Surrealismus und Film: Von Fellini bis Lynch [1. Aufl.] 9783839408636

Dieser Band bezieht sich auf die Phase der Filmgeschichte von der Nouvelle Vague (um 1960) bis zum Kino der Gegenwart. S

276 96 9MB

German Pages 326 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Medienexperimente nach den Avantgarden
Federico Fellinis kristalline Inszenierung der Komik, des Eros’ und des Traums: Giulietta degli spiriti
Interferenzen im filmischen Raum – zur kombinatorischen Filmkunst von Jean-Luc Godard
„C’è qualcosa terribile nella realtà“ – Traumanaloge Wahrnehmungsmodi im Kino von Michelangelo Antonioni im Rekurs auf Traditionen des surrealistischen Kinos
Orson Welles und/oder Vérités et mensonges/F for Fake
Rigoletto im Regenwald. Monade, Mythos und Manierismus im Werk von Werner Herzog
Surrealistische Fallgruben in Pedro Almodóvars Entre tinieblas– Das Kloster zum heiligen Wahnsinn
Imagination in Prospero’s Books
Durch den Zauberwald des Wilden Westens. Zur Rezeption surrealistischer Filmexperimente in Jim Jarmuschs Dead Man
Entgleisung im Salon. Kubricks Eyes Wide Shut nach Schnitzlers Traumnovelle
Tarsem Singhs The Cell – Surrealistische Frauenentwürfe zwischen Traum und Wirklichkeit
Die Erkaltung der Restwärme. Surreale Milleniumsbilder in Songs from the second floor
Spielformen des Surrealen in Jean-Pierre Jeunets Kinowelt
‚Surrealism goes Hollywood‘: Julie Taymors Frida
„Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Guillermo del Toros Pans Labyrinth und die Ästhetik des Surrealen
Surreale und surrealistische Elemente in David Lynchs Fernsehserie Twin Peaks
David Lynchs Lost Highway als surrealistischer Film
Autoren
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Surrealismus und Film: Von Fellini bis Lynch [1. Aufl.]
 9783839408636

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Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Volker Roloff (Hrsg.) Surrealismus und Film

Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Peter Gendolla.

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Volker Roloff (Hrsg.)

Surrealismus und Film Von Fellini bis Lynch

Medienumbrüche | Band 25

Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Justyna Cempel, Siegen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-863-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung .................................................................................................................. 7 Nicola Glaubitz Medienexperimente nach den Avantgarden ..................................................19 Marijana Erstiý Federico Fellinis kristalline Inszenierung der Komik, des Eros’ und des Traums: Giulietta degli spiriti ...........................................................37 Kerstin Küchler Interferenzen im filmischen Raum – zur kombinatorischen Filmkunst von Jean-Luc Godard .......................................................................49 Uta Felten „C’è qualcosa terribile nella realtà“ – Traumanaloge Wahrnehmungsmodi im Kino von Michelangelo Antonioni im Rekurs auf Traditionen des surrealistischen Kinos ...............................65 Heinz-B. Heller Orson Welles und/oder Vérités et mensonges/F for Fake ..........................75 Gerhard Wild Rigoletto im Regenwald Monade, Mythos und Manierismus im Werk von Werner Herzog ...................89 Isabel Maurer Queipo Surrealistische Fallgruben in Pedro Almodóvars Entre tinieblas – Das Kloster zum heiligen Wahnsinn...........................................................119 Andrea Dilcher Imagination in Prospero’s Books......................................................................137 Petra Lange-Berndt Durch den Zauberwald des Wilden Westens Zur Rezeption surrealistischer Filmexperimente in Jim Jarmuschs Dead Man........................................................................................161

Walburga Hülk Entgleisung im Salon Kubricks Eyes Wide Shut nach Schnitzlers Traumnovelle ..................................... 187 Lena Butz Tarsem Singhs The Cell – Surrealistische Frauenentwürfe zwischen Traum und Wirklichkeit ................................................................. 205 Michael Lommel Die Erkaltung der Restwärme Surreale Milleniumsbilder in Songs from the second floor ........................................ 223 Kirsten von Hagen Spielformen des Surrealen in Jean-Pierre Jeunets Kinowelt.................... 239 Beatrice Schuchardt ‚Surrealism goes Hollywood‘: Julie Taymors Frida................................... 251 Justyna O. Cempel „Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Guillermo del Toros Pans Labyrinth und die Ästhetik des Surrealen............... 271 Nicola Glaubitz/Jens Schröter Surreale und surrealistische Elemente in David Lynchs Fernsehserie Twin Peaks .................................................................................. 281 Vera Schröder David Lynchs Lost Highway als surrealistischer Film ............................. 301

Autoren................................................................................................................... 315

Einleitung Surrealismus und Film Die Verbindung von Surrealismus und Film ist keineswegs selbstverständlich; sie wird von verschiedenen Seiten wenn nicht in Frage gestellt, so doch mit Vorbehalten versehen. Dass Filme eine besondere Affinität zur sichtbaren Welt, zur Realität und damit auch zum so genannten Realismus haben, gehört seit Kracauer, Balázs und Bazin zu den Topoi der Filmgeschichte, die immer noch bis in die Gegenwart wirksam sind – sowie auf der anderen Seite der Surrealismus für viele zu den Avantgarde-Bewegungen gehört, die längst, spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg, ihre Wirkung und Bedeutung verloren haben. Unser Siegener Forschungsprojekt zur „Intermedialität im europäischen Surrealismus“ geht aber davon aus, dass gerade der Surrealismus, in seiner Affinität zu filmischen und intermedialen Experimenten, seit der Nouvelle Vague bis zur Gegenwart eine Aktualität gewonnen hat, die in der gegenwärtigen Filmtheorie zu wenig beachtet wird. Um diesen Leitgedanken zu verdeutlichen und zu diskutieren, muss man sich, wie wir glauben, von einigen Prämissen lösen, die in vielen Film- und Literaturgeschichten nach wie vor eine Rolle spielen. Die aktuellen, von uns so genannten Metamorphosen des Surrealismus sind nur dann als solche durchschaubar, wenn man sich von konventionellen Periodisierungen der Filmgeschichte löst, wenn man z.B. mit Godard versucht, Filmgeschichte als eine Geschichte des Sehens und der Wahrnehmung zu begreifen „jenes Sehens, das sich mit dem Kino, das die Dinge zeigt, entwickelt hat und die Geschichte der Blindheit, die daraus entstanden ist“1. Eine solche nicht mehr chronologische, sondern archäologische, Diskontinuitäten reflektierende Konzeption der Kinogeschichte ist Voraussetzung und Konsequenz einer Ästhetik des Surrealen, die von Anfang an mit dem Kino verbunden ist und erst jetzt in ihrer ganzen Tragweite überschaubar wird. Eine solche Geschichte des Sehens und der Blindheit beginnt, wie schon Dalí anmerkt, mit dem Schließen der Augen, das die besten Filme hervorbringe, weil es die Filme unserer Phantasie erzeuge und zu jenen Träumen und Visionen führe, die überhaupt erst die Augen öffnen.2 Auch Kracauer betont, dass der Film sichtbar macht „was wir zuvor nicht gesehen haben und nicht einmal seh-

1

Godard, Jean-Luc: Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, Frankfurt a.M. 1984, S. 166f.

2

Dalí, Salvador: Oui. La révolution paranoïaque-critique, l’archangélisme scientifique, Paris 2004, S. 45.

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Einleitung

en konnten.“3 Aber er übersieht in seiner Freude über die neue Visualität des Films, über die „Errettung der physischen Realität“, die dunkle, groteske und fantastische Kehrseite des Imaginären, das Fantastische und das Fantasmatische, das von Anfang an eine Domäne des Kinos darstellt. Schon die surrealistischen Künstler der 20er und 30er Jahre sind – mit ihrer Traumästhetik – auf der Suche nach neuen Formen der Wahrnehmung, und sie versuchen, die Ästhetik des Surrealen mit den neuen Möglichkeiten des Films zu verbinden. Wenn man über den Begriff und die Spielformen einer ‚Ästhetik des Surrealen‘ Anfang des 20. Jahrhunderts nachdenkt, so führt der Weg weniger zu Breton und seinen relativ späten und knappen Anmerkungen zum Film, sondern zu Autoren, Theaterleuten und Filmpionieren wie Apollinaire, Jarry, Valle-Inclán, Cendrars, Méliès, den Stummfilmkomikern und dann vor allem zu Buñuel, Dalí, Clair, Cocteau, Artaud und Lorca. Schon vor Freud versuchen Theaterleute, Choreographen und Autoren um die Jahrhundertwende die Ästhetik der Traumform4 zu vermitteln, das Magische, aber auch die groteske und farcenhafte Komik und Mimikry der Träume neu zu gestalten, in der Distanz zum Realismus des 19. Jahrhunderts, und dies, soweit wie möglich, mit Hilfe der neuesten Medien. In den neuen theatralen Spielformen und Strukturen finden sich bereits viele filmische Elemente. Es geht, anders als bei Freud, nicht um die tiefere Bedeutung des Traums, sondern um Formen seiner Darstellung, den Hang des Traums zur Karikatur, zum Absurden, Grotesken, Irrationalen, sowie um die Sinnlichkeit, Sexualität und Theatralität des Traums. Dargestellt wird das ironische Spiel mit Raum und Zeit, das Arbiträre der Traumszenarien, ihre (wie besonders Apollinaire zeigt) Schnelligkeit, Ubiquität, Simultaneität, die Flüchtigkeit und Fragilität der Traumbilder. Zu den Darstellungsinhalten und -formen gehören Metamorphosen, Maskeraden, Rollenspiele, Polymythie und Polyphonie – mit dem Ziel, vor allem die grotesken, tabuüberschreitenden, subversiven Aspekte des Traums hervorzuheben. Die Theaterexperimente der Zeit sind bereits Vorformen des Films, bzw. des Dispositivs Kino, und damit der filmischen Ästhetik des Surrealen wie z.B. Clairs Entr’acte, Cocteaus Parade mit den Choreographien von Picasso, aber auch literarische Texte von Buñuel, Cocteau und Cendrars. Es geht darum, die Bühne in ein surreales Szenario zu verwandeln, um eine synästhetische Kombination sinnlicher, akustischer und optischer Reize, um die, wie Eisenstein es nennen wird, ‚Montage der Attraktionen‘, wobei der Begriff Attraktion als ein aggressives Moment des 3

Kracauer, Siegfried: „Erfahrung und ihr Material“, in: Albersmeier, Franz-Josef (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 1998, S. 234-240, hier S. 239.

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Vgl. Lenk, Elisabeth: Die unbewußte Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum, München 1983, zum Begriff der Traumform vgl. S. 251ff.

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Einleitung

Theaters und Films verstanden wird, das, so Eisenstein, auf die Sinne und Psyche des Zuschauers einwirken soll.5 Inzwischen sind diese theatralen, karnevalesken, intermedialen Ursprünge und Elemente des frühen Films eingehend untersucht worden, z.B. von Paech, Albersmeier, Gendolla, Felten und anderen,6 aber sie werden in der speziellen Literatur zur Geschichte und Theorie surrealistischer Filme noch zu wenig berücksichtigt. Die bisher vorliegenden Studien zur Beziehung von Surrealismus und Film sind in mehrfacher Hinsicht problematisch; vor allem weil sie, wie z.B. Virmaux, Kovacs und Sadoul, in einer merkwürdig puristischen Attitüde nur wenige Filme der 20er Jahre als surrealistisch gelten lassen und den Surrealismus fast ausschließlich auf die Gruppe um Breton beziehen.7 Von dieser puristischen Position hat sich Ado Kyrou (in seiner 1965 erschienenen, 1985 erweiterten) Untersuchung Le surréalisme au cinéma8 gelöst und das Spektrum surrealistischer Filme erheblich erweitert, wobei aber das Prinzip der Auswahl, der Ausgrenzungen und Vorlieben nicht ganz klar wird, zumal seine Bemerkungen zu einzelnen Filmen oft knapp und oberflächlich bleiben. Kyrou bietet aber – mit seinen Ausführungen u.a. zu Lang und Pabst, zu den Marx Brothers, zu den späten Filmen von Buñuel, Antonioni, Resnais, Rivette, Kubrick und Renoir – Wege zu einer Analyse der filmischen Metamorphosen des Surrealismus, die in diesem Band zur Debatte stehen. Dies gilt zum Teil auch für Michael Gould, der in seiner Studie Surrealism and the Cinema z.B. Hitchcock und Sternberg einbezieht und neue Ansätze bietet9, wie auch für den von Béhar 2006 herausgegebenen Band der Zeitschrift Mélusine (Surréalisme et cinéma) und verschiedene Arbeiten, die sich besonders mit den surrealistischen Elementen in Filmen der Nouvelle Vague beschäftigen.10 Wenn das Kino 5

Eisenstein, Sergej M.:. „Montage der Attraktionen“, in: Albersmeier, Franz-Josef (Hrsg): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 1998, S. 58-69, hier S. 60.

6

Vgl. Paech, Joachim: Literatur und Film, Stuttgart 1988; Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992; Gendolla, Peter: Phantasien der Askese. Über die Entstehung innerer Bilder am Beispiel der „Versuchung des heiligen Antonius“, Heidelberg 1991; Felten, Uta: Traum und Körper bei Federico García Lorca. Intermediale Inszenierungen, Tübingen 1998.

7

Vgl. Virmaux, Alain/Virmaux, Odette: Les surréalistes et le cinéma, Paris 21988; Kovacs, Yves: Surréalisme au cinéma: Etudes cinématographiques 38-39 (I), 40-42 (II), Paris 1965. Sadoul, Georges: Histoire générale du cinéma, Paris 21973-1975.

8

Kyrou, Ado: Le surréalisme au cinéma, Paris 21985.

9

Gould, Michael: Surrealism and the Cinema, New York/London 1976.

10 Vgl. z.B. Roloff Volker/Winter Scarlett (Hrsg.): Godard intermedial, Tübingen 1997; Winter, Scarlett: Robbe-Grillet, Resnais und der neue Blick, Heidelberg 2007.

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Einleitung

überhaupt, so Kyrou, essentiell surrealistisch ist und auch in Zukunft sein wird, so bleibt das Problem der Kriterien und Differenzierungen. Der vorliegende Band versucht, diese Kriterien u.a. am Beispiel von Fellini, Almodóvar, Greenaway und Lynch zu diskutieren, richtet aber den Blick auch auf Filme, die eher als Grenzfälle erscheinen, z.B. Filme von Stanley Kubrick, Orson Welles, Werner Herzog oder Jean Jeunet. Dabei zeigt sich, dass die Ästhetik des Surrealen als ‚générateur‘ fungiert, als Katalysator, als inspirierendes und konspiratives Prinzip auch für (scheinbar) konventionell erzählte, populäre Filme. Dies führt zur Auflösung vertrauter Genres, zur Entstehung neuer Formen, zur Mischung der Genres und zur Hybridisierung. Dabei wird auch die traditionelle Opposition von surrealistischen und kommerziellen Filmen unterlaufen. Die Ästhetik des Surrealen inspiriert fast alle Filmgenres und führt zu immer neuen Gestaltungen. V.R.

Ästhetik des Surrealen Der Titel dieses Buchs lautet Surrealismus und Film. Davon ausgehend, können drei Begriffe unterschieden werden, die zu prüfen sind: surrealistischer Film, Surrealismus im Film und Ästhetik des Surrealen. Sie reichen, in dieser Reihenfolge, vom engeren zum weiteren Begriffsumfang. In filmgeschichtlichen Abhandlungen und Filmlexika wird manchmal unter dem Stichwort „surrealistischer Film“ nur ein einziges Werk zugelassen: Buñuels und Dalís Un chien andalou (Ein andalusischer Hund) aus dem Jahr 1928. Der nächste Film der beiden Regisseure, L’âge d’or (Das Goldene Zeitalter), der zwei Jahr später erschien, sei bereits kein reiner Surrealismus mehr. Auch wenn diese extreme Position nur noch selten vertreten wird, grenzen doch viele den surrealistischen Film immer noch auf die frühen Werke ein, die beiden genannten Filme von Buñuel und Dalí und bestenfalls noch die Filme von Man Ray, Maya Deren und Germaine Dulac.11 Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis des vorliegenden Sammelbandes zeigt, dass wir diese filmhistorische Begrenzung nicht sinnvoll finden.

11 Z.B. unterscheidet Marcus Stiglegger in seinem Lexikonartikel „Surrealismus“, in: Koebner, Thomas (Hrsg.): Sachlexikon des Films, Stuttgart 2002, S. 605-608, „einige ausdrücklich surrealistische Filme“ von Filmen, in denen der Einfluss des Surrealismus fortlebe. „Die beiden Buñuel/Dalí-Filme gelten heute als die einzigen definitiv surrealistischen Filme jener Zeit [...].“ Danach habe es im Kino nur noch „Bezüge zum Surrealismus und dessen Bestrebungen“ gegeben. „Die surrealistische Phase dauerte für Buñuel nur eine kurze Weile [...].“ – Allerdings hatten die beiden spanischen Regisseure Buñuel und Dalí selbst gar nicht die Absicht, etwas Definitives und Mustergültiges zu schaffen. Ständige Verwandlung, Transforma-

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Einleitung

Ein Sonderheft der Zeitschrift Screenshot, in dem Filme von Agnès Varda, Philip Ridley, David Lynch, Theo Angelopoulos und Abel Ferrara diskutiert werden, trägt die Überschrift „Neuer Surrealismus im Film“.12 Der Begriff „Neosurrealismus“, auf den man auch ab und zu stößt, meint dasselbe. Damit stellt sich die Frage nach der Kontinuität und Diskontinuität des Surrealismus im Film. Man steht vor dem Problem, den so genannten historischen oder frühen Surrealismus vom neuen Surrealismus oder Neosurrealismus abzugrenzen. Wann wird der frühe Surrealismus zum Neosurrealismus? Luis Buñuel, der von 1928 bis 1977 Filme machte, würde beide Epocheneinteilungen umspannen. Surrealismus im Film hebt also zu sehr auf den „-Ismus“, den vermeintlichen Wesenskern der surrealistischen Bewegung, der surrealistischen Künstlergruppe ab. Wir bevorzugen daher, statt vom surrealistischen Film oder vom frühen und neuen Surrealismus zu sprechen, den Ausdruck „Ästhetik des Surrealen“. Man könnte auch sagen, dass es in den Filmen, die unser Band untersucht, um Elemente des Surrealen im Kino geht, um Surrealisierung als künstlerisches Verfahren und weniger um einen -Ismus mit festgelegtem Filmkanon. Die Ästhetik des Surrealen, das Surreale im Film, ist aber keineswegs beliebig, wie Apologeten einer orthodoxen Eingrenzung entgegnen würden. Wir nennen vier Elemente einer solchen Filmästhetik des Surrealen:

1.

Statt sich der Erzählung, Mimesis und Chronologie unterzuordnen, nähert sich die Ästhetik des Surrealen dem Theater (im Sinne von SchauSpiel, etwas zur Schau stellen) und der Malerei an. Das heißt, Szene und Bild sind wichtiger als Fabel und Handlung.

2.

Das zweite Element ist nicht filmspezifisch. Auch Literatur und Malerei sind davon geprägt: Verfremdung und Deplatzierung, Spiele mit ALogik, Absurdität, Paradoxie und Gegen-Sinn.

3.

Transgression, die Verwandlung von Raum und Zeit, bildet das dritte Kennzeichen einer Filmästhetik des Surrealen – z.B. Metamorphose des Schauspieler-Körpers: Es gibt in vielen surrealen Filmen keine Dominanz des Schauspielers als integralem Repräsentationsobjekt.

4.

Das vierte Charakteristikum folgt aus den ersten drei Aspekten. Denn mit der Auflösung der Erzählung und Mimesis, mit der Verfremdung

tion und Deregulierung gelten auch für die Art und Weise, wie surreale Filme zu machen seien. 12 Screenshot 7 (1999).

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Einleitung

und A-Logik, der Verwandlung und Transgression steht das Eigenste des Kinos, die Wahrnehmung, der Augen-Schein auf dem Spiel. Realität und Traum (oder Tagtraum), Realität und Halluzination (oder Vision) werden ununterscheidbar, ebenso verschwimmen Wahrnehmung und Erinnerung ineinander. Das Thema Surrealismus und Film ist schon deshalb ausgesprochen umfangreich und kaum noch eingrenzbar, weil es das Weltkino von Hongkong bis Brasilien, von Kanada bis Australien betrifft. Unser Sammelband kann natürlich nur einige Ausschnitte aus diesem Weltkino, nur wenige Filmbeispiele vermitteln. Zwei Anregungen, zwei filmtheoretische Überlegungen sollen erklären, weshalb die Ästhetik des Surrealen im Kino bis heute omnipräsent ist – gerade auch in Filmen, die auf den ersten Blick gar nicht als surreal erscheinen. Die erste entnehmen wir einem Aufsatz von Peter Greenaway mit dem Titel Zukunftskino, der 2006 in der Zeitschrift Lettre International erschienen ist. Die zweite Anregung ist kinophilosophischer Provenienz. Sie bezieht sich auf den Zeitstatus des Filmbildes, den Gilles Deleuze im zweiten Kino-Buch L’Imagetemps formuliert und den Mirjam Schaubs ausführlich kommentiert hat.

Peter Greenaways ‚Zukunftskino‘ Das „narrative, chronologisch aufgebaute, illusionistische Kino des bebilderten Textes“ habe sich überlebt, schreibt Greenaway. Nur ganz wenige Filme seien bisher zu den Experimenten der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts vorgedrungen – oder der Malerei um 1900. Wenn überhaupt, dann sei die Experimentierfreude in den Videoclip abgewandert: „In pessimistischen Augenblikken würde ich sagen, daß man das Kino noch nie richtig erlebt hat: Alles, was man [bisher] sehen konnte, war bebilderter Text.“13 Der Medienumbruch um 1900, den das Siegener Forschungskolleg Medienumbrüche untersucht, so könnte man Greenaways These weiterführen, sei im Kino von keinem wirklichen ästhetischen Umbruch begleitet worden. Daraus folgt allerdings auch ein ambivalenter Blick auf die Intermedialität des Films. Intermedialität ist für Greenaway nicht per se etwas Gutes. Sie kann Entwicklungsmöglichkeiten eines Mediums auch lähmen. Greenaway geht sogar soweit zu fordern, man müsse die Kamera selbst loswerden: „Es ist notwendig, das träge, nachahmende, passive Aufzeichnungsauge irgendwie zu umgehen – egal ob menschlich oder mecha-

13 Peter Greenaway: „Zukunftskino“, in: Lettre International 72 (2006), S. 78-84, hier: S. 78, 81.

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nisch und direkt ins Gehirn vorzustoßen, zur Phantasie, zur Quelle der Schöpfung, […] um die Möglichkeiten der menschlichen Einbildungskraft auszuschöpfen“.14 Anders als Greenaway, der in seinem programmatischen Text, fast einem Pamphlet, überzeichnet und die Liebhaber des traditionellen Kinos provozieren will, meinen wir, dass es ein solches Kino, das Greenaway vermisst, schon gibt. Nicht zuletzt hat Greenaway selbst einen Anteil an diesem Kino. Das Zukunftskino hat bereits stattgefunden, und die Ästhetik des Surrealen hat dabei eine immer noch unterschätzte Bedeutung. Sie ist sozusagen von Anfang an an den Kraftstrom der Imagination angeschlossen. Greenaway selbst ist einer der großen Regisseure der barocken Surrealisierung im postmodernen Kino. Das Kino ist gerade dann experimentierfreudig und kein bebilderter Text, wenn es sich – wie Greenaway – einer Ästhetik des Surrealen öffnet und – wie Lynch – direkt ins Gehirn vorstößt, in unser Inland Empire.

Von seinen unheimlichen Fantasien kann sich David Lynch (links) trotz Transzendentaler Meditation nicht ganz befreien:

Vielleicht denkt er gerade an diese surreale Szene aus Inland Empire.

Der Zeitstatus der Bilder Unsere These vorab: Die Ästhetik des Surrealen dringt zum ontologischen Kern des Films vor. Und zwar deshalb, weil die bewegten Bilder im Kino keinen Zeitindex, keine Tempi wie die Sprache besitzen. Mit den Bildern selbst kann man weder Vergangenheit noch Gegenwart noch Zukunft ausdrücken. Das bedeutet für den Film aber keineswegs eine Depravation, im Gegenteil: Die Zeitenthobenheit, der fehlende Zeitindex, verleiht dem Kino eine besondere Fähigkeit. Die Bilder können dadurch ihren Bezug zwischen Traum, Wirklichkeit und Erinnerung in der Schwebe halten. Der Film kann, und sei er noch so realistisch, besonders gut die traumanaloge Heterochronie, die Verwir14 Ebd., S. 82.

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Einleitung

rung von Zeit und Raum zur Darstellung bringen. Filme, sagt Umberto Eco, seien Träume mit offenen Augen. Und genau das ist ein Hauptverfahren, oder besser eine Voraussetzung des Surrealismus. Der amerikanische Romancier Don deLillo beschreibt in seinem Aufsatz „Über Kino und Gedächtnis“ dieses Apriori des Zeitbildes, das Ineinandergreifen von Wahrnehmung, Traum und Erinnerung: […] wenn wir schweißgebadet aus einem Traum erwachen, an den wir uns nur halb erinnern, in Fragmenten und mit abrupten Übergängen, dann bewegen wir uns durch subjektive Zeit und subjektiven Raum, im Griff der Instrumente unseres eigenen Geistes, und diese Situation hat in ihrem Rhythmus etwas Filmisches, wie sie zu Fetzen, Blitzen, Erfahrungssegmenten geschnitten wird, die einen radikalen Abschied von dem ungebrochenen Fluß der Welt ringsum bedeuten.15 Im Sichtbaren gibt es also, schreibt Mirjam Schaub in ihrem Buch Deleuze und das Kino, keine zeitlichen Modi, sondern nur Modulationen. Für Deleuze sind Bilder niemals gegenwärtig, weil sie eben nicht real sind. Wir können nie sagen, ob sie uns etwas vorführen, das jetzt gerade stattfindet oder schon stattgefunden hat oder erst stattfinden wird.16 Natürlich kann das Kino selbst Zeit-Konventionen erschaffen, mittels Rück- und Vorausblende, Inserts von Daten und Uhrzeiten, Tag- und Nachtaufnahmen usw. Und nicht zuletzt benutzen die Figuren im Film in ihren Dialogen die Sprache und deren Tempi. Aber: „Die künstliche, konventionell geregelte Identifizierung und Markierung der Bilder nach unterschiedlichen Zeitebenen verschleiert nur die eigentliche Potenz des Bildes als Simulacrum.“ Das heißt, Bilder haben nicht nur keinen Zeitindex, sondern auch keinen Realitätsindex: „Kein Filmbild, unabhängig davon, was es ‚erzählt‘, ist wirklicher oder unwirklicher als ein anderes.“17 Es fällt uns nach Deleuze schwer, diese Ontologie des Kinos zu akzeptieren. Und selbst André Bazin ist mit seinen Überlegungen zum effet de réel nicht in ihr Zentrum vorgedrungen. Denn alles ist im Kino genauso effet de réel wie effet d’irréel. Daher ist der Ausdruck „surrealistisches Kino“ in gewissem Sinn eine Tautologie und die Bezeichnung „Neorealismus“ für eine Epoche des italienischen Kinos ein Oxymoron. Der Unterschied bestünde dann weniger zwischen Realismus und 15 Don DeLillo, „Ein Tag in Rom. Über Kino und Gedächtnis“ In: Die Zeit, 17.12.2003, S. 37. 16 Deleuze formuliert diese Überlegung, die Mirjam Schaub aus diversen Textpassagen herausgeschält und scharfsinnig kommentiert, in den Kapiteln 4-6, Das Zeit-Bild in: Kino 2, Frankfurt a. M. 1991; Schaub, Mirjam: Gilles Deleuze im Kino: Das Sichtbare und das Sagbare, München 2003. 17 Schaub: Gilles Deleuze im Kino, S. 182, S. 231.

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Einleitung

Surrealismus, sondern zwischen jenen Filmen, die ihre „eigentliche Potenz“ als Simulacra, ihr konstitutiv Surreales reflektieren, vorführen, und solchen Filmen, die sie kaschieren oder zumindest ungenutzt lassen. William Earle hat ein gutes Gespür hierfür, wenn er seinem Buch den Titel A Surrealism of the Movies gibt.18 Insofern hat Greenaway nicht ganz unrecht: Das Kino macht bis heute zu wenig Gebrauch von den ureigenen Möglichkeiten des Zeit-Bildes. Es traut sich und den Zuschauern zu wenig zu. Es schreckt oft davor zurück, die Surrealisierung des Zeitbildes über vertraute Formen hinauszutreiben. Die Bilder des Kinos als Simulacren der Zeit, das ist das Spielmaterial einer Filmästhetik des Surrealen – und eines Zukunftskinos, das es schon immer gegeben hat und auch nach dem „Ende des Kinos“ (Godard) noch geben wird. M.L.

Von Fellini bis Lynch In den hier untersuchten Filmen finden sich zahlreiche Spuren einer Ästhetik des Surrealen, die mit den filmischen Techniken eine neue Möglichkeit der Umsetzung gefunden haben. Dazu zählen die in den folgenden Beiträgen analysierten Einbildungen und Inszenierungen des Grotesken, Absurden, Bizarren, Irrationalen, das Wunderbare und Unerklärliche, das Spiel mit Raum und Zeit, die nicht erklärbaren Korrespondenzen zwischen Räumen und Ereignissen, die Großstadt als Raum des Zufalls, das Irritationsrepertoire der Wahrnehmung, die mediale Reizgrenze, die Verunsicherung von Seherfahrungen, die Veränderung der medial trainierten Sehgewohnheiten, die dunkle, groteske und fantastische Kehrseite des Imaginären, die Kombination disparater Gegenstände, Diskontinuitäten, Fragmentierungen und Tabuüberschreitungen, die Platzierung des Surrealistischen zwischen Kunst und Kommerz. Bei der Betrachtung der Wechselbeziehungen von Surrealismus und Film kristallisieren sich jene Bereiche heraus, die im (frühen/historischen) Surrealismus zu den Elementen gehörten, sich inhaltlich oder formal im Film manifestieren und somit die Ästhetik des Surrealen weiterführen oder auch unterminieren. Es handelt sich, neben den erwähnten Elementen, vor allem um kulturanthropologische Aspekte, um (kinematographische) Traumwelten und -ästhetiken, um die ästhetischen Verfahren der Collage und filmischen Montage. Die Schauspiele des Traums zählen zu den konstitutiven Merkmalen einer Ästhetik des Surrealen, die im Filmischen einen adäquaten Ort der Umsetzung findet, der jene surrealen Atmosphären und Wahrnehmungsformen am besten zu vermitteln vermag. 18 Earle, William: A Surrealism of the Movies, New Brunswick and Oxford 1987.

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Einleitung

In Anlehnung an Adorno, Blumenberg und Waldenfels betrachtet Nicola Glaubitz zunächst die Medienexperimente nach den Avantgarden, ihr Verhältnis zu den (populären) Massenmedien und somit die Suche nach ungewöhnlichen, bewegenden Bilderlebnissen und neuen Möglichkeiten der künstlerischen Umsetzung wie sie die Video- und Computernkunst anbietet. Marijana Erstiý untersucht die Traumästhetik Federico Fellinis mit dem Begriff des Kristallbilds, „den kristallinen Strukturen, mit den Ununterscheidbarkeitszonen, die Gilles Deleuze dem Kino seit dem Neorealismus und seit Orson Welles zuspricht.“ Lena Butz analysiert in ihrem Beitrag zu The Cell von Tarsem Singh die Darstellung der Frau, die gleichsam zu den Hauptmotiven der surrealistischen Künstler zählte. Mit Hilfe bizarrer Traumbilder gelingt es dem Regisseur, den Zuschauer in eine surreale Welt zu entführen, wobei der Film einerseits eine direkte Umsetzung der freudschen Psychoanalyse, andererseits eine Visualisierung surrealistischer Elemente darstelle. Uta Felten wiederum hebt traumanaloge Wahrnehmungsmodi im Kino von Michelangelo Antonioni hervor, wobei sie u.a. auf Pascal Bonitzer, Roland Barthes und Edgar Morin rekurriert, die das „Verhextsein“, die „permanente Ansteckung des filmischen Bildes durch das Imaginäre, die irreduzible ontologische Ambivalenz des Bildes immer wieder betont haben.“ Nicola Glaubitz und Jens Schröter, die sich für surreale und surrealistische Elemente in David Lynchs Fernsehserie Twin Peaks interessieren, heben die überraschenden, schockierenden, unheimlichen Effekte hervor, die David Lynchs Filme kennzeichnen, und versuchen, „die phänomenologische und strukturelle Präsenz avantgardistischer bzw. surrealistischer Momente in einem gegenwärtigen Medienangebot nachzuweisen.“ Walburga Hülk untersucht in ihrer Studie zu Eyes Wide Shut die experimentelle und rationale Inszenierung des Surrealen durch die von Kubrick eingesetzten surrealistischen Methoden und Techniken. In Eyes Wide Shut gelinge Kubrick die Umsetzung dieser bereits bei Schnitzler angelegten surrealen Atmosphären durch die filmischen Möglichkeiten besonders eindrucksvoll, da es technisch keine Grenze für die Repräsentation des Wunders und des Traums mehr gebe. Isabel Maurer Queipo beschreibt die surrealistischen Fallgruben in Pedro Almodóvars Entre tinieblas, die Auflösung der Grenzen zwischen Unbewusstem und Bewusstem, zwischen Traum und Realität. Sie zeigt auf, inwiefern Almodóvar mit Verfahrensweisen wie Überblendungen, disparaten (Schock-)Montagen im Ton-/Bild-Bereich exemplarisch surrealistische Themenfelder weiterführt. Vera Schröder rückt in ihrem Beitrag zu David Lynchs Lost Highway neben dem Traummotiv die Bedeutung des Unbewussten in den Vordergrund, welches durch das Medium Film besonders prägnant wiedergegeben werden kann. Das Hineindriften der Normalität ins Abstruse und Unterbewusste lasse, so Schröder, das Gefühl des Unbehagens und der Irritation aufkommen, welches schließlich dem Film seinen alptraum-

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haften Charakter verleiht. Justyna O. Cempel fokussiert in ihrem Beitrag die Bedeutung der Sinne, die in Pans Labyrinth synästhetisch vorgeführt werden. Dabei deckt sie insbsondere die Auflösung der Grenzen zwischen dem Sichtbaren und scheinbar Unsichtbarem, zwischen der grausamen Banalität des Krieges und der Welt der Imagination auf. Durch die Vermischung der beiden Wahrnehmungsmodi entstehen Schnittstellen, die surreale Atmosphären im Film generieren. Das Träumen fungiert hier als Überlebensstrategie. Eine weitere bedeutende Rolle bei der Verbindung von Surrealismus und Film spielen die kulturanthropologischen Aspekte, zählte doch die primitive, indigene Kunst, die Frage nach (kultureller) Identität, nach dem Normalen und Exotischen zu den bevorzugten Themen der Surrealisten, die die außereuropäischen Kulturen für ihre Wissenschafts- und Vernunftkritik nutzten. Petra Lange-Berndt zieht in ihrem Beitrag gleichsam eine Verbindung zwischen Kulturanthropologie und Postmoderne, beleuchtet am Beispiel von Jim Jarmuschs Dead Man die Beziehung zwischen indigener und amerikanischer Kultur. Dabei wird gleichzeitig die (surreale) Traumästhetik des Filmes betrachtet und ein Vergleich mit den Bildstrategien surrealistischer Filmexperimente unternommen. Beatrice Schuchardt geht in ihrer Analyse von Julie Taymors Frida auf die Wechselbeziehungen zwischen Mexiko, den USA und Europa ein. Es gehe vor allem um die „Exotisierung Kahlos durch das Hollywood-Kino“ und die „nicht minder exotistische Vereinnahmung Kahlos durch die Surrealisten Breton und Duchamp“. Dabei veranschaulicht auch Schuchardt die Möglichkeiten der filmischen Verfahren, die zur Umsetzung surrealer Ästhetik dienen. In Anlehnung an Alejo Carpentier fokussiert Gerhard Wild in seiner Studie über Werner Herzog so genannte „Sprachgebärden zur Begründung lateinamerikanischer Identität im Zeichen seiner privaten Mythologie einer ‚wunderbaren Wirklichkeit‘“. Immer wieder tauchen in Herzogs Filmen Einschreibungen einer coincidentia oppositorum auf, die die Freude der Surrealisten an der ars combinatoria, der Kombination unvereinbarer Gegensätze, ins Gedächtnis rufen. Diese discordia concors macht Wild u.a. an der Unvereinbarkeit amerikanischer Natur und spanischer Kultur fest. In seiner Studie über die surrealen Milleniumsbilder in Roy Anderssons Songs from the second floor hebt Michael Lommel die Charakteristika des Episodenfilms und deren Verflechtung mit dem Surrealen hervor, welches nach Lommel als ästhetisches Verfahren in jedem Film(-genre) vorkommen könne. Dabei untersucht er die zwei räumlichen Grundformen des Films, die von Edward Hopper inspirierten Interieurs und die Nicht-Orte im Sinne von Chion und Augé, d.h. die Durchgangsorte der Unverbindlichkeit, der Mobilität, Anonymität und Funktionalität der Gesellschaft. Bei anderen Beiträgen zu Surrealismus und Film steht die filmische Montage als Fortführung der surrealistischen/avantgardistischen Collageexperimente im

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Einleitung

Mittelpunkt. Damit verbunden ist die Freude an der Manipulation und die von Eisenstein so bezeichnete ‚Montage der Attraktionen‘, die synästhetische Kombination sinnlicher, akustischer und optischer Reize. Andrea Dilcher zeigt in ihrem Beitrag „Imagination in Prospero’s Books“ die Inszenierung eines „strengen mehrfädigen Diskurses über Imagination und Medialität“ auf, der an die Kraft der Imagination appelliert, die an Formen wie Töne, Bilder und Worte gebunden sei. Sie bezeichnet Prospero’s Books als filmisches Experiment und intermediales Verweisspiel, „indem alle Künste und Medien zitiert, collagiert und durch filmische Montage miteinander verwoben werden.“ Heinz-B. Heller verweist auf die zunächst überraschende Verbindung zwischen dem Werk von Orson Welles und dem Surrealismus. Die wesentlichen „Affinitäten seiner Praxis zu surrealistischen Axiomen“ erscheinen dann in Bezugnahme auf „Aspekte einer operativen Ästhetik“ in einem besonderen Licht: In Welles’ Film F for Fake wird die von den Surrealisten geschätzte Magie des Zauberkünstlers und Filmpioniers Georges Méliès aktualisiert. Der Film vergegenwärtige und verkörpere beide Modi des Filmischen – das Dokumentarische und das Illusionistisch-Imaginäre. Kerstin Küchler wiederum sieht vor allem der ars combinatoria von Jean-Luc Godard Spuren des Surrealismus. Dabei bezieht sie sich besonders auf Hans Holländer, Gilles Deleuze und Michel Foucault. Küchler hebt dabei die dem spielerischen, kombinatorischen Prinzip generell inhärente surrealistische Lust hervor, die ‚Ordnung der Dinge‘ in ihrer logischen Vereinbarkeit zu unterwandern und so bestimmte kognitive Mechanismen als kulturell spezifisch zu offenbaren. Wie Kirsten von Hagen betont, adaptiert JeanPierre Jeunet in seinen Filmen das intermediale Experimentieren als Spiel- und Kunstform des Surrealen im digitalen Zeitalter. Besonders die Verfahren der Collage/Montage erscheinen in Die fabelhafte Welt der Amélie immer wieder selbstreflexiv als Strategien des Films und zugleich als mise-en-abyme des erzählerischen Prinzips selbst. I.M.Q. *** Die Publikation ist aus dem Workshop Surrealismus und Film hervorgegangen, der am 14. und 15. Dezember 2006 im Rahmen des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs „Medienumbrüche“ an der Universität Siegen veranstaltet wurde. Wir bedanken uns bei den Vortragenden, den Autorinnen und Autoren für die Beiträge, ferner bei Justyna O. Cempel, Anneli Fritsch, Gesine Hindemith, Georg Rademacher, Nanette Rißler-Pipka und Andrea Stahl für ihre Hilfe bei der Tagungsorganisation und der Einrichtung der Publikation. Michael Lommel/Isabel Maurer Queipo/Volker Roloff Siegen, im März 2008

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Nicola Glaubitz

Medienexperimente nach den Avantgarden Kernpunkt der folgenden Überlegungen ist die Frage nach der Vergleichbarkeit der Avantgarden nach 1900 mit aktuellen massenmedialen Angeboten, insbesondere im kommerziellen Kino. Es ist strittig, ob man unter den Bedingungen massenmedialer Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts noch von Avantgarden sprechen kann. Auch im Kunstbetrieb scheint die Rede von Avantgarden gelegentlich ununterscheidbar vom Anpreisen neuester Modetrends. Seit die künstlerischen Avantgarden der 1910er bis 1930er Jahre aus gegenwärtiger Perspektive als Medienavantgarden neu- und wiederentdeckt wurden, hat sich diese Diskussion allerdings auf ein neues Feld verlagert.1 Meine spekulative, vorwiegend diskursund problemgeschichtliche Skizze erprobt im Folgenden die Möglichkeiten dieser Perspektive für die Frage der Aktualität avantgardistischer Bewegungen und schlägt den von Jochen Venus in die Diskussion gebrachten Begriff Medienexperiment als alternative Suchmaske vor.2

1.

Avantgarden – Medien

Was rückt ins Blickfeld, wenn man die Perspektive auf die historischen Avantgarden durch den Zusatz ‚Medien‘ definiert, und welcher Medienbegriff kommt dabei ins Spiel? Zunächst einmal weitet der Zusatz ‚Medien‘ (im Sinne technischer Medien) den Avantgardebegriff über die traditionellen Einzelmedien Literatur und bildende Kunst hinweg aus. Er bezieht etwa experimentelle Musik und Experimentalfilm aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die

1

Positionen zum Ende der Avantgarden vertreten Bürger: Theorie der Avantgarde, und Buchloh: Neo-Avantgarde and Culture Industry. Zum Konzept der Medienavantgarden vgl. Fürnkäs/Izumi/Pfeiffer/Schnell (Hrsg.): Medienanthropologie und Medienavantgarde.

2

Vgl. Venus: „Kontrolle und Entgrenzung. Überlegungen zur ästhetischen Kategorie des Experiments“, S. 33, 40. Die Systematik des Experimentbegriffs entfaltet Venus in: Masken der Semiose, S. 318, 305. Er versteht hier Erzählung, Spiel und Experiment als Grundkategorien, in denen mediale Formen, Formate und Angebote verwirklicht werden. Die grundlegende Unterscheidung zwischen Erzählung (als dargestellte Handlung) und Spiel (als Handlung der Darstellung) wird durch die experimentelle ‚Markierung als…‘ geleistet. – Recht unsystematisch gebraucht den Begriff Ditschek: Politisches Engagement und Medienexperiment.

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Diskussion mit ein und deutet die Möglichkeit an, auch neuere Phänomene der ‚Medienkunst‘ – Videokunst, Kunst mit Computern – einzuschließen.3 Mit Medien sind hier ‚Materialitäten der Kommunikation‘4 gemeint, deren Qualitäten, Differenzen und Geschichte die Avantgardebewegungen zum Ausgangspunkt ihrer Reflexionen über die Institution Kunst machten. Verweise auf die Materialität künstlerischer Artefakte verwendeten etwa Dadaisten und Surrealisten auf unterschiedlichen Ebenen für Angriffe auf die bürgerliche Institution Kunst: Wenn Zeitungsfetzen, Fundstücke, Alltagsgegenstände und Groschenheft-Illustrationen in Collagen von Kurt Schwitters und Max Ernst oder in Form von readymades bei Marcel Duchamp auftauchen, sprengen sie als Inbegriffe industriell hergestellter Gebrauchs- und Konsumgegenstände das traditionelle Verständnis künstlerischer Originalität. Die Reduktion von künstlerischen Artefakten auf ihre ‚nur‘ materielle Basis, die sich etwa in dadaistischen Lautgedichten findet, verweist auf die Arbitrarität der ideellen und ökonomischen Wertschätzung von Kunst und stellt die institutionellen Bedingungen dieser Wertungen heraus. Auch formalistisch ausgerichtete Künstler aus dem Umfeld des Konstruktivismus und seit den 1940er Jahren bei Vertretern der amerikanischen Moderne interessieren sich für die materialen Qualitäten von Film, Malerei und Skulptur (Licht/Dunkel, Fläche, Farbe, Raum). Die Entdeckung der Materialität der Kunst ist hier kein Argument für die Fragwürdigkeit und Obsoletheit der gesellschaftlichen Institution ‚Kunst‘. Das immer genauere Herausarbeiten von ‚Medienspezifiken‘ – etwa nichtmimetische Arrangements von Farbe, Form und Fläche als Spezifika der Malerei – betrachteten viele abstrakt arbeitende Künstler und Kunstkritiker wie Clement Greenberg als historische Entwicklungslogik der Kunst. Die Auflösung des bürgerlichen Kunstbegriffs und ihrer Institutionen in eine neue Lebens- und Gesellschaftsform stand daher für die Künstler der Moderne nicht zur Debatte, sondern eine historisch informierte, reflektierte Arbeit an der Weiterentwicklung künstlerischer Positionen.5

3

Vgl. Bäumer: „Medien der Avantgarden – Avantgarden der Medien?“.

4

Vgl. Pfeiffer: „Materialität der Kommunikation?“.

5

Vgl. Greenberg: „Avant-Garde and Kitsch“. Zur Auffassung von ‚Medium‘ als künstlerischem Arbeitsmaterial samt der traditionellen Regeln seiner Verwendung vgl. Krauss: „A Voyage on the North Sea.“, S. 53. Zu Problemen unterschiedlicher Medienspezifikbegriffe vgl. Carrol: „Medium Specifity Arguments and Self-Consciously Invented Arts: Film, Video and Photography“. Karlheinz Barck macht darauf aufmerksam, dass der modernism eine strikte Abgrenzung von der Massenkultur suchte, während die früheren europäischen Avantgarden (insbesondere der Surrealismus) und Nachkriegsbewegungen wie Neodada und Pop Art sich ihr gegenüber aufgeschlossen zeigten. Vgl. Barck: „Avantgarde“, S. 569.

