hinter sich hat [Herv. i.O.] […] und nur Halden, Wüstungen, wiederbewachsene Böden sieht man, das Endbild großer Zeiten.« (Ebd.: 13) Die Abwesenheit blühender Landschaften nimmt Flick in den »Wüstungen« durchaus wahr, entdeckt dann aber nicht das Ende der Arbeit, sondern, ganz im Gegenteil, eine Unmenge an ihrer Verrichtung harrenden Aufgaben. Potenzial erkennt er auch auf den Fluren der Arbeitsagentur, wo er anderen Langzeitarbeitslosen begegnet. Zwischen sich selbst und ›denen‹ kann Flick partout keine Identität feststellen, denn aus seiner Perspektive tummeln sich dort die trägen Massen: »Das war keine gute Gesellschaft, sondern eine niedergedrückte und unaufrichtige, welche scheinheilig in die Kirche kam und gar nicht an Arbeit glaubte« (ebd.: 32f.). Als Agitator dieser Ungläubigen fühlt Flick sich ad hoc berufen – »Erhebt euch, ihr Elenden, macht was!« (Ebd.) Sein appellativ vorgetragener Protest ist aber kein Aufruf zum Widerstand: Ganz ähnlich den Figuren in der Aufbauliteratur der DDR ist Flick der Auffassung, dass durch eifrigen und vorbildlichen Einsatz zunächst Überzeugungsarbeit geleistet werden müsse, damit die gemeinsame Sache – die bei Flick inhaltsleer und selbstzweckhaft bleibt – verwirklicht werden könne. Im Gegensatz zu ehemaligen literarischen Heldenfiguren der 1950er Jahre ist Flick jedoch in jeder Hinsicht erfolglos: Die anderen lassen sich nicht agitieren, mehr noch, sein Mobilisierungsversuch wird vom Amtsleiter nicht befördert, sondern sogar unterbunden (vgl. ebd.: 35), und an seinen Wirkstätten, zumeist Ein-Euro-Jobs auf dem Bau oder in der Forstwirtschaft, bezieht er für seinen maßlosen Arbeitseinsatz nicht selten im buchstäblichen Sinne Prügel (vgl. ebd.: 39). Überdies bekommt Flick immer seltener Gelegenheit, seinen Eifer überhaupt unter Beweis zu stellen. Seine Sachbearbeiterin in der Arbeitsagentur ist anfangs erstaunt an-
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gesichts einer Person, die sich ihr auf dem Amt in voller Montur, »Karabinerhaken am Koppel, roter Helm« (ebd.: 15) präsentiert und nicht einmal wissen will, welche Arbeit sie verrichten soll, solange sie nur in Dienst gestellt wird: »Willst du nicht hören, worum es sich handelt? fragte sie überrascht. Flick: Klar (er hob den Stuhl an). Wann geht’s los? Die Beamtin wurde bleich vor Schreck, und fand die Klingel nicht unter dem Tisch, die für den Ernstfall installiert worden war, falls einer die Axt in den Tisch hieb oder anders hoffnungslos hantierte.« (Ebd.: 20)
Als solch ein hoffnungsloser Fall gilt Flick seiner Sachbearbeiterin schließlich als unvermittelbar – und zwar nicht trotz, sondern wegen seines Eifers. Flick von Lauchhammer als Langzeitarbeitsloser nach der Jahrtausendwende Als wandelnder Anachronismus veranschaulicht Brauns Protagonist Flick nicht allein die Unvereinbarkeit der DDR-Perspektive auf die Arbeit mit der kapitalistischen Perspektive, sondern offenbart en passant auch einige Widersprüche gegenwärtiger Diskurse um die Arbeitswelt. So wird in Flicks Konfrontation mit seiner Fallmanagerin deutlich, dass die Aussage »Wer Arbeit will, bekommt auch welche«6 mitnichten Faktizität beanspruchen kann: Am Willen mangelt es Flick ja nun gerade nicht. Generell entzieht Braun mit seinem Figurenentwurf den Maximen des kapitalistischen Leistungsdiskurses die Gültigkeit, indem er an Flick vorführt, dass Leistungsbereitschaft nur dort zum zielführenden Mittel wird, wo sie ökonomisch funktional ist. Auch alternative Gegenentwürfe, die sich als Unterwanderung gegenwärtiger Leistungsideologeme verstehen, werden von der Figur negiert. Im fiktiven Dialog mit Guillaume Paoli, dem Begründer der Bewegung der Glücklichen Arbeitslosen, zeigt Flick sich fassungslos: »Da die wenigen festen Stellen, die es gebe, von Leuten begehrt würden, die partout arbeiten wollen, betrachteten sie es als ihre altruistische Pflicht, sie ihnen zu überlassen und selbst auf die Mangelware zu verzichten. Die Stütze nähmen sie bedenkenlos als willkommene Subventionierung ihres gemeinnützigen Daseins an. Wie denn, fragte Flick: nützen, ohne was zu tun?« (Ebd.: 134)
6
Diese aus mittäglichen Talkshows und Boulevardblättern bekannte Aussage findet sich in elaborierterer Form freilich auch in anderen affirmativen Ausprägungen, etwa im Segment der Ratgeberliteratur (vgl. Flockenhaus/Haberer 2011).
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Hier staunt nicht allein der ehemalige DDR-Bürger, denn mit seinem Unglauben trifft Flick sich jenseits der fiktionalen Welt durchaus mit zeitgemäßen Vorstellungen und deren Negativbild vom ›faulen Arbeitslosen‹. Dass hinter diesen mehr steckt als nur eine Abscheu gegen die Untätigkeit Einzelner offenbart sich ex negativo am geteilten Inhalt der Nützlichkeit; Tätigkeit allein lässt Flick nicht als Arbeit gelten, sondern wertbildende Arbeit ist verlangt, wenn die glücklichen Arbeitslosen von ihm dazu angehalten werden, sich einen Arbeitsplatz zu suchen. Kritik an der Arbeitslosigkeit als Verschwendung von Ressourcen Dass Arbeitslosigkeit eine Katastrophe ist, daran hält Braun in seinem Roman mittels seines Figurenentwurfs fest. Die literarisch inszenierte Kritik an der kapitalistisch bedingten Massenarbeitslosigkeit richtet sich dabei nicht auf deren materielle Folgen. Vielmehr erscheint, gemessen am Ideal des Rechts auf Arbeit, die kapitalistische Ökonomie deshalb kritikabel, weil sie die Ressource Arbeitskraft brachliegen lässt und dem Menschen als unnütz Gewordenem auf diese Weise einen Lebenssinn verwehrt. Dennoch gibt es zwischen dem Erzähler und dem Protagonisten in Brauns Roman deutliche Differenzen: Die desillusionierte Erzählperspektive, die den »Schelm«7 Flick immer wieder als groteske Figur inszeniert, welche die Beschränktheit ihrer Sicht nicht erkennt und buchstäblich bis ins Grab an ihrer Anschauung festhält, unterscheidet sich ja gerade dadurch, dass sie die Vergeblichkeit des Unterfangens erkennt. So dient die Figur Braun als Mittel der Entlarvung kapitalistischer Aporien, verliert als grotesker Entwurf dabei aber jeden Charakter einer Alternative.
7
Machwerk ist dem Genre des Schelmenromans zugeordnet und wird so auch rezipiert (vgl. Lüdke 2008; Apel 2008). Anders als anderen bekannten Schelmenfiguren wie bspw. Eulenspiegel oder Schwejk mangelt es Flick jedoch an der nötigen Gerissenheit und Schläue, mithilfe derer er seine Umstände dauerhaft erfolgreich unterwandern könnte.
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D IE N EW E CONOMY UND IHR P ERSONAL IN K ATHRIN R ÖGGLAS R OMAN WIR SCHLAFEN
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NICHT
Die ›schöne neue Arbeitswelt‹ als Illusion Eine vollkommen andere Arbeitswelt, nämlich die der New Economy nach ihrem Crash zu Beginn der 2000er Jahre, veranschaulicht Kathrin Röggla in ihrem Roman wir schlafen nicht aus dem Jahr 2004. Wie dieser Kosmos der Informatiker und Wirtschaftsberater, der Werbe- und Marketingkünstler, der Medien- und Projektarbeiter in öffentlichen und populärwissenschaftlichen Diskursen der 1990er Jahre charakterisiert wurde, klang verheißungsvoll: Die freie, zwanglose Arbeit in flachen Hierarchien wurde als Raum der Selbstverwirklichung imaginiert, in dem die eigenen außerordentlichen Fähigkeiten zum Ausdruck gebracht werden könnten (vgl. Meschnig/Stuhr 2001: 117ff.; Stuhr 2010: 159ff.). Materieller Erfolg galt dabei als selbstverständlich – mit einer guten Idee und der per se erfolgversprechenden Teamarbeit, in der sich ein Ensemble verschiedenster individueller Stärken und kreativer Potenziale vereine, schien dieser so gut wie sicher. Und obgleich mit dem Crash der Branche und dem damit einhergehenden Bankrott unzähliger Start-Ups ein Großteil der Verheißungen ad acta gelegt wurde, beansprucht das Bild von der schönen neuen Arbeitswelt in der New Economy, etwa in Gestalt der ›digitalen Boheme‹ (vgl. Friebe/Lobo 2006), über die Krise hinaus partielle Gültigkeit. In Rögglas Roman wird dieses positive Bild der Arbeit ex negativo zum Gegenstand, indem einige seiner Elemente literarisch aufgegriffen werden und ihre Faktizität konsequent negiert wird. An der Grenze zur Dokumentation, durchsetzt mit diskursimmanenten Phrasen und euphemistischen Schlagwörtern, offenbaren in wir schlafen nicht sechs Prototypen der New Economy im fiktiven O-Ton sukzessive, dass jedes einzelne Versprechen hinsichtlich der neuen Arbeitswelt nicht allein unerfüllt geblieben ist; vielmehr lässt Röggla ihr Personal anhand zentraler Aussagen des Diskurses um die New Economy ein Negativbild entwerfen, in dem sich die als positiv deklarierten neuen Arbeitsverhältnisse als zweckdienliche ökonomische Maßnahmen entpuppen. Dass etwa die Arbeitszeit identisch sei mit Freizeit, da ihr tertium comparationis »Spaß« darstelle (Meschnig/Stuhr 2001: 125ff.), das gilt für keine der Figuren, die ihre ausgeweiteten Arbeitstage als Mühsal erleben: »besonders auf projekten werde kaum noch geschlafen, und auf messen? ›fragen sie nicht!‹ das sei ja schon ein außergewöhnlicher arbeitseinsatz, der da von einem erwartet werde.« (Röggla 2004: 24) Auch der Gedanke von der Gemeinschaftlichkeit der Arbeit wird ad absurdum geführt, wenn die Figuren von »psychotricks« und »mob-
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bingstrukturen« berichten (ebd.: 47) und das Team so als Konkurrenzzusammenhang offenbaren, dessen Grundlage die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes ist; denn wenn McKinsey kommt, dann gilt, dass rationalisiert wird, was »nicht einer direkten wirtschaftlichkeit enstprecht« (ebd.). Illusionen über ihr Dasein machen sich Rögglas Figuren im Wissen über die ökonomischen Kalkulationen, denen sie unterworfen sind, indes nicht – im Gegenteil, von der Vorstellung, dass ihre Arbeit mehr für sie bereithalten könne als das materielle Überleben auf eigene Kosten, haben sie sich längst verabschiedet. Doch kritikwürdig erscheint ihnen ihre Lage nicht: Den maßlosen Anforderungen an ihre Produktivität und den damit einhergehenden langen Arbeitstagen, dem Schlafentzug und der feindlichen Atmosphäre am Arbeitsplatz begegnen sie mit Alkohol und Medikamenten oder auch mit ›Power-Naps‹ in Tiefgaragen. Im Modus des stillen Einverständnisses berichtet etwa der IT-Supporter: »man müsse sich eben nach anderen möglichkeiten umsehen –/vielleicht ein nickerchen zwischendurch?/– oder der minutenschlaf!/– am bürotisch!/– oder schlafen in geparkten autos, auch schon gemacht: in tiefgaragen, in parkhäusern.« (Ebd.: 21)
Dass selbst basale physische Bedürfnisse den Anforderungen am Arbeitsplatz untergeordnet werden müssen, erscheint dem IT-Supporter ebenso selbstverständlich wie dem Senior Associate oder der Praktikantin. Dennoch: Weder von ihrer eigenen körperlichen Verfassung noch von Zwischenfällen wie Trunkenheit der Kollegen, psychischen Zusammenbrüchen und Suizid lassen die Figuren sich in ihrem Bemühen um ein Arrangement mit den widrigen Umständen prinzipiell aus der Ruhe bringen. Repetitiv verweisen sie auf die Möglichkeit eines souveränen Umgangs mit den Anforderungen der Arbeitswelt, die freilich nur sie selbst beherrschen, während die Kollegen gemäß ihrer jeweiligen Sicht alsbald ausgewechselt gehörten. Dass diese behauptete Souveränität von der konsequenten Negation elementarster Bedürfnisse lebt, das fällt ihnen dabei nicht auf. Die literarische Dekonstruktion ideeller Souveränität Die Selbststilisierung der Online-Redakteurin und der Praktikantin, des Senior Associates und des Partners, des IT-Supporters und der Key Account Managerin als Figuren, die sich noch in den härtesten Situationen problemlos bewähren, entlarvt Röggla nach und nach als Selbstbetrug. Denn ungeachtet all der Souveränitätsbehauptungen offenbart sich an jeder dieser Figuren, dass selbst das bloße Arrangement nur unter Inkaufnahme physischer und psychischer Schädigungen möglich, die Souveränität letztlich also eine Selbsttäuschung ist. Zwar
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beharren die Figuren konsequent auf ihren Behauptungen, indem sie ihren Schaden schlicht leugnen – doch dieses Verfahren wird sowohl narrativ als auch inhaltlich dekonstruiert: »seine frau habe dann gesagt, es sei erschöpfung, ja, sie habe sogar von einem burnout gesprochen. aber er finde nicht, daß man immer gleich von einem burnout sprechen müsse, wenn etwas von der arbeit auf die gesundheit schlage, vielleicht von einem kleinen burnout, es sei jedenfalls eine sehr stressige phase gewesen, soweit er sie in erinnerung habe.« (Ebd.: 107f.)
Die Bagatellisierung wird schon durch die konsequente Konjunktivnarration, die die Objektivität der Figurenrede ohnehin in Frage stellt, als solche offenbar: Einerseits eröffnet Röggla mit der indirekten Rede einen Raum, in dem die Figuren selbst zu Wort kommen; andererseits aber übernimmt sie deren Aussagen damit nicht als objektive Zeugnisse über die New Economy, sondern als Sichtweisen mit beschränkter Gültigkeit. Die nur partielle Glaubhaftigkeit der Aussage des Partners drückt sich zudem in dem Zusatz »soweit er sie in erinnerung habe« aus, sodass er, der auf seiner intakten Psyche und Physis beharrt, sich schließlich selbst widerlegt. Damit bleibt diese Figur nicht allein; ein ganz ähnliches Verfahren zeigt sich am Senior Associate, der sich zuvor als der den anderen Figuren deutlich überlegene Karrieretyp stilisiert hatte: »er erinnere sich auch nicht mehr, wann die panikattacken aufgetreten seien, ja, wann er zum ersten mal wirklich streß mit sich bekommen habe, weil er mit der situation nicht zurechtgekommen sei, aber er müsse hier mal betonen, eine arbeitssituation sei das nicht gewesen, im gegenteil, das sei eben in jener zeit, die er sich genommen habe, aufgetreten.« (Ebd.: 175)
Dass überhaupt eine Auszeit notwendig wurde, verweist ebenso wie die explizite Betonung, dass der »streß mit sich« nichts mit der Arbeit zu tun habe, recht deutlich darauf, dass es eben durchaus die Arbeitswelt ist, durch die sich die Panikattacken begründen – und die Aussage der Figur damit schlicht nicht stimmt. Die literarische Dokumentation des Faktischen als kritische Perspektive Sowohl die Nicht-Faktizität einzelner Versprechungen der New Economy als auch die Möglichkeit eines Arrangements ohne Schäden dementiert Röggla in
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wir schlafen nicht; ihr kritischer Blick gilt gleichermaßen den Arbeitsverhältnissen wie insbesondere auch den Figuren, die sich in ihr partout bewähren wollen. Nicht an einem alternativen Maßstab, sondern an den Aussagen des Diskurses über die New Economy selbst bemisst die Autorin die von ihr begutachtete Arbeitswelt dabei: Topoi wie Spaß, Selbstverwirklichung und Aufhebung der Entfremdung werden von den Figuren implizit aufgenommen und verneint, indem sie nolens volens am eigenen Leib die Ungültigkeit dieser positiven Gesichtspunkte belegen. Ihren kritischen Befund transportiert Röggla über die minutiöse literarische Dokumentation, deren Resultat schlussendlich das ziemlich genaue Negativbild aller mythischen Verheißungen darstellt. Vollkommen verabschiedet indes sind diese nicht; die narrativen Strategien entlarven die Verheißungen zwar, doch werden sie deshalb noch nicht hinfällig, denn die Figuren teilen den erzählerischen Horizont keineswegs.
P SYCHOSOZIALE H ÄRTEN IN DER A NGESTELLTENWELT IN A NNETTE P EHNTS R OMAN M OBBING Die literarische Phänomenologie von Konkurrenz und Teamwork Ein ganz anderes Berufsfeld taucht in Annette Pehnts 2007 erschienenem Roman Mobbing auf. Es ist weder die sich nach der Jahrtausendwende durchsetzende Welt der Ein-Euro-Jobber noch die der Neuen Ökonomie, sondern die der literarisch vielfach veranschaulichten Angestellten.8 Der Fokus von Pehnts Erzählung liegt allerdings nicht auf tradierten Topoi wie Monotonie und Fremdbestimmtheit, sondern auf der psychischen Verfasstheit eines Angestellten mit dem Namen Jo Rühler, der an seinem Arbeitsplatz in der Stadtverwaltung jahrelangem Mobbing durch seine Kollegen und Chefin ausgesetzt ist. Keine der bekannten Praktiken wird dabei ausgelassen: Konspirative Treffen in Abwesenheit des Protagonisten, heuchlerische Zustimmung seiner Perspektive bei gleichzeitiger Intrigenplanung, heimliche Dokumentationen tatsächlicher und vermeintlicher Fehltritte – all das widerfährt Jo. Als dessen Ehefrau beobachtet die Ich-Erzählerin
8
In der Gegenwartsliteratur lässt sich eine deutliche Wiederbelebung der in der Weimarer Republik etablierten Tradition des Angestelltenromans (vgl. Spies 1995), die von Wilhelm Genazino und Walter Richartz in den 1970er Jahren fortgeführt wurde, beobachten (vgl. Preisinger 2009; Radisch 2012).
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sein langsames, aber stetes Erkranken an den Zumutungen seines Arbeitsalltags, das schließlich in eine existentielle Krise mündet. Die Krise der Figur begründet sich zunächst dadurch, dass Jo die Härten der Arbeitswelt in Form des Konkurrenzgebarens seiner Kollegen vollkommen unverständlich sind: »Ich weiß, dass er jahrelang gegen die Chefin gekämpft hat, ihre Erniedrigungen, das Aushorchen, Herumspionieren, die Demütigungen. Er sagt, dass ihm seine Kollegen A. und T. beigestanden haben. Oder sie haben ihn für die Chefin ausgehorcht und hintergangen.« (Pehnt 2007: 29)
Jo lässt sich trotz erheblicher Zweifel an der Loyalität seiner Kollegen A. und T., die seine Frau wie auch ihn selbst überkommen, immer wieder beruhigen durch den Gedanken, dass doch gar nicht sein kann, was nicht sein darf: Ihm gilt die Arbeitswelt als Sphäre gegenseitiger Anerkennung, und das Ideal vom Team, in dem Konkurrenzverhalten keinen Raum hat, hält er für wirklich. Vollkommen fassungslos ist Jo konsequenterweise, als ihm in Form eines denunziatorischen Schreibens, das seiner Kündigung beigefügt ist, faktisch bewiesen wird, dass er ein Opfer des Buhlens der Kollegen um die Gunst der neuen Chefin ist: »Hiermit möchten wir uns dagegen verwahren, dass Herr Rühler jemals wieder in diesem Arbeitszusammenhang eingesetzt wird. Er ist unzuverlässig und pflichtvergessen. […] Seine Anwesenheit ist uns physisch unerträglich geworden. Als Kollege ist er nicht länger zumutbar. Die Unterzeichneten, A., T.« (Ebd.: 113)
Dieses Schreiben begreift Jo nun bezeichnenderweise nicht als Beweis der hinter dem Verhalten liegenden Intentionen der Kollegen, sondern er nimmt es ernst als ein Urteil über seine Person. Zugleich erkennt er darin eine enorme Ungerechtigkeit, weiß er doch, dass die Urteile über ihn unzutreffend sind, dass er weder »unzuverlässig« noch »pflichtvergessen« ist. So findet sich der Protagonist wieder in einer Situation, die ihm als eine einzige Abweichung von einem als gültig imaginierten Zustand erscheint: Die faktische Abhängigkeit vom Team übersetzend in ein sittliches Verhältnis, haben die Kollegen aus seiner Perspektive gegen den Anstand verstoßen. Der Angestellte in der Stadtverwaltung als Kohlhaas’sche Figur Von der Hoffnung auf »Rückendeckung« durch die Kollegen muss Jo sich nach deren Schreiben verabschieden (vgl. ebd.: 23). Die Wiederherstellung eines
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rechtmäßigen Zustands, in dem er anständig behandelt wird, ist ihm nun, da dieser Zustand gleich doppelt verletzt wurde, jedoch mehr denn je ein Anliegen – und dafür zieht er im Folgenden in einen juristisch geführten Kampf. Tatsächlich scheint der Rechtsstreit um den Arbeitsplatz zunächst erfolgreich, als Jo mithilfe seines Anwalts seine Wiedereinstellung bewirkt. Damit allerdings ist der von ihm vorgestellte Rechtszustand mitnichten hergestellt; was er juristisch erreicht, erweist sich vielmehr als Pervertierung eines Arbeitsplatzes, an dem Anerkennung und Wertschätzung Gültigkeit besitzen: »Er arbeitet nicht. Die Chefin, die ihn wiedereinstellen musste, hat sich etwas Besonderes für ihn ausgedacht.« (Ebd.: 125) Allmorgendlich lässt sie Jo am Arbeitsplatz erscheinen, um ihn dort in einen ausrangierten, überhitzten Container im Hinterhof seiner ehemaligen Arbeitsstätte zu versetzen und ihn gleichermaßen stupide wie auch nicht zu bewältigende Arbeiten verrichten zu lassen. Ehemalige Projekte sind längst an die Kollegen delegiert worden. Jo, der kaum Französisch spricht, ist nun für die Übersetzung französischer Korrespondenzen verantwortlich, die daraufhin im Papierkorb landen. Das Resultat des Rechtsstreits bewirkt bei Jo allerdings keine Einsicht in die Aussichtslosigkeit seines eigentlichen Unterfangens, das negative Urteil über seine Person rückgängig zu machen. Von seinem »Krieg« lässt er sich nicht abbringen und kämpft in Kohlhaas’scher Manier weiter: »Man kann sich eben nicht aussuchen, wann ein Krieg zu Ende ist.« (Ebd.: 133f.) Wie Kleists Kohlhaas, der angesichts des ihm widerfahrenen Unrechts sämtliche Instanzen des Rechts erfolglos durchläuft und sich schließlich selbst zur Rechtsgewalt erhebt, verschlimmert Jo seine Situation stetig. Nicht nur kann er das Urteil seiner Kollegen und seiner Chefin nicht revidieren, sondern als klassische self-fulfilling prophecy soll sich dieses im Verlaufe seines jahrelangen Kampfes noch bewahrheiten: Jo wird angesichts der ihm unverständlichen Ungerechtigkeit tatsächlich immer merkwürdiger; jede Äußerung seiner Kollegen und auch seiner Frau gilt ihm als potenzieller Angriff auf seine Person. Literarische Kritik an unrechtmäßigen Praktiken in der Arbeitswelt Die Perspektive der Ich-Erzählerin in Mobbing ist nicht deckungsgleich mit derjenigen ihres Protagonisten. Ob Jo Rühler wirklich nur Opfer seiner Kollegen ist, daran hat seine Frau ebenso Zweifel wie daran, ob sein nicht endender Kampf tatsächlich einen alternativlosen Umgang mit der Situation darstellt. Dennoch teilt die Erzählinstanz grundlegende Anschauungsweisen: erstens, dass das Mobbing nicht die gängige Weise praktizierter Konkurrenz am Arbeitsplatz dar-
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stelle, sondern anomischen Charakter habe; und zweitens, dass die Arbeitswelt die eigentliche Sphäre der Anerkennung und Wertschätzung sei. Wenn sie sich im Einvernehmen mit Jos Perspektive fragt: »Wie soll er jetzt noch wissen, was er wert ist?« (ebd.: 136), dann affirmiert sie den Gedanken, dass der Arbeitsplatz ein Instrumentarium sei, mithilfe dessen eine Person ihren Wert ermitteln könne. Beide Anschauungen verweisen auf die Gewissheit, dass die Arbeitswelt als rechtmäßig organisierte als solch ein Mittel für die Person fungieren müsse, wenn diese sich tadellos in ihr verhält. Die kritische Dimension des Romans rekurriert entsprechend dieser Sichtweise auf eine Situation, in der solch ein Anspruch an die Arbeit willkürlich und grundlos verwehrt wird – im Falle Jos trifft es, ohne dass das Konsequenzen hat, ›den Falschen‹. Diesem Sachverhalt stehen Erzählerin und Protagonist fassungslos gegenüber, ziehen jedoch unterschiedliche Schlüsse auf den Umgang mit der Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit. Während die Erzählerin eine pragmatische Haltung einfordert, beharrt Jo auf seinem imaginierten Recht und zerstört damit als moderner Kohlhaas nicht nur sich selbst, sondern beeinträchtigt auch das Leben seiner Familie.
I DENTITÄTEN : G EMEINSAMKEITEN AUF DIE A RBEITSWELT
IM KRITISCHEN
B LICK
Defizitmeldungen als Kritik an der Arbeitswelt Deutlich ist, dass die in Bezug auf ihren spezifischen Gegenstand so unterschiedlichen Werke mehr teilen als allein einen kritischen Bezug auf die Arbeitswelt. Vielmehr ist den hier diskutierten Romanen ein Maßstab der Kritik inskribiert, der verblüffende Kongruenzen aufweist: In allen drei Inszenierungen werden der Arbeitswelt Bedeutungen zugewiesen, die dann als abwesende dokumentiert beziehungsweise skandalisiert werden. Die literarisch veranschaulichten Arbeitswelten erweisen sich somit allesamt als defizitär, und zwar gemessen an Gesichtspunkten, die der gegenwärtigen sozio-ökonomischen Arbeitswelt fremd sind – weder existieren Rechtsansprüche auf Arbeit noch ist in Arbeitsverträgen von ideellem Mehrwert in Form von Selbstverwirklichung und Anerkennung die Rede. Nun taucht dieser literarische Blick auf die Arbeit nicht ex nihilo auf, sondern er verweist auf ein gesellschaftliches Dispositiv, dem der Topos der Bedeu-
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tung der Arbeit selbst zu Grunde liegt.9 Auf die daraus entstandenen Diskurse beziehen sich alle hier diskutierten Romane dekonstruktiv: Die Existenz eines ideellen Mehrwerts der Arbeit wird konsequent dementiert und die Gültigkeit der Aussagen so literarisch negiert. Literarische Reproduktionen des Bedeutungstopos qua Dekonstruktion Vielleicht die größte Gemeinsamkeit der Romane stellt – basierend auf dem geteilten literarischen Verfahren der Dekonstruktion – die dadurch hergestellte Reproduktion der Bedeutungsdiskurse und deren Topoi auf gleich zweierlei Weise dar. So unterschiedlich sie sind, beglaubigen Machwerk, wir schlafen nicht und Mobbing das Primat der ideellen Dimension gerade durch die Veranschaulichung ihrer Nicht-Faktizität: Die Defizitmeldungen beziehen sich konsequent auf nichtmaterielle Topoi, denn unter Geldmangel oder gar Armut leiden selbst die arbeitslosen Figuren nicht, und die Frage, wie das New Economy-Personal finanziell ausgestattet ist, bleibt offen. Der Interviewerin in Rögglas Roman scheint diese Dimension weniger relevant zu sein, von ihren Interviewpartnern wird sie in dieser Anschauung aber auch nicht korrigiert. Es findet sich in der geteilten desillusionierten Haltung der Erzählinstanzen – auch in Pehnts Roman resigniert die Ich-Erzählerin schließlich am ausweglosen Kampf ihres Mannes – eine Bestätigung der Bedeutungsdiskurse, indem deren Aussagen zwar negiert, gleichzeitig aber als alternativlos inszeniert werden. Die Autoren legen den diskursimmanenten Topos der Bedeutung als Maßstab an, führen jedoch auch angesichts von dessen mangelnder Realität keinen alternativen ein. Anders gesagt: Analytisch hinterfragt wird zwar die Wirklichkeit dieses Maßstabs, nicht aber seine generelle Plausibilität. Der literarische Blick, so lässt sich resümieren, rekurriert damit letztlich zwar kritisch auf die inhaltlichen Aussagen des Diskurses – aber er korrigiert sie nicht.
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Auf dessen Existenz verweisen die am Anfang dieses Aufsatzes exemplarisch angeführten Vortragsreihen und Konferenzen, die beständig um die Sinnfrage kreisen; eine Analyse sowohl medialer Berichterstattungen als auch wissenschaftlicher Produktionen zum Thema ›Wandel der Arbeitswelt‹ zeigt eine ähnliche Verknüpfung von Arbeit und Sinn/Bedeutung.
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L ITERATUR Apel, Friedmar (2008): »Rackern, bis der Hartz kommt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.11.2008, Literaturteil, S. 2. Braun, Volker (2008): Machwerk. Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Chilese, Viviana (2008): »Menschen im Büro: Zur Arbeitswelt in der deutschen Gegenwartsliteratur«, in: Fabrizio Cambi (Hg.), Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 63–72. Flockenhaus, Kai/Haberer, Björn (2011): Wer Arbeit will, bekommt auch eine?!, Norderstedt: Books on Demand. Friebe, Holm/Lobo, Sascha (2006): Wir nennen es Arbeit. Die digitale Boheme oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung, München: Heyne. Heimburger, Susanne (2010): Kapitalistischer Geist und literarische Kritik. Arbeitswelten in deutschsprachigen Gegenwartstexten (= Forschungen zur deutschsprachigen Literatur nach 1945), München: Edition Text + Kritik. Kift, Dagmar/Palm, Hanneliese (Hg.) (2007): Arbeit – Kultur – Identität. Zur Transformation von Arbeitslandschaften in der Literatur (= Schriftenreihe des Fritz-Hüser-Instituts, Bd. 15), Essen: Klartext. Lüdke, Martin (2008): »Elegie der Arbeit«, in: Frankfurter Rundschau vom 05.12.2008, S. 33. Meschnig, Alexander/Stuhr, Mathias (2001): www.revolution.de. Die Kultur der New Economy, Hamburg: Rotbuch. Pehnt, Annette (2007): Mobbing, München: Piper. Pongratz, Hans J./Voß, G. Günter (2003): Arbeitskraftunternehmer – Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin: Edition Sigma. Preisinger, Alexander (2009): »Ökonomie als Poetologie. Der literarische Realismus des Neuen Kapitalismus«, in: literaturkritik.de, Schwerpunkt: Literatur und Ökonomie, Nr. 5, o.S. Radisch, Iris (2012): »Zurzeit gucke ich nach der Arbeit immer noch eine Viertelstunde Webcam«, in: Die Zeit vom 15.03.2012, o.S. Röggla, Kathrin (2004): wir schlafen nicht. roman, Frankfurt a.M.: Fischer. Schubbe, Elimar/Ruß, Gisela (1972): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED. Bd. 1: 1946–1970, Stuttgart: Seewald. Schütz, Erhard (2007): »Literatur – Museum der Arbeit?«, in: Kift/Palm, Arbeit – Kultur – Identität, S. 13–32.
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Spies, Bernhard (1995): »Die Angestellten, die Großstadt und einige ›Interna des Bewußtseins‹«, in: Sabina Becker/Christoph Weiß (Hg.), Neue Sachlichkeit im Roman, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 235–254. Stahl, Enno (2007a): »Kneipenjobber und Kulturschaffende. Pseudo-dokumentarische Arbeitsprofile im deutschen Gegenwartsroman«, in: Kultur & Gespenster 3, S. 248–257. Stahl, Enno (2007b): »›Wir schlafen nicht‹. New Economy und Literatur«, in: Kift/Palm, Arbeit – Kultur – Identität, S. 85–98. Stuhr, Mathias (2010): Mythos New Economy. Die Arbeit an der Geschichte der Informationsgesellschaft, Bielefeld: transcript.
Subjekte der Arbeit in der Gegenwartsliteratur Enno Stahls Diese Seelen und Wilhelm Genazinos Das Glück in glücksfernen Zeiten F LORIAN Ö CHSNER Die Konkurrenz ist härter und leben will man schließlich auch. ENNO STAHL
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A RBEIT – S UBJEKT DER G EGENWART
– L EBEN
UND DIE
L ITERATUR
Sowohl in den öffentlichen Medien als auch in den Sozialwissenschaften werden neue Formen der Arbeit, die vermehrt Mobilität, Flexibilität und Eigenverantwortung von den Individuen fordern, immer häufiger thematisiert. Mit »Subjektivierung der Arbeit« sind Prozesse der Arbeitsorganisation angesprochen, die den Zugriff auf die Arbeitskraft in das Individuum verlagern. Bürokratisch organisierte Fremdkontrolle wird durch Selbstbeherrschung ergänzt; das Individuum soll sich mit der gesamten »Persönlichkeit« in den Arbeitsprozess einbringen. So organisiert und ökonomisiert es als »Arbeitskraftunternehmer« (Pongratz/Voß 2004) seine Arbeitskraft vermehrt selbst. Es kann sich dabei nie sicher sein, ob die Investitionen (an Selbstoptimierung und Arbeitseinsatz) auch genügen, um sich in der Konkurrenz durchzusetzen. Veränderte gesetzliche Rahmen und eine verschärfte Konkurrenzsituation führen zu einer sinkenden Verbindlichkeit der Beschäftigungsverhältnisse. Arbeitszeit wird weniger kontrollierbar, Arbeit und Leben greifen stärker als ohnehin ineinander. Dabei gehen Entgrenzung und Ent-
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sicherung Hand in Hand.1 Zur konkreten Furcht vor Arbeitsplatzverlust (beziehungsweise davor, keinen zu ergattern) und sozialem Abstieg kommt der Druck, immer aktiv und kreativ sein zu müssen, ohne sich über die verlangten Anforderungen genau im Klaren sein zu können: Paart sich die Abhängigkeit von den Arbeitgebern, die entscheiden, ob sie bestimmte Fähigkeiten und Kenntnisse auch gewinnbringend einsetzen wollen, mit der Vorstellung, dafür selbst verantwortlich zu sein, führt dies unweigerlich zur Überforderung vieler. »Das unternehmerische Selbst ist ein ›erschöpftes Selbst‹. Weil die Anforderungen unabschließbar sind, bleibt der Einzelne stets hinter ihnen zurück, weil der kategorische Komparativ des Marktes einen permanenten Ausscheidungswettkampf in Gang setzt, läuft er fortwährend Gefahr, ausgesondert zu werden. Anerkennung ist gebunden an Erfolg, und jedes Scheitern weckt die Angst vor dem sozialen Tod.« (Bröckling 2007: 289, mit Bezug auf Ehrenberg)
Der vorliegende Artikel möchte sich der Frage zuwenden, wie der Komplex Arbeit-Subjekt-Leben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur verhandelt wird. Wie relevant ist hier das Leitbild des »Unternehmerischen Selbst«? Wie werden Arbeitsverhältnisse und ihre Auswirkungen auf das Individuum, wie die »individuellen Deutungen, Interessen und Strategien« (Pongratz/Voß 2004) der Akteure beschrieben? Bei aller Wirkmächtigkeit von Leitbildern und gesellschaftlichen Normen deutet das Individuum seine soziale Lage selbst und muss einen eigenen Umgang mit den gesellschaftlichen Anforderungen finden. Es sollen in der Folge also auch die subjektiven und psychischen Verarbeitungsstrategien von Arbeit und deren Niederschlag in der Literatur behandelt werden. Literatur realisiert die Darstellung und Interpretation alltäglicher Weltdeutungen von Individuen in ihrem spezifischen sozialen Kontext. Der literarische Blick eignet sich, um subjektive und psychische Vorgänge zu betrachten: Unverstellt kann er subjektive Deutungen wiedergeben, da er mit dem ›methodologischen Vorteil‹, das Individuum (als literarischen Protagonisten) nicht schonen zu müssen, diesem sehr nahe kommen kann. Durch die Darstellung eines Einzelnen mit all seinen Denk- und Entscheidungsprozessen und der gleichzeitigen Einbet-
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»Die Freiheiten, die den Beschäftigten eingeräumt werden, also die Entgrenzung ihrer Aufgaben und Verpflichtungen, erweist sich in vielen Beziehungen zugleich als Entsicherung. Der zeitliche Arbeitseinsatz wird unkalkulierbarer; die Einkommenshöhe ist bei Ergebniskopplung nicht mehr gleichbleibend gesichert; die Beschäftigung bei dezentralisierter Einstellung und Entlassung ebenso wenig, und so fort.« (Moldaschl/Voß 2003: 35)
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tung des fiktionalen Charakters in soziale Settings illustriert Literatur den Umgang mit bestehenden Leitbildern der Weltdeutung. Letztlich können so auch sozialwissenschaftliche Beschreibungen ergänzt werden, indem Literatur und Sozialwissenschaft aufeinander bezogen werden. »Literatur kann sich sehr wohl der Wissenschaft bedienen, um ihren Erkenntniswert zu steigern[,] ein analytischer Roman kann angesichts des verfügbaren Formenreichtums, der Vielfalt gängiger Genre[s] und literarischer Techniken, leicht auf aktuelle ökonomische, juristische, biologische, physikalische Fakten, also artfremde Materialien zurück greifen [i.O.] und diese integrieren. Das garantiert bei sachgemäßem Umgang ein hohes Maß an Authentizität, d.h. an detailgetreuer Wiedergabe bestimmter Realitätsbereiche.« (Stahl 2004: o.S.)
Dieses Verständnis davon, was fiktionale Literatur mit einer bestimmten Praxis des Schreibens zu leisten habe, bringt Enno Stahl auch dazu, Arbeitsverhältnisse und die darin stehenden Menschen zu thematisieren. In seinem Essay Der sozialrealistische Roman fordert er, dass Literatur zeigen müsse, »warum die Verhältnisse so sind, wer oder was dafür verantwortlich ist« (ebd.). Sie müsse den Anspruch haben, über »die Aufdeckung wirkender sozialer, politischer und ökonomischer Kräfte, eine Wirkung zu erzeugen« (ebd.). Der deutschen Gegenwartsliteratur wirft er hingegen vor, dass sie größtenteils keine Notiz nehme »von den gesellschaftlichen Veränderungen, die um sie herum geschehen« (Stahl 2007a: 97). Obwohl von der Einkommenssicherung alles Weitere im Leben abhänge, fänden die Härten der Lohnarbeit und die Vielzahl von prekären Jobs kaum den Weg in die deutsche Gegenwartsliteratur. So habe sie mit den realen Lebensbedingungen der großen Mehrheit wenig zu tun (vgl. Stahl 2007b: 251). Ins Zentrum der vorliegenden Betrachtung sollen mit Enno Stahl und Wilhelm Genazino zwei Autoren gestellt werden, die Arbeitsverhältnisse und die Subjekte der Arbeit explizit zum Thema ihrer Literatur machen. Schon Ende der 1970er Jahre hatte Genazino mit Abschaffel, Die Vernichtung der Sorgen und Falsche Jahre drei Romane vorgelegt, die sich mit dem Leiden des Individuums im Büroalltag beschäftigen. Die Roman-Trilogie zählt zu den wichtigsten Texten der »zweiten Boomphase der Angestelltenliteratur« (Heimburger 2010), und auch in der Folge stehen Arbeitsverhältnisse im Zentrum seiner Romane. Stefan Rinke verweist auf eine Entwicklungslinie im Werk Genazinos von den in der Moderne geprägten Mustern des Angestelltenhabitus hin zu den postmodernen prekären Arbeitsverhältnissen und den neuen Dynamiken von Arbeit, die in die Freizeit
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der Angestellten und in deren Selbstverständnis eindringen (vgl. Rinke 2011: 33f.). Mit Genazinos Das Glück in glücksfernen Zeiten (2009) und Stahls Diese Seelen (2008) sollen zwei Romane, die sich auf Grund ihres Erscheinungsjahres und der thematischen Nähe für eine vergleichende Betrachtung besonders gut eignen, einen Einblick in den Komplex Arbeit-Subjekt-Leben geben: In beiden Romanen stehen Protagonisten im Mittelpunkt, die in ihren – in besonderer Weise von eigenverantwortlichem Arbeiten geprägten – Karrieren als Wissenschaftler scheitern, damit jedoch unterschiedlich umgehen. Außerdem zeigt der Roman, dass Armut und soziale Unsicherheit nicht nur Thema ›am Rand‹, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft sind.2 Zu Beginn soll Enno Stahls Diese Seelen betrachtet werden. Der Roman führt unterschiedliche Lebensläufe vor: Welchen Anforderungen die Protagonisten im Laufe ihrer Arbeitskarrieren ausgesetzt sind und wie sie diese unterschiedlich deuten, soll hier in den Blick genommen werden (2.). Um anschließend den subjektiven und psychischen Umgang mit ›dem Scheitern‹3 näher zu betrachten, werden zwei unterschiedliche Verarbeitungsstrategien in Genazinos Das Glück in glücksfernen Zeiten und in Diese Seelen gegenübergestellt (3.). Danach sollen Schreibweisen beider Autoren und ihr Literaturverständnis in Bezug auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft skizziert und voneinander abgegrenzt werden (4.). Den Abschluss bilden eine kurze Zusammenfassung und ein Ausblick zum Thema Subjektivierung von Arbeit und Literatur (5.).
2. D IE K ARRIEREN
UND IHRE
D EUTUNGEN
In vier Handlungssträngen zeigt der Roman Diese Seelen, wie sich die objektive wie auch die geistige Stellung einzelner Protagonisten in und zur Konkurrenz
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Gerade da Protagonisten mit höherer Bildung mit all den sozialen Unsicherheiten, Ängsten und unerfüllten Bedürfnissen beschrieben werden, wird angedeutet, dass Armut und die Gefahr vor Arbeitslosigkeit nicht nur für Angestellte im (sich durchaus ausweitenden) Niedriglohnsektor bedeutend sind. Hingewiesen werden soll aber darauf, dass der Arbeitsalltag abseits dieser ›besseren‹ Arbeitsfelder deutlich größere Härten beinhaltet und sich die Lebensgestaltung mit weniger Einkommen selbstverständlich ebenfalls erschwert.
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Der Begriff ›Scheitern‹ beinhaltet in dieser Abstraktheit eine spezifische (psychologische und/oder ideologische) Deutung dessen, dass die Konkurrenz-Wirtschaft notwendigerweise Verlierer produziert.
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verändert, ihre Ideale und Wünsche an den Lebensverläufen scheitern und sich ihre anfänglichen Deutungen von Arbeit und Leben damit relativieren. Mehr oder weniger realisieren sie die Anforderungen und Härten sowohl im Kampf um eine Anstellung als auch in ihrer Erwerbsarbeit und schrauben pragmatisch eigene Ansprüche und Ziele herunter. Die Protagonisten müssen das Idealbild, das sie von sich gezeichnet haben, umdeuten – oder sie zerbrechen daran. Die Workaholikerin Tess verfolgt zielstrebig ihre Karriere beim Fernsehen und bezahlt dies mit dem Verlust ihrer Ideale sowie mit der intensiven Verausgabung ihrer Arbeitskraft, dem Raubbau an ihrem Körper: »Tess sah alt aus, fertig. Echt abgefuckt. Ganz anders als in der Glotze« (Stahl 2008: 204), urteilt Jürgen über sie. Hatte Tess früher noch über die Situation von Obdachlosen berichtet, um als investigative Journalistin über Phänomene zu berichten, vor denen die Gesellschaft nicht die Augen verschließen dürfe (vgl. ebd.: 70), hat sie diese Vorstellung längst für eine kompromisslose Karriere im Boulevardjournalismus aufgegeben. Dabei zeigt sie sich hart gegenüber Praktikantinnen und Kollegen (siehe etwa ebd.: 99, 103). Ihre Strategie bei der Verfolgung ihrer Karrierepläne ist eine kompromisslose Leistungsideologie. »Durchsetzen« (ebd.: 82) ist ihre Devise: »›Ich mag Stress‹, sagte sie, und dass das, was sie tue, auch ihr Hobby sei. ›Was für ein Privileg: Die Arbeit ist mein Leben, verstehen Sie, und mein Leben ist Urlaub‹!« (Ebd.: 97) Selbst die negativen Auswirkungen der Arbeit deutet sie positiv und affirmiert die traurige Wahrheit, dass fast das gesamte Leben aus Arbeit besteht. Das, was einem angenehmen, entspannten Leben entgegensteht, wird so gleichwohl zum Sinn desselbigen stilisiert. Auch die Freizeit nutzt sie für die Selbstoptimierung: Zuhause stehen Fitness, Yoga, Sprechtraining, die Arbeit an Gestik, Mimik und Auftrittsverhalten auf dem Programm. Tess verkörpert den Typus des Unternehmerischen Selbst, der alles für die Karriere tut und in Leistung das adäquate Mittel sieht, zu Erfolg zu kommen. Dabei ist Tess rücksichtslos gegen sich und ihre Mitmenschen. Den Verlierern in der Konkurrenz und den Erschöpften der Gesellschaft schreibt sie die Schuld für deren Leiden selbst zu: »Wenn nur alle Menschen in Deutschland ein bisschen den Hintern bewegten. Wahrscheinlich wären sie dann weniger depressiv. Und motivierter: würden sie nicht auf der Sozialhilfe ausruhen und warten, dass der Staat käme und sie abholte, sondern lieber selbst was auf die Beine stellen.« (Ebd.: 128)
Doch der Einsatz ist, wie angedeutet, hoch: Oft schafft sie es nicht, in die Kantine zu gehen (vgl. ebd.: 108); für Anliegen ihrer Freundinnen (vgl. ebd.: 115) und Urlaub bleibt keine Zeit: »Eine Woche Strand, Meer, niemand sehen. Jedoch, in
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der nächsten Zeit waren die Termine so fucking dicht, dass daraus gar nichts werden konnte.« (Ebd.: 106) Obwohl sie den Slogan »Leben ist Urlaub« (ebd.: 107) als Motto und Bildschirmschoner nutzt, sehnt sie sich letztlich doch nach den »Tagen dazwischen, an denen sie sich was Gutes tun konnte: Sauna, Schwimmen, Ausgehen, was immer ihr in den Sinn kam.« (Ebd.: 104) Und so wird die vermeintliche Erfolgsstrategie der Selbstoptimierung, des Leistungswillens und des positiven Denkens als gnadenlose Beschränkung des Lebens entlarvt. Eine solch hohe Verausgabung zeitlicher und geistiger Ressourcen ist allerdings keine Garantie für eine gute Stellung in der Konkurrenz – dies macht Diese Seelen ebenfalls deutlich. So wird Robert, der ganz in seiner Rolle als Wissenschaftler aufgeht und die Arbeit zum Lebensmittelpunkt erklärt, trotz »glänzender Zukunftsaussichten« (ebd.: 86) mit der Realität konfrontiert. Auch ein hoher Bildungsabschluss garantiert keinesfalls eine Anstellung mit ausreichender Bezahlung. Die Hierarchie der Bildungstitel entspricht eben nur scheinbar der gesellschaftlichen Hierarchie und der materiellen Lage.4 Die Vorstellung, Wille und Arbeitseinsatz seien bestimmend für den sozialen Ort des Individuums, blamiert sich an der Realität. Jürgen strebt fest entschlossen eine Karriere im Showbusiness an: Alles, was er brauche, sei eine Chance (vgl. ebd.: 174), denn er ist überzeugt, man müsse »es eben nur versuchen, die Welt steht jedem offen, der will!« (Ebd.: 187) Doch all sein Einsatz, seine Geduld und Ausdauer nützen ihm wenig (vgl. ebd.: 195). Um ›einen Fuß in die Türe‹ des Showbusiness zu bekommen, dient er sich als Tänzer, Kabelträger und Mietwagenfahrer an – seine Träume von einer Karriere bei »Film, Fernsehen, Musik, irgendwas« (ebd.: 170) muss er aber aufgeben. Schließlich landet er als Einzelhandelskaufmann doch in dem Beruf, der ihn schon in seiner Lehrzeit dazu provoziert hatte, von »Hilfsarbeiter-Scheiß« und »Sklavenjobs« zu sprechen, und in dem er die Stunden und Minuten bis zum Feierabend gezählt hatte (ebd.: 173f.). ›Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär‹-Vorstellungen weist Diese Seelen also deutlich zurück. Jürgens Schwester Mika stellt sich schon früh pragmatischer zu ihrer Erwerbstätigkeit. Sie arbeitet als Arbeitsvermittlerin und weiß aus eigener Erfahrung, dass es schlimmer hätte kommen können. Ihre Stellung hat sie sich fleißig erarbeitet: »da hatte sie sich keine Spirenzchen [i.O.] mehr leisten können, da hatte es lernen, lernen, lernen geheißen« (ebd.: 213). Weil sie viel Zeit und Anstrengung investiert, redet sie sich ihre Anstellung aber selbst schön: Es sei eine »abwechslungsreiche Tätigkeit, die sie ganz« (ebd.) ausfülle, erklärt sie zu Be-
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Eine ausführlichere Analyse zu Robert folgt unter Abschnitt 3.
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ginn. Doch dies ist ein euphemistischer Blick auf eine Arbeit, die ihr nur wenig freie und sorgenfreie Zeit beschert. Wenn Diese Seelen auch in den übrigen Handlungssträngen den Wandel innerhalb von Berufszweigen nicht in den Blick nimmt, zeigt der Text hier doch die Veränderungen in der Arbeitsvermittlungsbranche und thematisiert die Ökonomisierung und verschärfte Disziplinierung der Arbeitslosen (vgl. ebd.: 232). Durch den Wettbewerb staatlicher und privater Vermittler werden die Vermittlungszahlen relevanter. Und gleichzeitig wird auch Mikas Klage über die eigene Arbeit lauter: »In ihrem Büro starrte sie auf den Häkkinen-Kalender, wünschte sich einen Moment, sie könnte woanders sein, an einem anderen Platz der Welt, weit weg von der Arbeit, weg vom Amt. Aber das würde vergehen. Sie wusste ja, war sich hundertprozentig sicher, dass sie genau da stand, wo sie hingehörte. War es nicht der größte Fehler, den ein Mensch begehen konnte, Dinge zu verlangen, die ihm nicht zustanden? Ziele zu verfolgen, die er nicht erreichen konnte? [...] Alles andere war Träumerei.« (Ebd.: 233)
Bescheidenheit und Verzicht sind ihre Strategie, innerhalb der Konkurrenz ihren Platz zu finden. Weil sie keine ertragreichere Anstellung bekommt, akzeptiert und affirmiert sie diese. Auch wenn sie abends erschöpft früh zu Bett geht, selbst am Wochenende viel schläft und sie sowohl das frühe Aufstehen als auch die Büroatmosphäre nicht mag, hält sie ihren Beruf für das kleinere Übel und erledigt zuverlässig ihre Pflichten: »Von diesem Moment an war sie Staatsdienerin, seither galten für sie besondere Regeln, absolute Zuverlässigkeit, hundertprozentige Gesetzestreue. Geschworen, das war geschworen, immer würde sie sich daran halten, ohne zu schwanken. Sonst hätte sie ja gleich wieder zu den Drogenköpfen zurückgehen können, mit denen sie in der Handelsschule herumgehangen hatte.« (Ebd.: 212)
Doch selbst dieses ›kleinere Übel‹ bedeutet einen ständigen Kompromiss bei der Befriedigung diverser Bedürfnisse. Ein erfülltes Bedürfnis an einer Stelle erfordert Verzicht an anderer: Um die Einbauküche abbezahlen zu können, muss auf eine längere Ferienreise verzichtet werden (vgl. ebd.: 229), und um einen besser bezahlten Job zu behalten (oder zu bekommen), müssen viel Lebenszeit und emotionale Kosten investiert werden. Die Sorgen bleiben also nicht in der Arbeit, sondern überformen das gesamte Leben. Mika kann die Beanspruchung des Arbeitsmenschen nicht von der des Privatmenschen trennen, und die Sorge, ob genug Geld für ein angenehmes Leben bleibt, ist ohnehin allgegenwärtig.
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Der Roman schließt mit einem Versprechen an ihren Mann, der sich darüber beschwert hatte, »dass sie gar nichts mehr zusammen unternahmen. ›Du musst mal abschalten! Dich richtig entspannen!‹« (Ebd.: 233) Alles solle besser werden: »Alles wird sein, wie es gewesen ist, nur besser! Das verspricht dir, deine Michaela« (ebd.: 265). Doch sie verspricht ein ›Happy End‹, das zu verwirklichen nicht in ihren Händen liegt. Die Abhängigkeit von der Erwerbstätigkeit ist existentiell für den Einzelnen; die Bedingungen und Anforderungen diktieren jedoch andere. Enno Stahls Roman zeichnet unterschiedliche Strategien nach, sich in diesem Spannungsfeld von Arbeit und Leben zurechtzufinden. Er zeigt anschaulich, dass das intensive Bemühen um eine bessere Verwertbarkeit noch lange keine Arbeitsplatzgarantie ist (ganz zu schweigen von einer Tätigkeit, die auch noch den eigenen Wünschen entspricht). Die Erwartungen der Protagonisten zerbrechen am realen Lebensverlauf. Wenn sie als ›Unternehmer ihrer Selbst‹ investieren, um die Karriereleiter zu erklimmen, sind die verausgabten physischen und psychischen Kosten dafür hoch: Die Ideale, welche die Protagonisten zu Beginn ihrer Karrieren noch mit ihren Berufen verbunden hatten, werden als falsche Vorstellungen entlarvt. Die Verluste und Schädigungen der Protagonisten führen jedoch nicht zu einem klaren Bild des kapitalistischen Wirtschaftens und der eigenen Stellung als abhängige Variable darin: »Der Markt, auf dem der Gewinner alles bekommt, wird von einer Konkurrenz beherrscht, die eine große Zahl von Verlierern erzwingt«, beschreibt es Richard Sennett in Der flexible Mensch. Doch obwohl die Verlierer allgegenwärtiger und fester Bestandteil der Konkurrenz sind, konstatiert er: »Scheitern ist das große moderne Tabu« (Sennett 2000: 159). In diesem Spannungsfeld stehen die Protagonisten bei Genazino und Stahl, die auf die Überforderung und den Sturz von der Karriereleiter mit Scham und Schuldvorwürfen reagieren. Scheitern und der psychologische Umgang damit sollen in der Folge näher betrachtet werden.
3. D AS S CHEITERN Sowohl Stahl als auch Genazino stellen die von der Arbeit Überforderten ins Zentrum ihrer Romane und zeigen unterschiedliche Strategien auf, wie mit dieser Überforderung umgegangen wird: Auf der einen Seite sucht der Protagonist Gerhard Warlich in Das Glück in glücksfernen Zeiten bei sich die Schuld dafür, dass er im Beruf weder zurecht- noch vorankommt. Er gleitet in eine Depression,
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bis er, ›verrückt‹, von seiner Lebensgefährtin in eine psychiatrische Klinik gebracht wird. Auf der anderen Seite leidet zwar auch der Soziologe Robert in Diese Seelen an den Arbeitsanforderungen und seinem ›Scheitern‹, indem er mit andauernder Schlaflosigkeit und Nervenbelastung zahlt. Doch findet er eine andere Antwort: Robert sieht sich selbst als einen brillanten Wissenschaftler (eine Illusion, die Warlich schon längst aufgegeben hat), der sich trotz seines unerbittlichen Arbeitseinsatzes in der akademischen Konkurrenz (mit der deutlich begrenzten Stellenanzahl) nicht durchsetzen kann. Die Schuld dafür schreibt er fälschlicherweise der ungerechten Behandlung durch seine Kollegen und Vorgesetzten zu, später der Angestellten des Arbeitsamtes, die nicht wisse, mit wem sie es zu tun hat. So endet ein Handlungsstrang in Diese Seelen blutig, als Robert die Arbeitsvermittlerin mit einer Rasierklinge attackiert. Beide Protagonisten werden als ›Scheiternde‹ vorgestellt; als Scheiternde in der wissenschaftlichen Konkurrenz und an den hohen Idealen, die sie von sich selbst hatten und haben. Besonders in den Wissenschaften gelten Flexibilität, Mobilität und lebenslanges Lernen als Ideal und Voraussetzung: Die Betroffenen dürfen sich nie als fertig und selten als sicher begreifen. Als Möglichkeiten, mit diesen Anforderungen und den damit verbundenen Unsicherheiten und Ängsten umzugehen, werden unterschiedliche Strategien und Reaktionen beschrieben: »Ich [Gerhard Warlich] hatte gerade mein Philosophiestudium beendet, fand weder innerhalb noch außerhalb der Universität eine Stellung, die meinem Bildungsgrad entsprach, mußte aber Geld verdienen, und zwar schnell, weil ich mich verpflichtet hatte, das über die Dauer von acht Jahren erhaltene Bafög nach Beendigung des Studiums zurückzuzahlen.« (Genazino 2009: 14)
Aus Geldnot hat Gerhard Warlich bei einer Großwäscherei als Fahrer begonnen. Gegenüber seiner Lebensgefährtin Traudel, die (in seinen Augen) seine Bildung überschätzt und sich von seinem Doktortitel blenden lässt, hält er die Illusion aufrecht, es sei ein bedeutender Philosoph an ihm verloren gegangen (vgl. ebd.: 112). Weil er die Texte Gadamers und Wittgensteins gelesen hat, glaubte er zu Studienzeiten, »ebenfalls auf dem Niveau dieser Bücher denken zu können. Mein Besonderheitsgefühl wuchs ins geradezu Unermeßliche. Ich brauchte Jahre, bis ich vom Berg meines Dünkels wieder herabgestiegen war.« (Ebd.: 45) In dieser Hybris verharrt hingegen Robert in Diese Seelen. Während Warlich an dem »lebensgeschichtlich tief sitzenden Unbehagen, [daß er sich] von der Philosophie, der Bildung und [seiner] Eitelkeit habe narren lassen«, ebenso leidet wie an der »peinigenden Selbstüberschätzung« (ebd.: 111) und an der Scham, diesem Ideal von sich selbst nicht zu entsprechen, ist sich Robert »keiner
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Schuld bewusst«. Er wittert in »Neid, Missgunst, Verrat« (Stahl 2008: 40) die Gründe dafür, dass sein angeblich verdienter Lohn ausbleibt. Diese Deutungen der Gründe seiner Erfolglosigkeit entstammen einem Weltbild, in dem vermeintlich »Leistung [...] den sozialen Ort des Einzelnen« (ebd.: 25) bestimmt. Die Arbeitswelt ist für ihn nicht nur das harte Geschäft des Broterwerbs. Im Beruf müsse man sich als ganzes Individuum bewähren und auszeichnen. Der Leistungszwang wird so zu einer Chance umgedeutet, Leistungsbereitschaft und -vermögen unter Beweis zu stellen. Und auch daran scheitert er im verbissenen Kampf. Misserfolg führt zu Scham und Selbstverurteilung – wie bei Warlich in Das Glück in glücksfernen Zeiten – oder zu Selbstbehauptungsbestrebungen, wenn der vermeintlich verdiente Lohn trotz größter Anstrengungen ausbleibt: Für Robert wird die Selbstbehauptung zum Lebensprogramm, weshalb er nicht mehr in Entschuldigungen und Schuldzuweisungen verharrt, sondern die Anerkennung seiner Leistung schließlich so hilf- wie rücksichtslos mit Gewalt einklagt. Auch Warlich musste Enttäuschungen erfahren, »war jahrzehntelang auf ein besseres Leben vorbereitet« (Genazino 2009: 132) gewesen, das in unerreichbarer Ferne blieb: »Und wie kann es mir gelingen, aus einer dieser Tätigkeiten einen Beruf zu machen, der mich hinreichend ernährt und mir endlich die Gewißheit verschafft, daß ich mich in einem sinnvollen Leben befinde?« (Ebd.: 14) In dieser Frage sieht er den Kern seines Unglücks begründet. Beide Texte legen die Illusion bloß, die sich an den Anspruch kettet, der Beruf müsse die Menschen aus- und erfüllen und habe eine ihrem Naturell angemessene Tätigkeit zu sein – eine Illusion, die aus der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt einen vermeintlichen Weg der Selbstfindung werden lässt. Dass man um eine Anstellung konkurrieren muss und andere darüber entscheiden, ob man sie auch bekommt oder behalten darf, wird im psychologischen Blick auf den beruflichen Alltag zur subjektiven Aufgabe, sich selbst gerecht zu werden. Warlich ist erfüllt von der »Sehnsucht etwas ganz und gar richtiges tun zu wollen« (ebd.: 42), und er sagt über sich »[w]enn es Abend wird, fühle ich mich häufig mangelhaft und unerlöst.« (Ebd.: 44) Zur prekären materiellen Lage kommt das Urteil über das ›mangelhafte Selbst‹ oder das Einklagen vermeintlich verdienter Anerkennung. So beantragt Robert seine Bezüge vom Arbeitsamt nicht. Für ihn als ›gekränktes Subjekt‹ erscheinen Armut und materieller Mangel als das kleinere Übel. Dieses ›gekränkte Subjekt‹ sorgt sich mehr um die Anerkennung der beruflichen Tätigkeit denn um den ausbleibenden Lohn. Und diese Auszeichnung seiner Leistung, die Robert mit der Anerkennung seiner Person als ganzer gleichsetzt, bleibt ihm verwehrt. So schwingt er sich schließlich zum Richter und Scharfrichter auf, da er nicht zu
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seinem vermeintlichen Recht kommt: »Robert hat kein Erbarmen, mit ihm sprangen sie nicht besser um.« Und als er nach dem Attentat an der Arbeitsvermittlerin »sich selbst mit der befleckten Klinge« sah, beschloss er »endlich, der Sache sei nun Genüge getan.« (Stahl 2008: 59) Als ein Ausgeschlossener macht Robert aus der Zurückweisung eine Frage der Ehre. Da seine Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wird, sieht er sich als gesamte Persönlichkeit angegriffen und zieht aus der Ohnmachtserfahrung den Schluss, selbst einmal Macht ausüben zu wollen. Solch einen »Anerkennungswahn, der sich hier austobt«, als »Psycho-Produkt von Konkurrenzerfahrungen« (Huisken 2009: o.S.), vollzieht Freerk Huisken an einem anderen Amoklauf nach: »[Wenn] Niederlagen dieser oder jener Art sich vielmehr zu Frust verdichten, dann lässt er sich ebenso in die selbstzerstörerische Frage: ›Bin ich wirklich wertvoll?‹, wie auch in den fremdzerstörerischen Beschluss: ›Denen werde ich es zeigen, dass ich wertvoll bin!‹, umsetzen. Es schließt eben die radikalisierte Sorge ums eigene Selbstbewusstsein durchaus beide brutalen Verlaufsformen ein: die Tötung und die Selbsttötung.« (Ebd.)5
Eigentlich hätte Robert doch mehr verdient. Robert beschäftigt sich mit den Themen ›soziale Ungleichheit‹ und ›Armut‹ schon von Berufs wegen. Doch auch wenn er einzelne gesellschaftliche Erscheinungen kritisiert, die Ursachen erkennt er nicht. Er urteilt moralisch und verbittert schließlich. Dort, wo ›Erfolg‹ Ausdruck eigener Leistung und Fähigkeiten sein und ihn als ganze Person auszeichnen soll, werden die objektiven Verlierer der Konkurrenz auch als ›Scheiternde‹ wahrgenommen. Glaubt das Individuum daran, dass seine Stellung in der Berufs- und Einkommenshierarchie seine Anerkennung als ganze Person ausdrückt, so ist die Basis für die Umkehrung gelegt: Das Bedürfnis nach Anerkennung erscheint wichtiger als der materielle Lohn. Die Ursachen für den materiellen Mangel werden zugunsten der Wahrnehmung der Verlierer als ›Scheiternde‹ ausgeblendet. Er ist eben nur abhängige Variable fremder Zwecke; und seine Vorstellung, auf ihn käme es eigentlich an, basiert auf einer falschen Vorstellung der Verhältnisse. Die gesellschaftliche Organisation wird als Ideal affirmiert, und negative Erscheinungen werden als vermeintliche Abweichungen von diesem, als Verfehlungen Einzelner, gedeutet. »Auf diesem eigentlich beruht das halbe Leben!« – resümiert hingegen Warlich in Das Glück in glücksfernen Zeiten, und »eigentlich möchte ich ganz wo-
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Die andere Seite – die der Selbsttötung – wird in Diese Seelen mit Marija nur angedeutet.