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Mit dem Begriff ‚Medien‘ artikuliert sich im späteren 20. Jahrhundert allerdings auch eine Neuverortung von kulturellen Artefakten, Zeichen und Praktiken. Sie werden als Elemente einer Gesellschaft aufgefasst, die plural, technologiebasiert, global und systemisch begriffen wird. Medien sind nicht länger wie die traditionellen Künste als Elemente von Kultur oder Zivilisation zu sehen, das heißt als integrale Bestandteile einer lokalen, nationalstaatlichen, organischen, perfektiblen und humanzentrierten Gesellschaft.6 Medienproduktion fiel – auch bevor sie so bezeichnet wurde – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch ihre Reproduzierbarkeit (Benjamin), durch die Verwendung autographischer Aufzeichnungstechniken und durch ihre Standardisierung und Industrialisierung (Horkheimer/Adorno) als neu und problematisch auf. Die Reaktionen der Avantgardebewegungen auf den Bedeutungszuwachs populärer und massenattraktiver Angebote waren heterogen. Das Aufgreifen populärer bis vulgärer Formen – etwa der pornographischen Postkartenfragmente und Illustrationen bei Max Ernst – geschah in provozierender Absicht, aber auch in der Hoffnung, Anschluss an eine offenbar ‚vitalere‘ Volkskultur zu finden.7 André Breton und seine Freunde, die abends verschiedene Kinovorstellungen aufzusuchen und jeweils nur kurze Filmfragmente anzuschauen pflegten, suchten in der populären Massenunterhaltung ungewöhnliche, bewegende Bilderlebnisse.8 Surrealistische Filmemacher waren an der konnotativen Dimension des Kinos der 1900er und 1910er Jahre interessiert, an seiner Aura des Anstößigen, Transgressiven, Primitiven und Melodramatischen. Positionen, welche die systematische Massenproduktion von Unterhaltungs- und Konsumgegenständen in Verbindung mit politischen Utopien explizit begrüßen (und nicht als nostalgische Suche nach Elementen der Volkskultur begreifen), finden sich in Futurismus und im russischen Konstruktivismus.9 Andere Avantgardekünstler suchten möglichst großen Abstand zur Massenkultur zu gewinnen: Den deutschen Experimentalfilmern Eggeling, Richter und Ruttmann dagegen schwebte in den 1920er Jahren mit dem ‚absoluten Film‘ ein von Narration gereinigtes, formales, rein visuelles, seine technischen Rahmenbedingungen reflektierendes Kino vor, das als Kunstform erst noch zu nobilitieren war. 6

Vgl. Venus: „Maskenwechsel der Semiose. Überlegungen zum Konzept medienhistorischer Umbrüche.“, S. 67.

7

Vgl. dazu und zum Unterschied populärer bzw. volkstümlicher Kultur und Massenkultur Herlinghaus: „Populär/volkstümlich/Popularkultur“, S. 833-836, S. 866870.

8

Vgl. Matthews: Surrealism and Film, S. 1f.

9

Vgl. Adaskina: „Die Rolle der Wchutemas in der russischen Avantgarde“, sowie andere Beiträge in diesem Katalog.

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Eine medienorientierte Perspektive konturiert also erneut die Heterogenitäten und Widersprüchlichkeiten der Strömungen, die als historische Avantgarden zusammengefasst werden, und lässt vor allem die unterschiedlichen Hoffnungen deutlich werden, die sie mit einer massenmedial geprägten Kultur verbanden.10 Für Peter Bürger sind die programmatischen Positionen der Avantgardebewegungen zur kommerzialisierten Massenkultur jedoch nicht nur heterogen, sondern grundlegend paradox. Die angestrebte Kontaktaufnahme mit breit akzeptierten, ästhetischen Erlebensformen, d.h. die Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis ist, so Bürger, in einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft prekär: Die elitäre, autonome Position der bürgerlichen Kunst aufzugeben wäre gleichbedeutend mit einer Immersion in den Markt der Massenkultur und mit dem Verlust kritischer Distanz zu ihr. Der Rückzug auf einen autonomen Status fiele dagegen hinter das bereits erreichte Reflexionsniveau der Avantgarden über die historische und institutionelle Bedingtheit der Kunst des 19. Jahrhunderts zurück.11 Auch wenn sich die Programme der Avantgarden gegenwärtig weder aufgeben noch jemals verwirklichen lassen (so Bürger im Jahr 2001), bietet ein sich als autonom beschreibendes Kunstsystem zumindest Spielraum für die Inszenierung einer Dialektik von Auratisierung und Entauratisierung.12 Auch Benjamin Buchloh unterscheidet zwischen historischen und Neoavantgarden. Richtungen wie Minimal und Concept Art seien zwar nicht als Erben der historischen, politisch orientierten Avantgarden zu sehen, setzten deren Projekte aber zumindest auf ästhetischer und kunstreflexiver Ebene fort. An einer Situation, die von „mutually exclusive forces of artistic production and of the culture industry“13 beherrscht sei, könnten sie wenig ändern. Während Bürger und Buchloh über die Möglichkeit avantgardistischer Kunst als Alternative zu einer kommerzialisierten Massenkultur, aber auch unter Bedingungen eines marktförmigen Kunstbetriebs (Buchloh) nachdenken, ist seit den 1970er Jahren auch der Transfer künstlerisch-avantgardistischer Elemente in massenattraktive Unterhaltungsangebote auf Interesse gestoßen. Auch in diesem Sinne kann man ‚Medienavantgarden‘ verstehen und als impliziten Suchbegriff z.B. in dem bekannten Essay „Cross the Border – Close the Gap“14 (1969) des amerikanischen Kritikers Leslie Fiedler ausmachen. Fiedler hatte angesichts avantgardistisch anmutender Tendenzen in Rockmusik, Film 10 Das betont Bäumer: „Medien der Avantgarden – Avantgarden der Medien?“, S. 67. 11 Vgl. Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 68. 12 Der Begriff ‚Avantgarde‘ solle jedoch für historischen Bewegungen reserviert bleiben, vgl. Bürger: Das Altern der Moderne, S. 189-191. 13 Buchloh: Neo-Avantgarde und Culture Industry, S. xxiii, xxiv. 14 Fiedler: „Cross the Border – Close the Gap“.

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und Comic gefordert, auch massenproduzierten ästhetischen Artefakten formale und reflexive Finesse zuzugestehen. Andreas Huyssen sieht in Gegenständen, die im Anschluss an Fiedler und andere bald unter dem Terminus ‚Postmoderne‘ diskutiert wurden, die eigentliche Fortsetzung der klassischen Avantgarden. Filme, Romane oder Musikstücke, die trotz ihres ‚populären‘ Charakters nicht als massenkonfektionierte Unterhaltung klassifizierbar sind oder die stilistische und formale Strategien der klassischen Avantgardekunst aufgreifen, besetzen Huyssen zufolge einen Bereich zwischen den nach wie vor fest etablierten Bereichen der Massenunterhaltung und des Kunstsystems und stellen die Konventionen beider in Frage.15 Wie der Avantgardebegriff impliziert der Postmodernebegriff allerdings eine problematische Zeitschematisierung und Abgrenzungsbewegung. Überbietung, Radikalisierung, Innovation und Traditionsbruch gehörten wesentlich zur Selbstbeschreibung der Avantgarden; als dauerhafte Vorgaben künstlerischer Gestaltung und Reflexion waren sie aber schwierig durchzuhalten und nicht auf Dauer überzeugend artikulierbar. Roland Barthes kritisierte die Avantgardeprogramme außerdem wegen ihrer „parasitären Bindung an die bürgerliche kulturelle Ordnung“16. Die Vorstellung einer Überwindung der Moderne führt das Eingeständnis mit, sich nur negativ (in Abhebung von einer überwundenen Epoche) definieren zu können, aber noch nicht über eine positive Selbstdefinition zu verfügen. Als Element gesellschaftlicher oder auf ästhetischer Selbstbeschreibung hat sich ‚Postmoderne‘ daher nicht breit durchsetzen können. Huyssens Überlegung, mit dem Postmodernebegriff einen Gegenstandsbereich zwischen Kunstsystem und Massenmedien als Fortsetzung historischer Avantgardestrategien anzuvisieren, versucht diesen Schwierigkeiten zwar zu begegnen, hat die allgemeinen Konnotationen des Begriffs aber nicht entsprechend ändern können. Unverfänglicher und treffender könnte man diesen Beschreibungsinteressen mit dem Begriff Medienexperiment entgegenkommen.

15 Vgl. Huyssen: „Postmoderne – eine amerikanische Internationale?“, S. 21, 24f.; diese Argumente aufgreifend: Friedberg: Window Shopping. Cinema and the Postmodern, S. 162. 16 Zit. in: Barck: „Avantgarde“, S. 572.

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2.

Medien – Experiment

Um 1900 wenden sich Künste und Literatur verstärkt ihrer Medialität zu, und die (historische) Reflexion von Material und Darstellungskonventionen wird zum festen Bestandteil der künstlerischen Praxis und der künstlerischen Selbstbeschreibung (z.B. in Manifesten). Die neuen Strategien und Verfahren, die entwickelt werden, um traditionelle Vorstellungen singulärer, inspirierter Originalwerke zu erweitern oder zu befragen, wurden und werden in Anlehnung an naturwissenschaftliche Praxis oft als experimentell bezeichnet.17 Warum ‚Experiment‘ in vielen Kontexten nahezu synonym mit ‚Avantgarde‘ verwendet werden kann, verdeutlichen die Überlegungen des Phänomenologen Bernhard Waldenfels. Er ordnet künstlerische Experimente einer allgemeineren Klasse von ‚Wirklichkeitsexperimenten‘ zu, die Gedankenexperimente umfasst, aber auch andere Anlässe, die Wahrnehmungsgewohnheiten zur Frage stellen – z.B. medizinische Pathologien, Kunst und Medientechnik. Mit den Experimentreihen im naturwissenschaftlichen Sinne teilen Wirklichkeitsexperimente die Eigenschaft, künstlich herbeigeführte, kontrollierte, auf bestimmte Erwartungen hin angeordnete Erfahrungsanlässe zu sein, bei denen dem Zufall oder der Überraschung jedoch Raum gewährt wird.18 Anders als naturwissenschaftliche Experimente aber haben sie nicht die Funktion, Hypothesen über Empirie zu stützen. Sie unterziehen vielmehr, so Waldenfels, die Erfahrungsstruktur selbst einem Test und machen sie wahrnehmbar.19 Künstlerische Experimente oder Medienexperimente wären also eigens geschaffene Gelegenheiten, welche die gewohnten Bedingungen und Strukturen des Sehens, des Hörens, des Sinnkonstruierens oder Erzählens zur Aufmerksamkeit bringen. Auf eben solche Strukturunterbrechungen setzten die historischen Avantgarden, indem sie zugleich neue künstlerische Wahrnehmungsangebote und veränderte Denkangebote über Kunst lancierten. Die Herkunft des Begriffs und der Experimentalpraxis aus den Naturwissenschaften war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert für Künstler(gruppen) auch aufgrund des Prestiges dieser Wissenschaften interessant. Es ging darum, an diesem Prestige teilzuhaben oder sich zu ihm zu positionieren, indem man wissenschaftliche Praktiken erprobte.20 Adornos Skepsis gegenüber dem künstlerischen Experiment verdeutlicht die Problematik dieser naturwissenschaftlichen Herkunft für ein idealistisches Kunstverständnis des 19. 17 Einen Überblick geben die Beiträge in Schmidt: Das Experiment in Literatur und Kunst. 18 Vgl. Waldenfels: Grenzen der Normalisierung, S. 224f. 19 Ebd., S. 225. 20 Vgl. Barck: „Avantgarde“, S. 559.

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Jahrhunderts, aber auch indirekt das ‚antikünstlerische‘ Provokationspotential, das daraus für die Avantgarden entstehen konnte.21 Adorno hebt hervor, dass vor allem das serielle, methodische Durchprobieren, das Erzeugen von minimalen Varianten ein und derselben Versuchsanordnung, quer zu den Kernelementen künstlerischer Praxis im 19. Jahrhundert liegt. Diese Praxis zielte auf die Einzigartigkeit des Artefakts und auf die Absichtlichkeit des erzielten Effekts ab. Experimentelles Arbeiten gefährdet, wenn man Adornos Argumentation folgt, die Autonomie des künstlerischen Subjekts und liefert es ‚der Heteronomie der Technologie‘ aus.22 In Gefahr ist damit auch das Ganzheitsversprechen des Kunstwerks, das zwar mit einem subjektiven Willensakt und mit individueller Phantasie begonnen wird, das aber in der prinzipiell fortsetzbaren Serie nicht zu einer Formorientierung und damit zu einem Hinweis auf Geschlossenheit kommt.23 Der Experimentbegriff konnte im Kunstdiskurs des 20. Jahrhundert daher (positive wie negative) ‚starke Evidenzeffekte‘ mobilisieren und wurde zur Selbstverständlichkeit; dennoch bleibt er, so Jochen Venus, eine inflationär gewordene „rhetorische Figur der Emphase“.24 Er ist nicht zur Grundlage einer Ästhetik des Experiments geworden und hat sich nicht als trennscharfer ästhetischer Reflexionsbegriff etablieren können, verweist aber symptomatisch auf den Evidenz- und Geltungsverlust der älteren Kategorie Kunst: „Diskursiv, so könnte man argumentieren, markiert die Rede vom ästhetischen ‚Experiment‘ den Ort der Kunst, nachdem die Kunst als Leitbegriff des ästhetischen Diskurses von den Medien abgelöst worden ist.“25 Das implizite oder auch begrifflich formulierte Interesse vieler Avantgardebewegungen, sich zu massenmedialer Produktion zu positionieren und Medialität als Materialität zu thematisieren, wirkt aus einer anderen Richtung an dieser Verschiebung mit. Was steht aber hinter dieser Verschiebung? Hängen Medienreflexion und Infragestellung des idealistischen Kunstbegriffs systematisch zusammen oder treffen sie nur zufällig aufeinander? Und was bedeutet das für den historischen und aktuellen Status der Avantgarden?

21 Adorno: Ästhetische Theorie, S. 42f. 22 Ebd., S. 43. 23 Ebd., S. 62f. 24 Venus: Masken der Semiose, S. 19f. 25 Venus: „Kontrolle und Entgrenzung“, S. 20, vgl. auch Jamesons Überlegung (Jameson: Postmodernism, S. 67), die älteren Begriffe von künstlerischen Formen und Genres sei (s.o.) durch den Medienbegriff ersetzt worden.

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3.

Wirklichkeitsbegriffe

Eine Annäherung an diese Fragestellungen ist über einen sehr allgemeinen Blick auf den historischen Zusammenhang von Wirklichkeitsbegriffen und Kunstreflexion möglich. Bis in die Antike hat Hans Blumenberg 1964 diesen Zusammenhang zurückverfolgt und ist dabei von der Hypothese ausgegangen, Kunst und die Diskurse über Kunst seien in westeuropäischen Kulturen diejenigen Orte, an denen der Wirklichkeitsbegriff einer Epoche manifest werde.26 In anderen Diskursen und Praktiken laufen Wirklichkeitsvorstellungen implizit und selbstverständlich mit; in Kunsttheorien jedoch werden sie artikuliert und diskutiert, da seit Platon immer wieder der Wahrheitsgehalt von Kunst zur Diskussion stand. Blumenberg stellt vier Wirklichkeitsbegriffe vor, die zwischen Antike und Moderne entstehen und nach ihrer Herausbildung auch koexistieren. In der Antike ist der Wirklichkeitsbegriff der unmittelbaren, ‚momentanen Evidenz‘ bestimmend; im Mittelalter etabliert sich ein Verständnis von Wirklichkeit als einer von Gott garantierten Realität. Für die Neuzeit relevant wird eine Vorstellung, die Wirklichkeit als prozessuale, in die Zukunft weiterlaufende Realisierung eines einstimmigen Kontextes begreift. [D]ieser dritte Wirklichkeitsbegriff nimmt Realität als Resultat einer Realisierung, als sukzessiv sich konstituierende Verläßlichkeit, als niemals endgültig und absolut zugestandene Konsistenz, die immer noch auf jede Zukunft angewiesen ist, in der Elemente auftreten können, die die bisherige Konsistenz zersprengen und das bis dahin als Wirklichkeit Anerkannte in die Irrealität verweisen könnten.27 Dieser Wirklichkeitsbegriff etabliert sich als Empirie mit den neuzeitlichen, experimentell vorgehenden und mathematisch abgesicherten Naturwissenschaften im 17. und 18. Jahrhundert. Er ist aber zugleich die Bedingung, unter der der Roman eine konsistente, perfektible fiktionale ‚Welt‘ entwerfen und diese glaubhaft machen kann, indem er den Strukturprinzipien der empirischen Wirklichkeitsauffassung folgt. Rüdiger Campe hat komplementär dazu präzisiert, dass Empirie ein neues Verständnis von Wahrscheinlichkeit voraussetzt und dass sich dieses im Roman und in den verschiedenen Verfahren der Wahrscheinlichkeitsrechnung konstituiert.28 Im 18. und 19. Jahrhundert wird frei-

26 Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, S. 10. 27 Ebd., S. 12f. 28 „Wahrscheinlichkeit war der Zugangsterm für eine um die Wissenschaften herum gelagerte wirkliche Welt, vor der sich die Wissenschaft mit ihren Allgemeinheits-

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lich weniger dem noch geringgeschätzten Roman als vielmehr dem (poetischen, malerischen, skulpturalen) Kunstwerk die Funktion der „wahren Wirklichkeitsprätention“29 zugeschrieben. Das Kunstwerk verkörpert, wie Hegels Formulierung vom ‚sinnlichen Scheinen der Idee‘ nahelegt, als Produkt künstlerischer Einbildungskraft und Gegenstand kontemplierender Rezeption auf paradoxe Weise – nämlich sinnlich-empirisch wahrnehmbar – den Bereich des nur Denkbaren und Möglichen, der Ideen. Blumenbergs vierter, für die Moderne ab ca. 1800 charakteristische Wirklichkeitsbegriff ist nur negativ bestimmt: als Paradoxie und als Verlust eines überzeugenden Begriffs von einstimmiger Totalität. Wirklichkeit wird nun auch von Verfahren und Diskursen einer wissenschaftlichen, technischen und industriellen Rationalität beglaubigt, die Subjekten nicht mehr unmittelbar zugerechnet werden müssen und können. Sie treten in funktional differenzierten Systemen nicht mehr als autonome Agenten oder als ‚ganzheitlich‘ angesprochene Adressaten auf. Der vierte Wirklichkeitsbegriff ist bei Blumenberg daher ein ‚gefühlter‘ Entzug von Sinnhaftigkeit und ein ‚Spüren‘ der Widerständigkeit gesellschaftlicher Realität.30 Zugleich, so Blumenberg, entsteht das Bewusstsein, „daß die Neuzeit nicht mehr die Epoche eines homogenen Wirklichkeitsbegriffes ist, […] daß die Herrschaft eines bestimmten […] Realitätsbewusstseins sich gerade in der Auseinandersetzung mit einer anderen schon formierten […] Möglichkeit, von Wirklichkeit betroffen zu sein, vollzieht.“31 Anknüpfungen an eine Vorstellung von Wirklichkeit als einer erst noch zu realisierenden Totalität finden sich in radikalisierter Form bei den politischen Avantgarden des 19. und bei den künstlerischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts wieder, etwa in sozialutopischen Programmen der Futuristen und der russischen Konstruktivisten, die eine ästhetisch beförderte Umgestaltung der Gesellschaft anstrebten. Auch der Surrealismus versteht sich keineswegs nur als Stilrichtung, sondern als umfassendere Lebenseinstellung und Weltanschauung.32 Mit den Bruchstellen des bürgerlichen Kunstkonzepts, das auf diesem Wirklichkeitsbegriff aufruht, spüren avantgardistische Strategien andererseits die paradoxe Widerständigkeit oder Widersinnigkeit moderner Realität auf aussagen und Argumentationsangeboten bewähren und rechtfertigen mußte.“ Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 7, vgl. S. 11. 29 Venus: Masken der Semiose, S. 28, mit Bezug auf Hegels Ästhetik. 30 Vgl. ebd., S. 32, Blumenberg: „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, S. 14. Vgl. zu einer Einschätzung des Verlustes überzeugender Selbstbeschreibungen im 19. Jahrhundert, den entsprechenden individuellen Reaktionen und ihren Problemen Luhmann: Soziale Systeme, S. 361f. 31 Blumenberg: „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, S. 14. 32 Vgl. Spies: „Einführung“, S. 20.

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und artikulieren sie. Dadaisten etwa dementieren jegliche Idealität, wenn sie ‚Kunst‘ auf Wortmaterial, Lautmaterial, Bildmaterial und Zeichenmaterial reduzieren. Die surrealistische Technik der Kombinatorik gaukelt mit überbordenden Bildkompendien zwar eine ikonographische Programmatik vor, unterläuft aber von vornherein deren erfolgreiche Realisierung oder Konzeptualisierung. Die Avantgardebewegungen befragen und verändern so den idealistischen Kunstbegriff und zielen damit auch auf den neuzeitlichen und modernen Wirklichkeitsbegriff. Inwiefern aber ist dafür ihr Interesse an Medialität und Medien konstitutiv? Mit den Vorgaben Blumenbergs und vieler Avantgardeforscher kommt man ja zwanglos zu diesem Resultat, ohne dass man den Medienaspekt überhaupt berücksichtigen müsste. Es gibt aber Argumente dafür, dass mit der Reflexion über Medialität und Medien ein weiterer Wirklichkeitsbegriff ins Spiel kommt und die Auseinandersetzung mit ihm ein integraler Bestandteil der Umbruchssituation um 1900 ist.

4.

Medien – Experimente – Avantgarden

Ich habe bisher einen Konnex zwischen Experimenten und Medien vernachlässigt, der sich in den Sozial- und Humanwissenschaften des 19. Jahrhunderts herausbildet.33 Auch in der Soziologie und in der experimentellen Psychologie begannen die Datenerhebung unter kontrollierten, wiederholbaren Bedingungen und Experimentreihen eine zentrale Rolle zur Sicherung empirischen Wissens zu spielen. Wie in den Naturwissenschaften wurden Daten statistisch ausgewertet. Empirie konstituiert sich hier über Mittelwerte und Normalverteilungskurven, die Aufschluss über das höchstwahrscheinlich Vorfindbare geben. In den Sozial- und Humanwissenschaften bürgert sich dafür der Begriff des Normalen ein. Wie Georges Canguilhem und Jürgen Link gezeigt haben, ist Normalität in diesem Sinne seit dem 19. Jahrhundert ein zentraler Wirklichkeitsbegriff. So taucht er etwa in der phänomenologisch inspirierten, aber auch kognitionswissenschaftlich gestützten Überlegung Waldenfels’ auf, dass Wirklichkeitserfahrung nur auf der Basis erlernter Normalitätsvorstellungen möglich sei. In Hans Blumenbergs Katalog von historischen Wirklichkeitsbegriffen fehlt Normalität allerdings, denn Blumenberg konzentriert sich allein auf Kunst und Kunstreflexion als Indikatoren für Wirklichkeitsbegriffe. Normalität ist freilich in seiner Konzeption selbst derjenige Wirklichkeitsbegriff, der selbstverständlich und unbefragt als Folie künstlerischer Praxis und Reflexion vorausgesetzt wird: Nicht nur die technisch-rational operationalisierte Empirie, sondern auch Normalität sind die expliziten Gegner vieler künstlerischer Strö33 Vgl. Pethes: Spektakuläre Experimente.

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mungen (einschließlich der Avantgarden). Ästhetische Artikulationen von Normalität gelten in den Reflexionen über Ästhetik im 20. Jahrhundert folgerichtig als Nichtkunst: als Produkte der massenmedialen Unterhaltungsindustrie, die nur affirmativ an Normalität anschließen und sie in ihrer Stabilisierung von Konventionen und Standards sogar normativ werden lassen.34 Erschien aus diesem Grund Massenkultur als das genaue Gegenteil von Kunst, so schien sie andererseits die Kunst auch durch ihre Reproduktion der avantgardistischen Schock- und Überbietungsstrategien aus einer ökonomischen Logik heraus zu bedrohen. Walter Benjamin bemerkte 1936 (ohne allerdings sehr um die Kunst zu bangen), der Film habe unabsichtlich das realisiert, was der Dadaismus begonnen habe.35 Er beschrieb auch die neuartige Beziehung zwischen Filmpublikum, Kameraapparatur und Schauspielern als Verhältnis des wechselseitigen Testens: Filmzuschauer bewerten die Leistung der Schauspieler vor der Apparatur, versetzen sich also gewissermaßen in das Kameradispositiv, anstelle sich in die Handlung einzufühlen; während umgekehrt die Filmvorführung eine taktile, auf Schocks und Reizflut eingerichtete Rezeptionshaltung einübt.36 Hier steht die Vorstellung des Reihenexperiments im Hintergrund, das dazu dient, in einer Testreihe Datenmengen zu sammeln, die dann statistisch ausgewertet und auf Mittelwerte gebracht werden. Benjamin geht es um Mittelwerte der Wahrnehmung und um eine Flexibilisierung dieses Mittelwertes durch Gewöhnung an Extreme. Benjamin deutet damit einen neueren Begriff von Normalisierung an, wie ihn Benno Wagner im Anschluss an Canguilhem und Foucault skizziert hat: Normalität, so Wagner, ist nicht als starre, unveränderliche Ordnung zu verstehen.37 Da Normalität lediglich auf der Differenz zwischen normal und anormal beruhe, und da diese Differenz nicht mehr ontologisch abgesichert und damit provisorisch sei, handele es sich um eine flexible, anpassungsfähige Form von Ordnung. Sie kann sich aus gegebenem Anlass verschieben. Etwas, das erst Anstoß erregt, kann ‚normal‘ werden. Wagner zeigt auch, dass Normalität sich deshalb nicht durch den Aus-

34 Nicolas Pethes hat kürzlich gezeigt, dass diese Annahme womöglich auch auf den Problembezug und die Forschungsmethoden der beginnenden Medienwissenschaft im frühen 20. Jahrhundert zurückzuführen war; man ging mit soziologischen Fragestellungen und empirischen Erhebungsmethoden vor und erfasste eben auch nur eindeutig quantifizierbare Phänomene. Vgl. Pethes: Spektakuläre Experimente, S. 19, 20, 34, 37. 35 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 37. 36 Ebd., S. 24f. 37 Wagner: „Normality/Exception/Counter-Knowledge“, S. 184.

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schluss des Anormalen konstituiert und legitimiert, sondern durch die Integration des Abweichenden.38 ‚Die Medien‘ als Produktions- und Distributionssysteme sind damit treffend als flächendeckend ökonomisch kalkulierte, auf einen oftmals empirisch erhobenen Massengeschmack zugeschnittene Angebote zu beschreiben, und ihrer Normalisierungslogik folgend werden spektakuläre und skandalöse Darstellungs- und Erzählmuster entweder zensiert oder aber imitiert, reproduziert und damit ebenfalls normalisiert. Aus der Einsicht in diese Zusammenhänge beziehen Kritiker wie Bürger und Buchloh ihre berechtigte Diagnose des Resonanzverlusts von avantgardistischen Experimenten innerhalb der ökonomischen Rationalität von Medien- und Kunstsystem. Wenn Buchloh und Bürger jedoch daraus auf den wechselseitigen Ausschluss der beiden Sphären Kunst und Kulturindustrie schließen,39 verkennen sie die vielfältigen Transfers zwischen diesen Bereichen und vor allem andere Möglichkeiten, diese Transfers zu konzeptualisieren. Entlang der Begriffe Medialisierung und Medien hatte ich solche Austauschbewegungen, die von Fiedler und Huyssen in anderen konzeptuellen Rahmen beobachtet wurden, skizziert. Sie lassen sich aber ebenso mit dem Suchbegriff ‚Experiment‘ erschließen. Benjamins Überlegungen verdeutlichen, dass auch kommerziell verbreitete Medienangebote wie Filme ‚experimentieren‘, das heißt die Wahrnehmungsgewohnheiten des Publikums auf die Probe stellen. Ebenso zeigen Zufallserfolge und überraschende Flops von Medienangeboten, dass ihre Akzeptanz nicht vollständig kalkulierbar und planbar ist (was eigentlich der Fall sein müsste, wenn sie statistische Durchschnittserwartungen abbilden würden). Wie das New Hollywood der 1970er Jahre gezeigt hat, erweitern sich in ökonomischen Krisensituationen der Unterhaltungsindustrie und im Rahmen institutioneller Umstrukturierungen zumindest temporär die Spielräume, in denen Regisseure durchaus kunstanalog und experimentell arbeiten können. Medienproduktion beinhaltet insofern experimentelle Momente, und ihre Strukturen bieten überdies Raum für individuell verantwortete Experimente.40 Der Begriff ‚Medienexperiment‘ kann daher diejenige Zone kultureller Produktion bezeichnen, in der die Rede von ‚Kunst‘ und ‚Avantgarde‘ in Anbetracht ihrer historischen Konnotationen nicht mehr zutreffend erscheint, die aber auch nicht den konsolidierten Genres massenattraktiver Angebote aufgehen.

38 Abweichung kann selbst Normalität werden oder aber korrigiert werden. Die Abweichung, das Außergewöhnliche oder Andere, löst selbst eine Kaskade von Renormalisierungsmaßnahmen aus, vgl. ebd., S. 183, 184. 39 Buchloh: Neo-Avantgarde und Culture Industry, S. xxiii. 40 Vgl. etwas skeptischer Venus: Masken der Semiose, S. 40.

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Damit ist freilich nur eine ungefähre Verortung heterogener Medienangebote angedeutet. Aber diese Allgemeinheit und Offenheit ist beabsichtigt, denn sie soll zunächst nur einen Rahmen für weitere Differenzierungsschritte abgeben. Viele davon sind bereits getan worden. Vor allem der Gegenstand Film, der bereits den historischen Avantgarden Anlass zu eingehenderen Auseinandersetzungen mit Medien und Medialität gab,41 provozierte in seinen zwischen ‚Kunst‘ und ‚Kommerz‘ changierenden Ausprägungen solche neuen Konzeptualisierungs- und Differenzierungsversuche. David Bordwells Versuch beispielsweise, beherrschende Filmstile bis in die 1960er Jahre – den klassischen Hollywoodstil, das russische Montagekino und das europäische Avantgardekino – wesentlich aus ökonomischen und institutionellen Bedingungen herzuleiten, stößt an Grenzen: Eine Reihe von Regisseuren – er nennt Ozu, Mizoguchi, Dreyer und Bresson – passen nicht in diese Kategorien. Nicht ohne Unbehagen subsumiert Bordwell ihre Filme in der Sammelkategorie parametric narration.42 Filme dieser Kategorie arbeiten mit narrativen und visuellen Redundanzen, die den Film leicht als Erzählung verstehbar und insofern ‚konventionell‘ machen. Dennoch drängen sich in der Inszenierung immer wieder selbstzweckhafte ästhetische Stilelemente in den Vordergrund, die keinem etablierten Filmstil zuzuordnen sind. In Bressons Filmen etwa findet sich eine Vorliebe für Nahaufnahmen von Händen. In Pickpocket sind diese Aufnahmen zwar diegetisch motiviert, das Ausmaß ihrer Präsenz ist aber nicht durch ihre Funktion gedeckt. Solche Elemente nennt Bordwell Parameter, die von einzelnen Regisseuren selbst gesetzt worden sind. Parametrische Strukturen schärfen die Wahrnehmung und die Aufmerksamkeit für die ästhetische Gestaltung, fungieren aber nicht als Bedeutungsträger. Die Auswahl der Parameter ist nicht durch ökonomische oder institutionelle Rahmenbedingungen motiviert und auch nicht als Konventionsbruch verstehbar. Parametric narration wäre ein Beispiel für Medienexperimente, wenn man Medienexperimente über ihre Nichtabsorbierbarkeit in die flexiblen Normen anderer Stile und Konventionen bestimmt: Gerade weil sie nicht mit offensiven Konventionsbrüchen arbeiten und sich Konventionen mimetisch angleichen, gelingt es ihnen, ästhetische Normalisierungsprozesse subtil zu unterlaufen.43 Bordwells parametric narration ist dabei durchaus an avantgardistischen, forma41 Vgl. Friedberg: Window Shopping, S. 162. 42 Bordwell: Narration in the Fiction Film, S. 274f. 43 Dass in mimetischen Prozessen mehr subversives Potential steckt als z.B. Buchloh annimmt (Neo-Avantgarde und Culture Industry, S. xxiii), zeigt Michael Taussig am Beispiel von Kulturkontakten, in denen das Nachahmen von Fremdem die Voraussetzung dafür ist, (kritische) Distanz zu seinen Dominanzansprüchen zu gewinnen. Vgl. Taussig: Mimesis and Alterity, S. 19.

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listischen Strategien modelliert. Sie umfasst Beispiele einer mehr oder minder radikalen Reduktion von ästhetischen Parametern. Sinnverweigerung ergibt sich wie im strukturalen Film und Theater oder in der Farbfeldmalerei aus einer Verknappung darstellerischer Mittel.44 Kristin Thompson macht mit ihrem Begriff des ‚Exzesses‘ oder Überschusses auf entgegengesetzte, medienexperimentelle Strategien der Überfrachtung des filmisch-visuellen Feldes mit Information aufmerksam, die unklare oder fehlende Anweisungen für stilistische Musterbildung enthält, aber dennoch die Aufmerksamkeit und Interpretationsbereitschaft des Zuschauers aktiviert.45 Das Echo surrealistischer Verfahren ist hier, obwohl Thompson es nicht explizit macht, durchaus vernehmbar. Der Surrealismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnet sich durch seine Distanz zu den beherrschenden Trends der Abstraktion und Verknappung bedeutungstragender Elemente in der Kunst aus. Stattdessen verdichteten surrealistische Künstler verfügbares Bild- und Textmaterial aus allen möglichen kulturellen Bereichen und historischen Epochen. Vergleichbare Strategien lassen sich durchaus im sogenannten postklassischen oder postmodernen Kino der 1990er Jahre finden.46 Wo dort – und im früheren europäischen Avantgardekino – auf dieser Basis surreale Momente und surrealistische Effekte auszumachen wären, ist aber die Sache konkreter Einzelanalysen.

Literaturverzeichnis Adaskina, Natalja: „Die Rolle der Wchutemas in der russischen Avantgarde“ in: Die große Utopie. Die russische Avantgarde 1915-1932, Katalog, Kunsthalle Schirn, Frankfurt 1992, S. 81-93. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie [1970], hrsg. von Adorno, Gretel/Tiedemann; Rolf, Frankfurt a. M. 1993. Barck, Karlheinz: „Avantgarde“, in: ders. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, S. 544-576. Bäumer, Rolf M.: „Medien der Avantgarden – Avantgarden der Medien?“ in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 36, Heft 142 (2006), S. 69-87. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1977. 44 Bordwell: Narration in the fiction film, S. 289. 45 Vgl. Thompson: „The Concept of Cinematic Excess“, S. 491f. 46 Vgl. Distelmeyer: „Die Tiefe der Oberfläche“ und Eder: „Die Postmoderne im Kino“.

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Blumenberg, Hans „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Jauß, Hans Robert (Hrsg.): Nachahmung und Illusion, München 1964, S. 9-27. Bordwell, David: Narration in the Fiction Film, London 1985. Bürger, Peter: Das Altern der Moderne, Frankfurt a.M. 2001. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974. Buchloh, Benjamin: Neo-Avantgarde and Culture Industry, Cambridge, Mass. 2000. Campe, Rüdiger: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002. Carrol, Noël: „Medium Specifity Arguments and Self-Consciously Invented Arts: Film, Video and Photography“, in: Millenium Film Journal, Nr. 14/15 (1984/85) S. 127-153. Distelmeyer, Jan: „Die Tiefe der Oberfläche. Bewegungen auf dem Spielfeld des postklassischen Hollywoodkinos“, in: Eder, Jens (Hrsg.): Oberflächenrausch. Postmoderne und Postklassik im Kino der 90er Jahre, Münster/Hamburg/London 2002, S. 63–95. Ditschek, Eduard: Politisches Engagement und Medienexperiment. Theater und Film der russischen und deutschen Avantgarde der zwanziger Jahre, Tübingen 1989. Eder, Jens: „Die Postmoderne im Kino. Entwicklungen im Spielfilm der 90er“, in: ders. (Hrsg.) Oberflächenrausch. Postmoderne und Postklassik im Kino der 90er Jahre, Münster/Hamburg/London 2002, S. 9–61. Fiedler, Leslie: „Cross the Border – Close the Gap“ (1969; 1970) in: ders., Cross the Border – Close the Gap, New York 1972, S. 61–85. Friedberg, Anne: Window Shopping. Cinema and the Postmodern, Berkeley/Los Angeles/London 1994. Fürnkäs, Josef/Izumi, Masato/Pfeiffer, Karl Ludwig/Schnell, Ralf (Hrsg.): Medienanthropologie und Medienavantgarde. Ortsbestimmungen und Grenzüberschreitungen, Bielefeld 2005. Greenberg, Clement: „Avant-Garde and Kitsch“ [1939], in: The Collected Essays and Criticism. Perceptions and Judgments, 1939–1944, Bd. 1., hrsg. von O’Brian, John, Chicago/London 1988, S. 5-22. Herlinghaus, Hermann: „Populär/volkstümlich/Popularkultur“ in: Barck, Karlheinz (Hrsg.) Ästhetische Grundbegriffe Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000.

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Huyssen, Andreas: „Postmoderne – eine amerikanische Internationale?“ in: ders./Scherpe, Klaus R. (Hrsg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek 1986, S. 13-44. Jameson, Fredric: Postmodernism, or The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991. Krauss, Rosalind: „A Voyage on the North Sea.“ Art in the Age of the PostMedium Condition, London 1999. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1996. Matthews, J.H.: Surrealism and Film, Ann Arbor 1971. Pethes, Nicolas: Spektakuläre Experimente. Allianzen zwischen Massenmedien und Sozialpsychologie im 20. Jahrhundert, Weimar 2004. Pfeiffer, Karl Ludwig: „Materialität der Kommunikation?“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M., 1988, S. 15-28. Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.): Das Experiment in Literatur und Kunst, München 1978. Spies, Werner: „Einführung“, S. 14-40 in: Surrealismus 1919-1944, Katalog, K20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2002. Taussig, Michael: Mimesis and Alterity. A Particular History of the Senses, New York/London 1993. Thompson, Kristin: „The Concept of Cinematic Excess“ [1981], in: Braudy, Leo/Cohen, Marshall (Hrsg.): Film Theory and Criticism: Introductory Readings, New York/Oxford 1999, S. 487-498. Venus, Jochen: „Maskenwechsel der Semiose. Überlegungen zum Konzept medienhistorischer Umbrüche.“ in: Navigationen, Jg. 6, H. 1 (2006), S. 7184. Venus, Jochen: „Kontrolle und Entgrenzung. Überlegungen zur ästhetischen Kategorie des Experiments“, in: Krause, Marcus/Pethes, Nicolas (Hrsg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 19-40. Venus, Jochen: Masken der Semiose (Diss.), Siegen 2005. Wagner, Benno: „Normality/Exception/Counter-Knowledge“, in: Featherstone, Mike/Lash, Scott/Robertson, Roland (Hrsg.): Global Modernities, London/Thousand Oaks/New Delhi 1995, S. 178-191.

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Waldenfels, Bernhard: Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2., Frankfurt a.M. 1998.

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Federico Fellinis kristalline Inszenierung der Komik, des Eros’ und des Traums: Giulietta degli spiriti Als „die wichtigsten Experimente surrealistischer Filme“ gelten diejenigen „im Grenzbereich der Komik und des Traums“, es handle sich, Volker Roloff zufolge, bei den Filmen „um Versuche, den gewohnten Spielraum der Alltagserfahrung und Rationalität durch künstlerische Mittel zu erweitern“, und eine „Gegenwelt […] zu dem Ernst und den Zwängen der Lebenswelt“ zu erschaffen. Somit seien die Experimente der Surrealisten „vor allem darauf angelegt“, eine „karnevaleske Gegenwelt der Traumkomik zu entdecken“ und diese bringe zum Vorschein, „was im Namen der Vernunft und der gesellschaftlichen Ordnung normativ ausgegrenzt“ werde.1 Normativ ausgegrenzt und in den surrealistischen Filmen zur Darstellung gebracht, wird auch die Welt des Eros, der amour fou, der Dispositive einer im Film illustrierten Scientia sexualis, die im Surrealismus, so Uta Felten, zumeist in einen „ambivalenten Referenzrahmen sakraler Erotik“ gesetzt wird.2 Nicht nur die Traumkomik, auch der mit dem Traum gepaarte Eros ist es, mittels dessen die Schranken der Alltagskultur und der gewohnten Ordnung gesprengt werden. Wenn die Experimente an den Grenzen der Komik, des Traums und des Eros’ zu den hervorstechenden Merkmalen der surrealistischen Filmästhetik gehören, dann gibt es wohl kaum einen italienischen Filmemacher, der mit den angesprochenen Grenzen deutlicher und erfolgreicher experimentiert hätte als Federico Fellini. Grotesk seine Körperinszenierungen in der Kinonostalgie und Fernsehparodie Ginger e Fred, karnevalesk die Sequenzen in La strada, geradezu surreal die müßigen Alltagserfahrungen in La dolce vita, ironisch die Inszenierung der vom Kino der telefoni bianchi inspirierten, glamourösen Gegenwelten in Amarcord, und die angeführte Liste ließe sich weiterführen, ihre Ingredienzien ließen sich austauschen oder anders miteinander kombinieren. Doch wie verhält es sich mit diesem zwischen der Komik, dem Eros und dem Traum changierenden filmischen Kosmos im Einzelnen? Stellen die surrealen Elemente eine Fernleihe dar oder werden sie in den Filmen Fellinis vielmehr reflektiert und somit weitergeführt? Ausgehend von der Prämisse, dass Fellinis Filme mit den Elementen surrealistischer Weltinszenierungen spielen, diese jedoch neu codieren und somit auch überschreiten, werden im Folgenden die wichtigsten Merkmale einer surrealen fellinischen Filmästhetik exemplarisch, 1

Roloff: „Experimente an den Grenzen der Komik und des Traums“, S. 186f.

2

Felten: „‚Juste du desir cru…‘“, S. 160.

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am Beispiel des Filmes Giulietta degli spiriti analysiert. Aufgestellt wird die These, dass die kristalline Struktur dieses Filmes auf die frühen, surrealistischen Filmexperimente rekurriert oder anders ausgedrückt: Bereits die genuin surrealistischen Filme eines Fernand Legers, Louis Buñuels, Jean Cocteaus oder einer Germaine Dulac arbeiten mit den kristallinen Strukturen, mit den Ununterscheidbarkeitszonen, die Gilles Deleuze dem Kino seit dem Neorealismus und seit Orson Welles zuspricht. Mittels der Komik und des Eros’, vor allem aber mittels einer potenzierten Traumstruktur wird in den frühen surrealistischen Filmen die Zeitlichkeit des Bildes aufgefächert, werden neue Dimensionen des Seins in einem Bild konzentriert. Doch wenngleich auch hier mit Traumstrukturen gearbeitet wird, so fehlt doch zumeist ein wichtiges Merkmal des Kristallbildes – dasjenige einer mit der Gegenwart gleichberechtigten Vergangenheit und Erinnerung. Genau diese Leerstelle füllen die Filme Federico Fellinis, namentlich Giulietta degli spiriti, aus. Giulietta ist eine Mittvierzigerin, eine Hausfrau der Oberschicht, deren Leben sich vor allem in bisweilen erotischen Tag-Träumen, in christlich gefärbten Erinnerungen an die Kindheit, grotesken Geisterbeschwörungen und phantastischen Besuchen abspielt. Die Erkenntnis, ihr Ehemann betrüge sie nach fünfzehn Jahren Ehe mit einem jüngeren Model, wird durch die facettiert aufeinander folgenden, fulminanten inneren Welten überdeckt und somit auch erstickt. „Groteske Szenarien der Traumwelt“,3 „wunderbare Monsterkabinette“, „obskure Kulte gleich welcher Art“4 reihen sich aneinander, und erotische Wünsche werden nicht zuletzt durch Formen und Farben angedeutet – Giulietta degli spiriti ist Fellinis erster Farbfilm. Zum Schluss hin ist die gewohnte soziale, durch die Ehe symbolisierte Ordnung überwunden, es bleiben allein die Träume, Phantasien und ihre Gestalten, die Giulietta zu absorbieren scheinen, ihr jedoch auch neue Kraft verleihen – Giuliettas Lächeln am Ende des Films verweist auf diese neu erblühte und in der Sekundärliteratur viel kritisierte5 innere Welt (Abb. 1). Die inneren Welten der Giulietta, mit Erinnerungen und Visionen durchbrochen, sind als ein „Vexierspiel“ inszeniert, als ein „buntes Kaleidoskop“, das, so Michael Töteberg, „von Sequenz zu Sequenz neu geschüttelt“ werde.6

3

Töteberg: Federico Fellini, S. 85.

4

Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 124.

5

Töteberg: Federico Fellini, S. 85.

6

Ebd.

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Abbildung 1: Screenshot, Giulietta degli spiriti

Der Terminus, mit dem Gilles Deleuze solch eine aufgefächerte und für das image-temps charakteristische Vorgehensweise bezeichnet, ist jener des Kristallbildes, er meint, „den in seiner Entstehung und in seinem Wachstum begriffenen Kristall“, der bei Fellini freilich wuchernde Dimensionen erhält.7 In der mise en scène arbeitet die zweite Phase der deleuzianischen Filmgeschichte, das so genannte Zeit-Bild, mit Erinnerungsschichten und Differenzen, mit kristallinen Strukturen, die das Filmbild auffächern, ihm eine Vielschichtigkeit verleihen und somit, Deleuze zufolge, mit dem bergsonianischen Verständnis der durée korrespondieren. Die zeitliche Determiniertheit einer Beweglichkeit des Auges, die Jacques Aumont mit dem Aufkommen des Films ansetzte, wird hier in eine Zeitlichkeit des Filmbildes umgedeutet, die aus seiner Auffächerung entsteht und sich seit den 1940er Jahren konstituierte. Es geht dabei im Zeit-Bild nicht darum, was sich in der Zeit ereignet, sondern wie die Zeit selbst abläuft, es geht um die Spaltungen, Risse, Wiederholungen innerhalb des Zeitschemas, das die Vergangenheit oder die Zukunft beherbergen kann. Der Keim des Kristallbildes ist dabei die bergsonsche Metapher des Glaskegels und die in ihr enthaltene Koaleszenz des Aktuellen und des Virtuellen, der Gegenwart und der Vergangenheit. Wie die bergsonschen Vergangenheitsregionen, so fächern auch die in das Filmbild eingebetteten Artefakte – Film im Film, Theater im Film, Spiegel und Photographien im Film etc. – das Filmbild auf, verleihen ihm eine weitere, virtuelle Ebene, eine Koaleszenz der aktuellen und der virtuellen Bilder konstituierend.

7

Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 120.

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Abbildung 2 und 3: Henri Bergsons Vergangenheitskegel8

Indem in einem Filmbild beispielsweise vermittels Spiegelungen auch andere Zeitlichkeiten auftreten, das Unvereinbare vereinbart wird, existiert die prozesshafte, bis in die Gegenwart eingedrungene Vergangenheit neben dieser. Nicht mit der Gegenwart und den sensomotorischen Vorgängen werden somit die Figuren konfrontiert, sondern mit den virtuellen Bildern einer neben der Gegenwart gleichberechtigt existierenden Vergangenheit oder einer neben der Realität gleichberechtigt existierenden Phantasie. Anstelle einer sensomotorischen Situation des Stummfilms der 20er Jahre und der frühen Tonfilme – vielleicht lediglich die Experimente der avantgardistischen Künstler ausgenommen – haben es einerseits die Filmfiguren und andererseits die Zuschauer seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, so Deleuze, vor allem mit rein optischen und akustischen Situationen zu tun: Die kristalline Ordnung schafft Unbestimmtheits- und Ununterscheidbarkeitszonen, weil sie die Wahrnehmungsbilder von ihrer motorischen Fortsetzung abschneidet und mit einem virtuellen Bild, einem Spiegelbild verknüpft, das dem Gedächtnis angehört.9 Im Falle des Kristallbildes ist der Unterschied zwischen einem aktuellen und einem virtuellen Bild nicht mehr deutlich, er existiert zwar noch de jure, de facto aber wird die Zuschreibung unmöglich gemacht. Das aktuelle und das virtuelle 8

Vgl. hierzu Bergson: Materie und Gedächtnis, insb. S. 147-174. Henri Bergsons Vergangenheitskegel (E = Wirklichkeit; S = der Punkt, an dem sich das Sein in die gegenwärtige Wirklichkeit einschreibt; A, B = Totalität der Erinnerung; A’, B’, A’’, B’’ = Vergangenheitsschichten, die die Vergangenheit jeweils unterschiedlich konstruieren)

9

Balke: Gilles Deleuze, S. 73.

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Bild befinden sich, so Mirjam Schaub, in einem „Kreislauf des gegenseitigen Austausches, der die Differenz zwischen beiden Kategorien umspielt und sie auf eine phänomenologische Ununterscheidbarkeitszone (l’indiscernabilité) zurückführt“10 Diese Ununterscheidbarkeitszonen können als „objektive Illusion[en]“ definiert werden.11 Das bekannteste Beispiel liefert der Spiegel. Die Zerrspiegel, die Konkav- und Konvexspiegel und die venezianischen Spiegel sind untrennbar von einem Kreislauf […]. Das Spiegelbild ist in bezug auf die aktuelle Person, die es einfängt, virtuell, aber zugleich ist es aktuell im Spiegel, der von der Person nicht mehr als eine einfache Virtualität zurückläßt und sie aus dem Bild – hors champ – verdrängt. […] Wenn die virtuellen Bilder sich derart vermehren, wird die ganze Aktualität der Person von ihnen absorbiert, während die Person nur noch eine Virtualität unter anderen ist.12 Der Film Giulietta degli spiriti beginnt mit solch einem Hinweis auf eine Spiegelung, doch ein Blick auf das Gesicht der Hauptdarstellerin Giulietta Massina wird während der ersten Minuten des Films verwehrt. Das Virtuelle wird durch sein Ausbleiben sodann als absolut virtuell betont, doch auch die Sicht auf das vermeintlich Reale bleibt seltsam leer – ganz so, als ob es Giulietta gar nicht gäbe, sondern nur die angedeuteten Verkleidungen. Erst bei der Ankunft des Ehemannes wird das Gesicht Giuliettas in Szene gesetzt, als erschöpfe sich ihr in der Nahaufnahme symbolisiertes Selbst in der Rolle der Ehefrau. Auf diese Szenen folgt eine Party mit einer spiritistischen Seance, in deren Verlauf Giulietta aus dem Mund des Mediums erfährt, was ihr Ausbleiben im Spiegel bereits visualisiert hatte: „Du bist nichts. Bedeutest nichts. Für niemanden“. Sie reagiert mit einer Ohnmacht, doch bald ergreifen ‚Dämonen‘ und ‚Geister‘ von Julia Besitz und nun reihen sich „übersinnliche Phänomene und Erscheinungen“ und „groteske Szenarien der Traumwelt“13 aneinander, die ihre innere Befreiung initiieren. Am Strand, im Haus, während der Fahrt suchen Giulietta Figuren aus der Gegenwart aber auch der Kindheit heim, kristalline Erinnerungs- und Phantasiegebilde, die ständigen Begleiter auf der Suche nach einem neuen Selbst. Die fehlende Spiegelung im Film deutet auf eine verfehlte Ununterscheidbarkeitszone hin – eben kein Spiel mit der Ich-Identität, mit den Dopplungen und Brüchen des Ichs wird hier inszeniert, sondern sein Fehlen

10 Schaub: Gilles Deleuze im Kino, S. 133. 11 Ebd. 12 Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 97. 13 Töteberg: Federico Fellini, S. 85.

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wird vehement in die Filmbilder eingeführt. Doch arbeiten auch die Traumund Komiksequenzen mit der Unterminierung der Ununterscheidbarkeitszonen, geht der Traum in die Wirklichkeit über, das Burleske in die Realität? Eingeleitet wird die erste der Traumsequenzen durch den theatralischen Auftritt von Giuliettas erotischer Nachbarin Susy (Sandra Milo) am Strand. Sie und ihr geradezu fürstliches Gefolge, inklusive des Baldachins, landen mit einem von einem Kahn gezogenen Floß am Strand. Giulietta hatte bereits zuvor in einem Gespräch betont, sie habe als Kind, um die inneren Bilder und Phantasien auszulösen, bloß die Augen schließen müssen – auf diese Aussage folgt für wenige Sekunden ein Bild einer leicht bekleideten Sandra Milo auf einer Schaukel. Nun tritt die Schauspielerin, die im Film mehrere Figuren verkörpert, in ihrer ganzen sexualisierten Körperlichkeit auf, eingeschifft wie eine neue Venus, eingehüllt in einen gelben Umhang, versteckt hinter einer riesigen Sonnenbrille.14 Doch jenseits aller Erotik verleihen die übertriebenen Gegenstände – die große Brille und der gelbe Umhang mitsamt dem Hut – der sinnlichen Nachbarin den Anschein des Grotesken, Übertriebenen.15 „Wir verkehren nicht mit ihr“, erklärt Giulietta. Kurz darauf schläft sie ein und es folgt ein Traum: Dem Meer entsteigt ein älterer, rot gekleideter Mann mit einem schwarzen Hut. Er zieht an einem Seil. Auch Giulietta, die in ihrem Traum leise beim Namen gerufen wird, erscheint in der Szene. „Bitte Giulietta, helfen Sie mir, ich bin alt“, sagt der alte Mann und reicht ihr das Seil. „Und außerdem, geht es nur Sie etwas an“, erklärt der Mann abschließend und verlässt das Bild. Nun zieht Giulietta, wie auch sonst zu Beginn des Films in ein jungfräuliches Weiß gekleidet, um den Kontrast zu dem knalligen Gelb Susys zu unterstreichen, am Seil. An diesen befestigt ist ein Floß, das nicht mehr die erotisch anziehende Nachbarin trägt, sondern zwei lebende Pferde und einen Pferdekadaver sowie ein Schiff, in dem einige nackte oder schamanenartig bekleidete Menschen sitzen. Giulietta reißt die Augen weit auf und bittet leise flüsternd um Hilfe. Sie möchte fliehen, aber ihre Füße wollen sie kaum tragen. Zwar zieht sie nicht mehr am Seil, aber ihre Flucht scheint von den Geistern der Vergangenheit erschwert. Das Szenarium auf dem Meer hat sich in der Zwischenzeit verändert. Ein Mann steht im Meer, hinter ihm gleitet von rechts nach links ein Floß mit kriegerisch geschmückten Männern vorbei. Ein Flugzeug fliegt lautstark im Hintergrund, Giulietta wacht auf. Der Traum bringt die Phobien Giuliettas zum Ausdruck – das mühsame Ziehen am Seil oder das mühevolle Gehen stehen hier für die existentielle 14 Roberto C. Provenzano sieht in der Susy eine „dea dell’eros asentimentale“. Provengano: Invito al cinema di Federico Fellini, S. 121. 15 Zur grotesken Körperlichkeit vgl. Bachtin: „Die groteske Gestalt des Leibes“, S. 15-23.

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Angst um ihren Status, die nackten Männer und Frauen bringen die erotischen Wünsche aber auch Ängste zum Vorschein. Die Menschen auf dem tiefgrauen Schiffsgebilde wirken urzeitlich, die Männer auf dem Floß archaisch. Und dennoch sind diese Bilder klar von den Bildern des Wachzustandes zu trennen. Sie spielen vor einem dunkleren Meereshintergrund, es handelt sich offensichtlich um eine andere Tageszeit als in der Sequenz davor, die Grenze zwischen dem Traum und der Wirklichkeit wird deutlich markiert. Dieses Charakteristikum des Films steht im offensichtlichen Widerspruch zu den surrealistischen Strategien einer Verwischung der Grenzen zwischen dem Traum und der Wirklichkeit, die in den Einstellungen mit den Spiegelungen noch eine Rolle spielen und eine Ununterscheidbarkeitszone inszenieren. Doch was die fehlenden Spiegelungen andeuten – das Nicht-Vorhandensein Giuliettas in ihrem eigenen Hause, das eine Anspielung auf Freud sein könnte16 – das füllen die Traumund Erinnerungssequenzen aus: Es sind Träume und Phantasien, die dem Leben Giuliettas eine neue Qualität verleihen (Abb. 4, 5).

16 Vgl. vor allem Freud: Die Traumdeutung.

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Abbildung 4, 5: Screenshots, Giulietta degli spiriti

Darüber hinaus rekurrieren die Szenen des Ziehens am Seil und der Pferde auf den Film Ein andalusischer Hund von Salvador Dalí und Luis Buñuel (Abb. 6-9).

Abbildung 6-9: Screenshots, Un chien andalou

Der Film Giulietta degli spiriti bezieht sich auf diese Vorbilder, codiert die Bilder jedoch neu und deutet sie um – Giulietta, obwohl von den Geistern der Gegenwart und Vergangenheit heimgesucht, behauptet bereits zu Beginn des

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Films deutlich und vehement ihren Platz in einem von den Geistern der Vergangenheit ausgefüllten Hier und Jetzt – auf eben dieses Element verweisen die deutlichen Markierungen der Grenze zwischen dem ‚Realen‘ und dem ‚Surrealen‘. Nichtsdestoweniger ist es hier eine (traditionell) weibliche Figur, der der Zugang zu dem Visionären ermöglicht wird. „Es ging mir darum“, erklärte Fellini, „eine Wirklichkeit auszudrücken, die sich so verdünnt, daß sie in den Bereich des Visionären übergeht“17 und er zitiert auch den Satz Carl Gustav Jungs, dem zufolge die Frau dort sei, wo im Mann die Dunkelheit beginne.18 Die Frau ist dieser Filmaussage zufolge somit ganz Phantasie und der Kontrast zwischen der Wirklichkeit und dem Traum existiert vielleicht nur für den Zuschauer – Giuliettas Dämonen sind ein genuiner Teil ihres Lebens. Doch nicht nur auf die Traumszenerie bezieht sich der Film, es sind auch die Experimente an der Grenze der Komik, die von einer Sympathie für die surrealistischen filmischen Spiele zeugen. Burleske, mit dem Film des Surrealismus vergleichbare Elemente entfaltet der Film vor allem in den Erinnerungsszenen, die vom Großvater handeln, einem Gymnasiallehrer, der sich im reifen Alter in eine Zirkusakrobatin verliebt und mit ihr, so die Vorstellung Giuliettas, auf einem Doppeldecker durchbrennt. Die Sequenz arbeitet mit deutlichen Anleihen an den Stummfilm, ihr burlesker Charakter deutet auf das Traumhafte einer gelebten Erinnerung hin. Doch erst in der Begegnung und Auseinandersetzung mit der sinnlichen Nachbarin, einem Gegenbild der Giulietta, entfaltet sich das gesamte Pandämonium: An die Bilder des Großvaters reihen sich die explizit erotischen Szenen aber auch die Motive der Kindheit an, in denen das Kind Giulietta ein religiöses Mysterium hatte darstellen sollen – sie sollte auf einem Rost symbolisch verbrannt werden. Die erwachsene Giulietta nimmt zum Schluss des Films das symbolisch gemartete Kind Giulietta in die Arme und versöhnt sich mit dem Großvater. Die Vergangenheit und die Gegenwart stehen so gleichberechtigt nebeneinander, um schließlich Giulietta zum Triumph zu führen, ihr, so Fellini, „una sua indipendenza vera, una sua indiscutibile e inalienabil dignità“19 zu verleihen. Es sind diese Kristallbilder, diese, so Gilles Deleuze, „voneinander abgetrennten Bilder, Felder, Nischen, Logen und Fenster, die Giulietta degli spiriti prägen. Einerseits kristallisieren die rein optischen und akustischen Bilder: sie 17 Zit. nach Töteberg: Federico Fellini, S. 85. 18 Ebd.; Peter Bondanella weist darauf hin, dass die Filme 8½ und Giulietta degli spiriti auf die C. G. Jung’schen Überlegungen über ‚anima‘ und ‚animus‘ hindeuten, über das Weibliche im Manne und das Männliche in der Frau. Vgl. Bondanella: The Films of Federico Fellini, S. 27f. Vgl. auch Jung: Archetypen. 19 Fellini, zit. in: Provenzano: Invito al cinema di Federico Fellini, S. 120.

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ziehen ihren Inhalt an, bringen ihn zum Kristallisieren und fügen ihn aus einem aktuellen und einem virtuellen Bild, nämlich seinem Spiegelbild [aber auch einem Vergangenheitsbild oder einem Traumbild Anm. M. E.], zusammen. […] Doch wenn sie andererseits in Koaleszenz zueinander treten“, so Deleuze weiter, „bilden sie ein und denselben Kristall auf dem Wege zu einem unbegrenztem Wachstum“.20 Es ist eine geradezu rhyzomatische Struktur, die die Filme Federico Fellinis, namentlich Giulietta degli spiriti, durch die in ihnen präsentierten fulminanten inneren Welten vorweisen können, „es handelt sich hier um ein sich unentwegt bildendes und ausbreitendes Kristall, das alles, was es berührt, zum Kristallisieren bringt und dem seine Keime unbegrenztes Wachstum verleihen“.21 Und gerade dieses Rhyzomatische ist das Merkmal, das en gros das Surreale dieses Films kennzeichnet. Das Surreale erschöpft sich nicht in der Thematik eines mit dem Traum verwandten Eros oder in dem Ausbruch aus der gewohnten sozialen Ordnung, sondern es zeigt sich in einer Struktur des Filmes, die die inneren Welten in Bewegung, in einen ständigen Austausch der Bilder bringt. Und es ist eine wuchernde innere Welt, fast so, als gewönne die surrealistische Filmästhetik ein neues Leben, das freilich bei Fellini, wie von Gilles Deleuze kongenial erkannt, immer auch das Element eines danse macabre enthält. Die Experimente an der Grenze der Komik, des Eros’ und des Traums treten mit diesem Film in eine neue Phase, sei doch für Fellini das Kino eine Kunst, die sich besonders dazu eigne, die banale Wirklichkeit zu durchbrechen und eine andere, metaphysische und übersinnliche Wirklichkeit heraufzubeschwören.22 Und dennoch ist die Koaleszenz des Traumes und der Wirklichkeit, der Erinnerung und der Jetzt-Zeit nicht einmal für Giulietta vorhanden. Für den Zuschauer sind die Grenzen des Virtuellen und des Realen im Film deutlich markiert. So arbeitet Fellinis Film mit Strategien und Elementen einer Ästhetik des Surrealen, ohne dabei selbst surrealistisch zu sein.

Literaturverzeichnis Bachtin, Michail: „Die groteske Gestalt des Leibes“, in: ders.: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus dem Russischen von A. Kaempfe, München 1969, S. 15-23. Balke, Friedrich: Gilles Deleuze, Frankfurt a.M./NewYork 1998.

20 Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 121. 21 Ebd., S. 122. 22 Vgl. Kezich: Federico Fellini, S. 384.

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Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 1991. Bondanella, Peter: The Films of Federico Fellini, Cambridge 2002. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M. 1997. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M. 1997. Felten, Uta: „‚Juste du desir cru…‘ Bühne der Ars Erotica. Zur Theatralisierung der Heilsgeschichte in Catherine Breillats Film Romance“, in: Lommel, Michael/Maurer Quiepo, Isabel/Rißler-Pipka, Nanette (Hrsg.): Theater und Schaulust im aktuellen Film, Bielefeld 2004, S. 157-165. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, Frankfurt a.M. 1996. Jung, C. G.: Archetypen, München 2006. Kezich, Tullio: Federico Fellini. Eine Biographie, Zürich 2005. Provengano, Roberto C.: Invito al cinema di Federico Fellini, Mailand 1995. Roloff, Volker: „Experimente an den Grenzen der Komik und des Traums. Anmerkungen zu surrealistischen Filmen“, in: Diagonal, Nr. 1, 1991, S. 183-196. Schaub, Miriam: Gilles Deleuze im Kino. Das Sichtbare und das Sagbare, München 2003. Töteberg, Michael: Federico Fellini. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg 1989.

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Kerstin Küchler

Interferenzen im filmischen Raum – zur kombinatorischen Filmkunst von Jean-Luc Godard […] le diable préserve, dis-je, l’idée surréaliste de commencer à aller sans avatars. (Breton, „Second manifeste du surréalisme“) […] der Teufel, sage ich, bewahre die surrealistische Idee davor, jemals ohne Metamorphosen auskommen zu wollen. (Breton, „Zweites Manifest des Surrealismus“) Surrealismus ist kein Stil, sondern mehr als das, eine Methode. (Holländer, „Ars inveniendi et investigandi: Zur surrealistischen Methode“)

Metamorphosen, Überschreitungen, Überlappungen und Lücken gehören zweifellos zum spielerischen Repertoire der filmischen Räume von Godard. Homogenisierende Aussagen über das Kino Godards zu treffen ist einerseits schwierig, bricht doch der interstitielle und assoziative Charakter seines Kinos jeden kohärenten Ansatz einer spezifischen Lektüreweise einzelner Filme und erst recht seines Gesamtwerkes von vornherein auf. Andererseits ermuntert die Godard’sche Attitüde einer kombinatorischen Filmkunst den Leser und Zuschauer dazu, eine lecture surréaliste auf mehr als nur einen Film zu beziehen. In seiner Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, welche Kinogeschichte ohnehin nicht chronologisch, sondern archäologisch erzählen will1, findet sich der konsequente Gestus hinsichtlich des eigenen Kinos ironisch formuliert: Godard habe seine Filme a priori zerstückelt gedreht, um ein späteres ‚kombinatorisches‘ Wiedersehen zu erleichtern2 – ein Verfahren, das der Lust an der Spurensuche in den Wirren eines ‚rhizomatischen Œuvre‘ sehr entgegenkommt. Drei Filme unterschiedlicher filmästhetischer Experimentierphasen in den Fokus einer Ästhetik des Surrealen zu stellen motiviert die These, dass, über die historischen Avantgarden hinaus, Surrealismus im Film auch

1

Godard: Introduction à une véritable histoire du cinéma, S. 21.

2

Godard: Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, S. 264.

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und besonders bei Godard als Verfahren präsent ist; dass möglicherweise sogar „ce cinéma attendu, celui que les surréalistes n’ont pu ou su réaliser euxmêmes“3, gerade im französischen Film der 1960er Jahre einen filmischen Ausdruck findet. Dabei erscheint Surrealismus weniger, als man bei Godard vermuten könnte, als Zitat, als „Geröllhalde […] wo Bausteine für einen Neo-Surrealismus zu finden wären“4, wie Karl Heinz Bohrer konstatiert. Vielmehr entdeckt sich Surrealismus – wie Hans Holländer bereits für die historischen Surrealisten festhielt – als Methode, wobei die an sie gekoppelten Rezeptions- und Wahrnehmungsweisen Metamorphosen unterworfen sind. Demnach stellt sich für die drei im Folgenden reflektierten filmräumlichen Ordnungen in Les Carabiniers (1962), Pierrot le fou (1965) und Tout va bien (1972) weniger die Frage, was eine lecture surréaliste dem vielfach rezipierten und reflektierten Œuvre Godards Neues abgewinnen kann, genauso wenig wie Godard per se als Surrealist tituliert werden soll. Die interessantere Frage lautet, was uns gerade die Lektüre der Filme Godards und die sie stets begleitende Verunsicherung unserer Sehgewohnheiten über das (inzwischen ob seiner inflationären medialen Präsenz vielfach unterschätzte) Konzept des Surrealismus selbst verdeutlicht. Auch wenn die Filme Godards uns auf andere Weise irritieren und dem (filmischen) Abbildcharakter von Wirklichkeit misstrauen als der surrealistische Film der 1920er und 30er Jahre, so sind die intermedialen, selbstbezüglichen und wahrnehmungsästhetisch orientierten Verfahren dennoch bereits im historischen Surrealismus angelegt. Das Irritationsrepertoire der Wahrnehmung, die mediale Reizgrenze ist heute eine andere als jene um 1920. Eine metahistorisch immer wieder erfahrbare Ästhetik des Surrealen ist – und das zeigt nicht zuletzt die lange Liste von Ahnherren, die bereits Breton für die surrealistische Intention geltend machte5 – in ihrer Wahrnehmung zwar veränderlich, in ihrer kombinatorischen, d.h. de- und neukonstruierenden Methode aber grundsätzlich konstant. Die 1960er Jahre stellen insofern einen spezifischen Zeitpunkt dar, als besonders die Regisseure der Nouvelle Vague, allen voran Godard, im Rekurs auf ganz ähnliche Verfahrensweisen und Vorbilder auf den Medienumbruch vom Kino zum Fernsehen reagieren wie die historischen Surrealisten ihrerseits auf den Medienumbruch um 1900. Allerdings ist das filmische Medium 1965 in einer ganz anderen wahrnehmungsästhetischen Dimension angelangt als noch 35 Jahre zuvor.

3

Virmaux: Les surréalistes et le cinéma, S. 88.

4

Bohrer: „Surrealismus und Terror oder die Aporien des juste-milieu“, S. 65.

5

Breton: „Manifeste du surréalisme“, S. 328ff.

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Der Status des Kinos hat sich innerhalb einer in diesen beiden Zeiträumen fruchtbaren Medienkonkurrenz zwar verschoben, dennoch spielen Grenzverschiebungen zwischen Theatralität und Authentizität, Dokumentarizität und Fiktionalität, Realität und Imaginärem eine ähnlich große Rolle. Die Kontinuität einer Ästhetik des Surrealen im Film bei Godard korrespondiert also vor allem mit der surrealistischen Attitüde einer permanenten Infragestellung dichotomer Kategorien sowie bestehender ordnungskonstituierender Codes. Wenn die „Zurückweisung alles Determinierten“ – wie Camus bemerkt – „die surrealistische Art [ist], die Welt zu lieben“6, so ist die Zurückweisung alles mimetisch Abbildbaren vielleicht Godards Art, wenn nicht den Zuschauer, so doch das Kino zu lieben. Die surrealistische Lust, die ‚Ordnung der Dinge‘ in ihrer logischen Vereinbarkeit zu unterwandern und so bestimmte kognitive Mechanismen als kulturell spezifisch zu offenbaren, ist einem spielerischen, kombinatorischen Prinzip generell inhärent. In den Fokus einer Ästhetik des Surrealen möchte ich drei filmische Beispiele aus dem Jahrzehnt von 1962 bis 1972 stellen und sie hinsichtlich ihrer Raumkonzeptionen analysieren, deren Schichtung, Brüche und Verschiebungen auf eine Methode verweisen, die im filmischen Raum eine Leerstelle sichert: einen ‚paranoischen Zwischenraum‘, dessen Überbrückung für Protagonisten und Zuschauer gleichermaßen nicht an vermeintlich gegensätzliche Entscheidungen gekoppelt ist. Anders formuliert: Godard schafft mit der von Deleuze und Barthes beschriebenen „méthode du entre“7, der „Methode des Zwischen“, buchstäbliche Zwischenräume in der porösen Bildkette, in denen die jeweils nicht getroffene Wahl (also die nicht gewählte Einstellung, die nicht gezeigte Reaktion, der nicht explizierte Gedanke oder das nichtausgesprochene Zitatfragment) als Variante virtuell erhalten bleibt. „Was nun zählt“, so bemerkt Deleuze, „ist der Zwischenraum zwischen den Bildern, zwischen zwei Bildern: eine Verräumlichung, die bewirkt, daß sich jedes Bild von der Leere losreißt und in sie zurückfällt.“8 Der dem Bild implizite Verweis auf seine Varianten ist durchaus verwandt mit Dalís paranoisch-kritischer Konzeption, die ebenfalls immer wieder Bilder hinter den Bildern imaginiert.9

6

Gorsen: „Lautréamonts Nachruhm in der Kunst“; Vgl. Camus: Der Mensch in der Revolte, S. 96.

7

Deleuze: L’Image-temps, S. 235.

8

Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 233.

9

„Man muß sich klarmachen“, erläutert Dalí seine kritisch-paranoische Methode, „daß es nur die Frage einer vehementen paranoischen Intensität ist, um das Erscheinen eines dritten Bildes, und eines vierten, und von dreißig Bildern zu erzwin-

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Die Filme Les Carabiniers, Pierrot le fou und Tout va bien repräsentieren experimentelle Formen einer kombinatorischen Filmkunst, in der filmischer und gefilmter Raum gleichermaßen gleitende Kategorien bezeichnen. Hans Holländers Ansatz einer ars combinatoria als einer spielerischen, metahistorisch übertragbaren und keineswegs irrationalen Methode wird meine Überlegungen im Folgenden ebenso leiten wie Gilles Deleuze’ in seinen Kinobänden formulierte Thesen zum Kino Godards als einer interstitiellen und artifiziellen Ästhetik sowie Foucaults ambivalenter Heterotopiebegriff. Godard schreibt sich mit Filmen, die wesentlich aus (inter-)medialen Schichtungen im eigentlichen Sinne des Wortes bestehen, in die Tradition eines kombinatorischen Kunstverständnisses ein. Dessen roten Faden zog Hans Holländer von der lullischen Kombinatorik über das romantische Verständnis einer ars combinatoria bis zu den surrealistischen Spielformen z.B. des cadavre exquis. Es handelt sich um eine – im historischen Surrealismus zwar nicht per Breton’scher Definition markierte, jedoch in jedem Fall präsente – Methode, „aus den Elementen des Bekannten Unbekanntes zu finden“10. Setzten sie doch voraus, daß Bekanntes von seinen Funktionen befreit, auf seine Strukturen reduziert wird, die dann vieldeutig sind und in neue Kontexte eintreten können, wo sie weiterhin zwischen mehreren Bedeutungsvarianten, mindestens der alten und der neuen im Bilde, vexieren.11 Gerade im Rahmen einer Ästhetik des Surrealen erweisen sich kombinatorische Verfahren, so Holländer, hinsichtlich der Disparität der Elemente geeigneter „als der alltägliche und auf Alltägliches sich richtende Verstand, der nur seine bereits gewohnten Kombinationen abwandelt.“12 Wesentlich ist diesem spielerischen Prinzip, dass es ‚überrational‘, nicht aber irrational funktioniert. Hier ist deutlich zwischen der rezeptionsästhetischen Wirkung und den produktionsästhetischen Prämissen zu unterscheiden, zwischen Wahrnehmung und Methode. Jean-Luc Godard führt in seinem Kino paradigmatisch diese Ambivalenz zwischen bewusster kombinatorischer Methode und deren Rezep-

gen. In einem solchen Fall wäre es interessant zu wissen, was das erwähnte Bild nun wirklich darstellt, welches die Wahrheit ist; so stellt sich schließlich für den Verstand der Zweifel ein, ob man denken soll, daß die Abbilder der Wirklichkeit selbst nur ein Produkt unserer paranoischen Begabung sind.“ [Dalí: „Moralische Position des Surrealismus“, S. 24.] 10 Holländer: „Ars inveniendi et investigandi: Zur surrealistischen Methode“, S. 309. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 253.

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tionsformen vor. Surrealismus ist in diesem Sinne als Wahrnehmungsmodus zu begreifen, der gewohnte Seherfahrungen verunsichert und dessen Irritation sich mit den medial trainierten Sehgewohnheiten des Zuschauers verändert. Wie die surrealistischen Projekte der historischen Avantgarden sind aber die Filme Godards als provozierende, verwirrende und – in ihrer synästhetischen Herausforderung – nicht zuletzt sinnliche Erfahrungen hinzunehmen, die mitunter keinen Zweck, keinen formulierbaren, auf Vertrautes zurückgreifenden Sinn haben oder ihn bewusst verweigern und gerade darin die Entkleidung unserer Blickmechanismen leisten. Auf den ersten Blick erscheint die Welt der Godard’schen Filme dokumentarisch real. Bisweilen sind sie so realistisch, dass sich seine Protagonisten ihrer kinematographischen Identitäten bewusst sind. Jedoch ist Realität bei Godard stark vom ‚objektiven Zufall‘ der kulturarchäologischen Fundstücke abhängig, aus denen sich der jeweilige Film, wie ganz offen betont wird, zusammensetzt. „Welche unerschöpfliche Menge von Materialien zu neuen individuellen Combinationen liegt nicht umher!“13, zitiert Holländer Novalis. Die Protagonisten bei Godard finden diese ‚Materialien‘, mit denen sie ihre Reisewege pflastern, auf der Autobahn, am Strand, in Comics, auf den Plakatwänden der Städte und nicht zuletzt im Kino. Damit sind die Konstituenten jener spezifischen Surrealisierung der Handlung, eines Kinos des faire-faux, des willentlichen Falschwirkens, der Künstlichkeit benannt: offene, simultane, gleitende Räume voller archäologisch präsentierter und ironisch kategorisierter objets trouvés, bevölkert von simulierenden Antihelden. Immer sind es jedoch zunächst subtile Verschiebungen im filmischen Raum, die dem Zuschauer ein Unbehagen eingeben. So stark der visuelle Reiz und so diskontinuierlich die Reisen und ‚Abenteuer‘ sich auch gestalten, am Anfang ist es jeweils nur ein kleiner Kratzer auf der Leinwand, der uns verunsichert. Den Filmen Pierrot le fou, Les Carabiniers und Tout va bien könnte man drei Raumerfahrungen zuweisen: das ‚Reisen im Interstitium‘, heterotopische Spielräume und das Entgleiten des filmischen Raums. Gemeinsam ist allen drei Spielräumen, dass sie keinesfalls einen genuin surrealistischen ‚Traumort‘ verkörpern, sondern im Gegenteil gerade mit der Ausstellung ihres Konstruktionscharakters, eines surcroît de réalité, provozieren. Alle drei Raumkonzeptionen hinterfragen einen filmischen Realismuseindruck dort, wo er wahrgenommen wird: beim Zuschauer. So experimentier- und zitierfreudig sich das Kino Godards gerade in diesem Jahrzehnt auch präsentiert, es sind vermeintlich re13 Novalis: Schriften, S. 534. Zit. nach: Holländer: „Ars inveniendi et investigandi: Zur surrealistischen Methode“, S. 253.

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alistische Filmräume, in denen multiple Revolutionen durchgespielt werden. Und kleinste Verschiebungen – ein unverbundener Straßenabschnitt, eine Schaufensterpuppe, eine unkonventionelle Mordwaffe, eine übertriebene Reaktion – genügen zunächst, um unsere Wahrnehmung zu verstören (Abb. 1-3).

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Abbildung 1-3: Screenshots, Pierrot le fou

Schleichend setzt sich die Irritation allerdings immer deutlicher im filmischen Raum fest bis hin zur Auflösung jeder topischen oder diskursiven Ordnung, wie es die drei fokussierten Filme auf unterschiedliche Weise beispielgebend zeigen. Diese im Kino Godards bewährten, offenen und gleichzeitig verschachtelten Raumkonzeptionen bilden die Kulissen für kombinatorische Bild- und Kausalketten, die einen permanenten Zeichen-, aber nicht zwingend Bedeutungsüberschuss produzieren. Nicht selten – wie in Pierrot le fou – ist es das Auto, das den ziellosen Bewegungen des ‚Nicht mehr hier, aber noch nicht dort‘-Seins Raum gibt und seinerseits auf Landstraßen einen filmischen Raum durchquert, dessen Ausstattung in jeder Hinsicht einer Architektur des faire-faux entspricht. Die topografische Dimension in Pierrot le fou ist mit dem Begriff des ‚Zwischen‘ treffend beschrieben. Die Protagonisten befinden sich auf einer für die Nouvelle Vague so typischen „Flucht-Promenade“14. Die Wegweiser ihrer Reise, ihre potentiellen Wendungen werden von zufällig am Straßenrand entdeckten Fundstücken generiert. Wie Lorenz Engell in einer Studie zu Pierrot le fou bemerkte, sind dies die Bruchstücke bereits geschriebener, bereits erzählter, bereits erlebter Geschichten15, recycelte und willentlich künstlich wirkende Accessoires. Die Flucht ohne Ziel bildet hier den adäquaten Raum für jenen surrealistischen ennui und gleichzeitig die Oberfläche für einen zweiten, imaginären Raum, der auffängt, was aus der porösen Handlungsebene als Bedeutungsüberschuss abtropft.

14 Deleuze: L’Image-mouvement, S. 287. 15 Engell: Bilder des Wandels, S. 135.

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In Pierrot le fou präsentiert sich eine durch Dekonstruktion konstruierte Welt, in der nichts ‚echt‘ ist, schon gar nicht seine räumliche Anordnung: In diesem Sinne erweist sich eine pittoreske Hafenansicht als Collage aus den Kulissen amerikanischer Romane von Conrad, Stevenson und Faulkner. Nicht nur dieser Film inszeniert sich als intermediales Patchwork, auch hier bleiben dessen alternative Zusammenstellungen zwischen den Bildern stets präsent. Godard stellt diesen Prozess des film en train de se faire16 offen aus, so wie die Attitüde des faire-faux, die Deleuze bekanntermaßen als Kennzeichnen des modernen Kinos benannt hat. Das Falschwirken wird das Zeichen eines neuen Realismus im Gegensatz zum Echttun des alten. Ungeschickte Rangeleien, schlecht sitzende Faustschläge, schlecht gezielte Schüsse, ein reiches Verschiebungsspiel von Aktion und Rede ersetzen die allzu perfekten Duelle des amerikanischen Realismus.17 Was uns in Pierrot le fou verwirrt, ist in die blendende Helligkeit eines Sommertages getaucht: keine düstere, neblige oder traumhaft verschwommene Szenerie, sondern grelle Farben, klare, überzeichnete Konturen. Die Bilder verhehlen die Spuren ihrer intermedialen Überzeichnung nicht. Das (filmisch) Reale gerät zum Exzess. Beinahe in der Umkehrung der Morin’schen Formel18 könnte man mit Jean-André Fieschi bemerken: „Le réel ronge le rêve comme un cancer“19. Immer gibt es – von Anfang an spürbar gerade in den Filmen dieser Jahre – einen Punkt, von dem aus der surcroît des Realen ins Surreale kippt: Surrealistische Bilder terrorisieren so die Einbildungskraft, indem sie den schönen Schrecken hinter einer Maske verbergen, die zu lüften dem gereizten Zuschauer nicht gelingt. Weil hier das Reale nur um Weniges zugedeckt bleibt oder verändert scheint, wird der Betrachter immer zum Voyeur, der ein Rätsel lösen will.20

16 Vgl. das Insert zu Beginn des Films: Godard, Jean-Luc: La Chinoise (1967). 17 Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 286. 18 Mit der Feststellung: „L’imaginaire ensorcelle l’image parce que celle-ci est déjà sorcière en puissance. Il prolifère sur l’image comme son cancer naturel.“ Charakterisierte Edgar Morin das kinematographische Bild schlechthin. [Morin: Le cinéma ou l’homme imaginaire. Essai d’anthropologie, S. 83f.] 19 Fieschi: „La difficulté d’être de Jean-Luc Godard“, S. 18. 20 Bohrer: „Surrealismus und Terror oder die Aporien des juste-milieu“, S. 51f.

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Nur um weniges zugedeckt ragen eingangs die Makel des Surrealen in die Hochglanzatmosphäre eines Nachmittags in Pierrot le fou. Godard problematisiert immer wieder neu – auch nachdem wir längst keinem sonnigen ‚Eastmancolor-Bild‘ mehr trauen – den filmischen Raum, die Realität der filmischen Bilder, das Kinematographische an sich. „Wo sind wir, wenn wir reisen? Wo liegt dieses ‚Land der Geschwindigkeit‘, das nie mit dem zusammenfällt, das wir durchqueren?“21 Diese Fragen, gestellt von Paul Virilio in seiner „Fahrzeug“-Studie, korrespondieren in Pierrot le fou mit der zunehmenden Auflösung von raum-zeitlichen Kategorien. Die damit beschriebene Erfahrung der Godard’schen Protagonisten entspricht auch der von den historischen Surrealisten lebhaft umworbenen Ästhetik des déplacement und des simultané. Und sie findet ihre Verdichtung in Foucaults ‚anderen Räumen‘, jenen „Gegenplatzierungen“, die, so Foucault, alle „ein System von Öffnungen und Schließungen“22 voraussetzten. Gerade in diesem Punkt findet sich die Parallele zu den ‚heterotopischen Reihungen’, die beunruhigen, weil sie unsere perzeptorischen ‚Ein- und Ausschlussverfahren’ offenlegten.23 Ein solches Grenzgebiet gibt auch dem Film Les Carabiniers Raum. Hier handelt es sich um einen schlammigen non-lieux am Stadtrand von Paris. Les Carabiniers – um mit Godards Worten zu sprechen: „ein monströser Film“24 – trotzt uns vielfach jenes monströse Lachen ab, mit dem wir unsere Unruhe in der Konfrontation mit den Grenzen unseres Denkens kompensieren.25 Les Carabiniers spielt auf jeder Ebene mit der ‚Methode des Zwischen‘, der Substitution, des Simultanen: Zwischen Krieg und Frieden, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Gut und Böse, zwischen echt und falsch: Stets stehen beide Möglichkeiten im gefilmten Raum, im filmischen Raum, im Bild. Die metafiktionale Geste des ‚Als ob‘, der Ersetzung, die in den Filmen Godards immer wieder falsche Leichen, falsches Blut, einen falschen Ton, falsche Reaktionen und falsche Identitäten zusammenführt, gipfelt bereits 1962 in der vielzitierten Postkartenszene der Carabiniers: Die beiden aus dem Krieg heimgekehrten Anti-Helden, Michel-Ange und Ulysse, bringen von ihrem kriegerischen Feldzug für ein unbestimmtes imaginäres Königreich statt der versprochenen Reichtümer in surrealistischer Sammelmanier einen Koffer voller Postkarten mit nach Hause. Die Postkarten – zunächst streng kategori-

21 Virilio: „Fahrzeug“, S. 47. 22 Foucault: „Andere Räume“, S. 39-42. 23 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 17ff. 24 Godard: Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, S. 326. 25 Foucault: Les mots et les choses, S. 7.

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siert – werden zunehmend in ‚heterotopischen Reihungen‘ wie archäologische Fundstücke aus dem berühmten ‚Schrotthaufen der abendländischen Kulturgeschichte‘26 präsentiert. Die nur noch ironisch vorausgesetzte Ordnung einer längst nicht mehr referentiellen Umwelt gerät im überreizten Durchsehen, im Tauschen und Staunen, im analogischen Neusortieren immer weiter durcheinander und löst sich schließlich im Wirbel der durch den Raum regnenden Postkarten völlig auf (Abb. 4-6). Mediale Wirklichkeit findet hier ganz offensichtlich nur noch als Reproduktion, als Placebo, als Postkarte Eingang in den Filmraum.

26 Vgl. Godard: Weekend (1967), ein Film der beispielgebend als „trouvé à la ferraille“ ausgewiesen wird.

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Abbildung 4-6: Screenshots, Les Carabiniers

Jean Narboni, der die Postkartenszene als „lieu de collision des multiples cellules du film“ beschreibt, benennt zugleich, was sie uns vor Augen führt: „dis-moi comment tu classes, je te dirai qui tu es“27. Diesen ‚Flucht- und Kollisionsräumen‘ stehen in Tout va bien, im Sinne jener ‚anderen Räume‘ Foucaults, verschachtelte und gleichzeitig offene Räume gegenüber, Räume, deren Fassade wie einem Puppenhaus nicht nur im von der Kamera konstruierten filmischen Raum, sondern buchstäblich im gefilmten Raum die vierte Wand fehlt. Ein solches Haus ist die im gewerkschaftlich-revolutionären Streik befindliche Wurstfabrik. In dem Gebäude tragen zwar alle Mitwirkenden zum Zeichen der Revolution ihre blutigen Metzger-Schürzen, tatsächlich verwurstet werden jedoch zitierte objets trouvés, Fragmente einer längst vielfach deklarierten revolutionären Geste. Die Räume dieses Puppenhauses verschieben sich gleichsam mit den zunehmend porösen Diskursen gegeneinander, sind permeabel und ent-gleiten schließlich samt ihrer zufällig versammelten Einrichtung. So z.B. während des Streiks, als ein Arbeiter die Wände und Mauern im Gebäude zu leeren Flächen überstreicht und damit das filmische Bild zur „opaken Informationsfläche“28 wird (siehe Abbildungen 7-9).

27 Narboni: „Les Carabiniers“, S. 106. 28 Deleuze beschreibt im Anschluss an Bazin Godards „Pädagogik des Bildes“, die einsetzt, wenn „das Bildfeld den Wert einer opaken Informationsfläche gewinnt, die bald im Übermaß gesättigt, bald auf die Leere, auf die schwarze oder weiße Projektionsfläche reduziert ist“. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 28.

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Abbildung 7-9: Screenshots, Tout va bien

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Mit den Protagonisten des Kinos von Godard wird, so präzisiert Deleuze, eine Spezies charmanter, rührender Gestalten hervorgebracht, die nur ganz entfernt von den Ereignissen […] betroffen sind, die ihnen zustoßen; obskuren Ereignissen, […] die so schlecht ineinandergreifen wie die Abschnitte der von ihnen durchlaufenen beliebigen Räume.29 Simulation, das Falschwirken, zitieren statt sprechen, singen oder schweigen – diese Verhaltensweisen bilden Ersatzhandlungen für eine Korrespondenz mit einem gleichermaßen übersemiotisierten und in Auflösung befindlichen Handlungs-Spiel-Raum. Das scheinbar aleatorische Leben der Protagonisten selbst ist vom Spiel, von Künstlichkeit, von Fragmentierung und Serialität geprägt. Sinnsuche durch Kategorisierung wird als obsolet präsentiert. Die einzige Möglichkeit, auch für die Godard’schen Helden, besteht deshalb, wie Lorenz Engell konstatiert30, im Weiterdenken, im Weitermachen, im Weiterleben, in einer existentiellen Form der Redundanz. Nach neunzig Minuten hat sich die (hier durchaus zitierte) ‚spontane surrealistische Tat‘ entweder wie in Les Carabiniers oder Pierrot le fou gegen sich selbst gerichtet oder das Weiterdenken wird wie in Tout va bien auf den nächsten Film, auf die nächste Revolution verschoben. Wurde den historischen Surrealisten ihr Status als „‚Spezialisten der Revolte‘ auf dem Papier“31 vorgeworfen, so kann dies durchaus affirmativ gelesen werden. Das zeigen die zahlreichen recycelten, antizipierten und reflektierten Revolutionen in politischer, amouröser, epistemologischer und wahrnehmungsästhetischer Hinsicht in den drei genannten Filmen von Godard. Gerade die unabgeschlossenen umwälzenden Projekte scheitern nicht: Wie bei jenen der historischen Surrealisten auch könnte es sich vielmehr um ein willentliches Verschieben eines überschüssigen kreativen Potentials in einen zukünftigen, imaginären Raum handeln, in dem das Unmögliche zu denken möglich ist, in einen zukünftigen Film. Aragons Credo ist im Sinne einer Ästhetik des Surrealen auch wahrnehmungsästhetisch aufzugreifen: „Chaque fois qu’il y a une révolution, en principe, il faudrait changer la grammaire.“32 Im Spannungsfeld zwischen Leben und Kunst, Realität und Imaginärem, Vergangenheit und Zukunft ist eine Ästhetik des Surrealen in all ihren Metamorphosen verortet. Dies erstreckt sich im Film von Godard zwischen zwei 29 Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 285. 30 Engell: Bilder des Wandels, S. 150. 31 Siepe: „Im Grenzgebiet von Innenwelt und Außenwelt. Der französische Surrealismus (1919-1939)“, S. 353. 32 Zit. nach: Bontemps: „Une libre variation imaginative de certains faits“, S. 33.

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Bildern, zwischen zwei Diskursen. Im filmischen Raum des Reisens, des ‚Nicht-mehr-hier-und-noch-nicht-dort‘-Seins, im Rahmen ‚heterotopischer Reihungen‘, in zugleich offenen und durchlässigen Räumen – hierin präsentiert Godard uns filmräumliche Varianten surrealer Standortbestimmungen. Toute porte à croire qu’il existe un certain point de l’esprit d’où la vie et la mort, le réel et l’imaginaire, le passé et le futur, le communicable et l’incommunicable, le haut et le bas cessent d’être perçus contradictoirement.33 Dass die Protagonisten bei Godard auf das Zusammenfallen ordnungskonstituierender Dichotomien weniger euphorisch reagieren und den Akt der ‚klassifikatorischen Befreiung‘ mit einem Schulterzucken, Unentschlossenheit oder gar Selbstmord hinnehmen, dass verortet die Filme gleichzeitig in einem anderen Lektürehorizont34, einem, über den man, wie es seine Kinogeschichte suggeriert‚ ‚beim nächsten Mal noch genauer reden müsste‘. Unter dem Eindruck des letzten, mit der Einführung digitaler Medien verbundenen Medienumbruchs und der sich seit den 1960er Jahren weiter veränderten Sehgewohnheiten dürfte es zudem interessant sein, auch in den späteren und aktuellen Filmen Godards nach Reaktionen und Spuren surrealer ästhetischer Verfahren zu suchen.

Literaturverzeichnis Bohrer, Karl Heinz: „Surrealismus und Terror oder die Aporien des juste-milieu“, in: Bürger, Peter (Hrsg.): Surrealismus, Darmstadt 1982, S. 51-66. Bontemps, Jacques: „Une libre variation imaginative de certains faits“, in: Cahiers du cinéma, Nr. 194, Paris 1967, S. 30-34. Breton, André: „Second manifeste du surréalisme“ (1930), in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, Paris 1988, S. 775-833. Breton, André: „Zweites Manifest des Surrealismus“ (1930), in: ders.: Die Manifeste des Surrealismus, Hamburg 1986. Breton, André: „Manifeste du surréalisme“ (1924), in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, Paris 1988, S. 309-346.

33 Breton: „Second manifeste du surréalisme“ (1930), S. 781. 34 In der Tat sind für den Zugang zu den Filmen Godards zwischen Surrealismus und Postmoderne stets eine Reihe weiterer heterogener Anknüpfungspunkte denkbar, denen nachzugehen einem spielerischen Lektüreprinzip zu folgen bedeutete.