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anders leben.« (Genazino 2009: 19) Doch die Antwort des unglücklichen Glückssuchers Warlich noch in der Klinik ist ein nur scheinbar hoffnungsvolles und reichlich zynisches Resümee: »Nach zehn Minuten stehe ich auf und gehe in Richtung Klinik. Eine Art Glück durchzittert mich. Offenbar kann ich trotz allem, immer noch wählen, wie ich in Zukunft leben will« (ebd.: 158). Die Wahl, die dem Individuum bleibt, ist allein der mehr oder weniger rosig eingefärbte Blick auf die Schädigungen: Glück stellt Warlich als ›Stellung zum Unglück‹ dar. So ergötzt er sich an der Beobachtung von »Schichtarbeiterinnen, die hier eine Pause mit einem Spaziergang füllen. Es macht ihnen nichts aus, daß sie auch außerhalb der Fabrik als Arbeiterinnen erkennbar sind. Die wippende Fliederdolde wandert von Hand zu Hand und verleiht den Frauen eine schöne Anmut« (ebd.: 156). Ihre Stellung im Produktionsprozess und die Folgen für ihre Lebensgestaltung werden nicht thematisiert. Diese psychologische und verklärende Sichtweise entfernt ihn von einem Versuch der Verbesserung der eigenen materiellen Lage und umso mehr von der Ursachenanalyse von Armut und dem Massenphänomen der Erschöpften in dieser Gesellschaft.
4. I NDIVIDUUM UND G ESELLSCHAFT G ENAZINO UND S TAHL
BEI
Auch wenn die thematische Befassung mit dem Komplex Arbeit-Subjekt-Leben der beiden Autoren ähnlich gelagert ist, sind ihre Betrachtungsweisen zu unterscheiden: Stahl auf der einen Seite konstruiert seine Protagonisten als Typen, die Leitbilder – wie etwa ein Unternehmerisches Selbst (siehe Tess) – verkörpern. Sie haben ideologische Sätze zur Deutung der Welt verinnerlicht und nutzen sie als Strategien im Umgang mit der Welt. Düpiert werden sie von der harten Realität. Wo die Protagonisten bei Stahl ihr eigenes Denken kaum hinterfragen, versinkt Genazinos Warlich nahezu in einem Meer an Reflexionen und Selbstzweifeln. Im Gegensatz zu Stahls Protagonisten thematisiert Warlich unentwegt die Fassade, die er aufbaut. Das Spiel der angeberischen Selbstdarstellung, das auch dann noch fortgeführt wird, wenn es in der beruflichen Konkurrenz keinen Vorteil mehr bringt, macht er zwar mit: Lügengeschichten sollen nicht nur ihn selbst beschwichtigen, sondern auch seine Umwelt beeindrucken (vgl. ebd.: 57f.). Wo auf der einen Seite Stahls Protagonisten die Leistungsethik gänzlich verinnerlicht zu haben scheinen, bezeichnet auf der anderen Seite Warlich Arbeit aber auch als Belastung und ist davon überzeugt, dass seine Mitmenschen das Projekt »Halbtags leben« (ebd.: 59) ebenfalls befürworten würden. Bei ihm geht es also mehr um ein Mitmachen-Müssen in der Konkurrenz denn um ein Mitmachen-Wollen,
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welches stärker im Mittelpunkt der Gedankenwelt von Stahls Protagonisten steht. Genazinos Text stellt mit sensibler Wahrnehmung menschliche Befindlichkeiten dar und lotet sie aus. Sein Blick richtet sich auf die Gedankenwelt und Psyche Warlichs, der kaum fähig ist, Gründe für die Phänomene in der Gesellschaft zu benennen. Das Leiden des Einzelnen steht im Zentrum. Woran Warlich leidet, was Ursachen dessen sind, erkennt er aber kaum – was die eingeschränkte Innen-Perspektive des autodiegetischen Erzählers verdeutlicht. So geht es Warlich nicht um die Veränderung schädlicher Ursachen, sondern um ein »gelassenes und enttäuschungsadäquates Verhalten [...] um mit gewissen Dingen umgehen zu können« (Genazino zit. n. Hoffmeister 1988: 80). Diesen Aspekt hatte Genazino schon in Kontext seines Angestelltenromans Abschaffel beschrieben. Dargelegt wird im Roman die psychologisch gedeutete Un-Fähigkeit, mit dem Alltag umzugehen. Der Blick ist auf ein Individuum verengt, das zwischen Zahnrädern einer großen, scheinbar unüberschaubaren Maschine aufgerieben wird. Dabei umfasst diese Maschine aber nicht mehr nur den Arbeitsprozess selbst, in dem sich das Individuum verliert. Die gesamte Umwelt steht dem Individuum fremd gegenüber und kann als ›das Andere‹ nicht näher analysiert und in ihre Bestandteile erkennend zergliedert werden: Gesellschaftliche Zusammenhänge werden in dieser Mikroperspektive kaum in den Blick genommen; es geht vielmehr um das Individuum, um sein Bemühen, sich mit der Lage abzufinden, und um sein Scheitern daran. Der Widerstand, der sich regt, ist diffus und allein im Inneren des Individuums zu finden: »Ich fühle einen Widerstand gegen das, was alle tun, und kann nicht angeben, was das ist, was alle tun.« (Genazino 2009: 93) Warlich wehrt sich innerlich gegen diese Maschine, auch wenn sie so unaufhaltsam weiterläuft – mit und auch ohne ihn: Der individuelle Rückzug aus dem aktiven Wettstreit um eine bessere Ausgangssituation in der Konkurrenz bedeutet für ihn Vereinzelung und Verarmung. In beiden Romanen sind Armut, Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit allgegenwärtig. Auch wenn sich Einzelne darüber wundern, »wie viele Penner dort inzwischen saßen und bettelten« (Stahl 2008: 130), stößt Stahls Text immer wieder die Tür zur Alltagsrealität des Arbeits- und Arbeitslosenlebens auf. Dabei nimmt Diese Seelen nicht nur die Folgen für den Einzelnen und seinen Umgang damit in den Blick. Auch gesellschaftliche Zusammenhänge werden wiederholt angedeutet. So weiß die Arbeitsvermittlerin etwa davon zu berichten, dass Arbeitslosigkeit nicht die Schuld der Individuen ist, und führt in diesem Zusammenhang betriebsbedingte Kündigungen und Insolvenzen an. Und: »Einmal herausgefallen aus dem Arbeitsmarkt, gab es für die meisten keine Chance mehr einzusteigen.« (Ebd.: 211)
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Die Themen Stahls sind, auch über den Roman hinaus, der Wandel der Arbeitswelt und die Veränderungen der Arbeitspolitik der vergangenen Jahre. Dabei entspricht es seinem Literaturverständnis, »sozial Ausgegrenzten seine Stimme zu leihen« und zu versuchen, die »real-ökonomischen Prozesse der Ausschließung« (Stahl 2004: o.S.) nachzuvollziehen. Zum einen sind seine Protagonisten selbst Produkte ihrer sozialen Lage und somit auf literarischer Ebene Träger der gesellschaftlichen (Teil-)Erklärungsversuche für gesellschaftliche Erscheinungen. Zum anderen reflektiert er die gesellschaftlichen Kontexte, in denen sie verwoben sind: »Hunger kommt auch nicht von ungefähr, es gibt Gründe: die Einspeisung harter Fakten kann das veranschaulichen. Vermutlich wird es nicht nur einen Grund geben, sondern viele, die in ambivalenten Wechselbeziehungen stehen, voneinander abhängig, sich bedingend oder auch ausschließend. Hier kann die azentrische Struktur des Erzählens einsetzen und eine multi-perspektivische Betrachtung ermöglichen.« (Ebd.: o.S.)
Stahl versucht, einen thematischen Ausschnitt gesellschaftlicher Realität aus unterschiedlichen Perspektiven zusammenzufügen. Mögen diese einzelnen Perspektiven jeweils auch überspitzt und die Protagonisten holzschnittartig sein, in der Kombination fügen sie sich zu einem Bild, bei dem, trotz all seiner satirischen Züge, Gegenwart ernsthaft skizziert ist. Ist Stahls literarischer Blick also vornehmlich auf die Gesellschaft gerichtet (und darüber vermittelt die Individuen in ihr), blickt Genazino durch die Augen des ›scheiternden‹ Einzelnen auf die Gesellschaft. Die Ich-Perspektive in Das Glück in glücksfernen Zeiten ist nicht geeignet, sich einen Überblick über die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verschaffen, dafür ist die Erzählinstanz zu nahe an Warlich und dieser zu sehr mit ›seinem Selbst‹ beschäftigt. Gesellschaft erscheint so als ›Wirkung‹ auf das Individuum.
5. »S UBJEKTIVIERUNG VON A RBEIT «? – Z USAMMENFASSUNG UND A USBLICK In Diese Seelen und Das Glück in glücksfernen Zeiten stehen Individuen im Spannungsfeld von Arbeit und Leben im Fokus sowie deren unterschiedliche Wege, mit den Anforderungen in diesem Spannungsfeld umzugehen. Sie stehen den Ursachen erlittenen Schadens jedoch vornehmlich blind gegenüber. So deutet besonders Stahls Text sowohl die Wirkmächtigkeit ideologischer Leitlinien an (etwa wenn mit »Arbeit ist Urlaub« notwendige Schädigungen euphemisiert
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werden) als auch das Leiden der Einzelnen an diesen ideologischen Deutungen (etwa an der Leistungsideologie). Stahls Protagonisten affirmieren ihre Erwerbsform trotz des Mangels an Gütern und freier Zeit. Diese Seelen zeigt in diversen Brüchen, wie die Selbstökonomisierungsbestrebungen wiederholt an Zwecken scheitern, die mit denen des Einzelnen nicht kompatibel sind. Diese Einsichten legt der literarische Text nahe, die Protagonisten gewinnen sie nicht selbst. Fokussieren Stahls Texte somit die Anpassungsleistungen und Selbsttäuschungen der Individuen, versagen diese bei Genazino, der sich stärker den inneren Kämpfen und der Resignation zuwendet. Wo Stahl seine zu Typen überzeichneten Charaktere ein Stück weit der Lächerlichkeit preisgibt, macht Genazino das Leiden des Einzelnen und seine eingeschränkte Perspektive nachvollziehbarer. Der Text Genazinos ergänzt die Vielzahl an (typischen) Deutungen von Arbeit und die unterschiedlichen Strategien, mit (den Zumutungen) der Konkurrenz zurechtzukommen, mit dem detaillierten Blick auf die Psyche. Genazino zeichnet das ›erschöpfte Selbst‹ nach, das den Wettlauf nicht mehr bestreiten kann und will – mit all seinen Gefühlsverwirrungen und Ängsten. Gemeinsam haben die Figuren bei Genazino wie Stahl, dass sie zwar Subjekte ihrer (Nicht-)Arbeit sind (und sein müssen), aber Subjekte ihres Lebens nur in einem engen Rahmen sein können. Auch wenn sie ihre Brauchbarkeit unentwegt unter Beweis stellen müssen, liegt das Urteil darüber und somit die Höhe des Ertrags (von dem ihre Lebensgestaltung abhängt) nicht in ihren Händen. Diese Zumutung nehmen sie aber als Chance wahr. Dass sie sich dabei selbst als Mittel behandeln müssen (weil sie selbst keine anderen Mittel haben), affirmieren sie, ohne die Weise des Wirtschaftens zu reflektieren. Ihrer Funktion im gesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozess und der Organisationsform der Gesellschaft stehen sie so blind wie machtlos gegenüber. Angewiesen darauf, dass ihre Arbeitsfähigkeit auch gebraucht wird, dient sie ihnen als unsichere Einkommensquelle. ›Subjektivierung von Arbeit‹ ist in diesem Abhängigkeitsverhältnis eine Strategie, sich als selbstbewusster Aktivist eines Vergleichs auszuweisen, bei dem man selbst nur Objekt ist. Vor Erfolglosigkeit schützt diese ›Effektivierungsstrategie‹ ebenso wenig wie vor den Enttäuschungen über den mangelnden Ertrag. Die neue Logik der Arbeitsorganisation im Sinne einer ›Subjektivierung von Arbeit‹ hat Stahl im Nachfolgeroman Winkler, Werber (2012) noch stärker ins Zentrum gerückt. Hier widmet er sich vermehrt dem Antihelden und dessen Denken. Die Dimension der Entgrenzung wird in Winkler, Werber noch deutlicher, da die Trennung von Arbeit und Freizeit weder in der Gedankenwelt noch in der Lebenszeit vorhanden ist: Arbeit, Arbeitssorgen und Leben sind unlösbar verbunden. Winkler, Werber wendet sich mit der Werbebranche einem Bereich zu, in dem diese Entgrenzung in den vergangenen Jahren in besonderem Maße
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Fuß gefasst hat. Demgegenüber ist der synchrone Blick über unterschiedliche Karriereverläufe eine Stärke von Diese Seelen. Unterschiedliche Strategien im Wettstreit um Arbeitsplätze werden vorgestellt, um dabei auch diverse Schädigungen nebeneinander zu stellen. Ein Besser oder Schlechter kann dabei kaum ausgemacht werden. Die Einzelnen, die ihr Leben jeweils nur sehr bedingt selbst gestalten können, werden in all ihrer Abhängigkeit gezeigt. Eine eher diachrone Perspektive wird nur mit Blick auf die Arbeitsvermittlung angedeutet: Diese Seelen beschreibt eine Phase, in der eine neue politische Praxis den Druck auf Arbeitslose deutlich erhöht.6 Für eine diachrone Perspektive bedürfte es einer historischen und zahlenmäßigen Ausweitung der zu untersuchenden literarischen Texte. Eine weitergehende Beschäftigung mit Genazinos Werk in einer solchen Vergleichsperspektive erscheint lohnend, um einen Wandel im literarischen Umgang mit den Subjekten der Arbeit zu untersuchen und zu fragen, ob Phänomene der ›Subjektivierung von Arbeit‹ tatsächlich vermehrt auftauchen und in wieweit sie auch in älteren Formen des Umgangs mit Anforderungen von Arbeit zu finden sind. So könnte weiter gefragt werden, inwieweit neue Deutungen und Subjektivierungsweisen von Arbeit allein mit neuen Formen der Arbeit und Arbeitsorganisation verbunden sind oder ob sie sich auf eine über das Individuum hinausweisende gesellschaftliche Deutung von Arbeit auswirken. Eine weitere Frage wäre, inwieweit diese (möglicherweise zeitversetzt) in die Literatur einsickern (oder sogar Ideologien befeuern oder zurückweisen). Schon Abschaffel zeigt den Übergang in der Arbeitsorganisation, wenn sich die von den Angestellten zunächst freudig begrüßte Abschaffung der Stechuhr bald als negative Entwicklung entpuppt, da sich mit der Reduzierung der Kontrolle auch die Arbeitszeit ausdehnt (vgl. Genazino 2011: 280). Der grundsätzliche, objektive Interessengegensatz von Unternehmern und Angestellten bleibt bestehen, auch wenn er weniger über direkte Kontrollmechanismen ausagiert wird.7 Der sogenannte Typus des »Arbeitskraftunternehmers« bleibt lohn-
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Siehe hierzu etwa Freier (2011): Sie macht diese Veränderungen aus sozial-
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Das heißt nicht, dass direkte Überwachungs- und Kontrollmechanismen (gerade im
wissenschaftlicher Perspektive deutlich. Niedriglohnsektor) obsolet würden. Auch Genazino deutet dies an, wenn er den argwöhnischen Chef in der Wäscherei seine Angestellten überwachen lässt. Lohnend wäre es, die Re-Taylorisierung bei der (literatur-)wissenschaftlichen Analyse mit zu bedenken: Denn das vermehrte Auftreten von Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit in höher qualifizierten Berufen heißt nicht, dass es in anderen Berufszweigen
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abhängig, nur liegt die eigene Vermarktbarkeit vermehrt in der eigenen Handlungsnotwendigkeit (ebenso wie die soziale Absicherung). Daraus folgen dann auch die geistigen Mühen der Konkurrenzsubjekte mit den sich verändernden Bedingungen der unsicheren Karriereverläufe zurechtzukommen, wie sie die Romane Stahls und Genazinos aufzeigen. Sie gehen Hand in Hand mit den Ängsten vor sozialem Abstieg und Armut sowie den Zweifeln an der eigenen Person, wenn materielle Gründe der Erfolglosigkeit psychologisiert werden.
L ITERATUR Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ehrenberg, Alain (2008): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Freier, Carolin (2011): »Grenzen aktivierender Sozialpolitik in der erodierenden Erwerbsgesellschaft«, in: Michael Gubo/Martin Kypta/Florian Öchsner (Hg.), Kritische Perspektiven: ›Turns‹, Trends und Theorien, Berlin: Lit, S. 385–405. Genazino, Wilhelm (2009): Das Glück in glücksfernen Zeiten, München: Hanser. Genazino, Wilhelm (2011): Abschaffel. Die Vernichtung der Sorgen. Falsche Jahre. Roman-Trilogie. Einmalige Sonderausgabe, München: Hanser. Heimburger, Susanne (2010): Kapitalistischer Geist und literarische Kritik. Arbeitswelten in deutschsprachigen Gegenwartstexten (= Forschungen zur deutschsprachigen Literatur nach 1945), München: Edition Text + Kritik. Hoffmeister, Donna L. (1988): »Interview mit Wilhelm Genazino am 04.12.1984«, in: dies., Vertrauter Alltag, gemischte Gefühle. Gespräche mit Schriftstellern über Arbeit in der Literatur, Bonn: Bouvier, S. 71–81. Honneth, Axel (2010): Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Berlin: Suhrkamp. Huisken, Freerk (2009): Der Amoklauf von Winnenden: ›School Shooting‹ – eine Geisteskrankheit?, in: http://www.fhuisken.de/loseTexte.html vom 15.08.2012. Moldaschl, Manfred/Voß, G. Günter (Hg.) (2003): Subjektivierung von Arbeit. 2. überarb. u. erw. Aufl., München/Mering: Rainer Hampp.
(mit der Reduzierung von sozialen Absicherungen etwa) nicht durchaus entgegengesetzte Tendenzen gibt.
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Pongratz, Hans J./Voß, G. Günter (2004): Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen. 2. Aufl., Berlin: Edition Sigma. Rinke, Stefan (2011): »›... und beauftrage jemanden mit meiner Observation.‹ Angestelltenhabitus und Blickökonomie bei Wilhelm Genazino zwischen Moderne und Gegenwart«, in: Gisela Ecker/Claudia Lillge (Hg.), Kulturen der Arbeit, München: Fink, S. 33–50. Sennett, Richard (2000): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 3. Aufl., Berlin: Siedler. Stahl, Enno (2004): »Der sozial-realistische Roman«, in: NDL1 553, hier zitiert nach: http://www.ennostahl.de/t_essays.php?id=10 vom 15.08.2012. Stahl, Enno (2005): »Literatur in Zeiten der Umverteilung«, in: Jürgen Engler (Hg.), Small Talk im Holozän. Neue deutsche Literatur, Berlin: Schwartzkopff Buchwerke, S. 67–77. Stahl, Enno (2007a): »›Wir schlafen nicht.‹ New Economy und Literatur«, in: Dagmar Kift/Hanneliese Palm (Hg.), Arbeit – Literatur – Identität. Zur Transformation von Arbeitslandschaften in der Literatur, Essen: Klartext, S. 85–97. Stahl, Enno (2007b): »Kneipen-Jobber und Kulturschaffende. Pseudo-dokumentarische Lebens- und Arbeitsentwürfe in der deutschen Gegenwartsliteratur«, in: Kultur & Gespenster 3, S. 248–257. Stahl, Enno (2008): Diese Seelen, Berlin: Verbrecher. Stahl, Enno (2012): Winkler, Werber, Berlin: Verbrecher.
Zwischen Affirmation und Leerstelle Richard Sennetts Theorem des »Drift« in der Gegenwartsliteratur N EREA V ÖING Von einer Doppelherrschaft soll hier die Rede sein. Wie Melancholie und Utopie einander ausschließen. Wie sie sich wechselseitig befruchten. Von der Strecke zwischen den Fluchtpunkten. [...] Vom Überdruß im Überfluß. Vom Stillstand im Fortschritt. GÜNTER GRASS/VOM STILLSTAND IM FORTSCHRITT
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Betrachtet man die Arbeitsdarstellungen in der europäischen und amerikanischen Gegenwartsliteratur, so wird man mit einer auffälligen Häufung seltsam passiver Protagonisten konfrontiert.1 Ganz der postmodernen Dialektik verhaftet, führt das derzeitig »historisch exorbitante[…] Niveau […] von Potenzialität« zu einer »eigentümliche[n] Ermüdung von Handlungsschwung« (Böhme 2009: 30), so die Diagnose des Kulturwissenschaftlers Hartmut Böhme. Durch den Zusammenstoß von scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten auf der einen und individuellen Grenzerfahrungen (im Sinne von Überdruss) auf der anderen Seite, kommt es demnach zu einer Handlungshemmung, die sich aus philologischer Perspek-
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Eine Feststellung, die Susanna Reckermann bereits für die französische Literatur traf (vgl. Reckermann 2009).
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tive als eine Aktualisierung des Melancholie-Konzepts lesen lässt.2 Durch die gegenwärtigen Wandlungen des Arbeitsbegriffs verstärkt sich dieser Konflikt: Litt der arbeitende Mensch zuvor, dem marxistischen Entfremdungskonzept zufolge, an starren und entmenschlichten Arbeitsumständen, so leidet er nun, in Zeiten des sogenannten Postfordismus, an Gegenteiligem. Begriffe wie »Flexibilität«, »Freiheit« und »Kreativität« bestimmen das Arbeitsverständnis unserer Zeit – Faktoren, die Karl Marx seinerzeit implizit gefordert hat –, doch anstatt dass sie zu einem idealen Zustand menschlicher Entfaltung führten, erscheint das Subjekt, das diese Faktoren als Anforderungen erfährt, die es zu erfüllen gilt, schlicht überfordert. In einem Umfeld von kreativer und selbstbestimmter Arbeit darf es keine Entfremdung geben, so suggeriert es das postfordistische Modell, doch scheinbar hat diese Entfremdung tiefere Schichten des Subjekts durchdrungen. Dass die ›Arbeit‹ immer noch – das heißt trotz der Annahme einer Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht3 – ihren Wert als den menschlichen Alltag ultimativ strukturierende und sinnstiftende Kategorie beibehält, zeigt sich allerorts. »Wir gestalten arbeitend unsere Welt« (Füllsack 2009: 8), schreibt etwa Manfred Füllsack, und Wolfgang Engler sieht die Arbeit als »die umfassendste und elementarste Verortung der Menschen im sozialen Raum« (Engler 2005: 16), die durch diese Kernrolle, so Leonhard Fuest, zur wesentlichen Kategorie in »ökonomischen, politischen, aber auch psychologischen und ethischen Diskursen« (Fuest 2008: 11) wird. Doch wie positioniert sich diese zumeist historisch hergeleitete Zentralität der Arbeit im Verhältnis zur tatsächlichen Arbeitsrealität jedes Einzelnen?
2
So vielfältig der Melancholie-Begriff auch geprägt ist, so viele Umdeutungen er auch erfahren hat, besteht er dennoch im Kern aus einer wiederkehrenden Anzahl von Topoi, die mit erstaunlicher Konstanz den Begriff seit seinem antiken Ursprung determinieren. Hierzu ist auch der Topos der ›Handlungshemmung‹ zu zählen, der als spezifische Form der Trägheit zu Beginn noch rein pathologisch betrachtet wurde, ehe mit der Zeit die psychologische Dimension an Bedeutung gewann. Das sich in der Konstanz offenbarende ›Traditionsbewusstsein‹ der Melancholie, welches daraus besteht, dass »die signifikante Geste der Melancholie diskursiv aufbewahrt und weitergereicht« (Wagner-Egelhaaf 1997: 11) wird, macht eine Trennung der einzelnen Melancholie-Diskurse – etwa nach Disziplinen – unmöglich. Zwar lassen sich einzelne Traditionslinien unterscheiden (etwa die medizinische, die philosophische), dennoch bestehen sie jeweils synchron und haben ein reziprokes Verhältnis zueinander. Der Begriff ist folglich nur in seiner ganzen, schillernden Natur erfassbar.
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Vgl. Hannah Arendt (2003: 13) und als neuerer Kommentar Johano Strasser (1999).
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Im Mittelpunkt der derzeitigen Diskussion um die Verortung des Menschen in der Arbeitswelt steht die Transformation der Arbeitsgesellschaft. Flexibilität, Mobilität, Dezentralisierung – dies sind die Schlüsselbegriffe, die in der gegenwärtigen Diskussion nahezu formelhaft herangezogen werden, um den Wandel zu beschreiben. Das auf der Oberfläche dieser Diskussion inszenierte Spannungsverhältnis nimmt sich wie folgt aus: Die Kluft zwischen gesellschaftlichem Ideal (unbefristeter Vollzeitarbeit) und Realität (die Erosion der Normalarbeitsverhältnisse wie sie unter anderem Richard Sennett beschreibt) manövriert das als Animal laborans verstandene Subjekt in einen defizitären Zustand, der in seiner Prekarität den Appell eines Sich-ständig-neu-erfinden-Müssens beinhaltet; und zwar ausgerichtet an einem postindustriell geprägten Leitbild. So konstatiert die Literaturwissenschaftlerin Susanne Heimburger, die »postfordistische Arbeitsorganisation« fordere einen »veränderten Subjektbegriff«: »Die feste Identität des […] Subjekts löst sich auf und macht permanenter ›Modulation‹ (Deleuze) und einer unbestimmten Subjektivitätsform Platz, die sich variabel an die situativen Anforderungen anpassen muss« (Heimburger 2010: 67). An diesem Punkt kommt der für die Sennett’sche Analyse zentrale Begriff des ›Drift‹ (vgl. Sennett 1999: 15–31) ins Spiel. Hierunter wird (1.) eine Form dieser neuen Art der Entfremdung verstanden, die (2.) in ihrer allgemeinen Verfasstheit deutliche Parallelen zum Melancholie-Begriff aufweist, wie ich im Weiteren näher darstellen werde. Mit seinen überaus populären Schriften The Corrosion of Character (1998) und The Culture of the New Capitalism (2006) hat Richard Sennett wie kaum ein anderer Soziologe die Diskussion um die sozialen Auswirkungen des Wandels geprägt. Der relative Schematismus seiner Art der Darstellung zeigt sich mit Blick auf die Realität: So ist und war die von ihm in der Diskussion um die prekär werdende Arbeitsgesellschaft als Norm und Ideal dargestellte unbefristete Vollzeitarbeit für alle Beschäftigten im Grunde schon immer ein »soziales Imaginäres« (Ahrens 2009: 77), dennoch dient sie Sennett immer noch als Folie für die gewandelten Zustände, wie wir im Folgenden sehen werden.
R ICHARD S ENNETTS T HEOREM
DES
»D RIFT «
In seinen beiden oben erwähnten Essays beschreibt Sennett den sogenannten ›modernen‹ Kapitalismus und versucht zu ergründen, welchen Einfluss der Wandel auf den Charakter des Menschen hat. Er folgert: »the culture of the whole from a small part of society, just because the avatars of a particular kind of capitalism have persuaded so many people that their way is the way of the
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future.« (Sennett 2006: 12) Als Beispiele dienen Sennett die Erwerbsbiographien einiger weniger Personen, die er zum Teil zu halbfiktiven Fallgeschichten zusammenschließt.Ͷ Entscheidendes Moment des Wandels ist laut Sennett die veränderte Wahrnehmung der Zeitdimension. Die bereits in der Moderne begegnende Infragestellung der Erzählbarkeit des Lebens erfährt demnach angesichts der neuen Entwicklungen eine abermalige Zuspitzung. Verlief die Zeit für die Vorgängergeneration scheinbar linear und ermöglichte dadurch den Entwurf eines linear erzählten Lebens, ist sie nun mehr denn je fragmentiert, und das Subjekt fühlt sich nicht mehr als Souverän der eigenen Lebenszeit. Flexibilität und Mobilität kosten den festen Rahmen, und es entsteht Angst um die Stabilität des eigenen Gefühlslebens und vor einem ziellosen DahinTreiben (vgl. Sennett 1999: 15–20). Der Mensch beginnt sowohl beruflich als auch privat zu ›driften‹. Diese Form der Haltlosigkeit findet ihren Anfang in wiederholten Arbeitsplatz- und Wohnortwechseln und wirkt sich letztlich negativ auf die emotionale Konstitution der Menschen aus. Die paradoxe Forderung nach ›flexibler Spezialisierung‹ beinhaltet das Credo: Pass du dich dem Wandel an, anstelle ihn beherrschen zu wollen! (Vgl. Sennett 1999: 51) »Time’s arrow is broken« (ebd.: 98), schreibt Sennett und bemerkt weiter: »The conditions of time in the new capitalism have created a conflict between character and experience, the experience of disjointed time threatening the ability of people to form their characters into sustained narratives.« (Ebd.: 31) Dieser Mangel an Kohärenz greift aus dem Erwerbsleben in das Gefühlsleben der Menschen über, da im flexiblen Kapitalismus keine anhaltenden Beziehungen und dauerhaften Ziele mehr möglich sind. Die Folge: Ethische Werte wie Loyalität, Vertrauen und Verbindlichkeit verkommen im ›neuen Regime‹ der kurzfristigen Zeit (vgl. ebd.: 23) zu abstrakten Tugenden; die Menschen leiden unter Desorientierung und haben Probleme, ein stabiles ›Ich‹ zu entwickeln. Der ort- und beziehungslose Mensch wird zum getriebenen ›Drifter‹. Der vom modernen Kapitalismus verlangte ›Idealmensch‹ kennt solche Probleme selbstverständlich nicht: Er hängt nicht an festen Zuständen, an langfristigen oder stabilen Bindungen, er ist extrem risikobereit und muss ohne ein konstantes Ichgefühl auskommen können: »This idealized person [...] does not
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In Analogie zur Sennett’schen Praxis der halbfiktiven Fallgeschichten werde auch ich die Protagonisten der von mir analysierten Romane als Fallgeschichten präsentieren. Dies ist in keinem Fall in dem Sinne zu verstehen, dass die Literatur an dieser Stelle als bloßer ›Steinbruch‹ der Soziologie fungiert; ganz im Gegenteil liegt mein Fokus auf der Andersgelagertheit der literarischen Perspektive.
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cling to others.« (Sennett 2006: 46) Dass dieses ideale Ich wenig mit der Realität zu tun hat, hat Sennett auf theoretischer Ebene ausführlich behandelt. Die Frage, wie man sein eigenes Leben für sich sinnvoll gestaltet, wie man sich als ›nützliches‹ Mitglied der Gesellschaft fühlen kann, ist in Zeiten des Postfordismus anscheinend virulenter denn je, auch weil der moderne Kapitalismus die Frage »Who in society needs me?« (Sennett 1999: 146) zu negieren scheint. Das ›Gespenst der Nutzlosigkeit‹ schwebt über den Menschen, so Sennett: »In sum, the material specter of uselessness lifts the curtain on a fraught cultural drama. How can one become valuable and useful in the eyes of others?« (Sennett 2006: 129) Die veränderten Anforderungen der postfordistisch geprägten Arbeits- und Lebenswelten vermindern folglich das Gefühl persönlicher Bedeutung – die logischen Reaktionen sind Apathie (vgl. Sennett 1999: 146) und Passivität; die Antwort auf die postulierte Leistungs- und Risikogesellschaft ist – wie ich im Folgenden darlege – ein Versinken in melancholischer Handlungshemmung. Vor diesem Hintergrund soll aus philologischer Perspektive untersucht werden, ob und wie die Literatur diesen Transformationsprozess aufnimmt, affirmiert oder gar negiert. In Bezug auf die Bildung von Identität ist Sennetts Diagnose verheerend. Wie loten die Texte die Grenzen individueller Selbstvergewisserung in postfordistischen Zeiten aus? Welche Gegenentwürfe oder Utopien bieten sie an?
V ON G EHEMMTEN UND G EFANGENEN : G EGENWARTSLITERARISCHE F ALLBEISPIELE Auf Grundlage dieser Fragestellungen möchte ich mit Terézia Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent (2009), Frédéric Beigbeders 99 Francs (2001) und Bret Easton Ellis’ American Psycho (1991) drei Romane ins Blickfeld nehmen, die als direkte Kommentare zur Diskussion um die transformierte Arbeitswelt zu lesen sind. So heterogen diese Texte in ihrem Ursprung und ihrer Perspektive auch sein mögen, so inszenieren sie doch alle drei die Auswirkungen des von Sennett beschriebenen Wandels in ähnlicher Weise: Sie reflektieren die Entwicklung mittels seltsam passiver Protagonisten, die im besten Sennett’schen Sinn durch ihre Existenz ›driften‹, sich in Form einer melancholischen Handlungshemmung treiben lassen beziehungsweise deren aus der Haltlosigkeit resultierender melancholischer ennui in Destruktivität umschlägt. Die Melancholie wird hierbei zum Modus der kritischen Darstellung. Wie die kulturwissenschaftliche Sekundärliteratur zeigt, hat die Melancholie, welche eher eine »aus Metaphern genährte Chimäre« (Lambrecht 1996: 32) denn
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ein klar definierter Begriff ist, als bürgerliche Befindlichkeit ihre Höhepunkte an gesellschaftlichen Wendepunkten erfahren.5 In der Literatur und der bildenden Kunst wird sie zum Ausdruck für Verlustgefühle sowie diffuse Angst und Hilflosigkeit angesichts einer sich verändernden Welt.6 In unserer heutigen Zeit ist sie u.a. im konkreten Sinn Reaktion auf den politischen und gesellschaftlichen Wandel, auf die Enthumanisierung der sozialen Marktwirtschaft (vgl. Summer 2008: 223). Eine ›verwandtschaftliche‹ Verbindung der beiden Begriffe ›Melancholie‹ und ›Drift‹ ergibt sich nach dieser Lesart in erster Linie durch die gemeinschaftliche Genese aus Zuständen der Orientierungslosigkeit und Haltlosigkeit in einer sich – so der subjektive Eindruck der Betroffenen – rasant verändernden Welt. Die Melancholie wurde und wird immer noch in Zeiten großer Veränderung zum Gestus einer überforderten conditio humana; das soziologische Theorem des ›Drift‹ spiegelt auf emotional-psychologischer Ebene eine Reaktion auf Zustände wider, die als prekär empfunden werden. Ich plädiere folglich dafür, den ›Drift‹ im Sinne einer kontextgebundenen Spielart der Melancholie zu lesen, womit er, um nur einige weitere Beispiele zu nennen, in eine Reihe mit der mittelalterlichen acedia, dem elisabethanischen spleen, dem mal du siècle der französischen Romantiker sowie mit gegenwärtig grassierenden ›Erschöpfungszuständen‹ zu stellen ist, wobei ich ihn als Teil des letztgenannten betrachte. Basierend auf dieser Grundannahme wird mein besonderes Augenmerk beim anschließenden close reading auf dem Mehrwert der literarischen Darstellung und ihrer Untersuchung im Rahmen aktueller Diskussionen liegen, welcher sich ergibt, reiht man die drei Romane in die lange Tradition von Melancholie-Texten ein. Bei meiner Analyse beziehe ich mich neben den zuvor ausgeführten Grundannahmen auf den Melancholie-Begriff Sigmund Freuds. Nach Freud impliziert der Zustand der Melancholie, dass sich für die Betroffenen ein Verlust manifestiert, der aber unbestimmt bleibt, der nicht begründet und nicht benannt werden kann (vgl. Freud 2006: 165). Diese Hemmung der Artikulation auf textinterner
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Viel zitierte Beispiele sind hierbei die Popularität der Melancholie in Folge des durch die Aufklärung hervorgebrachten Metaphysikverlusts und die erneute Aktualität, die die melancholische Stimmung in der deutschen Literatur nach 1989 erhielt.
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Neben ihrer Funktion als Gebärde einer gewissen Hilflosigkeit ist die Melancholie aber auch Ausdruck für das beständige Suchen nach dem oft zitierten ›Sinn des Lebens‹, dem sich die Menschheit seit ihrem Anbeginn verschrieben hat. Je mehr sich der neuzeitliche Mensch im Zuge des zunehmenden Individualismus über seine Tätigkeiten in Arbeits- und Freizeit definiert, desto mehr scheint das (bedrohliche) Fragezeichen hinter dem ›Sinn‹ das Leben des Einzelnen zu bestimmen.
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Ebene zu untersuchen, stellt einen Aspekt meiner Analyse dar: Können die Protagonisten überhaupt artikulieren, was ihnen durch den Transformationsprozess der Arbeitswelt ›verloren‹ gegangen ist?
F ALLGESCHICHTE I: D ARIUS K OPP Profil des Darius Kopp, Protagonist in Terézia Moras Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent: 43 Jahre alt, IT-Fachmann bei einer US-amerikanischen Firma, die drahtlose Netzwerke vertreibt, hat sein Büro am Potsdamer Platz, aufgewachsen in der DDR, nach eigenem Empfinden Teil der Dotcom-Blase, 178 cm, 106 kg, verheiratet mit der Übersetzerin Flora, die als Kellnerin arbeitet. Terézia Moras Roman erzählt eine Woche in Kopps7 Leben, untergliedert in die einzelnen Wochentage, die wiederum in Tag und Nacht eingeteilt sind, womit sich das Buch strukturell dem Lebens- beziehungsweise Arbeitsrhythmus anpasst. Erzählt wird aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers, dessen Bericht sich mit der Ich-Perspektive Kopps verschränkt.8 Obwohl das Buch sich nach dem Arbeitsrhythmus gliedert, gibt es für den ›Arbeiter‹ Kopp genaugenommen keinen Unterschied zwischen Werktagen und Wochenende, Tag und Nacht, San Francisco, London oder Berlin. Durch das in der New Economy herrschende Postulat der absoluten Erreichbarkeit könnte er theoretisch von überall und zu jeder Zeit arbeiten; dennoch wird im Buch kaum Arbeit im eigentlichen Sinn beschrieben. Es sind vielmehr die unterschiedlichen Strategien der Arbeitsvermeidung, die dem Leser begegnen. Nach eigenen Aussagen hatte Kopp bisher eine glückliche Erwerbsbiographie, auch wenn er durch das Platzen der Dotcom-Blase alles verlor: »Er war bei 700.000 virtuellen Dollar angekommen, als alles zusammenkrachte. Im April 2011 stand Darius Kopp ohne Reichtümer und ohne Job da.« (Mora 2001: 10) Kopp bekam zwar direkt im Anschluss eine Anstellung bei einer neuen Firma, die aber kurze Zeit später von ihrem Besitzer an die Konkurrenz verkauft wurde. Der neue Chef entließ, bis auf Kopp, alle Mitarbeiter: »Das hatte nichts mit unserer Person oder unserer fachlichen Kompetenz zu tun, im Gegenteil, unsere Person und unsere fachliche Kompetenz spielten nicht die geringste Rolle.«
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Der Protagonist wird in dem Roman fast durchgängig nur bei seinem Nachnamen genannt, was an andere Angestelltenromane, wie etwa W.E. Richartz’ Büroroman (1976) oder Wilhelm Genazinos Abschaffel-Trilogie (1977–1979), denken lässt.
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In dieser Erzählstruktur spiegelt sich bereits das Kernproblem des Protagonisten: der Aufbau eines konstanten und mit sich identischen ›Ichs‹.
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(Ebd.: 23) Kopp wurde »die Leitung des ›gemeinsamen‹ Büros für das deutschsprachige Mitteleuropa sowie Osteuropa anvertraut[…]« (ebd.: 23), welches er allerdings – und damit sind wir in der erzählerischen Gegenwart des Romans angekommen – allein führt. Somit ist Kopp tatsächlich der einzige Mann auf dem Kontinent, denn seine Kollegen sitzen im außereuropäischen Ausland.ͻ Die spezifische Ironie des Romans entfaltet sich durch einen Gegensatz: Obwohl die Firma Drahtlosnetzwerke vertreibt, gestaltet sich die Kommunikation von Kopp und seinen Kollegen äußerst schwierig, und die Dinge entgleiten ihm zusehends. Eine Tatsache, die er auf Grund seines »unbeschwert leichtfertig[en]« (Bucheli 2009: 25)10 Charakters vorerst erfolgreich zu ignorieren vermag, sodass er sich selbst im inneren Gleichgewicht wähnt. Dieses lässt sich nur durch den permanenten Selbstbetrug – und damit durch die Negation des tatsächlichen Selbst – aufrechterhalten. Er repräsentiert zwar das klischeehafte Ideal des Business-Man (Anzugträger, Leihwagenfahrer, immer die Laptoptasche über der Schulter, süchtig nach Automatencappuccino mit extra Zucker), doch kann in seinem Fall von diesen rein äußerlichen Konventionen nicht auf zielführende inhaltliche Verhaltensweisen geschlossen werden; die Realität entspricht nicht dem Ideal. Zwar hält er sich für hocheffizient, schafft im Endeffekt aber nichts. Er steckt im Gefälle zwischen der »glänzenden Oberfläche der urbanen Geschäftswelt auf der einen Seite« und dem »tatsächlich[en] Zustand derjenigen, die sich darin bewegen, auf der anderen« (Albath 2009). Was Kopp von der aktiven Teilnahme an der realen Arbeitswelt abhält, ist vor allem die virtuelle Welt, wie die Beschreibung seines Arbeitstags offenbart: »Er begann, wie immer, ›zu Hause‹. [...] Wie im Vorschaufenster gut zu sehen, war die letzte Nachricht Wochen alt, Kopp hatte sie also schon einige Male gelesen, er konnte trotzdem nicht anders, als auch diesmal draufzuklicken [...]. Kopp wechselte zur Nachrichtenseite. Das ist die uns in Fleisch und Blut übergegangene Reihenfolge: Startseite, Nachrichtenseite, Businessnews, Börse. [...] Hier hatte er genug, war bereit aufzuhören bzw. anzufangen, aber wie sagte ich weiter oben, lieber Freund: es passieren winzige Dinge, zum Beispiel erscheint in der rechten unteren Ecke des Bildschirms ein kleines Fenster
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Sennett schreibt zu dieser spezifischen Form von Eigenständigkeit: »Under such conditions people are indeed on their own, left to their own devices as how best to respond to targets, commands, and performance evaluations from the center. The celebration of self-management is, though, hardly innocent. The firm need no longer think critically about its own responsibilities to those whom it controls« (2006: 61).
10 Mora selbst bezeichnet Kopp als einen »lächelnden Alles-ist-in-Ordnung-Trottel« (Hirsch/Rüdenauer 2009).
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mit der Auskunft: Sie haben neue Mail-Nachrichten erhalten. Minimiere Browser, öffne Mailbox. [...] Noch einmal die Maus nach oben, auch diese Seite geschlossen, jetzt war der Browser ganz zu, gut so, einmal verschnaufen bevor ... das Handy klingelte und Juri verfrüht (!) vor der Tür steht. Was hätte Kopp da noch tun können?« (Mora 2001: 133ff.)
Kopp ist »Lost in Links« wie Wiebke Porombka treffend diagnostiziert (Porombka 2009: 24). Die Welt außerhalb des Bildschirms wird für ihn irrelevant (vgl. Auffermann 2009), und er lässt sich ziellos im Internet treiben. Diese ›Melancholie 2.0‹ zeigt sich in einem imaginären Dialog Kopps: »Herr Doktor, was soll ich machen, mindestens einmal am Tag habe ich so einen toten Moment. Manche sagen: Punkt. Egal, ob ich gerade etwas tue, das ich gerne tue oder das Gegenteil. Es scheint davon unabhängig zu sein. Immer kommt dieser Moment, wenn Kopp deutlich spürt: ein Weg ist zu Ende, ein Schwung hat sich verbraucht. Selbst wenn man noch entfernt ahnt, was man theoretisch als Nächstes tun könnte, ist gerade das nicht möglich. Um was auch immer zu tun, braucht man seinen Körper, und dieser fühlt sich im Moment an, als wöge er 6 Tonnen.« (Mora 2001: 161)
Deutlich offenbart sich hier Kopps Handlungshemmung angesichts unendlich vieler Möglichkeiten und einer gewissen Art von Rahmenlosigkeit in der vernetzten Welt. Gefangen in einem Korrelat aus tatsächlichem Gewicht, subjektiv wahrgenommener Schwere, dem Gefühl des energetischen Ausgesogen-Seins sowie einer unzureichend verborgenen Gefühlsarmut versinkt er in die »Abgründe des Multitaskings« (Albath 2009). »In diesem gefräßigen Immer-erreichbar-, Immer-im-Dienst-Sein versiegen die Gefühle« (Auffermann 2009), und dieses aufzehrende Moment bestimmt Kopps Charakter ganz grundlegend. Am Ende der Woche lauter sich aufzehrender und nicht zielgerichteter Energien stehen sein Zusammenbruch und ein Klinikaufenthalt (vgl. Mora 2001: 366) sowie die Nachricht, dass sein Arbeitsplatz auf Grund einer Fusionierung wegrationalisiert wurde (vgl. ebd.: 372). Das Buch schließt mit dem Entschluss Kopps, sich auf seine Ehefrau zu ›besinnen‹. Dies kann als Versuch gelesen werden, die zerstörte Grenze zwischen Beruflichem und Privatem neu zu ziehen und die Prioritäten, die einem das postfordistische Ideal bisher vorgab, zu überdenken.
F ALLGESCHICHTE II: O CTAVE P ARANGO Profil des Protagonisten Ocvtave Parango in Frédéric Beigbeders Roman 99 Francs: Zwischen 30 und 40, Texter bei der Firma Rossery & Witchcraft, Teil
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einer Drogen konsumierenden Werber-Elite, die von Wertezerfall und Oberflächlichkeit geprägt ist. Bereits zu Beginn des Romans offenbart der Protagonist seine zynische Einstellung gegenüber seinem Beruf. »Ich bin Werber: ja, ein Weltverschmutzer. Ich bin der Typ, der Ihnen Scheiße verkauft. [...] Ich fixe Sie mit Neuheiten an, die den Vorzug haben, dass sie nicht neu bleiben. [...] Ihr Leiden dopt den Handel. [...] Der Hedonismus ist kein Humanismus, sondern Cashflow. [...] Meine Tage sind ein endloses Zapping zwischen [...] acht Bränden [Projekten], die ich zu löschen habe.« (Beigbeder 2002: 15)
Octaves Zynismus über seine eigene Rolle in der Gesellschaft ist bereits in Resignation umgeschlagen. Die Passivität des Protagonisten zeigt sich in dem Wort ›Zapping‹: Er ›springt‹ nicht etwa zwischen seinen acht Projekten/Bränden hin und her, er ›zappt‹, als wäre er ein unbeteiligter und gelangweilter Zuschauer. Der Roman gliedert sich in sechs Abschnitte, überschrieben mit 1. Ich, 2. Du, 3. Er, 4. Wir, 5. Ihr, 6. Sie. Erzähler ist dabei immer Octave. In den wechselnden Personalpronomen drückt sich die Suche nach einem stabilen ›Ich‹ und die zunehmende Entfremdung von dem aus, was das ›Ich‹ einmal war oder sein sollte. Das Hauptthema des Romans ist die verzehrende Leidenschaft des Konsums, worüber Octave zynisch anmerkt: »›Du wirst schon noch reden‹, sagte man früher zu Menschen unter der Folter, heute heißt es: ›Du wirst schon noch wollen.‹ Das Leiden ist größer, weil zehrender.« (Ebd.: 48) Von diesem aufzehrenden Moment ist auch Octave betroffen. Auf die Frage eines Kollegen, »Sag mal, Octave ... bist du irgendwie müde in letzter Zeit?«, antwortet er: »Seit ich auf der Welt bin.« (Ebd.: 38) Doch anders als Kopp versinkt er nicht in der Unfähigkeit zu handeln, sondern beginnt, nach den (selbst-)destruktiven Regeln seines Milieus zu ›spielen‹. Diese Entwicklung kulminiert letztlich in der Schändung und Ermordung einer alten Frau, die als Repräsentantin des »weltweiten Aktionariats« (ebd.: 187) für die arbeitslos gewordenen Globalisierungsopfer ›büßen‹ muss. Das Ende des Romans ist von einer Koinzidenz von Ereignissen geprägt: An dem Tag, an dem Octave zum Creative Director befördert wird, begeht er einen Mord (vgl. ebd.: 194), und an dem Tag, an dem er einen Preis für einen seiner Werbespots erhält, wird er verhaftet (vgl. ebd.: 234ff.). Zum Schluss sitzt er als tuberkulosekrankes ›Wrack‹ im Gefängnis und schreibt 99 Francs. Sein Fazit über die Rolle des Menschen im modernen Kapitalismus ist vernichtend:
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»Ihr seid Produkte einer Epoche. Nein. Der Epoche den Vorwurf zu machen ist zu einfach. Ihr seid Produkte. Da Menschen für die Globalisierung uninteressant sind, musstet ihr Produkte werden, damit sich die Gesellschaft wieder für euch interessiert. Der Kapitalismus verwandelt Menschen in verderbliche Joghurts und dopt sie mit Spaß, das heißt, drillt sie auf die Vernichtung ihres Nächsten. [...] Wenn man den Leuten zu oft erklärt, dass ihr Leben keinen Sinn hat, drehen sie irgendwann völlig durch, rennen schreiend durch die Gegend, weil sie ein Dasein ohne Zweck nicht hinnehmen können, und wenn man sich das einmal überlegt, ist es auch wirklich ziemlich unerträglich, sich sagen zu müssen, dass man zu nichts da ist außer zum Sterben, und da wundert es einen dann nicht, dass jeder auf dieser Welt einen Stich hat. [Herv. i.O.]« (Ebd.: 231, 248)
Octaves Narzissmus steigert sich am Ende ins Messianische, wie der Duktus des Zitates zeigt. Seine Diagnose: Die Verdinglichung der Menschen in einer konsumfixierten Gesellschaft führt zum ultimativen Sinnverlust und zur Destruktion des Umfelds.
F ALLGESCHICHTE III: P ATRICK B ATEMAN Profil des Protagonisten Patrick Bateman in Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho: 26 Jahre alt, ›Yuppie‹, Wertpapiermakler an der New Yorker Wall Street, Studium in Exeter und Harvard, vermutlich beziehungsweise angeblich zuständig für die Inszenierung feindlicher Übernahmen, wird von seinen Freunden wiederholt als »boy next door« (Ellis 2006: 11) bezeichnet. Das Ideal der Zeit wird direkt auf der ersten Seite des Romans eingeführt. Pierce, Batemans Chef, sagt zu Bateman: »I’m resourceful, [...]. I’m creative, I’m young, unscrupulous, highly motivated, highly skilled. In essence what I’m saying is that society cannot afford to lose me. I’m an asset. [...] I mean the fact remains that no one gives a shit about their work, everybody hates their job, I hate my job, you’ve told me you hate yours. [Herv. i.O.]« (Ebd.: 3)
Deutlich markiert ist hier die Linie zwischen Ideal und Realität: Obwohl man als unverzichtbarer Bestandteil der Gesellschaft fungiert, und zwar durch die erfolgreiche Ausübung eines angesehenen Berufs, bringt man diesem ›Statuslieferanten‹ nur ein Gefühl entgegen: Hass. Die Verortung des Ichs in positiven Lebensumständen wäre möglich, wird aber nicht vollzogen; man gehört zur Elite und (er-)trägt diesen Status nur im Modus des ennui.
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Für Bateman ist deshalb alles wichtiger als sein Beruf. Die erste Büroszene findet sich somit auch erst auf Seite 63 des Romans und beschreibt keine einzige tatsächliche Arbeitshandlung: Bateman blättert durch das Wall Street Journal und die Financial Times und erkennt nur sinnlosen Buchstabensalat (vgl. ebd.: 64). Tagsüber bleibt Bateman auffallend passiv. So interveniert er beispielsweise nicht, als ein Freund mit seiner Verlobten flirtet, da es ihn offensichtlich nicht interessiert (vgl. ebd.: 22). Im Vergleich dazu ist er aber den Tränen nahe, als er um eine Reservierung in einem High-end-Restaurant bangen muss (vgl. ebd.: 39); eine auf den ersten Blick absurde Form der ›Empfindsamkeit‹. Die Figuren des Romans sind, mit Sennett gesprochen, »cosmopolitan characters who dwell in material desires which die when consummated« (Sennett 2006: 138). Bateman leidet unter dieser sich selbst verzehrenden Leidenschaft und wird im Angesicht der unendlichen Möglichkeiten handlungsunfähig (vgl. u.a. Ellis 2006: 112). Auch sitzt ihm die Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg im Nacken.11 Die Oberflächlichkeit und der Werteverfall in der YuppieSubkultur der 1980er Jahre führt Bateman in die absolute Destruktion seines Umfelds; die von ihm ausgeübte extreme Gewalt kann als Versuch gelesen werden, auf sein Umfeld »beeindruckbar [Herv. i.O.]« (Winkels 1997: 251) zu wirken. Ohne wirkliches Ziel driftet er von Mord zu Mord und verliert sich in einer Spirale aus Konsum, Langeweile und Destruktion. Auch wenn wir uns mit dem Roman im zeitlichen Rahmen der 1980er und 1990er Jahren bewegen, sind Parallelen zu gegenwärtigen Entwicklungen deutlich, die im Nachhinein selbst Bret Easton Ellis überraschten. So äußerte er 2006 in einem Interview über das in American Psycho beschriebene Leben hinter einer Fassade, die nicht zu durchblicken ist: »Ich dachte damals, dass das ein besonderes Kennzeichen der neunziger Jahre wäre – es ist aber komplizierter, es ist Teil unserer Kultur. [...] Es geht um die Regeln, die die Gesellschaft dem Einzelnen auferlegt. Aber die Gesellschaft ist verlogen, ist verrottet, ist verloren – am Ende hält man sich an die Regeln und geht doch leer aus.« (Diez 2006) Bereits der erste Satz des Romans nimmt die Diagnose vorweg: »ABANDON ALL HOPE YE WHO ENTER HERE [Herv. i.O.]« (Ellis 2006: 3), ein Graffiti an der Fassade eines Bankgebäudes. Der Leser und auch die Protagonisten befinden sich in Dantes Vorhölle, aus der es, so der letzte Satz des Romans, »THIS IS NOT AN EXIT [Herv. i.O.]« (ebd.: 399), keinen Ausweg gibt. Keinen Ausweg woraus? Aus dem destruktiven Kreislauf, der den kapitalistischen Markt bestimmt, dessen von Ellis’ inszenierte Regeln und Ideale – Brutalität, Rücksichtslosigkeit, feind-
11 Diese ihn ständig begleitende Angst ist repräsentiert in den Leitmotiven des Bettlers und des Les Miserables-Plakats vgl. u.a. Ellis (2006: 128f.).
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liche Übernahmen – Bateman unreflektiert auf sein gesamtes Handeln überträgt. Die Werte des Kapitalmarktes und seine ›pomophia‹12 (»this fear of things ›falling apart‹« [Storey 2005: 57]), lassen aus ›merger and acquisition‹ ›murders and executions‹ werden (vgl. Ellis 2006: 206). Zwischen seiner angeblichen Verortung in der Gesellschaft – als wertgenerierender Akteur des ökonomischen Systems – und seiner tatsächlichen serienmörderischen ›Tätigkeit‹ tut sich folglich eine Kluft auf, in der keine identitätsstiftende Verortung möglich ist. Bateman selbst stellt die Diagnose: »... there is an idea of a Patrick Bateman, some kind of abstraction, but there is no real me [...]. I simply am not here.« (Ebd.: 376f.) Er ist der Mensch nach dem kompletten Ich-Verlust, der aus der Unmöglichkeit resultiert, seine Leidenschaften dauerhaft zu befriedigen, da es sich, mit Sennett gesprochen, um »self-consuming passion[s]« (Sennett 2006: 138) handelt, in denen Überfluss und Überdruss eine sich verheerend auswirkende mésalliance eingehen. Bateman ist damit am ausweglosen Ende der Entwicklung angekommen; er ist finale Figuration der Konsumkultur und des liberalen Kapitalismus (vgl. Baelo Allué 2002).
D IE A LTERNATIVE
ALS
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In erstaunlich deutlicher Übereinstimmung mit der Sennett’schen Diagnose inszenieren alle drei Texte die Auswirkungen der sich verändernden Arbeitsrealität auf ihre Protagonisten. Sind es in Moras Text die Ortlosigkeit in der virtuellen Realität der New Economy und die verheerenden Auswirkungen der prekär gewordenen Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, die Kopp driften lassen, so zeigen Beigbeders und Ellis’ Romane, wohin die Übernahme der von den Autoren postulierten Ideale des modernen Kapitalismus die an Ich-Verlust leidenden Protagonisten führen kann, wenn sowohl Arbeit als auch Freizeit ihr sinnstiftendes Potenzial eingebüßt haben. Keiner der Protagonisten schafft es, ein konstantes ›Ich‹ und eine kohärente Lebensgeschichte aufzubauen – insofern sie es überhaupt noch ernsthaft versuchen. Mit American Psycho inszeniert der älteste Text meines Korpus die Entwicklung am verheerendsten und ohne Aussicht auf einen Ausweg. In Beigbeders Roman führen die Haltlosigkeit und der Werteverfall des Protagonisten zu einem ähnlichen Weg, allerdings holt ihn die Gesellschaft in Form der Judikative wieder ein. Die Möglichkeiten der individuellen Selbstvergewisserung werden von allen drei Romanen als äußerst prekär dargestellt, und sie kommen damit zu einem kritischen Befund im Sinne Sennetts.