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Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte, Hamburg 1953. Dalí, Salvador: „Moralische Position des Surrealismus“, in: ders.: Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit. Gesammelte Schrifte, hrsg. von Axel Matthes/Diego T. Stegmann, Diego T., München 1974, S. 22-26. Deleuze, Gilles: Kino 2. Das Zeit-Bild, Frankfurt a.M. 1997. Deleuze, Gilles: Cinéma 1. L’Image-mouvement, Paris 1985. Deleuze, Gilles: Cinéma 2. L’Image-temps, Paris 1985. Engell, Lorenz: Bilder des Wandels, Weimar 2003. Fieschi, Jean-André: „La difficulté d’être de Jean-Luc Godard“, in: Cahiers du cinéma, Nr. 137, Paris 1962, S. 14-25. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1990. Foucault, Michel: „Andere Räume“, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34-46. Foucault, Michel: Les mots et les choses, Paris 1966. Godard, Jean-Luc: Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, Frankfurt a.M. 1992. Godard, Jean-Luc: Introduction à une véritable histoire du cinéma, Bd. I, Paris 1980. Gorsen, Peter: „Lautréamonts Nachruhm in der Kunst“, in: Wölzl, Rainer: Lautréamont. Die Gesänge des Maldoror, Wien 1992. Holländer, Hans: „Ars inveniendi et investigandi: Zur surrealistischen Methode“, in: Bürger, Peter (Hrsg.): Surrealismus, Darmstadt 1982, S. 244-316. Morin, Edgar: Le cinéma ou l’homme imaginaire. Essai d’anthropologie, Paris 1956. Narboni, Jean: „Les Carabiniers“, in: Cahiers du cinéma, Nr. 161-162, Paris 1965, S. 106. Novalis: Schriften, hrsg. von Samuel, Richard, Bd. 2, Stuttgart 1960. Siepe, Hans T.: „Im Grenzgebiet von Innenwelt und Außenwelt. Der französische Surrealismus (1919-1939)“, in: Grimminger, Rolf u.a. (Hrsg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 1995, S. 339-366.

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Kerstin Küchler | Interferenzen im filmischen Raum

Virilio, Paul: „Fahrzeug“, in: Barck, Karlheiz u.a. (Hrsg.): Aithesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 47-72. Virmaux, Alain/Virmaux, Odette: Les surréalistes et le cinéma, Paris 1976.

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Uta Felten

„C’è qualcosa terribile nella realtà“ – Traumanaloge Wahrnehmungsmodi im Kino von Michelangelo Antonioni im Rekurs auf Traditionen des surrealistischen Kinos „C’è qualcosa terribile nella realtà“ – „la realtà ci sfugge“1 („Es liegt etwas Schreckliches in der Realität“ – „die Realiät entzieht sich“) hat Antonioni vielerorts in seinen Selbstkommentaren bemerkt und damit implizit auf wahrnehmungsästhetische Theoreme von Pascal Bonitzer, Roland Barthes und Edgar Morin rekurriert, die das „Verhextsein“, die permanente Ansteckung des filmischen Bildes durch das Imaginäre, die irreduzible ontologische Ambivalenz des Bildes immer wieder betont haben: „L’imaginaire ensorcelle l’image parce que celle-ci est déjà sorcière en puissance. Il prolifère sur l’image comme son cancer naturel.“2 – „Das Imaginäre verhext das Bild, weil dieses selbst schon der Hexerei verschrieben ist. Es wuchert im Bild wie dessen natürliches Krebsgeschwür.“ Auch die zeitgenössische Antonioni-Kritik hat – allerdings mit Unbehagen – konstatiert, dass den Filmen Antonionis etwas Traumanaloges anhafte, seine Figuren sich wie Schlafwandler in einer Traumerzählung bewegten. So bemerkt Alberto Moravia in seiner 1960 erschienen Besprechung von L’Avventura: L’Avventura è un film girato tutto quanto come se fosso un sogno. I personaggi infatti vi agiscono senza cause apparenti, fuori di ogni psicologia, come, appunto, i personaggi dei sogni. […] Essi entrano ed escono secondo una tecnica di pura condotta […]. Antonioni non ha voluto o potuto indicarcene le cause profonde. […] Manca […] la descrizione della società da cui nasce direttamente la disumanità dei personaggi.3 „Fuga, vagabondaggio, sostituzione nell’irreale: quante volte si ripete questo motivo nelle opere di Antonioni“4 – Fliehen und Flüchten, traumanaloges Herumirren und Vagabundieren der Protagonisten, Entgleiten der Handlung 1

Antonioni, zit. in: Micciché: Filmologia e filologia, S. 137.

2

Morin: Le cinéma ou l’homme imaginaire, S. 83f.

3

Moravia: „Gli amori impossibili“.

4

Amerio: „Antonioni: appunti per una psicologia dell’irrelevant“, S. 48.

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ins Surreale sind, das lässt sich unschwer behaupten, zentrale Motive und Narrationsmuster im Kino von Michelangelo Antonioni. Im Gegensatz zu Alberto Moravia, für den Antonionis radikale Absage an psychologische und soziologische Erklärungsmuster aller Art zugunsten eines traumanalogen anti-hermeneutischen Erzählmodells noch ein Defizit darstellt, benennt Deleuze jene Absage an sinnkonstituierende Diskurse mit dem bekannnten Begriff des Risses des senso-motorischen Bandes. Der für das moderne Kino paradigmatische Riss des Bandes zwischen Motorik und Affekt, äußerem Handeln und innerer Ursache des Handelns, führt, so Deleuze, zu einem neuen Typus von Protagonisten, eben solchen, die nicht mehr primär Handelnde, sondern Suchende und Visionäre sind, Visionäre indes nicht in dem Sinne, dass ihre Visionen zu irgend einer Art von Erkenntnis führten. Im Gegenteil: Das, was sie sehen, übersteigt ihre senso-motorischen Fähigkeiten und kann nicht mehr decodiert werden: Il ne s’agit pas non plus de scènes de terreur, bien qu’il y ait parfois des cadavres et du sang. Il s’agit de quelque chose de trop puissant ou de trop injuste, mais parfois aussi de trop beau, et qui dès lors excède nos capacités sensori-motrices.5 Michelangelo Antonioni zeigt in allen seinen Filmen eine Präferenz für figurale Muster der Suche, für labyrinthische von Lücken und Rissen zersetze Räume, lässt mit Vorliebe seine Figuren in urbanen und natürlichen Wüsten herumkreisen, hetzen, irren, plötzlich verharren, überraschende Richtungswechsel, scheinbar unmotivierte Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen produzieren. Pascal Bonitzer bemerkt in diesem Zusammenhang: Ce qui caractérise […] son cinéma est un intérêt positif pour ce désert d’un nouveau genre, ces espaces amorphes, déconnnectés, vidés, ce tissu dédifférencié de la mutation urbaine.6 Am Beispiel Antonionis Film La notte (1961) lässt sich die nomadische Konstitution der Protagonisten des modernen italienischen Kinos als Suchende, als Nomaden und Traumwandler sowie ihre wahrnehmungsästhetische Funktionalisierung als Sehfilter besonders gut aufzeigen: Wirkt doch Lidia, die Protagonistin aus La notte, bei ihren scheinbar endlosen Spaziergängen durch die urbane Wüste Milanos wie eine Traumwandlerin, eine Nomadin ohne Ziel, deren Wege wir mitverfolgen, ohne zu wissen, ob wir ihrem Blick trauen können,

5

Deleuze: Cinéma 2. L’Image-temps, S. 29.

6

Bonitzer: Peinture et cinéma. Décadrages, S. 98.

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ohne zu wissen, ob das, was sie sieht noch der „realtà“ einer objektiven Wahrnehmung entspricht oder ob wir uns schon inmitten einer halluzinatorischen Vision befinden (Abb. 1).

Abbildung 1: Screenshot, La notte

Antonionis Filme zeigen eine Präferenz für solche unergründbaren Protagonisten und Protagonistinnen, deren Gestik und Motorik sich keinem decodierbaren Affekt zuordnen lassen. Lidia, die Protagonistin aus La Notte, ist bereits eine solche prototypische Nomadin im Zeichen einer negativen Anthropologie und Traumanalogie, deren Handlung und deren Sehsituation sich eben nicht mehr auf der Basis traditioneller Erklärungsmuster entschlüsseln lässt. Besonders deutlich zeigt sich die Ansteckung des Blicks der Nomadin Lidia durch das Imaginäre, wenn sie bei ihrem Spaziergang plötzlich verharrt eine weiße Wand fokussiert, in einen Innenhof einbiegt um dort ihren Blick auf die auf die am Boden liegenden Objekte zu richten, eine Standuhr und einen Plattenspieler, Insignien der Melancholie und der Vanitas. Sind diese Gegenstände wirklich da, oder sind sie Produkte einer melancholischen Phantasie? Lässt sich der Status des filmischen Bildes noch eindeutig definieren? Handelt es sich um einen Moment des inneren oder des äußeren Sehens? Die Fragen bleiben unbeantwortet. Antonioni experimentiert hier bereits mit einer Ästhetik der Auflösung der Grenzziehung zwischen Realem und Imaginärem, zwischen innerem und äußerem Sehen, das er – wie wir im folgenden zeigen wollen – in Filmen wie Zabriskie Point und Blow up radikalisiert. Kulminieren die labyrinthischen Narrationsmuster der amourösen Suche in den frühen Filmen Antonionis der sechziger Jahre am Ende noch in erlösenden Gesten, doch letztlich ambivalenten Gesten, so profilieren in den Filmen der späteren sechziger und siebziger Jahre die Strukturen eines permanenten Kreisens, das kein Ziel, kein Zentrum mehr kennt, sich im reinen Zirkulieren zu gefallen scheint. Die neuen Protagonisten Antonionis werden damit umso mehr zu Traumwandlern ohne Ziel und Motiv gefangen im Labyrinth der Täuschungen.

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Uta Felten | „C’è qualcosa terribile nella realtà“

Besonders deutlich lässt sich diese Verschiebung von einem amourös motivierten Strukturmuster der Suche (wie es noch für La notte und L’avventura gilt) zu einem wahrnehmungsästhetisch motivierten Problem der Suche am Beispiel von Blow up und Zabriskie Point zeigen: Kann doch die Geschichte des Photographen und Voyeurs Thomas aus Blow up (1966), der im Park ein vermeintliches Liebespaar photographiert und in der Vergrößerung, im Blow up des photographischen Bildes zu Hause glaubt, einen Mord entdeckt zu haben, als Parabel über die irreduzible Mehrdeutigkeit des filmischen und des photographischen Bildes gelesen werden, als Parabel über die überall lauernde Ansteckung des Bildes durch das Imaginäre, das im Bild wuchert, wie dessen natürliches Krebsgeschwür. Das gerade der Großaufnahme eine paranoische Qualität anhaftet, haben bereits surrealistische Filmemacher wie Buñuel und Man Ray gewusst und in ihren berühmten Fokussierungen des Seeigels, des weiblichen Achselhaars oder des Seesterns ausgespielt (Abb. 2-5). Je länger der Blick auf dem Objekt haftet, um so phantasmatischer seine Wirkung.

Abbildung 2, 3: Screenshots: Un chien andalou

Abbildung 4, 5: Screenshots, L’étoile de mer

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Uta Felten | „C’è qualcosa terribile nella realtà“

Antonioni hat diese paranoische Qualität des Realen auf die bekannte und bereits zitierte Formel gebracht: „C’è qualcosa terribile nella realtà“ – „la realtà ci sfugge“7 und in einem seiner Essays das Problem der Polyvalenz der visuellen Wahrnehmung, das Verschwinden der „realtà“ auf eine weitere Formel gebracht, die er nicht zufällig in der Schlusssequenz seines gemeinsam mit Wim Wenders gedrehten Films Al di là delle nuvole seinem Alter ego, der Figur des Regisseurs und Photographen in den Mund legt: Noi sappiamo che sotto l’immagine rivelata ce n’è un’altra più fedele alla realtà, e sotto quest’altra un’altra ancora, e di nuovo un’altra sotto quest’ultima. Fino alla vera immagine di quella realtà, assoluta, misteriosa, che nessuno vedrà mai. O forse fino alla scomposizione di qualsiasi immagine, di qualsiasi realtà. Il cinema astratto avrebbe dunque una sua ragione di essere.8 Wir wissen, dass sich hinter jedem offenbarten Bild der Wirklichkeit ein anderes verbirgt, das der Wirklichkeit möglicherweise mehr entspricht und hinter diesem wieder ein anderes und hinter diesem wieder ein anderes und so weiter bis zu jenem wahren geheimnisvollen absoluten Bild der Wirklichkeit, dass niemand jemals zu sehen bekommt oder vielleicht bis zur Auflösung von eines jeden wie auch immer gearteten Bildes und einer jeden wie auch immer gearteten Wirklichkeit. Dann hätte das abstrakte Kino seine Existenzberechtigung [U. F.] Die Skepsis gegenüber der möglichen Existenz einer „realtà assoluta“ wird vor allem in den Filmen der späten Sechziger und frühen Siebziger zunehmend deutlich. In diesem Zusammenhang kann die berühmte Schlusssequenz aus Zabriskie Point (1970) als willentliche Auflösung und Zersetzung der Realität und damit als Einlösung des geforderten Desiderats nach einem „cinema astratto“ gelesen werden. Mit anderen Worten: Die visuelle Halluzination, die Wunschvorstellung der tagträumenden Protagonistin Daria, die mit der Beharrlichkeit ihres Blicks die Villa ihres Chefs zu sprengen weiß, ersetzt die gewöhnliche Realität, bringt sie zum Verschwinden (Abb. 6-7).

7

Antonioni, zit. in: Micciché: Filmologia e filologia, S. 137.

8

Antonioni; zit. in: Tinazzi: Michelangelo Antonioni, S. 7.

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Uta Felten | „C’è qualcosa terribile nella realtà“

Abbildung 6, 7: Screenshots, Zabriskie Point

Oder explodiert die Villa wirklich, oder soll die Explosion ein gezielter Gegenanschlag auf die konsumatorische Habgier der Immobilienmakler sein? So hat man Antonioni in der zeitgenössischen Kritik in zivilisationskritischer Manier noch gerne gelesen. Diese Lektüren sind weiterhin möglich, doch ist für uns heute die der Szene inhärente wahrnehmungstheoretische Problematik vielleicht interessanter, insofern als die der Szene inhärente Kritik an den Normierungen, denen der gewöhnliche Blick ausgesetzt ist, tiefer greift. Werden doch auch wir als Zuschauer in dieser Szene mit einem Bild konfrontiert, dessen Dauer und Intensität sich jenseits der gewöhnlichen Klischeemassierungen und ihrer Dauer ansiedeln: Nous ne percevons donc ordinairement que des clichés. Mais, si nos schèmes sensori-moteurs s’enrayent ou se cassent, alors peut apparaître un autre type d’image: une image optique-sonore pure, l’image entière et sans métaphore, qui fait surgir la chose en elle-même, littéralement, dans son excès d’horreur ou de beauté […].9 Die Explosion der Villa in Zabriskie Point ist vielleicht das prominenteste Beispiel für jene von Roland Barthes konstatierte Gefährlichkeit des beharrlichen Blicks bei Antonioni10, der so lange hinschaut, bis die etablierten Sehordnungen sich wie von selbst auflösen und die Grenze zwischen dem Realen und dem Imaginären zerfließt. Beharrlichkeit und Intensität des künstlerischen Blicks bringen, so Roland Barthes, die etablierten Ordnungen in eine Bewegung schöpferischer Sinnverweigerung und schaffen Frei- und Spielräume für neue Seherfahrungen, die den normierten Blick skandalisieren: Un autre motif de fragilité, c’est paradoxalement pour l’artiste, la fermeté et l’insistance de son regard. […]. L’artiste […] s’arrête et regar-

9

Deleuze: Cinéma 2. L’Image-temps, S. 32.

10 Vgl. Barthes: „Cher Antonioni …“, S. 903f.

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de longuement […]. Ceci est dangereux, car regarder plus longuement qu’il n’est pas demandé […] dérange tous les ordres établis […].11 In solchen Sehsituationen, die Deleuze bekanntlich als so genannte „optische Dramen“ bezeichnet, wird etwas erfahrbar gemacht, das außerhalb der Klischeemassierungen unserer Seh- und Wahrnehmungsdispositive liegt: „Une situation purement optique […] est censée faire saisir quelque chose d’intolerable.“12 Eine Überreizung der konventionellen Dauer des Blicks ist Voraussetzung für das Erlebnis eines optischen Dramas. In keiner Szene des modernen Kinos wird die Überreizung der Blickdauer so stark ausgespielt wie in der Schlussszene von Zabriskie Point, in der die äußere Wirklichkeit mitsamt ihrer zivilisatorischen Interieurs – Stellwände, Fernseher, Kühlschränke, Fenster, Türen etc. – über acht Minuten lang bis in ihre kleinste Auflösung zerfetzt, aus ihren gewöhnlichen Sinnzusammenhängen befreit werden, um eine neue Bilddimension zu erreichen Allein die Aufzählung der Gegenstände, die da zersprengt werden, verweist auf die surrealistische Tradition der so genannten phantastischen Kausalkette und damit auf eine berühmte Szene aus Buñuels L’âge d’or, in der bekanntlich Giraffen, Bischöfe und brennende Tannenbäume aus dem Fenster fliegen (Abb. 8-10).

11 Barthes: „Cher Antonioni …“, S. 903f. 12 Deleuze: Cinéma 2. L’Image-temps, S. 29.

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Abbildung 8-10: Screenshots, L’âge d’or

Dass die Vorbilder für Antonionis „cinema dello sguardo“ nicht nur in der Schockästhetik der Surrealisten, ihren phantastischen Kausalketten, ihren willentlichen Asymmetrien von Bild und Ton und ihrer Lust an der Überreizung und Skandalisierung des gewöhnlichen Blicks zu finden sind, sondern sich auch schon im modernen Roman, zum Beispiel bei Marcel Proust finden lassen, überrascht kaum. Hat doch Proust den im Kino der Surrealisten und der modernen Filmemacher präsenten Umbruch der Seh- und Wahrnehmungsdispositive, das stetige Anwachsen optischer Situationen, das Spiel mit den paranoischen Qualitäten der Großaufnahme bereits antizipiert. Wuchern doch in À la recherche du temps perdu bereits optische Situationen, die den Erzähler mit ungewöhnlichen Sehsituationen konfrontieren. Nicht zufällig stellt auch Mieke Bal in ihrer visuellen Proustlektüre einen Bezug zwischen den Proust’schen Sehsituationen und dem Blow-up-Verfahren im gleichnamigen Film von Antonioni her. Dass die Verlängerung des menschlichen Auges durch die vielfältigen Verfahren optischer Apparate – wie Vergrößerung und Vervielfältigung – nicht immer zur Erkenntnissteigerung, sondern auch zum trompel’oeil, zur Täuschung des Blicks, führen und dem Betrachter die beunruhigende irreduzible Ambivalenz des Bildes vorführen können, darin liegt eine wesentliche Erfahrung des Proust’schen Experiments mit den neuen Sehdispositiven. Dennoch kann der Proust’sche Erzähler (ebenso wenig wie der Photograph aus Blow up) nicht davon ablassen, das Objekt seiner Wissens- und Sehbegierde durch ein Objektiv von variabler Brennweite zu betrachten, es in ständig neuen Zooms und Close-ups einzufangen. Doch das Ergebnis des Close-up ist beunruhigend. Haftet doch der Nahaufnahme – wie Pascal Bonitzer im Anschluss an die Ästhetik des modernen Kinos bei Hitchcock bemerkt – eine paranoische Qualität an.13 Nicht von ungefähr betonen Deleuze und Guattari die

13 Bonitzer: Le champ aveugle, S. 49.

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beunruhigende Qualität des in Großaufnahme eingefangenen Gesichts: „Le visage est un conte de terreur.“14 Auch von der Proust’schen Großaufnahme geht der Effekt eines ebenso erregenden wie beunruhigenden „vertige“ aus. Mieke Bal spricht in ihrer visuellen Lektüre der Recherche von einem „close-up trop ambitieux“15, einer übersteigerten Nahaufnahme des Gesichts der Albertine, die den Erzähler von einem Zustand beglückender „ivresse“ abrupt in einen Zustand halluzinatorischer Wahrnehmung überführt: La vue du cou nu d’Albertine, ces joues trop roses, m’avait jeté dans une telle ivresse […] que cette vue avait rompu l’équilibre […]. […] le visage rond d’Albertine […] prenait pour moi un tel relief qu’imitant la sphère ardente, il me semblait tourner telles ces figures de MichelAnge qu’emporte un immobile et vertigineux tourbillon.16 Der Zoom verfremdet das Gesicht, die Haut erscheint als schwindelerregendes Relief, von dem gleich den Bildern Michelangelos der so genannte Serpentinata-Effekt ausgeht. Dass die filmischen Vorbilder für Antonionis „cinema dello sguardo“, in dem die Grenzen zwischen dem Imaginären und dem Realen, dem inneren und äußeren Blick zerfließen und in dem Sehen und Hören in einen eigenartigen Widerstreit geraten, natürlich vor allem im surrealistischen Kino zu finden sind, liegt auf der Hand. So kann man beispielsweise die Schlussszene aus Blow up, in dem der Photograph Thomas im Klamauk mit zwei tennisspielenden Pantomimekünstlern einen imaginären Ball auffängt, dessen Aufschlag wir auf der Tonspur plötzlich tatsächlich hören, als Rekurs auf die schon bei Buñuel beliebte Asymmetrie von Bild und Ton lesen, auf die auch das Kino von Godard immer wieder rekurriert. Wird doch bereits in L’âge d’or jene willentliche Asymmetrie von Bild und Ton in der berühmten Anfangsszene ausgespielt, wenn der Zuschauer zur romantischen Schöpfungsmusik von Mendelssohn-

14 Deleuze/Guattari. Milles plateaux, S. 206. 15 Bal: Images littéraires ou comment lire visuellement Proust, S. 129. 16 Proust: À la recherche du temps perdu, Bd.1, S. 933. Vgl.: „Der Anblick des nackten Halses von Albertine, ihre hochroten Wangen versetzten mich in einen solchen Rausch, dass durch ebendiesen Anblick das Gleichgewicht […] gebrochen war […]. […] in dem Erregungszustand, in dem ich mich befand, trat Albertines rundes Gesicht, […] so plastisch wie ein rotierendes Feuerrad hervor und kreiste vor meinen Blicken wie die Gestalten Michelangelos, die ein unbeweglicher, Schwindelerregender Wirbel fortzureißen scheint.“ Proust, Marcel: Im Schatten junger Mädchenblüte, Bd. 2, Frankfurt 2002, S. 730.

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Uta Felten | „C’è qualcosa terribile nella realtà“

Bartholdy den sadistischen Kampf zwischen Ratte und Skorpion betrachten muss.

Literaturverzeichnis Amerio, Piero: „Antonioni: appunti per una psicologia dell’irrelevant“, in: Di Carlo, Carlo (Hrsg.): Michelangelo Antonioni, Roma 1964. Bal, Mieke: Images littéraires ou comment lire visuellement Proust, Toulouse 1997. Barthes Roland: „Cher Antonioni …“, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. V, Paris 1995. Bonitzer, Pascal: Peinture et cinéma. Décadrages, Paris 1995. Bonitzer, Pascal: Le champ aveugle, Paris 1982. Deleuze, Gilles: Cinéma 2. L’Image-temps, Paris 1985. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Milles plateaux, Paris 1980. Micciché, Lino: Filmologia e filologia. Studi sul cinema italiano, Venezia 2002. Moravia, Alberto: „Gli amori impossibili“, in: L’Espresso, Roma 6.11.1960. Morin, Edgar: Le cinéma ou l’homme imaginaire. Essai d’anthropologie, Paris 1956. Proust, Marcel: Im Schatten junger Mädchenblüte, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002. Uta Felten (Leipzig) Proust, Marcel: À la recherche du temps perdu, Bd.1, Paris 1954. Tinazzi, Giorgio: Michelangelo Antonioni, Milano 2002.

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Heinz-B. Heller

Orson Welles und/oder Vérités et mensonges /F for Fake Sein letzter Film rief beim zeitgenössischen Publikum zunächst ebenso viel Unverständnis und Verstörung hervor wie seinerzeit sein filmisches Debüt. Gleichzeitig ist offenkundig: So wie erst mit wachsendem zeitlichem Abstand Citizen Kane (1940/41) in den Olymp der besten Filme aller Zeiten gehoben wurde, so brauchte es mit Blick auf Vérités et Mensonges/F for Fake (1973) auch erst seine Zeit, um den außerordentlichen Rang dieses Films zu erkennen. Für Danièle Parra/Jacques Zimmer, Autoren einer französischen Welles-Monographie, stellt dieser Film „un subtil jeu formel, une véritable somme doublée d’une sorte de testament spirituel“ dar.1 Noch entschiedener sieht dies Gilles Deleuze; für ihn „bildet die Serie von Vérités et mensonges nicht nur das Manifest des gesamten Werks von Welles, sondern auch seine Reflexion über den Film.“2 Die nachfolgenden Ausführungen vertreten die These: Wie in keinem anderen seiner Filme finden in Vérités et mensonges die künstlerische Selbststilisierung von Orson Welles als Performer, seine Sujetpräferenzen – die Porosität von Wahrheit, Schein, Vorstellung, Fälschung und Lüge – sowie deren Reflexion unter den Aspekten von künstlerischem Original und Originalität, von Medium und Markt zu einer derart ausgeprägten, unverwechselbaren Form – d. h. zu einer filmischen Form, die auf virtuose Weise überdies die herkömmliche Unterscheidung zwischen Dokumentarischem und Imaginärem performativ aufhebt und zugleich zu einem selbstreflexiven Vexierspiel macht.3 Unter diesen methodischen Vorzeichen scheint es lohnenswert, diesen Film einer Re-Vision zu unterziehen; und dies in einer Perspektive und unter methodischen Prämissen, die – wie in diesem konkreten Siegener Projektzusam-

1

Parra/Zimmer: Orson Welles, S. 169.

2

Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 192.

3

Bert Rebhandl, Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, sieht unter dem letztgenannten Aspekten in Verités et Mensonges den Archetypus eines ausgangs des Jahrhunderts modisch gewordenen Genres: „Spielerisch erfand er [Welles] dabei ein neues Genre, das heute – bis zu smarten Filmstreichen wie The Blair Witch Project – eine ungeahnte Konjunktur hat: Das ‚fake documentary‘, eine Form des fiktionalen Kinos, die sich als Errettung der äußeren Wirklichkeit ausgibt.“, Rebhandl: „Die Abenteuer des Herrn Picasso“. Es ist dies eine Einschätzung, die Filmen wie dem genannten von Daniel Myrick/Eduardo Sanchez (1999) ebenso ein Übermaß an medialer Selbstreflexion zuspricht, wie sie zugleich zur Komplexitätsreduktion des Welles-Films beiträgt.

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Heinz-B. Heller | Orson Welles

menhang – mit der Erforschung des Surrealismus über seine Modellierung als einmalige Ausprägung der geschichtlichen Avantgarde hinaus vor allem auch an dessen transhistorisch fortwirkenden, rekurrenten oder aktualisierten ästhetischen Verfahren interessiert sind – jenseits geläufiger stil- und ideengeschichtlicher Etikettierungen. So wenig bisher Orson Welles im Diskurs über Surrealismus Erwähnung fand, so frappierend erscheinen unter Aspekten einer operativen Ästhetik wesentliche Affinitäten seiner Praxis zu surrealistischen Axiomen.

1.

Das Dispositiv: zwischen Ankunft und Abfahrt des Zuges

Der Anfang des Films stellt die aktuelle Re-Konfiguration einer filmhistorischen Ursprungskonstellation dar: Ein Bahnhof, ein Bahnsteig; aber anders als bei den Lumières gut 100 Jahre zuvor ist der Zug bereits eingefahren. Was damals bei der Einfahrt des Zuges in La Ciotat weniger die Passanten und Passagiere auf dem Bahnsteig, sondern vor allem die Zuschauer im Kino zutiefst beeindruckte, nämlich nicht das Realereignis, sondern das Ereignis der Einfahrt als bewegtes Bild und der Wahrnehmungseffekt eines ‚plus-que-réel‘ – all das erfährt hier seine Inversion. Denn mit dem Auftritt von Orson Welles als Magier, der sich als Performer sowohl an Reisende auf dem Bahnsteig wie an das Kinopublikum wendet, aktualisiert er zugleich die Magie des ehemaligen Zauberkünstlers und Filmpioniers Georges Méliès; jenes Mannes, der im Gedächtnis der Filmgeschichte den ausgemachten Antipoden eines phantastischen Erzählkinos zu dem Realismus und Dokumentarismus der Lumières darstellt. Ein Film wie Voyage à travers l’impossible (1904), die aberwitzige Eisenbahnfahrt einer Gelehrtengesellschaft zum Mond, liest sich wie eine phantastische Kontrafraktur zur dokumentarisch festgehaltenen Arrivée d’un train (1895) der Brüder Lumière. Beide Modi des Filmischen – das Dokumentarische und das illusionistisch Imaginäre – vergegenwärtigt und verkörpert Orson Welles: als kurzweiliger Unterhalter, der Zaubertricks auf dem Bahnsteig mit den und für die dort Anwesenden vorführt; der diese illusionistischen Kunststücke zugleich aber auch filmisch für ein Kino-Publikum inszeniert und überdies diese Inszenierung von dem bekannten französischen Dokumentaristen François Reichenbach und seinem Team dokumentieren lässt; und dies schließlich zu alledem funktional auch in der dominierenden Rolle eines auktorialen Erzählers, der sowohl inner- als auch extradiegetisch in Erscheinung tritt (Abb. 1-4).

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Heinz-B. Heller | Orson Welles

Abbildung 1-4: Screentshots, Vérités et Mensonges/F for Fake

Damit ist insgesamt das von filmhistorischen Reminiszenzen aufgeladene und zugleich medial transparent gehaltene Dispositiv für eine überaus komplexe mediale Performance etabliert, die Raum gibt für die Durchmischung und das Vexierspiel unterschiedlichster Repräsentationsmodi: dem Dokumentieren und dem Fingieren, dem szenischen Spiel und der diskursiven Erklärung, der Illusionierung und ihrer Dekonstruktion – und dies im Zeichen der Porosität von Fakt und Vorstellung, Realem und Imaginärem, Wahrheit und Lüge. Es ist der performative Akt der Aufhebung scheinbar verlässlicher, diskreter Ausdrucksund Wahrnehmungsmodi, der bedeutungsvoll wird, während die jeweils verwandelten Objekte semantisch entleert und austauschbar, mithin allem Symbolträchtigem entkleidet erscheinen. Orson Welles, nachdem er einem kleinen staunenden Jungen die Verwandlung eines Schlüssels in Geldmünzen und Rückverwandlung vorgeführt hat: Ich bin ein Scharlatan, aber ich habe noch nicht ausgelernt. Dieser Schlüssel hat übrigens keine symbolische Bedeutung. Ganz und gar nicht. So ein Film ist das nicht. […] Übrigens haben Sie schon mal von Robert Houdin gehört, da wir gerade von den Zauberkünstlern sprechen. Nein, wahrscheinlich nicht. – Aber Sie kennen doch sicher meinen Partner François Reichenbach? Houdin war der größte Zauberer, der je gelebt hat. Wissen Sie, was er gesagt hat? Ein Zauberer, hat er gesagt, ist nur ein Schauspieler.

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Die schöne, extravagant gekleidete Oja Kodar, aus dem Zugfenster blickend: Na dann, Hals- und Beinbruch. Orson Welles: Ein Schauspieler, der die Rolle eines Zauberers spielt. François Reichenbach, der der ausgestiegenen und auf dem Bahnsteig sich entfernenden Oja Kodar nachschaut: Hm, hm, sehr hübsch. Orson Welles: Und unvorstellbar reich ist sie auch. Es gibt eine gute Geschichte von ihr. François Reichenbach: Willst Du sie uns erzählen? Orson Welles: Ich komme später darauf zurück. Es ist Zeit für ein Vorwort. Orson Welles vor einer aufgestellten Leinwand: Ich heiße Sie herzlich willkommen, meine Damen und Herren. Dies ist ein Film, der von Tricks handelt – und Betrug und Schwindel und Lügen. Lügen erzählt man am Kamin, auf dem Marktplatz oder im Kino. Nahezu alle Geschichten sind – nahezu mit Sicherheit – Lügen. Aber nicht dieses Mal. Das kann ich Ihnen versprechen. Alles, was Sie in der nächsten Stunde hier von uns erfahren werden, ist die reine Wahrheit und beruht auf Tatsachen. Die aufgestellte Leinwand lässt als Projektionsfläche die filmgeschichtliche ReKonfiguration ‚Lumière – Méliès‘ zum konkreten Wahrnehmungsdispositiv ‚Kino‘ werden, in dem Orson Welles und seine ‚Geschichten‘ zu sehen sind (Abb. 5).

Abbildung 5: Screenshot, Vérités et Mensonges/F for Fake

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2.

Fakten und Fakes

Die Struktur dieses Films erscheint auf den ersten Blick einfach, sie ist bei genauerem Hinsehen indes außerordentlich kompliziert. Einfach, wenn man – wie Gérard Legrand4 und in seiner Folge Gilles Deleuze – die großen Erzählschritte des Films und die ihn tragenden Handlungsrollen fokussiert. Danach stellt sich das Gefüge des Films wie folgt dar: „1. ‚Vorstellung von Oja Kodar5, nach der sich alle Männer auf der Straße umdrehen‘; 2. ‚Vorstellung von Welles als Taschenspieler‘; 3. Vorstellung des Journalisten [Clifford Irving; H.-B.H.], des Autors eines Buches über einen Maler-Fälscher [Elmyr de Hory; H.-B.H.], aber auch der falschen […] Memoiren des Fälscher-Milliardärs [Howard Hughes; H.-B.H.] mit seinen vielen Doppelgängern, wobei man nicht sicher ist, ob nicht er [Howard Hughes; H.-B.H.] es war, der den Journalisten getäuscht hat; 4. Unterhaltung oder Meinungsaustausch des Journalisten-Fälschers [Irving; H.-B.H.] mit dem MalerFälscher [de Hory; H.-B.H.]; 5. Welles schaltet sich ein und versichert, dass der Zuschauer innerhalb der nächsten Stunde nichts Falsches mehr hören und sehen wird; 6. Welles erzählt sein Leben und reflektiert über den Menschen vor der Kathedrale von Chartres; 7. Oja Kodars Affäre mit Picasso, an deren Ende Welles mit der Bemerkung auftaucht, dass die halbe Stunde vorbei sei und die Affäre mit Picasso von vorn bis hinten erfunden sei.“6 Kompliziert und vielschichtig wird es allerdings, wenn man dieses im Resümee zu einer Erzählung gebündelte Material im Zusammenhang seiner medialen Vermittlung und Repräsentation betrachtet. Dabei wird zweierlei deutlich: Zum einen werden im Film von Beginn an die Grenzen zwischen wahrnehmbarem Fakt und Vorstellung, zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Fakt und Fake porös gehalten und – auch für den Kinozuschauer allen Versicherungen von Welles zum Trotz – aufgehoben; zum anderen exponiert sich Welles immer wieder als medialer Magier, der nicht nur als auktorialer Erzähler beständig in Erscheinung tritt und sich ins Bild setzt, sondern sich auch extradiegetisch als ‚auteur‘ ganz praktisch als am Schneidetisch operierender ‚Monteur‘ von Bild und Ton visuell exponiert. So entsteht – im Gegensatz zu einer geschlossenen Erzählung – eine vielschichtige, miteinander verwobene, offene Textur. Dabei ist mit dem Terminus ‚Monteur‘ im Zusammenhang von ‚Montage‘ bewusst auch der französisch homophonen Begriff des ‚menteur = Lügner‘ mitgedacht.

4

Vgl. Legrand: „Vérités et Mensonges“, S. 8f.

5

Oja Kodar: seit 1962 bis zum Tod von Orson Welles 1985 seine Lebensgefährtin.

6

Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 192.

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So macht Welles in der sich anschließenden Sequenz aus dokumentarischem ‚found footage‘-Material, das ihm François Reichenbach aus einem anderen Produktionszusammenhang lieferte und das die ungemein attraktive Oja Kodar im Minikleidchen auf ihrem Gang durch eine südfranzösische Stadt zeigt, über höchst raffinierte Bildmontagen eine atemberaubende Studie zum Verhältnis weiblichen erotischen Versprechens (scheinbar oder tatsächlich?), männlichen Begehrens (tatsächlich) und maskuliner Projektionen (imaginär). Diese Sequenz wird gespiegelt am Ende des Films, als Welles die schon eingangs auf dem Bahnsteig vage angedeutete Geschichte der Begegnung Oja Kodars mit Picasso entfaltet, deren erotische Spannung sich hinter verschlossenen Türen entladen haben soll – vor allem in einer Produktion von 22 Gemälden. Deren Status als Originale allerdings, so der Erzähler Welles, sollte – nach ihrer öffentlichen Ausstellung – von Picasso vehement bestritten werden, was dann im Schlussteil des Films eine weitere Falltür zur Geschichte von Ojas angeblichem Großvater führt, „dem größten aller Kunstfälscher“ (Welles). Die Porosität von Authentischem und Fingiertem, von Dokument und Fake, von kreativer Schöpfung und Kopie, Original und Fälschung steht im Zentrum der miteinander verwobenen Sequenzen und Geschichten um den real existenten, genialen Maler Elmyr de Hory (1906-1976) und den nicht minder authentischen Journalisten und Schriftsteller Clifford Irving (geb. 1930); Elmyr de Hory, den die Indifferenz des Kunstmarktes gegenüber seinen originalen Werken zum höchstbezahlten Fälscher werden ließ, und Clifford Irving, der in seinem authentischen Buch mit dem Titel Fake! (1969) zunächst den Fall de Hory enthüllte, dann aber mit seiner auf gefälschten Dokumenten und selbst erfundenen Quellen beruhenden Autobiography of Howard Hughes (1971) für einen der spektakulärsten Literaturskandale und -prozesse des 20. Jahrhunderts sorgen sollte.7 Ist es Zufall, Koinzidenz oder Ausdruck einer Notwendigkeit? Ebendieser Howard Hughes (1905-1976), einstmals, in den 1930/40ern, spleenig-umtriebiger und machtbewusster US-Großmogul, später dann ein jegliche Öffentlichkeit paranoid meidendes, von der Welt sich abschottendes Phantom, dessen Existenz nur noch vorstellbar war aufgrund der Barrikaden, die es abschirmten, war nicht nur für Irving von Interesse; bekanntlich hatte Howard Hughes für Orson Welles Jahrzehnte zuvor das Vorbild für die Geschichte vom Aufstieg und Fall des undurchsichtigen Citizen Kane abgegeben. Lebte das von Irving provozierte Medienspektakel von der Spekulation auf die Enthüllung der Realität eines Phantoms – und dies in Form einer schlüssigen Lebensgeschichte, die sich dann als Fake erwies, so setzte Welles sein Projekt als Fiktionalisierung von Fakten und Ereignissen aus dem Leben des authentischen Howard Hughes ins Werk – in einer Form, die sich wie ein unvollständi7

Vgl. Der Spiegel Nr. 32 (1975) v. 04.08.1975, S. 108.

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ges Puzzle einer geschlossenen Erzählung widersetzte und damit ‚nur‘ Anhaltspunkte für Projektionen der Öffentlichkeit lieferte; ein Verfahren, das dem Publikum die medial vermittelte Existenz des Moguls Hughes weitaus realistischer erfahrbar machte, als jeder ernst gemeinte oder getürkte Versuch einer Dokumentation es vermochte.

3.

Die Kopie des nicht existenten Originals oder Vom Schwinden des Autors

In der Geschichte des genialen Malers de Hory wird deutlich, dass sein gesellschaftlicher Aufstieg sich in dem Maße vollzieht und er zur künstlerischen Selbstbestätigung findet, wie er auf seine Autorschaft als Schöpfer von eigenen, signierten Originalen verzichtet. Seine ‚Modigliani‘ -Arbeiten, mit denen sich die berühmtesten Museen der Welt schmück(t)en, und sein Verhältnis zu Modigliani kommentiert er wie folgt: „He [Modigliani] worked very little, he died very early, so if I added a few paintings (to his collection) it’s not going to destroy him.“ – „I don’t feel bad for Modigliani, I feel good for me.“ Und der Enthüllungsjournalist Clifford Irving, der de Hory als Autor-Fälscher enttarnte, um dann später selbst eine gefälschte Biographie von Howard Hughes zu veröffentlichen, – dieser Irving führt mit Werken aus dem Fälscher-Atelier de Horys vor, wie aus solchen nicht-signierten Modiglianis echte Modiglianis werden – nämlich unter dem Regime eines Kunstmarktes, dessen Wertgesetze von Experten und der Nachfrage von aufkaufenden Museen bestimmt werden. Das ist die Quintessenz der Geschichte de Horys und Irvings, so wie sie uns Orson Welles erzählt und mit der unsere Vorstellungen vom Originalkunstwerk dekonstruiert werden: Aura und ästhetische Originalität sind nicht an die erkennbare Signatur eines individuellen Autors gebunden, sondern realisieren sich im gesellschaftlichen Gebrauch, der selbst eine Fälschung zu orginärer Kunsterfahrung führen lassen kann – auf Produzenten- wie auf Rezipientenseite. Man müsse Bilder wie die seinen nur lang genug im Museum hängen lassen, dann würden sie schon zu ‚echten‘ werden, sagt de Hory. „If they are hanged long enough in the museum they become real.“ Wie sehr in der Perspektive von Welles namentliche Urheberschaft und Authentizität von der Produktion zeitlos-abstrakter Kunstwerte zugunsten konkreter ästhetischer Gebrauchswerte entkoppelt sind, machen zwei unterschiedliche persönliche Einlassungen von Welles deutlich. Da ist zum einen die retrospektive Selbststilisierung der eigenen Künstlervita im Zeichen des Täuschens und Fingierens: so bereits sein hochfahrendes Debüt als Elfjähriger, der sich an der berühmten Todd School in Woodstock, Illinois, in der Theatertruppe als Darsteller, Regisseur und Bühnenbildner ins Szene zu setzen ver-

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stand; so sein erstes professionelles Engagement 1931 als gerade einmal 16Jähriger am berühmten irischen Gate Theatre, das er sich mit dem hochstaplerischen Argument ergaunerte, er sei ein berühmter Broadway-Schauspieler – um dann in Dublin spektakulär zu reüssieren; so schließlich nicht zuletzt seine 1938 für das Radio inszenierte fiktive Invasion von Mars-Menschen, The War of the Worlds (nach H.G. Wells) als Hörspiel, mit dessen Ausstrahlung Welles die gesamte Ostküste der USA in Panik versetzte. Umgekehrt sind es gerade auch anonym geschaffene Kunstwerke, Schöpfungen ohne persönliche Signatur eines Urhebers, die uns am tiefsten und nachhaltigsten bewegen können – ohne freilich per se ewige Gültigkeit beanspruchen zu können, wie Welles angesichts der Kathedrale von Chartres räsoniert; jenes monumentalen Sakralbaus, dessen Konturen und Profile die Kamera aus einem natürlichen, aber auch einem künstlichen, durch filmische Doppelbelichtung entstandenen Nebel ins Licht plastisch heraustreten lässt (Abb. 6).

Abbildung 6: Screenshot, Vérités et Mensonges/F for Fake

„Diese Kathedrale steht hier seit Jahrhunderten. Vielleicht ist sie das bedeutendste Werk des Menschen in der westlichen Welt. Und sie trägt keine Signatur – Chartres. Eine Verherrlichung Gottes und der Würde des Menschen. Alles, was bleibt, so scheinen die Künstler heute zu empfinden, ist: der Mensch – nackt, arm, erbärmlich. Es ist nichts mehr zu verherrlichen. Unser Universum, so sagen die Wissenschaftler, ist entbehrlich. Wer weiß, vielleicht wird gerade dieses Denkmal namenloser Größe es sein. Dieser reiche Wald aus Stein, dieses epische Gedicht; diese Heiterkeit; dieser hoch aufgetürmte Choral, den wir, wenn unsere Städte Staub geworden sind, erwählen können, unzerstört zu bleiben, um aufzuzeigen, wo wir gewesen sind, wozu wir fähig waren, was wir vollbringen konnten. Unsere Werke, in Stein und Farbe gedruckt, werden selten verschont – für ein paar Jahrzehnte oder ein oder zwei Jahrtausende. Alles muss schließlich vergehen … durch Krieg oder den Verschleiß der Zeit. Alles geht ein in die Asche des Universums: die Triumphe und die Betrugsmanöver,

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die Schätze und die Fälschungen. Eine Tatsache des Lebens. Wir werden sterben. ‚Seid reinen Herzens‘, rufen uns die toten Meister aus der lebendigen Vergangenheit zu. Unsere Lieder werden alle verstummen. Aber was heißt das schon? Fahrt fort zu singen! Vielleicht bedeutet ein Name wirklich nicht so viel.“

4.

Die Stunde der Wahrheit

Nach gut 60 Minuten des Films: Orson Welles auf dem Pariser Flughafen Orly; dort also, wo er eingangs des Films, nach der Bahnsteigsequenz, Oja Kodar, die kein Flugticket besaß, auf magische Weise physisch komprimiert und in einem Handgepäckkoffer hatte verschwinden lassen. Jetzt sei es Zeit, die schon in der Eingangssequenz angedeutete, aber dann aufgeschobene Geschichte zu erzählen. „Jetzt kommen wir endlich zu Oja“, – ausdrücklich „eine wahre Geschichte“, wie Welles betont. Paradox ist nur, dass eingangs des Films die Wahrheitsbeteuerung von Welles gegenüber dem Kinopublikum („Alles was Sie … erfahren werden, ist die reine Wahrheit und beruht auf Tatsachen“), von diesem vermutlich wenig beachtet, nur zeitlich befristet galt: „Alles, was Sie in der nächsten Stunde hier von uns erfahren werden, ist die reine Wahrheit und beruht auf Tatsachen.“ Was Welles jetzt nicht sagt, ist, dass inzwischen diese Stunde ‚der Wahrheit‘ längst vergangen ist; was er sagt, ist, dass es nun endlich an der Zeit sei, mit Ojas „wahrer Geschichte“, ihrer Affäre mit Picasso, zu beginnen. Es ist eine Geschichte, die Welles über Filmschnitt und Montage unterschiedlicher Bildmaterialien sowie mittels eines suggestiven Off-Kommentars entstehen lässt. Im südfranzösischen Städtchen Toussaint zieht die durch die Straßen streifende Oja Kodar (dokumentarfilmisch festgehalten) die begehrlichen Blicke des großen Picasso auf sich (zunächst die Großaufnahme einer Schwarz-Weiß-Photographie Picassos, dann die Detaileinstellung auf die Augen eines Fauns in einem Picasso-Gemälde; Abb. 7-10).

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Abbildung 7-10, Screenshots, Vérités et Mensonges/F for Fake

Diese zunächst nur optische Begegnung in Form von Blicken konkretisiert sich: Man sieht Oja Kodar ins Haus Picassos eintreten, ihr in dieser Szene einziges Kleidungsstück, ein ihren Körper sanft umwehender, fast transparenter blauer Schleier bleibt vor der Tür. 22 Bilder, die „unter dem Pinsel Picassos entstehen“, seien das Resultat dieses Rencontre, die der Künstler Oja als „Preis“ für die gemeinsame Zeit überlassen habe („Alle 22 Bilder gehören jetzt ihr; das ist wahr“). Die Nachricht in der Zeitung, eine Galerie in Paris hätte 22 neue Picasso-Gemälde erworben, habe den erzürnten Maler auf den Plan gerufen. Staunend aber habe er festgestellt, dass nicht eines aus seiner Hand stamme. Wie in einer Mise-enabîme-Konstruktion führt dies zur Geschichte von Ojas ungarischem Großvater, dem, so Welles, zur „Legende“ gewordenen „größten aller Fälscher“; eine Geschichte allerdings, die – wie die Figur des Großvaters überhaupt – von Welles gegen Ende des Films als eine Erfindung im Interesse der Wahrscheinlichkeit der Geschichte enttarnt wird. Dem entspricht, dass Welles nur in Ansätzen – über einmontierte Foto-Inserts, die den Großvater zeigen (sollen) – dessen Geschichte im (scheinbar) realistischen Modus vergegenwärtigt. Statt dessen wird sie – insbesondere die Konfrontation zwischen dem Großvater und Picasso – erzählt über ein von nur minimalistischen Gesten begleitetes und von Illusionsunterbrechungen durchsetztes Rollenspiel zwischen Oja Kodar und Orson Welles – in Szene gesetzt bezeichnenderweise vor einer halbtransparenten Lichtbildschirmwand, gleichermaßen den Gaze-Vorhang alter Schattentheater wie die Projektionsleinwand des Kinos in Erinnerung rufend.8 Die letzten Bilder des Films zeigen dann wieder Orson Welles ‚realistisch‘: wie er den verhüllten Körper des toten Großvaters auf magische Weise zum Schweben bringt (Abb. 11).

8

Vgl. dazu spiegelbildlich korrelierend die auf dem Bahnsteig aufgestellte Leinwand in der oben näher beschriebenen Eingangssequenz.

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Abbildung 11: Screenshot, Vérités et Mensonges/F for Fake

Der Autor/Magier/Fälscher als Magier/Fälscher/Autor oder als Fälscher /Autor/Magier? Auch auf der Tonebene behält sich Welles das letzte Wort vor, das freilich eines aus zweiter Hand ist: Kunst sei die „Lüge“, so wird emphatisch Picasso zitiert, „die uns die Wahrheit begreifen lässt.“ Nachdem man diesen Film gesehen hat, fällt es schwer, daran zu zweifeln.

5.

Metamorphose des Wahren oder Alles ändert sich mit dem Gesichtspunkt der Zeit als Werden

Deleuze hat in seinen Ausführungen zum Zeit-Bild Orson Welles und insbesondere den hier vorgestellten Film zum Paradigma einer Sicht erhoben, in der angesichts einer schon von Nietzsche beschworenen „Krise der Wahrheit“ die „Form des Wahren“ durch das Regime „des Falschen […] und seiner künstlerischen, schöpferischen Macht“ ersetzt wird.9 Tatsächlich erschließt sich in diesem Horizont ein bemerkenswert eindringlicher Zugang zum filmischen Œuvre von Welles, auch wenn Deleuze primär an Denk- und Wahrnehmungsmodellen und nur wenig an konkreten filmästhetischen Analysen gelegen ist. Die Figur des Fälschers und der Akt des Fälschens werden zur Signatur einer künstlerischen Epoche, in der sich wahre Kunst nicht mehr absolut, nicht mehr in der Form, in einer gültigen Form, sondern prozessual in der Transformation ausdrückt. Es gibt dann weder Wahrheit noch Schein: weder invariable Form noch variabler Blickwinkel auf eine Form. Es gibt einen Gesichtspunkt, der so sehr zur Sache gehört, dass sie sich unablässig in einem Werden transformiert, das mit dem Gesichtspunkt identisch ist. Metamorphose des Wahren. Der Künstler ist Schöpfer der Wahrheit, denn die

9

Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 175.

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Wahrheit kann weder erlangt oder gefunden noch reproduziert werden, sie muss geschaffen werden.10 In unserem Film gilt dies nicht nur für die Geschichten über „Vérités et mensonges“ im Kulturbetrieb, die von Welles beständigen Metamorphosen der Form unterzogen werden – und dies gerade auch mit Blick auf ihre verschiedenen medialen Repräsentationsmodi (z.B. dokumentarisch, sichtbar inszeniert, szenisch-tricktechnisch, über Fotografien, Gemälde usw.). Es gilt auch für den Erzähler selbst, der sich in einer Vielzahl von wechselnden, einander sich durchmischenden und sich wechselseitig relativierenden Handlungsrollen in Szene setzt: Orson Welles als Selbstdarsteller, als Causeur und räsonierender Kommentator, als auktorialer Erzähler (inner- und extradiegetisch), als praktizierender Zauberkünstler, als Rollenfigur innerhalb dokumentarischer wie inszenierter Filmsequenzen und nicht zuletzt als Monteur im angesprochenen doppelten Wortsinn. Insofern erweist sich Welles als Performer par excellence mit allen Attributen, wie sie diesem Typus im Schaugewerbe des Vaudeville und Varieté ausgangs des 19. Jahrhunderts an der Schwelle zur Kinematographie zukamen. Mehr noch: Orson Welles’ primäres Medium ist hier nicht die Bühne, sondern der Film. Insofern ist der Per-former auch ein Ver-former – bei den ‚Metamorphosen des Wahren‘ unter der Macht des Falschen im Medium der bewegten Bilder mit ihrer spezifischen Zeit und Zeitlichkeit. In einer der bekanntesten programmatischen Äußerungen des Surrealismus heißt es: Alles lässt es uns glauben, dass es einen bestimmten geistigen Standort gibt, von dem aus Leben und Tod, Reales und Imaginäres, Vergangenes und Zukünftiges, Mitteilbares und Nicht-Mitteilbares, Oben und Unten nicht mehr als widersprüchlich empfunden werden. Indessen wird man in den Bemühungen des Surrealismus vergeblich einen anderen Beweggrund suchen als die Hoffnung, eben diesen Standort zu bestimmen.“11 Die hier vorgeschlagene Lektüre von Verités et mensonges zeitigt verblüffende Affinitäten zu den ästhetischen Verfahren einer den surrealistischen Ambitionen vergleichbaren Standortbestimmung. Allerdings scheint die Souveränität, mit der Orson Welles sich als selbstmächtiger ‚pivot‘, als Dreh- und Angelpunkt der entfalteten Paradoxien in Szene setzt, ihn nicht nur historisch von surrealistischen Axiomen abzusetzen.

10 Ebd., S. 193f. 11 Breton: „Zweites Manifest des Surrealismus“, S. 55.

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Literaturverzeichnis Breton, André: „Zweites Manifest des Surrealismus“ (1930), in: ders.: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 49-100. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2 (1985), Frankfurt a.M. 1991. Legrand, Gérard: „Vérités et mensonges“, in: Positif, Nr. 167 (1975), S. 8f. Parra, Danièle/Zimmer, Jacques: Orson Welles, Paris 1985. Rebhandl, Bert: „Die Abenteuer des Herrn Picasso“, in: FAZ v. 14.08.2000, S. BS4/Nr. 187. Der Spiegel, Nr. 32 (1975) v. 04.08.1975, S. 108.

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Gerhard Wild

Rigoletto im Regenwald Monade, Mythos und Manierismus im Werk von Werner Herzog Monade, Mythos und Manierismus im Werk von Werner Herzog Für Hubertus Thoma (Haiti), Entdecker wunderbarer Welten, zum 50. Geburtstag Der Hang zur Dichtung stammt ursprünglich aus dem heißen Verlangen nach unbekannten sgeistigen Wirklichkeiten, die wir als möglich vorausahnen. (Pavese, Das Handwerk des Lebens)

1.

Kinematographische Sprachgebärden, oder: Kopfbilder wunderbarer Welten

Kulturelle Gründermythen beziehen sich vorzugsweise auf anekdotische Gesten, die aus einem Ineinander von listenreicher Handhabung von „Medien“ im ursprünglichen Sinn (Werkzeugen) und physischer Entäußerung hervorgehen, die häufig einen historischen Rechtsbruch (Eroberung, Landnahme, Kolonisierung) dokumentieren. So beschreibt noch 1994 der türkische Romancier Nedim Gürsel in seinem postmodernen Roman El-Fetih die übermenschliche Anstrengung, die der geniale Stratege Mehmet der Eroberer veranlasste, indem er die osmanische Flotte durch christliche Sklaven auf einer gleichsam über Nacht terrassierten Schiffsstraße über die Landzunge zwischen Marmarameer und der seit der Antike durch eine eiserne Kette gesperrten Bucht von Konstantinopel schleppen ließ, wodurch er im April 1453 die Eroberung des zweiten Rom einleitete.1 Die Galeere kam jetzt langsam hinter dem Turm hervor, dann verschwand sie. […] Ihr folgten bald weitere Schiffe. Über die Hügel glit1

Die phantastisch anmutende Episode ist bei mehreren zeitgenössischen Historikern belegt und wird von modernen Geschichtswissenschaftlern nicht angezweifelt. Vgl. Ostrogorsky: Byzantinische Geschichte, S. 501, sowie Runciman: Die Eroberung von Konstantinopel.

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ten sie eines nach dem anderen mit geblähten Segeln zum Goldenen Horn hinab, diese kampferprobten Seefahrzeuge, die je drei Reihen Ruderern Platz boten. Mein Gott konnte das Wirklichkeit sein? Sicher träumte ich schon wieder! Mehmet bewegte seine Flotte über das Festland.2 Nicht erst der Held von Werner Herzogs Fitzcarraldo war es also, der ein Schiff über einen Berg schleppen ließ. „Jeder Film muss ein Bild haben, an das sich jeder für immer erinnert“, sagte Herzog einmal. Ein solches Denkbild ist nicht nur das in Fitzcarraldo über den Berg geschleppte Dampfschiff, sondern auch die Anfangssequenz von Werner Herzogs Aguirre, in der sich ein spanisches Expeditionskorps in den peruanischen Anden über einen 1.000 Meter senkrecht abfallenden Gebirgsgrat durch die Wildnis kämpfen (Abb. 1), und das Schlussbild des 1984 entstandenen Films Cobra Verde, wo der Sklavenhändler Cobra Verde ein für wenigstens ein Dutzend Männer gebautes Boot vom Strand auf den Atlantik hinauszuziehen versucht, um aus Afrika ins heimatliche Brasilien zurückzugelangen (Abb. 2).

Abbildung 1: Screenshot, Aguirre

2

Gürsel: Der Eroberer, S. 249.

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Abbildung 2: Screenshot, Cobra Verde

André Jolles bemerkte zu Recht: „Die Welt der Mythe ist keine Welt, in der es heute so und morgen anders zugeht, in der etwas kommen, aber auch ausbleiben kann; sie ist eine Welt, die Befestigung sucht.“3 Aus einem Chaos, das Erfahrungsordnungen leugnet, geht eine neue Welt hervor; die mediale Gestalt dieses Übergangs von Chaos in Ordnung bzw. von Natur in Kultur ist der Mythos selbst, dessen Struktur „Sprachgebärden“4 von erhöhter Prägnanz einbeschrieben sind: das der Neuzeit wird insofern nicht erst durch die Karavellen des Kolumbus begründet, als vielmehr durch das Geburtstrauma5 des Falls von Konstantinopel durch eine Flotte, die sich zu Lande bewegt. Noch Alejo Carpentier wird ähnliche Sprachgebärden zur Begründung lateinamerikanischer Identität im Zeichen seiner privaten Mythologie einer „wunderbaren Wirklichkeit“ verwenden: Das spätbarocke Lustschloss Sanssouci, das der Potentat Roi Christophe in der Einöde Haitis errichten ließ, etwa, wird ihm Ausdruck einer „coincidentia oppositorum“, aus der das Wunderbare nicht als wirkungsästhetische Kategorie, sondern als emblematische Wesenheit der Neuen Welt hervorgeht.6 Es ist auffällig, dass zumal Werner Herzogs filmisches Werk der siebziger und achtziger Jahre derartige „Sprachgebärden“ visualisiert: der Zivilisationsschrott, den der baskische Konquistador Aguirre über die Anden schleppen lässt, der Flussdampfer, den der irische Melomane Brian Sweeney Fitzgerald von einem Nebenarm des Amazonas zu einem anderen über einen Berg schleppen lässt, das Quartett aus Verdis Rigoletto, das mitten im Regenwald die

3

Jolles: Einfache Formen, S. 113.

4

Begriff nach Jolles (wie Anm. 3), S. 45f.

5

Vgl. Wild: „Viajes en Turquia: Orientalismus und fiktive Geographie in spanischen und katalanischen Texten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit“.

6

Vgl. Wild: Paraphrasen der Alten Welt. Interkulturelle Ästhetik im Werk Alejo Carpentiers.

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Jivaro-Indianer besänftigen soll, – das Werk Werner Herzogs ist reich an solchen, in filmische Bilder gefassten Erzählungen („mythoi“), in denen sich Geschehen in der Absicht konkretisiert, eine – bewußt gegen das Vernunftpostulat der idealistischen Philosophie gesetzte – „neue Mythologie“ zu stiften, in der sich – und dies ist die Leitthese der folgenden Überlegungen – das neuzeitliche Subjekt in seiner Vereinzelung feiert. In ihren größeren historischen Linien durchaus nachprüfbar, reproduzieren diese visuellen Sprachgebärden nämlich als emblematische Figuren menschlicher Transgression ein anthropologisches Grundmuster, dessen Ambivalenz aus dem Zwiespalt von subjektiver Biographie und objektiver Geschichte herrührt, die erlaubt, eine mythische Tat einerseits als Kolonisierung und damit als Akt einer Rechtsverletzung zu verurteilen oder sie als Triumph einer ins Wahnhafte gesteigerten Willenskraft zu verherrlichen. Mehr noch als je spezifisches Scheitern oder Gelingen inszenieren diese letztlich die Irrationalität menschlichen Begehrens: Den Gründermythen, gleichwohl, ob sie von Erfolg (Mehmet, Fitzcarraldo) oder Misserfolg (Aguirre, Roi Christophe, Cobra Verde) sprechen, liegt eine Wahnhaftigkeit zugrunde, die im „musealen“ Charakter der Sprachgebärden selbst evident wird7 und die sich in der Persönlichkeit ihrer Urheber als „monadische“ Komplexion8 äußert. Sie wiederum weist stärker als auf den französischen Surrealismus in die Ästhetik der Frühen Neuzeit, in Cinquecento-Manierismus zurück, indem sich das neuzeitliche Ich im Akt narzisstischer Selbstbespiegelung seines Aus-der-Welt-Seins gewahr wurde. Sollte sich – so die Leitfrage der folgenden Überlegungen – eine Beziehung zwischen der Ästhetik von Werner Herzogs Filmschaffen und dem Surrealismus herstellen lassen, so läge diese nicht in einer direkten Bezugnahme oder einem bewussten Rückgriff auf surrealistische Produktionsweisen – den psychischen Automatismus und der ihn begründenden Momente des Zufalls und des Unbewussten –, sondern einer ästhetischen Konfiguration, die das Subjekt zum Demiurgen einer Parallelwelt werden lässt: „Jamais en France une école de poètes n’avait confondu de la sorte, et très consciemment, le problème de la poésie avec le problème crucial de l’être.“9 Lediglich von kulturkonservativer Seite wurde gerade der Aspekt des Surrealismus beachtet, wonach seine Propagandisten zu „problematischen Indivi7

Zum Terminus „Musealisierung“ vgl. Wild: „Athaumasia – eine Theorie des Staunens aus musealem Geist. Medienarchäologische Überlegungen zur Protogenese des Surrealismus“.

8

Vgl. Wild: „Heteropoiesis: Wahrnehmung und poetische Ein-Bildungskraft in Dalís frühen Prosaschriften und ihre Beziehung zur Ästhetik des Fin de Siècle“.

9

Breton: Dictionnaire abrégé du surréalisme, S. 846.

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duen“ werden, indem sie das von der Romantik überkommene Konzept einer „Poetisierung der Welt“10 vorantreiben. Dabei wird der Produktionsästhetik, der imitatio naturae das – ursprünglich nur kunstbezogene – Prinzip einer aus den inneren Vorstellungen generierten Wirklichkeit gegenüberstellt: Der „disegno interno“ (innere Zeichnung sei der bloßen Nachahmung vorzuziehen. […] Der disegno interno wird mit einem inneren Spiegel verglichen, der Vorstellung und Gegenstand des Sehens sei. Die menschliche Phantasie bildet – wie der Traum und wie Gott – „neue Arten und neue Dinge“. Das geistige In-Bild des Künstlers hat also demiurgische Kraft. Die bloße Nachahmung der Natur erscheint als eine Kopie der Kopie. […] Die abstrakte Definition dessen was Kunst sei, lautet: „Bildliche geistige Vorstellung, durch die Linie oder in anderer maniera ausgedrückt.“11 Vielfach hat man zumal Herzogs Opus Magnum Fitzcarraldo bereits in der Produktionsphase Größenwahn, nach Fertigstellung einen ästhetischen Zynismus vorgeworfen: Seither galt der Münchner als der schlechthin ambivalente Filmemacher, der als ein Richard Wagner der Kinematographie seine ästhetische Vision unter Ausbeutung aller menschlichen Ressourcen vorantreibt: Bezeichnend hierfür ist das Schicksal seines schauspielerischen alter ego Klaus Kinski, der sich in 15 Jahren Zusammenarbeit, aus der die fünf Streifen Aguirre (1972), Nosferatu (1978), Woyzeck (1979), Fitzcarraldo (1981) und Cobra verde (1987) hervorgingen, physisch wie psychisch aufbrauchte: Nicht selten wurde Kinskis Spiel von Kritikern als „unerträglich exzentrische Darstellung“12 verkannt, insofern die Exzentrik auf die monadische Konstruktion der durch ihn repräsentierten Gestalten verweist. So handelt der folgende Text von Werner Herzogs Tendenz, als „Helden“ – zwischen Aguirre und Cobra Verde, vorzugsweise Ausnahmeerscheinungen zu entwerfen, deren dämonisches Streben nach Authentizität sich Raum zu brechen versucht, sofern sie ihre Vision von Wirklichkeit der Welt auferlegen. Indem sie „Konformismus und Nonkonformismus als natürliche Ordnung betrachten“, verweisen zunächst die Herzogschen Charaktere auf die „Morbidität eines neuen Menschenbildes“13, das der äußeren Wirklichkeit vorzugsweise dadurch begegnet, dass es dieser die eigene innere Wirklichkeit nicht bloß entge-

10 So unter anderem in Schlegels Athenäumsfragmenten. 11 Hocke: Malerei der Gegenwart, S. 208. 12 So die Film-dienst-Kritik zu Cobra Verde, in: Lexikon des internationalen Films 1987-88, S. 118. 13 Hocke: Malerei der Gegenwart, S. 210.

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gensetzt, sondern aufzwingt. Erst so erstehen, und dies wäre die Anschlussthese, jene „Disharmonien, Übersteigerungen und Verrätselungen“14, deren ästhetischer Subjektivismus nicht mehr mit der internalistischen „vie factice“ des Fin de Siècle noch dem „emploi déreglé et passionnel du stupéfiant image“15 zu verrechnen ist, mit jenem „schicken“ Weg der Surrealisten in einen intellektuellen autre monde: Im Surrealismus geht die Behauptung zweier Wirklichkeiten in einem Fest des Intellekts auf, in einer handwerklich manipulierten Parallelexistenz in dieser einen Welt. Werner Herzogs cineastisches Projekt mündet mit schauspielerischer Unterstützung des – auch im Leben – schlechthin problematischen Charakters Klaus Kinski in der Produktion von mythischen Sprachgebärden, die auf eine monadische Wirklichkeitskonstruktion verweisen. Unter ihrem Einfluss wird dargestellte Wirklichkeit „musealisiert“, d. h. ambiental untypisch rekontextualisiert, was durch unübliche Bildkombinationen, durch die mediale Subversion des Bildlichen oder kontrapunktische TonBildkonglomerate entsteht; diese Hervorbringung einer synästhetischen Kombinationskunst führt zur Vermischung bzw. Torsion der primär identifizierbaren Genres. In auffälliger Weise ist die dargestellte Wirklichkeit in seinem Filmschaffen an Geschichte in einer konkretistischen Gestalt gebunden: So lagert Herzog nicht nur in Werken wie Jeder für sich und Gott gegen alle (1971) Historie ein, sondern selbst die postmoderne „Umwelttragödie“ Wo die grünen Ameisen träumen (1984) fiktionalisiert Zeitspezifisches, als wäre es Geschichte. Der Konquistador Lope de Aguirre, schließlich der Kautschukbaron Carlos Fermín Fitzcarrald und der Sklavenhändler Francisco Manoel da Silva sind historisch belegte Gestalten. Wenn bei wenigstens zwei von ihnen – Aguirre und Da Silva – das Faszinosum Geschichte einen Niederschlag in literarischen Texten (Abel Posse, Arturo Uslar Pietri; Bruce Chatwin)16 gefunden hat, so mag dies erklären, warum die exotischen Filme Werner Herzogs oft vordergründig als „Abenteuerfilme“ klassifiziert werden. 14 Ebd. 15 Breton: Dictionnaire abrégé du surréalisme, S. 846. 16 Vgl. aus der Fülle von Forschungsliteratur zu Aguirre die Arbeit von Galster: Aguirre oder Die Willkür der Nachwelt, zu Cobra Verde Werth: Kontingenz und Alterität; auf Carlos Fermín Fitzcarrald, nach dem ein Provinz Perus benannt ist, wurde Werner Herzog durch den Peruaner José Koechlin von Stein aufmerksam. In der Tat existiert aber auch hierzu Forschungsliteratur, die bis in die Epoche von Fitzcarralds Pionierstück der Überwindung des nach ihm benannten Isthmus zurückreicht (Torres: El Istmo de Fitz-Carrald) und verhältnismäßig rasch in Mythenbildung übergeht: Reyna: Fitzcarrald, el rey del caucho, und Zacarías Lozano: El verdadero Fitzcarrald ante la historia; auch Herzogs Film hat dem Fitzcarrald-Mythos offenbar neue Nahrung gegeben, vgl. Georgescu-Pipera: Tras las huellas de Fitzcarrald.

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Allerdings bilden bei der vom Vizekönigreich Peru aus im Jahr 1560 betriebenen Suche nach dem Dorado, der Kautschukboom in Urubamba (1897) und dem Sklavenhandel in Benin (1820) nicht einen exotischen Hintergrund im Sinne historischer Romane, sondern den realen Untergrund im Sinne von Mythen, aus denen archaische Erzählformen hervorgehen, über die Herzog die Visualisierung monadischer Konstrukte vorantreibt: Schließlich handelt es sich bei den Gestalten Aguirre, Fitzcarraldo und Cobra Verde keineswegs um positive Archetypen, sondern um in der Geschichte Gescheiterte: Aguirre findet weder das Dorado, noch vermag er das private Fernziel seiner Abspaltung der Kolonien von der spanischen Krone zu realisieren, Fitzcarraldo wird im Kreis der Kautschukbarone als „Eroberer des Nutzlosen“17 (so auch der Titel von Herzogs 2004 erschienenen Tagebuchaufzeichnungen) deklassiert und Cobra Verde macht die zweifelhaft pikaresk anmutende ‚Karriere‘ vom „jagunço“ im brasilianischen Sertão über den Sklavenhändler und Vizekönig in Dahomey zum armen Schlucker durch. Gleichzeitig entspricht es aber der Charakterkonstruktion der drei Protagonisten, dass sie sich Geltung verschaffen, indem sie – wenigstens zeitweise und unter übermenschlichen Anstrengungen – ihre Vision der Mitwelt auferlegen. Mit Blick auf die eingangs vertretene Hypothese vom geschichtsphilosophischen Enthusiasmus solcher Mythen beziehen sich wenigstens die Geschichtssubstrate „Aguirre“, „Fermín Fitzcarrald“ und „Cobra Verde“ auf jene mythische Dialektik von zivilisatorischer Begründung und persönlichem Scheitern. Dabei zersetzt der Abenteuerfilm sein mythisches Substrat. Das Verhältnis von Geschichte, Mythos und Filmstory gewinnt damit ähnliche Züge, wie sie neuerdings (u.a. von R. Ceballos) als „transversalhistorische“ Reinterpretation – als gegen den Strich gelesene historische Wissensbestände – bezeichnet werden. Mythen werden in transversalhistorischer Lesart somit – wie bereits im Cinquecentomanierismus und im Surrealismus – zu „einem abstrakten, ideellen Muster, in das man jeweils etwas zeitgenössisch Problematisches sticken kann“18. So erklärt sich auch die vorzugsweise Wahl von Herzogs „Periphermythen“ an Stelle von Kolumbus, Bolívar oder Livingston: „Wie die Manieristen um 1600 von einer Antike der Seltsamkeiten gefesselt waren, so auch von ‚seltsamen Mythen‘.“19 Wie im Manierismus, so erklärt sich auch im Surrealismus die Attraktivität mythischer Versatzstücke nicht aus einer primären Faszination, die in unmittelbaren Intensitätsmomenten aufgeht, sondern aus dem

17 Herzog: Fitzcarraldo Filmbuch, S. 14. 18 Hocke: Die Welt als Labyrinth, S. 93. 19 Ebd., S. 92.

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intellektuellen Spielcharakter, der mit der Trauer über den Verlust von Ursprünglichkeit korrespondiert: Hervorgegangen aus dem Schrott, den Dada zur Kunst erklärte, um den älteren Werkbegriff dem Spiel von Zufall und Unvernunft auszusetzen, gleichen insofern die Mythen der Manieristen und Surrealisten dem Strandgut an der Küste einer Zivilisation, die den Glauben an das Subjekt als mythischen Gründer preisgegeben hat.

2.

Aguirre, oder: Der Verlust des Ganzen

2.1

Geschichte, Mythos, Sprache und Lüge

Zu Beginn des Aguirre verweist Herzog in einer lapidaren Schrifttafel darauf, wie die von den Spaniern bezwungenen Indios im Vizekönigreich Peru eine Lüge erdachten: Mit der Erzählung (griechisch „mythos“) vom El Dorado wollte man die Konquistadoren in die todbringende Selva locken. Somit vergegenwärtigen Sprache und Schrift etwas, dessen Realisierung der weitere Verlauf der Geschichte desavouiert und das den vorgeblichen Mythos vom Dorado somit als „Metamythologie“, als Mythos zweiter Ordnung, gegen die Realität der Historie von Hybris und Katastrophe Aguirres erweist. In kaum einem Werk Herzogs sind die Gattungsbezüge zu historisierenden Genres evidenter als gerade in den Anfangssequenzen des Aguirre. Zu den – letztlich unfilmischen – Ausdrucksmitteln zählen Erzählverfahren, die den Film an Epos und Chronik, teils auch an eine Kriminalgeschichte anlagern. Wie die Dorado-Erzählung, so rekurriert die Handlung des Films bis zur vorletzten Sequenz auf Binnendokumente, vor allem auf eine Niederschrift des Mönchs Caspar de Carvajal, in dessen Tagebuch weitere Texte – öffentlich verlesene Befehle und Expeditionsdokumente – wie die Briefe Aguirres an Philipp II. – eingeflochten sind. In dem so inszenierten Erzähllabyrinth aus Rede und Schrift setzt aber immer deutlicher die Wahrheit der optischen Sprachgebärden gegen die sprachliche Selbstdarstellung durch: „Mein Reich ist jetzt schon dreimal so groß wie Spanien“, behauptet Aguirre, während sein Floß stets peinlich genau in der Mitte des Rio Maranhão dahingleitet, um außerhalb der Reichweite der Indiopfeile zu bleiben (Abb. 3).

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Abbildung 3: Screenshot, Aguirre

Sprachlich ein Eroberer, erweist er sich optisch als Gefangener. Überdeutlich betreibt Herzog damit auch die Musealisierung (und Surrealisierung) nicht nur seines Helden, sondern der damit metaphorisierten „Kultur“ der Konquista. Die Konquista der Neuen Welt verdankte der geschichtstheologischen Konstruktion als Vollendung der Re-Konquista ihren mediävalen Charakter einer „hazaña caballeresca“. Doch durch Herzogs kinematographische Manierismen wird der Ritterroman zu einem Dokument monadisch begründeten Scheiterns: Die Güter der spanischen Zivilisation, Kriegsgerät, Kutsche und ein Pferd, werden durch Weitwinkelphotographie innerhalb der amerikanischen Wildnis in einer Kleinheit im Urwald sichtbar, die dem monadischen Konstrukt einer zu unterwerfenden Welt auf negative Weise entspricht und im Moment der Musealisierung das manieristische Prinzip der discordia concors als Unvereinbarkeit amerikanischer Natur und spanischer Kultur enthüllt. Gerade Herzogs Kameratechnik mit ihrem spezifischen Verhältnis von Totalen zu Detail- und Großaufnahmen leistet also das Ihre, um über das „Ausstellen“ von Zivilisation eine gegenläufige Konquista zu betreiben: Wenn Mensch und Menschenwerk der Natur – vorzugsweise der Naturgewalt des Wassers – ausgeliefert werden, so propagiert Herzog die Rückeroberung der Zivilisation durch die Natur. 20 Optische Kunstgriffe wie Unschärfen und von Wasserdampf beschlagene Linsen unterstützen den semidokumentarischen Charakter, der im manieristischen Sinne das „neue Sehen“21 dieses Abenteuerfilmes ausmacht. Ein schlechterer Regisseur hätte dem Sujet sicherlich Exotismen abgewinnen können, die Aguirre zu einer Art El Cid im Ambiente Robinson Crusoes

20 Steinwachs: Mythologie des Surrealismus. 21 Hocke: Die Welt als Labyrinth, 15ff.

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machten. Doch Herzog treibt die Auszehrung des „Spiel-Films“ unter Reduktion der Historie voran, oder aber: Er treibt die Quijoterie unter Überhöhung der äußeren Wirklichkeit voran. Im Gegensatz zum historischen Konquistador gelangt sein Aguirre nicht einmal bis an die Westküste, um Isla Margarita zu brandschatzen und sein antihabsburgisches Gegenreich zu begründen. In einer alptraumhaften Atmosphäre, die durch die Kameraoptik erst begründet wird, gerät das Floß außer Kontrolle, das Projekt in seine (unhistorische) Katastrophe und das Schreiben – schlechthinnige abendländische Kulturmetapher – darüber in die Krise: „22. Februar“, vermerkt der Mönch Carvajal: „Ich kann nicht mehr schreiben. Wir treiben im Kreis.“ Das „Treiben im Kreis“, das der Film visuell umsetzt, metaphorisiert zugleich Aguirres monadischen Eintritt in eine imaginäre Wirklichkeit, die Herzog durch die Musealisierung seines Protagonisten – den leitmotivisch in Großaufnahme gefilmten Klaus Kinski – optisch von der ersten Sequenz an vorbereitet hatte.

2.2

Monadische Psychographie

Ausgangspunkt der Handlungsverläufe war die in dem Dorado-Mythos kristallisierte negative Gralserzählung, die (wie im mittelalterlichen Prosaroman) ihre Wahrhaftigkeit über eine historia-Konzeption (Carvajals Tagebuch) zu erarbeiten vortäuscht. Zu deren chronikalischer Nüchternheit22 treten bei Herzog indes psychologischen Leit-Motive in Gegensatz, wie sie für die frühe Epik – namentlich die aus der altfranzösischen und altspanischen Literatur bekannten „Verschwörerepen“ – charakteristisch sind. Sie ermöglichen es, die historische Gestalt Lope de Aguirre zum prototypischen monadischen Charakterkonstrukt umzudeuten. Bereits die frühneuzeitlichen Quellen über die Expedition Aguirres zielen auf eine Charakterologie ab, deren Dämonie ihn Empörergestalten wie dem arthurischen Mordret oder dessen frühneuzeitlichem „Urenkel“, Shakespeares Richard III., annähern: Als ausgesprochen verschlagener und unnötig grausamer Schurke begeht er Verrat an seinen Vorgesetzten, Pedro de Orsúa, und dem Feudalherrn, Philipp II. Klaus Kinskis Darstellung hebt hier bis zur Manieriertheit hervor, wie in dem baskischen Landadligen die körperliche Verkrüppelung mit Psychopathie korrespondiert. Durch seinen Verrat und die von allen Quellen hervorgehobene ausgesprochene Rücksichtslosigkeit wird Aguirre in den Augen seiner Zeitgenossen zum Abbild des Satans („perverso

22 Man denkt angesichts der Optik des Aguirre mehr als einmal an die kalte Detailversessenheit von Bressons im Folgejahr erschienenen Lancelot (1973), der die Gralsuche als negativen Abenteuerroman auf eine neuzeitliche Tragödie hin pointiert.

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tirano“23), einer Empörergestalt, die aber letztlich in einer geradezu kathartischen Bosheit den Nukleus einer Umdeutung zu dem Revolutionär enthält, als den ihn spätere lateinamerikanische Intellektuelle24 sehen wollten. Herzogs Lesart indes steht in der Betonung der Egomanie und Wahnhaftigkeit der frühneuzeitlichen Auffassung des Empörers als Kriminellen und Hochverräter ungleich näher. Auch weitere psychologische Details von Herzogs Film sind in der zeitgenössischen Informationen – wenngleich zwischen den Zeilen – wahrnehmbar: Bereits zu Beginn thematisiert Herzogs Aguirre den in den historischen Quellen schwer nachvollziehbaren Umstand, dass Orsúa seine mestizische Geliebten (deren Präsenz letztlich zu der Meuterei gegen ihn führte) mit in den Urwald nahm, und dass Aguirre seine geliebte Tochter (die er den Quellen zufolge, kurz bevor er besiegt wurde, selbst tötete) den Gefahren des Urwalds unterzieht, denen sie schließlich zum Opfer fällt. Herzog vereindeutigt die Ungereimtheiten, die bereits in den zeitgenössischen Quellen auf ein inzestuöses Vater-Tochter-Verhältnis hinweisen, im opernhaften Schlussmonolog Aguirres. Es handelt sich um die Phantasie eines monadischen Demiurgen, der Ganzheit anvisiert, sich aber im eigenen Subjektivismus verliert: „Ich, der Zorn Gottes werde meine eigene Tochter heiraten und mit ihr die reinste Dynastie gründen, die je die Erde gesehen hat.“ Als Aguirre im Fieberwahn den militärischen Plan einer Eroberung des Kolonialreichs offen legt, gibt die chronikalische Reinterpretation ihre spezifische Kontamination von Visionsliteratur und Verschwörerepos zu erkennen: Wenn wir das Meer erreichen, werden wir ein größeres Schiff bauen und damit nach Norden Segeln, und damit Trinidad der spanischen Krone entreißen. Von da aus werden wir weitersegeln und Cortés Mexiko wegnehmen. Was für ein großer Verrat! Dann werden wir ganz Neuspanien in der Hand haben. Wie fast zur gleichen Zeit Michel Foucault, so hat Werner Herzog nicht von ungefähr als Paradigma seiner kinematographischen Studie über die Wahnhaf-

23 So in dem zeitgenössischen Bericht, den vermutlich zwei der überlebenden Soldaten der Aguirre-Expedition verfassten: Vázquez/de Almesto: Jornada de Omagu a y Dorado, S. 9. 24 Noch Uslar Pietris El camino del Dorado, ist kennzeichnend für die ältere Lesart: Aguirre wird zum Protagonisten eines Diktatorenromans. Erst Posses Daimón, und Otero Silvas Lope de Aguirre, príncipe de la libertad, betreiben eine transversalhistorische Lektüre des Aguirre-Mythos „gegen den Strich“ der offiziellen, „kolonialen“ Lesart: Aguirres Bild wandelt sich von der mittelalterlichen Vorstellung eines Kriminellen zum Revolutionär und Vorreiter der Entkolonialisierung.

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tigkeit mit der Frühen Neuzeit jene Epoche gewählt, in der sich eine von Aristoteles’ Schrift „Über die Seele“ allmählich distanzierende Theorie des Subjekts durchzusetzen beginnt. In deren Zentrum stehen bekanntlich Descartes’ Discours de la méthode und dessen Folgeschriften, in denen die mittelalterliche Auffassung problematisiert wird, das Subjekt könne das Wissen um seine Existenz selbst lediglich über seine Handlungen und hier wiederum durch die dadurch betroffenen Objekte erweisen. In dieser Auffassung, die offenbar erst von Sartre25 relativiert wird, erfährt das Subjekt eine Neuformulierung als ein sich selbst erkennendes, dessen Besonderheit darin besteht, dass auch künftige, das Subjekt betreffende Ereignisse Gegenstand seiner Anschauung werden können. Davon ausgehend denkt sich das Subjekt nicht mehr nur in Wechselbeziehung mit seiner Wahrnehmung äußerer Wirklichkeit, sondern begreift diese als Akzidens, wodurch sich der alte aristotelische Subjektbegriff eines „Unterworfenen“ (ƵưƯƪƥƟƬƥƭƯƭ) verkehrt. Wie die damit eingeleitete neuzeitliche Selbstsetzung des Subjekts mit der Zersetzung der Wirklichkeit einhergeht, problematisiert Herzog im kontrapunktischen Spiel von Bildern des Untergangs (die Mehrzahl der Besatzungsmitglieder des Floßes ist den Indiopfeilen erlegen) und deren Negation in einem Text, der überleitet zu der das monadische Konstrukt tragenden Frage nach Sein und Schein, das vordergründig nur aus der erkenntnistheoretischen Unbestimmtheit einer Fieberphantasie erklärt wird: Aguirre: Ich sehe ein Schiff mit Segeln in einem hohen Baum. Und vom Achterdeck hängt ein Kanu. Padre Carvajal: Das Schiff ist nur deine Einbildung. Kein Hochwasser kann so hoch steigen. Wir haben alle das Fieber. Es ist nur eine Erscheinung. Ich habe gehört, dass Menschen so etwas passiert, die zu sehr überanstrengt waren. […] Aguirre: Das ist kein Schiff. Das ist kein Wald. Das ist kein Pfeil. Wir bilden uns die Pfeile nur ein, weil wir Angst davor haben. Diese Pfeile sind echt. In Deckung. [Aguirre feuert die Kanone blind in den Dschungel ab; der Mönch wir von einem Pfeil getroffen]. Padre Carvajal: Dieser Pfeil kann mir nichts anhaben. Das ist kein Regen. Im sich fortsetzenden Widerstreit von Filmbild und gesprochenem Wort steuert die Schlusssequenz auf eine allmähliche Destruktion aller wahrneh25 Vgl. Wild: „Some of these days, you’ll miss me honey“.

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mungstheoretischen Prämissen frühneuzeitlicher Subjektemphase zu. An der Schwelle zur Neuzeit thematisiert der seiner Hybris erlegene Egomane Aguirre die aus der Subjekt-Problematik resultierende Paradoxie, dass der Mensch lernt, sich selbst zu denken: „Mönch, vergiss nicht zu beten. Es könnte sonst mit Gott ein böses Ende nehmen.“ Das ketzerische Paradoxon, Gott sei etwas, das die Menschen für ihn erfunden haben, verweist einmal mehr auf das Schwanken zwischen der kartesianischen Selbstsetzung eines Subjekts, das des Objekts Gott zur Begründung seiner selbst bedarf. Die hier in aphoristischer Kürze enttranszendentalisierte Weltvorstellung korrespondierte bereits im Manierismus mit der epistemologischen Konstruktion der Wirklichkeit als einer Bühne, auf der es gilt, Sein und Schein zu unterscheiden, um nicht dem engaño zu erliegen. Wie weit Herzogs Interpretation des Aguirre-Mythos in das ideologische Arsenal des Cinquecento-Manierismus zurückreicht, wird an der den Film beschließenden Weltherrschaftsphantasie deutlich, die in der Korrespondenz von Literatur und Leben die Äquivalenz von Mythos, Geschichte und Theater anvisiert: Und wir werden Geschichte inszenieren wie Andere Stücke auf dem Theater. […] Zusammen werden wir über diesen ganzen Kontinent herrschen. Wir halten durch. Ich bin der Zorn Gottes. Wer sonst ist mit mir? Im Widerstreit zwischen dem verbalen Pathos und den Bildern des Scheiterns eines der Außenwahrnehmung unfähigen Demiurgen siegt das verräterische Potential einer Frage, der keine Antwort folgt. Dieser offene Schluss ist eine von zahlreichen Parallelen zu dem letzten gemeinsamen Film von Klaus Kinski und Werner Herzog, Cobra Verde. An die Stelle des neomanieristischen Ritterepos über eine entartete Gralssuche tritt in Cobra Verde dessen trivialisierter Nachfolger, die Moritat.26 Das individuelle Scheitern beider Protagonisten – des realen Vizekönigs Da Silva und miss-

26 Die „traurige Geschichte des Sklavenhändlers Cobra Verde“, der Vizekönig wurde und dann wieder zum „Ärmsten der Armen“, ist im Stil einer Moritat gehalten und als solche erklingt seine Geschichte auch zu Beginn des Films. Nach den Erzählmustern der brasilianischen Literatura de Cordel handelt dieser Streifen von Aufstieg und Fall eines Jagunço, eines jener Banditen aus dem brasilianischen Sertão, wie sie auch Guimarães Rosa in seinem Hauptwerk Grande Sertão: Veredas verherrlicht hat. Es sei nur am Rande auf die zahlreichen Parallelen zwischen Aguirre und Da Silva aufmerksam gemacht. Beiden Filmen liegt ein monadisch konstruiertes Menschenbild zugrunde: „Ich hab noch nie einen Freund gehabt.“. Wieder handelt der Film von einer dämonisierten Suche, die nur in der Imagination Befriedigung findet: „Ich sehne mich hinein in eine andere Welt.“

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glückten Gegenkönigs Aguirre – gründet im (unsurrealen) Protest der Natur gegen die Kultur.

3.

Fitzcarraldo, oder: Die Eroberung des Partikularen

Weit entfernt von dem spielerischen Enthusiasmus und den Infragestellungen des klassischen Surrealismus betreibt Herzogs Aguirre also mit einer das Tragische tangierenden Beharrlichkeit die Kritik des neuzeitlichen Ichs, indem er die Frauge der Selbstsetzung des Subjekts im Spannungsfeld von Mythos und Historie stellt, die sich am Ende als Theatralisierung menschlicher Wahnvorstellungen dekonstruiert. Auch Herzogs zweite „Dschungeloper“ Fitzcarraldo strickt aus einem Gespinst von Mythos, Historie und Fiktion das Psychogramm eines problematischen Subjekts. Wiederum basiert diese subjektive Gralssuche seines Protagonisten auf der Hypothese, aus dem Imaginären oder dem Mythos die Wirklichkeit hervorbringen zu können, wofür der entstandene Film keineswegs als einziger Beleg dient: Denn wie im Falle des Aguirre kann Herzog auch hier wieder eine historisch belegte Episode als Stoffgrundlage vorweisen. Wieder geht seine kinematographische Pointierung aus einer hyperbolischen Lesart eines mythischen Nukleus hervor: Der peruanische Kautschuk-Baron Carlos Fermín Fitzcarrald gilt in seinem Land als Pionier der Kolonialzeit, der 1894 zwecks Erschließung des Gummianbaugebiets den Dampfer Contamana – in Einzelteile zerlegt – über eine Landenge im Grenzgebiet zwischen Peru, Bolivien und Brasilien transportieren ließ. Wieder betreibt der Held seine dämonische Suche, die auf einem Mythos basiert, nämlich dem im Orpheus-Stoff kristallisierten Mythos von der Macht der Musik. Zum antiken Mythos, der die genuin abendländische Ideologie der Ästhetischen propagiert, arrangiert Herzog den genuin modernen „Mythos Caruso“, des Sängers also, dessen Leben mehr Biographien und Filme gewidmet sind als irgendeinem anderen: Der erste Superstar der Schallplattengeschichte stammte aus einfachen Verhältnissen, weshalb seine Karriere einem „Tellerwäschermärchen“ gleich per se mythische Qualität aufweist; zudem war er einer der ersten Künstler von Weltrang, der seine Stimme auf mechanischen Reproduktionsmedien hinterließ, – ein Umstand, auf dem ganze Sequenzen von Herzogs Film basieren und von dem das kontrapunktische Ton-Bild-Arrangement des Fitzcarraldo profitiert. Es korrespondiert allerdings auch wieder mit den aus Aguirre bekannten Strategien, dass einige Details im Sinne einer mythischen Pointierung abgeändert wurden. Weder schleppte der historische Fitzcarrald ein ganzes Schiff

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über einen Berg, noch kann er (so er sich überhaupt für die Oper interessierte) Caruso gekannt haben, der erstmals 1899 in Buenos Aires, niemals jedoch in der Oper von Manaus sang, in deren Eröffnungsjahr 1897 der Kautschukbaron Fitzcarrald in den Stromschnellen des Urubamba ertrank. Alles in allem verfährt Werner Herzog also mit den Fakten wie jene Legionen von Librettisten, die seit den Tagen der Barockoper häufig historische Wahrheit dem theatralischen Effekt opferten.27

3.1

„Darkest Peru“28, oder: Karte des Reiches im Maßstab 1 zu 1

Der bis in die Antike zurückreichende europäische Exotismus feiert als Funktion des abendländischen Fiktionsbedürfnisses seine Höhepunkte in „irregulären“ Epochen – Spätrenaissance, Romantik, Fin de Siècle, Surrealismus -, in denen das Subjekt sich der Besonderheit bewusst wird, den Menschen zu denken und dieses Wissen in tausend Brechungen zu veräußerlichen. Im Jahr 1929 erschien in der Brüsseler Zeitschrift Variétés eine für das Weltverständnis der Surrealisten insofern symptomatische Weltkarte (Abb. 4), als sie – von gewissen Verfremdungen abgesehen – geographische Ganzheit auf die Partikularität eines individuellen Konzepts reduziert.

Abbildung 4: Die Weltkarte der Surrealisten

27 Vgl. hierzu Wild: Paraphrasen der Alten Welt. 28 Bond: A bear called Paddington.

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Will man das so entstandene Werk nicht bloß des geographischen Dilettantismus verdächtigen, so handelt es sich um ein visualisiertes Ideologem. Gleich den vormodernen „imagines mundi“, die nicht reale geographische Maßstäbe, sondern eine aus mythisch oder theologisch begründetem Ganzheitswollen abgeleitete Weltsicht vermitteln, transportiert die Weltkarte die in einer subjektiven Geschichtsphilosophie begründete Epistemologie der Surrealisten, die intendiert, die Avantgarde durch einen Rückfall in die Vormoderne zu überholen: Die durch die Aufklärung dekadent gewordene Alte Welt tritt ihre politische und kulturelle Vorrangstellung an die exotischen Räume ab, die zu Brutstätten des Irrationalen mythisiert werden. Eine dieser idealtypischen Produktionsstätten des antikartesianischen „merveilleux“ ist nicht ohne Grund Lateinamerika. Auf der surrealistischen Weltkarte erscheinen bezeichnenderweise nicht die seit dem späten 19. Jahrhundert an Paris orientierten avantgardistischen Metropolen Rio de Janeiro und Buenos Aires, sondern Peru und Mexiko als Nuklei einer (dort vermuteten) dem präkolumbischen Archaismus huldigenden Imagination. Bekanntlich lagerte sich an die Vorstellung der „Neuen Welt“ spätestens bei ihrer Entdeckung die Idee eines Wunderbaren, indem die abendländischen Jenseitsvorstellungen in einen mythisch-märchenhaften Komplementärraum versetzt wurden.29 In Herzogs Film bezieht sich selbst der mit erheblichem Realitätssinn ausgestattete Flussschiffer Orinoko-Paul auf dieses Dispositiv, wenn er behauptet: Der Urwald ist voll von Sinnestäuschungen. Er ist voll von Träumen, Lügen und Dämonen. Ich habe zu unterscheiden gelernt zwischen der Realität und Halluzinationen.30 An späterer Stelle sagt ein Missionar über die Eingeborenen: Nun, es hat den Anschein, daß wir sie einfach nicht heilen können von der Vorstellung, daß unser gewöhnliches Leben nur eine Illusion darstellt, hinter der sich die Realität der Träume verbirgt.31 Die auch hier transportierte Wirklichkeitsauffassung unterschob vor allem Südamerika einen ästhetisch hybriden Charakter, der auf einem Ineinander von ästhetischen und religiösen Vorstellungen indigenen und europäischen Ursprungs beruht. Ideologen einer genuinen Amerikanität dient dieses Nebenein29 Vgl. Wild: „…durch einsame Landstriche auf der Suche nach Abenteuern…“. 30 Herzog: Fitzcarraldo Filmbuch, S. 18. 31 Ebd., S. 22.