12 Kurz für postmodern phobia, vgl. Thomas B. Byers (1995).
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So deutlich alle drei Texte die Auswirkungen der veränderten Arbeitsrealität auf die Protagonisten kritisch reflektieren, so heterogen erscheinen sie auf den ersten Blick in ihrem Aufzeigen von Alternativen – ein Eindruck, den der zweite Blick jedoch revidiert. Am Ende von Moras Roman steht zwar die Ankündigung einer Alternative zum status quo: Auf den Zusammenbruch des Protagonisten folgt seine Besinnung auf das Private und Emotionale. Diese Projektion des Erlösungsversprechens in die Privatsphäre lässt sich hingegen schwerlich als wirkliche Alternative bezeichnen, vielmehr markiert sie die Strategie des Protagonisten, jeweils nur an der Oberfläche der Probleme zu ›operieren‹. Der Leser kann nur vermuten, wie es Kopp in Zukunft ergehen wird, aber vor dem Hintergrund, dass er bereits zwei ›geplatzte Blasen‹ überstanden hat, lässt sich annehmen, dass die Geschichte von vorne beginnen und der Protagonist der Burn-OutSpirale der New Economy verhaftet bleiben wird. Seine DDR-Vergangenheit wird für ihn nicht zur Folie, um davor einen Gegenentwurf zum herrschenden System zu thematisieren. Zwar ist für Kopp ein früherer Zustand erinnerbar, aber gegenwärtig scheinen alle seine Versuche, sich in der Arbeitswelt zu verorten, auf den gleichen Endpunkt zuzulaufen. Auch Patrick Bateman bleibt dem neoliberalen Kreislauf verhaftet. American Psycho verneint die Möglichkeit eines Auswegs aus dem subjektiv als krankhaft wahrgenommenen System. Der Roman praktiziert die ultimative Negation einer historischen Dimension von Gegenwart: Sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft der Protagonisten wird ausgeklammert; alles was zählt, ist das Hier und Jetzt (vgl. Winkels 1997: 243). Ein anderer Zustand ist folglich ebenso wenig vorstell- wie erinnerbar. Einzig Beigbeder unternimmt den ausführlicheren Versuch eines alternativen Entwurfs. So beschreibt das letzte Kapitel eine Utopie, die auf den ersten Blick dem von Postmoderne und Posthistoire konstatierten ›Ende der Utopien‹13 zu widersprechen scheint: Die Wohlhabendsten der Gesellschaft haben es geschafft, aus der destruktiven Spirale der Gegenwart auszubrechen, indem sie sich auf Ghost Island im Cayman-Archipel zurückgezogen haben. Hier leben sie ein landläufig als ›glücklich‹ verstandenes Leben, kreisend um weißen Sand, blauen Himmel, salziges Wasser (vgl. Beigbeder 2002: 248). Diese perfekte SüdseeIdylle im Sinne von Rousseaus ›Zurück-zur-Natur‹ paart sich mit der Erfüllung des Wunsches nach Unsterblichkeit durch die Fortschritte der modernen Medizin (vgl. ebd.: 256). Der anfängliche Anschein, den »Ausweg« (ebd.: 252) gefunden zu haben, der Welt »entkommen« (ebd.) zu sein, erweist sich aber schnell als trügerisch: »Auf Ghost Island sind ein paar Monate vergangen. [...] Sie vegetie-
13 Zu dieser Zeitdiagnose vgl. u.a. Joachim C. Fest (2007) und Richard Saage (2010).
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ren in der üppigen Vegetation dahin. [...] Keine Alternative zur wirklichen Welt. Azur, Azur, Azur, sie haben eine Überdosis Azur abbekommen, sie leiden an Paradiesverstimmung [...]. Keine Alternative zur wirklichen Welt. [Herv. i.O.]« (Ebd.: 263ff.) Das Paradies wird auf Grund der Abwesenheit einer subjektiv als ›sinnvoll‹ wahrgenommenen Beschäftigung nach nur fünf Textseiten zur Hölle, und am Ende bleibt den Protagonisten nur der sprichwörtliche Gang ins Wasser. Beigbeder spielt in diesem letzten Kapitel sämtliche Klischees einer arbeitsfreien Utopie durch, um zu dem Schluss zu kommen, dass auch diese keinen Ausweg bietet; dass es keine Alternative gibt. Die scheinbare Utopie wird zur Dystopie, die die Möglichkeit einer positiven Alternative synchron mit ihrem Entwurf negiert. Kopp, Bateman, Octave – alle drei Protagonisten erscheinen als im System Gefangene und in gewisser Weise gehemmt gegenüber systemimmanenten subjektiven Handlungsstrategien der Veränderung. Trotz ihres hohen gesellschaftlichen Status finden sie keinen Ort, der ihnen als ›Anker‹ für ihre Identität dienen könnte, ganz im Sinne von Sennetts »As a general rule, identity concerns not so much what you do as where you belong.« (Sennett 2006: 72) Die Kritik an der conditio humana wird im Chor angestimmt, Auswege aber werden negiert. Aus einer melancholisch geprägten Perspektive, die ich in der derzeitigen Diskussion diagnostiziere, ist die Imagination eines anderen, vielleicht sogar ›utopischen‹ Zustands unmöglich, wie ihn auch Günter Grass in dem vorangestellten Motto konstatiert. Der affirmativen Aufnahme der aktuellen Diskussion folgt die Inszenierung einer Leerstelle. Die prekär gewordenen Möglichkeiten der individuellen Selbstvergewisserung zeigen den als Animal laborans definierten Menschen als unzeitgemäßes Mangelwesen, das keine Alternative imaginieren kann, dem durch seine Fixierung auf die Gegenwart nicht einmal bewusst ist, was es in seiner Melancholie eigentlich betrauert, welcher Zustand ihm verlustig gegangen ist. Im Spannungsfeld zwischen ›Alles ist möglich‹ und ›Alles ist schon einmal dagewesen‹ ein alternativer Lebensentwurf weder als Erinnertes noch Erdachtes möglich – er bleibt eine Leerstelle.
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The Quest for a Perfect Living Environment Narrative Constructions of Working and Housing Imaginaries in Paul Auster’s Sunset Park N ADINE B OETTCHER
I.
I NTRODUCTION
A strong work ethic is one of the essential traits that is said to lead to success in America (cf. Adams 1931). Since the arrival of the Pilgrims and the Puritans in the New World, the belief that if you work hard, freedom and happiness and in some cases material wealth will come as a result, has manifested itself in the American mind (cf. Cullen 2003). This belief has spread globally and attracted millions of people to come to the United States of America to pursue what is popularly called the American Dream. As much as life and living conditions have changed over the centuries, so has the American Dream. The initial notions, however, have remained. Peter Freese identifies two of these initial notions in his »America«, Dream or Nightmare? Reflections on a Composite Image as »the future oriented belief in a steady improvement of the individual, communal and societal conditions of existence, that is, the belief in PROGRESS [all capitals used i.o.]« (Freese 1994: 108) and »the conviction that everybody can realize his highest ambitions by means of his own endeavours, that is, the belief in the general attainability of SUCCESS« (ibid.). These initial notions inspired the first Puritan settlements in the American colonies to form new communities based on the wish to establish a perfect society. Robert V. Hines defines these new communities as utopian colonies created by »a group of people who are attempting to establish a new social pattern based upon a vision of the ideal society and who have withdrawn themselves from the community at large to embody that vision in experimental form« (Hine 1953: 5). Whether this vision be religious or secu-
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lar, it, however, remains exactly that, a utopia, a concept of the mind, an imaginary space. In times of both personal and national crises, people have turned to these beliefs and developed their utopian visions in order to remain hopeful and to successfully master difficult situations. During the economic crisis and the recession in the first decade of the 21st century, Americans attempted to cling to these beliefs in order to deal with the loss of savings, businesses, jobs and even homes.1 One example of how the recent economic crisis and the contemporary working situation are dealt with in literature is Paul Auster’s novel Sunset Park (SP).2 The novel’s characters struggle with their personal and professional lives in 2008. The economic meltdown of post-recession America is evident in the streets of Florida where twenty-eight-year-old Miles Heller focuses on objects – including homes – abandoned by people as a result of the financial collapse. An abandoned house in New York City subsequently becomes a new home for Miles and his fellow squatters, Alice, Bing and Ellen, because they do not make enough money to support themselves. Throughout Sunset Park the reader is confronted with two types of abandonment precipitated by the lack of work and money: the physical abandonment of houses and belongings on the one hand, and the characters’ emotional abandonment of themselves, their partners and families on the other. Through the emotional process of abandoning their pasts and their fears, the characters attempt to create a space in which they are able to survive and pursue their individual dreams. Although Miles, Bing, Alice and Ellen all have their individual life stories, the four characters are united by their personal pursuit of a fulfilled life that contains a satisfying job, a decent salary and a happy relationship. Additionally, they are united by the quest for living environments that suit their individual situations. Their dedication to an artistic and alternative working life results in low incomes and financial troubles; as a consequence, all of them need to find affordable housing. The quest for living environments that suit their individual situations and the act of occupying the house in Sunset Park in order to pursue their personal happiness is utopian. Miles, Bing, Alice and Ellen, however, transform the house in Sunset Park into a heterotopia, a »counter-site […], a kind of effectively enacted utopia in which real sites, all the other real sites that can be found
1
See Cullen (2003) for the role that upward mobility, equality and home ownership
2
In the subsequent references to Sunset Park the abbreviation »SP« will be used in pa-
play in American society. rentheses before the page number.
T HE Q UEST
FOR A
P ERFECT L IVING E NVIRONMENT
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within the culture, are simultaneously represented, contested and inverted« (Foucault 1986: 24). By moving into the house in Sunset Park, the characters construct a heterotopic space, in which they are temporarily able to materialize their longings.3 This new home represents the characters’ mental resistance to mainstream society, even as they (are forced to) continue to physically move between society and their established living environment. The ephemeral heterotopic entity can be understood in the classic sense based on Michel Foucault’s definition in Of Other Spaces,4 but it does not represent the same kind of heterotopic space for each character; instead, the significance of space, the type of heterotopia, depends on his and her personal circumstances. To what extent do the characters define themselves through their working and housing situations? Will they successfully master the complex interdependence of work, (un-)employment and identity? A close reading of Sunset Park shows that the four characters construct the heterotopic space in an attempt to fill the existing gap between the living and working conditions that they confront in American society on the one hand and their personal needs for fulfilment on the other hand.
II. (R E -)P RESENTATIONS OF W ORKING L IFE AND THE C ONSTRUCTION OF H ETEROTOPIC S PACES Alice, Bing, Ellen and Miles are united by the quest for a living environment that suits their individual needs and precarious financial situations. They struggle to support themselves financially for different reasons: their jobs do not pay enough, they are not able to put in the hours necessary in order to make enough money, they are additionally working on projects that do not pay or they do not
3
See Boettcher (2013) for an extended analysis.
4
Foucault distinguishes between three different spaces: utopias, heterotopias and mirrors. He defines the heterotopic space as »places that do exist and that are formed in the very founding of society – which are something like counter-sites, a kind of effectively enacted utopia in which the real sites, all the other real sites that can be found within the culture, are simultaneously represented, contested, and inverted. Places of this kind are outside of all places, even though it may be possible to indicate their location in reality. Because these places are absolutely different from all the sites that they reflect and speak about, I shall call them, by way of contrast to utopias, heterotopias« (Foucault 1986: 24).
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have a job. Alice’s situation clearly reflects the situation of many people in postrecession America: »She had lost her apartment, and how can a person rent a new apartment when the person in question doesn’t have money to pay for it? Things would be easier if her parents were in a position to help, but they are barely getting by themselves, living on their social security checks and clipping coupons out of the newspaper in a perpetual hunt for bargains, sales, gimmicks, any chance to save a few pennies from their monthly cost.« (SP: 89)
In 2008, it seems as though hardly anyone is able to escape poverty. The »pursuit of happiness« guaranteed by The Declaration of Independence (Baym et al. 2003: 728) has turned into an »empty pursuit, of no possible benefit to anyone« (SP: 5). Although Alice is devastated, she commits herself to finishing her dissertation. She quits her job at Queens College because it takes up almost all of her time and instead decides to take on a part-time job »at the PEN American Center« (ibid.: 226), because »she believes in the purpose of the organization« (ibid.: 227). This act of abandoning a job that does not coincide with one’s personal beliefs is exemplary for the actions taken by all four characters on their quest for self-fulfilment. Living in the abandoned house in Sunset Park and the fact that she has been able to save money takes pressure off of Alice and allows her to reconnect with herself; as a result, she is able to focus on her goal of finishing her dissertation instead of working constantly in a job that leaves her worrying about her existence: »Not having to pay rent or utility bills for the past four months has saved her close to thirty-five hundred dollars, and for the first time in a long while she can breathe without feeling her chest tighten up on her, without feeling that her lungs are about to explode. Her work is moving forward, she can see the end looming on the horizon, and she knows that she has the stamina to finish.« (Ibid.: 91)
The newly constructed living environment saves Alice from failing. The existential struggle led to a decrease of her confidence and Alice questioned her actions and her identity. At this point in her life moving into the house in Sunset Park allows her to take on and work in a self-fulfilling job while, at the same time, committing herself to finishing her dissertation. She now is in the position to progress and to »realize h[er] highest ambitions by means of h[er] own endeavours« (Freese 1994: 108).
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Like Alice, Bing aspires to pursue his dream »of forging a new reality from the ruins of a failed world« (SP: 71). In order to rebel against the »empty pursuit« (ibid.: 5) and attack the system, he decides to become an independent business owner. By establishing his own company he attempts to unite the necessity to work in order to make a living with the need to give meaning to his work: »That is why he started his business three years ago – because he wanted to fight back. The Hospital for Broken Things is located on Fifth Avenue in Park Slope. Flanked by a Laundromat on one side and a vintage clothing shop on the other, it is a hole-in-the-wall storefront enterprise devoted to repairing objects from an era that has all but vanished from the face of the earth.« (Ibid.: 73)
However, the name of his business – »Hospital for Broken Things« – already indicates that not only people, but also the objects through which they identify themselves are damaged and crushed. Opening the hospital implies that there is a need, or a market, for mending and fixing people’s belongings and possessions, and by extension, mending people (ibid.: 73ff.). The depiction of the location and the purpose of the hospital evoke a nostalgic image of lost times and values that need to be repaired and re-established so that the working and living conditions of the present can be improved. The »Hospital for Broken Things« is Bing’s attempt to construct a utopian work place in a dystopian New York City environment. Bing opposes the existing conditions and argues »[…] that the concept known as America has played itself out, that the country is no longer a workable proposition, but if anything continues to unite the fractured masses of this defunct nation, if American opinion is still unanimous about any one idea, it is a belief in the notion of progress.« (Ibid.: 72)
Even in these times of personal failure and financial collapse, Bing identifies the premise of the American Dream, »the belief in PROGRESS« (Freese 1994: 108) as a uniting element among people in America that provides a foundation for continuance. But Bing disagrees: for him, progress equals decay, the decay of values and dreams. The »Hospital for Broken Things« represents Bing’s dream, his »solitary attack« (SP: 76) on the system of social heteronomy, but the repercussions of the financial crisis force him to find a way to protect his business from decay and bankruptcy. Instead of progressing, Bing has to focus on maintaining, on keeping. He decides to give up his apartment in order to protect the existence of his business (ibid.: 79) and thus his attempted construction of a utopian work place. Even though his evaluation of the current situation and his
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experiences lead him to »take […] it for granted that the future is a lost cause« (ibid.: 72), Bing wants to »participate in [the] communal action« (ibid.: 76) of occupying the abandoned house in Sunset Park. Their failure to establish viable working lives leads Bing and his friends to construct a site of resistance, a heterotopic space where they can each combine the necessity to earn a living with the need for self-fulfilment. This discrepancy between a job through which one is able to pay for essential needs and the desire for self-fulfilment is particularly relevant for Ellen. Like Alice and Bing, she realizes that she is not able to survive while exclusively pursuing her dream of becoming an artist. In addition to improving her drawing skills, she has to find another way to pay her bills and therefore surrenders to a job that defines her only to the extent that it represents her failure as an artist: »Her work as an artist has crashed into a wall, and the bulk of her time is spent showing empty apartments to prospective tenants – a job for which she is thoroughly ill-suited and which she fears she could be fired from any day.« (Ibid.: 107) This description of Ellen’s occupation highlights her real concerns: emptiness and fear. She has lost her creativity in these empty spaces and is threatened with the complete erosion of her identity if she continues to exist this way. It is this job, however, that leads to the discovery of the abandoned house in Sunset Park, and Ellen shares her discovery with Bing. Turning this house into a home gives the characters a new context in which to (re-)constitute their identities and rebel against their current personal working and living conditions: »When Ellen Brice told him about the abandoned house in Sunset Park this past summer, [Bing] saw it as an opportunity to put his ideas to the test, to move beyond his invisible, solitary attacks on the system and participate in a communal action. It is the boldest step he has yet taken, and he has no trouble reconciling the illegality of what they are doing with their right to do it. These are desperate times for everyone, and a crumbling wooden house standing empty in a neighborhood as ragged as this one is nothing if not an open invitation to vandals and arsonists, an eyesore begging to be broken into and pillaged, a menace to the well-being of the community. By occupying that house, he and his friends are protecting the safety of the street, making life more livable for everyone around them.« (Ibid.: 76f.)
Bing justifies their occupying the house by blaming the current economic situation and even imagines this act to be a charitable cause directed towards the people of the neighbourhood of Sunset Park. By taking over the abandoned house and creating this place of refuge, Bing and his friends are able to regain partial control of their lives and improve their
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economic situation. Motivated by their struggle to survive while pursuing their individual dreams and projects, the four move into the abandoned house and construct an alternative living space by producing their own routine and rules: »Bing is telling [Miles] about the various routines and protocols that have been established since they moved in. Each person has a job to perform, but beyond the responsibilities of that job, everyone is free to come and go at will.« (Ibid.: 126) The four friends create their heterotopia of compensation5 through these routines and rules, out of a real space that assumes its significance in contrast to the outside world of the house. In this heterotopic space each one has to contribute to their little community by fulfilling his or her responsibilities. The »job« inside the house enables the characters to compensate for their work failures outside of the heterotopic space. These rules and »jobs« inside the house shape their heterotopic space as it encompasses the world-at-large. At this point, the experiment to fill the gap between the necessity to work in order to fulfil basic needs and the desire for self-fulfilment is successful.
III. T HE D ESTRUCTION OF
THE
H ETEROTOPIC S PACE
Miles’ perception of what the move and the occupation stand for differs from Alice’s. Miles is in a relationship with Pilar, an under-age Florida high school student whose family has tried to blackmail Miles in order to keep him away from her. Afraid of being arrested for seducing a minor, he escapes to New York City.6 Even though the house also represents a place of refuge for him, it is represented as a prison: »The only problem is cash, the same problem all the others are facing. He no longer has a job, and the three thousand dollars he brought with him amount to little more than pennies. Like it or not, then, for the time being he is stuck, and unless something comes along that dramatically alters his circumstances, he will just have to make the best of it. So his prison sentence begins. Pilar’s sister has turned him into the newest member of the Sunset Park Four.« (SP: 127)
5
According to Foucault, a heterotopia of compensation is constructed in order to function as »a space that is other, another real space, as perfect, as meticulous, as well arranged as ours is messy, ill constructed, and jumbled. This […] type would be the heterotopia, not of illusion, but of compensation […].« (SP: 27)
6
See Boettcher (2013) for an analysis of the relationship between the metropolis and the individual.
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Miles had to leave his established living and working environment in order to protect himself from a possible arrest and prison sentence. He experiences the house in Sunset Park as a version of a state prison, which Foucault would describe as a heterotopia of deviation.7 By labelling himself, Alice, Bing and Ellen the »Sunset Park Four« (ibid.), Miles separates himself and his fellow housemates from the rest of the world. The expression used to refer to the group underlines that the four characters are united in their quest to improve their situation and that the cause is not determined by a specific gender (role or performance). The characters’ identities in the narrative are not based on male- or female-dominated industries in the work force,8 but instead are defined within the artistic discourse. As a consequence, the alternative space that the characters construct against their usual environmental space can be characterized as a non-gendered heterotopia. Although Miles feels like a part of this group, he has trouble adjusting to the new environment, the neighbourhood existing outside of the house: »He wanders around in the streets, trying to familiarize himself with the neighborhood, but he quickly loses interest in Sunset Park. There is something dead about the place, he finds, the mournful emptiness of poverty and immigrant struggle […], a small world apart from the world where time moves so slowly that few people bother to wear a watch.« (Ibid.: 132)
7
Foucault suggests that the heterotopias of deviation are where those »individuals whose behavior is deviant in relation to the required mean or norm are placed […] of course prisons« (Foucault 1986: 24f.). In Miles’ case the heterotopia of compensation is created based on two factors: firstly, he breaks the law of society by engaging in a sexual relationship with a minor, and secondly, he punishes himself for his shortcoming by leaving Pilar. Hence, both parties – society and Pilar’s family on the one hand and Miles on the other – contribute to the creation of this particular heterotopic space.
8
David Morgan stresses the developments and factors that lead to – as the title of his article already suggests – The Crisis in Masculinity; he argues that changes in culture, social expectations and gender performance have led to shifts in the areas of (female and) male identity. These shifts also include the »structural changes in work and employment« (Morgan 2006: 115). While Morgan’s research offers the possibility to extend the analysis in the context of gender studies, for the purpose of this paper, I will focus on the uniting element for the two female and two male characters and that is the longing for a space in which they are able to exist and continue their artistic missions.
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According to Foucault, »[t]he heterotopia begins to function at full capacity when men arrive at a sort of absolute break with their traditional time« (Foucault 1986: 26). This form of a heterotopia is then referred to as a »heterochrony« (ibid.). Miles perceives the despair of the people living in the neighbourhood of Sunset Park as a heterochronic environment that reflects the impact of the economic crisis. The existence of this heterochronic space in the neighbourhood of Sunset Park outlines once more to which extent work, (un-)employment and identity are interwoven in this society that struggles to survive the financial collapse. The situation of the characters is not an exclusive one: numerous people are affected by the economic crisis and discover that work guarantees neither progress nor success. The two early characteristic features of the American Dream are no longer sufficient in order to continue one’s pursuit of happiness. Like Miles, Ellen is troubled by the new situation. While her financial burden is lifted, her inner emotional conflict weighs heavily on her mind since »[s]he is advancing now, traveling deeper and deeper into the netherworld of her own nothingness, the place in her that coincides with everything she is not« (SP: 215). Unlike Bing, Ellen knows that the living situation in the house in Sunset Park is temporary. She is convinced that »sooner or later you will be gone from Sunset Park, this ratty little house will be torn down and forgotten, and the life you are living now will fade into oblivion, not one person will remember you were here, not even you.« (Ibid.: 224) Ellen’s statement underlines the despair and disillusionment caused by the economic crisis. Additionally, Ellen’s prediction points to the significance of the presence of time in this context. According to Foucault, heterotopias that »are not oriented toward the eternal […] are rather absolutely temporal [chroniques]« (Foucault 1986: 26). Ellen’s awareness of and reflection on the limitations in time and significance in regards to their quest and their existence challenge the validity of the notions of progress and success. She realizes that their lives and selves will become insignificant once their heterotopic construction is destroyed. Eventually, this is exactly what happens: after several notices, the police raid the house, Bing is arrested, Alice ends up in hospital and Ellen and Miles manage to escape. Their heterotopic space is destroyed and in losing their home, they lose their hope and faith in a promising future. On his way to Manhattan Miles ultimately »wonders if it is worth hoping for a future when there is no future, and from now on, he tells himself, he will stop hoping for anything and live only for now, this moment, this passing moment, the now that is here and then not here, the now that is gone forever.« (SP: 308) In these last lines of the novel Miles almost entirely erases the concept of the »belief in PROGRESS« (Freese 1994: 108), which the four characters and the
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people in the neighbourhood of Sunset Park have challenged through their constructions of heterotopic and heterochronic spaces. The house in Sunset Park has served as a place of refuge only within its limits of space and time, as an ephemeral heterotopic entity. After the authorities do the work they get paid for and invade the house in Sunset Park, the characters re-enter the space of social heteronomy. According to their ideas and beliefs, this return to the world-at-large implies a failure of their experiment to construct an alternative space in which it is possible to combine the need to make a living with one’s pursuit of selffulfilment.
IV. C ONCLUSION The ending of Sunset Park, however, is inconclusive for the reader. We do not know what happens to the characters or how they will continue their lives after their living environment is destroyed and they are forced to re-enter the worldat-large. Throughout the narrative the characters struggle to close or at least minimize the gap between the necessity to work and earn money and the desire to pursue and accomplish their individual dreams. The novel’s construction of the heterotopia as a possible solution for closing this gap causes the reader to expect a complex unfolding of the story. In accordance with American history and the significance of the notions of hard work, progress and success, the reader wonders whether »in the end everything will work out, because this is America, and in America everything always works out« (SP: 151) or whether, instead, we have to »take […] it for granted that the future is a lost cause« (ibid.: 72). Because the novel’s first chapters are set »[i]n a collapsing world of economic ruin and relentless, ever-expanding hardship« (ibid.: 4), the reader expects the role of and the relation between the heterotopia and the fictional world-at-large to be negotiated through the plot. In a time in which the economic crisis leaves the country, the cities, the neighbourhoods and the individuals searching for and struggling with ways of how to deal with the repercussions, Sunset Park takes on the topic of this existential struggle. The novel, however, deals with the issue only on a superficial level since neither the construction of the heterotopic space nor its destruction changes anything. Miles’ situation in particular illustrates that the experience of the constructed living environment has no consequences. He starts out with »no plans, which is to say, to have no longings or hopes, to be satisfied with your lot, to accept what the world doles out to you from one sunrise to the next – in order to live like that you must want very little, as little as humanly
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possible. Bit by bit, he has pared down his desires to what is now approaching a bare minimum.« (Ibid.: 6) In the end, he decides to »stop hoping for anything and live only for now« (ibid.: 308). Miles’ representation points to the novel’s missing engagement with responsibility. As we have shown, the four characters are confronted with failure, collapse, poverty and abandonment on their quest for self-fulfilment, and although they construct a site of resistance, the heterotopia, the novel fails to investigate the full complexity of these deeply troubling issues and their consequences.
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»The hard life created the hard line.« Arbeit in der autobiographischen Poetik von Charles Bukowski A LEXANDER Z IMBULOV »You sound real.« »I dislike real people.« »You dislike them?« »I hate them.« CHARLES BUKOWSKI/FACTOTUM
Kultfigur der kalifornischen Nachkriegsboheme zwischen Beats, Hippies und Hollywood, später ein fulminanter literarischer Exporthit, erntete Charles Bukowski (1920–1994)1 die finanziellen Lorbeeren seiner Karriere erst als jener ›Dirty Old Man‹, dessen Mythos seine Bücher besingen. Es hatte den Anlauf eines Vierteljahrhunderts gebraucht: zunächst eine Handvoll zwischen 1944 und 1956 belegter Magazinbeiträge,2 über die Folgejahre steigende Präsenz »[in] a myriad of little magazines and mimeograph ventures across the country« (Debritto 2011: 309); ab 1960 selbstständige Publikationen. Angekommen im literarischen Betrieb seiner Zeit, bleibt Bukowski weitere zehn Jahre solcher Binnenkommunikation zwischen Literaten-, Verleger- und Kennerkreisen verhaftet, wo er sicher mehr künstlerische denn monetäre Erfolge verzeichnen kann (zu Auflagenzahlen vgl. Krumhansl 1999). Weitgehend ›normal‹ lebt und arbeitet der Autor jedenfalls noch bis Dezember 1969 und zumeist – trotz eines zweijährigen (abgebrochenen) Studiums – in äußerst kargen ›working-class‹-Verhältnissen. Insofern führt die Selbstbezeichnung ›dirty‹ neben karnevalesken bis pornogra-
1
Detaillierte biographische Angaben im Folgenden nach Roni (2006) und Calonne (2012).
2
Vgl. »Chronological Checklist of Magazine Appearances 1944–1999« auf http://bukowski.net.
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phischen Assoziationen ebenso die ›schmutzige‹, im Sinne von ökonomisch wie sozial prekäre Randexistenz eines angehenden Dichters und Erzählers vor Augen, der sich als Hilfsarbeiter in der Fabrik, im Lager, im Schlachthaus, als Putzmann und Postbote durchkämpfen muss. Dabei umfasst das im Zentrum der Selbstinszenierung stehende Lebenskapitel vom Gelegenheitsarbeiter ›nur‹ den Zeitraum vom Sommer 1941 bis Ende 1957; darauf folgt eine stabile und besser bezahlte Festanstellung als Briefsortierer. Das Jahr 1970 markiert schließlich den Wendepunkt. Nachdem die in Buchform kompilierte Wochenkolumne Notes of a Dirty Old Man (1969) bereits eine Art Startkapital3 gewährleistet hat, verspricht sein künftiger Stammverleger – obwohl an den Notes nicht einmal beteiligt – einen monatlichen Unterhalt von $ 100.4 Erst diese Minimalabsicherung ermöglicht den Absprung in die freie Schriftstellerei und damit die Abfassung eines Großteils der Arbeiten Bukowskis: »Ten collections of poetry, five novels and five short-story collections« (Harrison 1995: 11), so eine mögliche Auswahl an Hauptpublikationen der nachfolgenden Jahre.5
1. E XPOSÉ : A UTOBIOGRAPHIE
UND
P OETIK
Diesen Kanon prägt allerdings eine »midway between fiction and autobiography«6 (Calonne in Bukowski 2008: XV) inszenierte Rückblende auf die als permanente Feuerprobe dargestellte Vergangenheit. Wie es das vollständig in
3
Es handelte sich um 28.000 rasch vergriffene Exemplare zzgl. Lizenzhonorar für die
4
Der Inflationsrechner des US-Arbeitsministeriums (http://www.bls.gov/data/infla-
bald folgende Übersetzung (1970) ins Deutsche. tion_calculator.htm) gibt eine Kaufkraft von ca. $ 590 an. »[T]hey determined his monthly expenses would be ›$ 35 for his rent, $ 20 for groceries, $ 5 for gas, $ 15 for beer and cigarettes, $ 10 to pay the telephone bill and $ 15 for Marina’s child support‹« (Calonne 2012: 99). 5
Für eine umfassende Bibliographie mit Berücksichtigung zahlreicher schmaler chap-
6
Wie der Bukowski-Leser schnell merkt, beharrt das Gesamtwerk trotz mancher Über-
books und einseitiger broadsides vgl. Krumhansl (1999). treibung oder Transgression ins Fantastische auf der Wiedererkennbarkeit einer psychologisch wie historisch realistischen Wahrnehmungswelt. Stets ›erkennt‹ man den Sprecher/Erzähler wieder an seiner Wortwahl oder seinen Ansichten, aber auch weil ein Grundstock an Personen, Orten und Szenen mehrere Inkarnationen vom Gedicht zur Shortstory zum Roman – zurück zum Gedicht etc. – durchläuft.
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dieser Phase entstehende Romanwerk7 in Analogie zu unzähligen Gedichten und Shortstorys veranschaulichen mag, widmet sich der zunehmend erfolgreiche Autor entweder früheren Lebenskapiteln – wie in Post Office (1971), Factotum (1975) und Ham on Rye (1982) – oder er schildert – wie in Women (1978) und Hollywood (1989) – den Alltag eines gestandenen Literaten durch das Prisma einer »survivor«-Perspektive (Calonne in Bukowski 2008: XV). Daneben führen diverse Interviews, Essays und Paratexte explizit aus, wie Bukowski nicht trotz, sondern nur dank seiner Arbeiterbiographie zu dem Dichter/Erzähler habe heranreifen können, der er geworden sei. »The language of a man’s writing comes from where he lives and how«, heißt es etwa in einem Passus aus dem Spätwerk (niedergeschrieben 1991); und weiter: »I was a bum and a common laborer most of my life« (Bukowski 2008: 249). In der autobiographischen Notiz steckt eine poetologische Devise: Die Erfahrungen der Vergangenheit sollen das nachfolgende Schaffen zum einen in moralischer Hinsicht qualifizieren – als das ›wahre‹ Kunstwerk im Zeichen einer mit Passion und Vitalismus bewältigten existenziellen Krise;8 und zum anderen in politischer Hinsicht als historisch-kritischen Blick auf die Klassengesellschaft, den die Mühen gerade des Arbeiteralltags eröffnen. In diesem Sinne avanciert v.a. die länger zurückliegende Phase als vagabundierendes ›Faktotum‹ zum Symbol einer Art ›Geburt der Poesie aus dem Geiste der Lohnarbeit‹. So heißt es schon 1973: »The gods were good to me. […] They made me live the life. It was very difficult for me to walk out of a slaughterhouse or a factory and come home and write a poem I didn’t
7
Bukowski war bis dahin in den Genres Lyrik, Shortstory, Essay und Kolumne in Erscheinung getreten.
8
»What people who want to be writers need is to be put in an area that they cannot maneuver out of by weak and dirty play« (Bukowski 2008: 130) – darunter auch Spielsucht, Gewalt, Alkoholismus, Armut, Krankheit. Exemplarisch sei auf die vielfach fiktionalisierte Initiation an der Schwelle zu den Erfolgen der späten 1950er Jahre verwiesen. Ein aufgeplatztes Magengeschwür führt zu inneren Blutungen, die mehrere Tage lang nicht behandelt werden können. Erst fehlen Bukowskis Papiere, dann Angaben zur Blutgruppe, schließlich landet er in einer Art Todestrakt: »I saw them pull the dead out from all about me« (Bukowski 2008: 94). An diesem Extrempunkt ist die Genesung ebenso wenig ›von dieser Welt‹ – »a nurse arrived like an angel from the sky« (ebd.: 95) – wie die nachfolgende künstlerische Reinkarnation. Bukowski sattelt über Nacht auf Lyrik um und setzt bald zu einem souveränen Durchbruch an: »I don’t know how I got off the short story. […] My style was very simple and I said anything I wanted to. The books sold out right away.« (Ebd.: 97)
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quite mean. […] The hard life created the hard line and by the hard line I mean the true line devoid of ornament. The gods are still good to me. […] I’m no tidy professor with a home in the hills and a piano-playing wife.« (Bukowski 2008: 154f.)
Ungeachtet der wachsenden biographischen Distanz und jenseits einer empfundenen Verpflichtung zu absoluter Deckungsgleichheit zwischen Dichtung und Wahrheit9 schreibt Bukowski dergestalt seinen eigenen literarhistorischen Steckbrief eines »outlaw poet« (Basinski 2001: 116) am äußersten Rand der ›sauberen‹ Dichter- und Denkerwelt (»I’m no tidy professor«). Diese Figur greift die Forschung so bereitwillig auf, dass Person und Persona des ›Dirty Old Man‹ zum Teil kaum unterscheidbar werden. Ein Lexikoneintrag etwa hält fest, Bukowski habe mithilfe stilistischer (»brutally frank and realistic«) bis publikationsstrategischer Mittel (»the anti-academic and anti-corporate world of the small press«) das Image des Arbeiteralkoholikers als literarisches Phänomen salonfähig gemacht, um daraus zu folgern, er optiere grundsätzlich gegen das Dichtertum und für eine Art Journalismus, »to report factually from the […] dark side of American life«. (Basinski 2001: 116) Ohne Zweifel erklärt Bukowskis literarisch-autobiographischer ›Realismus‹ in eben dieser Weise die persönliche Lebensgeschichte (als Selbstporträt und Zeitzeugenschaft) zum künstlerischen Wert sui generis: »the hard life created the hard line and […] the true line«. Tatsächlich sind aber autobiographische und literarische Schreibweisen dergestalt enggeführt, dass vielmehr ein zirkuläres Verhältnis zwischen historisch-referenziellen (»life«, »tru[th]«) und poetischen (»line«), d.h. auto-referenziellen, Geltungsansprüchen zu konstatieren ist. Nicht nur gilt die repräsentationslogische Umkehrung, dass die Bezugnahme auf ›das Leben‹ überhaupt möglich ist, weil dieses bereits zum Teil literarisch umgesetzt wurde, im Sinne von ›the hard line created/creates the hard life‹. Auch gelten entsprechende Schilderungen der autobiographischen Tatsachen nicht nur diesen selbst, sondern dienen dem Hervorbringen einer Selbstwerdungsstory des Autors als Autor, handelt doch der Lebensbericht letztlich von den Entstehungs- und Möglichkeitsbedingungen des Schreibens. Von Werk zu Werk erscheint schließlich diese persönliche beziehungsweise künstlerische Identitäts-›Story‹ selbst als Gegenstand immer neuer ›emplotments‹ (d.h. Selektions-, Fragmentierungs- und
9
Diese kann sogar explizit bestritten werden: »I am 93 percent the person I present in my poetry; the other 7 percent is where art improves upon life« (zit. n. Basinski 2001: 117; vgl. auch Bukowski 2008: 126). Trotz einer gewissen Selbstironie ist damit freilich nur betont, die ›objektive‹ (historische) Wahrheit von Bukowskis Erfahrung komme umso besser zu ihrer Geltung.
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Verdichtungsvarianten) und insofern nicht als Zweck, sondern Mittel beziehungsweise Material einer letztlich eigenwertigen Textproduktion. Polemisch zugespitzt, transponiert also Bukowskis Autobiographik dokumentarische Repräsentationen (zum Beispiel von Arbeitsverhältnissen) in literarische Präsentationen eines Autorschafts- und Poetikdiskurses, wobei diese Letzteren das eigentliche Œuvre allererst ausmachen. Wie bereits die Gedichte der Durchbruchphase um 1960 kann der programmatische ›Realismus‹ des Gesamtwerks also nicht über den performativen Kurzschluss hinwegtäuschen, aus dem Leben eines Autors zu berichten, dessen literarische Verdienste außerhalb entsprechender Berichte nicht existieren beziehungsweise mit diesen zuerst entstehen. Ein solches Bedingungsverhältnis zwischen Lebensgeschichte, Historiographie und Literatur legt die Vermutung nahe, dass die stereotype Verrechnung Bukowskis mit den Repräsentationsinteressen jener ›schmutzigen‹ beziehungsweise ›dunklen‹ (Basinski) Seite der Gesellschaft zu kurz greift. Freilich plädiert Russel Harrisons kanonische Studie Against the American Dream (1994) speziell in Hinsicht auf das Thema Arbeit für einen normativen Nexus zwischen dem ›Realitätseffekt‹10 entsprechender Darstellungen und der allmählichen Selbstfindung eines »proletarian poet« (Harrison 1995: 29): »One of the points I make in this book is that Bukowski began to identify more and more with a workingclass perspective from the early 1970s on and that his most successful works […] receive their power from this identification.« (Ebd.: 18)11 Dabei belegt Harrisons Lektüre, dass betreffende Werke selten um ein politisch korrektes Bild der Milieus bemüht sind, als deren Chronik sie vermeintlich auftreten. Im neomarxistischen Blickfeld seiner Studie scheint dies ein Symptom der Selbstentfremdung von Bukowskis ›working-class‹-Bewusstsein, das die ›persönliche Revolte‹ (vgl. ebd.: 70) gegen das Ausbeutungssystem nicht unmittelbar in die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer ›sozialen Dynamik‹ (vgl. ebd.: 93) übersetzen würde. Ohne die Suche nach einer das Gesamtwerk prägenden Dialektik zwischen implizitem und explizitem Sozialauftrag aufgreifen zu wollen (auch leisten Harrisons detailreiche Lektüren weit mehr als diesen letzt-
10 Nicht zuletzt im Rückgriff auf die Romanform entwerfe Bukowski, so Harrison, »a picture of life in the United States in the second half of the 20th Century that is unique in its range, its detail and its perspective« (Harrison 1995: 30). 11 Ähnlich urteilt der einschlägige Biograph Neeli Cherkovski: »[Bukowski’s] most robust writing comes when he accepts the fact that he is giving voice to so many who struggle« (Bukowski 2009: VII).
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lich biographistischen12 Makrozugriff zu stützen), interessiert im Folgenden eine ganz andere Nuance. Könnte es nämlich sein, dass Bukowskis lyrische Sprecher, Ich-Erzähler und essayistische Selbstdarsteller sich auch dann von ihren ›proletarischen‹ Wurzeln distanzieren, wenn sie sich ihnen emphatisch verschreiben? Kritische Ausführungen über die Strapazen des Broterwerbs wie auch Elogen auf diesen (als Schulbank des wahren Künstlertums) deuten nämlich immerzu auf literarische Alternativen zur Lohnarbeit: avisiert als therapeutische, kreative, oder – im Nexus von Beruf und Berufung – gar ökonomische Formen von Verweigerung beziehungsweise Bewältigung der ›working-class‹-Verhältnisse. Diese Alternativen liegen allerdings jenseits des Spektrums zwischen persönlicher Revolte und sozialer Dynamik, sofern angenommen werden darf, dass die »real people« (Bukowski 2009: 41)13 (etwa in den Fabriken) anderen Hobbys als dem Schreiben nachgehen. Am Horizont einer späteren Abschwächung der Dichotomie von Literatur vs. Lohnarbeit zeichnet sich zudem das Ideologem der literarischen Arbeit ab, das gerade auf denjenigen politökonomischen Status quo zurückfällt, den das Schreiben verweigern/überwinden sollte. Die Schriftstellerei wird zum Kriterium besonderer Leistungsfähigkeit, mit deren Hilfe sich der Arbeiter-Dichter – in ausgestellter Differenz zum Arbeiter – seinen persönlichen American Dream ermöglicht.
2. K RITIK
UND
B EWÄLTIGUNG
DER
L OHNARBEIT
Zunächst ein Blick auf die eigentliche ›proletarische‹ Werkphase bis 1970. »The animal-drive and energy of my fellow man amazed me«, besagt schon 1965 eine Reflektion auf den Klassencharakter im Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital, denn: »I realized that a man could work a lifetime and still remain poor« (Bukowski 2008: 33f.).14 Es ist die marxistische Einsicht in das Trugbild vom sozialen Aufstieg durch besonderen Einsatz im Job, gehört doch die erbrachte Produktionsleistung dem Arbeitgeber, um in ökonomischen Gewinn umgewandelt
12 So zeige das Spätwerk, wie die prägenden Erlebnisse im Job ex posteriori immer ›objektiver‹ erfasst würden und sich dadurch eine ›proletarische Identifizierung‹ einstellen könne (vgl. Harrison 1995: 18). 13 Vgl. den eingangs zitierten Dialog aus Factotum. 14 Vgl. nicht wesentlich anders in Factotum (1975): »How in the hell could a man enjoy being awakened at 6:30 a.m. by an alarm clock, leap out of bed, dress, force-feed, shit, piss, brush teeth and hair, and fight traffic to get to a place where essentially you made lots of money for somebody else […]?« (Bukowski 2009: 97)
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zu werden, an dem der Arbeiter nicht teilhat. Der Glaube an persönliche Leistungssteigerung (»energy«) als Einflussnahme auf die ökonomische Situation dient insofern gerade der Stabilisierung der Kluft zwischen Arm und Reich (d.h. zwischen Arbeitskraft und Kapital) – und umso mehr, als dass die resultierende Steigerung des ›Arbeitswerts‹ bei gleichem Lohn für den Arbeitgeber umso zuträglicher ist. Verdrängung und Rückzug Trotz solcher Kapitalismuskritik fällt die typische Losung dieser Schreibperiode Bukowskis so gar nicht marxistisch aus. Weder politische Forderungen, etwa für andere Produktionsbedingungen oder Eigentumsverhältnisse, noch die produktive Selbstverwirklichung eines homo laborans15 stehen auf dem Plan, sondern die Abschaffung jeglicher Arbeit zugunsten des privaten Müßiggangs. Beispielsweise erzählt The House (1963) davon, wie der Sprecher in seinem Zimmer vom Lärm einer nahe gelegenen Baustelle eingeholt wird (»thack thack thack thack«), sich nach einem noch engeren Rückzugsbereich umsehen muss – »and I go to bed, / I pull the covers to my throat« – und schließlich folgert: »it seems people should stop working / and sit in small rooms / on second floors«. (Bukowski 1997: 36) Eine engagierte Note wird allerdings nachgereicht, wenn die als subjektive (psychische?) Bedrohung empfundene Konfrontation mit der Arbeitswelt assoziativ das Bild einer rational und politisch entgleisenden Gesellschaft heraufbeschwört – »there seems a madness, / men walk on its top with nails in their mouths / and I read about Castro and Cuba« (ebd.) – und die Verweigerung der Arbeit sowie jeder anderen Aktivität als kollektives Innehalten (Umlenken?) auf dem Weg in den Untergang erscheint: »it seems there is a lot to forget / and a lot not to do / and in drugstores, markets, bars, / the people are tired, they do not want / to move, and I stand there at night / and look through this house and the / house does not want to be built« (ebd.: 36f.). Ein ähnliches Gedicht aus der Zeit, Poem For My 43rd Birthday (1963), vertieft die resignierte Tonart des Rückzugs in vielleicht deutlichstem Kontrast zur affirmativ-kämpferischen Tendenz der retrospektiven Bezüge (»the gods were good to me« etc.):
15 Vgl.: »Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit […] eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln.« (Marx 1957: 22)
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»To end up alone / in a tomb of a room / without cigarettes / or wine – / just a lightbulb / and a potbelly, / grayhaired, / and glad to have / the room. / … in the morning / they’re out there / making money: / judges, carpenters, / plumbers, doctors, / newsboys, policemen, / barbers, carwashers, / dentists, florists, / waitresses, cooks, / cabdrivers … / and you turn over / to your left side / to get the sun / on your back / and out / of your eyes.« (Bukowski 1988: 31)
Hier ist zum einen eine gleichermaßen für ›working‹- wie ›middle-class‹-Berufe geltende Analyse der Lohnarbeit impliziert, diese reduziere die verschiedenen Fähigkeiten der genannten Fachleute allesamt auf »making money«. Dagegen setzt Bukowski die favorisierte vita contemplativa, wenn auch teuer bezahlt mit dem Preis der Altersarmut, nicht mit Selbstvergeudung gleich. Zum anderen liegt die Bedingung der künstlerischen Tätigkeit und mithin eines lebenswerten Lebens nicht in der Feuerprobe im Job beziehungsweise der Welt ›da draußen‹, sondern in deren hier dezidiert unspektakulärem Gegenteil (»just a lightbulb / and a potbelly, / grayhaired, / and glad to have / the room«) – der konsequenten Abschottung vom politökonomisch aufoktroyierten Alltag des »fellow man«. Insbesondere The House macht zugleich deutlich, dass kein noch so privater Rückzugsort vor dem Arbeitslärm schützen und insofern kein naiver Eskapismus über die Tatsache hinwegtäuschen kann, dass die Lohnarbeit dennoch allgegenwärtig ist und eine Notwendigkeit bleibt. Anders gesagt, trägt die Realitätsflucht einen reflektierten (selbst-)therapeutischen Zug vor dem Hintergrund, dass jeglicher in den Job investierte Enthusiasmus an die Abschaffung des eigenen Subjektstatus (»animal-drive«) grenze; das bloße Nicht-Dazu-Gehören-Wollen ist an sich noch keine Lösung, dafür jedoch der kategoriale Unterschied zwischen dem Dichter-Arbeiter und dem ›gewöhnlichen‹ Arbeiter, an dem die Texte existenziell festhalten. So dramatisiert The Workers (1965) einen psychologischen Abgrund zu den titelgebenden Arbeitern, die dem Sprecher als unmündige bis unzurechnungsfähige Wesen erscheinen – »chained […] / by chains they would not / break / if they could« beziehungsweise »imbecile«, »inane« (Bukowski 1997: 59)16 – bis sich allmählich eine verborgene Gemeinschaft abzuzeichnen beginnt: »I have been there / many years; / at first I believed the work / monotonous, even / silly / but now I see / it all has meaning, / and the workers / without faces / I can see are not really / ugly, and that / the heads without eyes [alle Herv. A.Z.] – / I know now that those eyes / can see« (ebd.: 61).
16 Vgl. ebenso: »even outside, among / free men / […] / they walk about / with a hobbled and inane / gait / as if they’d lost their / senses« (ebd.).
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Bei dem schwierigen Annäherungsmanöver von »I« zu »they« bleibt also durchaus in der Schwebe, ob die zu überbrückende Distanz nicht gleichzeitig verstärkt wird. Zumal es noch unmittelbar vor der Auflösung zum Plural erster Person (»we«) denkbar zweideutig heißt: »but later / with insight / I realized / that they were things / as real and alive as / myself« (ebd.). Nicht weniger ambivalent ist auch das nach knapp 120 Zeilen fallende »we« selbst, wenn es die im Angesicht der geteilten Misere erkannte Gemeinschaft bestätigen soll. Es heißt: »the other night / an old worker / grey and blind / no longer useful / was retired / […] / speech! speech! / we demanded. / it was / hell, he said. / we laughed / all 4000 of us: he had kept his / humor / to the / end.« (Ebd.: 61f.) Das gemeinsame Lachen markiert freilich eine gewisse Selbstermächtigung und vor allem die sarkastische Demaskierung des Wohlstandsversprechens im Sinne von ›Leistung = Aufstieg‹ (immerhin bleibt dem besagten Arbeiter nach Einsatz all seiner Lebenskräfte im Job nicht viel mehr als sein Humor). Jedoch gerade das Lachen firmierte zu Beginn des Gedichtes als fragliches Charakteristikum der Arbeiter: »they laugh continually / even when / a board falls / down / and destroys a face / or distorts a / body / they continue to / laugh, / when the color of the / eye / becomes a fearful pale / because of the poor / light / they still laugh; / […] / a man who looks sixty / will say / I’m 32, and / then they’ll laugh / they’ll all laugh« (ebd.: 59). Die schließlich vollzogene Volta von »they laugh« zu »we laugh« suggeriert also – zumal im Konnex des Massencharakters der Szene (»all 4000 of us«) – ebenso gut die dämmernde Befürchtung des Sprechers, im Verlauf der »many years« selbst zu einem der 4000 »things« geworden zu sein. Protest, Profanierung, kreative Selbstermächtigung Rückzugs- und Verweigerungsstrategien stehen auch im Zentrum von Bukowskis kanonischem zweiten Roman Factotum (1975) – einem Panorama der unzähligen Kurzzeitjobs, die den Autor das nunmehr knapp 20 Jahre zurückliegende Lebenskapitel über begleitet hatten. Hier allerdings verändert sich die Kritik an der Lohnarbeit, insofern nicht mehr private Alternativen zur, sondern Regulierungsalternativen der Arbeitsgesellschaft ins Spiel gebracht werden. Man könnte sagen, die Verweigerung trage aktionistische Züge: Zum einen betreibt Ich-Erzähler Henry Chinaski systematische Unterlassung seiner Pflichten als Arbeitnehmer, d.h. er verweigert die zum Laufen der Kapitalmaschine notwendige Mehrleistung, erhöht aber auch seinen Lohn im Verhältnis zur tatsächlich investierten Zeit. Zum anderen besteht der Protagonist, sollte er ertappt werden,
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demonstrativ auf der Durchsetzung einer politökonomisch (statt bloß vertraglich) begründeten sozialen Gerechtigkeit. Paradigmatisch ist eine bei Harrison diskutierte Episode (Harrison 1995: 147–150),17 in der nicht etwa inakzeptable Arbeitsbedingungen und Vorgesetzte (beides kommt im Roman zuhauf vor) ins Visier des Protests geraten, sondern eine laissez-faire-Situation, aus der Chinaski maximalen Nutzen zu ziehen weiß. »A guy busts his damned ass and you don’t appreciate it« (Bukowski 2009: 84), poltert er angesichts der drohenden Kündigung, nachdem er einen Monat lang quasi fürs Nichtstun bezahlt worden ist,18 und fordert weitere Zugeständnisse: »I want my unemployment insurance. I don’t want any trouble about that. You guys are always trying to cheat a working man out of his rights. So don’t give me any trouble or I’ll be back to see you.« (Ebd.: 85)19 Die Szene entbehrt nicht eines gewissen Humors, steht doch das kapitalismuskritische Vokabular (mit Stichworten wie »Ausbeutung« und »Betrug«) für eine freche Ironisierung des eigenen Fehlverhaltens. Andererseits, wie Chinaski durchaus ernst nachsetzt, meine er nicht etwa ein arbeitsvertragliches Recht, das ihm, wie beide Parteien wissen, offensichtlich nicht zusteht. Vielmehr beansprucht er seinen bisherigen Lohn beziehungsweise die zugehörigen Sozialleistungen vor dem Hintergrund einer makrostrukturell bedingten Kluft zwischen Arm und Reich, die das Beschäftigungsverhältnis reproduziert: »If anybody has lost anything on this deal, on this arrangement … I’ve been the loser« (ebd.: 84f.). Chinaskis Einsatz seiner Lebenszeit – »I’ve given you my time. It’s all I’ve got to give […].« (ebd.: 84) – stehe nämlich in keinem Verhältnis zum Entgelt in Höhe von $ 1,25 pro Stunde (ebd.), geschweige denn zum selbstverständlichen Wohlstand des Chefs: »[I’ve given you] my time so that you can live in your big house on the hill and have all the things that go with it« (ebd.). Wenn seinem ›Recht‹ nun prompt stattgegeben wird – »You’ll get your insurance. Now get the hell out of here!« (ebd.: 84), so wirkt dies wie eine stillschweigende Billigung der Kritik, zumal anzunehmen ist,
17 Vgl. ebenso Dobozy (2001: 53ff.). 18 »Mr. Mantz the owner would walk by and I would be crouched in a dark corner or in one of the aisles […]. ›Chinaski, are you all right?‹ ›Yes.‹ ›You are not sick?‹ ›No.‹ […] Once he caught me making a sketch of the alley on the back of an invoice.« (Bukowski 2009: 83f.) 19 »[T]he employer has a good deal to say in determining whether or not an employee receives benefits after he is terminated. Although the reason for Chinaski’s being fired here – laziness – might be a little hard […] to prove, Mantz, if he wanted to, might well have gotten Chinaski denied benefits for other reasons […].« (Harrison 1995: 149f.)
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dass die freche Posse wie auch die nachfolgende Drohgebärde nur für Unmut gesorgt haben können (»get the hell out of here!«). Ein analoger Auftritt an anderer Stelle zeigt aber, dass der profanierende Umgang mit der Klassenkampfrhetorik ein Leitmotiv für sich darstellt. Bei der New York Times war Chinaski eine kurze Zeit als Hausmeister angestellt und auf Grund ähnlicher Verstöße entlassen worden. Nun fordert er das mehrmals verzögerte Restgehalt von höchster Instanz, dem Geschäftsführer persönlich: »An officer and a director of the largest and most powerful newspaper in the West. I sat down in the chair across from him. ›Well, John,‹ I said, ›they booted my ass, caught me asleep in the ladies’ crapper. […] All I want to do is get that check and get drunk. That may not sound noble to you but it’s my choice. If I don’t get that check I’m not sure what I’ll do.‹ Then I gave him a look straight out of ›Casablanca‹. ›Got a smoke?‹« (Bukowski 2009: 123)
Auf der einen Seite stellt die Tirade abermals die Nichtigkeit moraliner Begründungen eines per se ungerechten Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer an den Pranger: Warum sollte man sich zur Leistungserbringung verpflichtet fühlen oder das Anstreben einer Karriere vortäuschen (statt sich zum Alkoholismus zu bekennen), wenn Arbeit prinzipiell unter Wert entlohnt wird und man somit nirgendwo aufsteigen könne? Und auch hier suggeriert die sofortige Durchsetzung von Chinaskis Forderung, Zigarette und Gehaltsscheck gleichermaßen, dass nicht sein unverschämtes Benehmen den Ausschlag gegeben habe, sondern ein stillschweigender Anspruch auf soziale Gerechtigkeit, dem selbst der große Zeitungsmogul stattgeben müsse. Auf der anderen Seite ist der Sieg über das ›System‹ (»the largest and most powerful newspaper in the West«) über so hohe Hierarchiebarrieren hinweg und derart souverän erlangt, als ob sich Chinaski nicht so sehr den Zwängen von Macht und Ökonomie gegenüber beweisen wollte als vielmehr sich selbst und vor allem dem Leser: dass er nämlich agieren könne, als sei er diesen Zwängen gar nicht unterworfen. Entsprechend markiert der metafiktionale Verweis auf die filmische Coolness seines Auftretens (»I gave him a look straight out of ›Casablanca‹«) wie auch der Hinweis aus der Perspektive des ex post erzählenden Ich, der mächtige Direktor sei bald nach dem Gespräch verstorben,20 dass die performative Souveränität an eine
20 »A decent guy. I heard later that he died soon after that, but Jan and I got our beef stew and our vegetables and our French wine and we went on living.« (Bukowski 2009: 124)
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narrative gekoppelt ist. Chinaski als Ich-Erzähler verfügt quasi nach Belieben über die von ihm erzählte historische ›Realität‹. Tamas Dobozy macht in diesem Sinne auf eine Episode aufmerksam, die den Protagonisten innerhalb kürzester Zeit von den Ausgebeuteten ins Lager der Ausbeuter wechseln lässt und wieder zurück (vgl. Dobozy 2001: 61ff.). Als Entlader bei einem Nobelhotel frönt Chinaski nicht nur ungehindert seiner Lohnerschleichungstaktik (»I never touched anything«; Bukowski 2009: 152), sondern erhält auch noch die Beförderung zur Sonntagsaushilfe in der Personalstelle. Hier gibt es nun ›offiziell‹ nichts zu tun, außer ein wenig den Chef zu spielen und in der Hauptsache Tellerwäscher einzustellen. Eine Rekrutierungsszene, bei der er besonders rücksichtslos vorgeht, wird ausführlich geschildert. Die Schar obdachloser Bewerber wird zunächst mit Zoten über ihren prekären Status konfrontiert,21 obwohl Chinaski diesen Status im Wesentlichen teilt, übt er doch die restlichen Tage der Woche einen ähnlichen Factotum-Job aus wie die aktuellen Bewerber. Mit Rückblick auf The Workers, wo das Verhältnis von Distanzierung und Identifikation zum Gegenstand einer komplexen Reflexion gemacht wurde, verfährt diese Darstellung umso plakativer, je unverblümter Chinaski seine nur scheinbare Überlegenheit auskostet: »›I have four pennies here in my hand. I’m going to toss them up. The four men who bring me back a penny get to wash dishes today!‹ […] Bodies jumped and fell, clothing ripped, there were curses, one man screamed, there were several fistfights.« (Bukowski 2009: 153) Wie angedeutet, handelt es sich nur um eine vorübergehende Phase der Überlegenheit: Schon bald ist die privilegierte Position wieder verloren, nachdem sich Chinaski im Alkoholrausch auf seine (durch Teilhabe an der Macht des Kapitals quasi verdrängten) früheren Ambitionen ›rückbesinnt‹ und einem Hotelvorstand sozialere Betriebsführungsstrategien nahelegt. Die Schuld-und-Sühne-Sequenz mag eine kritische Pointe als Mimikry der Zwänge von Macht und Ökonomie darstellen22 oder aber zeigen, dass Chinaski sich in beiden Rollen – des empörten Arbeitsverweigerers wie des zynischen Ausbeuters – gleichermaßen wohl fühlt. Die letztere Lesart schließt an Dobozys Hypothese an, der Roman appropriiere Realitäten der Arbeiterbiographie im
21 »›O.K., you with the shit-stain on your collar,‹ I pointed. ›Step forward.‹ ›That’s no shit stain, sir. That’s gravy.‹ ›Well, I don’t know, buddy, looks to me you been eatin’ more crotch than roast beef!‹ ›Ah, hahaha,‹ went the bums, ›Ah, hahaha!‹« (Bukowski 2009: 153) 22 Dies betrifft auch das Verhalten der Obdachlosen selbst: Schließlich sind sie völlig außerstande, eine (gemeinsame) gewaltfreie Lösung zu finden oder sich über die ihnen zugemutete Schikane auch nur zu empören.