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ander als Gegenbild jener als intellektualisiert beargwöhnten Ästhetik des Surrealismus.32 In anderen Fällen beruht die ‚surreale‘ Gleichzeitigkeit auf dem Willen, die Neue Welt nach abendländischen Mustern zu gestalten: Dass 1896 die Kautschukbarone von Manaus mitten im Regenwald eine Oper aus italienischem Marmor, englischen Gusseisen, Delfter Kacheln, venezianischem Glas und elsässischem Dachschiefer bauen ließen, entspricht einer Form der Imitatio, die im Kolonialismus selbst wurzelt. Charakteristisch für diese koloniale Hybridie, aus der surreale Effekte hervorgehen, sind in Herzogs Fitzcarraldo zahlreiche Episoden, die indes nicht nur den Protagonisten, sondern auch seine Umwelt betreffen, so etwa Mollys Gartenfest, auf dem Don Aquilino Geldscheine an Hunde verfüttert („Schauen Sie genau hin, eine kleine Demonstration. Ich nehme an, Tausender schmecken besonders!“), oder Fitzcarraldos Reaktion auf die Provokation Don Araujos: Don Araujo: Der Koch meiner Hunde wird Ihnen jetzt eine Mahlzeit zubereiten! Fitzcarraldo: Auf den Koch Ihrer Hunde! Auf Verdi! Auf Rossini! Auf Caruso!33 Nicht nur das Dandytum eines Kautschukbarons, sondern auch Fitzcarraldos extravagantes Verhalten verweist – wohl nicht ohne Ironie – auf das monadische Prinzip: Das sich seiner selbst bewusst gewordene Subjekt tritt als sich erkennendes neben sich, um sich in der Gesellschaft über exzentrische Inszenierungen beständig seiner selbst zu vergewissern. Anders als der vormoderne Kondottiere Lope de Aguirre erlangen die Gestalten des lateinamerikanischen Fin de Siècle Selbstvergewisserung freilich nicht mehr durch Intrige und Gewalt. Selbst als „Eroberer des Nutzlosen“ verharrt Fitzcarraldo in seiner vergleichsweise harmlosen Egomanie. Der Aufstand des wahnhaften Subjekts richtet sich denn auch nicht wie Aguirres Bruch mit dem Gottesgnadentum („Ich bin der Zorn Gottes“) gegen die Krone, sondern gegen die Marxsche Tauschwerttheorie, deren Infragestellung ein Grundzug aller „exotischen“ Filme Werner Herzogs ist.34 Nicht ohne Selbstironie feiert Fitzcarraldo seine 32 Vgl. Wild: Paraphrasen der Alten Welt. 33 Herzog: Fitzcarraldo Filmbuch, S. 14. 34 Fitzcarraldo, Aguirre, Cobra Verde und Wo die grünen Ameisen träumen reflektieren aus postkolonialer Sicht über das Wesen des Kolonialismus, dem eine je spezifische ökonomische Begehrenskonstruktion zugrunde liegt, die Rohstoffe (Gold, Kautschuk, Zucker, Uran) als Produzent „neuer“ (d.h. instrumentell gebundener und bewusst erdachter) Mythologien begreift. Als „postkoloniale Kolonialepen“

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wahrhaftigen Erfolge vor den vom ökonomischen Prozess ausgeschlossenen Kindern von Iquitos mit der Herstellung von Trockeneis: Don Aquilino: Und außerdem, was sollen wir denn im Urwald mit Eis!? Den Kautschuk kühlen? Ja … vielleicht meinen Sie, wir sollten Gletscher in den Dschungel zaubern. Ha, ha.35 Im tropischen Klima im Moment der Entstehung dem Zerfall preisgegeben, übernimmt das Artefakt die Rolle einer mythischen Sprachgebärde, über die die „Eroberung des Nutzlosen“ als einer gegen den Tauschwert gesetzten Volatilität metaphorisiert wird.

„Life imitates Art far more than Art imitates life“36, oder: Auch ein Reich von dieser Welt

3.2

Der Surrealismus behauptet die Existenz mehrerer Wirklichkeiten, die er gegen die eine vom Tauschwert bestimmte Wirklichkeit in ihr Recht zu setzten versucht, was gegebenenfalls auch durch Aktionen angestrebt wird, die sich gegen herrschende gesellschaftlichen Setzungen richten. Fitzcarraldo weist mehrere Episoden auf, die dieses surrealistische Konzept transportieren, so jene Szene, in der der Protagonist in Iquitos auf einen Kirchturm steigt, um auf sein Opernprojekt aufmerksam zu machen, und dabei durch das Geläute der Turmglocke die schlafende Stadt weckt (Abb. 5): Diese Kirche bleibt so lange geschlossen, bis die Stadt ihr eigenes Opernhaus hat. Ich will das Opernhaus! Ich will mein Opernhaus! Ich will eine Oper haben!37

hinterfragen die vier Filme demnach die Tauschwerttheorie auf unterschiedlichen historischen Stufen vor dem Hintergrund des Stellenwerts, der dem Subjekt in einer vom Tauschwert bestimmten Wirklichkeit noch zukommt. 35 Herzog: Fitzcarraldo Filmbuch, S. 12. 36 Wilde: The Decay of Lying, S. 982. 37 Herzog: Fitzcarraldo Filmbuch, S. 12.

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Abbildung 5, Screenshot: Fitzcarraldo

Es handelt sich hierbei aus surrealistischer Sicht um die schlichteste Form einer surrealistischen Provokation38, wie sie zumal in den autobiographischen Texten Man Rays, Buñuels und Dalís beschrieben sind. Die damit einhergehende „Erregung öffentlichen Ärgernisses“, die im Falle Fitzcarraldos zu Gefängnishaft führt, ist – anders als bei den Surrealisten – nicht intendiert. Fitzcarraldo wird indes auf diese Weise in Herzogs Lesart (mehr noch als sein historisches Vorbild) zum Gründervater eines geistigen Reiches. Den drei Jahrhunderten zwischen Monteverdi und Schönberg war die Oper, was dem 20. und 21. Jahrhundert das Kino ist: Als synästhetische Phantasmenmaschinerie, die aufgrund ihres gesteigerten Fiktionspotentials Kritik hervorrief, ist sie der schlechthinnige Produktionsort einer zweiten Wirklichkeit auf Zeit. Stärker noch als die Entstehung einer verschriftlichten und erst dadurch mehrstimmigen Kunstmusik ist das „dramma per musica“ eine genuin abendländische Kulturleistung, deren Verbreitung über den Erdball freilich etwas Kolonialistisches anhaftet.39 Der ideale Medienverbund wurde nicht selten als Ausweise kultureller Überlegenheit gedeutet. Fitzcarraldos Unterneh-

38 Breton nennt den Surrealismus am Ende des ersten Manifests ausdrücklich einen „Non-Konformismus“ (Manifestes du surréalisme, S. 60). 39 Es ist unübersehbar, dass gerade im Zuge postkolonialer Debatten die Oper zum Exempel europäischer Hegemonie wird. Vgl. hierzu Márcio Souzas Roman Galvez. O Emperador do Acre (1979): Höhepunkt der Romanhandlung ist bezeichnenderweise eine Aufführung von Verdis Aida, die als Auftragswerk zur Eröffnung des Suezkanals emblematisch für den (kulturellen) Kolonialismus steht. [Fitzcarraldo tauft sein Dampfschiff auf den Namen „Molly-Aida“!]. In Souzas Werk mündet das Kolonialspektakel allerdings in einer realen Aufstand, der von Verdis Oper ähnlich inspiriert wird, wie der realhistorische belgische Aufstand (1828), der nach einer Aufführung von Aubers La muette de Portici in Brüssel ausbrach.

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men, eine Oper nach Iquitos zu bringen, setzt sich von diesen politischen Implikationen ab. Die Oper wird zum genuinen Ausdruck einer „vie factice“ finisäkulärer Provenienz: Fitzcarraldo (zu Don Araujo): Mein Herr! Die Wirklichkeit Ihrer Welt ist nur eine schlechte Karikatur von dem, was Sie sonst in großen Opernaufführungen sehen!40 Neben dem dekadentistischen Beharren auf dem Nutzlosen, das die zweite Wirklichkeit der musikdramatischen Phantasmenmaschinerie als ein neues Eigentliches feiert, ist es vor allem das subjekthafte Reflexionspotential der Kunstform, das die Überlegenheit der Oper begründet: „sie drückt unsere größten Gefühle aus“.41 Indes demonstriert gerade dieses Moment der Phantasmenmaschinerie auch eine Reflexivität, die Kunstwahrnehmung auf die Wirklichkeitskonstruktion zurückbezieht, indem sie von der ästhetischen Selbsterfahrung zur monadischen Selbsterfindung fortschreitet: Fitzcarraldo (zu Don Araujo): So wahr wie ich jetzt vor Ihnen stehe, werde ich eines Tages Große Oper nach Iquitos bringen! Ich bin . . . in der Überzahl! Ich bin die Milliarden! Ich bin das Schauspiel im Wald! Ich bin der Erfinder des Kautschuk. Durch mich erst wird Kautschuk zum Wort.42 In dieser gegen den Strich inszenierten Bibelparodie („und das Wort ist Fleisch geworden“) offenbart sich Fitzcarraldos monadische Existenz als Demiurgenphantasie, die den schöpferischen Gegenpol zu Aguirres destruktiver Selbsterfindung darstellt: In der romantischen „Kunstreligion“ wird durch die Macht der Musik Materie Fiktion. Der Protest gegen die Ideologie des Tauschwerts ruht wiederum im abendländischen Mythos, der in Fitzcarraldo gegen bildungsbürgerliche Erwartungshaltungen inszeniert wird.

40 Herzog: Fitzcarraldo Filmbuch, S. 14. 41 Ebd., S. 13. 42 Ebd., S. 14.

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3.3

Divino Orfeo, oder: Ein Schwein, das Caruso liebt

Mythen waren in wirkungsästhetischer Hinsicht dem antiken Menschen das, was für dem 19. Jahrhundert die Oper – und der Moderne der Film – ist, in philosophischer Hinsicht indes Aussage über das So-sein der Wirklichkeit. Anders als das Mittelalter, das heidnische Welterklärungserzählungen nur in christlich ‚kolonisierter‘ Interpretationen43 bestehen ließ, rekurriert man seit der Frühen Neuzeit verstärkt auf Deutungsmuster, die den Mythos in seine ursprünglichen Rechte setzen, wobei die Lebensfähigkeit antiker Mythen mit ihrer Wandlungsfähigkeit einhergeht. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle alle Wandlungen des Orpheusmythos zu beschreiben44, in dem die Spätrenaissance die Macht der Kunst über die Natur und damit einerseits ketzerisch die Gleich-, wenn nicht gar Höherwertigkeit des ästhetischen Scheins gegenüber einer religiös oder innerweltlich begründeten Wahrheit postulierte, dabei andererseits verhalten die Problematik einer gesellschaftliche Autonomie beanspruchenden Kunst artikulierte. Antike Gründermythen wie Prometheus, Odysseus und Orpheus erzählen (auch) von (nur teilweise erfolgreichen) Versuchen des Individuums, sich göttlichen Setzungen entgegenzustellen. Insofern handelt der Orpheusmythos, der nicht zufällig den Stoff der ersten erhaltenen (am 22. Februar 1607 am Hof der Gonzaga aufgeführten) Oper lieferte, von dem misslungenen Unternehmen, die schlechthinnige Setzung, das unausweichliche Ende der menschlichen Existenz durch den Tod, vermittels der Kunst zu suspendieren. Obwohl Orpheus als mythischer Erlöser durch den Zweifel am Götterwort (und damit am Tauschwert) scheitert, ist der Mythos je nach literarischer Realisierung mit „Sprachgebärden“ unterfüttert, die von der monadischen Wirkungsmächtigkeit des Künstlerhelden handeln. Alle Versionen des Orpheusmythos eint, dass der Held durch seine Kunstfertigkeit die Naturgesetze überwand. In Herzogs Film kontaminieren die „Sprachgebärden“, die bereits in der Antike auf die Überlegenheit der Kunst verweisen, die historisch belegte Erzählung über Carlos Fermín Fitzcarrald, der ein Dampfschiff über einen Berg schleppen ließ. „Wissen Sie, nur Träumer können Berge versetzen“45, hält die Bordellbesitzerin Molly dem Operndirektor in Manaus entgegen. Am Isthmus zwischen den beiden Flussarmen sagt Fitzcarraldo: „Dieser Abhang mag nichtssagend

43 Vgl. Rahner: Griechische Mythen in christlicher Deutung. 44 Wichtige Hinweise finden sich in: Wolfzettel, „Die gesuchte Totalität. Orpheus und Eurydike und das Barock“. 45 Herzog: Fitzcarraldo Filmbuch, S. 10.

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aussehen, aber er entscheidet mein Schicksal.“46 Bereits Euripides’ Iphigenie behauptet, Orpheus habe kraft seiner Musik die toten Steine dazu gebracht, sich zu einem Palast zu fügen.47 In Fitzcarraldo ist es Rudolfs Arie aus Puccinis La Bohème, zu deren Klängen sich das Dampfschiff gegen die Regeln der Schwerkraft im 45-Grad-Winkel über den Berg bewegt, der die beiden Flussarme trennt. Ein weiterer hyperbolischer Verstoß gegen die Naturgesetze (der auch die Pariser Surrealisten fasziniert hätte) ist in der klassischen Fassung des Horaz in größter Dichte erzählt:

arte materna rapidos morantem fluminum lapsus celerisque ventos, blandum et auritas fidibus canoris ducere quercus?48 Bereits Orpheus bezwingt Stromschnellen („rapidos fluminum“49) und bringt den Eichenwald dazu, dem Spiel seiner Lyra zu lauschen. Werner Herzog50 setzt diese „Sprachgebärden“ in eines der einprägsamsten Kopfbilder des gesamten Films um: Das Dampfschiff treibt, nachdem es die Jivaros enttäut haben, in die Stromschnellen, durch die es wie durch ein Wunder gelangt, ohne zu kentern. Dazu erklingt – als nur vermeintlich kontrapunktische Inszenierung – von Fitzcarraldos Grammophon das Quartett aus Verdis Rigoletto mit Caruso (eine der Juwelen der frühen Schallplattengeschichte; Abb. 6, 7).

46 Ebd., S. 25. 47 Euripides: Iphigenie in Aulis: „Besäße ich des Orpheus Stimme, lieber Vater, und könnte singend Steine um mich scharen und bezaubern, wen ich wollte, so bediente ich mich dieser Gabe“. 48 Horatii Opera, S. 9-13. Übersetzung: „[Orpheus] der mit seiner Kunst - einem Geschenk seiner Mutter – Stromschnellen und starken Winden Einhalt gebot und mit Saitenklängen lauschende Eichen schmeichlerisch anführte?“ 49 Bereits im Argonautikon des Apollonios von Rhodos wird Orpheus als Begleiter der Argonauten mit dem Motiv der Schifffahrt in Verbindung gebracht. Spätere bildliche Darstellungen kontaminieren hier auch die Orpheusthematik mit Motiven aus dem Arionmythos. 50 Diese Konjektur verliert ihren „spekulativen“ Charakter durch den Umstand, dass der Münchner Filmemacher Absolvent eines humanistischen Gymnasiums (1961) war.

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Abbildung 6, 7: Screenshots, Fitzcarraldo

Das bekannteste Motiv, der Abstieg in die Unterwelt, wird in dieser Episode explizit aufgenommen, da der Strudel den bezeichnenden Namen Pongo das Mortes („Passage zu den Toten“) trägt, und den die Indios mit „bösen Geistern“ („shirimagua, die zornigen Geister“)51 in Verbindung bringen: Don Aquilino: Den Pongo das Mortes mit einem Dampfschiff bezwungen zu haben, ist ein Bravourstück, das wohl nicht so bald nachgeahmt wird. Darauf müssen wir trinken! Großartig, meine Herren, was für eine Tat! Nehmen Sie ein Glas! Auf die Besänftigung der bösen Geister des Pongo!52 Zu den bekanntesten Konstanten des Mythos, die im Musiktheater aufgrund ihres Imaginationspotentials zu spektakulären Szenen führte, zählt die aus dem Orpheus-Lied des Simonides53 stammende, in Ovids Metamorphosen breit ausgestattete Erzählung, Orpheus habe wilde Tiere durch seine Musik bezwungen. Auf diese archetypische Episode nimmt Werner Herzog mehrmals in unterschiedlicher Intensität und Intention Bezug. So versucht Fitzcarraldo die Indios („Wilde“54) zu besänftigen, indem er eine seiner Caruso-Aufnahmen abspielt. Auch hier erzeugt Herzog eine jener suggestiven Sprachgebärden, wenn er Klaus Kinski filmt, der hinter dem Grammophontrichter gleichsam schwerelos am Regenwald vorbeigleitet. Die bisher beschriebenen Episoden brachten die Macht der Musik mit dem Erhabenen in Beziehung, das nicht nur dem antiken Mythos anhaftet, 51 Herzog: Fitzcarraldo Filmbuch, S. 15. 52 Ebd., S. 30. 53 Vgl. Horati Opera, S. 177: „Zahllose Vögel kreisten/über seinem Haupte,/die Fische sprangen empor/aus tiefblauer Flut /zu seinem lieblichen Liede.“ 54 „Das einzige, was es da reichlich gibt, sind wilde Indianer. […] gar nichts […] nur Kopfjäger“ (Herzog: Fitzcarraldo Filmbuch, S. 15).

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sondern das vor allem die Tonkunst des 19. Jahrhunderts („unsere größten Gefühle“) transportieren möchte: Selbst der womöglich groteske Effekt, das Rigoletto-Quartett als Begleitmusik zur Fahrt eines Dampfers im Regenwald zu hören, verliert letztlich sein Unverhältnismäßigkeit, da Musik in der Fitzcarraldo-Geschichte stets gleich einer handelnden Person intradiegetisch, also geschichtsintern und nicht als Untermalung einer Lichtspielszene, präsent war. Durch den monadischen Charakter Fitzcarraldos (und: durch Klaus Kinskis egomane Darstellungskunst) freilich haftete selbst Episoden wie Fitzcarraldos Versuch, die Jivaros durch Musik zu besänftigen, etwas Tragikomisches an, wodurch das mythische Substrat kaschiert wurde. Mit den beiden Szenen, die abschließend betrachtet werden sollen, verschiebt Herzog dieses Mythisch-Erhabene in den Bereich des Grotesken, über das surrealistische Effekte erzeugt werden. Ausgangspunkt ist wieder ein Aspekt der zugrundeliegenden Orpheus-Erzählung, nämlich die Episode der durch Musik besänftigten Tiere, die den Film leitmotivisch durchzieht: Wollte man eine kritische Botschaft aus diesen Sequenzen lesen, so richtete diese sich gegen die banausischen Kautschukbarone in Don Araujos Haus, die sich Caruso verweigern, der die Herzen der „Willden“ und der Tiere erreicht: Der Mythos von der Macht der Musik setzt gegen den ökonomischen Utilitarismus seinen subjektiven Tauschwert. Während sich der Geldadel von Iquitos dem Schönen verweigert, zählt Fitzcarraldo unter seine Bewunderer ein brasilianisches Sumpfschwein, dem er in seinem Haus Caruso-Aufnahmen vorspielt: Fitzcarraldo: Ja, die Kinder sind mein Publikum. Und ein Schwein … Eins von diesen … wolligen Sumpfschweinen liebt mich. […]55 Fitzcarraldo: (spricht zu dem Schwein): Du bekommst in meiner Oper einen Ehrenplatz. Ich werde dafür sorgen, daß Du eine Privatloge und einen roten Samtsessel bekommst. 56 Nach der Fahrt durch den Pongo das Mortes und dem Verkauf des Schiffes ordert Fitzcarraldo einen Frack, eine Zigarre einen Opernsessel: „Ich habe da ein Versprechen an ein Schwein, das Caruso liebt.“57

55 Herzog: Fitzcarraldo Filmbuch, S. 11. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 30.

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Da Fitzcarraldo schon das Schiff mit Blick auf die ephemere Erfüllung seiner Opernleidenschaft verkauft hat, handelt es sich auch hier um einen Protest gegen den bürgerlichen Tauschwert, wenn das Sumpfschwein seinen Ehrenplatz als Zuschauer von Bellinis I Puritani erhält, und um eine neuerliche Eroberung des Nutzlosen, womöglich um eine Reminiszenz an jene Dandys, die – als Protest gegen den bürgerlichen Produktionsprozess – eine Schildkröte oder – wie Gérard de Nerval – einen Schwan auf den Pariser Boulevards ausführten. Die deutlichste Annäherung an die Produktionsästhetik der Surrealisten ereignet sich gerade in dieser Episode. Wenn es Malern wie Magritte, Ernst oder Dalí gelungen ist, dem Imaginären dadurch Geltung zu verschaffen, dass aus dem Nebeneinander entkontextualisierter Objekte der Betrachter ein Absentes zu konstruieren hat, leistet diese Opernregatta auf dem Amazonas Vergleichbares: Nicht ohne Ironie vermerkt Herzog im Fitzcarraldo Filmbuch auf der Darstellerliste an erster Stelle Enrico Caruso mit dem Hinweis „im Film ständig abwesend“58. So scheint die Ironie der Sequenz in der Abwesenheit des imaginären „Ehrengastes“ zu bestehen, auf dessen imaginäre Präsenz bloß der leere Logensessel und ein eigens dafür abkommandierter Livrierter als Signal für die herausgehobene Stellung eines Absenten lediglich hindeuten.59 Das „Schwein, das Caruso liebt“ wird man in der Schlusssequenz ebenso suchen wie das Bild, das in Magrittes Trompe-l’œil-Stilleben Die Reize der Landschaft (1929, Sammlung Nellens, Abb. 8) nur durch die in einen leeren Rahmen gesetzte Bildunterschrift imaginiert werden kann.

Abbildung 8: René Magritte: Die Reize der Landschaft, 1929 58 Ebd., S. 166. 59 Zugleich greift Herzog hier auf die surrealistische Tradition des imaginären Porträts zurück, etwa Max Ernsts Gemälde Au rendez-vous des amis (1922), auf dem gemeinsam mit den Surrealisten auch deren geistiger Vater, der bereits seit vier Jahrzehnte verstorbene Fjodor Dostojevski, abgebildet ist.

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Die „Opernregatta“ bejaht also zugleich in pathetischer Weise den Mythos der abendländischen Musik als Produktionsmedium eines Absenten, als welches die „heilige Tonkunst“ seit dem frühen 19. Jahrhundert an die Spitze der ästhetischen Hierarchie (etwa bei Schopenhauer und Nietzsche) aufgestiegen ist. Denn während das europäische Opernensemble das Quartett aus Bellinis Puritani darbietet, erlebt der Kinobesucher einerseits beständig die Fiktivität einer Operndarbietung, bei der die Kulissen dergestalt als solche erkennbar sind, dass sie sich vom Himmel abheben oder aufgrund der filmischen Optik (Untersicht, Vogelperspektive) betont wird, dass es sich eben „nur“ um Theater handle (Abb. 10).

Abbildung 10: Screenshot, Fitzcarraldo

Der hohe Musealisierungsgrad, der an die Freistellungstechniken Magrittes und Dalís heranreicht, wird aber durch Intensitätsmomente unterlaufen, die von der Darbietung selbst ausgehen. Ähnlich wie in der Sequenz, in der das Dampfschiff durch den Pongo das Mortes betrieben wird, hat Werner Herzog hier sicherlich nicht aus reiner Melomanie, sondern mit klaren strukturalen und ästhetischen Absichten Musik und Bild zueinander gefügt: In beiden Fällen handelt es sich um Schlüsselszenen der jeweiligen Opern (Rigoletto, Puritani): Ein zeitgenössischer Opernregisseur erklärt erst kürzlich, in der älteren Oper sei das Quartett (oder – wie etwa in Donizettis Lucia di Lammermoor – gar ein Sextett) der musikalische Höhe- und dramatische Wendepunkt. Als solcher transportiert jede dieser Opernszenen Intensitätsmomente, die dem entsprechen, was Fitzcarraldo (wie Novalis, Hoffmann, Schopenhauer und etliche andere) selbst als „unsere größten Gefühle“ bezeichnet, und ersetzt damit für Augenblicke die Realität durch eine Gegenwelt. Weder die Kombinationen von Bellini und der amazonischen Regatta, noch die Überwindung des Schicksalsberges durch La Bohème oder des „Pongo das Mortes“ durch Rigoletto stellen demnach bei aller Ironie einen Ikonoklas-

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mus gegenüber Mythos und Musik dar.60 Vielmehr vertraut der Regisseur der Kraft des so entstandenen Medienverbundes zur Erzeugung eines neuen Mythos. Denn auch am Beginn von Fitzcarraldo steht ein indigener Mythos: Yacu nennen die Waldindianer dieses Land: „das Land, in dem Gottes Schöpfung nicht fertig wurde“. Erst nach dem Verschwinden der Menschen, glauben sie, werde er wiederkehren, um sein Werk zu vollenden. 60 Daher verbleibt bei aller Ironie von Herzogs Repliken auf den Orpheusmythos ein Ambivalenzresiduum, das nicht aus der über Opernhandlungen rekonstruierbaren „Bedeutung“, sondern aus der Wirkungsmächtigkeit europäischer Musik selbst herrührt. Gleichwohl schwingt in der Episode des Sumpfschweins, das Caruso hört, eine tragische Note mit, handelt es sich doch bei der Grammophonaufnahme um die Arie „Vesti la giuppa“ aus Leoncavallos I Pagliacci, in der der Bajazzo Canio sein Possenreißerdasein reflektiert. Keineswegs sicher ist, ob Werner Herzog mit den eingespielten Opernfragmenten deren textbezogene semiotische Botschaften zu vermitteln beabsichtigt. Der Vergleich mit anderen Werken des Regisseurs zeigt eine Tendenz, sich über solche über die aussermusikalische „Inhaltlichkeit“ der Opernmusik hinwegzusetzen und ihr im Rahmen des filmischen Werks eine neue, in erster Linie abstrakt-emotive Funktion zuzuweisen, ihr die zumal im 19. Jahrhundert konstitutive Ambivalenz von Eros und Erhabenheit wiedergeben, die ästhetischer, nicht aber semiotischer Natur ist: So erklingt in Wo die grünen Ameisen träumen, während die Kamera eine von Bergbaumaschinen zerstörte australische Landschaft abtastet, das zweite von Wagners Wesendock-Liedern („Im Treibhaus“), ohne dass sich über die Tristesse des d-moll-Anfangs hinaus eine inhaltliche Kongruenz zwischen Wagners dekadentem Liebeslied und Herzogs Umwelttragödie einstellte. Den Prolog von Jeder für sich und Gott gegen alle bildet eine mit Weichzeichneroptik verfremdete Kahnpartie, zu der Richard Taubers überirdisch schöne Stimme Mozarts Taminoarie („Dies Bildnis ist bezaubernd schön“) singt; unmittelbar darauf unterlegt Herzog die Bilder wogender Getreidefelder mit dem Kanon von Johann Pachelbel. Dass Herzog auf die klanglich-emotive Wirkungsmacht, aber kaum auf sekundäre Codes setzt, wird dort deutlich, wenn in dem postmodernen Heimatfilm Herz aus Glas Musik der Gruppe „Popol Vuh“ ertönt, deren „Latinofolklore“ den Bildern nichts hinzufügt, lediglich „Stimmungen“ erzeugt. Der „dekonstruktive“ Effekt von Herzogs Musikverwendung beruht insofern auf der relativen Auffälligkeit seines Griffs in das jeweils bewusst falsche Repertoire, nicht aber auf einer spezifischen Referentialität. Im Kontext seiner „exotischen“ Werke ergibt sich daher keine Interpretationshilfe aus einem detaillierten Wissen um die Provenienz der Stücke. Insgesamt scheint die Herkunft der verwendeten Musikstücke ebenso wenig eine Deutungskomponente zu sein wie die Bekanntheit bestimmter Personen unserer Lebenswelt (etwa Herbert Achternbuschs oder Enno Patalas’), die in diesen Filmen als Schauspieler agieren: Man könnte soweit gehen zu behaupten, solche Musikstücke wie Schauspieler werden zu „Platzhaltern“ in einer Medienkonfiguration, der ihre Eigentlichkeit durch den neuen Kontext reglrecht entzogen wird.

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Fungierte im Aguirre der Dorado-Mythos als Medium im ursprünglichen Sinne, als Werkzeug zur Beseitigung der spanischen Kolonisatoren, so bedient sich der Melomane Fitzcarraldo des Yacu-Mythos, um der übermenschlichen Anstrengung willen, die Oper nach Iquitos zu bringen. Will man sich Brian Sweeny Fitzcarraldo anschließen, dann ginge hier der Yacu-Mythos Hand in Hand mit dem Orpheusmythos, als dessen nicht unproblematischer Vollstrecker der Protagonist auftritt. Mit Blick auf das Scheitern des Gründungsmythos im Aguirre lässt sich die Opernregatta auf dem Amazonas als Restituierung der mythischen Ressourcen der Orpheusmythologie lesen, als Umwandlung von Natur in Kultur. Auch in Fitzcarraldo hätte sich Werner Herzog – womöglich, ohne sich dessen gewahr zu sein – im Interesse einer monadischen Kolonisierung des Exotischen von einem surrealistischen Grundkonzept distanziert, das der Pariser Surrealismus ohnehin mehr als halbherzig betrieb: von der Remythisierung des kulturellen Primitivismus.

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Gerhard Wild | Rigoletto im Regenwald

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Isabel Maurer Queipo

Surrealistische Fallgruben in Pedro Almodóvars Entre tinieblas – Das Kloster zum heiligen Wahnsinn Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité, si l’on peut ainsi dire. (André Breton: Manifestes du Surréalisme)

Der Surrealismus in Europa, dessen historischer Anfang bereits 1917 mit dem Prolog Guillaume Apollinaires1 zu seinem ‚surrealistischen Drama‘2 Les Mamelles de Tirésias gesetzt wird und entgegen zahlreicher wissenschaftlicher Stimmen eben nicht in den sechziger Jahren etwa mit dem Tode Bretons endet, sondern bis in die Gegenwart hineinragt3, eröffnet in Bezug auf den gegenwärtigen Mediendiskurs ein weites Feld an ambivalenten Fragen und Diskursen. Breton propagierte bekanntlich vor allem in seinem Manifeste du Surréalisme einen Anti-Rationalismus, die Freude an assoziativen Spielen, an ars combinatoria4 und „Automatisme psychique“, an „folie“ und Hybridationen von „vérité“, „superstition“, „chimère“ und „imagination“, an der Auflösung der Grenzen zwischen Unbewusstem und Bewusstem, zwischen „rêve“ und „réalité“5. In unserem Zeitalter der Digitalisierung rücken die neuen technischen Möglichkeiten des Films zur Umsetzung solch surrealistischer Themenfelder und

1

„En hommage à Guillaume Apollinaire, […], Soupault et moi nous désignâmes sous le nom de SURRÉALISME le nouveau mode d’expression pure que nous tenons à notre disposition et dont il nous tardait de fait bénéficier nos amis. […] A plus juste titre encore, sans doute aurions-nous pu nous emparer du mot SUPERNATURALISME employé par Gérad de Nerval dans la dédicace des Filles du Feu.“ Breton: Manifestes du surréalisme, S. 35.

2

Kroll, Renate (Hrsg.): Guillaume Apollinaire, Les Mamelles de Tirésias Drame surréaliste en deux actes et un prologue, Stuttgart 1987.

3

Vgl. zur zeitlichen Beschränkung des Surrealismus Bürger, Peter (Hrsg.): Surrealismus, Darmstadt 1982, hier besonders S. 26-40.

4

Einer der Hauptreferenzen zum Begriff der ars combinatoria bildet der häufig zitierte Artikel Hans Holländers, in dem er sich auf André Bretons erstes surrealistisches Manifest und auf Texte des katalanischen Philosophen Ramón Llull bezieht. Vgl. Holländer, Hans: „Ars inveniendi et investigandi: zur surrealistischen Methode“, in: Bürger: Surrealismus, S. 244-312.

5

Breton: Manifestes du surréalisme, S. 36, 15f., 20ff., 21f.

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Isabel Maurer Queipo | Pedro Almodóvar

Verfahrensweisen wie Überblendungen, disparate (Schock-)Montagen im Ton/Bild-Bereich verstärkt in den Vordergrund. Die im Surrealismus bevorzugte Traumästhetik und -thematik mit ihren wundersamen Elementen, die auf zahlreiche historische Quellen wie auf den barocken „Topos des theatrum mundi“, die „karnevalesken und grotesken Elemente der Traumfantasie“, das „ineffabile der Mystiker“, die „karnevalesken, mehrdeutigen Bildern des Begehrens von Bosch über Goya bis zu Picasso und Dalí“ und die „antike Mythologie“6 rekurrieren, sollte, so Breton, im ,Königreich der Logik‘ – „le règne de la logique“ – ebenfalls zu einer Art Lösungsfindung für die fundamentalen Fragen des Alltags herangezogen werden können: Nous vivons encore sous le règne de la logique, voilà, bien entendu, à quoi je voulais venir. Mais les procédés logiques, de nos jours, ne s’appliquent plus qu’à la résolution de problèmes d’intérêt secondaire. […] Le rêve ne peut-il être appliqué, lui aussi, à la résolution des questions fondamentales de la vie?7 Damit wird dem Traum eine Art Zweckgerichtetheit zuteil, die in der gängigen Surrealismusrezeption seltener beachtet wird, wird doch der Surrealismus eher mit den Spielarten der Aleatorik wie den erwähnten Automatismen, der écriture automatique, den dessins automatiques, den Wort- und Bildspielen wie das cadavre exquis oder den ,gesprochenen Gedanken‘ in Verbindung gebracht. Breton betont in diesem Sinne ebenfalls das dabei erwünschte Ausschalten der Urteilskraft bei der Kreation von Kunstwerken: […] un monologue de débit aussi rapide que possible, sur lequel l’esprit critique du sujet ne fasse porter aucun jugement, qui ne s’embarrasse, par suite, d’aucune réticence, et qui soit aussi exactement que possible la pensée parlée. Il m’avait paru, […] – que la vitesse de la pensée n’est pas supérieure à celle de la parole, et qu’elle ne défie pas forcément la langue, ni même la plume qui court.8 In welchem Maße v.a. solche traumanalogen Assoziationsergüsse spielerisch oder zweckgerichtet in den aktuellen Medien fortgeführt und eingesetzt werden, kann im Zusammenhang mit der fruchtbaren Verbindung von Surrealis-

6

Vgl. Roloff: „Der fremde Calderón“

7

Breton: Manifestes du surralísme, S. 19f., 22.

8

Ebd., S. 33.

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Isabel Maurer Queipo | Pedro Almodóvar

mus und Film anhand zahlreicher Werke renommierter Regisseure wie Lynch, Greenaway und del Toro aufgezeigt werden.

Surrealistische Fallgruben Das Surrealistische eines Werkes manifestiert sich u.a. im Zusammenspiel mehrerer disparater Elemente, die jene spezifisch surrealen Atmosphären kreieren, die den Betrachter verwundern, irritieren und inspirieren. Dazu gehören, wie im vorliegenden Beispiel gezeigt werden soll, besonders Wahrnehmungsspiele, Halluzinationen und (Traum-)Visionen, disparate Bild- und Ton(Schock-)Montagen, karnevaleske Körperbilder und groteske Flohmärkte, Zirkusszenarien, esperpentische und blasphemische Dialoge. Das Werk des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar ist reich an surrealistischen Kombinationen und Verfahrensweisen, reich an intermedialen Reminiszenzen an den Surrealismus. Er selbst bestätigt in Bezug auf Entre tinieblas (1983), dass die Präsenz des Nicht-Rationalen gerade hier sehr ausgeprägt sei und er zahlreiche surrealistische Elemente integriert habe, die zudem ein Genre völlig verändern können.9 Er bestätigt des Weiteren die Nähe zu Luis Buñuel – eine der spanischen Ikonen des Surrealismus –, welche ironischerweise im vorliegenden Film insbesondere in der Präsenz eines Tigers zu finden sei. Dieser repräsentiert hier für Almodóvar das Irrationale, das Exotische, das innerhalb der Klostermauern stetig gewachsen sei – so wie die Individualität, die in jeder der Nonnen wie ein innerer Garten blühe und gedeihe. Es sind Dinge, die für ihn keiner Erklärung bedürfen, weil sie einfach da sind.10 Mit 9

„And I also put in a lot of surrealistic elements that completely change the genre. I think that the presence of the non-rational in my films is strong.“ Almodóvar zit in: Kinder: „Pleasure and the New Spanish Mentality: A Conversation with Pedro Almodóvar“, S. 6.

10 Almodóvar zit. in: Vidal: El cine de Pedro Almodóvar, S. 91. „Si hay algo de Buñuel en mi cine es el tigre, el tigre representa lo irracional que ha ido creciendo dentro de aquellos muros simplemente por ley de vida, como la individualidad de cada una de ellas [die Nonnen] que ha ido creciendo dentro de ellas como el jardín interior. Son cosas que no hay que explicar porque están ahí y nada más.“ Nach Strauss dient der Einsatz eines solchen surrealen Elementes zusätzlich zum besseren Verständnis der anderen Charaktere, wobei seine Annahme des Tigers als „présence masculine“ (Strauss: Conversations avec Pedro Almodóvar, S. 47) nicht überzeugt, handelt es sich doch um die karnevalesken Lebensformen der Nonnen, die sich ganz unbeschwert vom klassisch Männlichen lossagen. Dass Almodóvar einen Tiger ausgewählt hat, bedeutet eine Kontrastierung zur ‚alltäglicheren‘ Kuh Buñuels, hebt zusätzlich das exotische Moment hervor, um dann die Auflösung von Gewöhnlich und Ungewöhnlich noch stärker (als bereits bei seinem spanischen Vorbild) zu betonen.

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Isabel Maurer Queipo | Pedro Almodóvar

dem symbolgeladenen Tier verfremdet und deplaziert Almodóvar im Zuge eines veristischen Surrealismus und Dépaysements die Elemente des Alltags, da der Klostergarten natürlich nicht zum Revier des Raubtiers gehört, und unterminiert damit jenes erwähnte Königreich der Logik – le règne de la logique11 –, von dessen Fesseln die Surrealisten sich befreien wollten. 12 In diesem Sinne gilt das (von den Surrealisten) stetig zitierte (leider immer nur verkürzt wiedergegebene) Beispiel des Comte de Lautréamont – das ‚zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirmes auf einem Sektiertisch‘ – neben zahllosen anderen disparaten Bildern, als Paradigma eines veristischen Surrealismus: Je me connais à lire l’âge dans les lignes physiognomoniques du front: il a seize ans et quatre mois! Il est beau comme la rétractabilité des serres des oiseaux rapaces; ou encore, comme l’incertitude des mouvements musculaires dans les plaies des parties molles de la région cervicale postérieure; ou plutôt, comme ce piège à rats perpétuel, toujours retendu par l’animal pris, qui peut prendre seul des rongeurs indéfiniment, et fonctionner même caché sous la paille; et surtout, comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d'une machine à coudre et d'un parapluie! Mervyn, ce fils de la blonde Angleterre, vient de prendre chez son professeur une leçon d’escrime, et, enveloppé dans son tartan écossais, il retourne chez ses parents.13 So erregt auch der Eselskadaver in Buñuels filmischem Aushängeschild des Surrealismus Un chien andalou durch seine seltsame Platzierung eines im damaligen spanischen Alltag nicht ungewöhnlichen Tierkadavers ein surreales Szenario. Andererseits evoziert das Zerfressen eines Esels durch Bienen in Las Hur11 Breton: Manifeste du surréalisme, S. 19, 20. 12 Dem in der Malerei so bezeichnete veristische Surrealismus, der ein Verfahren bezeichnet, welches Alltagselemente aus ihrem habitualisierten Umfeld entwendet und in neue Kontexte einbettet, so dass jene typischen ir-, bzw. surrealen Effekte und Atmosphären entstehen, steht der sogenannte absolute Surrealismus gegenüber, jener direkten Darstellung abstrakter Formen, visualisierte, plastisch dargestellte Produkte aus dem Unbewussten. Vgl. zum veristischen und absoluten Surrealismus in der Malerei: Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert. Eine Entwicklungsgeschichte, München 1976. Breton selbst zählt „MM. Aragon, Baron, Boiffard, Breton, Carrive, Crevel, Delteil, Desnos, Éluard, Gérard, Limbour, Malkine, Morise, Naville, Noll, Péret, Picon, Soupault, Vitrac“ zu Vertretern des absoluten Surrealismus. Vgl. Breton: Manifestes du surralísme, S. 36f. Vgl. in diesem Band auch den Beitrag von Gerhard Wild, in dem er für das genannte Verfahren den Begriff des „dépaysement, d.h. der verfremdenden Über-Setzens von Objekten als die originär surrealistische Operation […]“ verwendet. 13 Comte de Lautréamont: Les Chants de Maldoror. Chant sixième, I, S. 236.

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des – Tierra sin pan (1932) ebenfalls Unbehagen, da es von Anfang an dem Genre des Dokumentarfilms zugesprochen, als real und somit per se als schockierend gilt. Der Surrealismus hinterfragt mit solchen augenscheinlich konträren Beispielen die Brüchigkeit der Darstellungsmodi zwischen Dokumentation und Fiktion. Vor allem Buñuel selbst demaskiert ironisch die abendländische Suche nach Sinn mit seiner spielerischen Freude an vorgeblich surrealen Elementen, an Häufungen von disparaten, jedoch aus dem (spanischen) Alltag entnommenen Bildern. Auch in der folgenden Filmanalyse erweist sich nun die Unterscheidung von einigen Elementen zwischen surrealistisch und realistisch als spielerische, surrealistische Fallgruben, als äußerst hybrid und mehrdeutig. Das Surreale soll und wird auch hier bei Almodóvar in den Bereich des Normalen überführt, wird zum Bestandteil, zum ‚inneren Garten‘ eines jeden Individuums. Die Grenzen zwischen Realität und Surrealität, zwischen Bewussten und Unbewussten zerfließen. Immer wieder tauchen jene buñuelesken und damit oft per se als surrealistisch empfundenen Elemente in Almodóvars Werken auf.14 Für den Zuschauer, dem Luis Buñuels L’Âge d’Or (1930) im Hinterkopf präsent ist, entpuppt sich folglich der almodovarianische Tiger im Klostergarten (Abb. 1) als grotesk-surrealistisches Pendant zur buñuelesken Kuh auf dem Bett, nach deren gemächlichem Abgang aus dem Schlafgemach bekannterweise die unterschiedlichsten Gegenstände wie Ackerbaugeräte, brennende Tannen, Bischöfe und Giraffen wie selbstverständlich aus dem Fenster fliegen (Abb. 2a, b).

14 Holguin: Pedro Almodóvar, S. 30. Immer wieder rekurriert Almodóvar im Zuge einer spanischen Genealogie auf seine spanischen Vorgänger, um sie, wie Holguin bestätigt, in karnevalesker Spielfreude zu transformieren: „– El surrealismo buñueliano, que queda convertido en el más puro „pop“, con una influencia muy clara, en temas, personajes y actores, donde está muy presente incluso la obra del propio Andy Warhol. – El simbolismo-escandaloso que rodea la obra de Ferreri y el mundo hispánico de las películas de Bardem, Berlanga y Azcona. – El universo sauriano, por supuesto en otro contexto histórico y social.“

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Abbildung 1: Screenshot, Entre tinieblas

Abbildung 2a, b: Screenshots, L’Âge d’Or

Dies kann gleichsam als eine Art Höhepunkt des veristischen Surrealismus’ betrachtet werden, der Freude an disparaten Kombinationen im Zeichen der concordia discors, jener Vereinigung von Unvereinbarem, die gleichsam auf die groteske Verkettung in Jorge Luis Borges’ „gewisse chinesische Enzyklopädie“15 – „[…] cierta enciclopedia china que se titula Emporio celestial de conoci-

15 Borges: „El idioma analítico de John Wilkins“, S. 708: „En sus remotas páginas está escrito que los animales se dividen en (a) pertenecientes al Emperador, (b) embalsamados, (c) amaestrados, (d) lechones, (e) sirenas, (f) fabulosos, (g) perros sueltos, (h) incluidos en esta clasificación, (i) que se agitan como locos, (j) innumerables, (k) dibujados con un pincél finísimo de pelo e camello, (l) etcétera, (m) que acaban de romper el jarrón, (n) que de lejos parecen moscas.“.

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mientos benévolos“ rekurriert, die von Michel Foucault mit großer Freude untersucht worden ist: Ce livre a son lieu de naissance dans un texte de Borges. Dans le rire qui secoue à sa lecture toutes les familiarités de la pensée – de la nôtre: de celle qui a notre âge et notre géographie –, ébranlant toutes les surfaces ordonnées et tous les plans qui assagissent pour nous le foisonnement des êtres, faisant vaciller et inquiétant pour longtemps notre pratique millénaire du Même et de l’Autre. […] Dans l’émerveillement de cette taxonomie, ce qu’on rejoint d’un bond, ce qui, à la faveur de l’apologue, nous est indiqué comme la charme érotique d’une autre pensée, c’est la limite de la nôtre: l’impossibilité nue de penser cela.16 Wie die Foucault’sche Lektüre von Borges’ Enzyklopädie verursachen auch die almodovarianischen Kombinationen nicht nur in Entre tinieblas jenes befreiende Lachen17, rütteln an den etablierten Ordnungen. Es wird gleichsam auf die „ambigüdades, redundancias y deficiencias“18, auf die Unmöglichkeit, aber auch den Wahn jeglicher Klassifzierungsversuche hingewiesen. Nach Borges unterliegen jegliche Klassifikationen des Universums der Willkür und der Vermutung.19 Treffend führt Schwarze im Zusammenhang mit Buñuel ebenfalls durch die verwirrende und paradoxale Vermischung von Gewöhnlichem und Außergewöhnlichem die Durchbrechung jeglicher Ordnungen an: Während sich das Ungeheuerliche bruchlos in unser Weltbild fügt, irritiert uns das Alltägliche. Warum, so grübeln wir etwa, zeigt uns Buñuel eine tote Fliege in einem Weinglas. Symbol, Metapher, purer Zufall? Dies sind die Fallgruben des Luis Buñuel. In einem Kinofilm, in dem jedes Detail etwas zu bedeuten hat, besteht der Sinn seiner Bilder darin, zu zeigen, dass es oft keinen Sinn mehr gibt. Je mehr die Bilder Buñuels sich dem Erlebnishorizont des Zuschauers nähern, desto mehr verstören sie ihn. Buñuel stellt die gängige Dramaturgie

16 Foucault: Les mots et les choses, S. 7. 17 Dies wiederum rekurriert auf das befreiende Karnevalslachen, auf die von Michail Bachtin analysierte „Lachkultur des Mittelalters“, die „der Seriösität nicht prinzipiell feindlich gegenüber [stand], sie wehrte sich nur gegen die zeitgenössische dogmatische Seriösität.“ Bachtins: Vgl. Bachtin: Rabelais und seine Welt. S. 167. 18 Borges: „El idioma analítico de John Wilkins“, S. 708. 19 Vgl. ebd.