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Sinne einer poetischen statt politischen Agenda (vgl. Dobozy 2001: 54). Indem Chinaskis erzählendes Ich die grands récits von Kapitalismus und Kapitalismuskritik zur Unterhaltung seines Lesers nutzt, d.h. profanierend überwindet, stellt es das erlebende Ich als den Zwängen der diegetischen (Arbeits-)Welt quasi enthoben dar.23 Wird somit die ›Realität‹ der Lohnarbeit zunehmend unwirklich, kommt aber auch das bereits mit Post Office (1971) prominent inszenierte Leitmotiv einer positiven Alternative auf den Plan – das (scheinbar?) ganz andere Leben eines ökonomisch und künstlerisch aufblühenden ›Schreibarbeiters‹. Schreibarbeit als Befreiung, Karriere und Kapital »Look, kid, why don’t you quit this job? Go to a small room and write. Work it out.« (Bukowski 1980: 77) Dergestalt berät Chinaski einen Kollegen in Post Office, dessen Romanprojekt schon lange ins Stocken geraten ist. Schriftstellerei, so die Implikation, sei keine Freizeitbeschäftigung und könne nicht fruchten, wenn die meiste Zeit und Energie vom »job« aufgezehrt werde. Nicht anders ließe sich die Schlusspointe bei Chinaskis eigenen Schilderungen des im Fließbandmodus organisierten Irrsinns in der Sortierstelle bei der Post von Los Angeles lesen, »seen as white-collar work, as a career« (Harrison 1995: 91). Als Letztbegründung der schließlich eingereichten Kündigung erscheinen weder die drastischen gesundheitlichen Folgeschäden (Bukowski 1980: 86ff., 92, 104) noch die ungenügende Entlohnung angesichts ständiger Überstunden (ebd.: 41f., 48, 60, 76) beziehungsweise die mit diesen zusammenhängende mangelhafte Lebensqualität, sondern der in Retrospektive verfasste Text selbst. Die coupletartig eingerückten Schlusszeilen erklären: »In the morning it was morning and I was still alive. Maybe I’ll write a novel, I thought. And then I did.« (Ebd.: 115) Ebenso unterstreichen im Verlauf des Romans gescheiterte, rein ökonomische Alternativen – Chinaskis Einheirat in eine reiche Familie und eine phänomenale Glückssträhne auf der Pferderennbahn (Bukowski 1980: 34ff., 79ff.) –,
23 Ähnlich inszeniert $$$$$$ (1977), das Harrison detailliert untersucht, einen quasi naiven Sprecher, der sich gegenüber der finanziellen Abhängigkeit von der Lohnarbeit scheinbar immun geben kann. »I’d forget payday«, sinniert dieser nach, und stutzt über den Verdruss der Kollegen: »for some reason they’d get / angry, then […] / […] I’d have two / checks. ›Jesus,‹ I’d say, ›two checks.‹ / and they were / angry.« (Zit. n. Harrison 1995: 71f.) Als aus den Taschen eines alten Mantels auch noch Schein für Schein ein dort im Alkoholrausch vergessener Betrag von $ 60 auftaucht, wird die gemeinsame Klassensituation überhaupt aufgekündigt: »My God, I’m, RICH … I don’t even need / this job …« (Ebd.: 74)
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dass der Rückzug in die »small rooms« (vgl. wie oben Bukowski 1997: 36) diesmal keinem Bedürfnis nach Muße geschuldet ist, sondern gerade demjenigen nach ›echter‹ Arbeit (»work«) im Sinne von Selbstverwirklichung. »The job was killing me« (Bukowski 1980: 87) – denn der Sortierdienst verursache einen geradezu lebensbedrohlichen Mangel an jenem anthropologischen Bedürfnis nach ›nützlicher‹, d.h. nicht zur Produktion von Kapital entfremdeter Arbeit.24 Analog zum metaleptischen Selbstausweis seines Debütromans als Artefakt eines bereits anderen als des erzählten Lebens (im Zeichen der nichtentfremdeten Schreibarbeit) zelebriert Bukowski 1973 seinen neuen Status als professioneller Autor: »Writing, finally, even becomes work […]. But it is the finest work and the only work, and it’s a work that boosts your ability to live […].« (Bukowski 2008: 132) Diese Dichotomie zwischen Lohn- und Schreibarbeit droht allerdings in mancher Hinsicht zu kippen: So erscheint beispielsweise das Schreiben (Tippen) schon zu Beginn von Post Office als Insignie der Sanktionsmacht von Vorgesetzten, die Chinaski im weiteren Verlauf nachzuahmen sucht, indem er Abmahnungen mit überlangen Erklärungen beantwortet (Bukowski 1980: 13, 31, 58). Insofern der kleine Angestellte selbst zum »writer« aufsteigt, erzählt der Roman unter der Hand auch die Geschichte einer erfolgreichen Karriere: Schreiben als Privileg der Macht und des Geldes.25 Dazu passt auch das produktionsästhetische Mythologem, Bukowski habe sich nach der Kündigung exakt zum Schichtbeginn um 18:18 Uhr an den Schreibtisch gesetzt, um fieberhaft an dem Roman zu arbeiten (vgl. Calonne 2012: 102). Und noch in Women (1978) wird ein ehemaliger Kollege von der Post vorgeführt: »›What are you doing now, Hank?‹ ›Oh, I pound a typewriter.‹ […] I held both hands up and tapped down at the air. ›You mean you’re a clerk-typist?‹ ›No, I write.‹ ›Write what?‹ ›Poems, short stories,
24 Vgl. wie Fußnote 15: »Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit […] eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln.« (Marx 1957: 22) 25 Ein spannendes Detail sind die authentischen (?) Amtsdokumente, die insgesamt acht Seiten des schmalen Debütromans füllen (Bukowski 1980: 8, 95–101). Über die Implikationen eines künstlerischen Verfahrens hinaus hat die Montage auch eine politökonomische Zugkraft. Als gehöre es zum Befreiungsplot zu demonstrieren, wie die Machtverhältnisse sich nun umdrehen, wird nämlich der ›Textproduktion‹ der ExKollegen aus der Verwaltung ein erheblicher Mehrwert abgeschöpft (man bedenke die unzähligen Auflagen des Erfolgsromans zzgl. diverser Übersetzungen).
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novels. They pay me for that.‹ He looked at me. Then he turned and walked off.« (Bukowski 1978: 284) Andererseits steckt in Chinaskis literarischer Befreiung eine (zunächst genieästhetische) sozialdarwinistische Aktualisierung: Es gehe eben um »survival of the fittest« (Bukowski 2009: 130), sinniert Chinaski während einer Taxischulung in Factotum, die zugleich seine sonstige Überlegenheit – Reflexe, Auffassungsgabe, etc. – unter Beweis stellt: »There were always men looking for jobs in America. […] Of those fifty guys in the room, probably fifteen of them thought they were writers. […] But most men, fortunately, aren’t writers, or even cab drivers, and some men – many men – unfortunately aren’t anything.« (Bukowski 2009: 130f.) Auch in Post Office gilt, dass natürlich nicht jeder – im Grunde niemand – gut genug schreiben kann. Als Kontrastfolie dienen Chinaskis Freundin Fay, deren Schreibwerkstatt-Kommilitone Robby sowie der erwähnte Kollege Janko. Außer dass es allen an der nötigen literarischen Qualität mangelt,26 fehlt es ihnen ebenso am Mut, Konsequenzen aus dem oben genannten Umstand zu ziehen, dass »writing« und »job« nicht zu vereinbaren seien. Anders gesagt: Die sinnlose Selbstversklavung durch den Job, die Janko mit »assurance« und Robby mit »security« (Bukowski 1980: 77, 85) verwechseln, werten sie als gerade gut genug für sich selbst (»some men – many men – […] aren’t anything«). Eine weitere ideologische Modifikation verwischt schließlich die Kausalität im Verhältnis zwischen künstlerischem und ökonomischem Verdienst. So heißt es schon im Jahr der Veröffentlichung von Post Office: »A writer must keep performing, hitting the high mark, or he is down on skid row« (Bukowski 2010: 113). Man müsse also gut sein, um überleben zu können. Jedoch auch umgekehrt gilt, dass derjenige, der nicht darauf angewiesen sei, für Geld zu schreiben, eben nicht richtig ›arbeite‹. Und weiterhin: Nur wer überhaupt wisse, was es heißt, seinen Lebensunterhalt durch ›Arbeit‹ zu bestreiten, könne hoffen, dies mithilfe von Schreibarbeit zu schaffen, d.h. ›gut genug‹ zu sein. Im Roman betrifft dies abermals Fay (»[who] had not had more than one or two jobs in her life«) oder auch Robby, der sich zu schade ist für den Sortierdienst (vgl. Bukowski 1980: 84f.). Im gleichen Essay polemisiert Bukowski daher – ungeachtet (oder vielmehr auf Grund!) seines neuen Status eines mit lebenslangem Unterhalt fest angestellten Verlagsautors in Richtung der Literatenwelt: »[W]hen I think of the writers that I know, mostly poets, I notice that they are supported by others […]. And they are quite comfortable with TV sets, loaded refrigerators, and apartments or houses by the sea […], and they sun themselves in the day, feeling tragic,
26 Und darüber amüsiert sich Chinaski gerne; vgl. Bukowski (1980: 76f., 85f.).
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[…] and then at night, perhaps a bottle of wine and a watercress sandwich, followed by a wailing letter of their penury and greatness to somebody somewhere. Anything but writing, working, getting it done, getting the word down.« (Bukowski 2010: 112)
Beide Seiten der Medaille – die genieästhetische wie auch die leistungsideologische – kommen zusammen in der archetypischen Schreibszene inmitten des Factotum-Alltags: »The hard life created the hard line«. Programmatisch rekapituliert dies noch das Vorwort zu einer 1988 zusammengestellten Edition früher Gedichte: »Coming in from a factory or warehouse, tired enough, there seemed little use for the night except to eat, sleep and then return to the menial job. But there was the typewriter waiting for me in those many old rooms with torn shades and worn rugs […] and the feeling in the air of all the losers who had preceded me. […] The sound of the keys, on and on, and shouts: ›HEY! KNOCK IT OFF, FOR CHRIST’S SAKE! WE’RE WORKING PEOPLE HERE AND WE’VE GOT TO GET UP IN THE MORNING! [Herv. i.O.]‹« (Bukowski 1988: 5f.)
Der Arbeiter-Dichter lebe mit den »working people«, jedoch leiste er mehr als diese, und zwar zu einer Zeit (nachts), in der sie weder arbeitsfähig noch -willig seien. Eben diese Mehrleistung, die sie ihm geradezu übel nehmen, trage aber Früchte, die nicht bloß jenseits der Fähigkeiten gewöhnlicher Menschen liegen, sondern auch jenseits des gewöhnlichen Leistungsbegriffs. Nämlich seien die Gedichte quasi von selbst ›emergiert‹ auf eine genialische Eingebung hin: »The poems were sent out as written on first impulse, no line or word changes. I never revised or retyped.« (Bukowski 1988: 6) Gleichwohl legt der Verweis auf mögliche Vorgänger, die »loser«, den Horizont einer ökonomischen Relation von Arbeit pro Lohn sowie die Perspektive nahe, diese so weit zu optimieren, dass die mit den »working people« geteilten »old rooms« bald ein Ding der Vergangenheit sein könnten. Man kann nicht umhin, hier die Vision genau der Art von perfektem »job« im Nexus von materieller und persönlicher Selbstverwirklichung wiederzuerkennen, mit deren Hilfe die Klassenunterscheidung von Arbeit und Kapital intakt gehalten wird. ›Gib alles, was du hast, und du wirst belohnt!‹, lautet das Heilsversprechen des American Dream, das die Pflichten am Arbeitsplatz quasi metaphysisch adelt. Denn umgekehrt: ›Wenn du wirklich alles gegeben hast und dafür belohnt wirst, dann weißt du, dass du etwas wert bist!‹ Nicht anders verhält es sich mit der Moral an Bukowskis/Chinaskis ökonomischer Selbstermächtigung durch Schreibarbeit. Wer bereit sei, nur um des Geldes willen zu arbeiten
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(»why don’t you quit this job?«), werde gerade in finanzieller Hinsicht gnadenlos ausgenutzt, habe aber eben nicht den Mut, sich voll und ganz auf die Realisierung seiner Fähigkeiten einzulassen, d.h. ›alles zu geben‹. Wer hingegen seine Berufung ökonomisch unverbindlich kultiviere (»the writers that I know, mostly poets, I notice that they are supported by others«), dem gehe es um nichts, da nur die Veräußerung auf dem Arbeitsmarkt die Gewissheit erbringe, etwas von Wert ›geschafft‹ zu haben und mithin überhaupt erst dazu verpflichte, etwas zu schaffen (»anything but writing, working, getting it done«). Wie konventionell dieser Maßstab ist, muss Chinaski ironischerweise selbst feststellen, als er in Post Office von Rückzugsfantasien im Tenor der frühen Gedichte schwärmt – »let’s just lay around and make love and take walks and talk [etc.]« – und seine reiche Gattin solche Wünsche aus der konservativen Sicht eines »smalltown Texas girl« zurückweist: »No, Hank, we’ve got to show them, we’ve got to show them …« (Bukowski 1980: 45)
3. C ODA : P OETIK
DER
A RBEIT
Solchen immanenten Widersprüchen zum Trotz liegt der gemeinsame Kern von Bukowskis Repräsentationen der Lohn- und der Schreibarbeit zuallererst in der Würdigung entsprechender von existentieller Not gekennzeichneter Lebenskapitel als Nährboden jeder ›echten‹ Literatur. Im Angesicht des lebens- und kunstfeindlichen ›working-class‹-Alltags ist er immer schon jener Dichter, der das geknechtete Arbeiterbewusstsein zu verdrängen, verweigern oder gar zu profanieren vermag. Und wie um den letzten Beweis zu erbringen, dass der ›gewöhnliche‹ Arbeiter gerade nicht schreibe, münden die berühmten Factotum-Jahre in eine paradoxe (und letztlich wohl fiktive) Wendung des Künstlermythos als Inbegriff sowohl einer kreativen Initiation – »when I thought I was a genius and starved and nobody published me« (Bukowski 2008: 33) – als auch einer fundamentalen Schaffenskrise: »I was a hippie when there weren’t any hippies; I was a beat before the beats. I was a protest march, alone.« (Bukowski 2008: 92) »I kicked it over then. Stopped writing. Gave it up. Got drunk for ten years.«27 (Ebd.: 94) In der ›sauberen‹ Literatenwelt besinnt sich aber der ›Dirty Old Man‹ gerade auf die Identität eines Arbeiters, der einen Überlebenskampf unter kapitalistischem Leistungsdruck zu bestreiten habe. Augenfällig ist bereits die Charak-
27 Gemeint ist der Zeitraum von 1946 bis 1956. Dagegen belegt die Bibliographie auf http://bukowski.net Publikationspausen nur in den Jahren 1949, 1950 und 1952 bis 1955.
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terisierung des Wechsels in die ›professionelle‹ Boheme als unvermeidbares, gleichwohl heroisches Wagnis: »I could no longer lift my hands higher than my waist after a day’s work. Nerves gone. They had me. I tried many types of cures, many doctors. Nothing worked. I was the only thing that worked – 8 hours, 10 hours, 12 hours a day. […] The job was killing me. […] I decided that I’d rather stand down on skidrow barefoot than die in security. […] I decided to die on my own battlefield. I sat down to my typewriter and I said, now I am a professional writer.« (Bukowski 2008: 121)
Es gilt, zwischen alternativen Todesszenarien abzuwägen: Das drohende Dahinsiechen an der Arbeitskrankheit (»nerves gone [etc.]«) oder das Risiko eines Hungertods bei Misserfolg am »typewriter«. Der qualitative Unterschied liegt im Wechsel vom Passiv zum Aktiv, Bukowski ›entscheidet‹ sich: für den autonomen kreativen Akt und gegen die angeordnete Fließbandroutine, für den Verzicht auf die »security« fester Einkommensverhältnisse und gegen den passiven Tribut an körperlicher und geistiger Gesundheit, den solche Absicherung fordert. In der Folge verschmilzt der retrospektive Kanon ab 1970 die beiden Topoi ›Arbeiter-Dichter‹ und ›Dichter-Arbeiter‹ zur Präsentation des Geschriebenen als authentische künstlerische Handlung. Wie die Metalepse am Ende von Post Office insinuiert: Das nachfolgende Schriftstellerleben sei ebenso ›echt‹ wie die dokumentarisch geschilderten Strapazen des Jobs, ebenso echt wie das angekündigte Buch, das der Leser in der Hand halte. Und noch der anfangs zitierte Spätwerkbeleg spielt mit der paradoxen Synchronie eines Präteritums (»was«), in dem der Autor um sein Leben gearbeitet habe, mit einem Präsens (»comes«, »lives«), in dem er nun um sein Leben schreibe: »The language of a man’s writing comes from where he lives and how. I was a bum and a common laborer most of my life.« Das dubios ausscherende Ideologem der ›Schreibarbeit‹ soll in diesem Sinne eine Äquivalenz zu den Zwängen der Lohnarbeit inszenieren und für eine Kontinuität mit der Vergangenheit bürgen, insofern Bukowski zwar nicht mehr arbeite, jedoch quasi wie ein Arbeiter schreibe. Bukowskis beziehungsweise Chinaskis eigene politökonomische Kritik des ›Jobs‹ müsste eine solche Äquivalenz freilich als fiktiv zurückweisen. Gemeint ist: Wer seinen Lebensunterhalt zu Konditionen maximaler Ausschöpfung der Differenz zwischen Arbeitswert und Arbeitslohn bestreite, sei ebenso systematisch von kultureller Tätigkeit ausgeschlossen wie von der Teilhabe an dem ›Mehrwert‹, dessen Produktion ihn bis zu »12 hours a day« aufreibe; es bleibe
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schlichtweg keine Zeit für etwas Anderes.28 Dagegen verfüge, wer sich diese Zeit nimmt, wohl über eine andere Art von »security«, etwa den Verlegerunterhalt,29 oder genieße die Vorzüge eines Kulturbetriebs, der völlig unproletarische Produktionsbedingungen weit über dem Status quo der kapitalistischen Ausbeutung ermöglicht. Nicht umsonst die stille Empörung des Ex-Kollegen im oben zitierten Dialog aus Women. Chinaskis ›Arbeit‹ an der Schreibmaschine bringt offensichtlich einen substanziellen Verdienst ein, obwohl er nicht als »clerk-typist« angestellt ist, was der für seinen Lebensunterhalt arbeitende Briefsortierer noch hätte hinnehmen können, sondern ›nur‹ kreativ tätig ist: »Poems, short stories, novels. They pay me for that.« Bei allem Gestus der Authentizität, mit dem sich Bukowski von den »real people« sowohl auf der Straße als auch im Elfenbeinturm der Kunst, ja von der historischen ›Realität‹ überhaupt emanzipiert, weiß er also darauf hinzuweisen, dass die Kluft zwischen Arbeiteralltag und Schriftstellerei ohne einen Wechsel der materiellen Verhältnisse weder durch genialische Inspiration noch durch heroische Leistungsrekorde zu überbrücken ist. Und tatsächlich war ein solcher, mit dem Verkauf des vererbten Elternhauses für $ 15.000 (Calonne 2012: 50), bereits seinem ersten Durchbruch um 1960 vorangegangen.
L ITERATUR Basinski, Michael (2001): »Charles Bukowski 1920–94«, in: Eric L. Haralson (Hg.), Encyclopedia of American Poetry: The Twentieth Century, Chicago/London: Fitzroy Dearborn, S. 116–118. Bukowski, Charles (1978): Women, Santa Barbara: Black Sparrow. Bukowski, Charles (1980): Post Office, Santa Barbara: Black Sparrow. Bukowski, Charles (1988): The Rooming House Madrigals: Early Selected Poems 1946–1966, Santa Rosa: Black Sparrow. Bukowski, Charles (1997): Burning in Water, Drowning in Flame: Selected Poems 1955–1973, Santa Rosa: Black Sparrow.
28 Vgl.: »When […] his time is another man’s time«, »there isn’t ANY TIME [Herv. i.O.] left to the man for himself« (Bukowski 2008: 121). 29 Vgl. ebenso: »In addition […] [Bukowski] was aided financially by the sale […] of an archive of his literary papers to the University of California at Santa Barbara for $ 5,000 in 1970« (Calonne 2012: 105).
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Bukowski, Charles (2008): Portions From a Wine-Stained Notebook: Uncollected Stories and Essays 1944–1990, hg. v. Stephen David Calonne, San Francisco: City Lights. Bukowski, Charles (2009): Factotum, London: Virgin. Bukowski, Charles (2010): Absence Of the Hero: Uncollected Stories and Essays. Bd. 2: 1946–1992, hg. v. Stephen David Calonne, San Francisco: City Lights. Calonne, Stephen David (2012): Charles Bukowski, London: Reaktion Books. Debritto, Abel (2011): »A ›Dirty Old Man‹ on Stage: Charles Bukowski and the Underground Press in the 1960s«, in: English Studies 92, Heft 3, S. 309–322. Dobozy, Tamas (2001): »In the Country of Contradiction the Hypocrite Is King: Defining Dirty Realism in Charles Bukowski’s Factotum«, in: Modern Fiction Studies 47, Heft 1, S. 43–68. Harrison, Russell (1994): Against the American Dream. Essays on Charles Bukowski, Santa Rosa: Black Sparrow. Krumhansl, Aaron (1999): A Descriptive Bibliography of the Primary Publications of Charles Bukowski, Santa Rosa: Black Sparrow. Marx, Karl (1957): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Ausgew. u. eingel. v. Benedikt Kautsky, Stuttgart: Kröner. Phillips, Michael (o.J.): »Chronological Checklist of Magazine Appearances 1944–1999«, http://bukowski.net. Roni (2006): »Charles Bukowski Zeittafel«, in: Jahrbuch der Charles-BukowskiGesellschaft, S. 12–20.
»Der ganze Haufen las sich wie eine Zeitrafferreise in Richtung Desillusionierung.« Kapitalismuskritik als diskursive Formation am Beispiel des Genres Praktikantenroman A LEXANDER P REISINGER
L ITERATUR
UND › NEOLIBERALE
W IRKLICHKEIT ‹
Die Rückkehr der ›Wirklichkeit‹ in die literarische (vgl. Schütz 2007)1 und theatralische2 Darstellung, die sich nicht zuletzt aus der Umsetzung realitätsverhafteter Themen wie Arbeitswelt und Wirtschaftsleben begründet, birgt interpretatorische Fallstricke: Obgleich die literaturwissenschaftliche Interpretation den als ›realistisch‹ verstandenen literarischen Texten vielfach eine mimetische Darstellungsweise abspricht, wird unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Abbildungsund Widerspiegelungsvorstellungen dieser ein zumindest symptomatisches Verhältnis zur Wirklichkeit zugestanden, wie es etwa in der Metapher »Seismograph« (Dirke 2008: 142) zum Ausdruck kommt. Eine symptomatische Analyse setzt jedoch zweierlei voraus: Eine Analyse dessen, was präsentiert wird (Literatur), und eine Analyse dessen, was repräsentiert wird (›die‹ ökonomische Wirklichkeit). Gerade Letzteres ist aber zunächst
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Siehe etwa auch die Tagung: Literarische Kritik der ökonomischen Kultur – Zur Rückkehr der Arbeitswelt in die Gegenwartsliteratur, Literaturhaus Berlin, 27. und 28.01.2006.
2
»Das Theater entdeckt sich zunehmend als sozioökonomisches Laboratorium und wendet sich konkreten Lebenserzählungen zu, um diese in ›fiktionaler Authentizität‹ zu repräsentieren.« (Schößler/Bähr 2009: 9)
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nicht Gegenstand einer literarischen Untersuchung (allenfalls einer literatursoziologischen), sondern der Gesellschaftswissenschaften. Dennoch zeigen sich literarische Interpretationen bezogen auf gegenwartsliterarische Darstellungen mitunter erstaunlich homogen, jedenfalls hinsichtlich jener Wirtschaft, die der literarischen (Re-)Präsentation vorausgesetzt wird. So schreibt etwa Sieglinde Klettenhammer im Vorwort des Sammelbandes Literatur und Ökonomie: »Transnationaler Wettbewerb, Produktivität und Wachstum um jeden Preis, wirtschaftliche Effizienz, ökonomische Verwertbarkeit und Flexibilität werden zu scheinbar alternativlosen Leitmaximen des Denkens und Handelns. Nicht zuletzt wirkten und wirken sich diese Entwicklungen, die unter dem Begriff Neoliberalismus zusammengefasst werden und alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen, auch auf das Bildungssystem und die Bildungsinstitutionen aus.« (Klettenhammer 2010: 7)
Julia Bertschik sieht in den Romanen von Christian Kracht, Sven Regener, André Kubiczek und Ingo Schulze einen »neoliberalen Imperialismus« (2007: 83) vertreten, Karin Krauthausen verweist auf »die hegemoniale Gewalt, wie sie der Neoliberalismus konstituiert« (2006: 131), die sie auf Kathrin Rögglas wir schlafen nicht bezieht, und Enno Stahl versteht Ernst-Wilhelm Händlers Wenn wir sterben als Bild der New Economy (»neoliberale Verniedlichung«; Stahl 2007: 92). Isolde Charims Aufsatz zu Marlene Streeruwitz trägt den Titel: »Nichts als Einsatz. Neoliberalismus im Werk von Marlene Streeruwitz.« (2007: 24) Die Einhelligkeit der Deutungen trotz der so viel beschworenen Mehrdeutigkeit literarischer Darstellung muss irritieren. Aus einer semiotischstrukturalistischen Perspektive, die literarische Kunstwerke als Schnittpunkt von Diskursen auffasst, dreht sich daher die Forschungsfrage um: Nicht die Frage, wie Literatur eine wie auch immer verstandene ökonomische Wirklichkeit abbildet, sondern warum Literatur stets gleiche Interpretationen auf Basis erstaunlich homogener Vorstellungen von ökonomischer Wirklichkeit (›Neoliberalismus‹) hervorbringt, tritt in den Vordergrund. Es geht um die Rolle der Kapitalismuskritik als offenkundig popularisiertes und realitätskonstitutives Wissen, das sowohl produktionsseitig als auch rezeptionsseitig aktiviert wird.3
3
Der Neoliberalismus ist dank umfangreicher sachliterarischer Darstellung (von Pierre Bourdieu bis zu Joseph Stiglitz) zum wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Gegner ersten Grades avanciert. Auch die Interpretationsschablonen wiederholen sich sowohl in der sachliterarischen als auch in der sekundärliterarischen Darstellung: Großer Beliebtheit erfreut sich etwa das an Michel Foucault anschließende und von Ulrich
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Eine Möglichkeit, den Zusammenhang zwischen literarischer und interpretatorischer Bedeutungsproduktion theoretisch zu konzipieren, besteht in der Interdiskursanalyse Jürgen Links (vgl. Parr 2008: 202–206): Anknüpfend an Michel Foucaults Archäologie des Wissens und Die Ordnung des Diskurses versteht die Interdiskursanalyse unter »Diskurs« »das geregelte Ensemble von Redeformen, Genres, Ritualen usw. innerhalb einer historisch ausdifferenzierten und institutionalisierten Praxisart« (Link/Parr 2005: 123). Diese geregelten Sagbarkeits- und Wissensräume, die diskursiven Formationen, bezeichnet Link als »Spezialdiskurse«: Moderne arbeitsteilige Gesellschaften, vor allem die institutionalisierten Wissenschaften, generieren ausdifferenzierte Spezialdiskurse, die »geregelte, ansatzweise institutionalisierte Redeweisen als Räume möglicher Aussagen [hervorbringen], insofern sie an Handlungen gekoppelt sind und dadurch Macht ausüben« (Link 2004: 27). Sie schließen sich gegen andere Diskurse ab, sind um Denotation und technische Operationalität bemüht. Ihnen gegenläufig und daher für das Funktionieren von Gesellschaften essenziell, sind die sogenannten »Interdiskurse«: Diese bündeln und übersetzen das »in den Spezialdiskursen sektoriell zerstreute Wissen« (Link/Link-Heer 1990: 93). Sie ermöglichen nicht nur Interferenzen zwischen den Spezialdiskursen, sondern sind auch wesentlicher Bestandteil des sogenannten Alltagswissens und damit von gemeinsam geteiltem Wissens und Kommunikation. Interdiskurse werden in elaborierter Form in modernen Gesellschaften von eigenen Institutionen hervorgebracht. Dazu tragen alle Arten populärwissenschaftlicher Forschung, journalistische Arbeiten, Filme und eben auch die Literatur bei. In weiterer Folge gehe ich davon aus, dass der Praktikantenroman eine solche interdiskursive Form stark subjektapplizierenden Charakters (Figurativisierung von Diskursen über Praktikanten) ist, durch die Ökonomiekritik in allgemeinverständlicher Form dargestellt wird. Die Verdichtung zum Genre Praktikantenliteratur weist auf eine Formation hin, die sich sowohl hinsichtlich literarischer Praktiken als auch hinsichtlich eines spezifischen kritischen Wissens um die Zusammenhänge und Wirkungsweisen des gegenwärtigen Kapitalismus bestimmen lässt. Ich werde dies an drei erstaunlich ähnlichen Praktikantenromanen zeigen, sodass durch die Konstruktion deren semiotisch-strukturalistische Schnittmenge, ein geteiltes Wissen vor allem bezogen auf die wirtschaftlichen
Bröckling popularisierte Konzept der Gouvernmentality Studies. Ein anderes Beispiel kann dem Bereich der Kollektivsymbolik entnommen werden: Dass der Neoliberalismus ein sozialer Darwinismus sei, schreiben bspw. sowohl Stahl als auch Charim. Stahl nutzt die Analogisierung auch in seinem eigenen Roman Diese Seelen (2008). Siehe dazu auch den Beitrag von Florian Öchsner in diesem Band.
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Arbeitsverhältnisse, sichtbar wird. Das dabei angewandte Verfahren orientiert sich an der Semiotik der Pariser Schule (vgl. Greimas/Courtés 1982; für eine Zusammenfassung: Ohno 2003), die mit dem Namen des Semiotikers Algirdas Julien Greimas verbunden ist.
D AS G ENRE
DER P RAKTIKANTENLITERATUR EINE SEMIOTISCHE A NALYSE
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Im März 2005 veröffentlichte Matthias Stolz in Die Zeit einen Artikel mit dem Titel Generation Praktikum, der, ins Französische übersetzt, im November des gleichen Jahres unter anderem zum Streik der Praktikanten in Frankreich führte (vgl. Bertschik 2007: 69). Auch literarisch wurde der Praktikant als Sujet wirksam: Unter dem Titel Von Mägden und Knechten veröffentlichte Spiegel Online 2010 einen Überblick über das neu entstandene Genre der Praktikantenliteratur. Die Spiegel-Metapher aktualisiert auch hierbei ein abbildendes Verhältnis zwischen Literatur und Wirklichkeit: »Denn die Zielgruppe [der Praktikanten] steht für eine Lebensphase. Und die werden neuerdings gerne in Prosaform gespiegelt […]. Das Zeitalter begann mit einer Namenskür. Vor sechs Jahren rief die ›Die Zeit‹ die ›Generation Praktikum‹ aus. Und traf einen Nerv.« (Haeming 2010: o.S.) Zwei der dort angeführten Romane sowie ein weiterer werden von mir analysiert: Es handelt sich dabei um Judith Lieres Probezeit (2008), Carina Kleins Wo geht’s denn hier nach oben? (2001) und Sebastian Christs … und wünschen Ihnen für die Zukunft alles Gute! (2009). Lieres Roman wurde im Spiegel Online-Artikel explizit mit der Darstellung »neoliberale[r] Elemente« (Haeming 2010, Teil 5) in Zusammenhang gebracht. Aus diskursanalytisch-semiotischer Sicht stellt die Genre-Bezeichnung Praktikantenliteratur ein wissensbezogenes Frame dar: In der Bezeichnung »Praktikant« wird ein soziokulturell stereotypes Perspektivierungsangebot – eine sogenannte »Subjektapplikation« – literarisch zur Verfügung gestellt. Die zentrale Aufgabenstruktur der jugendlich-erwachsenen Akteure besteht in der Erlangung eines bestimmten, kulturell positiv konnotierten sozioökonomischen Status (Angestelltenverhältnis): »Ich hatte einen Plan: Zielstrebig wollte ich mich zu meiner Traumredaktion vorarbeiten und am Ende dann alles geben, um dort eine feste Mitarbeit angeboten zu bekommen.« (Christ 2009: 91) »Es geht um einen Beruf. Genauer gesagt um meinen Beruf. Der mir jetzt nicht nur ganz real die Miete und den Kaffee bezahlen soll, sondern auch später meine Kinder und meine
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Altersvorsorge und all diese unheimlichen Dinge, die sich noch so anfühlen, als hätten sie mit meinem Leben nichts zu tun, aber trotzdem immer näher rücken.« (Liere 2008: 10)
Signalwirkung im sozioökonomischen Kontext kommt auch der wirtschaftlich prekären Medien-Branche zu, in denen Lieres und Christs Akteure tätig sind. Inhaltlich zählen neben den zentralen ökonomiebezogenen Episoden auch postadoleszente Themen (WG-Alltag, Eltern-Kind-Beziehung, Beziehungsproblematik etc.) zu den fixen Bestandteilen des Praktikantenromans. Im universalistischen erzähltheoretischen Schema der Pariser Schule lässt sich die Handlung als eine Reihe von Prüfungen zur Erlangung des Wunschobjekts und Bestehen der abschließenden Prüfung beschreiben. In der Praktikantenliteratur besteht diese Prüfungsstruktur an der Textoberfläche aus wirtschaftlichen Situationen (Arbeitsalltag, Bewerbungen etc.), deren Kohärenz im Kontext der positiven sozioökonomischen Evaluierung sichergestellt wird. Das ökonomische Ideal-Subjekt Erstaunlich homogen ist die kognitive wie pragmatische Ausstattung, die die Akteure als für eine erfolgreiche Sanktionierung ihres wirtschaftlichen Verhaltens erforderlich erachten: Leistungsbezogene Subjektattribuierung (1) »Jung, dynamisch, optimistisch. Das ist die Devise! Eine starke Ausstrahlung. Positiv! Dann kommt auch der Erfolg von ganz allein.« (Klein 2001: 77) (2) »Leute wie Pia braucht das Land! Mit Innovation und Mut! Visionen statt Zweifel. Unternimm was!« (Ebd.: 188) (3) »So zielstrebig, geradlinig, unabbringbar. Wolfgang und ich hatten uns getroffen, als wir beide noch fest von dem Erfolgsversprechen der Chancenwelt überzeugt waren.« (Christ 2009: 67) (4) »Ich hatte einen Plan: Zielstrebig wollte ich mich zu meiner Traumredaktion vorarbeiten und am Ende dann alles geben, um dort eine feste Mitarbeit angeboten zu bekommen. So hatte es mir Lehmann erzählt, und den Kram konnte man auch in all den Berufsratgebern für Praktikums-Angsthasen nachlesen. […] Aber immer wieder habe ich von Studienkollegen gehört, die ebenfalls Pläne aufgestellt hatten. Und die machten spannende Dinge: Auslandspraktika, Pausensemester mit intensiver Autorentätigkeit, freie Mitarbeit für namhafte Politredaktionen. Verrückt. Man kann sich nicht wehren gegen das Gefühl, gleichziehen zu müssen.« (Ebd.: 90f.)
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(5) »Ich habe doch auch alles, was die laut Stellenbeschreibung wollen: Flexibilität im Denken und Handeln, gute Allgemeinbildung, hohes Interesse an den Vorgängen in unserer Stadt, Einsatzbereitschaft in der täglichen Berichterstattung, Interesse an der Selbstverwirklichung vor und hinter der Kamera, Mindestalter: 20 Jahre.« (Liere 2008: 8) (6) »Ich wusste ja, dass man es als Geisteswissenschaftlerin auf dem Arbeitsmarkt nicht leicht haben wird, aber ich habe mich während des Studiums wirklich reingehängt und nun eigentlich einen Knallerlebenslauf – diverse Praktika, Auslandserfahrung, freie Mitarbeiten … Zumindest kann ich die letzten Jahre auf dem Papier so darstellen, dass sie auch wirklich gut klingen. Das sollte doch wohl reichen, um irgendwo als Volontärin anfangen zu dürfen!« (Ebd.: 13f.)
Offenkundig wird in der Iteration der Werte (pragmatisch: Arbeitserfahrung, kognitiv: flexibel, intrinsisch motiviert, einsatzbereit etc.) eine spezifische Arbeitskultur und deren Axiologie aufgerufen. Die Nähe zu kapitalismuskritischen Diskursen, wie sie etwa bei Richard Sennetts Der flexible Mensch (1998), Luc Boltanskis und Ève Chiapellos Der neue Geist des Kapitalismus (2003) oder Ulrich Bröcklings Das unternehmerische Selbst (2007) zum Ausdruck kommen, wird in der literarisch inszenierten Subjektapplikation als ideales ökonomisches Subjekt offenkundig. Charakteristisch dafür ist nicht nur die Art der akquirierten Eigenschaften, sondern vor allem die Selbstattribuierung: Erkennbar wird ein rationales, an einem Zweck ausgerichtetes biographisches Handeln, wobei das Subjekt Kontingenzen zu minimieren sucht, um sich aus eigenem Antrieb zum erfolgreichen Subjekt zu machen. Damit wird der Akteur zum eigenen Auftraggeber und zum eigenen Evaluator. Das wirtschaftliche Leistungsversprechen und dessen Bruch Mit der homogenen Ausstattung ist eine vertragliche Struktur zwischen dem Subjekt und einem sozioökonomisch bewertenden Empfänger verbunden, die als Homologie formuliert werden kann (a : a' ist wie b : b'): wirtschaftlicheuphorisches Tun/Sein : wirtschaftlichem Erfolg :: wirtschaftlich-dysphorisches Tun/Sein : wirtschaftliche Erfolglosigkeit. Erwartbar wird also, so der Kontrakt, dass bei entsprechendem Handeln des Subjekts sich auch ein entsprechender wirtschaftlicher Erfolg einstellt. Der Kontrakt stellt die Handlungsrationalität der Akteure und die Erwartungshaltung der Leserschaft sicher. Entsprechend suchen sich die Akteure zu transformieren (anti-ökonomisches Subjekt Æ ökonomisches Subjekt). Diese Transformation wird als Tausch ausgeführt:
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Subjektbezogene Ökonomisierung (1) »Wenn du den duzen kannst, dann ist er bestimmt nicht so schlimm, oder? Von diesem Moment an war ich gefangen in einem Knast aus institutionalisierter Freundlichkeit, aus dem nur sehr schwer zu entkommen ist.« (Christ 2009: 22) (2) »Mir fehlte nach so vielen Ortswechseln einfach die Energie, immer wieder neu anzufangen, mich wieder auf neue Leute einzustellen.« (Ebd.: 26) (3) »Die letzten fünf Jahre waren wie eine lange Reise. Ich bin immer wieder in Züge gestiegen, habe mich in Flugzeuge gesetzt. Ohne Ziel, alles nur Stationen. Und ständig dieselben Rituale […].« (Ebd.: 56) (4) »Ich erwarte von Ihnen, dass Sie arbeiten – und Sie werden viel arbeiten, das kann ich Ihnen schon versprechen. Auf Acht-Stunden-Tage und freie Wochenenden müssen Sie in nächster Zeit verzichten. Wenn Sie keine Lust haben, sich hier absolut reinzuhängen, dann gehen Sie am besten gleich.« (Liere 2008: 79) (5) »Vor einundzwanzig Uhr habe ich an keinem meiner ersten Arbeitstage den Sender verlassen. Meine WG hat etwas ungehalten auf meinen neuen Arbeitsrhythmus reagiert – wenn ich nach Hause komme, geht nämlich gar nichts mehr. Keine langen Küchengespräche, keine Problemlösungssitzungen wegen der tropfenden Gastherme, nicht einmal ordnungsgemäßes Abspülen meiner Kaffeetassen und Weingläser kriege ich noch hin. Außerdem ist Laura sauer, weil ich ihre Milch geleert und es nicht geschafft habe, neue zu kaufen. […] Gestern habe ich dann auch noch Hannahs Zorn auf mich gezogen. Der Freitagabend gehört nämlich traditionellerweise uns und verläuft nach einem mehr oder weniger ritualisierten Ablauf. […] Die Freitagabende sind uns heilig, und es muss einen guten Grund geben, wenn einer von uns da nicht mit machen will. Nur hatte Hannah diesmal leider sehr wenig Verständnis für meinen guten Grund: Ich musste am nächsten Morgen arbeiten. Meine beste Freundin schaute mich enttäuscht an, brummelte etwas von ›Ausbeutung‹, ›Karrierefixiertheit‹ und ›sozialer Vereinsamung‹ und zog meine Zimmertür beleidigt von außen zu.« (Ebd.: 90f.) (6) »›Ja, ich bin dran.‹ Was will der [der Chef] denn am Samstagnachmittag? Ich habe heute doch frei […]. ›Bewegen Sie mal Ihren Hintern hierher, aber zack, zack. Einer Ihrer nichtsnutzigen Mitpraktikanten ist krank geworden, und Sie übernehmen seinen Termin. […] Ich spendier Ihnen sogar ein Taxi. Und jetzt los!‹ […] Ich greife nach meiner Jacke und will lossprinten, als ich die Gesichtsausdrücke meiner Mitbewohner sehe. Laura schaut beleidigt, Claas maßlos enttäuscht, DiRt! verwundert, und Hannahs Augen funkeln vor Wut.« (Ebd.: 189f.)
Die Transformation zum ›ökonomischen Subjekt‹, die mit der Neuattribuierung des zentralen Akteurs verbunden ist, ist stets negativ konnotiert: Vereinsamung statt Gesellschaft, inauthentisches statt authentisches Verhalten, Dynamik statt
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Statik. Aus dem kapitalismuskritischen Kontext lassen sich die literarischen Strukturen als Muster der Ökonomisierung, also einer ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ (vgl. Habermas 1981) durch die ökonomische Zwangsstruktur (vgl. die müssen-Modalisierung in Beispiel 1, 4, 5, 6) lesen: Hierbei werden im soziokulturellen Kontext als nichtökonomisch geltende Verhaltensformen, Einstellungen etc. für ökonomische Zielsetzungen instrumentalisiert. Durch das kontraktuelle Schema bleibt aber die Modalisierung mitunter ambivalent: »Mir hat’s aber trotzdem Spaß gemacht [die Arbeit beim Sender], und mit jedem neuen Tag im Sender wächst auch meine Routine bei den praktischen Abläufen. Ich gehe schon deutlich ruhiger an meine Aufgaben heran. Was mich allerdings mittlerweile echt fertigmacht, sind die langen Arbeitstage. Es ist nicht nur anstrengend, ich komme auch zu gar nichts mehr.« (Liere 2008: 142)
Das zeitgleiche Changieren zwischen einer Modalisierung des Wollens und des Müssens ist ebenfalls Indikator für die nach dem Muster der Gouvernementalität organisierte Kritik an der Arbeitswelt: Es verstärkt die Semantik der Freiwilligkeit, mit der sich das Subjekt mehr oder weniger offensichtlichen Zwangsstrukturen unterwirft. Die Handlung ist dominant durch episodische Aufgaben des Bewerbungsoder Arbeitsalltags (Christ, Liere: journalistische Arbeit, Kontakt mit Kollegen; Klein: Bewerbungssituationen) sowie durch Konkurrenzsituationen (innerbetriebliche Konflikte) gekennzeichnet: In Christs Roman gibt der Chef etwa Jans Konzept an einen Kollegen weiter, bei Liere löscht die Antagonistin Olivia Aufnahmebänder, und Kleins sich bewerbende Protagonistin Pia konkurriert mit ihren Mitbewerbern. Die Handlungsdynamik entsteht daher wesentlich aus innerbetrieblichen Konkurrenzsituationen, was wiederum eine Kritik an der Arbeitswelt aktualisiert. Das zentrale Moment des Praktikantenromans liegt darin, dass die Protagonisten zwar die einzelnen Prüfungen bestehen, an der abschließenden Prüfung (Erlangung eines Arbeitsplatzes) aber scheitern. Jene oben beschriebene vertragliche Homologie-Beziehung, die die epistemische Modalisierung als Form der Wahrscheinlichkeit sicherstellen soll und damit die Kontingenz minimiert, stellt sich als dysfunktional hinsichtlich der Berechenbarkeit der Handlung heraus. Dies inszenieren die Romane sowohl durch ihre Makro-Struktur als auch in den kleineren Episoden der Mikro-Struktur:
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Transformation der epistemischen und veridiktorischen Modalisierung
Paraphrase
»Die Realität aber rauschte meilenweit an meinen Träumen vorbei. Schlimm ist, dass man so etwas nicht sofort merkt, weil man so betäubt ist von der vermeintlichen Aussicht auf Glück. « (Christ 2009: 120) »›Was war das denn für eine Veranstaltung?‹ ›Intern haben wir unsere Wahl bereits getroffen.‹ Sie sieht ihn forschend an. ›Der Ausgewogenheit halber laden wir noch ein paar Kandidaten ein.‹ ›Ah so, Vitamin B. Sie kennen irgendjemanden und den präsentieren Sie später, nach all den Gesprächen, als Ihren Favoriten.‹ […] Er grinst scheinheilig: ›Das haben Sie gesagt.‹ ›Und so ein Alibi ist Ihnen eine Fünfzehntausend-MarkAnnonce in der FAZ wert?‹« (Klein 2001: 64) »›Der Uli von Finks, du weißt schon, der hat das pfiffig gemacht! Der ist ja Psychologe und im Krankenhaus konnte er nicht bleiben ... Tja, und jetzt ist er in so einer Personalabteilung.‹ Ruth freut sich mit Uli. Er ist clever. ›Und da macht er die Lohnbuchhaltung und schreibt Arbeitszeugnisse aus einem Formular ab. Und rein zufällig ist der Abteilungsleiter sein Patenonkel.‹« (Ebd.: 91) »Helmstedt lacht laut auf: ›[…] Den Volontärsplatz kriegt keiner von Ihren Mitpraktikanten, sondern der Neffe vom Geschäftsführer, das steht schon seit vier Wochen fest. Aber nicht weitererzählen, dass ich Ihnen das verraten habe!‹« (Liere 2008: 203)
Schein: »Träume«, Sein: »Realität«
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Schein: »Fünfzehntausend-Mark-Annonce in der FAZ«, Sein: »Vitamin B«
Schein: »pfiffig gemacht«, Sein: »rein zufällig ist der Abteilungsleiter sein Patenonkel«
Schein: kompetitiver Wettbewerb, Sein: »Neffe vom Geschäftsführer«
Trotz positiver Erfüllung der Aufgabenstruktur werden die Akteure negativ evaluiert, die Angestelltenverhältnisse bekommen stets die anderen, schlechter Qualifizierten, aber mit den entscheidungsmächtigen Akteuren durch soziale Beziehungen Verbundenen. Die Modalisierung der wirtschaftlichen »Chancenwelt« wandelt sich dementsprechend hinsichtlich ihrer epistemischen (wahrscheinlich Æ unwahrscheinlich) und hinsichtlich der veridiktorischen Modalisierungen (Sein Æ Schein): Christs Akteur Jan etwa bezeichnet an der Textoberfläche seinen eigenen Bildungsprozess in kondensierter Form als »Desillusionierung« (Christ 2009: 92).
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An der Textoberfläche wird die Transformation von der Chancenwelt hin zur sozioökonomischen ›Lüge‹ mit unterschiedlich besetzten Rollen immer wieder re-inszeniert: Etwa werden von Pia Eigenschaften gefordert, die in Form der Figurativisierung ihres Chefs nicht realisiert werden: Bewerbungsgespräch
Verhandlungsgespräch
Interlokuteur »Hafersack«, erwartete Eigenschaften = Schein »Nur die Besten der Besten bekommen hier eine Chance. Profis! Echte Persönlichkeiten!« (Klein 2001: 157)
Enunziateur: Narrateur, reale Eigenschaften = Sein »Herr Hafersack ertränkt alle Servietten, die er greifen kann, im Kaffeesee, augenblicklich sitzt er vor einem Haufen brauner matschiger Knäuel. Als er sich über den Tisch beugt, um weitere Servietten an sich zu ziehen, hängt er auch noch sein Lifestyleabzeichen [Krawatte] in die Tasse.« (Klein 2001: 165f.) »Herr Hafersack schleicht durch sein Büro, öffnet die Verbindungstür zum Konferenzzimmer und weist die Herrschaften [die Franzosen der Muttergesellschaft] stumm herein. Mit einer Geste bittet er, doch Platz zu nehmen« (ebd.: 164f.).
»›Wir erwarten verhandlungssicheres Englisch, perfektes Französisch, ausbaufähiges Spanisch.‹ […] ›Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass Sie an unsere Muttergesellschaft in Paris zu berichten haben.‹« (Ebd.: 159)
Deutlich markieren die Zitate die Differenz von erwarteten und realisierten Eigenschaften, die das beruflich erfolgreiche Subjekt disqualifizieren und – umgekehrt – das wirtschaftlich disqualifiziert als eigentlich kompetent einsetzen. Umgekehrt sind es eben gerade nicht die als erforderlich markierten Eigenschaften, die den Akteuren zu wirtschaftlichem Erfolg verhelfen: Der mimetische Teil der folgenden Sequenz steht als authentisches Wissen (Sein) in Kontrast zu dem zweiten Teil, in dem, durch die Poker-Metapher sowie die mediale Inszenierung noch verstärkt, auf die Scheinhaftigkeit der öffentlichkeitswirksam präsentierten Betriebspolitik hingewiesen wird: »›Reiß dich gefälligst zusammen! Du weißt doch, wie das hier funktioniert. Du darfst dir nichts anmerken lassen.‹ ›Ich versuche es ja, verdammt! Aber es wird immer schwieriger. Heute werden die neuen Zahlen präsentiert. Ich bin dafür verantwortlich.‹
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›Aber was heißt das denn schon?‹ ›Das heißt, dass ich meinen Job los bin, wenn hier irgendetwas schiefgeht.‹ ›Wer sagt denn, dass es dein Fehler war?‹ ›Ich hab's eben verbockt.‹ ›Gibt es Beweise?‹ ›Na ja, nein, nicht so wirklich. Es ist eben in meiner Abteilung passiert. Eine Fehlkalkulation.‹ ›Hörst du: Noch ist nichts entschieden. Lass dir ja nichts anmerken. Du musst pokern.‹ […] Am nächsten Tag war in der Zeitung etwas von Entlassungen in dieser Fabrik zu lesen. Fünfzig Angestellte mussten gehen, aber das Unternehmen verkündete stolz, dass Entwicklungsabteilung und Unternehmensleitung uneingeschränkt am Standort München verbleiben. Klaus war auf einem der Fotos zu sehen, er stand im Kreise seiner Anzugträgerkollegen und lächelte wie jemand, der gerade über andere entscheiden durfte.« (Christ 2009: 29f.)
In der Praktikantenliteratur werden die wirtschaftlichen Leistungsversprechungen als Lüge ›enttarnt‹, erfolgreiches Vorankommen in der Arbeitswelt entsteht geradezu aus gegenteiligem Verhalten. Die verkehrte Arbeitswelt führt die Praktikantenliteratur damit in die Nähe der Groteske, wie sie in den populären Business Class-Büchern Martin Suters ebenfalls zur Anwendung kommt. Das temporale und spatiale Andere Ein weiteres wiederholt aufgerufenes Element der Praktikantenliteratur umfasst Episoden von Auseinandersetzungen der Praktikanten mit ihren (Groß-)Eltern. Die von der Kapitalismuskritik aufgerufene Differenz zwischen einem wohlfahrtsstaatlichen und einem rein leistungsbezogenen Kapitalismus wird in wiederkehrenden Szenen figurativisiert umgesetzt: Die semantische Differenz läuft über temporale Zuschreibungen (früher vs. heute) und korreliert mit einer spezifischen semantischen Ausstattung: Figurativisierung kapitalistischer Kulturen »›Sie [die Eltern] können diese Angst einfach nicht verstehen. Vielleicht wollen sie es auch einfach nicht, aber ich kann nicht verstehen, warum das so ist.‹ ›Weil sie es, beruflich gesehen, vielleicht einfacher hatten als wir? Sie mussten nicht immer nur von Kurzjob zu Kurzjob denken, hatten eine Perspektive ...‹ ›Was mich stört, das ist dieses völlige Unverständnis. Sie kennen diese Angst nicht.‹« (Christ 2009: 97)
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»›Der Christian hat ja auch bei einer Kanzlei angefangen.‹ Un-ver-dros-sen. Pia verdreht die Augen. ›Vor fünfzehn Jahren! Heute kannst du dir einen aus dem Katalog aussuchen, der genau das und das gemacht hat, von mir aus mit roten Haaren und blauen Augen. Und weil es genau solche Leute gibt, kommt man als Anfänger nicht rein. Geschlossene Gesellschaft.‹« (Klein 2001: 91f.) »›Warum, was zahlen dir die denn, Bambina?‹, fragt mein Opa nach. ›Dreihundert Euro im Monat.‹ ›Wie, die zahlen dir dreihundert Euro dafür, dass du da sechs Tage die Woche jeden Tag zwölf Stunden arbeitest? Aber warum das denn? So wenig Geld habe ich als ungelernter Hilfsarbeiter am Lago di Garda verdient, aber das war 1950, und selbst da hatte ich am Wochenende frei.‹ ›Ach, Nonno, das sind aber andere Zeiten gerade, weißt du, das machen fast alle nach der Uni, sonst kriegt man keinen Job.‹ […] Mein Nonno ist ein alter Gewerkschaftler, es war klar, dass er da innerlich auf die Barrikaden geht.« (Liere 2008: 93)
Die Vergangenheit wird stets zum positiven Ort sozioökonomischer Verhältnisse aus Sicht des Praktikanten-Subjekts. Die Ausstattung (sichere Arbeitsverhältnisse, Festanstellungen etc.) korreliert mit der Ausstattung jener mittleren Transformationserzählung), die grundlegend für die gegenwärtige Kapitalismuskritik geworden ist, nämlich das »beliebte Schema einer seit den 1970er Jahren erfolgenden Auflösung keynesianischer Wohlfahrtsstaaten im neoliberalen Weltmarktgeschehen« (Schmidt 2008: 124). Die Enunziate der (groß-)elterlichen Sprecherposition werden aktualisiert in Form von Ratschlägen als wirksam beglaubigte common-sense-Werte eines traditionellen Arbeitsethos (Fleiß, Einsatzbereitschaft, Zielstrebigkeit etc.), die im Kontext der Handlung sich aber als unwirksam erweisen: Enunziate (groß-)elterlicher Interlokuteure, ›Ratschläge‹ »›Deinem Vater ist das auch nicht alles in den Schoß gefallen. Ohne Fleiß kein Preis.‹ ›Ja, ja. Lehrjahre sind keine Herrenjahre, ich weiß.‹ ›So ist es!‹ […] Und bestimmt kommt jetzt die Geschichte von Onkel Rudi, der anno soundso nach Amerika gegangen ist. ›Onkel Rudi hatte auch nur drei Dollar in der Tasche, als er ...‹ ›Ich weiß.‹« (Klein 2001: 50) »›Ja, du musst auch ein bisschen flexibel sein! Wenn’s nicht anders geht, musst du eben nach Rosenheim! Du darfst dich nicht immer nur auf Düsseldorf beschränken.‹ Herrgott noch mal. Sie bewirbt sich von Nord nach Süd, von West nach Ost. In Bayern gibt’s genug Juristen. Überall.« (Ebd.: 87) »›Du darfst nicht immer bloß warten, bis die Arbeit zu dir kommt. Du musst auch mal bereit sein, woanders hinzugehen.‹ Ruth würde es wenigstens mal ›versu-
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chen‹. Ein Versuch kostet doch nichts! Tausend Versuche kosten doch nichts. Allein das Porto kostet dreitausend Mark.« (Ebd.: 89) »›Lehrjahre sind keine Herrenjahre, Cornelia‹, sagt mein Vater trocken […]. Heute, gute acht Wochen nach unserem ersten Arbeitstag, hat bereits der dritte Praktikant das Handtuch geworfen, es geht das Gerücht, dass er im Schneideraum einen Nervenzusammenbruch erlitten habe […]. ›Gewöhn dich schon einmal an das Berufsleben, es wird einem nichts geschenkt‹, sagt mein Vater weiter ungerührt in den Hörer. Dabei muss er sich überhaupt nicht beschweren, er ist Finanzbeamter, einen unstressigeren Job gibt es, glaube ich, gar nicht.« (Liere 2008: 186f.)
Die aus dem kulturellen Kontext heraus erkennbare phrasenhaft-lexematische Realisierung (»Lehrjahre sind keine Herrenjahre«) verstärkt den Effekt der akteursbezogenen Unwissenheit: An den in den Romanen explizit markierten, negativ-konnotierten Zuständen der Arbeitswelt (siehe die leistungsbezogenen Subjektattribuierungen und die subjektbezogene Ökonomisierung) wird die Unangemessenheit des (groß-)elterlichen Ratschlags überdeutlich markiert. Über Figurativisierungen wie diesen markieren die Praktikantenromane deutlich den Bruch zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ kapitalistischen Verhältnissen. Ganz generell lässt sich feststellen, dass die Praktikantenromane das Andere kapitalistischer Verhältnisse benötigen: Das Erzählenswerte der Praktikantenliteratur besteht geradezu in der sozioökonomischen Denormalisierung, deren Semantik der Differenz erst vor dem Hintergrund jener vergangenen Verhältnisse funktioniert. Romantisierende Entökonomisierung oder Jungunternehmer-Start-Up Die Praktikantenromane funktionieren über eine sich im Verlauf der Handlung intensivierende Kontrastierung divergierender Axiologien (sozioökonomisch vs. subjektbezogen; ökonomische Anforderung vs. authentisches Selbst etc.), die am Höhepunkt der Handlung noch einmal konfliktiv aneinandergeraten und schließlich zur Peripetie und Anagnorisis führen: In Lieres Roman werden die privaten Ansprüche (Einlieferung der Großmutter ins Spital) mit den beruflichen (plötzlicher Wochenenddienst beim Sender) kontrastiert: »Nachdem auch die Redakteurin von ›HamburgLife live‹ zum Abschied zu mir sagt: ›Du hättest wirklich erst den Beitrag fertig machen müssen. Ich wäre an deiner Stelle nicht gefahren‹ – spätestens da ist mir vollkommen klar, dass dieser Betrieb nicht das Richtige für mich ist.« (2008: 204)
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Die Protagonistin bleibt dem Dienst fern und kündigt. In Christs Roman soll Jan seinem Chef Schmäler eine kapitalismuskritische Rede schreiben, womit er selbst zum Handlanger der veridiktorischen Verschiebung (›Lügner‹) würde: »Ausgerechnet dieser glatte Schmäler, der lächelnd Leute in die Arbeitslosigkeit schickte. Dieser strahlende Maskenmann, der selbst so angefixt von Trends und Marktmechanismen war und dem jede Respektbekundung durch andere Wettbewerber ein kleines Weihnachten bedeutete. Er redete darüber, dass zunehmende Teile unseres Alltagslebens von Angebot und Nachfrage abhängig seien. Er warnte davor, dass Wahrheit nicht käuflich wäre. Und er forderte einen Mindestlohn für Praktikanten: 600 Euro im Monat, nach Abschluss des Grundstudiums. Ich konnte kaum glauben, was ich da las. Ich bekam von ihm knapp die Hälfte, aber in meinem Vertrag gab es ja auch eine dazu passende Verschwiegenheitsklausel.« (Christ 2009: 119)
Die letzte Szene, die ebenfalls mit der Kündigung des Protagonisten endet, wird im ›Szene-Theater‹ umgesetzt, womit die veridiktorischen Verhältnisse semantisch überdeterminiert werden: Das Überbringen der Rede durch Jan gerät zum theatral-performativen Eklat. Die Beantwortung der Frage, welchen Ausgang ein solches narratives Setting haben kann und welches utopische Potenzial die literarische Darstellung ermöglicht, fällt im Hinblick auf den Grad der Konventionalisierung im Praktikantenroman enttäuschend aus: Die Akteure vollziehen eine Entökonomisierung, deren semantischer Binarismus zu romantisch-konservativen Gegenentwürfen führt. Bei Christ ist der Gegen-Bezugspunkt unter anderem der Kontakt zu den Eltern und der heimatlichen Kleinstadt. Folgende Textstelle zeigt die Binarität zwischen der verfremdenden-sachlichen Wirtschaftssphäre und der authentischsozialen Privatsphäre (sowie die Ko-Oppositionen Land vs. Stadt, materielle vs. immaterielle Wertschöpfung etc.): »Manche Dinge ändern sich nie. Und das sollten sie auch nicht. Ich halte zum Beispiel regelmäßig Kontakt zu meinen Eltern. Wir telefonieren mindestens einmal die Woche. Entweder spreche ich mit meinem Vater oder meiner Mutter, je nachdem, wer von beiden das Telefon zuerst klingeln hört. Ich habe mir angewöhnt, die Nummer meiner Eltern stets selbst einzutippen und nicht den eingespeicherten Kontakt in meinem Handy zu verwenden. Zwar dauert es so ein wenig länger, aber es erscheint mir etwas persönlicher. […] Meine Eltern betreiben einen kleinen Feinkostladen im nächsten größeren Ort. Zusammen mit meiner älteren Schwester habe ich in meiner Kindheit oft zwischen den Regalen gespielt, wir haben uns einige Orangen genommen, ein paar Birnen und vor allem leckere Weintrauben.« (Ebd.: 41)
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In Lieres Roman sind es die einen landwirtschaftlichen Betrieb führenden Großeltern, deren guter Zuspruch, langsame Lebensart und finanzielle Hilfe für die Enkelin die utopische Gegenwelt zur städtischen Ökonomisierung bilden (Liere 2008: 94f.). Die Kontrastierung der Spatialisierung (Stadt/Land), der jeweiligen Art der Arbeit (abstrakte Arbeit/Handarbeit) und des sozialen Verhaltens (instrumentalisiert/zweckfrei) erzeugt wiederholt Ko-Oppositionen. Das solcherart inszenierte Werteuniversum findet auch in den Romanenden seinen Ausdruck: Lieres Protagonistin tritt dank mehrerer tausend Euro, ein Geschenk der Großeltern, eine Asienreise an (vgl. ebd.: 205). Ebenso beschließt Christs Protagonist, sein Leben zu verlangsamen und in eine WG zu ziehen: »Ich werde mir Zeit lassen. Viel mehr als früher. Und auch mal wieder Freunde besuchen. Punkt zwei: Keine Übergangswohnungen mehr. Eine Wohngemeinschaft wäre toll, gern auch mit ein paar Freaks. […] [U]nd vielleicht fahren wir ja auch mal nach Usedom, oder sonst wo an die Küste, zur Erholung.« (Christ 2009: 173) Die Subjekt-Transformation ist überdeutlich als symmetrisch zu erkennen: Auf Entfremdung folgt Geselligkeit, auf Mobilität folgt Statik, auf die Modalisierung eines systemischen Müssens die eines individuellen Wollens. Eine gänzlich andere Lösung im zuvor kritisierten kapitalistischen Sinne realisiert Klein: Die Geschäftsidee ihrer Protagonistin wird mit einem Start-Up-Preis prämiert und finanziell unterstützt; eine Geschäftsidee, die ausgerechnet durch die Mitarbeit zweier Studenten – und man darf annehmen: per Werkvertrag ›angestellte‹ Mitarbeiter – umgesetzt wird. Die narrative Ratlosigkeit auf die Frage, wie prekäre Biographien in wirtschaftlich schwierigen Zeiten literarisch umzusetzen sind, wird in der binären Realisierung der Romane offenkundig. Dass zwischen einem (scheinbar) utopischen Gegenentwurf beziehungsweise der völligen Entökonomisierung und der Integration in die kritisierten ökonomischen Verhältnisse eine dritte, ambivalente und von der Semiotik als komplexe Position (a und non-a zugleich) bezeichnete Leerstelle möglich ist, zeigt der 2004 erschienene Roman Jessica, 30 von Marlene Streeruwitz. Die unter prekären Verhältnissen und im praktikantischen Milieu lebende Jessica gibt ebenfalls ihre Mitarbeit bei einem allzu kommerziell angepassten Frauenmagazin auf, engagiert sich aber mit ihrer letzten journalistischen Arbeit im Sinne der demokratischen Öffentlichkeit. Ähnlich wie anhand der Praktikantenliteratur gezeigt, hegt auch sie als glücklich markierte Jugenderinnerungen ›am Land‹ (Hartberg, das Haus ihrer Tante), und sie sinniert über die Realisierungsmöglichkeiten einer politökonomischen Utopie, um sich zugleich davon zu distanzieren: »in geschlossenen Systemen oder im Fluten von offenen Vereinbarungen, für das Offene, da müssten wir alle immer sehr gefestigt und moralisch sein, dann ginge das, aber wer ist das« (Streeruwitz 2006: 37). Die
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Frage, die Charim stellt, muss rhetorisch gelesen werden: »Ist Hartberg also der Ausweg aus dem Neoliberalismus?« (Charim 2007: 37)
R ESÜMEE Wie die Analyse zeigen konnte, lässt sich der Praktikantenroman als literarische Formation wiederkehrender Elemente beschreiben. Die weitgehende Ähnlichkeit kann als Hinweis auf ein Tableau kollektiv geteilten – kritischen – Wissens verstanden werden, das die exemplarischen Erwerbsbiographien im Modus des Literarischen strukturiert. Dazu gehören etwa Formen der (Selbst-)Ökonomisierung, das uneingelöste Versprechen wirtschaftlicher Prosperität und der Erfahrungsbruch zwischen ›altem‹ und ›neuem‹ Kapitalismus. Dem kritischen Wissen über Kapitalismus kommt eine wichtige Rolle zu: Der Begriff des Praktikanten kondensiert gewissermaßen die in der Literatur expandierten Syntagmen und Semantiken, stellt also per se ein negativ konnotiertes Stereotyp zur Verfügung. Wie zuletzt dargestellt, scheint es dem trivialliterarischen Charakter der Werke geschuldet, dass diffizile Auflösungen des tragenden Konflikts ausbleiben, es werden Lösungen realisiert, die eigentlich keine sind. Und so enden die Romane, wie sie begannen: »Jedenfalls weiß ich jetzt schon einmal, was ich nicht will – Karriere um jeden Preis nämlich. Und irgendetwas werde ich schon finden.« (Liere 2008: 204)
L ITERATUR Bertschik, Julia (2007): »›Junge Talente‹. Über Jobs und Müßiggang in der Gegenwartsliteratur«, in: Kift/Palm, Arbeit – Kultur – Identität, S. 69–83. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Charim, Isolde (2007): »Nichts als Einsatz. Neoliberalismus im Werk von Marlene Streeruwitz«, in: Jörg Bong (Hg.), ›Aber die Erinnerung davon.‹ Materialien zum Werk von Marlene Streeruwitz, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 24–37. Christ, Sebastian (2009): … und wünschen Ihnen für die Zukunft alles Gute! Ein Leben als Praktikant, München: Goldmann.
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Dirke, Sabine von (2008): »Sleepless in the New Economy: Money, Unemployment and Identity in the Literature of Generation Golf«, in: Mark W. Rectanus/Paul Michael Lützeler (Hg.), Über Gegenwartsliteratur. Interpretationen und Interventionen, Bielefeld: Aisthesis, S. 141–156. Greimas, Algirdas Julien/Courtés, Joseph (1982): Semiotics and Language: An Analytical Dictionary, Bloomington (Indiana) u.a.: Indiana University. Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns (= Bd. 2), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Haeming, Anne (2010): Bücher zur ›Generation Praktikum‹: Von Mägden und Knechten, http://www.spiegel.de/unispiegel/jobundberuf/buecher-zur-generation-praktikum-von-maegden-und-knechten-a-681066.html in der Fassung vom 09.03.2010. Kift, Dagmar/Palm, Hanneliese (Hg.) (2007): Arbeit – Kultur – Identität. Zur Transformation von Arbeitslandschaften in der Literatur, Essen: Klartext. Klein, Carina (2001): Wo geht’s denn hier nach oben?, München/Zürich: Piper. Klettenhammer, Sieglinde (2010): »Vorwort«, in: dies. (Hg.), Literatur und Ökonomie, Innsbruck: Studien, S. 7–10. Krauthausen, Karin (2006): »Gespräche mit Untoten. Das konjunktivistische Interview in Kathrin Rögglas wir schlafen nicht«, in: Kultur & Gespenster 2, S. 118–135. Liere, Judith (2008): Probezeit, München/Zürich: Piper. Link, Jürgen (2004): »Von der Diskurs- zur Interdiskursanalyse (mit einem Blick auf den Übergang vom Naturalismus zum Symbolismus)«, in: Leopold R.G. Decloedt (Hg.), Rezeption, Interaktion und Integration. Niederländischsprachige und deutschsprachige Literatur im Kontext, Wien: Edition Praesens, S. 27–43. Link, Jürgen/Link-Heer, Ursula (1990): »Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 20, S. 88– 99. Link, Jürgen/Parr, Rolf (2005): »Semiotik und Interdiskursanalyse«, in: KlausMichael Bogdal (Hg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 108–133. Ohno, Christine (2003): Die semiotische Theorie der Pariser Schule. Ihre Grundlegung und ihre Entfaltungsmöglichkeiten, Würzburg: Königshausen & Neumann. Parr, Rolf (2008): »Interdiskurstheorie/Interdiskursanalyse«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Foucault-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart: Metzler, S. 202–206.
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»Das ist doch keine Arbeit.« The Negotiation of Work in Christian Petzold’s Die Beischlafdiebin S TEPHAN H ILPERT
Christian Petzold’s work is attracting increasing interest among film scholars, who have so far mostly focused on his later, better-known films. Interestingly, however, certain themes recur throughout his oeuvre, with the later films taking up motifs which had already appeared in the earlier ones. Exploring life in Germany today, Petzold’s films deal with characters in a state of uncertainty who face unstable social structures as well as increasing flexibility and mobility. Many of the films draw particular attention to issues of work, one of the most evident examples being one of Petzold’s early films, Die Beischlafdiebin (1998). This film tells the story of the main character Petra’s frustration with her longtime occupation as a hotel robber in a holiday paradise in Morocco and her trip back home to Germany with the aim of starting a new life, where her perspective on the issue of work is confronted with that of her sister Franziska. Discussing the topic of work in Die Beischlafdiebin, this essay will argue that the film can be read as a reflection on the nature and problems of work in contemporary society, and that looking at this film may be helpful for a further understanding of Petzold’s later films. The discussion will address several relevant aspects, including the relation between work and crime, erotic and economic capital, pretence and fraud, job seeking, as well as issues of gender and exploitation. Pierre Bourdieu’s sociological theory, particularly his concept of different forms of capital, and Catherine Hakim’s development thereof will provide useful impulses for the analysis of the film.
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Already the opening sequence of Die Beischlafdiebin not only establishes the theme of work itself, but also introduces the key issue which the film will explore in this context, namely the relation between crime, prostitution and classical forms of ›honest‹ work. We are introduced to the main character Petra while she is on the job as a hotel robber, seducing and then drugging a lonesome man in a hotel far away from Germany in order to steal his valuables. After carrying out her job, Petra leaves the hotel room of her victim, puts her high-heeled shoes back on and walks the hotel hallway with her head held high during the film’s opening titles. She maintains an appearance of elegance and self-confidence, thus glossing over her lack of classical employment as well as the moral borderlines she transgresses. The scene of Petra leaving the site of crime, closing the door and slipping back into another identity recalls the experimental film Arbeiter verlassen die Fabrik (1995) by Harun Farocki, Petzold’s former teacher at the Berlin film school and screenplay collaborator on many of his films. Through a montage of film clips, Farocki explores cinematic moments of workers leaving their factories as moments of transition from work to private life, from being part of a workforce to being noticeable as an individual, and he also draws attention to the people’s way of walking or running. In an interview, Petzold confirms his interest in the relation between the way a person walks and their job, referring to his film Yella (2007): »Diejenigen, die keine Arbeit haben, […] erkennen am Gang, an der Erhabenheit, an der Selbstsicherheit der anderen, wer zu ihnen gehört und wer nicht« (Nord 2007). The final shot of the opening sequence of Die Beischlafdiebin continues to explore work postures and further emphasises Petra’s exceptional work situation as a ›parasitic‹ criminal: on leaving the hotel, she passes by a cohort of stooping cleaning ladies, who, differently from her, are carrying out a stereotypical form of blue-collar physical work. After being established in the opening sequence, the work theme will remain crucial throughout Die Beischlafdiebin. Given his engagement with issues of work and his critical view of capitalism, the work of sociologist and social theorist Pierre Bourdieu as well as the development of his approach by Catherine Hakim will prove helpful in analysing this issue in the film. Before turning to Bourdieu’s concept of different forms of capital, his thoughts on the influences of capitalism on social cohesion shall serve as a starting point for the discussion. On the basis of his early fieldwork in Algeria, he argues that the clash between capitalism, brought to the country from Europe, and the traditional social system has caused negative consequences not only in terms of the economy, but for society in general (cf. Bourdieu 1959). He detects the disappearance of a collec-
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tive cohesion in families and in society as a whole as an inevitable consequence of capitalism, rather than being a self-evident social condition, describing neoliberal economics as »ein Programm der planmäßigen Zerstörung der Kollektive [emphasis i.o.] (die neoklassische Ökonomie kennt nur Individuen, ob es sich nun um Unternehmen, Gewerkschaften oder Familien handelt)« (1998c: 110).1 Many of Petzold’s films reflect this idea in the sense that they explore characters who, against the backdrop of the late-capitalist society, have become loners and drifters, devoid of substantial social or inter-personal bonds, Petra in Die Beischlafdiebin being a prime example. With regard to Petzold’s later films, particularly Yella, similar issues have been discussed in several scholarly analyses working with different theoretical perspectives. Analysing the depiction of work in Yella, Sabine Nessel utilises Richard Sennett’s views on the development of labour, including his arguments regarding an increasing flexibilisation and a drifting of professional identity, to point out the opposing new and old economic systems depicted in the film, in the Eastern and the Western part of Germany respectively. The new economy in Yella, as analysed by Nessel, is characterised by an »Ortlosigkeit« or »Ständig-inBewegung-Sein der Figuren«, and thus exhibits many similarities with Petra’s working life in Morocco. Nessel argues that this lifestyle of mental and spatial flexibility, as explored in Yella and other Petzold films, is reflected in the use of places: »An die Stelle der Wohnungen treten Heime und Hotels, an die Stelle von Betten, Sesseln und Polstergarnituren, die in den Filmen von Fassbinder noch von hoher Präsenz waren, tritt bei Petzold der Innenraum des Autos, an dem die Landschaft vorbeizieht« (Nessel 2011: 204). Anke Biendarra, who analyses the use of places in Yella, refers to Marc Augé’s concept of the ›non-place‹ to describe the lack of identity, history, or personal attachment in the film’s places, citing the business hotel, which is one of the most frequently used settings in Yella, as a particularly good example (cf. Biendarra 2011: 471f.). Die Beischlafdiebin anticipates not only this depiction of a flexibilised working life, but also the use of places in this context: the film repeatedly shows Petra walking in unspecific in-between spaces such as streets, paths and staircases. For her work as a robber, she uses hotel bars, hotel terraces and hotel rooms, subverting the idea of leisure normally associated with these places. While her victims are on holiday far away from home, in order to relax from everyday life and from work, Petra is there with the sole purpose of making money.
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This text is based on a lecture given in French but has, to my knowledge, only been published in German.
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Intending to explore the mechanisms of reproduction of the dominant class, Bourdieu stresses the importance of capital, which in his theory »is a vis insita, a force inscribed in objective or subjective structures, but it is also a lex insita [emphasis i.o.], the principle underlying the immanent regularities of the social world« (Bourdieu 1986: 241). He reproaches economic theory with »reducing the universe of exchanges to mercantile exchange« and calls for a wider understanding of the notion of capital, since, »as everyone knows, priceless things have their price« (ibid.: 242). Acknowledging the importance of non-material forms of capital, he argues that social science »must endeavour to grasp capital and profit in all their forms and to establish the laws whereby the different types of capital (or power, which amounts to the same thing) change into one another« (ibid.: 243). He introduces the distinction between different forms of capital, drawing attention to the convertibility between them: »capital can present itself in three fundamental guises: as economic capital, which is immediately and directly convertible into money and may be institutionalized in the form of property rights; as cultural capital, which is convertible, on certain conditions, into economic capital and may be institutionalized in the form of educational qualifications; and as social capital [emphases i.o.], made up of social obligations (›connections‹), which is convertible, in certain conditions, into economic capital and may be institutionalized in the form of a title of nobility« (ibid.).
Bourdieu adds a further notion, namely ›symbolic capital‹, which stands for »a reputation for competence and an image of respectability and honourability« (1984: 291), that is, prestige and recognition (Bourdieu 1989: 17). He understands the social world as consisting of a number of different fields, such as »the artistic field, or the religious field, or the economic field«, defining the field »as a network, or a configuration, of objective relations between positions« (Bourdieu/Wacquant 1992: 97). According to Bourdieu, the individuals seek »to safeguard or improve their position« in these fields, strategically using the capital he or she possesses (ibid. 1992: 101). While the body plays an important role in other aspects of Bourdieu’s thinking, most notably in relation to the concept of the habitus, it is not explicitly included in his theory of capital and exchange. The issue of the body and selfpresentation is, however, integrated by several other Bourdieuian theorists: studying boxers in ghettos in American cities, Loïc Wacquant draws attention to the important role of the body in the fields of sports and work. He adds another form of capital to Bourdieu’s list, namely bodily capital, arguing that »bodily capital and bodily labor are […] linked by a recursive relation which makes them close-
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ly dependent on each other« (Wacquant 1995: 67). This idea is further specified by, amongst others, Catherine Hakim, who discusses erotic capital, which she defines as »a combination of aesthetic, visual, physical, social, and sexual attractiveness to other members of your society, and especially to members of the opposite sex, in all social contexts« (2010: 501), criticising Bourdieu for having overlooked this important aspect (cf. ibid.: 510). Hakim notes that »certain occupations allow women to exploit their erotic capital and get commercial value from it«, and indeed, the use of erotic capital is at the heart of Petra’s criminal work in Die Beischlafdiebin, with the aim of converting it into different forms of capital (cf. ibid.). In the film, the issue of investing bodily and erotic capital is discussed explicitly for the first time when Petra meets a male colleague who targets women in the same hotel and who will remain the only male person in the film whom she allows, to a certain extent, to ›look behind her mask‹. Fittingly, this conversation starts with Petra guessing the type of make-up which the man, getting ready for a date with one of his victims, is applying in front of the mirror, confirming their complicity in their strategies of enhancing their physical attractiveness. As becomes clear during this conversation, Petra has clearly-defined ideas of her moral limits regarding the investment of bodily capital: as opposed to her colleague, she does not actually have sex with her victims. The issue of prostitution also occurs in other Petzold films: Pilotinnen (1995) and Jerichow (2008) both explore stories of women who have entered into a relationship for financial reasons, or in order to get a job. In his slight Austrian accent, Petra’s colleague speculates on how much female make-up, suntan lotion and anti-cellulite cream he must have swallowed in his life, sarcastically emphasising the logic of exchange behind their criminal occupation. When Petra and her sister later get hopelessly caught in the vicious circle of crime, this logic eventually implies that they have to pay back. Here again the human body plays a crucial role, starting with initial indications of Petra facing the visible traces of her weariness when looking in mirrors. Physical injury and suffering keep getting more intense during their increasingly desperate actions, from Franziska actually prostituting herself and being sexually abused, to Petra being beaten up and sustaining wounds to her face, to Franziska eventually dying while fleeing from the police. Hakim also stresses »the performance character of sexuality, and erotic capital more generally«, which is a crucial aspect of Petra’s strategy (2010: 504). This is established already at the beginning of the film: in the first scene, her conversation and hug with her victim appear irritating because she utters her text in a slightly artificial way, accompanied by somewhat exaggerated and thus unnatural mimics, almost as if she was an actress on stage. The camerawork and
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the use of cinematic space reinforce this impression of Petra’s artificial performance: after the initial medium close-up focusing on Petra, the film cuts back to an unmoved long shot, revealing that the two are standing on a deserted hotel terrace against the backdrop of a hotel park. This setting with the paved terrace in the foreground, separated from the park scenery by a small white wall, with Petra turned towards the camera, recalls a theatre stage. Indeed it will soon be revealed that she was only acting, deceitfully presenting false emotions. After an elliptical cut, the man is lying motionlessly on a bed in what is apparently his hotel room, dropping an empty glass which presumably contained a drug to put him to sleep. Before taking his money and valuables, Petra roughly grabs and shakes his cheek in order to check if he is really unconscious, revealing the brutal reality underlying the illusion of friendly emotions: there is no real affection or physical attraction on her part, but a cold and calculating logic of exchange between erotic and economic capital. Issues of self-staging, pretence and fraud are crucial to the exploration of work in other Petzold films, for example in Yella, as discussed by Nessel: the main characters try to intimidate the opponents in their business negotiations through gestures and behavioural strategies, and succeed in making others believe them (cf. Nessel 2011: 209). In Die Beischlafdiebin, the themes of pretence and fraud are reflected in the spatial setting of a holiday paradise: the hotel park in the background of the introductory scene, featuring palm trees, a thatched pavilion and a lake, is ostensibly an idyllic place. Like Petra’s affection, it is, however, fake: it is an artificial simulacrum of a paradise, staged by hotel managers in compliance with stereotypical images of luxurious relaxation, made for making money. The film explicitly raises this issue when Petra, in another flirtation with a potential victim, pretends to be a successful but lonely hotel manager herself. Hoping to provoke empathy by complaining about her work situation, she tells the story of how the guests regularly fall for a seemingly authentic camel caravan which, in her fictitious job, she has organised and staged. This story recurs several times in the course of the film as an important part of Petra’s, and later also her sister Franziska’s, strategy of using conversational capital. The narrative currency is however not entirely counterfeited, but the story contains a true core: Petra’s reflections on the issue of work in the story in fact correspond with her real attitude towards her work situation. Just like in the story, she is discontent with her life as a criminal far away from home, frustrated with the necessary lies and fraud, which this story in turn forms part of. Later it turns out that she kept using her imaginary identity as a hotel manager even in front of her sister, trying to maintain the façade of having a successful career. The film’s self-reflexive play with storytelling also raises the issue of agency here, with Petra taking on the role not
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only of the storyteller within the diegesis of the film, but also of the director within her own fictional story, staging the fake camel caravan. Referring to Petzold’s film Jerichow, Nessel argues that »das Thema Geld ist untrennbar mit der Ästhetik von Petzolds Filmen verbunden«, and introduces the notion »das Geldbild« (2011: 207f.). The motif of money is indeed very present in Die Beischlafdiebin, not only in the characters’ conversations, who often emphasise its absence, but also as a visible element in the image, from Petra’s small takings at the beginning of the film to a suitcase filled with 100,000 Deutschmarks in banknotes at the end. The mise en scène emphasises the importance of this motif through the repeated use of hiding places, beginning in the scenes following the exposition: Petra hides the money under the cover of the airconditioning system in her flat, stored in a transparent plastic bag together with a substantial amount of additional money and jewellery from earlier robberies. When a police officer discovers her treasure, it becomes the physical object of a fierce fight: she gives the officer an electric shock with her self-defence weapon, tries to wrest the plastic bag containing her takings from his cramped hands, but has to give up and flee at the sight of more police cars approaching. Hence money becomes physically tangible here: Petra’s exceptionally brutal methods reveal her despair, hinting at the existential meaning the content of this plastic bag has for her. Making money is rarely an end in itself for the characters, but is desperately sought after for a specific purpose, which is often utopian and unrealistic. As it turns out, the main purpose of Petra’s robberies in the past had been to send money to her sister Franziska in Germany to give her the chance to go to university and create a working life for herself that was better than her own. In Bourdieu’s and Hakim’s terms, Petra converted her erotic capital into economic capital, which her sister then further converted into cultural capital, with the overall aim of improving Franziska’s position in the field of work – with limited success, as will soon be revealed. Yet the purposes of making money shift in the course of the story. In the first part of the film, Petra is in urgent need of money in order to be able to quit her frustrating criminal occupation and start a new life with an ›honest‹ job. This idea of a better life is associated with a specific place: Petra dreams of going back to her childhood house in Cologne, in which her sister Franziska still lives. As a place of personal memories and emotional attachment, embodying Petra’s nostalgic longing for a home, and as an explicitly private place, this house forms a clear contrast to the non-places of her exile. Confronting Morocco as the place of Petra’s work deployment with an imaginary better future in Germany, the film constructs a spatial opposition related to issues of work which resembles the two different worlds of work in Yella, as described
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by Nessel. Recalling the bridge connecting these two worlds in Yella, the transition between Morocco and Germany is marked by a scene at the airport in Die Beischlafdiebin, a transitional non-place par excellence. The film continues its play with the dream of escaping to utopian places when Petra’s fellow hotel thief asks her to accompany him to Bora Bora, a group of islands in the South Sea which he imagines to be a paradise, thus in fact strikingly resembling the places in Morocco where they currently are. He considers her idea of leading an honest life in Germany to be even more unrealistic than that: »Nach Hause? Das ist weiter weg als Bora Bora!« As opposed to her colleague’s idea, Petra’s dream of returning home actually becomes real: when she is tracked down by the police in Morocco, loses all her money and has to flee, she manages to go back to Germany, stealing money for the flight ticket from him. The house is, however, soon moved back to the realm of utopian goals when Petra’s sister reveals that she has put an astronomically large mortgage on their house, and that the bank will sell it unless they pay back the first instalment. Thus the urgent need for making money starts yet again, with the goal of accumulating economic capital to buy the house back.
J OB S EEKING When Petra returns ›home‹ to Cologne, the two sisters’ reunion is used in the film to confront their different approaches and situations regarding work: while Petra expected her investment in Franziska’s education to have a high return in terms of a prestigious and well-paid job, Franziska has earned a PhD in languages. She is enthusiastic about using her fluency in several languages to preserve the original meaning of novels across translations, whereas Petra spent years abroad apparently without coming into real contact with the native people or culture. As opposed to Petra, who uses language as a means of manipulation and fraud, Franziska has developed an idealistic understanding of translation work as an art and despises work done badly due to the realities of the business, such as time pressure. »Ich betrüge nicht«, she declares, encapsulating her stubbornly maintained idea of work as an honest striving for the best possible product, and thus contrasting Petra’s pragmatic approach to work as a means of making money. Franziska’s own translation agency has failed, which is reflected in a spatial metaphor: her former office has literally turned into a ruin, with the insignia of a successful business left broken and destroyed. Unable to find adequate work, Franziska now has an unchallenging and badly paid part-time job in
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a shopping centre, a less-than-ideal solution which she tries to hide from Petra out of shame. The moment of anagnorisis in which Petra finds out about Franziska’s real occupation is staged in the shopping centre in which Franziska works, a place associated with consumption rather than work, underscoring the contrast between Petra’s ›parasitic‹ crimes and Franziska’s job as a salesperson. Busy stealing some tights, Petra initially does not recognise Franziska’s voice on the soundtrack reading out a pre-written sales promotion text and announcing the qualities of a special type of juice, but then sees her walking by and understands about her true professional identity. The theme of language is thus taken up on the level of the formal cinematic means, playing with the opposition and complementation of the auditive and the visual. Involving work with language in a manipulative rather than sophisticated or artistically ambitious way, the job in the field of commerce forms a clear contrast to her ideal work in the field of high culture. In the conversation that follows, Petra clearly states that she cannot understand why Franziska does this job: »Wozu denn die ganze Ausbildung? Das ist doch keine Arbeit, die du da machst, das ist Drecksarbeit!« This opposition between ›work‹ and ›dirty work‹ recalls the cleaning ladies in the opening sequence as the only people in the film actually doing ›dirty work‹ in the proper meaning of the word, and at the same time as the only people doing work with visible productive outcomes. Exploring the post-industrial condition of work, Die Beischlafdiebin does not depict industrial or agricultural labour but focuses on service-sector work, often with impalpable effects, and on crime as a way of making money without participating in the official economy at all. Petra’s explicit condemnation of her sister’s job as »no work« and »dirty work«, meaning abject work, emphasises her incomprehension of Franziska’s fatalism and her belief that as a humanities graduate she has little chances for a better job: »Ich glaube, dass du die falsche Einstellung hast!« From the moment she learns about the mortgage on the house, Petra develops a dedicated entrepreneurial spirit in her attempts to prevent the sale, hoping to raise money in a legal way. Given that she herself does not have the required institutionalised cultural capital in the form of formal qualifications, she eventually convinces her sister to start looking for a more adequate and more lucrative job, which leads to the film’s extensive exploration of the situation of job hunting, including the dynamics of job interviews. As a kind of self-reflexive meta-work, these moments of the negotiation of possible jobs are staged as both actual job interviews and job interview training sessions, recalling Harun Farocki’s documentary on job application seminars, Die Bewerbung (1996), which Petzold mentions as an influence on Die Beischlafdiebin (cf. Nord 2007). As in Farocki’s
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film, the interviewers analyse Franziska’s behaviour in the situations on a metalevel, confronting her with comments on the bad quality of her answers and her insufficient self-presentation skills. In addition to that, the second interviewer has her filmed with a video camera and checks back with the cameraperson if she has captured Franziska’s angry reaction: he acts as if he was a filmmaker, thus continuing the film’s self-reflexive play with storytelling and the cinematic medium. »In the labour market, erotic capital can be more important than economic or social capital in certain occupations«, Hakim notes (2010: 512), and accordingly, Petra stresses the importance of using one’s erotic capital in the interview situation when analysing Franziska’s performance. »Erotic capital is similar to human capital: it requires some basic level of talent and ability, but can be trained, developed, and learnt«, Hakim adds (ibid.), and, likewise, Petra starts teaching her sister how to act in the interviews, thus continuing the film’s meta-level exploration of work through training (ibid.). As an expert in self-staging and influencing others through clothing and body language, Petra explains her flirting strategies to Franziska, convinces her to apply them in the interview situation, gives her one of her feminine dresses and makes her put it on in front of a mirror. This moment refers back to an earlier scene in the changing room in the shopping centre where Franziska puts on her uniform: the changes in her clothing and outward appearance mark a process of metamorphosis, slipping into a different role and assuming a new identity required in the respective job situation. Hence the film suggests a connection between Franziska’s job interviews and Petra’s meetings with her victims, both being moments of using erotic capital in order to create an impression and, ultimately, sell oneself. Analysing gender relations, Bourdieu argues that the male domination over females is a problem deeply rooted in society, across all social groups and positions: »the structure of masculine domination is the ultimate principle of these countless singular relationships of domination/submission, which […] separate and unite men and women in each of the social universes« (2001: 107f.). As opposed to Petra’s superiority and control of her male victims in the field of crime, the male employers are clearly in the position of power in the field of official and institutionalised work, in line with Bourdieu’s description. It is the males who work in offices in the film, while the women have low-level service jobs, like Franziska in the shopping centre and the cleaning ladies in the opening sequence, or have no jobs at all and must rely on the men to give them work. Such structures of unequal gender relations in the context of work are also explored in other Petzold films: Biendarra points out that in Yella, for example, »despite Yella’s obvious talent and business savvy, every man she deals with profession-
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ally objectifies her to some extent« (2011: 475). As in Bourdieu’s analysis of precarity and unemployment, in which he draws attention to the problem of the abuse of power by employers, the film carries its exploration of the issue to the next level: utilising Franziska’s desperate need for a job and for money to save the house, one of the potential employers takes advantage of her willingness to sleep with him for the job, but then does not hire her (cf. Bourdieu 1998b: 98f.). In his essay on Petzold’s early films, Jörg Metelmann points out that the strategy that Petra has advised Franziska to follow, putting herself in the position of the sex object, proves to be problematic: »nun wird im Scheitern […] deutlich, daß schon die Strategie, mit diesen ›Waffen einer Frau‹ kämpfen zu müssen und sie auch zu gebrauchen, ein Unterschreiben der de facto institutionalisierten Machtstruktur ist« (1999: 32). Confronted with the failure of her established strategy in the new context of official work relations, and with the guilt of having made Franziska cross the borderline to prostitution in vain, Petra reacts by taking revenge. She flirts with the manager who took advantage of her sister, showing him up by provoking him to proudly boast about the furnishing of his office: the film subverts the world of business by revealing its inhabitants’ pride of their status symbols. Using her erotic capital and pretended submission to obtain his confidence, Petra makes him take her to his office, where the film continues its self-reflexive play with the explicit use of video images on a monitor within the scene: the manager shows her the footage he filmed of Franziska during the interview, unaware of the fact that Petra is her sister. On the TV screen, Franziska performs an exact enactment of the instructions Petra has given her. The film thus plays with incorporating Petra’s influence on Franziska as her role model regarding issues of work into its narrative structure, which will be taken up later when Franziska starts trying to rob men in exactly the same way as her sister. Exploring Franziska’s self-presentation, the employer’s voyeuristic gaze and the unequal power distribution in the interview situation, the use of the video footage in the scene recalls situations of the casting of actors, as explored in Petzold’s Gespenster (Ghosts, 2005), and also his continuous play with CCTV images throughout his oeuvre, a »leitmotif for the films of the Gespenster trilogy«, i.e. Die innere Sicherheit (The State I Am In, 2000), Gespenster and Yella, as pointed out by Andrew J. Webber (2011: 77). The video of Franziska reveals the manager’s subjective point of view: forcing her into an exposed position, he had filmed from above while she was seated, emphasising his dominant position. This set-up, together with the fact that the manager now re-watches the footage and shows it to Petra, recalls Laura Mulvey’s analysis of the male gaze in the cinema:
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»In a world ordered by sexual imbalance, pleasure in looking has been split between active/male and passive/female. The determining male gaze projects its phantasy on to the female figure which is styled accordingly. In their traditional exhibitionist role women are simultaneously looked at and displayed, with their appearance coded for strong visual and erotic impact so that they can be said to connote to-be-looked-at-ness [emphasis i.o.]« (Mulvey 1975: 11).
While initially the monitor only forms part of the film image, the scene later cuts to a full-screen close-up of the video image of Franziska’s legs: the demarcation between the video footage and the film image has disappeared, forcing the viewer into the position of a voyeur, too, and thus inviting to reflect on the issue. Again recalling a filmmaker at work, the manager analytically comments on Franziska’s performance in the footage, trying to stress his own superiority and compliment Petra with his disdainful and sexist remarks about her sister, degrading her as a commodity. Franziska, locked in the video recording, continues her self-objectification by smiling and actively presenting herself to the camera. When she starts to speak, but remains inaudible because the monitor’s speaker is switched off, the film takes up its play with the separation of image and sound to emphasise Franziska’s helplessness: she is deprived of her voice. Given the placing of this self-reflexive exploration of the cinematic medium in the context of work and business, this scene invites a reading as a meditation on the cinematic production process. When asked in an interview how money determines his own work, Petzold answers: »Beim Autorenfilm, auch Low-Budget-Film genannt, ist immer wenig Geld da. Aber gerade diese Filme müssen so tun, als ob sie sich ums Geld überhaupt nicht scheren, die sind für die Gefühle zuständig. Und tun so, als ob Gefühle keiner Ökonomie gehorchen. Also: Arm filmt gut. Das gefällt mir nicht.« (Nicodemus/Siemes 2009: 1)
In this sense, Die Beischlafdiebin is a clear statement on the importance of the connection of work, capital and emotions, which leads to tragic developments towards the end of the story, in line with the influences from the genres of crime film and, more specifically, film noir. When in the scene of the video screening Petra takes revenge by attacking the manager with her self-defence weapon and stealing his money, she relapses into the criminal life she had hoped to leave behind. Before taking the videotape to prevent any further exploitation of Franziska’s images, she looks at her sister on the TV screen for a moment, who seems to smile back at her, which is evidently an illusion. Hence this shot anticipates the eventual impossibility of a happy future together in their childhood
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home: despite their desperate attempts to find a way out, the two sisters will not manage to leave the downward spiral, ending with Franziska’s tragic death. Concluding with the impossibility of leading a normal life with a legal job, Die Beischlafdiebin has presented an elaborate exploration of the nature and problems of work in today’s society, which this essay has sought to trace. Many of the work-related issues raised during the story of the two sisters’ drifting through crime, self-employment, unemployment and job seeking recur in other Petzold films and will deserve attention in future discussions in view of their crucial relevance for the films’ exploration of life in contemporary Germany. Thanks are due to Andrew Webber, to the participants of the (Re-)Presentations of Working Life conference and to the editors of this volume for their helpful suggestions and comments.
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Hakim, Catherine (2010): »Erotic Capital«, in: European Sociological Review 26, fasc. 5, pp. 499–518. Metelmann, Jörg (1999): »›Früher endete der Film mit einer Wunde.‹ Die Spielfilme von Christian Petzold: Differenz und Wiederholung«, in: Film und Fernsehen 27, fasc. 1, pp. 30–33. Mulvey, Laura (1975): »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Screen 16, fasc. 3, pp. 6–18. Nicodemus, Katja/Siemes, Christof (2009): »›Arm filmt gut? Das gefällt mir nicht‹ (Interview with Christian Petzold)«, http://www.zeit.de/2009/03/ Christian-Petzold vom 09.01.2009. Nessel, Sabine (2011): »Gespenster des Spätkapitalismus in Christian Petzolds Film YELLA«, in: Margrit Fröhlich/Rembert Hüser, Geld und Kino (= Arnoldshainer Filmgespräche, Bd. 27), Marburg: Schüren, pp. 203–216. Nord, Christina (2007): »›Verdammt zu ewiger Bewegung.‹ (Interview with Christian Petzold)«, http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2007/02/15/ a0326 vom 15.02.2007. Wacquant, Loïc J.D. (1995): »Pugs at Work: Bodily Capital and Bodily Labour among Professional Boxers«, in: Body & Society 1, fasc. 1, pp. 65–93. Webber, Andrew J. (2011): »Topographical Turns: Recasting Berlin in Christian Petzold’s Gespenster«, in: Anne Fuchs/Kathleen James-Chakraborty/Linda Shortt (Eds.), Debating German Cultural Identity Since 1989, Rochester, NY: Camden House, pp. 67–81.
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Dokumentarische(s) Arbeiten – Arbeit dokumentarisch S USANNA B ROGI , K ATJA H ARTOSCH
Das Dokumentarische oder, weiter gefasst, dokumentarische Verfahren in den Fokus von Arbeits-Repräsentationen zu rücken, erscheint aus historischer Perspektive keineswegs abwegig, korrespondiert doch in bestimmten Phasen die Forderung einer Zuwendung zum Thema »Arbeit« mit Produktionen, die durch Faktisches einen starken Akzent auf eine ›wirklichkeitsgetreue Darstellung‹ legen wollen. Als solche Phasen sind besonders die 1920er/30er Jahre sowie die 1960er/70er Jahre ausgewiesen worden (vgl. Barton 1987: 1; Tonn 1996: 9; Derbacher 1995: 11). Als Konnex gilt die Annahme einer besonderen Dringlichkeit gesellschaftspolitischer Konflikte und Anliegen, die eine Hinwendung zur ›empirischen Wirklichkeit‹ provozieren (vgl. Barton 1987: 1f.; Uecker 2007). Diesen Aspekt hat die Filmemacherin Trinh T. Minh-ha am Anfang der 1980er Jahre in ihrem ersten Film Reassemblage (1982) exponiert: »Documentary, because reality is organized into an explanation of itself.« (Zit. n. Cowie 2011: 1) Zweierlei wird damit betont: die erwähnte genuine Verbindung zwischen Dokumentarischem und der sogenannten »Realität« sowie die künstlerische Ausrichtung darauf, die ihrerseits eine eigene Realität formt und repräsentiert. Ausgehend von den großen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konflikten, deren Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte sowie der zunehmenden Arbeitsverdichtung im Rahmen beruflicher Tätigkeit, erscheint eine entsprechende Untersuchung aktueller künstlerischer Hervorbringungen in den Bereichen Literatur/Theater, Film und Fotografie lohnend. Im deutschsprachigen Raum ist historisch vor allem der Theaterbereich, speziell das soziale Drama (vgl. Schößler 2011), durch eine besondere Affinität zu politischen und brisanten sozialen Themen, die die Arbeitswelt einschließen, ge-
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kennzeichnet. Wegweisend war Georg Büchners um das Arbeits- und Liebesleid der beiden Hauptfiguren kreisende Drama Woyzeck, das 1879 erstmalig publiziert wurde. Gerhart Hauptmanns Die Weber von 1892 oder Günter Grass’ 1966 uraufgeführtes Drama Die Plebejer proben den Aufstand stellen die historischen Ereignisse von Arbeiteraufständen in den Kontext politischer Systeme (Büchner 1992; Hauptmann 1896; Grass 1990). Auf dem Gebiet dokumentarischer Prosa verdeutlicht 1931 Sergej Tretjakows Roman Feld-Herren. Der Kampf um eine Kollektivwirtschaft die enorme Politisierung der Literatur der Zwischenkriegszeit. Auf Tretjakow und vor allem die Qualität seiner Texte hat Walter Benjamin voller Anerkennung in seinem Exil-Essay Der Autor als Produzent hingewiesen (vgl. Benjamin 1989: 686f.). Die in Tretjakows Reportage-Roman nicht militärisch, sondern im Bereich der Agrarreformen tätigen russischen »Feld-Herren« sind dank ihrer durch Traktoren bewirkten technischen Überlegenheit erfolgreich beim Aufbau der Kolchose »Kommunistischer Leuchtturm«. Die Phase der 1960er und 1970er Jahre hat viele dokumentarische Texte zur Arbeit hervorgebracht, darunter Reportagen namhafter Autoren wie Franz Fühmanns Kabelkran und blauer Peter oder Heinrich Bölls Im Ruhrgebiet (vgl. Fühmann 1962; Schütz 1987: 41–66). Für die Gegenwart ist, wie am Beginn dieses Sammelbands dargelegt, erneut eine intensivere Beschäftigung mit »Arbeit« in Theater und Literatur festgestellt und analysiert worden. Diese schließt auch den Bereich des Dokumentarischen ein, und an die Seite eines ›Routiniers‹ wie Rolf Hochhuth mit McKinsey kommt sind mit Kathrin Rögglas als Roman und Theaterstück abgefasstes wir schlafen nicht und Falk Richters Unter Eis die Arbeiten jüngerer Autorinnen und Autoren getreten (Hochhuth 2003; Röggla 2004; Richter 2004; vgl. Kemser 2007). Besonders auch im Medium Film – ein frühes Beispiel wäre Ella BergmannMichels Fliegende Händler in Frankfurt am Main (1932) – kreist eine Vielzahl dokumentarischer Beiträge der letzten Jahre um das Thema Arbeit (bisweilen auch das der Nicht-Arbeit) und erhebt mit aufklärerischer Absicht Authentizitätsanspruch. Neben großen internationalen Vorhaben, wie es das in 15 Städten weltweit von Workshops begleitete Projekt Labour in a Single Shot/Eine Einstellung zur Arbeit (2013/14)1 von Antje Ehmann und Harun Farocki darstellt, stehen Michael Glawoggers Trilogie zur globalisierten Arbeitswelt aus den Jahren 1998, 2005 und 2011 oder Konstantin Faigles Frohes Schaffen. Ein Film zur Senkung der Arbeitsmoral von 2013.2
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Vgl. hierzu die Homepage des Projekts (Ehmann/Farocki 2013/14).
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Einen Überblick über Film-Produktionen zum Themenkomplex ›Arbeit‹ v.a. der letzten zehn Jahre bieten die Freunde der Deutschen Kinemathek e.V. (2007).
D OKUMENTARISCHE ( S ) A RBEITEN – A RBEIT
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Im Medium der Fotografie und Literatur dokumentierten in den 1930er Jahren unter anderem Walker Evans und James Agee in Let us now Praise Famous Men im Auftrag der Regierung schon früh als Folge der »Großen Depression« das Leid weißer Pächterfamilien im Süden der USA (Agee/Evans 1989). Eine Folge der gezeigten Missstände war damals die enorme »Konjunktur des Dokumentarischen in nahezu allen Gattungen bildender und darstellender Kunst sowie der Literatur.« (Scheffler 2011: 126) In dieser wichtigen Traditionslinie stehen die aktuellen Photo Essay Documents Reinaldo Loureiros. In einem seiner fotografischen Zyklen, den ein Essay von Albert Kuhn ergänzt, riskiert er einen Blick unter die Oberfläche des weißen ›Plastikmeers‹ der Almería: Seine Fotos zeigen die völlig veränderten Landschaften und die Duldung und Ausbeutung illegaler (männlicher) Arbeitender in den südlichen Regionen Europas als zusammengehörend und als eine bereitwillig übersehene Voraussetzung des europäischen Wohlstands (Kuhn/Loureiro 2009). In der Geschichte der dokumentarischen Ästhetik ist immer wieder – und bis heute – die Gegensätzlichkeit von Faktualem und Fiktionalem hervorgehoben worden. Das reflexartige, wechselseitige Bemühen um Abgrenzung betrifft viele Aspekte: So haben etwa Verfechter des Dokumentarfilms bereits in den 1920er Jahren ihre Verfahren dem dominierenden Kino mit seinen fiktionalen Narrationen entgegengestellt und den Vorwurf der Oberflächlichkeit und Wirklichkeitsferne erhoben. In besonderem Maße richtet sich ihr Augenmerk dabei auf das notorische Happy End (vgl. Cowie 2011: 19). Auch die zeitgleiche Konjunktur in Gestalt der literarischen Reportage, des politischen Reiseberichts oder des Tatsachenromans, mit ihrer dokumentarischen und informatorischen Orientierung, folgte dem Trend, sich abzusetzen von der (Roman-)Literatur mit ihrem Kreisen um die psychische Konstitution der uneingeschränkt im Mittelpunkt stehenden Helden. Im selben Zuge beanspruchte sie aber wesentliche, zuvor vom Fiktionalen reklamierte Merkmale für sich (vgl. Schütz 2007: 367–382). Prominent ist in diesem Kontext Egon Erwin Kischs Formulierung in seinem Vorwort von Der rasende Reporter von 1925: »Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit.« (Zit. n. Becker 2000: 163) Infolge einer Transformation dokumentarischer Genres durch Annäherungen an fiktionales Erzählen wird dieser letztgenannte Aspekt auch Genre-intern zur Demarkationslinie, wie es auch das Gespräch mit der Dokumentarfilmerin Carmen Losmann in diesem Band zeigt: »Aber für mich kam für den Blick auf Arbeitszusammenhänge nur eine filmische Herangehensweise in Frage, die sich vom Individuum löst und damit auch von der Vorstellung, die beim Dokumentarfilm vorherrscht, dass man die Identifizierung mit diesem einen
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sympathischen Protagonisten brauche. Zugespitzt gesagt finde ich, dass das den Spielfilmdramaturgien aus Hollywood nacheifert. Ich will mich nicht einfühlen oder mich mit irgendeiner Hauptfigur identifizieren. Mir liegt mehr an kritischer Distanz. Denn in dem Moment, in dem ich mich einfühle, erkenne ich nichts mehr, weil mir dann der Blick von außen fehlt.« (Vorliegender Band, S. 478)3
Obwohl sich Carmen Losmanns erfolgreicher Film Work hard, Play hard (2012) durch eine präzise Montagetechnik auszeichnet und von den im Weiteren besprochenen Arbeiten am stärksten ›das Dokumentarische‹ repräsentiert, lässt sich bereits hier, nicht zuletzt durch die narrativen Verfahren der visuellen Erzählinstanz (vgl. Kuhn 2013: 85), ansatzweise die Problematik der vielfach ausgerufenen Dichotomien – real/erfunden, faktual/fiktional, informativ/künstlerischästhetisch, eruiert/stilisiert, wahr/falsch etc. – erahnen.4 Die im Folgenden besonders mit Blick auf ihren dokumentarischen Gehalt ausgewählten Repräsentationen sollen in ihrer Annäherung an Arbeitswelten die Arbeitsweisen und Traditionen der jeweiligen künstlerischen Ausdrucksformen sowie die im Band folgenden Gespräche mit den Kunstschaffenden selbst kontextualisieren. Während Work hard, Play hard stark auf die Aussagekraft der Montagetechnik setzt, weist Kathrin Rögglas Roman wir schlafen nicht aus dem Jahr 2004 einen weit freie-
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Abigail Solomon-Godeau formuliert eine ähnliche Kritik an einem Teil der sich als sozialkritisch verstehenden Dokumentarfotografie: »Der Wunsch des Fotografen, Pathos und Mitgefühl in das Bild zu legen, das Sujet mit einer emblematischen oder archetypischen Bedeutung auszustatten, Armut und Arbeit visuell mit Würde auszustatten, ist insofern ein Problem, als solche Strategien das Politische, dessen Determinanten, Handlungen und Instrumentalisierungen selbst nicht-visueller Natur sind, ausblenden und verschleiern.« (Solomon-Godeau 2003: S. 67f.)
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Vgl. in diesem Kontext Elizabeth Cowies Überlegungen: »The fundamental fantasy is that of ›the‹ world, as obvious, as a fact, and as knowable, and thus as a reality guaranteed by the symbolic order of law, science, all the discourses of sobriety that thereby distinguish the ›merely‹ imagined as ›a‹ world. It is these discourses that constitute – in Lacan’s terms – ›the Big Other‹. The brute awfulness of ›the real world‹ (as both humdrum and cruel) is often contrasted – as Grierson did – to the wishfulness of imagined worlds of Hollywood’s dream factory. However, this is a false opposition, for the awfulness of the world of reality is always preferable to the unrepresentable, unbearable terror of ›a world‹ of the real. […] These terms [the Fiction and the Nonfiction of Documentary] are not simple opposites, nor are they equivalent to real versus nonreal, factual versus nonfactual, and true versus false, for while documentary is called factual film, fiction is not simply nonfactual.« (Cowie 2011: 23)
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ren Umgang mit solchen Traditionen auf. Beide Arbeiten verbindet, was Stephan Porombka in Aus den Bergwerken der Neuzeit. Reportagen aus der Arbeitswelt anlässlich der veränderten Undercover-Rollen Günter Wallraffs in der Zeitschrift Non-Fiktion betont hat: Die früher dominanten Arbeitswelten, etwa Bergwerke und Werften, sind neuen Tätigkeitsfeldern – hier der Consulting Branche – gewichen (vgl. Porombka 2009). Eine noch weitergehende Freiheit in der Behandlung des Dokumentarischen kennzeichnet die Arbeiten Erfahrungsproduktion von zwischenbericht.5 Die Bilder des fotografischen Zyklus’ lassen sich, wie gezeigt werden soll, als Kontrafakturen moderner und zeitgenössischer Kunst lesen. Doch obwohl sie ihren Entstehungszusammenhang nur andeutend ausstellen (beispielsweise durch ihre Titel), erinnern sie an die Schließung des Nürnberger AEG-Werksgeländes und an die vorausgegangene Produktion, das Produzierte wie auch auf die Produzierenden selbst.6
W ORK
HARD ,
P LAY
HARD
Im Zentrum des Films Work hard, Play hard steht der Bereich des HumanResource-Managements (HRM), vertreten durch namentlich ausgewiesene Beratungsfirmen wie Accenture, Towers Watson oder Kienbaum. Gleichzeitig werden deren weitreichende Arbeitsgebiete und Auftraggeber sichtbar: große, international agierende Konzerne wie Unilever und die Firma Schott Solar, aber auch die Architekturbranche oder der Dienstleistungssektor. Der Film verdeutlicht, dass die Intention, in jedem Augenblick und an jedem Ort die Firmenmitarbeiter mit den Unternehmensbelangen bewusst und unbewusst zu konfrontieren, bereits bei der Planung der Firmenniederlassungen beginnt. Das unmittelbare Arbeitsumfeld soll nicht nur reibungsfreie Arbeitsabläufe ermöglichen, sondern vielmehr dazu beitragen, dass je nach Tätigkeit Kreativität und Konzentration opti-
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Unter dem Namen »zwischenbericht« firmieren gemeinsam durchgeführte Projekte der Künstlerinnen Kerstin Polzin und Anja Schoeller. Im Weiteren soll der Name des Projektes, das im Zentrum dieses Beitrags steht, ERFAHRUNGsPRODUKTion, im Unterschied zur Schreibweise im Gespräch, vereinfachend lediglich durch Kursivierung hervorgehoben werden.
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Das Gespräch von Ulf Freier-Otten mit Kirsten Baumann und Stefan Rahner , welches den Abschluss dieses Kapitels bildet, wird auf Grund seines exklusiven Charakters, der sich dem Thema des Dokumentierens von Arbeit aus der Sicht der Kuratorin/des Kurators annähert, nicht in die folgenden Überlegungen einbezogen.
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miert, stets aber die Bereitschaft zur Identifikation mit dem Unternehmen befördert werden. Der Anspruch an Funktionalität seitens der Architektur schließt in diesem Sinne auch emotionale Abläufe ein. So wird etwa die Büroatmosphäre der vom Architekturbüro Behnisch geplanten Firmenzentrale Unilever an ausgewählten Punkten bewusst durchbrochen, wenn »Coffee-« oder »Meetingpoints« mit ihrem informellen Charakter Privatheit oder Freizeit evozieren sollen. Die offenkundig von den Dokumentar-Filmen Harun Farockis inspirierte Regisseurin betont im Gespräch7 die authentische Wiedergabe des Gesehenen: Sie sei beim Befragen nicht manipulativ vorgegangen und habe sich auch nicht auf die Suche nach denjenigen Mitarbeitenden gemacht, an denen die möglichen negativen Folgen von Entgrenzungsprozessen (vgl. Hochschild 2002; Voß/Weiß 2009) unübersehbar sind. Gleichwohl verdeutlicht der Film, was die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch auf die Formel »Die Einstellung ist die Einstellung« (1992) gebracht hat: Auch (Dokumentar-)Filme sind keinesfalls wertfrei, und gerade Work hard, Play hard besitzt eine kritische, aufklärerische Intention, deren Ziel das Sichtbarmachen der Wertvorstellungen und Strukturen eines in der Gegenwart maßgeblichen Arbeitssektors ist. So führt der Film ein breites Spektrum der im Dienste des HRM stehenden Sprachverwendung vor. Immer wieder sind es auf wortsprachlicher Ebene die Befragten und Berichtenden selbst, die das Phrasenhafte, Sinnentleerte (unfreiwillig) zum Ausdruck bringen. Ebenfalls wird deutlich, in welcher Weise Firmen-Slogans oder wiederkehrende Formeln gezielt manipulativ verwendet werden. Daneben zeigen andere Sequenzen, dass Diagramme, Tabellen und neurologische Modelle einen sozialdarwinistischen Jargon stützen: Sie bereiten der Rede von der ›abnehmenden Resource Mensch‹ die Bahn, die es erforderlich mache, sich um die ›richtigen Menschen‹ zu kümmern. Eine firmeninterne Neujahrsansprache macht sichtbar, wie scheinbare Motivation zur kaum kaschierten Drohgebärde wird. Als Platz wählt der Chef bei dieser Vollversammlung im Unilever-Neubau, so evozieren es die unterschiedlichen Kameraperspektiven, eine die Gebäudeflügel verbindende Brücke, um den Umstehenden zu suggerieren, er sei einer von ihnen. Tatsächlich ist dies jedoch viel eher der Ort des barocken Souveräns im Zentrum der Macht, um den satellitengleich alles kreist (vgl. Brogi 2009: 210ff.). Entsprechend unmissverständlich fällt auch seine Botschaft aus: Das im letzten Jahr Erreichte sei nicht genug. Alle müssten sich noch mehr als bisher der verlangten »Megawachstumsmentalität« verschreiben.
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Vgl. das Interview mit Carmen Losmann »Wir backen uns unsere idealen Menschen« in diesem Band.
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Die hier angedeutete, stark mit Perspektivierungen arbeitende visuelle Erzählinstanz überzeugt gerade auch in den Bereichen des audiovisuellen Zeigens im Rahmen der Montage. Gerahmt wird der Film durch zwei zusammengehörende Szenen. Während die Eröffnung das konzentrierte, angespannte Gesicht einer Interviewerin zeigt, die einen durch schnelle Schnitte betonten und von akustischen Signalen begleiteten langen Fragekatalog abarbeitet (etwa »Was bedeutet Arbeit für Sie?«), offenbart der Filmschluss, dass diese Frau ihrerseits ihre Eignung unter Beweis stellen musste. Das Zirkuläre der Rahmung verallgemeinert die dargestellte Situation und macht sie als eine für die gegenwärtige Arbeitswelt repräsentative deutbar: Die Voraussetzung dafür, entsprechende Assessments zu leiten, ist es, sich diesen selbst erfolgreich zu unterziehen. Die Sequenz schließt mit dem Zoom auf die Wand des Büros, deren Beschriftung mit den binären Zahlen 1 und 0 für »eingeschaltet« und »ausgeschaltet« nicht nur die Allgegenwart und Unhintergehbarkeit des computertechnologischen Anspruchs beziffert, sondern auch die binäre Logik dieser Arbeitswelt symbolisiert: entweder man spielt mit oder man ist raus aus dem Spiel. Ein visueller Konterpart zu den von Architektur und Design bestimmten Bürowelten entsteht durch zahlreiche Natur- und Landschaftsaufnahmen. Bezeichnenderweise ist bisweilen auf Anhieb nicht zu entscheiden, ob es sich um eine ›reale‹ Landschaft handelt oder um Landschaftsaufnahmen, die als bereits medial vermittelte vor die Kamera gestellt worden sind und im naturfernen Kontext der Bürogebäude Landschaftliches simulieren. Dabei geht die Abstimmung solcher auf Monitoren eingespielten Naturaufnahmen bisweilen so weit, dass Kies und Steine, als ›Inventar‹ eines Bildschirm-Aquariums, farblich und stilistisch auf das Büroambiente abgestimmt sind. Dass diese Infragestellung der Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt im Sinne einer Entgrenzung der Arbeitswelt Programm hat, wird deutlich, wenn ausgerechnet der sich als ›wirkliche Natur‹ herausstellende Wald als Arbeitsplatz der Firma Ellerhof, einem Unternehmen, das Team- und Führungskräfte-Trainings anbietet, ausgewiesen wird. Während der Name »Ellerhof«, unterstützt vom Erscheinungsbild der dort Arbeitenden, rustikale ländliche Erfahrungen verspricht, führen die Aufnahmen während eines Trainings, das unter anderem in einem Hochseilgarten stattfindet, vor Augen, dass es um anderes geht. Die im direkten Kontakt fast therapeutischunterstützend auftretenden Ellerhof-Mitarbeiter agieren in anderen Szenen wie externe Firmen-Berater, die via Beobachtungskamera die Teilnehmenden analysieren. Dieses selbstreflexive Moment thematisiert nicht nur den evaluierenden Blick durch die Kamera, sondern macht auch deutlich, dass der Ort, an dem sich der viel beschworene »Teamspirit« einstellen soll, ein Ort vollständiger Kontrolle ist. Das Ziel des Trainings ist klar: Die Mitarbeiter sollen neben ihrer Arbeits-
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kraft auch ihre Persönlichkeit ins Unternehmen einbringen, ihre »Entwicklungsfelder« erkennen und sich im Sinne der Produktivitätssteigerung selbst optimieren. Mantramäßig wird hier eingeübt, dass das Sprechen von »zu Hause« in Zukunft »zu Hause im Unternehmen« bedeute. Das Walderlebnis, historisch immer wieder instrumentalisiert und kulturell wie emotional überfrachtet, wird in seiner nur scheinbaren Gegensätzlichkeit zur Business-Welt erkennbar. Solche sich aufdrängenden Lesarten sind das Ergebnis von Parallelmontagen, die gerade auch bei den im Film gezeigten medial aufbereiteten Landschaftsbildern deren klare Funktionalisierung aufscheinen lassen: Ausgerechnet im Wald stellt sich heraus, wer von den Firmenmitarbeitern zu der gewünschten Ressource Mensch zählt, um die Sorge zu tragen sich in Zukunft lohnt – ein zentrales Zitat, das auch der Film-Trailer aufgreift. Eine sich im Rahmen der Montagetechnik andeutende Subversivität entfaltet sich auf der Ebene der Ton-Bild-Montage. Obwohl der Film vielfach mit Originaltönen arbeitet, gibt es doch signifikante Durchbrechungen, sodass auch das Sounddesign in jedem Moment die Filmidee passgenau transportiert. Sogar in Szenen, in denen keine Menschen kommunizieren, drängt sich das für die Gegenwart zentrale Kommunikationsmedium Telefon machtvoll ins Bewusstsein. Kontrapunktisch verbindet ein ungewöhnlicher Klingelton – die Frage »Are you there?« – in mehreren Szenen unterschiedliche Unternehmen, die auf diesem Wege zusammengeschlossen werden. Beginnend bei Unilever, wird schließlich, Szenen später, das Läuten beendet, als eine Angestellte der Unternehmensberatungsfirma Accenture zum Hörer greift. Als Tonbrücke verklammert der Ruf des Telefons montierte Szenen der Tätigkeit mit Szenen unbesetzter Empfangsbereiche, wodurch das enervierende Läuten den Anspruch auf prinzipielle Erreichbarkeit rund um die Uhr mit Nachdruck spürbar werden lässt. Mit solchen Mitteln scheint der Film ein zentrales Versprechen gegenwärtiger Arbeitswelten auf eine besondere Entlohnung des hohen geforderten Einsatzes (etwa in der Freizeit) zu hinterfragen (vgl. Bröckling 2002). Denn dass es sich jenseits der Erwerbsarbeit unter dem Druck des Change-Managements besser lebt, kommt im etwas kleinlauten Kommentar einer Mitarbeiterin der Deutschen Post zum Vorschein, wenn sie gesteht, dass es ihr am Vortag besser gegangen sei, weil sie nicht in der Arbeit war. Der Filmtitel selbst ist hierbei besonders subversiv. Er rekurriert auf das Versprechen an diejenigen, die sich im Wettkampf mit harten Bandagen zu behaupten verstehen, dafür umso gewaltiger ›auf den Putz hauen‹ zu dürfen. Nicht nur, weil wenig Zeit zum ›Spielen‹ übrig bleiben dürfte, beschleicht die Zuschauenden der Verdacht, dass diese Rechnung nicht aufgehen kann: Falls es ein Jenseits der vom Individuum Anstrengung und Verzicht einfordernden Arbeit gibt, dann muss auch das Spiel wehtun.
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Z UKUNFT
Im Essay Beitrag zu einem kleinen Wachstumsmarathon (Röggla 2013) reflektiert Kathrin Röggla die bei der Produktion ihres Films Die bewegliche Zukunft. Eine Reise ins Risikomanagement (2012) gesammelten Erfahrungen. Sie hat dafür eine Delegation von Risikomanagern begleitet, die wirtschaftliche Zukunftsmodelle des nordöstlich von Mitrovica im Kosovo gelegenen ehemaligen Industriekombinats Trepça entwickeln soll. Nicht um Arbeiter und um Arbeitslosigkeit geht es hier zuvorderst, sondern vielmehr um »Tailingsbecken, Produktionszahlen, verdeckte Kosten, fehlende Investitionen, Wertschöpfungsketten« (Röggla 2013: 192). Der ZDF-Film zeigt Röggla auf ihrem Weg vom Frankfurter Flughafen nach Staßfurt in Sachsen-Anhalt, nach Trepça, Sofia sowie Lubmin und schließlich Griesheim-Frankfurt. Sie erscheint bei ihrer Arbeit als Interviewerin, als interessierte Gesprächspartnerin sowie als Zuhörerin und Zuschauerin bei Verhandlungen und Besichtigungen der Industriestandorte. Damit wählt die Dokumentation mehrere Authentifizierungsstrategien, die dadurch verstärkt werden, dass die Gesprächspartner namentlich ausgewiesen und die wechselnden Orte der Reise auf einer Weltkarte gezeigt werden, bevor in die Handlung vor Ort gezoomt wird. Als Voice-over ist Rögglas (überwiegend von einer anderen Frauenstimme gesprochener) Kommentar zu hören. Mit einem Interesse für die Geschichte der Industriestandorte zeigt der Film deren den Blicken oftmals entzogene Präsenz und wie risikoreich ihre Zukunftsaussichten sind. Vorbereitet durch vorausgegangene Arbeiten, erscheinen die entsprechenden Arbeitswelten, Berufsfelder und Vorstellungen von Arbeit im Spannungsfeld wirtschaftlicher und politischer Interessen, vor allem diskursiver Machtausübung. Diese Verflechtungen lassen Interviewausschnitte sichtbar werden, in denen die entsprechenden Fragen Rögglas ausweichend beantwortet werden oder seitens des Kommentars leise Zweifel angemeldet werden (»ich weiß nicht«). Im Mittelpunkt stehen die genannten Industriestandorte sowie das bewusst flughafennah gewählte Büro der Firma Plejades des Wissenschaftlers und Consultants Norbert Molitor im Griesheimer Industriegebiet. Dieses Büro passt zu den durch ihre Gleichförmigkeit austauschbar wirkenden Flughäfen, besitzt aber eine maßgebliche Funktion für die Zukunft von Industrieanlagen und deren Regionen. Anstelle von Arbeitern stehen Ingenieure der Gegenwart im Mittelpunkt des Films, die je nach Situation als Geologe, als Manager oder Consultant auftreten können und deren Wirkungskreis zwischen Industrie und Politik angesiedelt ist. In diesem machtbesetzten Raum hat die Literatur den Ingenieur bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts verortet (vgl. Leucht 2011). Entsprechend öffnet
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Rögglas Essay mit dem Satz: »Wachstum beginnt heute auf den Flughäfen.« (Röggla 2013: 185) Nachdem im Text die Welt der rollenden Business-Koffer, der gleitenden Bildschirmstifte, der iPads und Blackberrys skizziert ist, heißt es: »Es beginnt nicht mehr bei der schmutzigen Reibung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, in der klassischen Mehrwertproduktion bei den Stahlkochern, den Sweatshops, nicht einmal bei den Rohstoffmärkten, dem Bergbau, den Getreidehöllen unserer Erde, sondern bei den Vermittlern, den Investorenberatern, den internationalen Spürhunden und Consultants, bei der weltweiten Reisebewegung, die viele von uns mitreißt, die auch mich plötzlich mitgerissen hat, so dass ich mich in der einen oder anderen Fluggaströhre wiederfinde, zwischen seltsamem Strandgut auf ein Fortkommen wartend […].« (Ebd.: 185f.)