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auf den Kopf. Das Gewöhnliche irritiert den Zuschauer, das Außergewöhnliche fügt sich in seine Erwartungen.“20 Und auch hier ist in der filmischen Handlung zunächst von einem Kind niño – gemeint ist der Tiger – die Rede, so dass der Zuschauer ein solches in der Obhut der gütigen Nonnen wägt und von Anfang an auf falsche Fährten gelenkt wird.

Wahrnehmungsspiele, Halluzinationen und (Traum-)Visionen Die surrealistischen Fallgruben involvieren nicht nur die Zuschauer, sondern die Protagonisten selbst in ein surrealistisches Spiel mit falschen Fährten, jene grenzüberschreitenden Spiele mit der Wahrnehmung und der Imagination, den trompe l’oeils und mise en abymes, die hier in einem ständigen Wechsel zwischen Halluzinationen und mystischen Phantasien, zwischen Wachsein und Traumzuständen lavieren und im Zuge einer spanischen Genealogie symptomatischerweise auch an die ekstatischen Exaltationen einer Teresa de Ávila erinnern.21 Solche manifestieren sich in subversiv-skurillen Visionen und stellen sich beispielsweise durch die Figur der Sor Estiércol (Schwester (Kuh-)Dung) in die mystische Nachfolge lebendiger und fiktiver Nonnenvitae. So verfällt Sor Estiércol während des Abendmahls im Zeichen mystischer Ekstase ihren Halluzinationen, die sie für göttliche Eingebungen hält, von Sor Rata (Schwester Ratte) jedoch schlicht als Produkte ihres Drogenkonsums entlarvt werden (Abb. 3a-c):

20 Schwarze: Buñuel, S. 115. 21 Der für das almodovarianische Kloster vorbildliche weibliche Mystizismus, deren prominenteste Vertreterin Teresa de Ávila darstellt, war eines der emanzipierten erotischen Phänomene, sich dem Wirkungskreis des Männlichen zu entziehen und sich legitim ihrer eigenen Körperlichkeit, ihrer eigenen (Auto)Erotik als „Braut Gottes“ hinzugeben. Vgl. Teresa de Ávila: Camino de perfección; Dies.: Las Moradas. Vgl. zur Extasetechnik auch Eliade, Mircea: Le chamanisme et les techniques archaiques de l’extase, Paris 1951. Tamara Daniÿiý bemerkt, dass mit der Rekurrenz auf die Genealogie berühmter Vorbilder wie Sor Juana Inés de la Cruz oder Santa Teresa de Ávila sich die auktoriale Stimme in die Figurenrede einwebt und hebt damit auch die Integration des historischen Kontextes bei Almodóvar hervor. Vgl. Daniÿiý, Tamara: Rede, Vielfalt: Fremde Rede und dialogische Flechtwerke bei Pedro Almodóvar, Tübingen 2003.

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Abbildung 3a: Screenshot, Entre tinieblas (Sor Estiércol halluziniert die Oberin)

Abbildung 3b: Screenshot, Entre tinieblas (Sor Estiércol halluziniert ein Kuchenstück)

Abbildung 3c: Screenshot, Entre tinieblas (Sor Estiércol halluziniert den Salat)

Sor Estiércol: Für mich ist das Essen dieses Kuchens wie zum Abendmahl zu gehen. Während der heutigen erschien mir Jesus, Sirup triefend, und bot mir seine Wundmale an, auf dass ich sie ablecke wie eine Schwalbe. Sor Rata: Das nennt man Halluzinationen. Sor Estiércol: Und wenn, gesegnet seien diese Halluzinationen.

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Traumvisionen Ein weiteres bedeutsames Element des surrealistischen Diskurses ist das erwähnte Onirische, sind die Traumvisionen. So träumt und halluziniert die Protagonistin Yolanda ihrerseits während ihrer Entziehungskur einen Reigen disparater Bilder, der einer Synthese, einer mise en abyme des filmischen Plots gleichkommt, in dem der Film in einer Kurzrevue visualisiert wird (Abb. 4a, b) und damit die Vermischung von Traum und Realität aufzeigt.

Abbildung 4a, b: Screenshots, Entre tinieblas

Disparate Bild- und Ton-(Schock-)Montagen In einer anderen – an Hitchcocks Rear Window (1954) erinnernden – spannungserzeugenden Sequenz schaut Yolanda aus dem Fenster und erblickt ungläubig eine sich mit einem Tiger rangelnde Nonne im Garten. Wie sich herausstellen wird, handelt es sich um das erwähnte Kind, um den Tiger mit dem Namen Niño. Daniÿiý stellt bei ihrer Untersuchung im Zusammenhang mit dieser Szene fest, dass gerade solche Spannungsmomente sich im Nichts auflösen22 und sich somit auch hier als surrealistische Fallgruben entpuppen, die mit der Erwartungshaltung des Zuschauers spielen. Dieser wird auch während eines schrill-bunten Geburtstagsfestes zu Ehren der Oberin in die Irre geleitet, auf dem drei der Nonnen mit ihren musikalischen Instrumenten den Gesang Yolandas begleiten. Als plötzlich – für den Zuschauer zunächst nicht einzuordnen – das Brüllen eines Tigers für kurze Momente den Gesang zu übertönen droht, wird dies amüsanterweise sofort von Sor Perdida (Schwester Verloren) überspielt, indem sie vortäuscht, selbst zu brüllen (Abb. 5):

22 Daniÿiý: Rede, Vielfalt, S. 59.

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Abbildung 5: Screenshot, Entre tinieblas

Denn keine der zu Besuch gekommenen Nonnen eines anderen Klosters darf von dem Tiger und der damit verbundenen Vermutung, es handele sich um kein normales Kloster, erfahren, welches sich als Ort der disparaten und zufälligen Zusammenkünfte, als Heterotopie und halluzinatorische Erlebniswelt entpuppt. Wie schon die Urinierszene in dem ersten Langfilm Almodóvars Pepi, Luci, Bom y las otras chicas del montón kontrastiv von einem Ostermarsch begleitet wird, wird auch hier kontrapunktisch ein Binärkomplex eingesetzt, der immer wieder ins Groteske gleitet und Almodóvars sinnverwirrende Lust an disparaten Parallelmontagen zeigt: Mit dieser Taktik der Verunsicherung reiht sich Almodóvar abermals in eine surrealistische Genealogie ein, wenn er das erwähnte, von den Surrealisten so beliebte Spiel verwirrender Schockmontagen aufgreift.23 Sie lösen die gewohnten Verbindungen von Ton und Bild auf und unterlaufen wiederholt die Erwartungen der Rezipienten. Dieses irritierende Verfahren wurde ebenfalls bereits von Buñuel in L’Âge d’Or (1930) meisterhaft in Szene gesetzt, der durch die disparaten Überschneidungen von Bild und Ton die Autonomie der Tonspur (etwa bei Lynch, Godard und Greenaway) unterstreicht. Die Parallelisierungen von disparaten Bildern wie die einer Toilette, die sich mit denen eines Magmastromes überlappen, lässt die synästhetische Assoziation mit einem gigantischen, blubbernden Kothaufen aufkommen (Abb. 6a, b):

23 Vgl. Lampe, Angela: „Größter Schatten oder größtes Licht. Surrealistische Frauenentwürfe zwischen Traum und Wirklichkeit.“, in: Dies.: Femme Fatale Die unheimliche Weiblichkeit im Surrealismus, Bielefeld 2001, insb. S. 30-39.

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Abbildung 6a, b: Screenshots, L’Âge d’Or

Gleichzeitig wird mit dem kombinatorischen Spiel auch „ein ludischer Dialog zwischen verschiedenen Medien“ erreicht, wie Felten bei Luis Buñuel und Federico García Lorca aufzeigt.24 Gerade das Werk Lorcas sei als eine weitere kreative (surrealistische) Vorlage erwähnt, dessen thematisches Repertoire von surrealen, grotesken, homoerotischen, tabuisierten und marginalen Elementen ihre artistische Umsetzung im narrativen und filmischen Repertoire des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvars erfährt. Immer wieder rekurriert Almodóvar im Zuge einer spanischen Genealogie auf seine spanischen Vorgänger, um sie, wie Holguin bestätigt, in karnevalesker Spielfreude zu transformieren: So wird der Surrealismus Buñuels und die ‚Popart‘ Andy Warhols zu neuen (neo-)surrealistischen Kunstwerken kombiniert.

Blasphemische und karnevaleske Körperbilder In diesem Kloster scheint nichts der Ordnung zu entsprechen, scheinbar Ordentliches bedient die Unordnung: Ein Priester hat die, für einen Geistlichen ungewöhnliche, weiblich codierte Rolle eines Schneiders angenommen, um in der Nähe seiner seit langem angebeteten Nonne sein zu können. Beide Geistliche widmen sich der an venezianischen Karneval erinnernde Mode für Heiligenstatuen (Abb. 7a, b) – „avant-garde costumes for mannequin-like Virgins“25 – deren „Körperlichkeit im Gewande der Ikonographien“ einerseits mit „der dogmatischen Körpernegierung26 und anderseits mit den klassischen Heiligendarstellungen kontrastiert.27 24 Felten: Traum und Körper bei Lorca, S. 17. 25 Smith: Desire Unlimited – The Cinema of Pedro Almodóvar, S. 38. 26 Vgl., Daniÿiý: Rede, Vielfalt. 27 Ebd. Dank ihrer Lurex-Kreationen verpasst die nähende Klosterfrau ihnen einen zeigenössischen wie einzigartigen Look. Den Kontrast zu den üblichen Darstellungen biblischer Figuren arbeitet die Kamera heraus, wenn sie die Figuren vor dem

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Abbildung 7a, b: Screenshots, Entre tinieblas

Mit gewisser Verzückung und Skepsis werden mit diesen Metamorphosen und karnevalesken Körperbildern die christlichen Dogmen abgetastet, die in archaischer Starre seit Jahrhunderten dem (spanischen) Alltag zugehören. Almodóvar greift schließlich auch auf die Traditionen des Barocks, wie Roloff sie begreift, zurück und führt die surrealistische Freude am Recycling dieser barocken Verfahrensweisen weiter: […] wobei der Barock als „Modell der Entwicklung alltäglicher und der Ontologisierung imaginärer Welten“ erscheint. Das heißt als ästhetischer Spielraum des engaño, der Künstlichkeit, der Masken und Kostüme, der sozialen und imaginären Rollen und Vexierspiele und damit als polyphones theatrum mundi, das aktuelle Medienwelten, Simulationen, Traumfabriken präfiguriert. Vor allem im spanischen Surrealismus kann man die Faszination des Barock an dem Recycling vor allem des visuellen und imaginären Repertoires der barocken Kunst, der Labyrinthe, Schimären, Bild-Text-Kombinationen erkennen – an der Aktualisierung einer ‚figuralen‘ Ästhetik, die mit ihren Visionen, sueños, Emblemen, Künstlichkeit, ihren phantastischen und grotesken Spielformen neues Interesse findet.28

Karnevaleske Flohmärkte und Zirkusattraktionen Im Anschluss an diese surreale Modenshow und die bissige Artikulation des ‚dementen‘ Diskurses steht der auf dem Markt erwähnte Verkauf verschiedenster Produkte zum Erhalt des Kloster – „Tartas, flores, pimientos“. Dieser ver-

Gemälde einer klassischen Renaissance-Madonna, welches im Hintergrund an der Wand zu sehen ist, positioniert. 28 Roloff: „Der fremde Calderón. Sartre und das spanische Barocktheater“, S. 232. Vgl. zum Barock auch Bosse, Monika/Stoll, André (Hrsg.): Theatrum mundi. Figuren der Barockästhetik in Spanien und Hispano-Amerika; Literatur – Kunst – Bildmedien, Bielefeld 1997.

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wandelt sich in einen absurden Flohmarkt à la Borges, der sich bereits bei den Surrealisten als idealer Fundort von objets trouvés erwies, als karnevalesker Marktplatz, auf dem alle sozialen Schichten auf der Suche nach diversen Objekten zusammentreffen. Sor Estiércol tritt hier auch als Konkurrentin des Feuerspuckers mit ihrer speziellen Fakirnummer auf (Abb. 8a, b) und bietet im Hinblick auf die Künstlichkeit der christlichen Theatralität ihre artistischen Fähigkeiten beim Konventfest an. Wenig später schlägt sie sogar ihre eigene Kruzifizierung vor und untermalt die surrealistische Freude an Inszenierungen des Grotesken, Absurden, Bizarren, Irrationalen, Exzessiven und Makaberen: Sor Estiércol: Podríamos montar un circo. Eso es, un circo de monjas, algo distinto. […] Bueno, yo incluso pordía crucificarme en pleno rastro, por los pecados de la gente, y por los míos, claro. Seguro que será espectacular. [Wir könnten einen Zirkus gründen. Das ist es, einen Nonnenzirkus, mal was anderes. […] Gut, ich könnte mich sogar auf dem Flohmarkt für die Sünden der Leute, und für meine natürlich auch kreuzigen lassen. Das wäre sicherlich sehr spektakulär.]

Abbildung 8a, b: Screenshots, Entre tinieblas

Esperpentische Dialoge und Blasphemien Es ist abermals Sor Estiércol, die weitere an Valle-Inclan angelegte esperpentische Szenen29 präsentiert, in der das Ungewöhnliche und Absurde zur Nor29 Gleichzeitig führt Almodóvar mit seinen frivol-skurrilen Versionen eine spanische Genealogie im Zeichen der selten beachteten humoresk-surrealen La otra generación del 27 fort: José López Rubio und Jardiel Poncela mit ihren schrägen irrsinnigen Komödien, die sogenannten „comedias disparatadas“, Miguel Mihura mit seinem absurd anmutenden Theater, Tono (Antonio de Lara) und seine humorvollen Malereien und Abbildungen in Zeitschriften wie Ametralladora, Gutierrez oder La Codorniz. An dieser Stelle sei auch auf die generell unbeachteten, im Schatten ihrer männlichen Vertreter stehenden weiblichen Vertreterinnen der Generación del 27,

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malität wird, so wie die Nonnen ihr Kind als etwas ganz Gewöhnliches sehen. Wie eingangs bereits erwähnt, wird das Irrationale zum Bestandteil der Realität, die dadurch ihren Absolutheitsanspruch verliert. Alles verwandelt sich in relative und legitime Bedeutungsträger. Die Absurditäten kulminieren im parodistischen Dialog zwischen Sor Rata und ihrer Schwester über die Veräußerung von Reliquien. Sor Rata: „Glaubst du, sie würden etwas für eine Reliquienschrein geben?“ Concha Torres: „Was ist drin?“ Sor Rata: „Der Fingernagel des Heiligen Ulpiano.“ Sor Perdida: „Gut gegen Hautprobleme.“ Concha Torres: „Ich weiß nicht recht.“ Sor Perdida: „Das ist die Hand eines Heiligen.“ Sor Rata: „Übertreiben sie nicht Schwester, es ist der Fußnagel. Vom linken. So steht es zumindest im Prospekt.“ Sor Perdida: „Zu anderen Zeiten kamen sogar die Minister hierher, um sich damit zu kratzen. Sie ist sehr wundersam.“ Gegen Ende wird Almodóvar noch einmal die Kirche blasphemisch in ein skurriles Licht führen, wenn er die Oberin ihren geliebten Schützling Yolanda nach deren Auftritt das Gesicht mit einem Tuch abtrocknen lässt und dieses sich in ein ‚weibliches‘ Turiner Grabtuch verwandelt (Abb. 9).

Abbildung 9: Screenshot, Entre tinieblas

Auch hier verzahnen sich Säkulares und Sakrales. Indem Almodóvar zudem eine weibliche Protagonistin wählt, steigert er, wie in der Abendmahlszene, den blasphemischen Akt. Die Oberin sieht sich in die neue Heilige Veronica veraber auch schon zuvor der Generación del 98 hingewiesen. Vgl. dazu Mangini, Shirley: Las modernas de Madrid: Las grandes intelectuales españolas de la vanguardia, Barcelona 2001.

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wandelt, in deren Namen die im filmischen Œuvre inhärente Frage nach der Wirklichkeit Vera, nach Wahrheit und Lüge subsumiert werden kann.30 Superiora: „Que Dios me perdone si me siento una nueva Verónica.“ Das Abendessen wird schließlich als ,weibliches‘ Pendant dem christlichen Abendmahl, bzw. seiner medialen Visualisierung, dem berühmten Bild Leonardo da Vincis und der buñuelesken Abendmahlszenerie aus Viridiana (1963) entgegengesetzt. Besetzt Buñuel seinen Tisch mit den undankbaren Bedürftigen, so sitzen an der almodóvarianischen (homo-)erotisierten Tafel weibliche Teilnehmerinnen, deren Mittelpunkt die Oberin und ihr neuer Schützling Yolanda bilden (Abb. 10, 11): Es entsteht ein sapphischer Liebesreigen, der umso blasphemischer wirkt.

Abbildung 10: Screenshot, Entre tinieblas

Abbildung 11: Leonardo Da Vinci: Abendmahl, 1495/1498, Kirche Santa Maria delle Grazie

„[…] il y a toujours un moment où le drame s’impose face à l’humour.“31 Mit dieser Aussage kommentiert Almodóvar den für die Oberin bitteren Schluss und knüpft, wie er selbst anführt, an den Stil des filmischen Werkes Barton Fink (1991) der Cohen-Brüder an, das zunächst als Komödie („comédie acid“) angelegt war und am Ende zum „film d’horreur“ entgleise. Gleichzeitig verweist er auf Something Wild (1987) von Jonathan Demme, an dessen Ende sich der Protagonist als Psychopath entpuppt und den Film ohne Happy End kommerziell herabsetzt.32 Selbst das in diesem Sinne traurige Ende entwindet sich

30 Verónica setzt sich aus Vera = wahr(haftig) und Icon = Bild zusammen. Interessanterweise rekurriert auch eine der bekanntesten Figuren im Stierkampf – la verónica – auf den Name der Heiligen Veronika, die das Schweißtuch hielt, mit dem sie das Gesicht Christi trocknete. 31 Strauss: Conversations avec Pedro Almodóvar, S. 51. 32 Vgl. ebd.

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den etablierten Vorstellungen des Genres und Konventionen und lässt vieles im Verborgenen – Entre tinieblas.

Literaturverzeichnis Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M. 1995. Borges, Jorge Luis: „El idioma analítico de John Wilkins'“, in: ders.: Obras completas, Buenos Aires 1974, S. 706-709. Bosse, Monika/Stoll, André (Hrsg.): Theatrum mundi. Figuren der Barockästhetik in Spanien und Hispano-Amerika; Literatur – Kunst – Bildmedien, Bielefeld 1997. Breton, André: Manifestes du surréalisme, Paris 1994. Bürger, Peter (Hrsg.): Surrealismus, Darmstadt 1982. Comte de Lautréamont: Les Chants de Maldoror et autres oeuvres, Paris 1995. Daniÿiý, Tamara: Rede, Vielfalt: Fremde Rede und dialogische Flechtwerke bei Pedro Almodóvar, Tübingen 2003. Eliade, Mircea: Le chamanisme et les techniques archaïques de l’extase, Paris 1951. Felten, Uta: Traum und Körper bei Lorca. Intermediale Inszenierungen, Tübingen 1998. Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert. Eine Entwicklungsgeschichte, München 1976. Holländer, Hans: „Ars inveniendi et investigandi: zur surrealistischen Methode“, in: Bürger, Peter (Hrsg.): Surrealismus, Darmstadt 1982, S. 244-312. Holguin, Antonio: Pedro Almodóvar, Madrid 1995. Kinder, Marsha: „Pleasure and the New Spanish Mentality: A Conversation with Pedro Almodóvar“, in: Film Quarterly, vol. XLI, no. 1, fall, 1987, S. 33-44. Kroll, Renate (Hrsg.): Guillaume Apollinaire, Les Mamelles de Tirésias. Drame surréaliste en deux actes et un prologue, Stuttgart 1987. Lampe, Angela: „Größter Schatten oder größtes Licht. Surrealistische Frauenentwürfe zwischen Traum und Wirklichkeit.“, in: dies.: Femme Fatale Die unheimliche Weiblichkeit im Surrealismus, Bielefeld 2001, S. 25-48.

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Mangini, Shirley: Las modernas de Madrid: Las grandes intelectuales españolas de la vanguardia, Barcelona 2001. Foucault, Michel: Les mots et les choses Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966. Roloff, Volker: „Der fremde Calderón. Sartre und das spanische Barocktheater“, in: Leinen, Frank (Hrsg.): Literarische Begegnungen: romanistische Studien zur kulturellen Identität, Differenz und Alterität; Festschrift für Karl Hölz zum 60. Geburtstag, Berlin 2002, S. 231-245. Schwarze, Michael: Buñuel, Reinbek bei Hamburg 1993. Smith, Paul Julian: Desire Unlimited – The Cinema of Pedro Almodóvar, London 1994. Strauss, Frédéric: Conversations avec Pedro Almodóvar, Paris 1994. Vidal, Nuria: El cine de Pedro Almodóvar, Barcelona 1988.

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Andrea Dilcher

Imagination in Prospero’s Books Da ihm bekannt, ich liebe meine Bücher, Gab er mir Bänd aus meinem Büchersaal, Mehr wert mir als meine Herzogtum. (Greenaway, Prosperos Bücher)

Peter Greenaway als Meister des experimentellen Erzählkinos erweckt in Prospero’s Books Bücher zum Leben. 1991 verfilmte er Shakespeares letztes Theaterstück The Tempest, eine textnahe und gleichzeitig ungewöhnliche filmische Adaption des Stücks. ‚Imagination‘ ist das Thema von The Tempest, sie nimmt im Stück alle möglichen Erscheinungsformen an. So ist sie auch in ihrer reinen flüssigen Form präsent. Wie Wasser braucht dieses flüssige Element der Imagination immer eine Form, in der es gefasst werden kann. Die Vielfalt der Gestalten, die Imagination oder Einbildungskraft annehmen, spielt Greenaway in Prospero’s Books durch. Greenaway interpretiert, inszeniert und führt einen strengen mehrfädigen Diskurs über Imagination und Medialität. Er zeigt die Kraft der Imagination, die gebunden ist an Formen wie Töne, Bilder und Worte. Seine Liebe zum Buch wird in den 24 Büchern, aus denen Prospero eine eigene Inselwelt erschaffen kann, verdeutlicht – eine Liebeserklärung und ein Abgesang auf die Buchkultur – gleichzeitig wird die Verwandlungsfähigkeit der Imagination durchgespielt. Prospero’s Books ist auch eine Auflösung des Filmbildes durch das experimentelle Verfahren durch die digitale Graphik-Paintbox, wie bereits seine Vorlage The Tempest ein Abschied vom Theater war. Greenaway hat mit einer Ausbildung als Bildender Künstler – als Maler – begonnen und ist dann über den Experimentalfilm zum Spielfilm gelangt. Durch seine Experimentalfilme, die aus ästhetischen Prinzipien der Bildenden Kunst erwachsen sind, hat er seine ganz eigene Filmsprache entwickelt, die Themen der Experimentalfilme sind immer wieder in seinen Spielfilmen vorzufinden. In seinen Filmexperimenten interessieren ihn die Beziehungen der Elemente des Erzählmediums, so z.B. die Montage oder Verbindung von Wort und Bild, Bild und Bild, Fiktion und Dokumentation und dies alles verbunden mit einem fanatischen Sinn für Ordnungsprinzipien und Systeme, die zumeist durch die Montage der Elemente gesprengt wird, doch zugleich grundlegend die erzählte Welt und den Film bestimmen. Immer wieder überlagern sich Zahl und Erzählung und wägen narrative Stränge gegen Serialität ab. Die Filme Greenaways lassen sich bzw. müssen diskursiv im Zusammenhang gele-

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Andrea Dilcher | Imagination in Prospero’s Books

sen/gesehen werden. So wandern z.B. das Prinzip der Schrift im Bild und das Thema des Schriftkults von Prospero’s Books in seinen nächsten Film The Pillow Book.1 Alle seine Spielfilme enthalten die Themen und Gesten seiner frühen Experimente und führen diese in die Inhalte jedes einzelnen Films und in die Gattung des Spielfilms ein. Insofern kann auch Prospero’s Books als fortgeführtes filmisches Experiment gesehen werden. In Prospero’s Books kommt die Modifikation des Filmbilds mittels einer innerbildlichen Montage hinzu, die mit der neuen Technik der digitalen, elektronischen Graphic-Paintbox ermöglicht wurde. Wie von ihm selbst im Vorwort angedeutet, kann der Film Prospero’s Books als intermediales Verweisspiel betrachtet werden, in dem alle Künste und Medien zitiert, collagiert und durch filmische Montage miteinander verwoben werden. Kombiniert werden Theater, Malerei, Literatur, Schrift, Zeichnung, Architektur, Sprache, Tanz und natürlich das Buch. Zusätzlich zu der Kombination der Künste und Medien werden Bild und Ton in nicht-referenzieller Weise collagiert. Das Filmbild wird als einzelnes in Frage gestellt, indem das Bild von anderen Bildern – durch die Paintbox – partiell überlappt wird und so neue Typen von Filmbildern zustande kommen. Greenaways Film bzw. Inselwelt und die verwendeten experimentellen Techniken erinnern an die Verfahrensweisen der Surrealisten und speisen ihre Ästhetik aus der Stilistik des literarischen Manierismus der Vorlage The Tempest. Surrealismus und Manierismus sind Stile und Epochen, die Parallelen aufweisen und teils als wiederkehrende Phasen der Kunstgeschichte gelesen werden. Prospero’s Books scheint die beiden Stile zu vereinen, der literarische Manierismus wird in einen filmischen Surrealismus gewandelt. Dennoch erhöht Greenaway die Distanz weiter als sie in der manieristischen Vorlage gegeben ist und adaptiert das Theaterstück aus einer wissenschaftlich reflektierenden Sicht heraus.

The Tempest und Prospero’s Books Das Greenaway Shakespeares The Tempest verfilmt hat, erscheint ungewöhnlich, John Gielgud, der Shakespeare-Schauspieler per se, ist auf ihn zugekommen und hat ihn gebeten das Stück zu verfilmen. Greenaway hätte, wie er sagt,

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In Drowning by Numbers ist die Zahl das Prinzip der Erzählung und das Wasser fungiert als Element des Schicksals, die Menschen bzw. Männer sterben im Wasser und werden als Tote zahlenmäßig geordnet. Das Wasser und auch die Ordnung der Toten tauchen wie viele Aspekte in Greenaways Werk auch in Prospero’s Books auf.

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das Stück ohne John Gielgud in der Hauptrolle des Prospero nicht verfilmt.2 Die vorhergehenden Filme Greenaways wie A Zed and Two Noughts oder Drowning by Numbers basieren auf eigens für den Film entwickelten Erzählungen und Drehbüchern, die teilweise zwar ihre Vorbilder und Themen in der Literatur bzw. Literaturgeschichte finden. Sie sind aber nicht wie Prospero’s Books eine Adaption eines für das Theater entwickelten Textes. Der Text ist für Greenaways Verhältnisse wenig verändert, d.h. 30% des Textes sind gestrichen worden, zahlreich wurde ergänzt, Textpassagen wurden mehrfach wiederholt und in diesem Moment selbst zu einer Collage. Die Dialoge werden bis zum Wendepunkt des Stücks alle von Prospero alias John Gielgud gesprochen. Durch „den Akt der Barmherzigkeit“ erhalten „die Figuren aus Worten geschaffen von seinem Verlangen nach Rache“ eigene Stimmen und damit Leben. Prospero als Renaissance-Gelehrter und Magier erschafft sich seine Geister und inszeniert seine Rache, indem er die Hofgesellschaft Schiffbruch erleiden lässt, damit integriert er die Personen auf ‚magische‘ Weise in seine Imagination und Träume. Die Figuren des Stücks fragen sich, ob sie träumen oder halluzinieren, sie fühlen sich manipuliert und gelenkt. Auf narrativer Ebene handelt es sich um Imagination alias Magie. Auf medialer Ebene zaubert der Magier Greenaway einen experimentellen Film, der sich in der Traumästhetik selbst spiegelt. In den 80er und 90er Jahren wurde The Tempest mehrmals filmisch umgesetzt. Prospero’s Books versucht der komplexen Autoreflexivität von The Tempest gerecht zu werden. Shakespeares letztes Theaterstück kann als Reflexion über Theatralität, aber auch Imagination gelesen werden. The Tempest bietet mannigfaltige Verweise auf Imaginationsräume und die Grenzen von Theatralität bzw. des Theaterraums – der Illusionsbühne an. Das Spiel mit Bindung und Loslösung von Erscheinungsformen, wie z.B. dem Theater, aber auch von realistischen Räumlichkeiten oder auch von ihrer Bindung an eine Person lassen das Mittel der Traumästhetik bereits bei Shakespeare angelegt sein. Bei Greenaway wird diese Ästhetik zum spielend genutzten und überhöhten Verfahren. Prospero’s Books kann als Inszenierung von The Tempest im Film bezeichnet werden. Inszenierung deshalb, weil die Theatralität im Film erhalten bleibt und betont wird – Greenaway geht den Grenzgang des Stücks am Medium Theater entlang zu ‚neuen Medien‘ hin mit. Shakespeare reflektiert insbesondere u.a. durch die Figur des Caliban über Sprache und Schrift. Auch Greenaway sieht den Text als Grundlage von Theater wie auch Film. „Wörter die Text ergeben, 2

Vgl. Weidle: Manierismus und Manierismen: The Tempest und Peter Greenaways Prospero’s Books. Appendix, S. 161.

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der Seiten ergibt, die Bücher ergeben, aus denen wiederum Wissen geformt wird in der Gestalt von Bildern“, hieraus entspringt der Titel Prospero’s Books und der komplexe verschränkte Umgang mit Sprache, Medien und Künsten. Er adaptiert die Figur des Prospero als schreibenden und spielenden und lässt die „Identitäten von Prospero, Shakespeare und Gielgud einander immer wieder überlagern. Manchmal sind sie auch untrennbar ein und dieselbe Person.“ Greenaway sieht in Stück und Figur „vieles, was als Abschied vom Theater und Absage an die Schauspielerei und das Erschaffen von Illusionen mit Worten verstanden werden kann“3. In diese Reihe stellt sich Greenaway als Regisseur und Künstler selbst. Greenaway als Shakespeare-Prospero, denn wie Shakespeare als Autor und Prospero als Magier, so erschafft auch Greenaway eine imaginäre Welt und reflektiert seinerseits über das Medium Film. … und die Welt (wird) wahrgenommen und gewertet durch ihre Bezüge zu dem was von Prospero an Architektur, Malerei und klassischer Literatur hier eingeführt wird.4 Und genauso wie Shakespeares Worte ein Stück schaffen, das die Illusion des Theaters beendet, produziert Greenaway einen equivalenten Film, der auf bildlicher Ebene das kinematographische Bild auflöst.5 Angesichts dieser Art von Gewebe ist es nicht weiter überraschend, dass die Insel erfüllt ist von einander überlagernden Bildern, sich wandelnden Spiegeln und Spiegel-Bildern – Trug-Bildern im eigentlichen Sinn –, wo Vorstellungen, die aus einem Text heraufbeschworen werden, ebenso verlockend greifbar wirken können wie Gegenstände und tatsächliche Vorgänge und alles in ständig wechselnden Rahmen erscheint. Dieses Wechseln der Ein- und Umrahmungen ist, wie der Text selbst, ein durchgehendes Motiv, das den Zuschauer daran erinnert, dass alles eine Illusion ist, die fortwährend in ein Rechteck eingepasst wird, in einen Bilderrahmen, in den Rahmen einer Kinoleinwand.6

3

Greenaway: Prosperos Bücher, S. 7-10.

4

Ebd., S. 10.

5

Im Stück selbst löst sich das geschriebene Wort und mir ihm das ganze lehrbare Wissen in Wasser auf, würde nicht Caliban ein Buch retten.

6

Greenaway: Prosperos Bücher, S. 10.

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Manierismus in The Tempest Greenaways Verfilmung liegt ein ausführliches Drehbuch zugrunde. Die Narration bleibt in ihrer Linearität und kausalen Folge erhalten, dennoch tritt durch die vielfältigen medialen Erzähl-Ebenen der Verlauf der Erzählung in den Hintergrund und eine überladene Inszenierung der Medien und Künste wird vorgeführt. The Tempest ist durch zahlreiche Stilmittel gekennzeichnet, die dem Manierismus zuzurechnen sind. Besonders dominant tritt der multiperspektivische Aufbau des Stücks hervor. Durch die Figurenkonstellationen werden mehrere Perspektiven auf die Verbannung Prosperos eingenommen. Diese Blickwinkel vermitteln verschiedene Werte und Beurteilungssysteme, die unbeurteilt kollidieren und sich gegenseitig in Frage stellen. Zusätzlich sind die Charaktere ambivalent und nicht-bewertbar gezeichnet. Diese starke Kontrastierung in der Dialogizität lässt das Stück A-Moralität vermitteln.7 Weitere stilistische Merkmale von The Tempest sind Autoreflexion auf medialer Ebene und Distanz, die u.a. durch eine hohe Artifizialität hervorgerufen wird, die sich in Form und Aufbau des Dramas und der Sprache des Stücks findet. Diese typischen Kennzeichen der Epoche des Manierismus weisen laut René Hocke8 Parallelen zum Surrealismus der klassischen Avantgarde auf. Artifizialität, insbesondere Kombinatorik, A-Moralität sowie Polyperspektiven wie auch Perspektivlosigkeit, die zu einer Loslösung bzw. zu einem Schweben führen kann, prägen auch Werke des Surrealismus. Die Traumästhetik – als übergeordnete ästhetische Sprache des Surrealismus – beinhaltet diese Stilmittel. Der Vergleich von Prospero’s Books und The Tempest fokussiert diese ähnlichen Strukturen, denn insbesondere die Traumästhetik findet sich auch in der Anlage von The Tempest. Greenaway hat den literarischen Manierismus des Stücks in eine entsprechende filmische Traumästhetik umgesetzt und die Kombinatorik dieser Epochen durch eine experimentelle filmische Bildsprache überhöht.

7

Weidle: Manierismus und Manierismen, S. 35-47.

8

Hocke: Die Welt als Labyrinth und ders: Manierismus in der Literatur.

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Die Traumästhetik als surreales Mittel im Film Der Traum und seine Ästhetik, von den Surrealisten fast als Equivalent zum Film gewertet, sind das grundlegende surrealistische Mittel im Film.9 Natürlich ist die Traumästhetik auch in anderen von den Surrealisten verwendeten Medien vorzufinden. Was unter Traumästhetik verstanden werden kann, lässt sich aus Textstellen der Manifeste sowie surrealistischer Werke und Schriften herleiten. Ergänzend kann Elisabeth Lenk angeführt werden. Sie geht in ihrem Begriff der Traumästhetik10 insbesondere auf die Verschränkung von Traum und Gesellschaft ein und leitet dadurch von dem kollektiven Bewusstsein zur Relation von Traumform zu Kunst und Literatur über. Ein ähnliches Verhältnis lässt sich in den Werken und ‚theoretischen‘ Äußerungen der Surrealisten herstellen, die von Kunstwerken eine Einwirkung auf das Leben forderten, dies führte bis zum Begriff der ‚surrealistischen Revolution‘. Breton sowie Lenk leiten ihre Ästhetik über den Begriff des „Wunderbaren“ ein. Noch in der nachepischen Prosa bis hin zum realistischen Roman hat der Traum sich gehalten, in ihn hat sozusagen das aus der Welt vertriebene Wunderbare sich gerettet.11 Breton geht von der ‚Imagination‘ aus gegen den Realismus vor, nimmt den Traum in einer doppelten Funktion in seine Argumentation auf und umreißt sein ‚Wunderbares‘ durch literarische Beispiele.12 Das Wunderbare ist nicht zu allen Zeiten daselbe; dunkel nimmt es teil an einer Art allgemeiner Offenbarung, die uns nur in ihren Einzelheiten überkommt […].13 Der Begriff bleibt zentral, aber er lässt sich nicht leicht fassen. Auch der Traum wird als Phänomen von Lenk und Breton untersucht, sowohl in der Unterscheidung von Tag- und Nachtraum als auch in der Beziehung von Wirklichkeit und Traum sowie der Kopplung von Traum und Kunst, in der die Inhalte von Träumen als künstlerische Inhalte diskutiert werden, und der formale Wert von Träumen insbesondere bei Lenk in den Mittelpunkt gestellt

9

Vgl. Roloff: „Experimente an den Grenzen der Komik und des Traums“, S. 186.

10 Lenk: Die unbewußte Gesellschaft. 11 Ebd., S. 8. 12 Vgl. Breton: Erstes surrealistisches Manifest, S. 19-20. 13 Ebd., S. 20.

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wird. Breton expliziert seine Argumentation nicht, er verknüpft zwar Trauminhalte, Kunst und Leben, aber vorerst nur auf Inhalte bezogen Scheinbar durch den größten Zufall nur ist vor kurzem ein Bereich der geistigen Welt wieder ans Licht gehoben worden. […] Insofern sind wir den Entdeckungen Freuds zu Dank verpflichtet. […] Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten. Wenn die Tiefen unseres Geistes seltsame Kräfte bergen, die imstande sind, die der Oberfläche zu mehren oder gar zu besiegen, so haben wir allen Grund, sie einzufangen, sie zuerst einzufangen und danach wenn nötig, der Kontrolle unserer Vernunft zu unterwerfen.14 Die ‚Trauminhalte‘ werden hier als ‚Kräfte‘ bezeichnet. Lenk spezifiziert die Unterscheidung zwischen Tag- und Nachttraum mit Bloch. Er spricht bei Tagträumen von ‚Planbildern‘ der Wunscherfüllung, die den Nachträumen, die sich laut Bloch „aus zurückliegenden Triebleben, aus vergangenem, archaischem Bildmaterial“ speisen,15 gegenübergestellt werden. Obwohl er beiden Formen des Traums als Funktion Wunscherfüllung zuweist, lassen sich die Begriffe ‚Planbilder‘ und ‚archaisches Bildmaterial‘ zur Eingrenzung des Surrealen nutzen. Der Nachttraum als nicht kontrollierter Traum sowie das Kollektive des archaischen Bildmaterials umschreiben den Surrealismus (bzw. seine Werke), der Tagtraum dagegen enthält nicht die Kräfte des Unbewussten, die der Surrealismus fordert. Was für ein Typus das surreale Bild zu sein hat; bestimmt Ray in seinem Aufsatz „Das Zeitalter des Lichts“ genauer: Im Geiste einer Erfahrung und nicht eines Experiments werden die folgenden autobiographischen Bilder vorgeführt. […] sind diese Bilder geronnene Rückstände lebender Organismen, durch Licht und chemische Elemente festgehalten. Kein bildnerischer Ausdruck kann jemals mehr sein als Rückstand einer Erfahrung. Das Erkennen eines Bildes, das in tragischer Weise eine Erfahrung überlebt, den Vorfall mehr oder weniger deutlich in Erinnerung zurückruft, […].16 Er spricht hier in erster Linie vom photografischen Bild, dennoch lässt sich auch allgemein das surreale Bild als Bild der Erinnerung – medial wandelbar – an dem Zitat verdeutlichen.

14 Ebd., S. 15. 15 Lenk: Die unbewußte Gesellschaft, S. 12. 16 Man Ray zit. in: Kemp: Theorie der Fotografie, S. 245.

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Breton bestimmt im Ersten surrealistischen Manifest nicht das „Wie“ der surrealistischen Kunstwerke, insbesondere die Traumform wird von ihm nicht in Bezug auf Kunst angesprochen. Hier muss wieder einen Umweg über den Begriff des Wunderbaren gegangen werden, der einem Angaben über den Aufbau der erzählten Welten eines surrealistischen Kunstwerkes machen kann. Breton geht in der Begriffsbestimmung über die Phantastik hinaus, das Wunderbare ist ‚mehr‘ als nur die Zusammensetzung von zwei ungleichen Welten. Er verdeutlicht es mit einem Ausspruch Pierre Reverdys: Das Bild ist eine reine Schöpfung des Geistes. Es kann nicht aus einem Vergleich entstehen, vielmehr aus der Annäherung von zwei mehr oder weniger voneinander entfernten Wirklichkeiten. Je entfernter und je genauer die Beziehungen der einander angenäherten Wirklichkeiten sind, um so stärker ist das Bild – um so mehr emotionale Wirkung und poetische Realität besitzt es … usw. […].17 Hier lässt sich der Manierismus anschließen, der ebenfalls den Begriff des ‚Wunderbaren‘ in seinen theoretischen Äußerungen zentral nutzt. Hocke vergleicht den Manierismus und den Surrealismus durch theoretische Reflexionen aus den Epochen. Ein mit Reverdy vergleichbares Zitat zeigt die Parallelen. Hocke fasst Tesauro, einen wichtigen Theoretiker des Manierismus, zusammen: „Ein wahrer Dichter sei derjenige der fähig‚ sei ‚entfernteste Zusammenhänge miteinander zu verbinden‘“18, um eben das Wunderbare durch Trennung und Kombination zu erschaffen. Am Beispiel Michelangelos zeigt Hocke die Differenz zu den Künstlern der Epoche, die sich noch gegen die Haltlosigkeit des Umbruchs der Zeit wehren: Durch den Expressionsdrang des alten Michelangelo, der noch tiefere Höllenschlünde zu kennen schien als Dante, werden der statische Harmoniebegriff und seine rationale Verengungstechnik gesprengt. Die dramatisierende Bewegung, die scharfe Schockwirkung durch verblüffende Kompositionseinfälle lassen die Nachahmer der Natur schon nach ganz kurzer Zeit biedermännerisch erscheinen.19 Die Zitate verweisen auf ein zentrales Mittel der Surrealisten und der Manieristen – die Kombinationskunst oder ars combinatoria – ein Collage- und Montageverfahren, das sie im Umgang mit Medien, Materialien aber auch Inhalten 17 Breton: Erstes surrealistisches Manifest, S. 22-23. 18 Hocke: 1987, S. 22. 19 Vgl. ebd., S. 24.

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nutzen. Eine „Methode der Erfindung neuer Gebilde aus bekannten Dingen, wobei zugleich die Erfindung durch Kombination die Enthüllung unbekannnter, nicht gesehener Eigenschaften des Alltäglichen zum Ziel hat.“20 Eine weitere Bestimmung zur Form bietet die Untersuchung der Beziehung von Traum und Tageswirklichkeit. Der Mensch ist eben, wenn er nicht mehr schläft, vor allem ein Spielball seines Gedächtnisses. […] Innerhalb der Grenzen, in denen er sich vollzieht (zu vollziehen scheint), besitzt der Traum allem Anschein nach eine Kontinuität und Anzeichen von Ordnung. Einzig das Gedächtnis maßt sich das Recht an, Kürzungen darin vorzunehmen, Übergänge nicht zu beachten und uns eine Reihe von Träumen darzubieten als den Traum. […] Betrachten wir noch einmal den Wachzustand. Ich kann nicht umhin ihn für ein Interferenz-Phänomen zu halten.21 Überträgt man dies auf eine Formbestimmung und setzt wie die Surrealisten Film und Traum gleich, so erhält man ein vage Vorstellung von der surrealen filmischen erzählten Welt, die ihre Geschlossenheit auf der narrativen Ebene, wie in der Beziehung des Erzählers zum Erzählten, eingebüßt hat. Die Auflösung geschieht über den Bezug von einer ‚Wirklichkeit‘, die bereits in Frage gestellt ist, zum Zustand des Traumes: „Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, […]: Surrealität.“22 Die Traumästhetik steht in engster Beziehung zur Tageswirklichkeit, indem sie sie traumhaft entwirklicht, als Spielmaterial nutzt.

Die Auflösung des Ichs Wer der Erzähler/Träumer ist und wie er zum Geträumten/Erzählten steht, bestimmt Lenk genauer: „Alles sagt ich im Traum.“23 (im nächtlichen Traum) und auch in der Literatur lässt sich das ‚verantwortliche, identische Subjekt‘ nicht feststellen. Für beide – Literatur und Traum – ‚gilt daß die soziale Person an der Schwelle zurückbleibt‘, sowohl für den Rezipienten/Träumenden wie auch für den Autor/Träumenden. Definiert man den Traum wie folgt:

20 Roloff: „Experimente an den Grenzen der Komik und des Traums“, S. 186. 21 Breton, Erstes surrealistisches Manifest, S. 20. 22 Ebd., S.18 23 Lenk, Die unbewußte Gesellschaft, S. 17.