Der Film vermittelt ein Bild der Risikogesellschaft (Beck 1986) und zeigt, dass die Orte industrieller Arbeit wenig Auskunft über die industriellen und technologischen Gefahren der Gegenwart geben und dass die Entscheidungen darüber an anderen Orten getroffen werden, denen dies ebenso wenig anzumerken ist (vgl. Röggla 2013: 189). Selbstreflexiv bezieht der Kommentar das historische ›Erbe‹, die Prägung der Sprache am Beginn des 21. Jahrhunderts infolge der Instrumentalisierung in der Vergangenheit mit ein: Das Bergwerk, bis heute ein wichtiger literarischer Topos von Goethe und Novalis bis Franz Fühmann und Antje Rávic Strubel (vgl. Gold 1990), erscheint im Film als Ort, der kulturell und ästhetisch lange Zeit Material bereitgehalten hat und dessen Suggestivkraft sich offenbar nicht erschöpft hat, wie die klangvollen Namen »Bleiglanz« oder »Katzengold« spüren lassen. Trotz des Reizvollen, das die schillernde Begriffswelt und der Gang in die Tiefe andeuten, kann es in der Literatur – wie in der Wirklichkeit – keinen risikofreien unbefangenen Umgang damit geben, weil sich die ideologische Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus und den Sozialistischen Realismus diesem Topos nachhaltig angelagert hat. In diesem Sinne provoziert die Reise, die zunächst den in der Vergangenheit verursachten Umweltrisiken gegolten hat, auf unvorhergesehene Weise für die Kommentierende die Reflexion über den problematischen Umgang mit literarischen Traditionen. Subtil macht der Film auf unterschiedlichen Ebenen deutlich, wie heikel und unkalkulierbar das Terrain tatsächlich ist. Auf klar gestellte Fragen folgen in den Interview-Sequenzen ausweichende Antworten, und auch in den scheinbar en passant geführten Gesprächen im Auto oder in einer Kneipe beim Bier erscheint jedes Wort kontrolliert: Beispielsweise wird schnell beschwichtigt oder abgelenkt, wenn sich einer der Gesprächspartner leichtfertig auf ›kontaminiertem‹
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Gesprächsterrain bewegt. Als belastet erscheint in diesem Kontext nahezu alles. Angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse nimmt es nicht wunder, dass die Industriestandorte selbst entweder mit Ironie als »Heiliges Industriedenkmal!« angerufen oder nur im Hinblick auf ihre Eignung als Filmkulissen wahrgenommen werden. So heißt es im Film über ein als »Abschreckungshalle für Investoren« tituliertes Gebäude: »Würden wir einen Science-Fiction-Film drehen, wäre dies der Ort für den Showdown. – Wir drehen aber keinen Showdown.« Auch der Essay, der die Einschränkung der Arbeitsmöglichkeiten andeutet, die die Rahmenbedingungen des Fernsehsenders und des Filmteams einschließen, streicht diesen sich beim Anblick der riesigen vormaligen Industrieanlage von KEK einstellenden Eindruck heraus. Deren hochgiftige Hinterlassenschaften werden optisch von allen Giften zum Trotz blühenden Wiesenblumen überwuchert und diskursiv von zurückhaltenden Überlegungen überdeckt: »Was wir hier beobachten, ist weit weg von Finanzprodukten, es ist noch nicht einmal industrielle Produktion, es ist der Wachstumsschnee von gestern, das heißt die Folge historischer Fehlentscheidungen. Hier sieht man niemanden mehr werkeln. Keine schwitzenden Arbeiter mit Helmen, die herumhantieren. Ein beinah entleertes Szenario, aber ein filmisches Fressen. Ein wunderbarer Schauplatz. Ein Setting sozusagen, das wir hungrig aufgreifen, gierig herunterschlingen. Was könnte man hier alles erzählen?« (Röggla 2013: 197)
Diese Frage bleibt offen, verweist jedoch auf das Spannungsfeld von Kathrin Rögglas literarischen Arbeiten, deren Fiktionalität sich auf Recherchen und Interviews gründet (vgl. das Interview mit ihr in diesem Band). Der Anspruch, so der Realität nahezukommen, rekurriert auf einen dem Dokumentarischen oft unterstellten Authentizitätsanspruch, wobei stets trotz der geübten Zurückhaltung deutlich wird, dass die Wahrnehmung der Aussagen und Handlungen – im Film der ›Manager-Ingenieure‹ – eine skeptische ist.
WIR SCHLAFEN NICHT Anders als zu dem noch jungen Film Die bewegliche Zukunft wurde zu Kathrin Rögglas Roman wir schlafen nicht bereits vieles publiziert. Eingehend und erhellend wurden der darin maßgebliche Bereich der New Economy auf die Realitätsnähe der Darstellung abgeklopft und auch die vom Text selbst ausgestellten dokumentarischen Verfahren betont (vgl. Heimburger 2010: 216–231). Maßgeblich
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für die Bewertung als dokumentarischer Text ist die von Röggla namentlich unterzeichnete, dem Roman vorangestellte folgende Passage: »diesem text liegen gespräche/mit consultants, coaches,/key account managerinnen,/programmierern, praktikanten usw./zugrunde./ich möchte mich hiermit bei all/jenen gesprächspartnern bedanken,/die mir ihre zeit und erfahrung/zur verfügung gestellt haben./kathrin röggla« (Röggla 2004: 4)
Kathrin Röggla interviewte rund 40 Personen, deren Antworten im Rahmen der geführten Interviews sich, kondensiert und auf sechs Figuren verteilt, im Roman wiederfinden (vgl. Heimburger 2010: 217).8 Dieter Hoffmann hat auf die durch solche Bearbeitungen der Dokumente entstehenden Effekte, die die Aufmerksamkeit auf zentrale Aspekte des Materials lenken, hingewiesen: »Die Aufbereitung erfolgt dabei nicht nur durch Auswahl und Anordnung der Zitate, sondern auch durch formale Mittel, die der Gewinnung von Distanz zu den Dokumenten und somit die Erleichterung der Reflexion über sie dienen.« (Hoffmann 2006: 407) Wie Dag Kemser, später auch Susanne Heimburger und Christine Bähr darlegten, sind dies entscheidende Momente, bei denen die sonst verborgen agierende Erzählinstanz sichtbar wird (vgl. Kemser 2007: 100; Heimburger 2010: 228; Bähr 2012: 308–315). Maßgeblich für die Konstitution von Rögglas Text sind die vorausgegangenen und von der Autorin selbst vorgenommenen Befragungen, die diesem von Anfang an eine bestimmte Perspektive unterlegen. Es ist festgestellt worden, dass sich punktuell der Eindruck einstellt, transkribierte Interviews zu lesen, weil Kommentare im Stil von Regieanweisungen – »(lacht)« oder »(hustet)« – in den Text eingeflochten worden sind; auch gebe es durch wiederholte Hinweise auf Firmenskandale, Affären und Pannen (von der Kirch-Pleite über die Holzmann-
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Ein verwandtes Verfahren begegnet beispielsweise in Peter Weiss’ Theaterstück Die Ermittlung aus dem Jahr 1965, bei dem die Aussagen einer enormen Anzahl von Zeugen während der Frankfurter Auschwitzprozesse zu neun Rollen zusammengefasst wurden (Weiss 2008). Dieter Hoffmann hat im Rekurs auf Friedrich Christian Delius’ Wir Unternehmer aus dem Jahr 1966 gezeigt, dass Auswahl, Kürzungen und Kompilation ebenso wie die verfremdende ungewöhnliche Verwendung der indirekten Rede in Klaus Stillers H. Protokoll von 1970 etablierte beziehungsweise mögliche Vorgehensweisen des Dokumentarischen sind (vgl. Hoffmann 2006: 401–420, 521–527). Zu Recht hat Christine Bähr auf den für Kathrin Rögglas Ansatz wichtigen, besonders durch die Wiener Gruppe repräsentierten sprachkritischen Umgang mit dem Material hingewiesen (vgl. Bähr 2012: 314).
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Affäre bis zum Enron-Skandal) klar markierte Bezüge zwischen der Wirklichkeit des Textes und seinem Entstehungszeitraum (vgl. Bähr 2009: 232; Bähr 2012: 323). Trotz solcher zum Teil auch in dezidiert fiktionalen Texten begegnenden Verfahren liegt ein Reiz des Textes in seiner ganz eigenen sprachlichen Diktion. Entsprechend schreibt Dag Kemser in Neues Interesse an dokumentarischen Formen: »Nicht mehr der rationale Informationsgehalt des verwendeten dokumentarischen Materials ist von Interesse, sondern das Selbstentlarvungspotential der Sprache, das sich offenbart, wenn die Sätze aus ihrem angestammten Sprachumfeld herausgelöst und der erhöhten Aufmerksamkeit der Bühnensituation (oder des unkommentierten Dokumentarfilms) ausgesetzt sind. Diese Interessensverschiebung ist m.E. der Einsicht geschuldet, dass der Authentizitäts-Status des harten Faktums in einer Gesellschaft, die Genres wie die ›DokuFiction‹ als gängige Formate entwickelt hat, erheblich aufgeweicht ist.« (Kemser 2007: 100)
Um dem Gesellschaftspolitischen Raum zu geben, stellt wir schlafen nicht nicht das Schicksal einer einzelnen Figur ins Zentrum des Geschehens, »die als Repräsentant typischer Schicksale erscheint« (Heimburger 2010: 216), sondern eine Gruppe von Figuren, deren Namen kaum eine Rolle spielen, weil das Individuelle von der jeweiligen Funktion und beruflichen Tätigkeit überlagert wird. Eine damit erzielte Verallgemeinerung, die auch Ingeborg Bachmanns Prosagroteske Ein Ort für Zufälle aufweist (vgl. Däufel 2013: 184), ermöglicht das Abstrahieren von Einzelfiguren und eine Ausweitung auf andere Tätigkeitsbereiche. Bezogen auf solche Aspekte der Subjektivierung ist wir schlafen nicht erhellend untersucht worden. Seinen besonderen Charakter erhält der Text aber nicht zuletzt auf Grund seiner Verschränkung dokumentarischer mit phantastischen Verfahren. Essentiell für phantastisches Erzählen sind Abweichungen von der normierten Wirklichkeitsvorstellung im Sinne von kontinuierlichen Grenzüberschreitungen, die eine Verunsicherung bewirken, »ob die evozierten Ereignisse einer natürlichen oder einer übernatürlichen Erklärung bedürfen« (Todorov 1972: 33). Phantastische Texte weisen Widersprüche auf »zwischen der Beschaffenheit der vorgestellten Welt und dem Vorkommen eines Elements, das sich dieser vom Text geschaffenen Wirklichkeit entzieht« (Antonsen 2007a: 27): »Die dargestellten unmöglichen Ereignisse erscheinen somit als prinzipiell unerklärlich, da der Text kein Argument zur Verfügung stellt, das eine Rückführung des Unmöglichen auf ein die dargestellten Ereignisse steuerndes Regelsystem erlauben würde.« (Antonsen 2007b: 581)
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Entsprechend lässt sich in wir schlafen nicht keinesfalls alles im Text Dargestellte und (auch) von den Figuren als irritierend und unerklärlich Wahrgenommene und Beschriebene zweifelsfrei »mit den Bedingungen der Normwirklichkeit« (ebd.) in Einklang bringen. Obwohl es auf der Rezeptionsebene Möglichkeiten gibt, die von den Figuren als existenzbedrohend erfahrenen Ereignisse zu rationalisieren, bleibt letztlich vieles die Figuren Beängstigende auch dort ungewiss. Wie in anderen phantastischen Texten der Moderne verfügen die Romanfiguren nicht mehr souverän über Raum und Zeit. Entsprechend heißt es beispielsweise gegen Ende von wir schlafen nicht: »sie habe nur noch möglichst weit weggewollt von diesem ort, kilometer machen, wie man sage. die kilometer, die in diesem raum vorhanden gewesen seien, hätten sich aber nur langsam durch ihre haut gefressen.« (Röggla 2004: 212) Anstelle von Himmelsrichtungen gebe es nur noch »messehimmelsrichtungen«, und die »tageszeiten verschwinden. man kennt sich gar nicht mehr aus.« (Ebd.: 16, 94) Über das Erleben der Zeit sagt der Partner: »wie lange er schon auf den beinen sei? könne er jetzt nicht sagen, er wisse das längst nicht mehr. also er zähle die stunden jetzt nicht, und von tagen könne man hier in diesem rahmen nun wirklich nicht mehr sprechen.« (Ebd.: 177) Solche Befunde, die zunächst noch als arbeitsbedingte Wahrnehmungsveränderungen erklärbar sind, werden durch rätselhafte, an Wiedergänger erinnernde Erscheinungen verstärkt: die »traurige handy-telefonistin« (ebd.: 16) und eine ebenso plötzlich auftauchende wie verschwindende unbekannte Frau mit »bösen blicke(n)« (ebd.: 120). Die entstehende unheimliche Atmosphäre verdichtet sich schließlich durch ein Beschwören des Gespenstischen (vgl. ebd., besonders die Kap. 16. unheimlichkeit und 28. gespenster). Die Unterstellung, phantastische Texte würden sich durch eine (bisweilen ans Reaktionäre grenzende) spürbare Wirklichkeitsferne auszeichnen, ist bereits widerlegt worden (vgl. Schmitz-Emans 1995: 109f.). Stattdessen lassen sich Verbindungslinien zwischen der phantastischen modernen Literatur und dem Verlust der Verfügungsgewalt über Raum und Zeit als Folge von wissenschaftlichen Entdeckungen (Relativitätstheorie) und technischen Neuerungen ziehen (vgl. Berg 1991: 62–80). Auf einer solchen Folie kann Franz Kafkas Roman Das Schloß gelesen werden – ein Text, für den das Thema Arbeit ebenfalls zentral ist. Ohne einen Intertext zu behaupten, sei darauf hingewiesen, dass auch hier das am Unheimlichen partizipierende Telefon massiv zu Verunsicherung und Destabilisierung der Romanfiguren beiträgt. Es soll seiner Funktion nach vom ersten Kapitel an für den sich als Landvermesser ausgebenden K. die Verbindung zu der ihm unzugänglich bleibenden Schloß-Bürokratie darstellen, von der er sich Auskünfte über seine Arbeitsmodalitäten verspricht: »er [der Graf] soll gute Ar-
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beit gut bezahlen, ist das wahr? Wenn man wie ich so weit von Frau und Kind reist, dann will man auch etwas heimbringen.« (Kafka 2002: 13) Doch erstreckt sich die ihm fremde, nach eigenen Gesetzen durchstrukturierte Welt unterschiedslos über das Privat- wie das Berufsleben, und auch Schloss und Dorf gehören ununterscheidbar zusammen (vgl. ebd.: 8–13). Nachdem K. hat feststellen müssen, dass das Schloss für ihn anders als für die Dorfbewohner nicht auf dem normalen Weg über die Straße erreichbar ist, weil sich die Straße im Näherkommen unmerklich wieder entfernt, scheitert seine telefonische Annäherung: »Aus der Hörmuschel kam ein Summen, wie K. es sonst beim Telephonieren nie gehört hatte. Es war wie wenn sich aus dem Summen zahlloser kindlicher Stimmen – aber auch dieses Summen war keines, sondern war Gesang fernster, allerfernster Stimmen – wie wenn sich aus diesem Summen in einer geradezu unmöglichen Weise eine einzige hohe aber starke Stimme bilde, die an das Ohr schlug so wie wenn sie fordere tiefer einzudringen als nur in das armselige Gehör. K. horchte ohne zu telephonieren, den linken Arm hatte er auf das Telephonpult gestützt und horchte so.« (Ebd.: 36)
In Kathrin Rögglas wir schlafen nicht verdichtet sich das Unheimliche im Zusammenhang mit einem fremden Handy (»dem handylärm, dem summen, das über allem liege, diesem seltsamen elektrosummen, gerätesummen, lichtsummen«; Röggla 2004: 42f.), das sich plötzlich in der Tasche der key account managerin befindet: »sie hat ja erst, als sie die fremde stimme gehört hat, bemerkt, daß das gar nicht ihr handy ist. – jetzt wird es aber gruselig! – ja, da war so eine komische stimme dran, die ihr aber auch nicht sagen wollte, wer der besitzer ist, vielmehr andere botschaften für sie hatte, sie sagt nur: sympathisch waren die nicht. – mann oder frau? – schwer zu sagen, hörte sich mehr nach einem kind an. ein kind, das sich in seinem alter etwas verrannt hat.« (Ebd: 95) »sie kriege das nicht in ihren kopf: das andere handy in ihrer tasche sei ständig auf empfang und ihr eigenes bekomme gar kein netz. – dann soll sie doch das andere handy nehmen! – nein, das rührt sie nicht mehr an!« (Ebd.: 121)
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In Anlehnung an solche Beobachtungen ließe sich Vergleichbares auch über den Ort der Messe und die sich im Romanverlauf verdichtenden mysteriösen Ereignisse feststellen, wenn die zum Teil durch Phrasen und Wiederholungen gekennzeichneten Sprechakte unkalkulierbare und unerklärbare Folgen haben (vgl. ebd.: 154f., 161, 193). Auf diesem Wege gelingt es dem Roman, die Problematik zu vergegenwärtigen, dass der Nicht-Ort Messe, der für ein Selbst-zur-WareWerden im Rahmen moderner Arbeitswelten einsteht (denn bezeichnenderweise handelt es sich ja um eine Messe, die sich durch Kommunikation unterschiedlicher Funktionsträger auszeichnet, aber ohne Waren auszukommen scheint), Arbeitsverhältnisse repräsentiert, deren Folgen unabsehbar sind, die als nicht kalkulierbare, aber Realitäten schaffende Drohkulisse jedoch omnipräsent ist (vgl. ebd.: 189). Die von statistischen Daten ausgehende Macht, seit der Aufklärung gedacht als wichtiges Instrument zur stetigen Verbesserung der Lebensbedingungen, wird mit einer an die Dialektik der Aufklärung erinnernden Logik als Umschlagen von Vernunft in Gewalt entlarvt, wenn Statistiken Menschen verschlucken und tatsächlich im Text – von langer Hand durch Metaphern, Phrasen vorbereitet – zum Verschwinden bringen. Indem die Protagonisten die Zahlen und Daten von Statistiken in den Mund nehmen, wird ein erzählerisch vorbereiteter Prozess des Verschwindens, der auch noch die Zahlen selbst mit sich reißt und verschluckt, vorangetrieben und öffnet zugleich im Negieren und Verdrängen dem Tod Tür und Tor (vgl. ebd.: 191–215). In diesem Kontext scheint die entstehende Reibung zwischen Faktischem und Fiktionalem deutlich auf: Die Realität der Arbeitswelt ist von permanenter Verdrängung geprägt, die als systemimmanent ausgewiesen wird, doch bricht sich das Verdrängte Bahn, und die Ängste werden Realität. So betrachtet, ist es eine große Stärke dieses Textes, die sich in den Arbeitswelten stark ausdrückenden Ambivalenzen durch die hier nur angedeutete, ›helixartige‹ Verbindung (vgl. Schütz 2007: 368) von einem dokumentarisch unterlegten Realismus mit dem Phantastischen zu realisieren. Damit werden nicht nur die wissenschaftlich bestimmbaren Determinanten der Arbeitswelt literarisch originell und anspruchsvoll fixiert, sondern vielmehr auch die damit zusammenhängenden Ängste erfasst, deren destabilisierendes Potenzial auch auf die Rezipierenden übergreift.
E RFAHRUNGSPRODUKTION Wie in der Einleitung dieses Bandes angedeutet, halten die Fotografien des Zyklus Erfahrungsproduktion buchstäblich und metaphorisch einen Moment des Umbruchs anlässlich der AEG-Werksschließung in Nürnberg fest, der über die
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spezifische Situation des Abbruchs hinausweist und repräsentativ ist für den arbeitskulturellen Umbruch im Bereich der industriellen Produktion. So ist es kein Zufall, dass in etwa zeitgleich in Berlin eine künstlerische Dokumentation die Werksschließung der einstigen Siemens-Plania, später VEB Elektrokohle Lichtenberg festgehalten hat, einem Ort auch der literarischen Repräsentation, weil der dort 1949/50 tätige Maurer Hans Garbe Bertolt Brecht zum BüschingFragment und Heiner Müller zum Lohndrücker inspirierte (vgl. Badel/Herschel/Karau 2009). Als »assoziative Raumzitate« haben die beiden Künstlerinnen Kerstin Polzin und Anja Schoeller unter dem Namen »zwischenbericht« ihren Zyklus Erfahrungsproduktion im Inhaltsverzeichnis des Ausstellungskataloges bezeichnet (zwischenbericht 2008: 3). Sie spielen damit auf die Bildinhalte an, die in unterschiedlichen Graden von künstlerischen Arbeiten vor allem des 20. und 21. Jahrhunderts geprägt sind und auch als Hommage an die mit den Werken verbundenen Künstlerinnen und Künstler zu verstehen sind. Deren Namen treten in den Titeln, die auf die vormalige serielle Produktion ›vor Ort‹ anspielen, typographisch besonders in Erscheinung (beispielsweise Nr. 41 | Halle 22 | bezüglich Charlotte Posenenske oder Nr. 35| Halle 20 | bezüglich Roni Horn). In seiner Gesamtheit bildet der Zyklus eine Sammlung, hervorgegangen aus den imaginären Bildvorraten, über die beide Künstlerinnen verfügen. Sie stellen eine Zusammenschau flüchtiger Momentaufnahmen und zugleich den Versuch einer durch die Titel angedeuteten topographischen ›Fixierung‹ (also »Halle 19« oder »Halle 22«) dar. Die vorübergehende Aufhebung der Funktionalität des Ortes und seiner Einrichtungsgegenstände hat, wie sich aus der Retrospektive sagen lässt, den notwendigen Freiraum für eine solche ästhetische Wahrnehmung eröffnet, deren Anspruch es ist, die Bedeutsamkeit der zitierten Werke und Kunstschaffenden für die Gegenwart im kunstfernen Kontext zu erproben. Auf dieser Folie lassen sich die Arbeiten auch als Kontrafakturen (vgl. Verweyen/Witting 1987) bestimmen. Bei solchen Verfahren werden von einem Kunstwerk »konstitutive Merkmale […] zur Formulierung einer eigenen Botschaft übernommen« (Verweyen/Witting 2000: 337). Wie bei den Kontrafakturen der Literatur geht es auch den fotografischen Arbeiten nicht um eine Ironisierung der Vorlagen, sondern um eine intermediale Übernahme, die tradierte Motive und Ideen der eigenen Kunstauffassung zuführt und mit einer neuen Aussage verbindet. Nicht zufällig betonen manche Fotografien kunsthistorische Epochenschwellen, Umbruchsmomente also auf ästhetischem Gebiet, wie zum Beispiel Kasimir Malewitschs Das Schwarze Quadrat: Dieses zeigte in seiner Abstraktion und scheinbaren Inhaltsentleerung das Ende der Malerei an und zugleich – nicht zuletzt auf Grund seiner ersten Präsentation, die ihm den Platz zuwies, der
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in ländlichen Haushalten für die Ikonen bestimmt war – eine Überhöhung und Verabsolutierung der Malerei selbst (vgl. Hemken 2001: 44–46, 59; sowie Nr. 12 | Halle 22 | bezüglich Kasimir Malewitch). Etwa 50 Jahre später hat auch Charlotte Posenenske die Kunst an solch einem Wendepunkt gesehen. Die zeitweise in Frankfurt am Main als wichtigem Zentrum soziologischer Forschung lebende Künstlerin beteiligte sich in den 1960er Jahren an der intensiven Diskussion über die künftigen Möglichkeiten und Aufgaben der Kunst (vgl. Wiehager 2009: 6). Sie ging einen ähnlichen Weg wie eines ihrer Vorbilder, der Künstler und Architekt El Lissitzky, der seine Prounen als »Umsteigestation von der Malerei zur Architektur« (Lissitzky 1977: 193) bezeichnet hatte. Posenenske wählte mit ihren Serien der Vierkantrohre, auf die sich die Fotografie Nr. 41 bezieht, einen ähnlichen Schritt der Kunst in die Öffentlichkeit und von dort hin zum öffentlichen Gebrauch, bevor sie sich 1968 von der künstlerischen Tätigkeit ab- und der Arbeitssoziologie zuwandte (vgl. ebd.: 10–15). Abbildung 1: Nr. 41 | Halle 22 | bezüglich Charlotte Posenenske
Quelle: © Schoeller/Polzin zwischenbericht
Posenenskes demokratischen Werten (im Sinne kultureller Teilhabe) verpflichtete Arbeiten richteten sich gegen die Praktiken des Kunstmarktes, wenn sie die Rohre aus Stahlblech vielfach unlimitiert und in Serien herstellte und diese au-
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ßerdem immer wieder zum Selbstkostenpreis abgab. In ihrer Antifunktionalität und Sperrigkeit sowie ihrem Minimalismus stellten diese sich zusätzlich quer zu dominanten Rezeptionsbedürfnissen, aber auch zur Pragmatik der Industriegesellschaft (vgl. ebd: 23ff.). Berühmt wurde Posenenskes 1968 veröffentlichtes Statement: »Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden, dass Kunst nicht zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme beitragen kann.« (Ebd.: 135) Ihr resignatives Urteil fällt in eine Zeit, in der Firmen wie AEG größte Anerkennung für ihr Knowhow und ihre Fabrikate erzielten. Nr. 41 zitiert Posenenskes Arbeiten aus dem Umfeld der Vierkantrohre Serie D. Hier haben die zum Abfall gewordenen, vormals zweckdienlichen Rohre jegliche Funktion im Rahmen industrieller Fertigung verloren. Durch den Verweis auf Posenenske stellt Nr. 41 einen Zusammenhang her zwischen dem Ende der Fertigung ›auf AEG‹ und dem gesellschaftspolitisch motivierten Ende der künstlerischen Tätigkeit Posenenskes. Während die Transformation ins Medium der Fotografie hinsichtlich der Materialität einen weiteren Schritt der Reduktion bedeutet, deutet sie zugleich an, dass das Zum-Stillstand-gekommen-Sein vor Ort den Impuls zur Wiederaufnahme und Fortsetzung der Ideen Charlotte Posenenskes geliefert hat, sodass der Erinnerungsgeste ein Zukunftsmoment eingeschrieben ist.9 Ein besonderes Bewusstsein für die Geschichtlichkeit von Phänomenen und Orten liegt auch Roni Horns zahlreiche Wasser-Fotografien zugrunde, auf die sich Nr. 35 | Halle 20 | bezüglich Roni Horn bezieht. Diese Arbeit besitzt im Verweisen auf Horns Verfahren des Seriellen einen ironischen Akzent, sind es doch keine Wasser-Bilder, wie Roni Horn sie in großer Anzahl angefertigt hat, sondern Swimmingpool- und Hotellandschaften, die ihren Werbecharakter nicht verleugnen können. Jenseits dessen ließe sich das von der Fotografie Nr. 35 festgehaltene ›Visionboard‹ – entstanden als Zeitvertreib und Lückenfüller einer in dieser Halle arbeitenden Frau, die im Akkord Schläuche in Waschmaschinen einsetzen musste – auch als Repräsentation des zeitgenössischen Arbeitsverständnisses lesen. Das ihrer Tätigkeit zugehörige beidseitige Klebeband symbolisiert die Korrelation von Freizeitsehnsüchten und Arbeitsrealitäten. Die dicht an dicht versammelten Swimmingpool-Landschaften werben für Urlaub und
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Das Gespräch mit zwischenbericht in diesem Band – Wir haben bewusst keine Erfahrungsproduktions-Fabrik daraus gemacht – zeigt, dass aufbauend auf dieser ersten produktiven Beschäftigung vier Jahre später ein partizipatives Projekt, dem Posenenskes Vierkantrohre zugrunde liegen, im Sommer 2013 in der JVA Ebrach darauf setzt, dass Kunst auch in der Gegenwart, wenn nicht zur unmittelbaren Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme, so doch zur Bewusstwerdung beiträgt.
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Freizeit, in denen die Arbeit jedoch in jedem Augenblick (ex negativo) präsent ist. Abbildung 2: Nr. 35 | Halle 20 | bezüglich Roni Horn
Quelle: © Schoeller/Polzin zwischenbericht
Das von den Klebestreifen erzeugte Gitter signalisiert, dass ein Nachdenken über ein Leben jenseits der Arbeit zum Risiko werden könnte – ein Gedanke, den schon Ingeborg Bachmanns Ein Geschäft mit Träumen entwickelt hat. In dieser Erzählung lassen sich Träume nur in der Währung von Zeit bezahlen. Aber weil Arbeit an erster Stelle steht, wird für den homodiegetischen Ich-Erzähler schon der Traum nach einem Zusammentreffen mit der weiblichen Figur Anna – eigentlich ein Grundbedürfnis nach zwischenmenschlicher Nähe – zum Luxusgut: »›ich fürchte, ich habe nicht so viel Zeit, ich werde nicht einmal die Zeit für den kleinen Traum haben, nach dem mich verlangt.‹ […] ›Mich verlangt mehr als Sie begreifen können, nach diesem Traum, ich würde Ihnen viel, vielleicht sogar alle meine Ersparnisse geben, aber meine Arbeit geht meiner Zeit vor, und die wenigen Tage, die ich im Winter für mich haben werde, will ich in den Bergen zubringen. Und selbst wenn ich auf die Erholung verzichtete, würde meine Zeit nicht reichen, um diesen teuren Traum zu bezahlen.‹« (Bachmann 1993: 45)
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Der Erzähler erkrankt schließlich als Folge seines Nachdenkens über den möglichen Inhalt eines Traums, der ihn, so die Andeutung des Verkäufers, die Summe seiner ganzen Lebenszeit kosten würde. Zur Strafe muss er am Ende der Erzählung den aus seiner Sicht höchsten Preis bezahlen: »An dem Tag, an dem ich so weit hergestellt war, daß ich meiner Arbeit wieder hätte nachgehen können, erhielt ich von meiner Firma die Kündigung. Ich hatte mir eben zu viel Zeit genommen, und nun wurde mir noch einmal Zeit auf lange Zeit geschenkt. Zeit wofür?« (Ebd.: 47)
D OKUMENTARISCHE A RBEITEN ALS KULTURKRITISCHE P OSITIONIERUNGEN Die oben präsentierten Beispiele dokumentarischer Behandlungen von Arbeitswelten belegen das innovative Potenzial solcher Verfahren, die es ermöglichen, auf sehr unterschiedliche Weise den strukturellen Veränderungen im Rahmen der Erwerbsarbeit, der Kunstproduktion und -vermarktung zu begegnen. Charakteristisch erscheint auch hier, was Helmut Lethen als Modernitäts-Effekte bereits der Literatur der »Sach-Moderne« (Schütz 2007) zugeschrieben hat: eine kritische Hinterfragung des Subjektbegriffs, ein Bewusstsein für die »Allgegenwart technischer Medien und die Betonung der Geschlossenheit des Funktionssystems.« (Lethen: 1994: 208) So antwortet Work hard, Play hard auf Strategien der Selbst-Inszenierung des HRM, indem der Film auf teilnehmende Beobachtung und O-Ton-Aussagen setzt und die Artikulation von Emotionalität extrem reduziert. Auf jeglichen Kommentar verzichtend, gelingt es durch den planvollen Einsatz von Montage, Einstellungsgrößen und Sounddesign, die demonstrative Coolness des Metiers als systemimmanente Kälte gegenüber individuellen Ansprüchen des Subjekts zu entlarven – eine Kälte, die sich in allen Sequenzen architektonisch und sprachlich manifestiert. Auch in Die bewegliche Zukunft und wir schlafen nicht bilden Befragungen und Besichtigungen vor Ort sowie eine Vertrautheit mit soziologischen Theoremen die Voraussetzung der vorgestellten Arbeits-Repräsentationen. Dabei zeichnet wir schlafen nicht aus, dass er – beispielsweise auf Grund der auch Geschlechterhierarchien abbildenden Zusammensetzung seines Personals – die Arbeits- und Medienreflexion zur Gesellschaftskritik erweitert. Der auf den Prüfstand gestellte Arbeitsdiskurs wird durch die bisweilen humorvoll-spielerische Sprachverwendung zur subversiven Sprachkritik, und der provokante Verzicht auf die genretypische epische Breite des Romans – in seiner Konzentration auf
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Sprach-Handlungen – stellt in seiner Lakonik einen Einspruch gegen gegenwärtige Tendenzen der Einfallslosigkeit im Erzählen dar und avanciert damit auch zur Literaturkritik. Die von zwischenbericht realisierten fotografischen Kontrafakturen dokumentieren künstlerische Umbruchprozesse und Neuanfänge auf der Folie des industriellen Abbruchs und verstehen sich zugleich als Gegenentwurf zu Ausstellungs- wie auch zu Produktionskonventionen im Kunstbetrieb. Dabei schreiben sich den Bildern neben den materiellen Relikten der vormaligen Arbeitsplätze auch individuelle Erfahrungen von Arbeit ein. Erfahrungsproduktion befragt Namen der bildenden Kunst auch hinsichtlich ihres Potenzials, die Gegenwart zu begreifen. In diesem Sinne rekurriert die auf dem Cover dieses Bandes gezeigte Arbeit Nr. 49 auf die Licht-Installationen Olafur Eliassons: Arbeiten, die ihrerseits den Ausstellungsorten sowie den daran partizipierenden Besuchern gerecht werden wollten (vgl. Broeker 2004). Den technisch aufwendigen Arbeiten Eliassons – wie beispielsweise The weather project von 2003 (vgl. ebd.: 42) – antwortet Nr. 49, indem es den scheinwerferartig anmutenden, sich jedoch dem Zufall verdankenden Lichteinfall fokussiert. Abbildung 3: Nr. 49 | Halle 22 | bezüglich Olafur Eliasson
Quelle: © Schoeller/Polzin zwischenbericht
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Im Mittelgrund trifft das schräg einfallende Licht genau an der Grenze zwischen dem von schwerem Baugerät aufgewühlten und dem noch planen Betonboden auf und akzentuiert damit das sich räumlich materialisierende Phänomen der Zeit: einen Augenblick des ›Dazwischen‹, der weniger der Halle als solches gilt als vielmehr den generellen industriellen, gesellschaftlichen und kulturellen Transformationsprozessen. Diese werden durch die dokumentarische Repräsentation im Medium der Fotografie sicht- und erfahrbar gemacht.
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F ILME Die Bewegliche Zukunft. Eine Reise ins Risikomanagement (2012) (DE, R.: Kathrin Röggla). Fliegende Händler in Frankfurt am Main (1932) (DE, R.: Ella BergmannMichel). Frohes Schaffen. Ein Film zur Senkung der Arbeitsmoral (2013) (DE, R.: Konstantin Faigle). Megacities (1998) (Ö/CH, R.: Michael Glawogger). Whores’ Glory. Ein Triptychon zur Prostitution (2011) (Ö/DE, R.: Michael Glawogger). Work hard, Play hard (2012) (DE, R.: Carmen Losmann). Workingman’s Death (2005) (DE/Ö, R.: Michael Glawogger).
»Wir backen uns unsere idealen Menschen.« Die Dokumentarfilmerin Carmen Losmann im Gespräch
Bereits Ihr erster Kurzfilm, der 2005 während Ihres Studiums an der Kunsthochschule für Medien in Köln entstand, widmete sich dem Thema Arbeit. Um was ging es darin? Der Film hieß Arbeit am Ende und war als dokumentarische Übung gedacht. Wir hatten nur zwei Rollen 16 mm-Filmmaterial, das entspricht 24 Minuten, durften keinen Off-Kommentar sprechen und keine Musik verwenden. Wir sollten einen sich wiederholenden Vorgang filmen und uns dabei auf die filmischen Mittel des Bildes und des Originaltons beschränken. Ich war in der Caritas-Behindertenwerkstätte in Cochem. Dass die Menschen, die dort arbeiteten, sogenannt »behindert« waren, stand dabei nicht im Mittelpunkt meines Interesses. Ich fand interessant, dass die Arbeitenden dort den ganzen Tag Telefone zerlegten. Telefone, die noch relativ neu aussahen. Man hatte den Eindruck, sie sitzen da in diesen Stapeln der kapitalistischen Überproduktion von Technik, die am Ende, wenn man ein neues Gerät braucht, wieder zersetzt werden muss. Die Altgeräte sammelten sich in der Werkstatt, und die Menschen waren den ganzen Tag damit beschäftigt, diese Geräte aufzuklopfen. Ich habe zwei von ihnen porträtiert, wobei mich vor allem der individuelle Ansatz von Arbeit interessierte. Der eine war geschäftig wie ein Roboter, der andere klopfte ganz bedächtig vor sich hin. Man hat aber auch die schwere Last der Arbeit gesehen. Nach acht Stunden waren sie ganz schön erschöpft. Und was damals dann noch das Sahnehäubchen war: Zu der Zeit wurde EU-weit eingeführt, dass die großen Firmen und Konzerne für die Zerlegung und das Recycling der von ihnen hergestellten Technik selbst aufkommen müssen. In der Folge wurde diese Behindertenwerkstätte zu unrentabel. Der ganze Recyclingprozess der Alt-Technik wurde in östliche Länder verlegt und dieser Arbeitsplatz – das war am Ende des Films nur als Text eingeblendet – wurde abgeschafft. In diesem Film waren schon ganz viele Themen enthalten,
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die mich interessierten. Ich habe mich während meines Studiums unter anderem mit Dokumentarfilmen von Leuten wie Harun Farocki, Frederick Wiseman oder Hartmut Bitomsky beschäftigt. Dokumentarfilmer, die eine ganz andere Art von Dokumentarfilm repräsentieren, als ich sie vorher gekannt hatte, und deren Filme sich um die gesellschaftliche Produktion und um gesellschaftliche Zusammenhänge drehen. Arbeit als gesellschaftlicher Zusammenhang – das hat mich interessiert, weil ich das Gefühl hatte, dass man mit einem dokumentarischen Blick auf Arbeitsverhältnisse viel von der Ideologie einer Gesellschaft ablesen kann. Und dann hab ich damit weitergemacht. Das heißt, am Themenbereich Arbeit können Sie etwas über die Gesellschaft zeigen, was Sie mit der Wahl anderer Themenbereiche so nicht zeigen könnten? Ja, wobei ich gar nicht »Themenbereich« sagen würde. Ich blicke nämlich auf Arbeit nicht mit einem individualisierten Blick auf einen einzelnen Menschen, den ich porträtiere. Dieser individualisierte Blick kam mir im Zuge meiner Beschäftigung mit den Filmen und Filmemachern, die ich gerade genannt habe, immer unplausibler vor. Ich will das gar nicht pauschal ablehnen oder verdammen, man kann manchmal im Kleinen sehr viel vom Großen erkennen. Aber für mich kam für den Blick auf Arbeitszusammenhänge nur eine filmische Herangehensweise in Frage, die sich vom Individuum löst und damit auch von der Vorstellung, die beim Dokumentarfilm vorherrscht, dass man die Identifizierung mit diesem einen sympathischen Protagonisten brauche. Zugespitzt gesagt, finde ich, dass das den Spielfilmdramaturgien aus Hollywood nacheifert. Ich will mich nicht einfühlen oder mich mit irgendeiner Hauptfigur identifizieren. Mir liegt mehr an kritischer Distanz. Denn in dem Moment, in dem ich mich einfühle, erkenne ich nichts mehr, weil mir dann der Blick von außen fehlt. Deswegen hatte ich nie den Anspruch, einen Film zu machen, bei dem man sich in irgendjemanden einfühlen soll. Das fand ich schon immer suspekt, und das hat mich angeödet. Ihr Langfilmdebüt »Work Hard Play Hard« widmet sich dem Human-ResourceManagement. Was hat Sie dazu angeregt? Als ich angefangen habe zu recherchieren, war ich noch an der Kunsthochschule für Medien in Köln und sollte mein Diplom machen. In der Zeit, in der ich überlegt habe, über was ich einen Film mache, bin ich über verschiedene Zeitungsartikel und Erzählungen von Bekannten auf ein scheinbares Paradoxon gestoßen. Aus den »neuen Arbeitswelten« – in Anführungszeichen, weil das eher ein
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selbsternannter Begriff aus diesen Bereichen heraus ist –, aus dem hochqualifizierten Dienstleistungsbereich, kam mir eine sehr freiheitlich wirkende, humanistische Arbeitswelt entgegen, beispielsweise in Slogans wie »Arbeite, wann und wo du willst« oder »Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt«. Die Stempeluhren wurden abgeschafft oder gar nicht eingeführt. Gleichzeitig hatte ich den Eindruck, dass es da eine unheimliche Verdichtung und Verlängerung der Arbeitszeit gibt und der Anspruch der Arbeit auf die Lebenszeit total wird. Das war für mich erst mal ein Paradox. Arbeite, wann und wo du willst, aber dann arbeite ich endlos. Das fand ich interessant. Und dem bin ich nachgegangen. Wie geht das eigentlich, dass der einzelne Mensch in diesen Bereichen von sich aus das will, was das Unternehmen will? Wo geschehen diese Transferleistungen? Wo sind die Schnittstellen der Vermittlung? Oder was ist das für eine Menschentechnologie? So bin ich praktisch ganz automatisch beim Human-ResourceManagement gelandet mit seiner Ideologie, aber auch mit den unterschiedlichen Methoden, die sich dann als Sichtbares niederschlagen. Ich habe mich auch theoretisch mit diesem Phänomen beschäftigt, habe verschiedenste Managementliteratur gelesen, aber auch philosophische und soziologische Texte, zum Beispiel von Stephan Siemens, Klaus Peters, Angela Schmidt und anderen, die über die sogenannte indirekte Steuerung schreiben, oder auch das Buch Der neue Geist des Kapitalismus von den französischen Sozialwissenschaftlern Luc Boltanski und Ève Chiapello. Und so bin ich immer weiter gegangen. Immer mit der Frage im Hinterkopf: Wo vermittelt sich das? Wo wird Human-ResourceManagement sichtbar und damit mit den Mitteln des Films dokumentierbar? Schließlich bin ich bei den einzelnen Situationen oder Episoden gelandet, die im Film zu sehen sind. Manches konnte ich allerdings nicht drehen, weil keine Drehgenehmigung zu bekommen war. Wofür haben Sie keine Drehgenehmigung bekommen? Ich hätte gerne noch das »Management by Objectives«, also die Zielvereinbarungen, in irgendeiner Form in den Film bekommen. Entweder als Mitarbeitergespräch, in dem die Verhandlung von Zielen zur Sprache kommt, oder als Übungssituation für Führungskräfte, die im Führen mit Zielen geschult werden. Bei manchen Firmen werden im Mitarbeitergespräch auch persönliche Ziele verankert. Das hätte ich gerne dokumentiert, was das ist: Persönliche Ziele innerhalb eines Unternehmens-Gesamtziels? Was können da eigentlich meine persönlichen Ziele sein? Und sind das dann wirklich meine persönlichen Ziele? Aber da hat sich nichts aufgetan. Ich hatte Kontakt zu manchen Firmen. Das Gespräch zu bekommen, das ich gerne gedreht hätte, war jedoch nicht möglich.
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Im Film sind zwei Ebenen sehr präsent: die Sprache und die Architektur. Durch die Art, wie Sie montiert haben, tritt das phrasenhafte der Sprache des HumanResource-Managements deutlich zutage. Bestimmte Begriffe werden oft wiederholt, der Begriff »Kultur« beispielsweise. Was war Ihr Eindruck? Was erwartet man sich, was erhoffen sich die Sprechenden von diesem Begriff »Kultur«, der gerade bei den schnelleren Schnitten am Ende omnipräsent ist? Zuallererst muss ich sagen, dass für mich diese Sprache gar nicht so phrasenhaft ist. Ich würde es eher als einen Jargon bezeichnen, vielleicht gibt es auch bestimmte Phrasen. Aber »Phrase« klingt für mich, als sei da nichts dahinter. Ich finde, bei dieser Sprache ist sehr wohl etwas dahinter, nämlich ein ganz genaues Programm, zumindest als Idee. Ob das dann in der Umsetzung klappt, ist eine andere Frage. Mir ist eher aufgefallen, dass dieser Jargon, diese Sprache, Sachen ein bisschen weicher und geschmeidiger formuliert. Das hört sich alles gleich viel sanfter an. Gerne auch gemischt mit bestimmten Anglizismen, hört sich vieles humaner an, als wenn man es im Klartext sagen würde. Meine Lieblingsformulierung – die leider nicht im Film gelandet ist, die das aber ganz gut verdeutlicht – ist, als ein Berater sagte: »Da müssen wir die unterschiedlichen Business Units gegeneinander atmen lassen«. »Atmen«, etwas Organisches: das Unternehmen als organisches Wesen. Was aber gemeint ist: Man muss die Geschäftsbereiche gegeneinander in Konkurrenz setzen, und dann können sie ein bisschen »gegeneinander atmen«. Und da steckt was drin, das ist nicht nur eine Phrase. Da steht eine ganz klare Absicht dahinter: Wenn diese Teams, diese Geschäftsbereiche miteinander in Konkurrenz stehen, dann wird hoffentlich ein Zahn zugelegt. Das ist ja die Hoffnung, die mit Konkurrenzsystemen verbunden wird. Gerade der Begriff »Kultur« hat aber doch auch eine gewisse Aura. Wenn man »Kultur« sagt, hat das gleich den Anstrich des Exklusiven. Das ist wie eine Hohlform. Ich brauche gar nicht viel zu erläutern, weil dem Begriff schon der Status des Avancierten anhaftet. Das hat doch eher etwas Verschleierndes. Der Begriff wird sicherlich auch bewusst genommen, weil er eine positive Assoziation beinhaltet. Gleichzeitig ist Kultur auch etwas – man könnte »Bakterienkultur« sagen, dann wird’s deutlicher –, das uns als einzelne »Bakterien« in Form bringt. Und das haben die Firmen wahrscheinlich ganz genau erkannt, dass man mit »Unternehmenskultur« ein bestimmtes »Mind-Set« etablieren kann. Außerdem sind wir ja auch jenseits von Unternehmen eingebunden in eine Kultur, die von klein auf in jeden Einzelnen von uns einzieht und erzieht. Wir wer-
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den Teil der Kultur, werden von ihr geformt und agieren als einzelnes Individuum das aus, was sie als kollektive Idee oder Lebensprogramm mitbringt. Hierzulande vermittelt uns unsere Kultur eben das Lebensprogramm eines kapitalistisch und hochtechnologisch ausgerichteten Westens. Und das (re-)produzieren Unternehmen auch in einem unternehmensbezogenen Maßstab und etablieren eine Unternehmenskultur, die die Menschen entsprechend bestimmter Werte und Ziele ausrichten soll, wie jede andere Kultur auch. Zumindest habe ich »Kultur« für mich so dechiffriert, unter anderem anhand solcher Sätze wie »Wir müssen unsere Unternehmenskultur ändern, damit wir einen neuen Angestelltentypus produzieren«. Dafür gibt es ganz klare, sogenannte ChangeManagement-Programme. Bei einem Unternehmen gab es zum Beispiel eine Tabelle, in der Eigenschaften aufgelistet waren. Auf der einen Seite stand der IstZustand als Typus-Beschreibung des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin und auf der anderen Seite der Soll-Zustand. Das war wie: Wir backen uns unsere idealen Menschen. Für Mitarbeiter und für Führungskraft gab es unterschiedliche Portfolios, unterschiedliche Soll-Profile. Ganz klar deutlich wird für mich daran das Ziel, mit der neuen Unternehmenskultur das neue Soll-Profil zu generieren. Sind Sie während der Recherche oder während des Drehs Skeptikern gegenüber diesen Programmen begegnet? Im Film zumindest tauchen keine skeptischen Stimmen auf. Ich glaube, dass die Menschen, die vor der Kamera sind, bestimmt ihre individuellen Ambivalenzen mit manchen Sachen haben. Ich kann mich an Interviews erinnern, in denen ich nach den Auswirkungen gefragt habe: Hat das nicht vielleicht negative Folgen? Wo führt das hin? Da kam aber nichts. Mir sind keine skeptischen, kritischen oder nachdenklichen Stimmen begegnet. Aber ich habe auch nicht danach gesucht. Wenn ich mit Betriebsräten gesprochen hätte, wenn ich eine Gegenposition zu dieser Programmatik gesucht hätte, hätte ich sicher auch kritische Stimmen zu hören bekommen, aber das war nicht mein Fokus. Ich wollte das Management zeigen und dem Publikum überlassen, das zu bewerten. Bei der Team-Sitzung von Führungskräften der DHL fällt beispielsweise der Begriff »burning platform« und es wird darauf hingewiesen, dass notfalls »Leidensdruck induziert« werden müsse, wenn die Mitarbeiter beim ›Change‹ nicht mitgehen. Ist das nicht eine Offenheit vor der Kamera, die überrascht? Wir haben in dieser Drehsituation sieben Stunden gedreht. Das war ein ganztägiges Teamtraining für Leute, die ein Change-Management-Programm inner-
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halb des Unternehmens befördern sollten. Ich hatte nach diesem Tag überhaupt kein Gefühl dafür, ob ich aus diesen sieben Stunden Material etwas verwenden kann, ob darin der ideologische Unterbau des Managements hervortritt. Da wird so viel geredet, dass ich zuerst den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen habe. Der Prozess ergibt sich in der Montage. Ich seziere das Material und lege dann Sachen frei, die eben doch drin sind. Zu den Begriffen, die Sie angesprochen haben: Ich denke, dass das Reden in dieser Szene der übliche Jargon ist und gar nicht außergewöhnlich, sondern das normale Sprechen darüber, wie man versucht, Mitarbeiter zu bewegen. Zuerst mit einfachem Überzeugen, und wenn das nicht geht, benötigt man eben andere Methoden wie beispielsweise eine »burning platform« oder die »Induzierung von Leidensdruck«. Wenn man sich in die Logik der Unternehmen begibt, ist das ja nur nachvollziehbar, wenn es heißt, »wir brauchen diese Zahlen und wenn sich die Leute renitent verhalten, dann sorry, dann müssen wir irgendwas anderes machen«. Ich glaube, das ist die übliche Kaskade an Hebeln, die man ansetzt, um bestimmte Programme durchzubekommen und um damit die entsprechende Wettbewerbsfähigkeit zu generieren. In einer anderen Szene steht ein Berater für organisatorische Gebäudeplanung vom Quickborner Team vor den Bauplänen des neuen Unilever-Gebäudes. In den einzelnen Etagen sind Flächen vorgesehen, wie beispielsweise Coffee-Points oder Lounge-artige Sitzgruppen, auf denen informelle Kommunikation generiert werden soll. Der Berater erläutert den Nutzen dieser Flächen, indem er verdeutlicht, wie Kommunikation zur Ressource für Innovation werden kann. Der informellen Kommunikation, also dem Plaudern über Privates, sollen Mitarbeiter Ideen entnehmen und diese nutzbar machen für die eigene Produktivität und damit natürlich für die Produktivität des Unternehmens. Der planende Zugriff dieses HR-Managements dockt also selbst an die informelle Kommunikation an. Hat er eigentlich auch Grenzen? Ich behaupte, der Zugriff hat keine planerischen Grenzen. Woher? Wer soll diese Grenze setzen? Für die HR-Manager gilt, je mehr sie das Individuum mit seiner ganzen Persönlichkeit in Beschlag nehmen können, desto besser zur Erreichung der Unternehmensziele. Ich glaube, die Grenze liegt eher darin, dass das zu gut funktioniert, dass Leute dann tatsächlich viel zu viel arbeiten. Die Grenze liegt also eher im menschlichen Vermögen. Als Mensch bin ich ein begrenztes Wesen. Ich kann maximal nur 24 Stunden am Tag arbeiten, und wenn ich das eine Zeitlang tue, gerate ich ganz schnell an meine Leistungsgrenzen. Ich werde auch älter. Und trotz aller Versuche, mich mit unternehmerischen Zielen selbst zu füh-
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ren, komme ich vielleicht in Konflikt mit einem Bedürfnis nach sozialen Kontakten. Ich habe den Eindruck, dass Unternehmen darauf wiederum sehr wohl reagieren müssen, weil sie natürlich kein Interesse daran haben, dass ihre Beschäftigten durch Burnout oder Überlastungssyndrome reihenweise umfallen. Das wird dann wieder zum Problem. Dann fangen Unternehmen wieder an, tatsächlich Grenzen zu setzen. Es gibt Unternehmen, die ihre E-Mail-Server nachts abschalten, damit man nicht rund um die Uhr E-Mails beantwortet. Das heißt, in dem Moment, in dem das HR-Management erfolgreich war, der Arbeitnehmer komplett diszipliniert ist und sich selbst zum Unternehmer im Unternehmen gemacht hat, in dem Moment wird es für die Unternehmen wieder zum Problem? Auf Dauer vielleicht und natürlich ist es individuell unterschiedlich, ab wann Menschen an ihre Belastungsgrenzen stoßen. Aber ich glaube, dass es über kurz oder lang eine Kollision zwischen einer menschlichen Grenze und dem unendlichen Wachstumsstreben eines kapitalistischen Unternehmens gibt. In der Besprechung der Auslobung des Neubaus der Unilever-Zentrale im Architekturbüro Behnisch Architekten heißt es, dass hier Räume beziehungsweise Arbeitsplätze geschaffen werden sollen, die den Einzelnen nicht daran »erinnern« sollen, dass er arbeitet. Diese Formulierung ist interessant, denn der Mitarbeiter soll ja sicher nicht vergessen, produktiv zu sein. Er soll sich nicht einfach hinlegen und ein Buch lesen, sondern soll etwas ganz bestimmtes für das Unternehmen tun. Was genau soll denn da vergessen werden am Arbeiten? Die Frage lässt sich vielleicht so beantworten: Ich bin darauf gekommen, dass diese Management-Programme nur dann richtig gut funktionieren, wenn sie im Unbewussten stattfinden, wenn ich als Mitarbeiterin das Gefühl habe, dass ich wie von selbst das will, was das Unternehmen will: Das sind ja auch meine Ziele, ich will ja auch nachts diese E-Mails schreiben oder was auch immer. Mein eigener Wille wird ganz unbewusst zu einem unternehmerischen. Das hat für mich etwas Unbewusstes, weil ich darin nicht mehr bewusst wahrnehme: »Moment mal, ich arbeite hier und diese Arbeit hat ihre Grenze«. Soweit ich weiß, stammt das Wort »Arbeit« etymologisch von Mühsal. Und Arbeit hat ja auch tatsächlich mit Belastung und Erschöpfung zu tun, der vielleicht eine Zeit der Schöpfung, der Ruhe und der Erholung gegenüberstehen muss. Das muss ich aber vergessen, um mich mit meiner gesamten Lebenszeit einer produktiven Tätigkeit hingeben zu können und total »im Flow zu sein«. Ich glaube, das kann
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nur ganz geschmeidig funktionieren, wenn es im Unbewussten stattfindet und ich nicht gewahr werde, dass mein Wille mit Psychotechnologien »massiert« wurde. Woher weiß ich eigentlich, was ich selber will? In dem Moment, in dem ich dieser Frage nachgehe, entdecke ich, dass hinter meinem mir individuell und eigenständig erscheinenden Streben, hinter meinen scheinbar persönlichen Zielen, hinter meinem eigenen Willen, ein Management steckt, das das sehr genau plant. Beispielsweise sprechen die Architekten und Planer im Film darüber, wie sie an bestimmten Orten »Leben generieren« wollen und die Gänge des Gebäudes so konstruieren, dass die Menschen möglichst oft ungeplant ins Gespräch kommen. Sie entwerfen den Plan des ungeplanten Gesprächs. Der Film beobachtet diese Management-Ebenen und die Inszenierung von bestimmten Unternehmenskulturen. Und beim Zuschauen kann ich mein eigenes für authentisch gehaltenes Leben auf einmal als ein von außen generiertes wahrnehmen. Diese Reflexionen weisen natürlich weit über die einzelnen Unternehmen und meine etwaige Rolle darin als Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin hinaus und führen zu ganz grundsätzlichen Fragen, inwieweit das, was ich im Leben »will«, tatsächlich meinem Selbst entspricht, oder inwieweit mich dieser, »mein« Wille beherrscht und zu einem bestimmten Tun veranlasst. Ist mein Leben wirklich dazu da, dieses oder jenes Marktsegment zu erobern? Bin ich wirklich auf der Welt, um dieses oder jenes Produkt zu verkaufen? Ich kann diese Frage nicht beantworten, ich kann nur anhand meiner Arbeit an diesem Film und auch darüber hinaus in unserem derzeitigen System ein besinnungsloses Rennen feststellen, ohne überhaupt nach dem Sinn dieses Rennens zu fragen. Dieses »Massieren des Willens«, wie Sie es nennen, soll neben den von Ihnen angesprochenen architektonischen Planungen unter anderem durch TeamTrainings in Hochseilgärten erfolgen, wie die Szenen im Ellerhof zeigen. Da sollen positive Emotionen geweckt, das Team-Gefühl gestärkt und damit nicht zuletzt auch der produktive Output der Teams erhöht werden. Ist es nur das HRManagement, das den Willen der Arbeitnehmer »massiert«? Das Massieren unseres Willens passiert selbstverständlich viel früher, in dem Moment, in dem wir auf die Welt kommen und in eine bestimmte Kultur hineingeworfen werden. Unser jeweiliger Wille ist gewissermaßen »vorformatiert«, und die Unternehmen können somit auf ein Humankapital zugreifen, das bestimmte Werte wie z.B. eine hohe Leistungsorientierung mitbringt oder insgesamt seine individuelle Identität sehr stark über Arbeit definiert. Ohne diese kulturelle »Vorformatierung« würden die jeweiligen Programme des HumanResource-Managements meiner Auffassung nach nicht greifen.
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In der Gesprächsrunde im Ellerhof am Ende des Trainings-Tages werden die Teilnehmer aufgefordert zu reflektieren, was sie erlebt haben und was sie davon »mit nach Hause … ins Unternehmen« nehmen wollen. Genau: Mein Zuhause ist das Unternehmen. Das wird zumindest ideologisch propagiert, das ist die Idee dahinter. Und das hat etwas Totales. Daran schließen auch die Raumplanungen an: »Wir haben hier bewusst das Mobiliar leger gehalten, das soll auch ein bisschen was von zuhause haben«. Ich muss also gar nicht mehr nach Hause wollen, weil ich ja schon zuhause bin. Das Produktivitätsdesign umspannt dann aber meine gesamte Zeit. Die Ausweitung der Produktivität auf meine gesamte Lebenszeit ist etwas, das Unternehmen natürlich interessieren muss, denn je produktiver ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin ist, desto besser. Inwieweit löst die Architektur ein, was man sich von ihr verspricht? Es gibt ja die etwas kuscheligere Atmosphäre, die Sesselchen, man hat viele Bildschirme mit Landschaftsbildern. Oder natürlich die Location »Hafen City« an sich, die großen Glasfassaden, die den Blick auf die Elbe freigeben. Dann zeigen Sie aber Personen, bei denen man zuerst denkt, die sind fast über ihrer Arbeit zusammengebrochen, die sehen gar nicht, dass draußen ein Schiff vorbeifährt. Oder aber sie schauen nur in ihren PC und arbeiten ganz intensiv. Ich kann nicht sagen, ob dieser schöne Arbeitsplatz eine höhere Produktivität bewirkt. Das kann ich nicht beantworten, und das will ich auch nicht, weil ich mit diesem Film nicht versucht habe zu erörtern, ob die Programme in ihrer Umsetzung etwas bewirken oder nicht. Das wollte ich bewusst offenlassen und die Bewertung dem Publikum überlassen. Alle können sich ja vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biographie und dem selbst Erlebten ein Urteil bilden. Und auf der Ebene des Wohlfühlens? Wird es überhaupt zu einem Ort, wo man die Mühsal vergisst und gerne arbeitet? Das kann ich nicht beantworten. Es schien mir nicht passend und nicht wahrhaftig, wenn ich Einzelne in den Unternehmen gefragt hätte: Wie fühlen Sie sich denn jetzt? Fühlen Sie sich zu Hause in dem Sessel? Dann hätte ich individualisierte Meinungen bekommen, und wenn ich zehn Leute befragt hätte, hätte ich mich im Schnitt entscheiden müssen, was ich reinnehme, um die Wahrheit zu produzieren. Und das wollte ich gar nicht.
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Zumindest stellt die Kameraführung einen Einspruch dar, indem sie zum Beispiel zeigt, dass die Landschaft draußen gar nicht wahrgenommen wird. Natürlich ist das nur ein Ausschnitt. Ich weiß nicht, ob die Person fünf Minuten früher an den Fenstern langgelaufen ist und gedacht hat: Ach, wie toll, und ich arbeite hier. Diesen Gedanken finde ich schön, dass die Kamera einen Einspruch darstellt, dass der Film sich nicht durch eine geschmeidige Kamera mit toller Musik dieser Ideologie anheimstellt. Die filmischen Mittel halten sich ja sehr zurück und stellen sich nicht in den Dienst dieser Programme, um sie als Wohlfühlorte zu beweisen. Gleichzeitig waren wir aber auch nicht auf der Suche nach Menschen, die möglichst im Widerspruch zu dem Wohlfühl-Programm stehen. Ich wollte mit den Bildern nicht von Anfang an beweisen, dass es nicht klappt. Manchmal habe ich regelrecht bedauert, nichts Euphorischeres zu finden, beispielsweise bei der Mitarbeiteransprache über mehrere Stockwerke. Jedenfalls habe ich meinen Fokus nicht darauf gerichtet, die Human-Resource-Methoden der Unternehmen lächerlich zu machen nach dem Motto: »Ach, eure Programme funktionieren nicht, guckt euch doch mal eure Mitarbeiter an, wie hängen die denn da über dem Schreibtisch?« Das war zum Beispiel auch bei dem Outdoor-Training unser Problem im Schnitt. Wir hätten im Material viel lieber noch mehr die Aktivierung von »Flow« gesehen, also ein bisschen mehr Begeisterung in der Gruppe. Und stattdessen wirkt das fast ein bisschen lustig. Die Leute stehen zum Beispiel oben auf der Plattform und sagen, was sie verbessern wollen. Teilweise sind die Sätze schlecht formuliert oder wirken wie nachgeplappert, und das hat den Effekt, dass im Publikum darüber gelacht wird. Aber das lächerlich zu machen, war nicht mein Ansinnen. Das ist dann das Dokumentarische. Ich finde das vor und muss damit arbeiten. Klar sind der ganze Film und seine Montage eine Verdichtung; von hundert gedrehten Stunden Material landen am Ende nur neunzig Minuten im Film und formen sich zu einer Aussage. In diesem Fall kann ich nur sagen, ich habe im Schnitt nichts an Flow oder Euphorie weggelassen, um filmisch zu beweisen, dass es nicht klappt. Im Gegenteil, ich will diese Programme ernst nehmen, weil ich finde, sie müssen ernst genommen werden. Apropos Nachplappern: Es gibt mindestens zwei Momente im Film, in denen das thematisch wird. Zum einen im Personalentwicklungsgespräch beim Technologiekonzern Schott Solar mit der Unternehmensberaterin von Kienbaum. Da ist ein Vorwurf an den Kandidaten, dass er zu schulbuchmäßig geantwortet habe. Will man zu den »High-Potentials« gezählt werden, ist es offensichtlich ratsam, sich diesen Jargon so anzueignen, dass er nicht mehr nach gelerntem Dreh-
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buchtext klingt. In der letzten Filmsequenz erläutert eine Unternehmensberaterin die Bewertungsskala für die Antworten eines potenziellen Bewerbers auf die Frage: »Was bedeutet Arbeit für Sie?« Die beste Bewertung bekäme dieser, wenn er möglichst »authentisch« sagt, dass er sich in der Arbeit verwirklichen möchte. Die HR-Programme zielen also auch darauf ab, eine ganz bestimmte Form der »authentischen« Selbstpräsentation abspielen zu lassen. Nun schleppt der Dokumentarfilm auch selbst immer schon die Frage nach der »Authentizität« mit sich. Ihr Film wirft auf diese Weise die Authentizitäts-Frage selbst auf: Was ist das eigentlich, eine authentische Darstellung? Und ist das nicht ein Paradox? Das ist ein interessantes Spannungsfeld. Das waren für mich immer wieder Fragen: Was bedeutet eigentlich die Sehnsucht nach Authentizität? Was heißt dieser Anspruch auch im Dokumentarfilm? Vor allem in einer Welt, die das Authentische so bezeichnet? Das geht ja weit über die Selbstpräsentation hinaus. Das ist eigentlich die totale Identifikation mit einer Programmatik, die es mir ermöglicht, mich darin selbst so authentisch und souverän vorzutragen, dass es keinen Bruch zwischen Theorie und Praxis mehr gibt. Ich muss ein souverän agierendes, authentisches Ich produzieren. Das ist die Aufgabe. Und dafür sind diese Trainings auch da, dass dieses authentisch wirkende Ich nicht mehr als Programm sichtbar wird. In dem Moment, in dem ich etwas so aufgesagt dahersage, sticht dieses Programm noch durchs Fleisch. Man merkt: Das ist ja wie aus dem Lehrbuch. Aber woher kommt das, dass es bei manchen authentisch wirkt und bei anderen lehrbuchhaft daherkommt? Warum ist das so? Und was heißt dann eigentlich »authentisch«? Darauf habe ich keine Antwort. Es ist interessant, das dokumentarisch zu betrachten, weil ja auch der Dokumentarfilm immer unter diesem Anspruch gehalten wird: Ist das denn alles authentisch? Ich werde das auch gefragt. Und ich sage dann immer: Das ist mein subjektiver Blick auf das Human-Resource-Management. Das ist ein Kondensat, das ich von Anfang an ausgewählt habe, das ist eine Zurichtung der Realität. Das beginnt mit der Frage, wie ich die Kamera aufstelle. Für mich ist die entscheidende Sache, dass diese subjektive Zurichtung der Realität eine Wahrhaftigkeit transportiert und somit etwas über die Wirklichkeit ausdrückt. In meinem dokumentarischen Arbeiten spielt das Authentische keine Rolle oder besser gesagt, ich weiß gar nicht genau, was das sein soll. Vor allem dann nicht, wenn sich dieses Authentische wie im Film als Selbsttechnologie entpuppt, die das einzelne Individuum ausstrahlen muss, um sich erfolgreich zu vermarkten. Ich frage mich stattdessen: Transportiert mein subjektiver Blick etwas, womit andere Menschen in ihrem Erleben etwas anfangen können? Hat das einen wahrhaften Bezug zu einer Lebenswirk-
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lichkeit des Publikums oder des einzelnen Betrachters, der einzelnen Betrachterin? Gibt es Menschen, die der Film berührt, weil er etwas mit ihrem Leben zu tun hat? Das ist für mich das Entscheidende. Spielt der Begriff des Subversiven für Sie eine Rolle? Denn über den Schnitt und den Ton, über diese teilweise unangenehmen Störgeräusche, bekommt der Film doch auch eine subversive Ebene. Oder wäre Ihnen dieser Begriff zu stark? Wenn ich diesen Begriff versuche zu entschlüsseln, dann könnte »subversiv« »gegen die Richtung« heißen. Ich würde zwar nicht sagen: »Ich betreibe eine subversive Filmsprache«. Aber wenn ich den Begriff nehme als »gegen die Richtung«, dann ist das Sound-Design schon der Versuch gewesen, gewisse Gegenrichtungen einzufügen. Wir haben viele Original-Töne verwendet, diese verstärkt oder geloopt. Dieses »Are you there?« zum Beispiel ist tatsächlich das Telefonklingeln bei Unilever. Das haben wir weitergeführt und haben damit gearbeitet. Wir haben bestimmte sphärische Klänge der Räume generiert. Für mich war es wichtig, da nicht so ein dumpfes, bedrohliches und eindeutiges Brummen zu haben, sondern etwas Sphärisches und Offenes. Aber zugleich wollten wir ein gewisses Gefühl transportieren, das stört, und eine Geräusch-Ebene, die sich nicht so geschmeidig in die Programmatik einfügt. Deswegen passt an dieser Stelle der Begriff »subversiv« vielleicht ganz gut. Ich habe auf Grund meiner Erfahrungen bei den Test-Screenings gedacht, dass der Film viel weniger als Kritik lesbar ist oder in seiner kritischen Distanz nicht so klar wird. Mit diesem SoundDesign habe ich versucht, eine Gegenrichtung zu verstärken, eine Störung zu erzeugen, um nicht in die Gefahr zu geraten, einen geschmeidigen, einseitigen Werbefilm zu machen. Rückblickend mit meiner jetzigen Erfahrung würde ich das Sound-Design lieber zurückgenommener gestalten, an manchen Stellen ist es mir zu dick. Nach einem der ersten Filme der Filmgeschichte »Die Arbeiter verlassen die Fabrik« der Brüder Lumières von 1895 wendet sich der Blick des Kinos ja nahezu gänzlich von der Fabrik ab. Es gibt relativ wenige Bilder der Arbeit im Film. Wenn Arbeit als Erwerbsarbeit auftaucht, dann in der Regel als Beruf der Protagonisten und Protagonistinnen. Ist es für Sie ein Anliegen, wieder Bilder der Arbeit ins Kino zu holen? Ja. Ich finde, es ist zu viel Liebe und zu wenig Arbeit im Kino. Ich habe nichts gegen Liebe im Kino. Aber ich finde, die Art und Weise wie Liebe oftmals dargestellt wird, ist mir zu viel romantische Verklärung und macht Propaganda für
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ein westlich-kapitalistisches Lebensmodell, das nur Probleme in der Liebe und keinerlei Schwierigkeiten in der Arbeit kennt. Das interessiert mich nicht. Dementsprechend und stattdessen interessiert mich die Arbeit als Feld meiner dokumentarischen Suche, um Ideologien sichtbar zu machen. Es ist in der Tat interessant, warum sich das Kino so wenig darum kümmert, obwohl der größte Teil unseres Lebens mit Arbeit belegt ist. Und dass dieser Großteil der Zeit im Kino so wenig vorkommt, das finde ich schon bemerkenswert. Warum ist das eigentlich so? Und wenn dann mal ein Film wie Ihrer kommt, dann werfen sich alle drauf. Das kam allerdings völlig überraschend für mich. Bei der Abnahme des Films sagte die Redakteurin von Arte: »Das ist ja eher ein Kopf-Film«. Damals habe ich gedacht: Naja, wenn es ein Kopf-Film ist, dann schauen ihn vielleicht ein paar Leute an, die sich sowieso für Dokumentarfilme interessieren oder die sich inhaltlich mit diesem Thema auseinandersetzen. Aber dass er dann tatsächlich so eine Resonanz bekommen hat, bestärkt mich in meinem Gefühl, dass es einen Mangel an Auseinandersetzung darüber gibt, was individuell erlebt wird. In Braunschweig war ein Zuschauer, der ist nach dem Film ganz aufgewühlt aufgestanden und sagte: »Das ist mir passiert, und anderen Mitarbeitern auch. Wir mussten dieses Assessment-Center machen, wir wurden alle entlassen«. Dieser Zuschauer hatte also eine ganz individuelle Geschichte damit, und es schien, dass er durch den Film in der Lage war, darüber zu sprechen. Das war ihm vorher, glaube ich, nicht möglich. Wenn es vorher vielleicht nicht möglich war, darüber zu sprechen, heißt das, es gab einen gesetzten Konsens und der Film hat den Konsens gestört? Vielleicht kann man das so sagen. Insgesamt habe ich durch die vielen Publikumsgespräche den Eindruck bekommen, dass der Film etwas zur Sprache bringt, womit viele zu tun haben oder was vielen bekannt ist. Erst durch die Mittel des Films oder der Montage scheint es möglich, aus dem berufsalltäglich Erlebten herauszutreten und einen anderen Zusammenhang zu erkennen. Sicherlich gibt es auch eine Sprachlosigkeit über bestimmte Erlebnisse, weil Menschen, wie z.B. dieser Mann, der nach einem Assessment-Center die Kündigung erhält, es als ihren individuellen Fehler und damit ihr Versagen empfinden und schambehaftet darüber schweigen. Die zugrundeliegende allgemeine Problematik können sie nicht erkennen. Ich habe mit dem Film vielleicht auch unbewusst versucht, wieder eine Sprachmächtigkeit herzustellen, weil ich ganz klar sagen will:
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Das ist kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem. Ich wünsche mir darüber ehrliche Auseinandersetzungen und Gespräche und zwar außerhalb der professionellen Netzwerke, in denen ich immer so tun muss, als bekäme ich als »High Performer« alles problemlos hin. Sondern Gespräche, in denen ich ehrlich über mich sprechen kann und sagen: Ich kriege es nicht hin, aber inwieweit ist es eigentlich eine Unmöglichkeit es hinzubekommen? Darüber braucht es eine Auseinandersetzung, die nicht individuell funktioniert. »Auseinandersetzung« sagt das ja schon: Ich kann das nicht für mich alleine lösen. Stattdessen braucht es das ehrliche Gespräch mit anderen und eine gemeinsame Besinnung über die Frage: Was tun wir hier eigentlich?
Das Gespräch führten Susanna Brogi und Katja Hartosch
»Manage dich selbst oder stirb.« Die Autorin Kathrin Röggla im Gespräch
Ihr Roman »wir schlafen nicht« ist 2004 erschienen. Er begleitet Sie also schon relativ lange. Was ist in Ihrer Wahrnehmung das Besondere an dem Buch? Sticht es unter Ihren anderen Werken hervor? Es ragt in dem Sinne heraus, weil es das erste in der Reihe von Beschäftigungen mit der Arbeitswelt ist. Und es hat für mich eine besondere biographische Bedeutung. In dem Buch greift vieles sehr glücklich ineinander. Dass ich die Unternehmensberater für mich entdeckt habe, das war nicht von vornherein klar. Angefangen habe ich mit Interviews mit Leuten aus dem Bereich der Neuen Medien, der sogenannten »New Economy«, Ende der 1990er Jahre. Ich hatte mit Programmierern zu tun, mit Startup-Firmen, war auf Startup-Messen. Aber bei der Übertragung in eine Erzählstruktur hat das anfangs nicht funktioniert – also, dass ich dieses seltsame Ich habe, das nicht so richtig auftaucht, das aber die Fragen stellt und sich verändert. Bei den Unternehmensberatern hat es dann plötzlich richtig gut ineinandergegriffen, weil Unternehmensberater im Grunde ja genau das gleiche machen wie ich als Interviewerin: Sie gehen in Situationen rein und tun so, als wären sie nicht präsent, als wären sie eine Art objektiver Außenbeobachter. Sie suggerieren also die ganze Zeit Neutralität, sind aber letztendlich manipulativ und bewirken viel. Das hat dann sehr gut funktioniert: Der Erzählergeist war der diabolische Geist der Unternehmensberater selbst. Das ist eine starke Aussage, daher eine Nachfrage zu dieser Parallelisierung: Gibt es keinen Unterschied zwischen der Erzählinstanz, die Hierarchien und Mechanismen des Machtgebrauchs offenlegt, und diesem »diabolischen Geist der Unternehmensberater«? Oder ist hiermit gemeint, dass sich die Erzählinstanz in die Kritik mit hineinnimmt?
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Wenn ich die Frage richtig verstehe, dann ist es ein absolut immanenter Roman. Die Erzählinstanz nimmt so gesehen nur scheinbar eine Außenperspektive ein. Es war der Versuch, dieses System von innen her zum Implodieren zu bringen. Genretechnisch betrachtet ist sie vor allem gegen Schluss keine positiv besetzte Figur, sondern eine dämonische, insofern werden die dunklen Seiten der ganzen Angelegenheit hervorgehoben. Können Sie dieses Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in Bezug auf die Unternehmensberater und deren Wirkung genauer erläutern? Dieses gleichzeitige Sichtbar- und Unsichtbar-Werden, Sich-Entziehen, ist im Grunde eine ganz klassische Herrschaftstechnologie. Ich würde sagen, diese Beratergeschichte ist die Strategie der Macht, wie sie heute funktioniert. Man tritt nicht autoritär auf und sagt: So und so wird’s gemacht. Sondern man kommt mit dem Versprechen einer Beratung. In Wirklichkeit weiß aber jeder – und das gehört zum Spiel dazu –, dass es nicht einfach nur eine Beratung ist, sondern dass dem sehr wohl etwas folgt, dass die Berater Dinge mitbestimmen, also auch Kürzungen, Entlassungen und Rationalisierungen. Das weiß jede und jeder im Unternehmen. Die Berater bekommen so eine Machtposition, und die Leute, die im Unternehmen arbeiten, nehmen vor ihnen die Haltung ein wie das Kaninchen vor der Schlange. Gleichzeitig übernehmen die Berater aber nicht die Verantwortung für das, was sie da entscheiden. Sind die Unternehmensberater als Berufsgruppe in Ihren Augen immer noch aktuelle Beispiele, um anhand ihrer Sprache etwas Typisches über die zeitgenössische Arbeitswelt auszusagen? Oder entsprach das dem Zeitgeist der Jahrhundertwende? Ja, ich finde die Berufsgruppe nach wie vor aktuell. Unternehmensberater sind inzwischen auch noch in anderen Bereichen tätig, haben noch mehr gesellschaftliche Macht. Damals sind sie durch die Versicherungs- und die Verlagsbranche, durch die Banken gegangen. Irgendwann kamen die öffentlichen Einrichtungen und Institutionen hinzu, dann die NGOs und die Kirchen. Jetzt sind sie überall anzutreffen. Auch wenn man sich anschaut, wer die Regierungen berät, dann sind das auch diese Leute. Jetzt nicht unbedingt der »Senior Associate«, sondern eher »Der Partner«. Es ist überall dieselbe betriebswirtschaftliche Logik am Werk, wie sie in Zeiten des Finanzkapitalismus zu begreifen ist. Das Buch ist also in meinen Augen noch sehr aktuell. Vielleicht gibt es ein paar Sachen, die
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Patina bekommen haben. Aber es ist schon erstaunlich, dass sich eigentlich nicht so viel verändert hat, wie man manchmal glaubt. Würden Sie der These zustimmen, dass die Unternehmensberater das ebenso geliebte wie gehasste Arbeiten in Projekten diskursiv vorangetrieben und etabliert haben? Oder kommt der Jubel über diese Arbeitsform, die semantisch oft mit den Begriffen der Selbstbestimmung einhergeht, eher aus dem Künstler-Milieu? Ich finde es nicht einfach zu sagen, woher das genau kommt. Es speist sich aus vielen Quellen, und die Techniken, die wir in den Projektarbeitszusammenhängen auffinden, haben oft einen emanzipatorischen Ursprung. Seit den 1970ern oder 1980ern setzt man immer mehr auf Selbstbestimmung. Zugleich aber in einem Rahmen, der einen eher ohnmächtig beziehungsweise gerade nicht selbstbestimmt macht. Das ist eine Art Paradox und im Grunde ein Klassiker des Neoliberalismus. Foucault hat in den 1970er Jahren versucht, das mit dem Begriff der Gouvernementalität zu fassen, wobei er noch einen viel breiteren historischen Horizont aufmacht. Die Kreativen werden dafür immer als Beispiel genommen, aber das kommt mir nachzeitig vor. Ich würde sagen, das hat in dem Bereich erst in den 1990ern oder Ende der 1990er angefangen und mit den Neuen Medien und der New Economy nochmal Fahrt aufgenommen. Man hat erkannt, dass man damit noch mehr Profit aus den Leuten rauskriegt. Ich erinnere mich noch, dass damals z.B. Mitarbeiter bei Pixelpark, einer Webagentur der ersten Stunde, auch dort übernachtet haben, dass sie fast ganz dort lebten. »Arbeit als Party« war in aller Munde, und natürlich war es trotzdem Arbeit in einem privatwirtschaftlichen Rahmen, wo irgendwer Profit macht. Das wurde nie so ganz gesehen. Das waren etwas seltsame Versprechungen vom unentfremdeten Arbeiten in einem privatwirtschaftlichen Rahmen. Natürlich möchte ich jetzt nicht sagen, dass ein Teil davon für viele nicht auch eine Befreiung war. Ich will mich nicht zum Loblied des fordistischen Korsetts aufschwingen. Aber es gibt eine Zweischneidigkeit dieser Emanzipationstechniken. Sie haben die historische Entwicklung vom Fordismus zum Postfordismus angesprochen. Welche Narrationen über Arbeit sind in Ihren Augen exemplarisch für diese wirtschaftlichen Entwicklungsphasen? Gibt es jeweils so etwas wie Hauptnarrationen, die den Diskurs dominieren bzw. dominiert haben? Heutzutage ist die Narration des selbstständigen Unternehmers die Hauptnarration. Früher war es der Angestellte. Das Unternehmertum ist in aller Munde und wurde auch politisch vorangebracht. In Deutschland war es vor allem Gerhard
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Schröder mit Förder-Programmen wie der Ich-AG, mit Hartz IV beziehungsweise der gesamten Agenda 2010. Das ist nach wie vor die Losung. Man soll gewissermaßen sein eigener Unternehmer sein und nicht nur sich selbst als biologische Einheit managen, sondern auch noch sein Wirtschaftsleben autonom tragen. Das ist natürlich Unsinn, weil so keine Gesellschaft funktionieren kann. Auf der individuellen Ebene bedeutet diese Forderung, für sein eigenes Wirtschaftsleben verantwortlich zu sein, beispielsweise eine gestiegene Sorge um die perfekte Erwerbsbiographie oder, um nochmal den Begriff der Narration ins Spiel zu bringen: die Sorge um die ökonomisch am besten verwertbare Selbsterzählung. Die Praktikantin aus »wir schlafen nicht« ist hierfür ein gutes Beispiel. Einmal stellt sie fest, dass sie die falsche Vergangenheit habe, sie hätte eine Agenturvergangenheit gebraucht und jetzt habe sie aber ärgerlicherweise eine Amerikavergangenheit. Ihre Erzählung ist am Arbeitsmarkt nicht nachfragt. Hat sie sich also verspekuliert? Ja, mit Sicherheit. Aber in einem Spiel, in dem man nur verlieren kann, weil es letztendlich nur eine Fiktion ist zu glauben, es gebe die richtige Narration. Die alleine reicht eben nicht. Es sei denn, man hat die Narration, dass man das Kind reicher Eltern ist. (unterbricht sich, lacht) Ich muss beim Begriff »Narration« immer an den Soziologen Lars Clausen denken, den Begründer der Katastrophensoziologie. Als ich im Gespräch mit ihm mit »Narration« anfing, meine er: »Von Narration sprechen immer die Menschen, die den Krieg oder dessen Auswirkungen nicht mehr erlebt haben.« Also für ihn war das ein sehr abgehobener Begriff, aber das betrifft die Soziologie, in der Literaturwissenschaft ist es natürlich sehr legitim, von »Narration« zu sprechen. Also gibt es für Sie etwas Reales, das die Narration gewissermaßen durchbricht? Bei »Narration« schwingt für mich die Deutung mit, dass es da jemanden gibt, der sich die Sache ausdenkt. So gesehen ist das schon Teil des Unternehmertums, denn das Theorem fassend heißt das ja: Ich habe mir die falsche Narration gegeben, ich habe mich falsch erzählt. Und diese Vorstellung hält an Machbarkeitsideen fest. Aber ich kann mich noch so gut erzählen, wenn ich eine arme Kirchenmaus bin, keine reichen Eltern und keine Verbindungen habe, dann wird es für mich zusehends schwierig, mich überhaupt irgendwo unterzubringen. Ich spitze das jetzt zu, aber wenn man sich die Zahlen ansieht, dann wird man, wenn man ein Arbeiterkind ist, vermutlich nicht in einer Unternehmensberatung landen – außer als Praktikantin. Da hilft einem keine Narration der Welt. Michael
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Hartmann zeigt beispielsweise in seinem Buch Der Mythos von den Leistungseliten, dass Deutschland eine Gesellschaft ist, die extrem unegalitär, extrem hierarchisch und abgeschlossen funktioniert, d.h. dass man nicht nach oben aufsteigen kann, wie immer suggeriert wird. Zumindest ist es sehr schwierig. Darum habe ich mit dem Begriff »Narration« in diesem Zusammenhang meine Schwierigkeiten. Die Praktikantin ist auch aus einem anderen Grund eine interessante Figur: Sie ist offensichtlich die Einzige, die noch auf Stimmen jenseits dieser Sphäre hört, wie beispielsweise auf die ihres Bruders. Im 12. Kapitel erzählt sie über ein gemeinsames Gespräch, in dem sie dem Bruder gegenüber geäußert hat, dass die landläufigen Vorstellungen vom »mckinsey-king« klischeehaft seien und dass es vielen Beratern keinen Spaß mache, Leute zu entlassen. Im Roman heißt es darauf: »›na, dann werden sie eben nicht wütend genug!‹ habe er gesagt, ›wütend genug!‹, das müsse man sich mal vorstellen!« Die ausbleibende Wut, die bewirken könnte, dass jemand aussteigt, kommt hier ins Spiel. Ist Wut vielleicht eine mögliche Voraussetzung für Widerstand, und kann man sich – oder soll man sich – für Wut entscheiden? Ich glaube nicht, dass das geht. Das ist eine Illusion zu glauben, dass man voluntaristisch wütend sein kann. Ich glaube aber sehr wohl, dass es sehr viele Menschen gibt, die so eine Art ohnmächtige Wut spüren. Punk-Wut ist in meinen Augen etwas, das erst entstehen kann, wenn sich Widerstand gesellschaftlich organisiert. Wenn das fehlt, dann ist man in einer ohnmächtigen Wut, weil man sozusagen etwas erleidet, was einen enteignet oder körperlich schwach macht oder anderes. Ich denke konkret an das Beispiel Fluglärmbelastung. Das ist eine Geschichte, die ich gerade recherchiere. Da werden Leute enteignet, erleiden körperliche Blessuren, können nicht mehr schlafen. Und auch die sind, obwohl sie sich schon organisiert haben, noch relativ ohnmächtig wütend. Wenn das eine breitere Bewegung wäre, wären sie wahrscheinlich lauter und anders wütend. Insofern finde ich auch das Bild vom Wutbürger ganz merkwürdig, eben weil es dieses Voluntaristische beinhaltet. Also dass man jetzt einfach mal wütend ist, weil einem jemand gesellschaftlich auf den Schlips getreten ist und man eher in seiner Eitelkeit gekränkt ist, das ist völlig absurd. Geht es dabei aber nicht eher um Wut im Sinne von: »Ich erlaube es mir nicht, daran vorbeizusehen«? Um einen Vergleich zu ziehen: In Ilse Aichingers Neuerzählung des Grimm-Märchens »Der Wolf und die sieben jungen Geißlein« sagt das sechste Geißlein, das auf der Suche nach einem Versteck erfahren hat, wie
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es von seinen schnelleren Geschwistern übervorteilt worden ist: »ich fand nur mehr Platz unter der Waschschüssel. Da lernte ich meine geschwinden Geschwister kennen. Ich bin jetzt zornig genug.« Ich reagiere nachdenklich bei diesem Wutbegriff, weil er im kulturellen Milieu wahnsinnig heiß gehandelt wird. Also wenn du wütend bist, punkig bist, dann kannst du im Grunde alles machen. Ich werde oft mit Elfriede Jelinek verglichen, und dann wird oft gesagt: Elfriede Jelinek, die ist wütend, drastisch, und ich wäre das nicht, oder zumindest nicht ganz so stark. Ich finde, das stimmt, aber sie kommt auch aus einer anderen Generation, die noch eine ganz andere Geschichte hat. Ich komme aus der Generation der Ängstlichen und Ohnmächtigen, und als Schriftstellerin gehe ich mit dem Material um, das mich gegenwärtig umgibt. Momentan sind klare, scharfe Äußerungen nicht auf der Straße zu finden, und ich kann sie jetzt auch nicht voluntaristisch aus mir herausholen. Ich kann nicht einfach so eine Punknummer abziehen. Bei Elfriede Jelinek passt das, weil das ihr Ding ist. Vielleicht sind es nicht die lauten Töne, aber durch die Art, wie Sie Ihre Texte arrangieren, wie Sie Figuren gestalten, sprechen auch Sie gesellschaftliche Probleme unüberhörbar an, üben subtil und subversiv Kritik. Um diese kritische Dimension zu erkennen, sind die Lesenden allerdings anders gefordert als bei Texten, die eher Pamphlet-Charakter haben. Sie müssen in reflexive Distanz gehen. Den Figuren in »wir schlafen nicht« zum Beispiel gelingt dieser Abstand zu den eigenen Arbeitsweisen nicht. So ist etwa in Kapitel 18 der Senior Associate der Ansicht, dass seinem Unternehmen nicht der Vorwurf einer hierarchischen Struktur gemacht werden könne, weil der Druck nicht nur nach unten, sondern auch nach oben gehe. Und über Arbeitssucht heißt es im selben Kapitel, dass nur diejenigen so bezeichnet werden können, bei denen etwas nicht funktioniert: »wenn alles gut läuft, nennt man einen nicht arbeitssüchtig.« Woher rührt diese Blindheit gegenüber den eigenen Arbeitsverhältnissen? Vielleicht muss ich das ganz krass mit einem Begriff benennen, nämlich: Alternativlosigkeit. Ich denke gerade an ein Gespräch, das ich letzte Woche mit einem ehemaligen Unternehmensberater geführt habe. Das war sehr drastisch, weil es so fest verankert in seinem Denken war, wie Wirtschaft zu funktionieren hat, wie seine Arbeit zu funktionieren hat. Zu dieser Form der Ökonomie wird derzeit keine Alternative, nicht einmal gedanklich, erlaubt. David Graeber hat das gerade den »Krieg gegen die Vorstellungskraft« genannt. Das ist im Denken verankert wie ein sektenmäßiger Glaube. Zugleich erzeugt diese Form aber Wi-
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dersprüche, und man muss dauernd über kognitive Dissonanzen hinwegbügeln. Das ist mein Eindruck. Beim Transkribieren des Gesprächs ist das nochmal deutlich geworden. Mir ist das immer wieder aufgefallen, dass diese Leute, wenn sie sich erklären müssen, oft anfangen, in Schleifen zu sprechen. Sie geben Glaubenssätze von sich, die sie drei Minuten später halb widerrufen, aber dann doch wieder bestätigen – wie um es sich immer wieder selber einzubläuen. Man merkt, dass das sehr tief sitzt. Abgesehen davon, dass es wie ein Glaubenssystem ist, sind wir in einem Stadium des Kapitalismus angekommen, in dem vieles nicht mehr funktioniert und krisenhaft ist. Das heißt: sie stoßen ständig an ihre Grenzen, merken, dass die Konzepte nicht aufgehen. Um sich das nicht einzugestehen, entsteht die Notwendigkeit, manches zu überdecken und Dinge nicht sehen zu wollen. Einen anderen Aspekt fand ich auch sehr interessant: Der Großteil meiner männlichen Gesprächspartner war früher Leistungssportler. Bei den Frauen war das anders, aber da habe ich auch viel weniger gefunden, die ich interviewen konnte. Aber bei den Männern war es deutlich. Den eigenen Körper besiegen wollen, das ist für sie enorm wichtig und gehört gewissermaßen schon zum guten Ton. Das ist fast mönchisch, dieses Leben. Einblicke in Arbeitswelten geben auch viele Ihrer Theaterstücke. An was arbeiten Sie gerade, und wird Sie das Thema Arbeit in Ihrem literarischen Schaffen weiterhin beschäftigen? Ich recherchiere gerade eine Geschichte, die ein bisschen mehr mit dem Wutbegriff zu tun hat. In Frankfurt ist der Flughafen erweitert worden, und es gibt jetzt eine ganz neue Fluglärmproblematik. Inzwischen haben sich 80 Bürgerinitiativen gegründet, die dagegen kämpfen. Ich finde diese Form des Bürgerprotests spannend. Im ersten Schritt habe ich eine Bürgerinitiative befragt. Im zweiten Schritt – und da kommen wir wieder zu Arbeit – habe ich mich ganz lange mit einem Anwalt unterhalten, der die Kommunen dort vertritt. Dabei ging es sehr stark um juristische Arbeit. Dann war ich in Brüssel bei einem Hauptberichterstatter und habe Einblicke in dessen Arbeitswelt bekommen. Ich wollte wissen, wie eine Fluglärmrichtlinie eigentlich erarbeitet wird, wie sie gewissermaßen hergestellt wird. Und dann habe ich noch einen Lufthansa-Manager und einen höheren Angestellten bei Fraport interviewt. Das sind die Professionals und wie sie mit der Problematik umgehen. Wobei mich vor allem der juristische Diskurs interessiert. Es geht dabei aber nicht nur um Arbeitswelten, sondern auch um Erfahrungswelten.
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Das heißt, das Befragen bleibt weiterhin Ihr literarisches Vorgehen? Ja, das kickt mich. Ich finde es klasse, in Welten reinzugehen, die mir sonst nie offenstehen. Das ist meine Form, um an Realität anzudocken. Es gibt vielleicht Autoren, die viel Zeitung lesen und denen das ausreicht. Mir reicht das nicht, und ich misstraue den Medien auch ziemlich in der Hinsicht, wie und über was berichtet wird. Meine derzeitige Recherche wächst sich allerdings aus ins Extreme. Das ist ja eine Geschichte, die seit 15 Jahren vorangeht. Der Anwalt meinte, dass sich ein professioneller Anwalt ein dreiviertel Jahr nur mit dieser Geschichte beschäftigen müsste, damit er danach mit seiner eigentlichen Arbeit loslegen könne. Und das kann ich natürlich nicht machen. Ich kriege nur einen Ausschnitt, werde dem Ganzen nie gerecht sein. Das ist so eine komische innere Forderung, die ich habe, die ich gleichzeitig auch absurd finde, weil Literatur ja nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat. Das ist merkwürdig. Dennoch will ich den Gesprächspartnern gegenüber eine gewisse Ausgewogenheit bringen. Ich merke, dass ich bei diesem Thema an meine Grenzen komme. Ich habe Spaß dabei, aber es ist auch ein bisschen unheimlich. Zum einen ist da der rechtliche Aspekt, ich weiß noch nicht, wie ich das darstellen kann, weil durch die Geschichte natürlich klar wird, um welche Konzerne es sich dabei handelt. Zum andern erzählen mir alle die unterschiedlichsten »Fakten«, und es kommt kein Bild zustande. Sie lügen einfach, ich kann mir das nicht anders erklären. Sie kommen mit dezidierten Zahlen, und die stimmen oftmals nicht überein. Und jetzt müsste ich nachrecherchieren, was wirklich stimmt, komme aber an die dafür notwendigen Unterlagen gar nicht ran. Ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehen soll. Was macht man mit Gesprächspartnern, die anfangen, nicht ganz die Wahrheit zu sagen? Davon bin ich bisher naiver Weise ausgegangen. Zumindest weiß ich garantiert, dass ich erkennen kann, wenn jemand im Gespräch manipulativ ist, durch die Art und Weise, wie jemand spricht – auch wenn ich von der Materie selbst nichts verstehe. Das soll jetzt jedenfalls erst mal ein kleines Theaterstück werden. Ich werde auch zwei Essays dazu schreiben. Ich plane ein Prosabuch, das sich mit Flughäfen beschäftigt. Sie sehen schon, ich finde das mit den Recherchefragen echt spannend. Es gibt ja Filmemacher, die haben ein ganzes Team zur Verfügung, das die Informationen zusammenträgt. Ich bin ganz allein unterwegs und hätte auch gar nicht das Geld, jemanden für die Recherche zu bezahlen. Ich kann mir aber auch gar nicht vorstellen, dass jemand anderes die Recherche macht. Ich habe das Gefühl, dass ich das selber machen muss, um das alles zu durchdenken und mich als eine Art Lackmusstest für das Recherchierte zu verwenden. Recherche als notwendige Erfahrung sozusagen.
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Wenn Sie bei der Recherche, wie Sie sagen, »an die Realität andocken«, welche literarischen Geister begleiten Sie dabei? Das ist eine gute Frage, die mich ein wenig verlegen macht, weil ich früher viele Geister hatte, aber im Moment bin ich etwas »geistlos«. Das ist echt krass gerade. Ich hatte viele Phasen. In den 1990ern waren es Elfriede Jelinek, Alexander Kluge, Hubert Fichte, oder anfangs auch Witold Gombrowicz, später dann Don DeLillo, Denis Johnson. Ich muss sagen, dass ich in den letzten Monaten nicht zu einem Geist gefunden habe, aber das muss kommen. Sie hatten vorhin von Arbeits- und Erfahrungswelten gesprochen. Der Erfahrungsbegriff spielt ja beispielsweise bei Alexander Kluge eine zentrale Rolle. Welche Bedeutung messen Sie der Dimension Erfahrung bei? »Erfahrung« ist mittlerweile fast schon ein romantischer Begriff. Bei Kluge hat er viel mit dem Realismus-Begriff zu tun. Erfahrung ist sozusagen das, was von der Realität beim Menschen ankommt, was vom Bewusstsein umgesetzt wird. In der Geschäftswelt ist Erfahrung, wie Richard Sennett in Der flexible Mensch oder Die Kultur des neuen Kapitalismus beklagt, immer weniger wert. Für viele bewahrheitet sich, dass es kaum noch Arbeitsvorgänge gibt, für die Erfahrungswerte essentiell sind. Durch die ständigen technischen Erneuerungen ist der Erfahrungsbegriff zunehmend ad absurdum geführt worden. Zudem wurde er durch die Jugendkultur entwertet. Alles muss immer jung und hip sein. Auch an der gegenwärtig geforderten Form des Denkens – also immer innovativ zu sein, immer alles neu zu denken, immer alles auch von einer anderen Seite zu sehen – zeigt sich, dass es nicht mehr um Erfahrungsräume geht. Ich finde diesen romantischen Erfahrungsbegriff ganz nützlich. Vor zehn Jahren hätte ich ihn nicht verwendet, aber das hat sich in den letzten Jahren verschoben. Ich habe ihn eingesetzt, als ich angefangen habe, mit Privatschuldnern zu arbeiten. Die Leute haben Selbsthilfegruppen gegründet, um über ihre Erfahrungen zu reden, also Erfahrungen werden da zu einer Art Widerstandskategorie gegen die Übermacht der Unternehmen, Banken, Immobilienfonds, Handyunternehmen, Versicherungen etc., mit denen sie meist zu tun haben. Allerdings glaube ich auch nicht, dass man den Erfahrungsbegriff von Kluge heute eins zu eins weiterverwenden kann, denn er setzt voraus, dass man Erfahrungen verarbeiten kann. Ein Trauma wäre demnach keine Erfahrung. Weil aber vieles in der Gesellschaft die Form eines Traumas angenommen hat, passt der Begriff nicht mehr so ganz. Trauma meine ich nicht im eigentlichen psychologischen Sinn als Krankheitsbild, sondern im übertragenen Sinn als etwas, das Naomi Klein als Schock beschreibt, als
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Schockstrategie der Milton Friedman’schen Schule. Die Erfahrungen in dieser Gesellschaft lassen oft nicht mehr direkte Rückschlüsse auf das eigentliche Geschehen zu, sie sind mehr wie Residuen. Wenn es eine Kategorie des Widerstandes ist, wie verhält sich das dann bei den bereits angesprochenen Beispielen, also den Charakteren aus »wir schlafen nicht« oder den Unternehmensberatern, mit denen Sie Interviews geführt haben? Sie haben beschrieben, wie Letztere, wenn sie sich selbst erklären, immer wieder über Brüche und Widersprüche hinwegreden und das gar nicht mehr wahrnehmen. Oder die Figuren in »wir schlafen nicht«, die scheinbar außerstande sind, sich selbst zu reflektieren: Scheint da Erfahrung noch als Kategorie des Widerstandes auf, oder wird sie nicht vielmehr weggeredet? Der Unternehmensberater beispielsweise will ja gar nicht widerständig sein, er will sich dem System verpflichten, wenn man das mal plakativ benennen möchte. Eva Illouz hat in ihrem Buch Warum Liebe weh tut beispielsweise beschrieben, wie Frauen, die heute verlassen werden – eine Erfahrung, die man macht –, das sofort ummünzen in eigene Unzulänglichkeit und mit Selbstmanagement und Selbstoptimierungsstrategien darauf antworten. Erfahrung wird dann schlicht negiert: Das ist mir eigentlich gar nicht passiert, ich war einfach nicht gut genug. Und das geschieht ganz oft. In der ganzen Rede vom Unternehmertum, vom Management, wird ja immer suggeriert, dass einem nichts passieren kann. Man kann sich quasi nur selbst erfahren. Irgendwie ein bisschen traurig, oder? Wir haben bereits über Emotionen gesprochen, da ist auch der Begriff der Angst aufgetaucht. Sind diese Emotionen für Sie ein Movens für die Suche nach bestimmten Stoffen? Der Titel Ihres jüngsten Films »Die Bewegliche Zukunft« spricht beispielsweise das zweischneidige Verhältnis zur Zukunft an: Zum einen ist sie gestaltbar, zum anderen aber auch ungewiss und damit auch angstbesetzt. Auch in den Alarmbereiten scheint die emotionale Ebene der Angst durch, als eine nicht nur individuelle, sondern auch gesellschaftliche Befindlichkeit einer ganzen Generation. Wir sind eine Gesellschaft, in der es einen festen Rahmen immer weniger gibt. Was heute gilt, kann morgen schon ganz anders sein. Ich würde sagen, das ist anthropologisch ungeschickt, denn der Mensch ist nicht dafür geschaffen, sich ständig neu zu orientieren. Auch für Familien oder für alte Menschen ist das nicht geeignet; es ist nur für Menschen, die gerade jung sind und alles ausprobieren wollen. Und das erzeugt natürlich extreme Ängste, weil man weiß, dass es
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keinen schützenden Rahmen mehr gibt, und die neue Devise ist: »Manage dich selbst oder stirb!« Auch Studien zeigen, dass wir in einer sehr angstbesetzten Gesellschaft leben. Das sind die beherrschenden Gefühle: Depression und Angst.
Das Gespräch führten Susanna Brogi und Katja Hartosch
»Wir haben bewusst keine Erfahrungsproduktions-Fabrik daraus gemacht.« Die Künstlerinnen Kerstin Polzin und Anja Schoeller im Gespräch
Seit 2005 arbeiten die Künstlerinnen Kerstin Polzin (KP) und Anja Schoeller (AS) wiederholt zusammen. Unter dem sachlichen Titel »zwischenbericht« firmieren gemeinsame Projekte wie Geführtes Fließen (2006) oder Berliner Schöpfung (2010). Die im Zentrum des Gesprächs stehende Arbeit ERFAHRUNGsPRODUKTion. Zeitgenössische Kunst im Zwischenraum industrieller Produktion (2008/09) entstand in Zusammenhang mit der AEG-Werksschließung in Nürnberg und auf Grund der Einladung von Michael Schels, der dort den Verein zentrifuge gegründet hatte. In den ehemaligen Firmen-Hallen dieser rund 160.000 Quadratmeter umfassenden Industrieanlage realisierte zwischenbericht das im Folgenden im Mittelpunkt stehende Projekt. Dieses verband Kunst-Führungen vor Ort mit einer vom 16.01. bis zum 28.02.2009 gezeigten Ausstellung. Später wurde die Ausstellung noch in Leipzig im Spinnerei archiv massiv vom 13.03. bis zum 18.04.2009 und vom 10. bis zum 16.11.2011 anlässlich der Graduiertentagung (Re-)Präsentationen der Arbeitswelt in der von Gabriella Héjja geleiteten Erlanger Galerie im Treppenhaus gezeigt. Gabriella Héjja sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt. Bei gemeinsamen Projekten arbeiten Sie ja unter dem Namen »zwischenbericht«. Die nun wenige Jahre zurückliegende Arbeit, über die wir hier sprechen wollen, trägt den Namen »ERFAHRUNGsPRODUKTion«. Ein besonderes Sprachbewusstsein zeichnet Ihre Arbeiten grundsätzlich aus: Dadurch entsteht eine Art Mehrwert oder, um die von Ihnen im Untertitel verwendete RaumMetaphorik aufzugreifen, ein Sprach- und Vorstellungsraum, dessen Reflexion
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ich gerne an den Anfang stellen würde. Können Sie diesen Titel im Hinblick auf Ihre Arbeit kurz erläutern? AS: Zunächst wählten wir als Titel für die Ausstellung »AUS ERFAHRUNG GUT«, abgeleitet von »AEG.« Wir wollten uns damit in unserer Arbeit auf den Ort und dessen industrielle Geschichte berufen, weil dort die industrielle Produktion stattfand. Bei unserem ersten Gang über das Gelände ist uns die Aufschrift an der Fassade aufgefallen: »aus Erfahrung gut«. Kerstin Polzin fragte mich nach der Herkunft dieses im Werbekontext zu verortenden Slogans. KP: Das war verrückt: Ich komme aus Dresden, wo ich ohne Westfernsehen aufwuchs und von daher diesen Werbespruch der Firma AEG nicht kannte. Aber ich hatte sofort das Gefühl, dass der Spruch als Titel für unsere Ausstellung genau passt. Wir hatten das ganze Szenario schon im Kopf: Diesen Raum bewusst unter Berufung auf unsere Erfahrungen mit Künstlerinnen und Künstlern zu entdecken, war eine Idee, die von Beginn an präsent war. Und damit bezog sich »aus Erfahrung gut« auf unsere Beziehung zu den Künstlern: Aus unserer Erfahrung sind sie gut, und deshalb stellen wir sie aus. AS: Der Gedanke leitete uns, dass die Dinge, die wir dort erarbeiteten, ebenso wie die Dinge, die wir vorfanden, für uns »gut« waren. Es waren für die erste Kunstführung durch die Hallen bereits Flyer mit diesem Titel gedruckt worden. Zeitgleich haben wir den Ausverkauf von AEG miterlebt. Die Firma Elektrolux, die das Label AEG mitgekauft hatte, intervenierte und untersagte uns die Verwendung dieses Namens. Wir mussten uns also einen anderen überlegen. Das war der erste Schritt auf dem Weg zur Namensfindung. Und dann, auf der Suche nach dem Charakteristischen dieser Arbeit, kamen wir auf den Titel ERFAHRUNGsPRODUKTion, von dem wir mittlerweile finden, dass er besser zu der entstandenen Arbeit passt. KP: Der Titel transportiert aus unserer Sicht das Gesamtkonzept, also beispielsweise den Hinweis darauf, dass ein Produkt durchaus geistig sein kann, dass eine Kernidee präsent ist, ohne Materie zu benötigen, und weiter, dass sich ein geistiges Produkt Materie sucht, in der es nachvollzogen werden kann. Wir wollten zeigen, dass diese geistige Substanz verfügbar ist, dass sie nicht gebunden ist an Objekte oder die Präsentation in dafür entwickelten Institutionen, sondern vielmehr an Menschen, die sich damit auseinandersetzen. Das hat Marcel Duchamp, den wir auch zitieren, bereits 1956 gesagt (blättert im Ausstellungskatalog, zitiert): »Alles in allem wird der kreative Akt nicht vom Künstler allein vollzogen;
»…
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der Zuschauer bringt das Werk in Kontakt mit der äußeren Welt, indem er dessen innewohnende Qualifikation entziffert und interpretiert und damit seinen Beitrag zum kreativen Akt hinzufügt.«1 Diese Idee liegt unserem Konzept zugrunde. Wir haben die Arbeiten von Menschen, die unser Denken stark beeinflusst haben, aus der Perspektive unserer damaligen kulturellen Bildung heraus vorgestellt und daraus eine eigene Arbeit gemacht. Die Arbeit von anderen Kunstschaffenden an einem Ort vorzustellen, zu dem keine unmittelbaren inhaltlichen Bezüge bestehen, verstehen wir bereits als ein Statement. ERFAHRUNGsPRODUKTion war für uns eine Art eigenes, ›imaginären Museum‹, eine Sammlung vom Wissen der für uns wichtigen Künstler, deren ›Exponate‹ wir nach einer präzisen einheitlichen Methode präsentierten. Außerdem stellte diese Arbeit für uns einen Anlass dar, uns (erneut) mit jedem der ausgestellten Künstler genauer zu beschäftigen und zu entscheiden, was für uns das wichtigste an seinem Werk ist, worauf wir dieses befragen wollen, oder besser: Welchen Aspekt wir jeweils betonen und vermitteln wollten. Sich diesen Ablauf unserer geistigen ›Erfahrungsproduktion‹ bewusst zu machen, war die zentrale Intention. AS: Das war der Impuls: Wir haben Dinge in den Werkshallen gesehen und sie sofort assoziativ mit bestimmten Namen, Werken oder künstlerischen Verfahren in Verbindung gebracht. Mit dieser Hypothese im Hinterkopf haben wir für ERFAHRUNGsPRODUKTion die AEG-Hallen erkundet, indem wir alle Gänge und Treppenhäuser abgelaufen sind, um uns ein Bild zu machen. Bisweilen entdeckten wir tages- und jahreszeitenabhängige Projektionen. Die Arbeiten erstreckten sich über die Monate Oktober, November, Dezember – da variierte die Lichteinstrahlung immer wieder. Es liefen auch im Gebäude Prozesse auf unterschiedlichen Ebenen ab. Besonders an den permanent gemachten dokumentierenden Fotos wird ersichtlich, dass sich unabhängig von den parallel stattfindenden Abbrucharbeiten auch die Sichtweisen auf bestimmte Räume änderten. Wir gingen einen Schritt über das hinaus, was wir durch unsere kulturelle und künstlerische Bildung mitgebracht hatten. Es ging nicht darum, das eigene Werk in den Vordergrund zu rücken, sondern für uns wichtige künstlerische Arbeiten weiterzuentwickeln. In meinem Fall repräsentierte Frank Stella ein für mich inspirierendes Werk, von dessen Qualität ich überzeugt war. Der Aspekt der Produktion in seinem Werk – also in welcher Weise er seine Serien konsequent konzipiert und durchgeführt hat – war für mich prägend. Entscheidend war aber auch die sich daraus ergebende Dynamik bei der Entwicklung unserer Arbeit vor Ort, als unsere unterschiedlichen Erfahrungen zusammenkamen.
1
Der Katalogtext zitiert Duchamps Essay »Der kreative Akt« nach Duchamp 2002: 43.
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Könnten Sie knapp erläutern, ob – und wenn ja, in welcher Weise – Ihre Arbeit institutionell oder durch Kooperation mit anderen Künstlerinnen oder Künstlern vor Ort eingebettet war? KP: Zeitgleich, also schon am Anfang, gründete sich der Verein zentrifuge, der bei uns angefragt hatte. Ich erinnere mich, dass wir dort unsere Fotos gezeigt und auch unsere Vorstellungen vom Ablauf präsentiert haben. In diesem Kontext waren die Fotos sehr wichtig und die Idee, dass wir Fotos machen und Führungen anbieten wollen. Es waren bei den Treffen auch noch andere Künstler dabei, uns wurde aber sehr schnell klar, dass dies keine partizipative Arbeit mit anderen Künstlern werden würde, weil die Idee für uns schon ausgereift war. Rückblickend erscheint es so, als hätte Ihre Arbeit auch keinen Verzug geduldet. Der Umbau wurde offenbar schnell vorangetrieben. Dass die Abbrucharbeiten selbst Ihre Ausstellung prägen, lässt sich beispielsweise anhand der Bilder »bezüglich Olafur Eliasson«, von denen eines auf dem Cover des vorliegenden Bandes zu sehen ist, nachvollziehen. AS: Ja, dieses Bild war plötzlich da, als das Licht zu einem bestimmten Zeitpunkt genau in der festgehaltenen Weise schräg einfiel. Und dieses Sich-ansThema-Herantasten hieß zugleich, den im Umbruch stehenden Raum der Werkshalle zu erleben. KP: Rückblickend erscheint mir der Freiraum, den uns diese Arbeit in den AEGHallen bot, wie ein enormes Angebot an unsere Phantasie. In unserem Vorgehen haben wir sehr nach dem Lustprinzip entschieden und so ausgewählt, wie es uns beim Betreten der Hallen ins Auge gesprungen ist. Das, was uns begeisterte und was wir daraus gemacht haben, hatte viel mit Spontaneität und Kreativität zu tun. Das spielerische Potenzial unserer Phantasie wurde für uns selbst überaus fühlbar und greifbar, insbesondere auch, weil sich die anderen Personen auf dem Werksgelände, nicht zuletzt die Beteiligten bei den Kunstführungen, darauf eingelassen haben. Sie haben gesagt, dass sich Ihre Idee Materie gesucht hat und sich die Imagination damit auf das vor Ort Gegebene stützen konnte. Um dieses Immaterielle sichtbar zu machen, haben Sie sich für Kunstführungen entschieden, aber auch für den Einsatz von Medien, durch die sich diese Vorstellungen auf einer anderen Ebene manifestieren. Dabei sind Sie zweigleisig verfahren und haben foto-
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grafiert und Videofilme erstellt. Aus welchem Grund haben Sie genau zu diesen beiden Ausdrucksformen gegriffen? AS: Es war jedoch nicht von Anfang an klar, dass wir uns für Film und Foto entscheiden würden. Zunächst war das zu dokumentierende Raumerleben maßgeblich. Es war uns wichtig, dass wir dort Führungen anbieten und die Räumlichkeiten Besuchern in der Art eines ›Museums‹ nahebringen wollten. Die dokumentierenden Fotos haben es uns erlaubt, am Laptop die Qualität des Gesehenen, die Eignung für unser Konzept, zu überprüfen. Wir gewannen dadurch die notwendige Zeit, auszuwählen, und den manchmal notwendigen Abstand, um darin etwas zuvor nicht Gesehenes zu entdecken. KP: Der Name ERFAHRUNGsPRODUKTion beinhaltet somit, dass wir Fotos, Filme, Führungen und auch einen Katalog gemacht haben. Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass auch die räumliche, kontextferne Situation als Zitat aufgefasst werden kann, der ein bestimmter Aspekt gedanklicher, also immaterieller Natur inhärent ist. Indem wir das Ganze fotografiert haben, haben wir eine erste Transformation vollzogen. Vielleicht wird dies besonders gut beim Betrachten des Katalogs sichtbar. Ich selbst habe erst kürzlich im Austausch mit Künstlern in Indien festgestellt, wie stark diese Idee auch im internationalen Dialog wirkt, allein bei der gemeinsamen Durchsicht des Katalogs, obwohl dessen Text-Zitate überwiegend auf Deutsch sind. Die Verbindung der Bilder mit den Namen wirkt offenbar inspirierend. Ich habe den Künstlern nur berichtet, was wir gemacht haben. Und dieser Ablauf erschien ihnen unmittelbar einleuchtend, auch dass somit kein ›echter‹ Olafur Eliasson vor Ort gewesen ist, um die entsprechenden Bilder anzufertigen. Einen besonderen Reiz liefert das Spannungsfeld, das entsteht, weil Sie die riesigen Räumlichkeiten mitunter von erhöhtem Standpunkt aus oder in der Totalen zeigen, wie bei Olafur Elisson, wo ein Gefühl für den einstigen Industriestandort mit seinen Hallen entsteht, in denen sich ein Abbruchbagger plötzlich sehr klein ausnimmt. Dann wiederum lenken Sie den Blick auf Details, die sich kaum finden ließen, wenn die Hallen danach abgesucht würden. Vielleicht könnten Sie noch nachtragen, in welcher Weise Sie sich mit dem Ort des Werks auseinandergesetzt haben. AS: Am Anfang war eine 700 Quadratmeter große Halle. Wir wurden von Michael Schels, dem Koordinator der zentrifuge, gefragt, ob das als Grundlage für eine Ausstellung geeignet wäre. Nach längerem Überlegen erschien mir die Vor-
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stellung, in diesem industriellen Kontext etwas zu entwickeln, äußerst spannend. Der Gedanke, dort eine Ausstellung zu machen, kam uns im Zuge der Besichtigung des Geländes, von Halle zu Halle gehend, als alle Türen für uns offen standen. KP: Es war das erste Mal, dass uns ein Ort in dieser Weise angesprochen hat. Es war das erste Mal, dass wir nicht unsere gefertigten Arbeiten, unsere Kunst, irgendwo hineintransportierten. Dies ist meist der Fall, wenn Künstler an Orte eingeladen werden. Dieser Gestus kam uns, obwohl wir das länger diskutiert haben, plötzlich überflüssig vor. Wir hatten aber das Gefühl, dass solche Verfahren nicht darauf Bezug nehmen, was wir in diesem Raum schon als vorhanden gesehen hatten und worauf wir reagieren müssen, wenn wir adäquat ortsspezifisch arbeiten wollen. Wenn wir vor einer Wand standen, die über Jahrzehnte Regalstaub angereichert hatte und die wir als eine Wandzeichnung von Sol LeWitt interpretierten – ein solcher Jahre alter Staub lässt sich nicht einfach erzeugen –, mussten wir immer wieder entscheiden, welche Merkmale wir in diesem Falle thematisieren wollten, um ein bestimmtes Werk eines Künstlers als räumliches Zitat ausweisen zu können. Es ging uns immer darum, eine ganz spezifische Qualität, die wir darin sahen, sichtbar zu machen. Der Prozess des Herausschälens solcher Spuren war für uns sehr präsent und lebendig: nicht selbst einzugreifen, sondern genau auszuwählen. War Ihnen zuvor bewusst, dass Sie auf Künstler überwiegend des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts eingehen würden, oder stellte sich dies mit der ersten Begehung ein? KP: Nein, klar war das nicht von Anfang an. Cy Twombly war sicher ein Anfang. Ich möchte aber betonen, dass wir eine eigene Arbeit gemacht haben mit ERFAHRUNGsPRODUKTion, also nicht nur die Arbeit anderer Künstler sichtbar machten. Doch sicher spielt bei der Auswahl der Künstlerinnen und Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts eine Rolle, dass dies die Generation ist, aus der wir beide ›entwachsen‹ sind. Und in diesem Sinne haben wir etwas – unsere Erfahrungen – verarbeitet. Können Sie eine kurze Erläuterung geben, zu dieser kuratorischen Tätigkeit, die sich vom herkömmlichen Konzipieren einer Ausstellung auch darin unterscheidet, dass bereits bei der künstlerischen Arbeit des Auswählens und Entde-
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ckens sowie des Fotografierens und Filmens die spätere Ausstellungsrealisierung in der Vorstellung präsent ist? AS: Es war uns sehr wichtig, die Freiheit zu haben, auszuwählen oder etwas zu brechen, also etwas auch bipolar zu sehen. Zu dieser unglaublichen Fläche, die wir schließlich bespielen konnten, kam als maßgeblicher Punkt diese Art des Freiraums hinzu. Ein für uns wichtiger Aspekt war, dass wir unbedingt auch Künstlerinnen zeigen wollten, ebenso internationale Künstler. Caspar David Friedrich erschien uns als eine interessante historische Ergänzung, aber wir haben nicht danach gesucht. Rückblickend erscheint uns die Fotografie in Verbindung mit dem dazugehörigen Zitat für die Gegenwart ebenso wie die Abbrucharbeiten passend: »Schließe dein leibliches Auge damit du / mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein / Bild. Dann fördere zu Tage was du im / dunklen gesehen, daß es zurück wirke / auf andern von außen nach Innen.«2 KP: Im Unterschied zu Kuratoren, die ihr Thema klar eingrenzen, haben wir uns solche Beschränkungen nicht auferlegt. Wenn sich uns ein Velasquez oder Monet gezeigt hätte, hätten wir diese auch gezeigt. Dies sei erwähnt, um einen maßgeblichen Unterschied zu konventionellen Ausstellungen zu verdeutlichen. Wir haben auf diese Weise, wie das Nürnberger Neue Museum, überwiegend Highlevel-Art der Gegenwart ausgestellt, auch wenn es bedauerlicherweise zu keiner Zusammenarbeit mit dem Museum gekommen ist, das zeitgleich eine passende Ausstellung zeigte. Der Impetus ist unterschiedlich, wenn Künstler eine solche Auswahl treffen oder Personen aus der institutionalisierten Kunstszene. Wir sind nicht damit einverstanden, wenn Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts nur durch männliche Künstler repräsentiert wird. In der damals parallel gezeigten Ausstellung des neuen Museums war dies der Fall. Wir wollten hier unsere weiblichen Favoriten in Position bringen – es hätten noch mehr sein können. Aber solche Frauen wie Eva Hesse und Charlotte Posenenske waren für uns richtungsweisend. Ihnen fühlen wir uns heute noch verbunden. Sie waren in der zeitgenössischen Kunst Pionierkünstlerinnen í Charlotte Posenenske auf Grund der Komplexität ihres Werkes sicher noch stärker. In welcher Weise hat Sie die vorausgegangene Schließung des AEG-Werks beschäftigt? Sie situieren Ihre Kunst ja dezidiert »im Zwischenraum industrieller Produktion«. Umbruchszeit, Raum für Kreativität – solche Begriffe und Slogans haben auch etwas Positives, darauf setzt zu einem gewissen Grad die Arbeit von
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Der Katalog zitiert Caspar David Friedrichs Reflexionen nach Friedrich 1999: 35.
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»zentrifuge«. Es wird suggeriert, dass zwar etwas zu Ende geht, dass aber ebenso Neues, Positives entsteht. Beschäftigte Sie die Bedeutung dieses Ortes und das Wissen darum, dass hier Menschen ihre Arbeit verloren haben? Ist davon etwas eingeflossen? AS: Mich haben die Zeitungsberichte über die Werksschließungen und die Bilder der brennenden Tonnen der streikenden Werksangehörigen sehr beschäftigt. Nachdem wir uns vorher aber auch mit dem Phänomen der Shrinking Cities beschäftigt hatten, erschien uns der Vorgang als ein entsprechend eingebundener Prozess, der im Zuge des Abbaus auch Neues mit sich bringt. Das große Versprechen aber, dass die, die arbeitslos wurden, gleich in andere Jobs kommen würden, hat sich nicht erfüllt. Erst kürzlich habe ich gelesen, dass 40 Prozent der Entlassenen keine neue Stelle bekommen haben. Die Tätigkeit der zentrifuge, die besonders auf Kreativität setzt, hat den Anspruch, dass jeder sich neu erfinden kann, doch sind diesem Anspruch in der Realität Grenzen gesetzt. KP: Für mich hat sich die Arbeit zunächst wie ein Luxus angefühlt. Diese Möglichkeit, aus der Depression, die den Ort erfüllt hat, heraustreten zu können. Politisch gesehen ist das, was dort passiert ist, ein Fiasko. Wir haben uns durchaus damit beschäftigt und im Vorfeld Filme dazu gesehen oder Theaterstücke, die sich mit dieser Thematik befasst haben. Ich würde es so beschreiben, dass diese Gegenwart in die Arbeit eingeflossen ist, aber nicht direkt sichtbar auf ERFAHRUNGsPRODUKTion eingewirkt hat. Dieser Aspekt erscheint mir rückblickend wichtig, dass wir anfänglich fast ein schlechtes Gewissen hatten, als Künstlerinnen dorthin zu kommen und solch eine luxuriöse Arbeit zu machen und uns zu erlauben, uns als Künstlerinnen den eigenen Freiraum zu definieren und zu behaupten. Ich hätte zum damaligen Zeitpunkt nichts entwickeln können, was mit den Mitteln der Kunstproduktion auf das gesellschaftliche Problem aufmerksam gemacht hätte. Aus der zeitlichen Distanz zeigt sich für mich, dass ERFAHRUNGsPRODUKTion in einem weiteren Sinn das geistige Wesen jeglicher Produktion rezipierbar macht und den Menschen generell in den Kontext des ›Menschen als Künstler‹ stellt. Das ist sehr politisch und eine mögliche Antwort auf das politische Dilemma fremdbestimmter abhängiger Arbeit. Aber gelangen Sie nicht indirekt, etwa bei den Fotos »bezüglich William Anastasi«, doch auch zu der Thematik des einstigen Industriestandortes? Würden Sie zustimmen, dass sie das Wissen darum, dass zuvor an der von Ihnen fotografierten Stelle eine schwere, sich bewegende Maschine gestanden hat, ihre innere Zuordnung und letztlich die Titelwahl beeinflusst? Wie kamen Sie an entspre-
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chende Informationen über konkrete industrielle Abläufe, die dort stattgefunden haben? Unter anderem haben Sie mit »Raumpflege | vor Halle 15« den anonymen Kehrer als einen Performer gezeigt. Waren außer denen, die dort mit dem Abreißen und Umgestalten beschäftigt waren, noch andere Arbeitende vor Ort? Haben Sie versucht, Spuren für sich zu rekonstruieren, oder hat jemand anders Ihnen davon erzählt – beispielsweise von der Arbeiterin, die Dichtungsringe eingeklebt und nebenbei fotografierte Pool-Landschaften zu »vision boards« montiert hat? Dieses kreative ›Nebenprodukt‹ der offiziellen Tätigkeit dieser Frau zeigt »bezüglich Roni Horn« oder präziser »Nr. 35 | Halle 20 | bezüglich Roni Horn«. AS: Es gab neben den leicht zu identifizierenden Spuren industrieller Produktion anfangs noch zwei Hausmeister. Diese beiden Hausmeister, Herr Kunz und Herr Dietrich, hatten im Werk bereits ihre Ausbildung absolviert und waren die Einzigen, die bis zum Schluss dort noch tätig waren. Sie kannten sich dementsprechend aus und teilten bereitwillig mit, was sich verändert hatte. Dazu gehörten Hinweise über Standorte von Maschinen sowie technische Hintergründe, aber ebenso Anekdotisches. Dadurch erfuhren wir, neugierig geworden angesichts der an der Wand befestigten Tafeln, auch über die Tätigkeit jener Frau, die dort Dichtungsringe in Waschmaschinen befestigt und mit den dünnen Klebebändern auf ihre ganz eigene Weise diese Wasserlandschaften montiert hatte. Drei solcher Tafeln hingen an ihrem Schreibtisch. KP: Diskursiv ist dies, wie bei anderen Arbeiten auch, allerdings nirgendwo eingeflossen – auch bei Cy Twombly haben wir nie explizit gesagt, dass dort einmal eine Maschine gestanden hat, die für uns das Bild hinterlassen hat. Das einzige Werk, bei dem diese Arbeit sichtbar eingeflossen ist, ist der Kehrer. Als eine Art »Superperformer« haben wir ihn dokumentiert. Er war zeitgleich weiterhin in seiner Funktion als Kehrer tätig, doch haben wir seine Arbeit entsprechend umgedeutet. Hat Sie der Umbruch in Gestalt des Abbruchs in Ihrer dokumentarischen und künstlerischen Tätigkeit auch unmittelbar betroffen? KP: Das später »bezüglich Ilja Kabakow« genannte Foto hatten wir eher zufällig bei der ersten Begehung gemacht, als wir, mit einer Kamera ausgestattet, erste dokumentarische Aufnahmen machten. Deswegen ist diese Aufnahme nur von mäßiger Qualität. Als wir aber im Verlauf des Projektes dieses dann noch ›rich-
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tig‹ festhalten wollten, war der zuvor für uns präsente Kabakow verschwunden. Dies erschien uns auch deshalb sprechend, weil Kabakow selbst in seinen Installationen die Bedeutung des Moments so stark betont. Tatsächlich haben wir aber stets eine gewisse Ratlosigkeit empfunden, wenn wir erfahren mussten, wie ›unsere‹ Kunstwerke zerstört wurden. Da gab es auch Momente, in denen wir uns fragten, wie damit umzugehen sei. Von daher war es ein Glück, dass wir diese mediale Zugangsweise gefunden hatten: Durch die Filme konnten wir die Vorgänge vor Ort so auffassen, dass sie künstlerisch materialisiert wurden. Ähnlich war es auch mit dem ›Fund‹ Frank Stellas: Der Greifarm im Film agiert wie auf einer Leinwand und verändert damit das Bild immer wieder – eine ganz besondere Form der ›Erfahrungsproduktion‹. Es war für uns ein Lernprozess, dass sich an diesem Ort, wo sich Gordon Matta Clark und Sol LeWitt begegnen, alles überlagert. Es klingt vielleicht überspannt, dass wir das Aufspüren und Ausstellen dieser künstlerischen Welten so ernst nahmen, aber darüber hinaus, dass wir dort auch unseren Spaß gehabt hatten, erfuhren wir, während wir die Umbauten durch die Baumaßnahmen erlebten, diesen Zwischenraum neu als einen Raum der positiven und produktiven Veränderung. Auch inspirierende, phantasiereiche künstlerische Arbeit hat, wenn sie ProjektArbeit ist, eine unternehmerische Komponente. Viele Künstlerinnen und Künstler formulieren dies so, dass diese Art des Unternehmertums sie Zwängen unterwirft und sie schwerwiegende Erfahrungen der Entgrenzung machen, die ja auch in anderen Bereichen der zeitgenössischen Arbeitswelten feststellbar sind. Sie sollen rund um die Uhr tätig zu sein, was dazu führt, beim Arbeiten immer schon die nächsten und übernächsten Projekte ersinnen und beantragen zu müssen. KP: Ich vertrete den Anspruch, dass Kunst aus diesen Leistungszusammenhängen heraustreten muss, dass sie nicht funktionieren darf wie eine Fabrik. Diese Kritik betrifft letztlich auch Arbeiten von Olafur Eliasson oder Katharina Grosse, die wir ebenfalls zitieren. Das sind mittlerweile ›Fabriken‹ mit mehreren Angestellten. Wir haben das mit ERFAHRUNGsPRODUKTion nicht direkt kritisiert, sondern indirekt darüber, dass wir nicht im institutionalisierten Kunstkontext ausgestellt und dass wir außerdem mit unglaublich geringen finanziellen Mitteln gearbeitet haben: Dennoch ist es uns gelungen, diese Produktion, die einer fabrikmäßigen Herstellung diametral entgegensteht, für uns und die Betrachtenden überzeugend hervorzubringen. Was an Geld geflossen ist, ist vernachlässigbar. Damit will ich nicht sagen, dass man immer Low-Budget-Produktionen machen muss, aber wir haben be-
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wusst keine ERFAHRUNGsPRODUKTions-Fabrik daraus gemacht und haben die künstlerische Produktion nicht kommerzialisiert. Wesentlich war, und das merken wir gegenwärtig bei der Arbeit mit Charlotte Posenenske im Rahmen der aktuellen Arbeit Werkshandlungen, der direkte Gang in kunstferne Kontexte. Wir haben Kunst im öffentlichen Raum studiert, und so ist es unser Ziel, diesen Raum zu eröffnen, den öffentlichen Raum, und halböffentliche Räume über die Kunst zu finden. Die Bezugnahme auf Charlotte Posenenske verbindet »ERFAHRUNGsPRODUKTion« mit den »Werkshandlungen«, Ihrer Arbeit mit jungen Männern in der Justizvollzugsanstalt Ebrach. Bekannt ist Posenenskes Erklärung vom 11.02.1968: »Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden, dass Kunst nicht zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme beitragen kann.« Sie wechselte konsequent von der Bildenden Kunst zur Arbeitssoziologie. Ich habe Ihr Foto »Nr. 41 | Halle 22 | bezüglich Charlotte Posenenske«, das Vierkant-Stahlkörper zeigt, die zusammengestaucht am Boden aufgetürmt sind, wie einen Kommentar dazu empfunden. Können Sie dem Gedanken zustimmen, dass Ihre jetzige Arbeit Charlotte Posenenskes Statement zwar nicht unbedingt widerlegt, dass Sie aber etwas fortführen, was vorsätzlich abgebrochen wurde, indem Sie auf die Veränderbarkeit der Gesellschaft durch Kunst setzen? KP: Wir können derzeit noch nicht sagen, wie erfolgreich in diesem Sinne die Werkshandlungen sind. Natürlich arbeiten wir daran, herauszufinden, wie weit das integrative Potenzial Charlotte Posenenskes trägt, da sie mit ihren Skulpturen auch Angebote an die Rezipierenden gemacht hat – ein Potenzial, von dem wir jetzt merken, dass es sich einlöst. Aber ich persönlich glaube, dass der Zeitfaktor damals wie heute maßgeblich ist. Charlotte Posenenske war in ihrer Zeit zu Recht davon überzeugt und hat es sehr schlüssig dargestellt, dass Kunst und Politik nicht zusammengehen können. Wir folgen in der Gegenwart unserem Beuys-Gedanken: Tragt nicht die Kunst hinein in die Politik, sondern macht die Politik zur Kunst! Darin unterscheidet sich unser Ansatz von dem Charlotte Posenenskes. Es ist aber so, dass in den 40 Jahren seither so viele neue Erfahrungen im Feld der sozialen Plastik gemacht wurden, dass sich nicht sagen lässt, wie Charlotte Posenenske heute darauf reagieren würde. AS: Es ist instruktiv zu reflektieren, dass mit der jetzigen Arbeit der Werkshandlung im Unterschied zu den kaputten Rohren, die wir damals bei ERFAHRUNGsPRODUKTion vorfanden, nun in Ebrach auf der Grundlage der früheren Prototypen Posenenskes neue Rohre entstehen. Es ist kein Zufall, dass es ausgerechnet
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mit Charlotte Posenenske weitergeht, weil es für uns von Beginn an spannend war zu sehen, wie sie ihr künstlerisches Dasein kreierte, ausgehend von ihrem Beginn im Bereich der Malerei. Heute sind Tapes, auf die wir bei Foto Nr. 30 verweisen, durch die Kunst-Praxis des ›Tapens‹, aktueller denn je. Das Foto mit den Industrierohren entstand auf Grund des Schocks angesichts dessen, dass sie alles zerstört hatten. Wir fragten uns: Kann man genau damit nicht weiterarbeiten? Auf der documenta 12 hatte Kerstin bereits die Flügeltüren Posenenskes gesehen. Diese Arbeiten richteten sich an das übliche Ausstellungspublikum. Wir wünschen uns, dass solche freie künstlerische Kreativität mehr in den Alltag fließt und auch die betrifft, die sonst davon ausgeschlossen wären. Wenn Sie vorhin die bei der Arbeit empfundene Freude betonten und nun aber diesen gesellschaftlichen Aspekt betonen: Würden Sie in diesem Sinne Ihre Arbeit vom sogenannten »postmodernen Spiel« abgesetzt wissen? KP: Ja, denn unsere Position ist grundsätzlich eine Kritik an dem üblicherweise anzutreffenden künstlerischen Kontext, auch wenn wir natürlich in eine Galerie gehen würden, wenn uns jemand dazu einlädt, weil wir damit auch Geld verdienen würden. Posenenske war in diesem Punkt anders: Sie sagte, mit ihrer Kunst, die an die billige Produktion gebunden war, solle man kein Geld machen können. Seit zwischenbericht existiert, arbeiten wir in öffentlichen Räumen. Unser Ansatz im Hinblick auf Museumskunst war nicht Kritik, im Gegenteil, wir wollten zu den zeitgleichen Präsentationen Berührungspunkte suchen. An KunstInstitutionen hat uns die mangelnde Offenheit schon immer gestört, da es bei deren Dreijahres-Plänen nicht mehr möglich ist, auf solche Impulse kurzfristig zu reagieren. Es hätte ja eine Diskussion darüber geben können, worin der Unterschied zwischen einer Roni Horn oder einem Otto Piene und unseren »bezüglich …« liegt. Es ist sehr fragwürdig – und das gilt auch für andere Institutionen – dass kein Austausch in dieser Weise möglich ist. Was bleibt von »ERFAHRUNGsPRODUKTion«, wenn die Bilder sorgfältig verstaut in Kisten liegen? Was kommt nach? KP: Anders als bei ERFAHRUNGsPRODUKTion sind wir jetzt an einen anderen Punkt angelangt. Die oben erwähnten, damals schon gesuchten Dialoge und Begegnungen sind uns immer wichtiger geworden. Wir sind dabei, Partizipation noch weiter zu entwickeln. Das bedeutet, Leute nicht für uns zu benutzen: Auch wenn wir viele Projekte haben, wollen wir sie nicht für unsere Absichten instru-
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mentalisieren. Es ist uns wichtig, dass die Teilnahme im Sinne von Anteilnahme und einem ganz aktiven Anteil-Nehmen geschieht. Das wollen wir initiieren. Wir halten es jedoch durchaus für möglich, dass wir irgendwann eine ganz andere ERFAHRUNGsPRODUKTion machen werden. Es wäre spannend, dieses Projekt in seiner Dynamik in völlig anderen Räumen, an anderem Ort weiterzuentwickeln.
Das Gespräch führte Susanna Brogi
L ITERATUR Duchamp, Marcel (2002): »Der kreative Akt«, in: Museum Jean Tinguely Basel (Hg.), Marcel Duchamp. Katalog anlässlich der Ausstellung vom 20.03.– 30.06.2002, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, S. 43. Friedrich, Caspar David (1999): Kritische Edition der Schriften des Künstlers und seiner Zeitzeugen. Teil I: ›Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden von größtentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern.‹ Bearb. v. Gerhard Eimer in Verb. mit Günther Rath, Frankfurt a.M.: Kunstgeschichtliches Institut der Johann Wolfgang Goethe-Universität. Zwischenbericht – Kerstin Polzin und Anja Schoeller (2008): ERFAHRUNGsPRODUKTion. Zeitgenössische Kunst im Zwischenraum industrieller Produktion. Hg. v. Zentrifuge. Verein für Kommunikation, Kunst und Kultur e.V. Katalog anlässlich der Ausstellung vom 16.01. bis 28.02.2009, Nürnberg.
Museale Repräsentationen Die Direktorin des Museums der Arbeit Prof. Dr. Kirsten Baumann und ihr Stellvertreter Stefan Rahner im Gespräch
Das Museum der Arbeit entstand 1990 mit dem Hauptziel, Zeugnisse einer womöglich im Schwinden befindlichen Industriekultur zu bewahren. Daher widmet sich das Museum insbesondere der Hamburger Industrie-, Technik- und Sozialgeschichte. Doch in diesem Interview soll nicht nur die Dokumentation und Repräsentation von »Arbeit« thematisiert, sondern auch der Frage nachgegangen werden, wie sich die wandelnden Arbeitskulturen auf die museale Repräsentation auswirken. Für das Interview standen dankenswerterweise die Museumsdirektorin Prof. Dr. Kirsten Baumann (KB) sowie der stellvertretende Direktor und langjährige wissenschaftliche Mitarbeiter Stefan Rahner (SR) zur Verfügung. Der breite Diskurs über die Frage, was unter »Arbeit« in Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen ist, bietet genügend Raum für die eigene inhaltliche Schwerpunktsetzung. Welche Verständnisse von »Arbeit« werden in Ihrem Museum (re-)präsentiert? KB: Eine Besonderheit liegt schon in der Gründungsgeschichte dieses Hauses: ein Museum, das – getragen von einem ungemein aktiven Freundeskreis – ins Leben gerufen wurde, um ausdrücklich einen Kontrapunkt gegen die Erzählung der Geschichte des Hamburger Bürgertums zu setzen. Es ist eine Ausgründung des Museums für Hamburgische Geschichte, das lange Jahre den Schwerpunkt auf Hamburg als bürgerliche Stadtrepublik und erfolgreiche Hanse- und Handelsstadt gesetzt hatte. Während der späten 1970er Jahre, mit der »Grabe, wo Du stehst«-Bewegung und der aufkommenden Erforschung der Alltagsgeschichte der ›Kleinen Leute‹, rückte auch die Geschichte der Arbeiter, der Arbeit selbst
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und der Industrialisierung in den Fokus. Eigentlich sollte das Haus ein »Arbeitermuseum« werden. Als »Museum der Arbeit« jedoch können das viel umfassendere Thema Arbeit beziehungsweise die Veränderung von Produktionsprozessen während der Industrialisierung in den Blick genommen werden. Zudem lässt es auch Spielraum, um an aktuelle Fragestellungen wie zum Beispiel Kinderarbeit in den Entwicklungsländern, Wanderarbeit in Europa und weltweit, Chancenungleichheit von Frauen und Männern auf dem deutschen Arbeitsmarkt etc. anzuknüpfen und das Museum über unterschiedliche Formate in die Gegenwart zu führen. Wenn die »Geschichte der Arbeit« thematisiert wird, denken viele Menschen ebenfalls zuerst an die Phase der Industrialisierung mit ihren Dampfmaschinen, Fließbändern und Stahlwerken sowie an die damit eng verbundene Kultur der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. Inwiefern folgt das Museum diesem, insbesondere für die Gründungsphase prägenden, Verständnis von Arbeit, und wo gehen die Dauer- und Sonderausstellungen über diese Dimensionen des Arbeitsbegriffes hinaus? SR: Das Museum befindet sich auf dem ehemaligen Standort der New YorkHamburger Gummi-Waaren-Compagnie von 1871, wobei sich die Dauerausstellung in der sogenannten »Neuen Fabrik« von 1908 befindet. Die Struktur des Gesamtgeländes ist beispielhaft für damalige Unternehmen dieser Größenordnung, und es gehört zu den ältesten erhaltenen Fabrik-Ensembles Hamburgs. Damit sind die Räumlichkeiten der Ausstellung zugleich das präsenteste Ausstellungsstück! Der Ort gibt teilweise den Themenrahmen der Dauerausstellung vor: etwa die Fabrikordnung, Disziplinierung der Arbeiter, das Schichtsystem oder die Energieerzeugung mittels Dampfmaschine und die Kraftübertragung durch Transmission, die sich deutlich sichtbar durch das historische Gebäude ›hindurchzieht‹. All dies sind Ausgangspunkte der Inszenierung von Arbeit, insbesondere für die Dauerausstellung. Dieser liegt ein perspektivenreicher Arbeitsbegriff zugrunde, der mit der Phase der Industrialisierung einsetzt und damit einen Zeitraum von knapp 200 Jahren umspannt. Während das ehemalige Fabrikensemble in Barmbek die Fabrikarbeit der Hochindustrialisierung vorgibt, werden die Arbeitsbereiche des Hafens, vom Schiffbau über die Revierschifffahrt bis hin zu Umschlagsarbeiten, in den Außenstellen des Museums ebenfalls an ›Originalschauplätzen‹ präsentiert. Doch gehen die, insbesondere am Hauptstandort, repräsentierten Arbeitsbegriffe deutlich über die industrielle Lohnarbeit hinaus. Das Museum richtet seinen Blick auch auf die Formen unbezahlter Ar-
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beit (Hausarbeit und Kindererziehung) oder das Handwerk und den Dienstleistungssektor. KB: Es gibt auf Grund der Gründungsgeschichte einige deutliche Schwerpunkte, zum Beispiel das graphische Gewerbe. Durch das Druckereien-Sterben Ende der 1980er Jahre ergab sich die Möglichkeit, im Museum eine große und sehr aktive Ausstellung zum maschinellen und manuellen Buchdruck sowie zum Hand- und Maschinensatz einzurichten. Auch eine Steindruckerei gehört dazu, ebenso eine Buchbinderwerkstatt. Diese Abteilung ist die lebendigste im Museum, da es hier zahlreiche ehrenamtliche Kolleginnen und Kollegen gibt, die aus ihrer aktiven Berufstätigkeit Kenntnisse mitbringen und diese gerne an Besucher, aber auch an jüngere Kolleginnen und Kollegen, weitergeben. SR: Der Blickwinkel auf Arbeit orientiert sich an dem jeweiligen Objekt oder der jeweiligen Branche und deren Eignung, für einen spezifischen Teilaspekt der Arbeit zu stehen. Die Exponate zum graphischen Gewerbe veranschaulichen die technische Entwicklung, wie den Übergang von handwerklichem Wissen in die industrielle Produktion genauso wie die Rückwirkung dieser Entwicklung auf die Tätigkeiten und Selbstbilder der Beschäftigten. Auch wegfallende Berufsbilder werden hier thematisiert. Für das graphische Gewerbe bietet das Museum der Arbeit eine nahezu geschlossene Überlieferung der technologischen Entwicklung des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Der technologische Fortschritt kann hier bis in seine Verästelungen nachvollzogen werden. Dennoch steht nicht die Technik, sondern ihre Auswirkung auf die Arbeitsverhältnisse und -bedingungen im Vordergrund. Hier scheinen nun schon einige Teilbereiche der Arbeitswelt auf, die im Museum der Arbeit thematisiert werden. Doch ganz allgemein gefragt: Wie wird die Lohnarbeit hier charakterisiert? SR: Es werden sehr unterschiedliche Perspektiven eingenommen: In der Ausstellungseinheit »Fundsache Arbeitsort« werden beispielsweise einzelne Arbeitsschritte der Metallbearbeitung präsentiert, aber auch die geschlechtsspezifische Hierarchie der Arbeitsorganisation. Besonders anschaulich ist die Überführung der handwerklichen Tätigkeit des Goldschmieds in die kleinindustrielle Produktion und die damit verbundene geschlechtstypische Arbeitsteilung. Ein anderer Abschnitt der Dauerausstellung, »Arbeit im Kontor«, zeigt das Angestelltenwesen und die für die Handelsmetropole Hamburg besonders wichtige Entwicklung der Büroarbeit. Denn während die Schwerindustrie des Ruhrgebiets in der In-
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dustrialisierung unter Büroarbeit insbesondere Ingenieurstätigkeiten und -wissen versteht, stand in der Hansestadt der Handel im Vordergrund. Neben den in Hamburg gehandelten Produkten können die damit verbundenen Branchen veranschaulicht werden. Dem Handel mit Kautschuk, Kaffee, Tabak etc. folgte die für Hamburg typische Entstehung verarbeitender Industrien: die Gummiindustrie, die Kaffeeröstereien, die Zigarettenproduktion. Vor dieser Folie lässt sich erläutern, dass das heutzutage unter »Globalisierung« gefasste Phänomen über die Verdichtung und Beschleunigung derartiger Handelsströme weit hinausreicht. Es vollzieht sich ein Qualitätssprung, bedingt durch die wesentlich engere Vernetzung, der über die verschiedenen Industrien, Länder und Kommunikationsmöglichkeiten hinausreicht. Die museale Aufbereitung muss berücksichtigen, dass die Arbeit selbst auf Wanderschaft geht: Die Produktionsorte sind getrennt von den Vertriebs-, Entwicklungs- und Verwaltungsorten. Firmen, die ihren Sitz in Europa oder den USA haben, lassen in China produzieren, haben ihre Absatzmärkte jedoch nicht dort. Diese Entwicklung darzustellen, ist eine der zentralen aktuellen Herausforderungen für das Museum der Arbeit; es sind also verschiedene Blicke, denen der Arbeitsbegriff unterzogen wird. KB: Unsere größte Abteilung widmet sich insbesondere den für Hamburg typischen Industrien und hat sich inzwischen zu einer eigenen Außenstelle mit eigener Leitung entwickelt: Das Hafenmuseum Hamburg im Hansahafen zeigt die maritime Abteilung des Museums der Arbeit. Das Schaudepot mit 2.500 qm Größe widmet sich den Fragen des Stückgutumschlags, des Schiffbaus und der Revierschifffahrt. Maßgeblich getragen wird das Hafenmuseum von Ehrenamtlichen und sogenannten »Hafensenioren«, die sehr lebendig und beredt über ihre Berufserfahrungen berichten können. Im letzten Jahr (2012) haben wir zudem mit »ABC der Arbeit. Leben, Vielfalt, Innovation« in Barmbek erstmals ein Geschoss der Einführung in das Thema Arbeit gewidmet. Wichtige Aspekte hierbei sind die Darstellung technischer (Europalette), sozialer (Streik) und medizinischer (Unfallverhütung) Innovationen. Vor allem in dieser Abteilung bemühen wir uns, die Vielfalt der Berufe vorzustellen. Dies geschieht einerseits ganz sinnfällig über eine große Bandbreite an Berufskleidung, vom Handwerker bis zur Pflegerin, von der Tchibo-Uniform bis zum Talar. Sehr persönlich sind ergänzend dazu die Lebens- und Arbeitsbiographien, die man an Hörstationen verfolgen kann und die ebenfalls einen weiten Bogen spannen. Sie können dem Arbeiter, der einst aus Portugal als sogenannter »Gastarbeiter« nach Deutschland kam, zuhören, oder auch der Friseurin, die einen eigenen Salon betrieben hat. Dazu sieht man signifikante Objekte aus unserer Sammlung.
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Man kann allerdings mit dem Format Ausstellung der Frage nach dem Verständnis von Arbeit nicht vollständig gerecht werden, dazu braucht es – um auf die schnellen Veränderungen zu reagieren – zusätzliche Vortrags- und andere Veranstaltungen. Durch die enge Zusammenarbeit mit zahlreichen Ehrenamtlichen sowie den Elbe-Werkstätten, also behinderten Kolleginnen und Kollegen, werden weitere Aspekte von Arbeit beim Gang durch das Museum ganz praktisch deutlich. SR: Das Museum bietet einerseits Hamburg-spezifische Erscheinungen und Entwicklungen, bettet diese jedoch auch in die großen Entwicklungslinien der Industrialisierung, Technisierung und Tertiärisierung ein. Weitere Aspekte bei der Darstellung von Arbeit sind Arbeitsbelastungen und Unfallgefahren, der Stolz auf die eigene Arbeitsleistung und das eigene Arbeitswissen, Rationalisierung, Automatisierung und Arbeitsteilung. Dementsprechend werden zum Beispiel die Wechselwirkungen von Arbeit mit Migration und Globalisierung behandelt. Hier gibt es aber noch einige Leerstellen, die mit der Weiter- und Neukonzeption der Dauerausstellung gefüllt werden sollen. Wie greift das Museum Querschnittthemen der sozialen Hierarchien und Geschlechter-Disparitäten in seinen Präsentationen des Arbeitsbegriffes auf? SR: Etwa indem nachgezeichnet wird, welche Randbedingungen die Industrialisierung in Hamburg begleitet haben, in welchen Stationen sie verlaufen ist und wie die Entwicklung der Arbeit und der Arbeitsverhältnisse das Leben und den Alltag der Menschen geprägt haben. Weder eine reine Technikgeschichte noch die Entwicklung einzelner Branchen steht im Zentrum, sondern die Frage nach den Auswirkungen auf den einzelnen Menschen außer- und innerhalb des Arbeitsortes. Dabei gehört ein Zugriff über die Geschlechterverhältnisse, genauso wie soziale Hierarchien, zu den Querschnittfragen der Dauer- und Sonderausstellungen. Ein Beispiel: Die Metallwarenfabrik Carl Wild produzierte Anstecknadeln, deren im Museum ausgestellte Motive als Statussymbole bestimmter Berufsgruppen und der Sichtbarmachung der Hierarchien in der Arbeitswelt dienten. Neben der arbeitsplatzbezogenen Distinktion gibt das Medium ›Anstecknadel‹ Hamburger Arbeitsspezifika wieder (Reedereiabzeichen, das Wirken lokaler Gewerkschaften). Während das »ABC der Arbeit«, eine Abteilung der Dauerausstellung, den arbeitenden Einzelmenschen zum Thema hat, richtet die Darstellung der einzelnen Beschäftigten bei der Firma Wild den Blick auf das Verallgemeinerbare. Um die Funktionsweise der Fabrik darzustellen, werden biographische Elemente durch übergeordnete Zugriffe strukturiert. Einzelne Ar-
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beitsplätze und die Arbeitsverteilung werden präsentiert, um unter anderem die Geschlechterverhältnisse erkennbar zu machen. So bestimmte etwa der männliche, ausgebildete Graveur den Arbeitsablauf, in dem die (sich in der Mehrzahl befindlichen) weiblichen, angelernten Arbeitskräfte die Aufträge des Graveurs, wie Galvanisieren und Polieren, abarbeiten mussten. Der Einsatz unterschiedlichster (alter und neuer) Medien ist mittlerweile zur Normalität musealer Vermittlung geworden. Wie sehen die ›Arbeits-gerechten‹ Vermittlungstechniken dieses Museums aus? SR: An erster Stelle musealer Vermittlung steht bei uns das originale Objekt mit seiner Entstehungs- und Gebrauchsgeschichte. An vielen Stellen der Ausstellung führen wir deshalb Maschinen vor, um Funktionsweise, aber auch Arbeitswissen und -erfahrung zu vergegenwärtigen: Wie arbeitet jemand an einer Kopierfräse, wie wurden Medaillen hergestellt, wie wurde eine Seifenpresse bedient oder eine Schleudergussmaschine? Mit dieser Form der Vermittlung haben wir sehr positive Erfahrungen gemacht, sie fokussiert die Darstellung von Arbeit aber auf anschauliche Vorgänge und kleine, handhabbare Maschinen. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Museums war und ist es, lebensbiographische Zeugnisse von Einzelpersonen zu sammeln, wie etwa Gesellen- und Meisterbriefe. Neben systematischen Fragestellungen nach der Veränderung der Arbeit insgesamt und dem Verlauf der Industrialisierung in Hamburg war es stets ein zentrales Anliegen zu klären, welche Arbeits- und Lebenserfahrungen die einzelnen Menschen machten und ob diese Erfahrungen individuell oder allgemein übertragbar sind. In Teilen der Dauerausstellung wird sehr konsequent von der einzelnen Person ausgegangen, um persönliche Erfahrungen zu vermitteln. Unter anderem können Interviewmitschnitte von Personen gehört werden, die sich zu Gegenständen äußern, die sie dem Museum überlassen haben. KB: Dieser biographische Zugriff auf die Arbeitswelt ist für das Museum der Arbeit ein sehr zentraler; die Interviews werden bei uns gleichsam als Sammlungsgut betrachtet. Kontextuierend ergänzen wir auf einer Zeitleiste die unterschiedlichen Erzählungen durch Hinweise auf zentrale politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Daten der letzten 200 Jahre. Gender- und Migrationsfragen laufen dabei als eine Art Generalbass kontinuierlich mit durch die ganze Ausstellung.
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SR: Ein weiterer Aspekt der Kontextualisierung der gezeigten Exponate und Themen ist die Einbeziehung der Sammlung, also ähnlicher Objekte aus anderen Zeitschichten oder Anwendungsbereichen. An verschiedenen Punkten soll es für Besucher die Möglichkeit geben, weitergehende Informationen aus unserer Datenbank abzurufen: Gegenstände, Fotografien, Karten, Firmengeschichten oder Biographien. Ferner soll eine ›Museums-App‹ den Blick aus der Ausstellung in die Stadt und umgekehrt erweitern. Zu großen Teilen ist das noch Zukunftsmusik, aber erste Anbindungen werden für das »ABC der Arbeit« gerade vorbereitet. KB: Eine Stärke des Museums liegt sicherlich in seiner direkten, persönlichen Vermittlung durch Zeitzeugen, Menschen, die aus ihrer eigenen Arbeitsbiographie berichten können. Weil diese Personen nicht immer vor Ort zur Verfügung stehen und viele Arbeitsprozesse gar nicht darstellbar sind, ist die Arbeit mit Hörstationen und Interviews sehr wichtig. Zeitzeugenprojekte werden uns auch in der Zukunft begleiten, gerade haben wir zwei unterschiedliche Herangehensweisen im Hafenmuseum erprobt. Gerade für Kinder und Jugendliche, aber auch für Erwachsene ist das Selbermachen die wichtigste Aneignungsform. Daher sind Angebote in der Metallwerkstatt (Prägen, Stanzen, Drahtstiftziehen etc.) Dauerbrenner, die gerade in Zeiten virtuellen Erlebens immer wichtiger werden. Besonders attraktiv sind und bleiben auch die Angebote im Graphischen Gewerbe, wo man selbst zum Beispiel Visitenkarten oder Briefpapier setzen und drucken kann. Es geht nichts über die eigene Anschauung und das eigene handwerkliche Erleben. Sie haben das Medium der Fotografie kurz erwähnt. Da sich dieses Medium in der Überlappungszone von Dokumentation und künstlerischer Produktion befindet, kann es für die (Re-)Präsentation von ›Arbeit‹ als besonders geeignet erscheinen. Wo sehen sie die Fotografie in der Darstellung von ›Arbeit‹ und wie lässt sich dies museal zugänglich machen? SR: Im Rahmen des Forschungs- und Ausstellungsprojektes »Industrie und Fotografie« haben wir Fotografien aus privaten Firmenarchiven von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart erforscht und zugänglich gemacht, die ein breites Spektrum der Hamburger Arbeitswelt zeigen. Dabei wird ein Wandel der Arbeit und Produktionsverfahren sichtbar, mehr aber noch, wie sich der Blick auf Arbeit und ihre bildliche Darstellung geändert hat. Ich will dies an einem Beispiel vom Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert ausführen: Größere Unternehmen, die die entsprechenden Mittel für eine gezielte Bildreklame aufbringen
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konnten, haben sich oft in Form eines Fotoalbums repräsentiert, das einen Gesamtüberblick über das Unternehmen und seine Aktivitäten versammelte, wie eine geschlossene Erzählung. Typischerweise begann die Dramaturgie mit der repräsentativen Ansicht des Werksgeländes, zeigte dann die verschiedenen Abteilungen und endete mit den Produkten. Oder das erste Bild zeigt den Unternehmer an seinem Schreibtisch und die Darstellung präsentierte dann die einzelnen Abteilungen (die Verwaltung, den Vertrieb usw.) bis in die Produktionsbereiche und endete mit der Werksansicht. Jedenfalls ging es um ein homogenes und wohl geordnetes Bild des Unternehmens als eine eigene Welt, in der alle Bereiche reibungslos funktionierten und jeder an seinem Platz war. Diese Erzähltypologie, die ihr Zentrum in dem patriarchalischen Unternehmer beziehungsweise dem ›Wohl der Firma‹ hatte, verliert sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Arbeit ist zu unanschaulich geworden oder so stark diversifiziert, dass sie nicht in einer einzigen Erzählung gemeistert werden kann. Von jetzt an wird eine reportageartige Gestaltung charakteristisch. Einzelne Bereiche oder Themen werden als Teil einer Serie dargeboten, aber der Gesamtüberblick ist verschwunden. Dieser dramaturgische Wechsel vollzog sich uneinheitlich. Hier spielte nicht nur der Wandel der Arbeit eine Rolle, sondern auch die Entwicklungen im Bereich der Fotografie und der illustrierten Medien. Nicht der Stil, sondern das zugrundeliegende Konzept hatte sich verändert. In der vorherigen Phase wurden die Gesamtbelegschaft, die Produkte oder einzelne Arbeitsvorgänge möglichst expressiv dargestellt, jedoch stets im Kontext des gesamten Unternehmens. An die Stelle der geschlossenen, vereinheitlichenden Gesamtdarstellung trat die thematische Perspektive. So rücken viele Fotoserien der 1950er Jahre die Fortschrittlichkeit und Wissenschaftlichkeit der Produktionsmethoden in den Vordergrund. Dagegen treten in den 1960er Jahren in nahezu jedem Unternehmen die Beschäftigten in den Mittelpunkt der fotografischen Darstellung. Die Broschüren und Bildserien werden mit häufig einfühlsamen Porträts der Mitarbeiter bei der Arbeit ausgestattet; der Blick auf die Arbeitsvorgänge selbst, auf die Abfolge und Logik der Produktion, die Organisation der Betriebsabläufe und die Präsentation der Produkte etc. tritt deutlich in den Hintergrund. Dies hängt sicherlich mit dem damaligen Mangel an Arbeitskräften zusammen. Der gestiegene Wert des einzelnen Beschäftigten korrespondiert mit der Aufmerksamkeit und Haltung gegenüber den Beschäftigten in den Reportagen. Bei dieser strukturellen Veränderung müssen allerdings branchenspezifische Unterschiede berücksichtigt werden: Unternehmen der Konsumgüterproduktion wiesen beispielsweise im Vergleich zur Halbprodukte produzierenden Schwerindustrie eine deutlich andere Form der Öffentlichkeitsarbeit auf.
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Insgesamt ist die fotografische Darstellung der Arbeitswelt mit der zunehmenden Automatisierung in den 1970er und vor allem 1980er Jahren sehr schwierig geworden. Timm Rautert, einer der einflussreichsten Fotografen der Arbeitswelt in Deutschland, den wir 2001 in einer umfassenden Retrospektive gezeigt haben, entwickelt in seinen Arbeiten die visuelle These vom Verschwinden des Menschen aus der Produktion. Ein Effekt, der durch die Digitalisierung noch beschleunigt wurde. Präsent sind nun computergesteuerte Produktionsstraßen und Industrieroboter. Der Mensch, der jetzt in erster Linie Kontrollfunktionen erfüllt und keine Montage mehr vornimmt, ist der Wahrnehmung geradezu entzogen. Wie weit dieser Prozess inzwischen vorangeschritten ist, kann man an den Arbeiten von Henrik Spohler ablesen. Auf der Website des Museums findet sich die Formulierung von der »Modellierung des Menschen«. Wie wirkt ›die Arbeit‹ Ihrer Ansicht nach auf die Menschen? Was machten Fabrikhallen, Kontore/Büros oder der Hafen, die Speicher oder die Hinterhöfe und Wohnungen aus den Menschen? KB: Was Arbeit aus dem Menschen macht, können wir jeden Tag erleben, denn die meisten von uns arbeiten in einem Rhythmus, der durch die Industrialisierung entstanden ist. Wir haben aber kaum noch die Möglichkeit, unseren Arbeitsrhythmus heute mit nichtindustrieller Arbeit zu vergleichen, da unsere Gesellschaft vollkommen von den Bedarfen industrieller Produktion durchtränkt ist. Das Leben nach der Uhr, mit Arbeitszeiterfassung, Wochenarbeitszeiten, Schichtarbeit, Maschinenarbeit etc. ist für uns Alltag. Wir sind vollkommen durchdiszipliniert. Dass es einmal eine Zeit gegeben hat, in der eher nach dem Rhythmus der Natur gearbeitet wurde – also bis vor ca. 100 bis 150 Jahren – kann man sich heute kaum noch vorstellen. Wie geht das Museum mit Prozessen, Techniken und Arbeitsformen um, die sich an der Grenze des Darstellbaren bewegen? SR: Grundlegende Dimension zur musealen Darstellung von Arbeit ist die Orientierung an der Anschaulichkeit, wobei die Arbeitswelt in ihrer Produktionsweise immer unanschaulicher wurde und wird. Moderne Maschinen bieten dem betrachtenden Auge deutlich weniger Anregung als die mechanisch aufwendig gestalteten Apparate der Vergangenheit. Auch die Größe von Produktionsanlagen ist in der Darstellung der industriellen Arbeitsgeschichte eine Herausforderung, denken Sie nur an den Schiffbau oder Ölraffinerien. Die Präsentation
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von kleinen (Teil-)Objekten und verkleinerten Nachbildungen ist die übliche Antwort auf das Problem der realen schwerindustriellen Dimension. Dem ähnelt auch der Prozess des Verschwindens. Das Museum ist geradezu ein Testinstrument für die gesellschaftliche oder technologische Funktionsfähigkeit eines Gegenstandes. Es wird das präsentiert, was aus der Arbeitswelt verschwunden ist: ›Wenn die Arbeit verschwindet, kommt sie ins Museum.‹ Daher ist ein Bestandteil der musealen Aura häufig das sentimentale Rückerinnern der Besucher. Dies ist eine Grundstimmung im musealen Umgang mit Objekten. Nicht das Darstellen des Verschwundenen, sondern die Frage, warum ist es verschwunden und durch was wurde es ersetzt, fordert die museale Inszenierung heraus. Allerdings ist der Blick auf das Vergangene leichter als die Perspektive der Museen auf das Aktuelle. Die mangelnde persönliche Distanz oder das Fehlen eindeutiger materieller Spuren erschwert hier den Zugriff deutlich. Eine mögliche Antwort liefert die 2013 eröffnete Abteilung zum Tiefdruck. Sie beinhaltet einen Video-Livestream zum laufenden Produktionsprozess eines Druckkonzernes. Dies ist der Versuch, eine Verbindung zwischen den aus der Produktion ausgeschiedenen Exponaten mit der jetzigen Produktionsform herzustellen. KB: Die Gegenüberstellung der Druckmaschinen aus dem 19. Jahrhundert mit dem Live-Stream in eine heutige Großdruckerei veranschaulicht sehr eindrucksvoll die heutigen Dimensionen der Maschinen, und so lässt sich der Wandel in der Arbeitswelt gut verdeutlichen. Im »ABC der Arbeit« kann über einen Terminal die Sammlungsdatenbank eingesehen, und demnächst werden das bereits von Herrn Rahner angesprochene QR-System sowie eine App für die Dauerausstellung entwickelt, die unsere Ausstellungen mit historisch relevanten Orten im Stadtraum verbindet. Wie sieht es in diesem Zusammenhang mit Dienstleistungen aus, die ja bereits im Moment ihrer Produktion wieder vernutzt werden? SR: Kaufmännische und Ingenieurstätigkeiten lassen sich teilweise recht konkret über die verwendeten Utensilien (Rechenmaschinen etc.) zeigen. Dennoch ist die Präsentation von Dienstleistungen schwierig, da der Ausgangspunkt musealer Darstellung, wie gesagt, die materielle Überlieferung ist. Um die Arbeit von Fahrradkurieren zu zeigen, haben wir beispielsweise in einer Sonderausstellung ein Fixie-Fahrrad ohne Bremsen ausgestellt, um anhand seiner besonderen Bauweise auf die Arbeitsbedingungen hinzuweisen. Die fehlenden Bremsen verweisen auf den hohen Zeitdruck der Tätigkeit – und auf das ›coole Selbstverständnis‹ des Fahrers. Die Schutzlosigkeit vor der Witterung veranschaulicht
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dieses Exponat ebenfalls gut. Auch bei anderen, meist prekären Dienstleistungsjobs wird es darum gehen, Objekte zu finden, die typische Arbeitsbedingungen symbolisieren; wie das unbeständige, stundenweise Arbeiten oder das auf höchste Effektivität in kurzer Zeit getrimmte Schaffen und die ungenügende beziehungsweise oft fehlende soziale Absicherung symbolisieren. Um ein, allerdings bildliches Beispiel zu geben: In der Sonderausstellung »Wanderarbeiter« (Herbst 2013) zeigen wir eine Fotoserie von Ralf Tootens über Bauarbeiter auf thailändischen Baustellen. Er konzentriert sich bei »Asian Worker Covered« auf Porträts mit selbstgefertigten, bunten, phantasievollen Kopfbedeckungen, die so zum symbolhaften Zeichen für das Fehlen jedweder Arbeitsschutzkleidung und sozialer Absicherung werden. Bezogen auf Europa, gehört zu den künftigen Aufgaben auch die Reflexion der Veränderung von der Vollbeschäftigungsgesellschaft hin zu einer Gesellschaft, die immer mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse aufweist. Gleiches gilt für das Thema Migration, das sich zwar thematisch überschneidet, darin jedoch nicht aufgeht. KB: Dienstleistungen spielen auch in Angestelltenberufen eine Rolle, vertreten unter anderem durch den Einzelhandel, den Paketzustelldienst, Pflegeberufe, Erzieher und sogenannte »Wissensberufe«. Diese Dienstleistungen bilden wir auch unter Zuhilfenahme von Hörstationen mit Arbeitsbiographien ab. Aber auch hier gilt: Möchte man spezifische und sich wandelnde Fragen wie die nach der gleichen Entlohnung von Frauen und Männern, nach der Einführung einer Frauenquote in bestimmten Bereichen, die Frage nach der Qualität Deutschlands als Einwanderungsland oder die nach einem Mindestlohn oder nach einem bedingungslosen Grundeinkommen diskutieren, gibt es kurzfristig bessere Formate, als sie in der Ausstellung zu präsentieren, zum Beispiel Vortragsreihen oder Symposien. Wo sehen Sie die zukünftigen Herausforderungen in der musealen Beschäftigung mit der Arbeitswelt hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung, aber auch bezogen auf die finanziellen und politischen Rahmenbedingungen? KB: Die größten Herausforderungen werden eine gute – auch theoretische – Einführung in den Arbeitsbegriff sein, die Vermittlung der sich schnell wandelnden Arbeitsprozesse, die Veränderung Hamburgs von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Medienstadt sowie die Ausrichtung der Ausstellung auf jüngere und sehr viel breitere Besucherschichten, als wir sie heute haben. Die Generation der »Digital Natives«, der nach 1985 Geborenen, kennt vor allem eine digitale Ar-
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beitswelt. Sie weiß nicht, wie eine Schreibmaschine funktioniert, kennt kein Wählscheibentelefon, keinen Rechenschieber, viele waren noch nie handwerklich tätig oder haben an einer Maschine gearbeitet. Hier gilt es, in einer neuen Dauerausstellung anzusetzen.
Das Gespräch führte Ulf Freier-Otten
L ITERATUR Museum der Arbeit (1997): Ein Stück Arbeit, Hamburg: Christians. Museum der Arbeit (1997): Katalog, Hamburg: Christians. Museum der Arbeit (2003): Industrie und Fotografie. Hamburger Arbeitswelt 1863–2002. CD-ROM, Hamburg: Selbstverlag.
Autorinnen und Autoren
Becker-Schmidt, Regina, em. Prof. Dr. phil., war von 1972 bis 2002 Professorin für Soziologie und Sozialpsychologie an der Universität Hannover. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Gesellschafts- und Subjekttheorie, psychoanalytisch orientierte Sozialpsychologie und Geschlechterforschung. Boettcher, Nadine, M.A., studierte Anglistik und Romanistik an der Universität Düsseldorf, der Universidad de Alicante und der UTA in Texas. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anglistik und Amerikanistik an der Universität Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Konzepte der Transkulturalität mit Fokus auf den USA und Lateinamerika sowie Theoriebildung zu Gewalt. Bosanþiü, Saša, Dr. phil., studierte Soziologie, Kommunikationswissenschaft und Psychologie und promovierte über die Subjektivierungsweisen angelernter Arbeiter. Seit 2006 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter und seit 2013 Akademischer Rat am Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Augsburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind das Interpretative Paradigma der Soziologie, die sozialwissenschaftliche Diskursforschung sowie die Arbeitssoziologie und die Soziologie sozialer Ungleichheit. Brogi, Susanna, Dr. phil., studierte Germanistik und Buchwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und promovierte 2006 in Vergleichender Literaturwissenschaft zum Thema: »Der Tiergarten in Berlin als Ort der Geschichte: eine kultur- und literaturhistorische Untersuchung«. Derzeit Mitarbeit am Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft in Erlangen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Gartenkunst, Exilliteratur, Dokumentarische Ästhetik sowie Armut und soziale Ausgrenzung in der Literatur.
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Däufel, Christian, Dr. phil., studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er promovierte 2010 mit einer Arbeit über Ingeborg Bachmanns Büchnerpreis-Rede »Ein Ort für Zufälle«. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Ästhetiken des 20. Jahrhunderts, Kritische Theorie und Ingeborg Bachmann. Dölling, Irene, em. Prof. Dr. sc. phil., war von 1994 bis 2008 Professorin für Soziologie der Geschlechterverhältnisse an der Universität Potsdam. 1989 war sie Mitbegründerin des Zentrums für interdisziplinäre Frauenforschung (ZIF) an der Humboldt-Universität Berlin und dessen erste wissenschaftliche Leiterin. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Gesellschafts- und Subjekttheorie, soziologisch und biographisch orientierte Geschlechterforschung. Fischer, Gabriele, dipl. journ. und dipl. oec., studierte Volkswirtschaftslehre und Journalistik. Sie arbeitete neun Jahre als Projektleiterin im Bereich Arbeitsmarktforschung bei TNS Infratest Sozialforschung und promoviert derzeit mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und Gender Studies bei Prof. Dr. Paula-Irene Villa an der LMU München. Gabriele Fischer beschäftigt sich mit Arbeitsmarktfragen im Zusammenhang mit Geschlechterverhältnissen, feministischen Blicken auf Arbeitsverhältnisse und theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Themenfeld Anerkennung. Freier, Carolin, M.A., studierte Soziologie, Psychologie und Pädagogik an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2009 arbeitet sie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Arbeit und Organisation, Theorie des Wohlfahrtsstaates, Soziologische Theorie, Kultur und Kapitalismus, Gender Studies und Qualitative Sozialforschung. Freier-Otten, Ulf, M.A., studierte Neuere und Neueste Geschichte, Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die politische Geschichte der BRD, Geschichte des Sozialstaates, Geschichte der Arbeit, fränkische Landesgeschichte, Geschichte des Nationalsozialismus. Hartosch, Katja, M.A., studierte Theater- und Medienwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Erlangen und Guadalajara (Mexiko) sowie den MasterStudiengang Ethik der Textkulturen. Derzeit arbeitet sie am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).
A UTORINNEN
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Hanemann, Laura, M.A., studierte an der Universität Marburg und in Madrid Politikwissenschaft, Medienwissenschaft sowie Friedens- und Konfliktforschung. Seit 2010 ist sie Mitglied des Graduiertenkollegs »Zeitstrukturen des Sozialen« der Universität Jena. Das empirisch angelegte Dissertationsvorhaben trägt den Titel: »Zwischen Zeitsouveränität und Zeitpanik: Prekäre SoloSelbstständigkeit im Lebenslauf«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Arbeitssoziologie, Soziologie des Lebenslaufs und qualitative Sozialforschung. Hilpert, Stephan, MPhil, studierte Dokumentarfilmregie, Volkswirtschaftslehre und Filmwissenschaft in München, Spanien und England. Zurzeit ist er Doktorand an der Universität Cambridge, Department of German and Dutch. Seine Forschungsschwerpunkte sind Raum und Arbeit im deutschsprachigen Autorenfilm der Gegenwart, insbesondere in den Filmen von Christian Petzold und Ulrich Seidl. Kalff, Yannick, Dipl. Soz., studierte an der LMU München Soziologie, Sozialpsychologie und Statistik. Seit Juli 2010 ist er Mitglied des Graduiertenkollegs »Zeitstrukturen des Sozialen« an der Universität Jena. Er promoviert zu einem praxistheoretischen Arbeits- und Organisationsbegriff in Projekten. Seine Forschungsschwerpunkte sind Arbeit und Erschöpfung, Wandel von Erwerbsarbeit, Organisation und Arbeit sowie Arbeitskritik. Matthies, Annemarie, M.A., studierte Soziologie, Germanistische Literaturwissenschaft und Ethnologie in Halle, Leipzig, Cluj-Napoca und Bukarest. Sie arbeitet als Lehrkraft am Institut für Soziologie der Universität Halle-Wittenberg und promoviert interdisziplinär (Germanistik/Soziologie) zum Thema »Neuaushandlungen arbeitsweltlicher Ordnungen im Medium der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Neuere soziologische Theorie, Soziologie der Arbeit, der Nexus zwischen Soziologie und Literaturwissenschaft und Arbeitsmigration. Natarajan, Radhika, M.A., studierte Germanistik an der University of Mumbai (Indien) und arbeitete nach ihrer Deutschlehrerausbildung als Dozentin für Deutsch als Fremdsprache und Ausbilderin am Goethe-Institut Bombay. Sie promoviert zur Schnittstelle Fluchtmigration, Gender und Sprachkenntnisse an der Universität Hannover und ist zurzeit Promotionsstipendiatin der HeinrichBöll-Stiftung. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Spracherwerbsbiographie, lebensweltliche Mehrsprachigkeit und sprachbezogene Alltagsbewältigung.
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Öchsner, Florian, M.A., studierte Neuere deutsche Literaturgeschichte, Soziologie und Publizistik. Er arbeitet als Soziologe und Literaturwissenschaftler in Erlangen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Antisemitismus, Subjektivierung von Arbeit und soziale Gedächtnisse. Ort, Varun F., M.A., studierte Neuere deutsche Literaturgeschichte, Theaterund Medienwissenschaft sowie Ethik der Textkulturen an der Universität Erlangen-Nürnberg. Derzeit promoviert er zur Transformation der Nachahmungspoetik in Klassizismus und Romantik. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Poetik und Rhetorik der Frühen Neuzeit, Literatur und Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts sowie Orientalismusforschung. Preisinger, Alexander, M.A., studierte Germanistik und Geschichte sowie Philosophie und Psychologie an der Universität Wien. Er ist Projektmitarbeiter am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien und am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Seine Forschungsgebiete sind Erzähltheorie, Diskurs- und Interdiskursanalyse, Ökonomie in der Gegenwartsliteratur. Reidy, Julian, Dr. phil., studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Bern und promovierte 2011 bei Wolfgang Pross zur sogenannten ›Väterliteratur‹, war als Post-Doc bis 2012 an der Université de Genève und ist seit 2013 am Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich angestellt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Väterliteratur, Bernward Vesper, Gegenwartsliteratur, Generationalität und Literatur, Stefan George, Idylle, Thomas Mann. Schnödl, Gottfried, Mag. phil., studierte Geschichte und Deutsche Philologie an der Universität Wien. Er arbeitet seit 2011 am Institut für Kultur und Ästhetik digitaler Medien an der Universität Lüneburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: deutschsprachige Literatur um 1900, Ökonomie und Ästhetik, Textedition der Werke Hermann Bahrs. Schödel, Kathrin, Dr. phil., hat Germanistik und Anglistik studiert (in Erlangen und Glasgow). Derzeit ist sie Senior Lecturer an der University of Malta und arbeitet an einem Habilitationsprojekt zu »Revolution und Weiblichkeit«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Konstruktionen von Geschlechterrollen, Öffentlichkeit und Privatheit, Literatur und Politik, Theorien kultureller und politischer Gedächtnisse und kollektiver Identitäten, literarische Darstellung von Nationalsozialismus und Shoah.
A UTORINNEN
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Sondermann, Ariadne, M.A., studierte Soziologie, Ethnologie sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaften in Göttingen. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promovendin an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen und derzeit tätig im DFG-Projekt »L’état c’était moi? Transformation von Staatlichkeit und ihre Folgen für Deutungsmuster, Habitusformationen und berufliches Selbstverständnis«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wandel von (Wohlfahrts-)Staatlichkeit, Erwerbslosigkeit, Arbeitssoziologie und qualitative Sozialforschung. Sowa, Frank, M.A., ist Soziologe mit qualitativem Methodenschwerpunkt und arbeitet am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Von 2001 bis 2004 war er Doktorand in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Graduiertenkolleg »Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz«. Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind Kultursoziologie, Arbeitssoziologie und Arbeitsmarktpolitik. Staples, Ronald, M.A., nach seiner Ausbildung am Franz-SchubertKonservatorium Wien war er bis 2005 als Schauspieler tätig. Danach studierte er Soziologie und Theater- und Medienwissenschaften an der Universität ErlangenNürnberg und arbeitet seit 2010 am Institut für Soziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenssoziologie, Soziologie der Macht und Arbeitssoziologie. Unger, Thorsten, Prof. Dr., ist Professor für Neuere deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Magdeburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört der Themenkomplex Arbeit und Erwerbslosigkeit, Muße und Müßiggang in Literatur und Kultur. Vöing, Nerea, M.A., studierte Deutschsprachige Literatur, Geschichte und Komparatistik in Paderborn. Von 2010 bis 2011 war sie Koordinatorin der interdisziplinären Forschergruppe »Kulturphänomen Arbeit« (Universität Paderborn), in deren Rahmen sie ihre Dissertation verfasst. Aktuell ist sie Promotionsstipendiatin der Universität Paderborn und promoviert unter dem Arbeitstitel »Melancholische Narrationen von Arbeit in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts«. Ihre Forschungsschwerpunkte: Komparatistische Thematologie, Cultural Studies, Melancholie und Arbeit in der Literatur. Zimbulov, Alexander, M.A., studierte Komparatistik in Göttingen, München und London. Derzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für
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Neuere Englische Literatur der Universität Düsseldorf. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Literaturtheorie als ästhetische Theorie beziehungsweise Kunsttheorie, Literatur und Affekt sowie Literatur und Pornographie. Zupfer, Julia, M.A., studierte Theaterwissenschaft, Germanistik und Komparatistik an der Universität Leipzig und arbeitet derzeit in einem Fachverlag. Sie war im Tanzarchiv Leipzig und als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »Körpertechniken des Wissens« am Leipziger Institut für Theaterwissenschaft tätig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte des Ausdruckstanzes, Erziehungskonzepte in Tanz und Körperbildung im frühen 20. Jahrhundert, Körpertechniken der Arbeit in der Wissens- und Informationsgesellschaft.
Gesellschaft der Unterschiede Kay Biesel, Reinhart Wolff Aus Kinderschutzfehlern lernen Eine dialogisch-systemische Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie März 2014, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2386-4
Tina Denninger, Silke van Dyk, Stephan Lessenich, Anna Richter Leben im Ruhestand Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft Februar 2014, ca. 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2277-5
Adrian Itschert Jenseits des Leistungsprinzips Soziale Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft August 2013, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2233-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Gesellschaft der Unterschiede Johanna Klatt, Franz Walter Entbehrliche der Bürgergesellschaft? Sozial Benachteiligte und Engagement 2011, 254 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1789-4
Oliver Marchart Die Prekarisierungsgesellschaft Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung Oktober 2013, 248 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-2192-1
Oliver Marchart (Hg.) Facetten der Prekarisierungsgesellschaft Prekäre Verhältnisse. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Prekarisierung von Arbeit und Leben Oktober 2013, 224 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2193-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Gesellschaft der Unterschiede Kay Biesel Wenn Jugendämter scheitern Zum Umgang mit Fehlern im Kinderschutz 2011, 336 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1892-1
Christian Brütt Workfare als Mindestsicherung Von der Sozialhilfe zu Hartz IV. Deutsche Sozialpolitik 1962 bis 2005 2011, 394 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1509-8
Alexandra Krause, Christoph Köhler (Hg.) Arbeit als Ware Zur Theorie flexibler Arbeitsmärkte 2012, 366 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1984-3
Alexandra Manske Kapitalistische Geister in der Kulturund Kreativwirtschaft Zur widersprüchlichen unternehmerischen Praxis von Kreativen
Kathrin Schrader Drogenprostitution Eine intersektionale Betrachtung zur Handlungsfähigkeit drogengebrauchender Sexarbeiterinnen Mai 2013, 452 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2352-9
Anne von Streit Entgrenzter Alltag – Arbeiten ohne Grenzen? Das Internet und die raum-zeitlichen Organisationsstrategien von Wissensarbeitern 2011, 284 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1424-4
Peggy Szymenderski Gefühlsarbeit im Polizeidienst Wie Polizeibedienstete die emotionalen Anforderungen ihres Berufs bewältigen 2012, 454 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1978-2
März 2014, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2088-7
Dorit Meyer Gewerkschaften und Leiharbeit Über den aktiven Umgang mit Leiharbeit bei der IG Metall April 2013, 398 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2334-5
Nancy Richter Organisation, Macht, Subjekt Zur Genealogie des modernen Managements Dezember 2013, 344 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2363-5
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