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Der Traum ist ein Theater, ein Theater im Innern des Körpers. Der Träumer ist niemals er selber. Er ist Mime. Dieser Grundzug unterscheidet den Nachttraum vom Tagtraum und setzt ihn in eine geheime Verwandtschaft zur Literatur.24 So macht dies auch den Autor zum Mimen, und löst das Zentrum des Kunstwerks von einer ‚identischen Person‘ ab. Der Autor ist alle seine Personen und ist für keine verantwortlich, auch im Traum sind alle Personen ‚Ich‘, aber auch ein Anderer. Im Tagtraum hingegen, unterscheidet Lenk, bleibt die Ichperson intakt. Das Ich bleibt im Mittelpunkt, es spielt die Hauptrolle. Der Tagtraum schafft ein verändertes Abbild der Sozialfassade (Planbild), die im Nachtraum wegfällt, da auch die Subjektivität in alle Personen wie auch Dinge aufgelöst wird.25

Verfahrensweisen und Stilmittel Lenk – Literatur und Traum gleichsetzend – bestimmt die Spielformen des Traums: Der Hang des Traumes zur Dramatisierung, sein Wolkiges, Dunkles, sein Rätselcharakter, das hermetische Element, die Lust am Versteckspiel, am Sinnlichen, an Farben und Tönen, am Bildhaften […] sein Hang zur Karikatur, zum Grotesken, Absurden, seine Lichteffekte, seine labyrinthische Architektur […].26 Vergleicht man diese Beschreibung mit surrealen Filmen wie Un chien andalou, so findet man sämtliche Spielformen der Traumästhetik als Filmästhetik genutzt wieder. In besonderer Dichte zeigt sich die Auflösung der Grenzen, wie sie oben am Prinzip der Subjektivität beschrieben sind, in BunҊuels Filmen Un chien andalou und in L’âge d’or. Mit filmischen Mitteln wird der Raum, der gerade für das Medium des Films so konstituierend ist, durch die Vermischung von Innen- und Außenraum aufgelöst. Tiere oder Gegenstände des Außenraums wie z.B. Kühe oder eine Kutsche befinden sich im Innenraum, Wohnungen werden durch nicht-endende Folgen von labyrinthischen Räumen als unergründlich weit dargestellt. Die Zeitlichkeit ist – Ewigkeiten vermittelnd – auf

24 Ebd., S. 21. 25 Vgl. ebd., S. 19-22. 26 Ebd., S. 14.

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nicht fassbare Weise gerafft oder gedehnt. In L’âge d'or können die Personen Jahrhunderte überschreiten. In beiden Filmen ist die innerweltliche Erfahrung nach außen gelagert, so wird die Emotion bildlich und filmisch dargestellt, z.B. durch die Inszenierung von tabuisierten Gefühlen wie großer Leidenschaft, Ausdruck von Wut, Endlosigkeiten, Unfassbarkeiten; dabei wird die moralische Grenze – sie muss kollektiv allgemeingesellschaftlich angelegt sein – überschritten. Sinnbildlich und im Zusammenhang mit der Ästhetik des Traums kann diese Überschreitung der Grenzen für ein zentrales Thema bzw. Mittel des Surrealismus gelesen werden: die Auflösung der Schranken zwischen dem Bewussten und Unbewussten (‚Kräfte‘) und die Integration des kollektiven Unbewussten in die filmische bzw. erzählte Welt. Der radikale Kunstbegriff der Surrealisten leuchtet in der Traumästhetik auf. Sie wollten die Kunst in das Leben zurückholen und durch die Integration des Unbewussten eine Revolution herbeiführen. Immer wieder kreisen Werke um die Zerstörung von Normen und die Integration der Tabus. In jedem Werk wurde auch der Betrachter einkalkuliert, der entweder schockiert oder durch karnevaleske Mittel zum Lachen (und umdenken) gebracht werden soll oder implizit aufgefordert wird, die montierten Teile eines Werks zu einem Neuen zu konstruieren, d.h. es ist keine Werkautonomie gegeben.27 Um Surreales und dessen impliziten Auftrag zu fassen, müsste demnach rezeptionsästhetisch analysiert werden. Die Auflösung von Raum und Zeit und der Verlust der Werkautonomie können, auf ein künstlerisches Werk bezogen, bedeuten, dass es keine mediale wie auch inhaltliche Geschlossenheit wahrt.28 Die in Prospero’s Books angelegte Mehrschichtigkeit verlangt einen Blick, der einerseits auf die medialen Verwebungen, andererseits auch auf die Relation der im Stück angelegten Imaginationen und surrealer Filmmittel gerichtet ist. Anhand der Konstruktion von Traumästhetiken wird sich die Nähe der Mittel zu den Anlagen des Stücks zeigen.

27 Vgl. Roloff : „Experimente an den Grenzen der Komik und des Traums“. 28 Bretons Nadja lässt den Roman zum Diskurs über Fiktion und Realität werden, Fotodokumente, die dem Text beigefügt sind, scheinen der Erzählung Realität zu verleihen, Textstellen dagegen lösen den dokumentarischen Stellenwert der Fotografien wieder auf. Hier lassen sich Parallelen zu Greenaways frühen Experimenten ziehen, auch sie kreisen um das Verhältnis von Fiktion und Realität, insbesondere in der Konstruktion des Text-Bild-Verhältnisses gelagert.

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Die Diskurse Medien, Imagination und Traum Um die Sprache des Films zu verstehen, muss zuerst der Vorspann seziert werden, der in das Vokabular des medialen Diskurses einführt. Zweitens soll betrachtet werden, wie die filmischen surrealen Mittel in Prospero’s Books angewendet werden. Nimmt man die Traumästhetik als übergeordnetes filmisches Mittel der Surrealisten, so kann man dieses anhand der Konstruktion der Figuren und der Betrachtung der Räume – Theaterraum, Filmraum und Imaginationsräume – beispielhaft betrachten. Abschließend wird der filmische Surrealismus gegen den theatralen Manierismus abgegrenzt und die erhöhte Distanz Greenaways als wissenschaftlichen Blick durch den Diskurs der Bücher verdeutlicht.

Das Filmvokabular des medialen Diskurses Am Beispiel des 1. Akts, der in der Verfilmung als Vorspann umgesetzt wurde, lassen sich die Verknüpfung und die Hierarchisierung der Medien und Künste zeigen, da die Sequenz in besonderer Dichte das filmische Konzept vorführt und eine einleitende Funktion hat: In einer Art Schöpfungsgeschichte führt Greenaway in den Kosmos des Films ein. Das Element Wasser in verschiedensten Erscheinungsformen in Klang und Bild setzt den Anfang und bleibt das grundlegende dominante Element. Der Film beginnt mit einer Einstellung auf Wasser, Tropfen fallen in das Wasser, Wassergeräusche sind zu hören. Wasser kann als Metapher für Imagination als Grundlage aller Kunst (und ihrer Medien) gelesen werden, die Imagination ‚fließt in jedes Gefäß‘. Dann erscheint das Buch des Wassers, in dem die Variationen des Elements Wasser gebunden sind; dann erst erscheint das geschriebene Wort, das aus Flüssigkeit (Tinte) geschöpft wird. Erst aus dem geschriebenen ertönt das gesprochene Wort. Dies verweist darauf, das Greenaway hier der Literarizität in Form des Dramentextes, als Quelle aus dem Theater wie auch Film entspringen – huldigen möchte und auf die Kraft einer Schriftkultur hinweist. Das Bild tritt aus dem geschriebenen Wort hervor, denn im ganzen Film ist die Niederschrift des Stücks The Tempest der Handlung in Sekundenbruchteilen voraus. Ariel, der zumeist das geschriebene Wort ausführen muss, braucht nur einen Atemzug, um es zu vollbringen. Zuerst fängt eine Hand das Wasser, dann ist John Gielgud als Prospero zu sehen. Das erste (nicht vom Erzähler gesprochene) Wort des Stücks ist ‚Bootsmann‘ (Boatswain), es wird drei Mal geschrieben (man hört das Kratzen der

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Feder) und genüsslich insgesamt dreizehn Mal gesprochen, von Prospero, dem kleinen Ariel (Ariel ist in drei verschiedene Altersgruppen gespalten) und von einer verzerrt hallenden Stimme. Wahrscheinlich ist es die verzerrte Stimme Prosperos, der im Buch des Wassers blättert, hier kann man bereits von der Darstellung von ‚Eingebung‘ oder ‚Imagination‘ reden, und von einem ‚Sprechen-lernen‘, von einer ersten Bedeutungszuweisung zu Wörtern. Es scheint, als ob Prospero das Wort probieren würde und die verzerrte Stimme als eine innerliche ‚spielende‘ bzw. das Spiel-versuchende Stimme gewertet werden kann. Die Musik und die Töne der Insel von Prosperos Zauberei ertönen; das Buch, in das Prospero das Stück niederschreibt, wird deutlicher gezeigt. Nachdem das Medium Buch eingeführt wurde, wird das Drama – hier der Schiffbruch im Badehaus – durch ein Schiffsmodell illustriert, d.h. das Theater als Modellhandlung folgt dem Buch (bzw. dem Drama). Erst dann wird durch das Buch der Spiegel auf Prinzipien des Films verwiesen. Die Spiegel können wie der Film Rückblenden, Blicke in die Zukunft und insbesondere Traum und Imaginationsräume eröffnen. Greenaway deutet damit die folgende Verwendung des ‚Framings‘ als verfremdendes Stilmittel an. Damit ist die Hierarchie der Medien und ihrer Rezeption abgeschlossen. Im gesamten Film werden nun immer wieder Bezüge der Medien zueinander gezeigt und erschlossen: zur Schrift als Dramentext und seiner imaginationsstiftenden Kraft, der Buchkultur in Form eines Diskurses der Bücher. Der Film reagiert auf das Wort, aus seinen Bildern entspringen neue Bilder und neue Räume. Jedes Medium ist inspirierend für ein anderes konzipiert und der Film als Gefäß, der diese Medien und ihre Kraft äußern muss, reflektiert sich selbst in seiner Möglichkeit als Medium, der Imagination in Form des Framings.

Figuren in der Traumästhetik Von der Sprache zu den Sprechenden Prospero spricht den Text vor – bis zur von Ariel herbeigeführten Wende im Stück werden im Film alle Personen nur von der Stimme John Gielguds gesprochen. Die Figur des Prospero wird gespalten, ein handelnder/spielender Prospero befindet sich im Badehaus und der andere, das Stück schreibende, sitzt in einer Miniatur-Guckkastenbühne. Die Dopplung der Figur und damit der Erzählebenen wird offensichtlich, als Prospero als handelnder am schreibenden Prospero vorbeischreitet.

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Die Parallelfahrt am Ende des Vorspanns, die den Schauspieler Prospero zu dem Schriftsteller Prospero führt, ist als Einführung in die Welt Prosperos zu verstehen. Die Fahrt ist bildlich ornamental angesetzt, die Bewegung der Körper ist abstrakt und unterstreicht die ornamentale Raumstruktur. Eine Folge von Sinnbildern, wie ‚Der Gehängte‘ und Geister, die als mythologische Gestalten verkleidet sind, führen in die Welt des Stücks, in die Handlung über. Durch die Konstruktion der doppelten Figur des Prospero stellt sich die Frauge, ob der Rachetraum Prosperos ein Tag- oder Nachtraum im Sinne Lenks ist bzw. ob die Ästhetik des Films in eine Ästhetik des Nachttraums übergeht, ob sie durch die Personenkonstruktion vom Tagtraum unterschieden ist, in der das Subjekt sich nicht ganz aufzulösen vermag, oder ob der Film zwischen den Polen von Wachen und Schlafen schwankt; denn Prospero wird als Schlafender, Schreibender und Imaginierender gezeigt – während er schläft, schreiben die Ariels für ihn das Stück weiter. Wie bereits oben angelegt, ist die Auflösung des Ichs konstituierend für den Nachttraum, der nach Lenk ein ‚Theater des Inneren‘ wäre. Das Stück als Text gibt zwar eine Auflösung der Ichperson in viele wieder, es schafft aber ein ‚Planbild‘ des Rachefeldzuges, wenn man sich auf Prospero als Ichperson bezieht, anstatt wie im Nachttraum z.B. die ‚Sozialfassade‘ aufzugeben. Dennoch finden sich in der Interpretation Greenaways nachttraumartige Sequenzen. Insbesondere in Szenen; in denen die ‚Theater‘-Inszenierung gedoppelt wird, für einzelne Figuren kommt es zur Auflösung in den Raum. Stephano und Trinculo, aber auch sämtliche auf der Insel gestrandete Personen scheinen sich in Traumzuständen zu befinden, das Wundern der Personen wird zum Ausdruck eines surrealen Empfindens. Greenaway belässt Prospero in einem Wachtraum, in dem er, emotional bewegt, seinen Rachetraum niederschreibt, er spricht nicht nur die Figuren, sondern ersinnt auch den Raum, aber er bleibt als Schöpfer dieser Welt – Gott-gleich alles überwachend – in sich als Person geschlossen. Die Wende des Stücks (und des Films) wandelt auch die Form der Traumzustände. Prospero, in seiner Schreibstube eingenickt, erwacht, danach tadelt in Ariel (das erste Mal mit eigener Stimme), damit beginnt Prospero seinen Traum aufzulösen und die gequälten Figuren zu erlösen, die ihre eigenen Stimmen erhalten. Im Wechsel verschwinden die Geister und auch Prospero löst sich in der Schlusssequenz auf. Die Frage ist: Wer bleibt? Caliban und Ariel? Wer hat wen geträumt? Ist die letzte Sequenz vielleicht die nachttraumhafte für Prospero gewesen, in der er sich dem Wasser hingibt und seine Existenz auflöst? Die Handlung bleibt der Theaterinszenierung im Film verhaftet und nutzt dazu die Verfahren der Traumästhetik; ohne dass sich das Nachttraumartige entfalten kann. Anhand der Konstruktion von Welt in Räumen, Ton und dem Zusammenhang von Raum und experimentellen Filmbild lassen sich Details einer ‚erkalteten‘, distanziert, fast wissenschaftlich angewandten Ästhetik des

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Traums zeigen und damit auch einer ‚eingefrorenen Surrealität‘, die in einer Abhandlung über Theatralität eingewebt ist.

Polyperspektivität Die größten Differenzen zwischen Drama und Film zeigen sich in der Umsetzung der in The Tempest angelegten Polyperspektivität. Der stärkste Eingriff in das Drama bzw. Greenaways Interpretation des Stücks ist die Konzentration auf die Figur des Prospero, seine Allgegenwart sowie die Dominanz seiner Stimme – als ob er allein den Dramentext verlautbaren würde. Zwar bleibt der Text der Figuren erhalten, aber die Kraft der Gegenperspektive, die im Theaterstück durch Dialogizität angelegt ist, geht verloren, stattdessen wird die Sicht Prosperos auf Handlung und Charaktere dominant. Die textliche Perspektivität aus The Tempest wird durch Ansichten im Framing bildlich umgesetzt. Mehrere Perspektiven in einem Blick werden in Form von Ausschnitten, Vergrößerung von Details, simultan wird die ganze Person gezeigt, sowie durch Triptychons vermittelt. Die formalen Mittel der Ansicht werden durch die schnellen Wechsel von imaginativer Handlung und Dramenhandlung ergänzt. Die Dominanz der sich überlappenden, überlagernden und sich gebärenden Bilder verweist auf ein weiteres Medium – die Malerei. Der Film wird einerseits als Medium (bzw. Träger) von Bildern und ihrer Traditionen durch die Malerei beschrieben und andererseits als Medium, das dem Wort (dem Drama) nahe steht, aber seine Kraft in Bildern zeigt, gekennzeichnet.

Magie, Räume, Realitäten und erzählte Welt The Tempest überschreitet Grenzen des Theaterraums und der Inszenierbarkeit weit, das Stück ist durchzogen vom Spiel mit autoreflexiven Verfahren entlang der medialen Grenze von Theatralität. Die eigentliche Dramenhandlung ist vor dem Drama geschehen, die Verbannung Prosperos aus Mailand und die vorhergegangene Verschwörung seines Bruders gegen ihn werden im ersten Drittel des Stücks erzählt. Der zweite Aufzug zeigt nur eine Parallelhandlung und Variation des Themas Verschwörung und Herrschaft sowie die Liebesgeschichte Mirandas und Ferdinands. Erst im letzten Drittel gibt sich Prospero der Hofgesellschaft zu erkennen, die Auflösung von Rache, Verschwörung und auch Theater vollzieht sich. Auch die Konstruktion der Geister überschreitet die Möglichkeiten des Theaterraums, weder Ariel noch Caliban sind auf einer Illusionsbühne insze-

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nierbar. Ariel der Luftgeist kam in einem Atemzug bzw. Augenblick den Raum verlassen und woanders wirken, er fliegt, springt und wird unsichtbar. Caliban ist die komplexeste Figur des Stücks und lässt sich in seiner Erscheinung bzw. Körperlichkeit nicht bestimmen. Beim Anblick Calibans sind die Figuren des Stücks sehr erstaunt. Versuchen sie ihn verbal zu fassen bzw. zu bezeichnen, finden sie kaum Worte. Er wird als ‚Fisch‘, ‚halb-Fisch‘, ‚nicht Fisch‘, ‚Katze‘, ‚Mondkalb‘, ‚Ungeheuer‘ und ‚von menschlicher Gestalt‘29 bezeichnet. Dies weist einerseits auf eine Monstrosität, andererseits aber auch auf die Grenzen der Wahrnehmbarkeit dieses Wesens hin, die Bezeichnungen der Gestalt stehen im Widerspruch zur grazilen sprachlichen Poesie Calibans. Anhand der Gestaltung der Räume und der erzählten Welt lässt sich zeigen, dass Greenaway The Tempest als Theaterstück bzw. Drama im Film erhält, denn er zeigt keine realen Räume, sondern baut den Film um das Drama herum als theatrale Inszenierung im Film auf. Das Badehaus ist bereits als Bühne mit Einblick für die Zuschauer konzipiert, das Schreibgehäuse wirkt wie die Miniatur einer Illusionsbühne. Der Schlafraum Mirandas ist immer noch Bühne, aber die Kamerafahrt gibt dem Zuschauer – dem Manierismus entsprechend – einen Rundblick des Raums frei. Hier bröckeln die Gesetze der Illusionsbühne bereits. Durch die Spaltung der Person des Prospero findet die Filmhandlung auf mehreren Ebenen statt. Dennoch sind die Welten des schreibenden und handelnden Prospero gleichbehandelt. Die erzählte Welt im Film ist durchgehend als theatraler Raum konstruiert. So streng wie der Raum inszeniert ist und keine ‚realen‘ Momente innehat, so genau wird er immer wieder geöffnet und ein Grenzgang als ‚endloser Theaterraum‹ im filmischen umgesetzt. Die Referenzen an den theatralen Raum werden durch typische Theatermerkmale und -materialien hervorgerufen, wie z.B. Vorhänge und Stoffe, die das Bild begrenzen oder ins Bild fallen; Die Raumansichten sind zumeinst in Vordergrund-Mitte-Hintergrund und von vorne-unten nach hinten-oben gestaffelt sowie durch Diagonalen und Symmetrien geordnet. Die Kameraeinstellung nimmt oft einen ‚naiven‘ Blickpunkt zum Zentrum des Geschehens ein – den des Theaterbesuchers. Das Licht ist ein Licht des Inneren, mit einem realistischen Filmbild gekoppelt würde es surreale Tendenz innehaben, aber durch den theatralen Raum erklärt es sich als mit dem Ganzen harmonisch. Der Ton gebiert eine Geräuschwelt des Inneren. Unterwassergeräusche mischen sich mit den Lauten aus anderen imaginierten Räumen und überlagern sich. Die Geister und Prosperos ‚Maschinen‘ sind auf der Tonebene allgegenwärtig. Verzerrte und verzogene Stimmen, echoartige Wiederholungen, Lachen aus dem Hintergrund und die zumeist von Prospero gesprochenen Stimmen 29 Shakespeare: Der Sturm.

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lösen Lokales in einen allgemeinen Raum auf. Prospero und die Geister hören alles, der Ton ist der Räumlichkeit entbunden – er öffnet den Raum. Die Verbindung von entfernten Geschehnissen durch den Spiegel als ‚Raumerweiterung‘ ist im Vorspann bereits als Mittel eingesetzt, um eine festgelegte erzählte Welt magisch zu öffnen. Spiegel stellen eine Verbindung von verschiedenen Handlungsorten oder Handlungsebenen wie Modell und ‚Reales‘ her. Zumeist wird ein bekanntes Tafelbild abgebildet oder die Spiegelbilder sind als ‚Greenaway’sche Trugbilder‘ so angelegt, dass man ein berühmtes Tafelbild als Vorlage vermuten könnte. Räumliche Welten, die bekannte Tafelbilder zitieren, funktionieren als ‚kollektive Erinnerungsbilder‘. Sie entspringen zumeist der Imagination Prosperos und werden über den Spiegel räumlich verbunden. Die Gestaltung der Räume durch Vorlagen wie z.B. Michelangelos Biblioteca Laurenziana in Florenz30 lassen den Film eine Welt aus Erinnerungsbildern werden, geschaffen durch die Bücher der Renaissance und Prospero/Shakespeare/Greenaway. Die Aufhebung der Grenzen des Theaterraumes und die Öffnung der Räume zueinander werden durch surreale Verfahren wie Verkehrung von Innen- und Außenraum, wie z.B. dem Sturm und Tiere im Innenraum – vorangetrieben. Unendlichkeiten werden durch Öffnung hergestellt – das Badehaus scheint in direkter Verbindung mit allen Gewässern (dem Meer) zu stehen. Zusammenfassend könnte man vom ‚endlosen Theaterraum‘ sprechen.

Traumästhetik der Räume Das Badehaus – als Eingangsszene – erscheint bereits wie eine Theaterszenerie, aber da es von mehreren Seiten eingesehen werden kann, wird es nicht als Theaterbühnenbild identifiziert. Die Handlungsebene wird also im theatralen Ort im Film begonnen, d.h. der Realismus eines Filmes wird von vornherein außer Kraft gesetzt und die Gesetze des Theaters werden für den Film geltend gemacht. Geht man von einem ‚Theater des Inneren‘ im Sinne Lenks aus, so schwankt die filmische Welt doch zwischen einer inszenierten Theaterästhetik und einer Traumästhetik. Die Öffnung der Räume zu einem ‚endlosen Theater‘ – verweist auf ein Theater des Inneren, ein Theater der Imaginationen bzw. wieder auf den Diskurs über die Imagination und die Medien. Auch durch die Spiegelungen von Szenarien – ein typisch surreales Verfahren – wird der Theaterraum aufgehoben. Die Übertragung der Emotion in den Raum, wie

30 Vgl. Schuster: Malerei im Film, S. 14.

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die Verlagerung des Sturms in den Innenraum als aufbrausendes Papier oder wehende Vorhänge in Mirandas Zimmer, schafft Surrealität im Theaterraum. Dennoch bleiben all diese Formen im Geschehen interpretierbar, wie z.B. der Sturm im Raum als bildliche Umsetzung einer Emotion, diese analogen Bezüge stehen im Widerspruch zu surrealen Verfahren und verweisen auf die hohe Distanz, mit der die surrealen Verfahren verwendet wurden. Die Distanz verweist wieder zurück auf die Ebene des Mediendiskurses und den Grenzgang von Theater- und Filmraum. Das Badehaus, wie auch andere Orte des Geschehens, scheinen von endlosen Säulengängen umgeben zu sein, die Perspektive fließt ins Unendliche – in Fluchtpunkte – wie die in der Renaissance entwickelte Konstruktion der perspektivischen Zeichnung. Nur in einer Einstellung bildet eine Säulenreihe ein Ende, dahinter erscheint ein Feld, es handelt sich offensichtlich um eine Studio-Aufnahme, der Himmel ist nicht real und in weiter Ferne sieht man eine Pyramide. Die Endlosigkeit wird hier kurzerhand zu einer kleinen Bühne bzw. zu einer Kino-Situation zusammengezogen und ein surreales anmutendes Theaterstück beginnt.31 Die Brüche des Theaterraums entstehen bereits durch die Doppelung der Theaterebene, in der Anlage des Films; wenn der schreibende Prospero auf einer realeren Ebene angesiedelt ist als der Handelnde, dann erwächst hier Theater aus dem Theater. Besonders deutlich wirkt die mediale Selbstreflexion in der ‚Masque‘ – in der Prospero Ariel, als Harpie verkleidet, den halluzinierenden Staatsmännern etwas vorspielen lässt.32

Bildlichkeit und Raum Durch die Bildüberlagerungen des Paintbox-Verfahrens werden der Raum und die Handlung gestapelt, die Zeit und die Linearität des Films lösen sich in den Raum auf. Dinge und Bewegungen werden miteinander verbunden, die im einfachen Filmbild nicht miteinander verbindbar sind, also entsteht eine Bildchimäre aus einer medialen ars combinatoria. Insofern werden hier die Linearität und Zeitlichkeit des Filmbilds als ‚imaginierendes Bild‘ außer Kraft gesetzt und 31 Prospero spricht (ohne den Mund zu öffnen) für Ferdinand und Miranda, dennoch scheinen sich die Figuren telepathisch zu verständigen; der theatrale Raum wird hier durch die (nicht-illusionistische) Weite, die die Pyramide herstellt, unsinnig. Weite ist nicht im Theater, sondern nur im Film möglich. Auch hier wird auf einen nicht-endenden Raum angespielt. Weidle identifiziert diese Szene als Kinosituation, in der Miranda und Prospero die Zuschauer sind, die sich in den Film hineinbegeben. 32 Diese Szene des Stücks wurde in anderen Film-Adaptionen herausgestrichen.

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zu weiteren Imaginationen geführt. Die Räume des Films stehen außer durch Prosperos Imagination in keinem Zusammenhang miteinander, was gleichzeitig auch die Gesetze des klassischen Erzählkinos außer Kraft setzt. Greenaway arbeitet gegen Kohärenz im Raum, lässt aber dafür die Narration linear verlaufen, bricht diese wiederum in experimentellen Verfahren und durch die Überhöhung der interpretativen Ebene. Mit Hilfe des Framings stellt er Bildebenen und damit Raumebenen der Narrations- und Imaginationsebene hinzu. Er setzt damit Zeit- und Raum-Kontinuitäten außer Kraft, die eigentlich für klassisches Kino wie auch für eine lineare Theaterhandlung grundlegend sind. Die Vielschichtigkeit von Imagination setzt sich über jede räumliche und zeitliche Grenze hinweg. Obwohl der Film dem Narrationsstrang des Stücks folgt, ist der Film nur als Ganzes zu begreifen, der Rezipient nimmt nicht die Linearität des Films wahr, sondern sieht sich mit einer manieristisch überladenen Bilderflut konfrontiert.

Die Bücher – Ebene der Selbstbespiegelung Einleitend beschreibt Greenaway die Insel als Konstrukt Prosperos aus Fragmenten, Zitaten und Abbildungen aus der Renaissance-Zeit des fernen Europa. Als Herrscher über das Eiland hat er sein Wissen und seine Fähigkeiten, eine Insel und ihre Geister zu regieren, aus den 24 Büchern entnommen, die Gonzalo ihm mit ins Boot gegeben hat. Greenaway spekuliert in seinem Film darüber, welche Bücher Gonzalo ausgewählt hat und stellt einen Diskurs der Bücher neben den Handlungsstrang. Zusätzlich sind die Bücher in die intermediale Mediengeschichte, die Greenaway in Prospero’s Books zeigt, eingewebt: Von der Geburt des Films und der Literatur durch das Buch, bis zur Bücherverbrennung, das Schließen der Bücher bis zur zweiten Verbrennung, und Ertränkung und Errettung der Bücher durch Caliban. Zusätzlich bietet der Diskurs der Bücher Greenaway die Möglichkeit, eine reflektive, interpretative durchaus literatur- bzw. medienwissenschaftliche Position im Film einzunehmen. So zeigt sich in dieser Ebene auch die Distanz des Stückes zu sich selbst und zu den Umbrüchen seiner eigenen Zeit, ein Geschichtsabriss über die Spätrenaissance, die Übergänge zur neuen Weltordnung im Manierismus. Die Bücher, 24 an der Zahl, fassen das gesamte Wissen, das nötig ist, um eine Welt, eine Inselmonarchie33 zu schaffen. Bei den meisten Büchern handelt es sich um sammelnde, ordnende Wissensbände, also lexikographische Werke, zu den elementarsten Themen: Wasser, Erde, Farben, Sternen, Liebe 33 Lüdecke: Die Schönheit des Schrecklichen, S. 149.

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und Tod. Die Bücher werden verschiedenartig in den Film integriert; z.B. beginnen der Film und auch das Drama mit dem Buch des Wassers, es hat Magie inne, um Wasser in Bewegung zu bringen. Es enthält Schrift, aber auch die Zustände des Wassers selbst. Das Buch der Spiegel liefert immer wieder die Möglichkeit, in entfernte Geschehnisse zu blicken In goldenes Leinen gebunden und sehr schwer. Achtzig glänzende verspiegelte Seiten – manche undurchsichtig, andere durchschimmernd, manche aus versilbertem Papier gefertigt, andere mit Farbe oder aus Glas, wieder andere mit einem Quecksilberfilm beschichtet, der von der Seite abperlt, wenn man sie nicht vorsichtig behandelt. Manche Seiten spiegeln den Leser einfach so, andere wie er vor 3 Minuten aussah, wieder andere so, wie er in einem Jahr aussehen wird, wie er als Kind aussehen würde, als Frau, als Ungeheuer, als Idee, als Text oder als Engel. Einer der Spiegel lügt immer, einer sieht die Welt rückwärts, ein anderer kopfunter. Einer der Spiegel hält seine Bilder als erstarrte Augenblicke fest, die unendlich lange erinnert werden. Einer der Spiegel spiegelt nur den Spiegel der gegenüberliegenden Seite. Und dann gibt es weitere zehn Spiegel, deren Zweck Prospero erst noch bestimmen muß.34 Einige Bücher überschreiten die Grenzen des Systemisierbaren und die Grenzen des Denkens: Das Buch der Toten enthält die Namen aller Toten, es endet, wie auch Prosperos Geschichte, mit dem Namen seiner Frau. Das Buch der Farben erfasst das ‚ganze‘ Farbspektrum. Wieder andere Bücher haben bewegliche Inhalte, gezeichnete Figuren demonstrieren die Themen und im Buch der Geometrie berechnen die Formen sich selbst.: „Die flimmernden, magnetischen Seiten über logarithmische Zahlen und Figuren berechnen beispielsweise einen Winkel durch nadelfeine, frei schwingende Metallpendel.“35 ‚Der Atlas des Orpheus‘ verweist auf andere Erzählungen (Mythen) und spielt dabei mit der Fiktions- und Realitätsebene, denn der Atlas trägt die Spuren des Höllenfeuers und der Zähne des Zerberus, als Orpheus mit dem Atlas die Unterwelt bereiste. Das Buch der Architektur verbindet filmischen Raum und Buch. Aus dem Buch lassen sich Modelle aufklappen, die sich in den filmischen Raum verwandeln. Inhaltlich sammeln sich die Themen des Lebens, im Zentrum stehen die Tabus aus der Zeit der Renaissance. Die subversiven Kräfte dieser Themen sind in den Büchern nicht nur beschrieben, sondern selbst gefangen. Hier fin34 Greenaway: Prosperos Bücher, S. 223-224. 35 Ebd., S. 151.

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den sich normative wie auch intermediale Grenzüberschreitungen, z.B. wird im Buch der Erde mit dem Ekel gespielt, Innereien und Kot klatschen auf das Buch, als sich die Seiten umblättern. Die ‚Anatomie der Geburt‘ zeigt das Innere des Körpers: „Wenn sich die Seiten öffnen, zucken, pulsieren und bluten die Organe.“ Es ist ein ketzerisches Werk und „verachtet die Wirkung Gottes“36. Ein weiteres handelt von der Pornographie und der verfehlten Liebe. Die Themen und Tabus sind die Zentren der Wendepunkte eines kippenden Weltbildes der Renaissance in der Epoche des Manierismus. Gleichzeitig lassen sich die Themen und Verfahrensweisen der Surrealisten finden, der Ekel, die Auflösung des Mediums, vom ordnenden System bis zum Unfassbaren und dem Thema der Tabus durch die Verlebendigung der Bücher. Aber es bleibt eine Distanz erhalten, es tritt keine ‚surreale Verwirrung‘, kein Wundern beim Rezipienten ein. Denn die Inszenierung bleibt in der Logik der Renaissance gebunden, und der kausale Zusammenhang der Stücks bleibt erhalten.

Schlusswort Greenaway erschafft einen Metadiskurs über das Filmische sowie ein filmisches Gesamtkunstwerk, in dem alle Medien enthalten sind. Einerseits geht es um den Verlust der Schrift und des Buches bzw. der Schriftkultur, andererseits scheint die Kinematografie mit ihren technischen Möglichkeiten und vielleicht auch mit ihren Inhalten an einem Ende angelangt zu sein. In Prospero’s Books wird die Frage nach der Beziehung von Theater und Film gestellt, unter dem Aspekt, dass Theater sich im Film aufgelöst hat und Kino in dieser Tradition zum ‚Erzählmedium‘ wurde. Die ‚bewegten Bücher‘ verweisen ebenso auf die Beziehung von Buch und Film und fragen gleichzeitig nach der Bewegung von Bild und Bildinhalten. Das experimentelle Montageverfahren, das Prospero’s Books strukturiert, verweist auf Greenaways Werdegang als Filmemacher zwischen Experimentalfilm und fiktional-filmischen Erzählen. Bereits in Drowning by Numbers lässt er das klassische Erzählkino mit seinem Illusionismus gegen die Serialität seiner Experimentalfilme antreten. In Prospero’s Books ist die Linearität bereits durch die Möglichkeiten der Graphik-Paintbox gestört, die Zeitlichkeit ist durch bildliche Assoziation aufgelöst. Ein Hinweis auf die Ablösung des Mediums Film bzw. des Filmbilds, durch digitale Verfahren und die Auflösung narrativer Linearität, lässt die von Greenaway angelegte Mediengeschichte ein vorübergehendes Ende nehmen.

36 Lüdecke: Die Schönheit des Schrecklichen, S. 151.

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Aber wie alle Medien am Schluss des Films geschlossen und ertränkt werden, schließt auch der Film sein ‚Fenster‘, zuvor wird ‚Das Buch über Imagination‘ d.h. The Tempest aus dem Wasser gerettet. Auch nach dem Ende von Film und Kino wird Imagination eine neue Form finden. Damit kann man Prospero’s Books einerseits als Metafilm, d.h. als reichhaltige Reflektion über das Medium Film interpretieren, die auch eine Neuorientierung von Film sucht und fordert. Andererseits ist Prospero’s Books eine gelungene Inszenierung von The Tempest, welche das Stück in seiner Autoreflexivität ernst nimmt und die Grenzen von Theatralität mit Hilfe des Mediums Film durchdiskutiert. Prospero’s Books ist damit wie eine Hülle, die um das Stück gelegt wurde und die Kraft der Reflexion auf sein Medium übertragen hat. Die Anlagen des Diskurses über Theatralität aus The Tempest sind forciert umgesetzt. Durch die Fokussierung auf die Figur des Prospero wird die Dialogizität des Stücks zurückgenommen, die manieristische Anlage des Stücks wird in die Bildlichkeit verschoben, insbesondere in die sich überlagernden Framings. Die Allgegenwärtigkeit Prosperos lässt sich anhand der filmischen Welt als ‚endloser Theaterraum‘ feststellen, der mit den Mitteln einer Traumästhetik und eines ‚Theater des Inneren‘ spielt. Die Traumästhetik des Tagtraums nach Lenk findet sich in Raum wie auch Figurenkonstellation wieder, dennoch kommt es wie im nächtlichen Traum zu einer Auflösung des Ichs. Durch die distanzierte Verwendung der surrealen filmischen Verfahrensweisen kommt es zu einer ‚eingefrorenen Surrealität‘. Typisch für Greenaway ist, dass er das Mittel der Traumästhetik benutzt und zugleich befragt, damit kann der Rezipient nicht in den Traum eintauchen, sondern wird immer wieder auf eine reflexive Ebene zurückgeworfen.

Literaturverzeichnis Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1996. Greenaway, Peter: Prosperos Bücher, Zürich 1991. Hocke, Gustav René: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst, Hamburg 1987. Hocke, Gustav René: Manierismus in der Literatur, Hamburg 1959. Kemp, Wolfgang: Theorie der Fotografie. 1912-1945. Bd.2, München 1979. Kremer, Detlef: Peter Greenaways Filme, Stuttgart 1995. Lenk, Elisabeth: Die unbewußte Gesellschaft, München 1985. Lüdecke, Jean: Die Schönheit des Schrecklichen, Bergisch-Gladbach 1996.

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Roloff, Volker: „Experimente an den Grenzen der Komik und des Traums. Anmerkungen zu surrealistischen Filmen“, in: Diagonal 1 (1992), S. 183196. Siegen 1992. Schuster, Michael: Malerei im Film. Peter Greenaway, Hildesheim 1998. Shakespeare, William: Der Sturm, hrsg. v. Klose, Dietrich, Ditzingen 1979. Weidle, Roland: Manierismus und Manierismen: The Tempest und Peter Greenaways Prospero’s Books, Alfeld/Leine 1997.

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Durch den Zauberwald des Wilden Westens Zur Rezeption surrealistischer Filmexperimente in Jim Jarmuschs Dead Man Traumbilder zählen zum audiovisuellen Repertoire des europäischen Kinos – Gilles Deleuze schrieb noch Mitte der 1980er Jahre, dass dieses Phänomen in Spielfilme höchstens Eingang fände, um mit den „Beschränkungen des amerikanischen Aktionsbildes zu brechen“.1 Jim Jarmusch spielte fast zeitgleich mit diesem Klischee, wenn in dem Episodenfilm Coffee and Cigarettes (USA 1986) Steven Wright seinem italienischen Schauspielerkollegen Roberto Benigni berichtet, dass er vor dem Schlafengehen gerne viel Kaffee trinkt, um schneller träumen zu können: Es sei wie bei einem Autorennen, wenn eine Kamera im Wagen installiert ist – die Träume würden nur so vorbeirasen, einer nach dem anderen. Jarmusch definiert Traumwelten in seinem Œuvre also als Prozesse, in denen sich kulturell determinierte Wahrnehmungskonventionen und audiovisuelle Bildlichkeiten gegenseitig bedingen. Vor allem in Dead Man2 (USA, D, Japan 1995), ein Film, von dem sein Regisseur sagt, er sei „wie ein Traum“,3 vermischen sich Traditionen von alter und neuer Welt. Dies verdeutlicht das der Handlung vorangestellte – ins Englische übertragene – Zitat des französischen Schriftstellers Henri Michaux: „It is preferable not to travel with a dead man.“4 Diese Worte beziehungsweise ihr Autor verweisen auf die Einnahme härterer bewusstseinsverändernder Substanzen als Kaffee und lassen erahnen, dass sich der Film mit dem Erbe des europäischen Surrealismus der 1920er und 30er Jahre auseinandersetzt; hier wurde unter dem Einfluss halluzinogener Substanzen sowie psychoanalytischer Verfahren die Erkundung einer Wirklichkeit, die aus dem Unbewussten schöpft, programmatisch zum künstlerischen Forschungsgegenstand erhoben. Und so entsteht die Frage, welche surrealistischen Bildpraktiken in Dead Man ein Nachleben führen und wie und zu welchem Zweck sie aufgerufen und aktualisiert werden. 1

Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 78; Deleuze bezieht sich auf den französischen Surrealismus, um die Konventionen des filmischen Traums zu erläutern.

2

Der schwarzweiße Film wurde auf 35 mm (Breitwandformat 1:1,85) in Dolby Stereo gedreht, die Kamera führte Robby Müller.

3

„[…] plus proche du rêve“, Jarmusch zit. in: Saada: „Entretien avec Jim Jarmusch“, S. 26.

4

Michaux: „Un certain plume [1930], augmenté de quatre chapitres inédits“ [1936], S. 631; ich danke Walburga Hülk für den Hinweis.

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Visuelle und akustische Traumbilder Überraschenderweise findet sich das Publikum nach Michaux’ Worten, die wie ein Zwischentitel anmuten, in einem Western wieder. Der Film setzt unvermittelt in den USA der 1870er Jahre in einem fahrenden Zug ein – also der Maschine, die mit der Erschließung des amerikanischen Westens, der Frontier und der Industrialisierung ebenso eng verbunden ist wie mit der Entstehung des Kinos.5 Allerdings geht es in der Eingangssequenz keineswegs so rasant zu, wie von Stephen Wright gewünscht, denn Dead Man wird von Anfang an durch meditativ wirkende Bilder in grobkörnigem Schwarzweiß bestimmt. Die Kamera fokussiert in dem schwankenden Gefährt einen Mann im städtischen Karoanzug. Während die rasenden Bewegungen des Zuges, punktuell unterstützt durch den verzerrten E-Gitarren-Sound, den Neil Young zu einer Rohfassung improvisierte,6 den äußeren Rhythmus des Films vorgeben, ist das Zeitgefüge im Inneren des Eisenbahnwaggons ein ganz anderes – der Beschleunigung wird somnambulische Langsamkeit und Stille entgegengesetzt. Im Zwielicht fallen dem Reisenden wiederholt die Augen zu; wie es der Mediziner John Eric Erichsen 1866 beschreibt, ist dieser Schlaf „gestört, unruhig und immer wieder unterbrochen. Er [der Reisende] wacht mit plötzlichen Angstzuständen auf […].“7 Monochrom schwarze Bildfelder leiten von einer Sequenz zur nächsten über, so dass im Film nicht zwischen Wachen und Träumen zu trennen ist:8 Obwohl nüchternes Schwarz-Weiß und die akribische Rekonstruktion des historischen Gefährts einen dokumentarisch anmutenden Effekt unterstützen, deutet die Abwesenheit von Farbe gleichermaßen die sich

5

Vgl. Rosenbaum: Dead Man, S. 27; Loiperdinger: „Lumières ‚Ankunft des Zugs‘ – Gründungsmythos eines neuen Mediums“.

6

Neil Young verwendet neben einer elektrischen auch eine akustische Gitarre, ein Harmonium und ein verstimmtes Klavier; seine Performance erinnert an Stummfilmbegleitungen oder Jazzpartituren, die zu Filmen wie John Cassavetes Shadows (USA 1959) improvisiert wurden, vgl. Saada: „Entretien avec Jim Jarmusch“, S. 31; Rosenbaum: Dead Man, S. 43f.

7

Erichsen zit. in: Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, S. 126. Die Ermüdung der Muskeln sowie der Sinnesorgane zählte zur Pathologie der Eisenbahnreise, ebd., S. 106ff.

8

Bereits in Jim Jarmuschs Spielfilm Down by Law (USA, D 1986) werden einzelne Szenen durch Schwarzfilm verbunden. Der Regisseur berichtet, dass er hierfür eine Rolle mit Negativfilm von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet erhalten habe, die von deren Arbeiten zu Klassenverhältnisse (F, D 1984) übrig geblieben sei, vgl. Rosenbaum: „Regis Filmmaker’s Dialogue: Jim Jarmusch“, S. 117; Müller: Der doppelte Blick. Erzählstrukturen und Bedeutungsvielfalt in Jim Jarmuschs Spielfilm Dead Man, S. 194.

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von einer Realität distanzierenden Visualitäten surrealistischer Traumwelten an.9 Das Publikum nimmt „nach Art der Somnambulen“10 immer wieder den schlaftrunkenen Blick des Protagonisten ein, der Film scheint aus seiner Perspektive, durch die gläserne Membran einer Brille, visualisiert zu werden. Trotz der Sehhilfe ist es kaum möglich, die vorbeiziehende Landschaft zu erkennen, vor allem der in zahlreichen atmosphärischen Graustufen dargestellte Wald verschwimmt oder entgleitet der Erfassung. Spätestens als der Zug durch einen Tunnel fährt und sich das Filmbild in Rauch auflöst, also neben dem nächtlichen Schwarz einen weiteren klassischen Imaginationsraum andeutet, wie es William Turner in seinem berühmten Gemälde Rain, Steam and Speed von 1844 thematisiert, wird überdeutlich, dass sich die Handlung nicht erst nach dem Tunnel, sondern von Beginn an, vergleichbar Carnival of Souls (USA 1962), in einer dem Totenreich ähnlichen Traumwelt abspielt (Abb. 1, 2).

Abbildung 1: Screenshot, Dead Man: Die Fahrt in den Tunnel

Abbildung 2: William Turner: Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway, 1844, Öl auf Leinwand, 91 x 122 cm, National Gallery, London

Das Publikum reist Michaux’ Rat entsprechend nicht mit Toten, dafür mit Untoten, die nicht zur Ruhe kommen.11 Nach fünf Minuten setzt der erste Dialog ein, und das Publikum erfährt, dass sich der von Johnny Depp gespielte Bill Blake auf dem Weg von Cleveland gen Westen in die Stadt Machine befindet,

9

„The absence of color, too, the black and white, represents an arbitrary simplification analogous to those one meets in dreams.“ Goudal: „Surrealism and Cinema“ [1925], S. 88.

10 „[…] manière d’un somnambule“, Jarmusch zit. in: Saada: „Entretien avec Jim Jarmusch“, S. 26. 11 Die schlaftrunkene Japanerin Jun (Masatoshi Nagase) berichtet in Jim Jarmuschs Spielfilm Mystery Train (USA, Japan 1989): „Und wenn man tot ist, kann man nie mehr schlafen, also auch nicht träumen.“

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um dort eine Arbeit als Buchhalter anzutreten.12 Doch Blake trifft einen Monat zu spät in diesem trostlosen Ort ein, der vor allem aus Totenschädeln, Schlamm und Bestattern zu bestehen scheint – die Stelle wurde bereits vergeben.13 Der Leiter des Stahlwerks, John Dickinson (Robert Mitchum), jagt ihn mit dem Gewehr davon; Bill lernt die Frau Thel Russel (Mili Avital) kennen, doch ihr ehemaliger Liebhaber, ausgerechnet Dickinsons Sohn Charlie (Gabriel Byrne), erschießt seine Freundin und verwundet Blake lebensgefährlich. Der Buchhalter wiederum ermordet eher zufällig seinen eigentümlich passiven Angreifer, stürzt mit letzter Kraft aus dem Fenster und reitet auf Charlies Pferd davon. Er fällt in eine tiefe Bewusstlosigkeit, aus der ihn ein Indianer namens Xebeche (Gary Farmer) beziehungsweise Nobody, wie er sich selbst nennt, erweckt.14 Nobody, der als Kind von Soldaten nach England verschleppt und als Jahrmarktattraktion ausgestellt wurde, hat während dieser unfreiwilligen Reise als einzige Figur des Films eine klassische europäische Bildung erfahren. Er ist daher überzeugt, dass es sich bei Blake um den gleichnamigen, 1827 verstorbenen, englischen Schriftsteller, Maler, Drucker und Mystiker handelt, dessen Seele im Reich der Toten keine Ruhe findet.15 Dem Eisenbahntunnel vergleichbar markiert auch der Fenstersturz den Eintritt in eine andere Form des Seins:16 Blake wird auf eine Odyssee geschickt, die durch eine von Verfall, Verwüstung und Grausamkeit geprägte Welt, eine von den Spuren des Todes gezeichnete Hölle auf Erden führt. Zudem engagiert Dickinson drei gesetzlose Kopfjäger (Lance Henriksen, Michael Wincott, Eugene Byrd) und zwei Marshalls (Jimmie Ray Weeks, Mark Bringleson), die das Paar im Schritt-

12 Jarmusch erwähnt, dass er diese Stadt an das historische Virginia City, Nevada, angelehnt habe, vgl. Rickman: „The Western Under Erasure: Dead Man“, S. 403, Anmerkung 23. 13 In Luis Buñuels und Salvador Dalís Spielfilm L’Age d’Or (F 1930) wird die Kaiserstadt Rom, das Zentrum des Christentums, ebenfalls auf skatologisch aufgeladenem Schlamm und Dreck gegründet, vgl. Buñuel! Auge des Jahrhunderts, S. 392. 14 Der indianische Name Xebeche bedeutet „He Who Talks Loud Saying Nothing“ und erinnert an James Browns Song Talkin’ Loud and Sayin’ Nothing. Der englische Name Nobody ruft neben dem Western My Name is Nobody (I, F, D 1973) von Tonino Valerii auch William Blakes literarische Figur Nobodaddy auf, zudem stellt sich Odysseus den Zyklopen als „Niemand“ vor, vgl. Rosenbaum: Dead Man, S. 46, S. 75f. 15 Das Gedicht Auguries of Innocence, aus dem vorrangig zitiert wird, verfasste Blake um 1800-03, es wurde zu seinen Lebzeiten nie publiziert, die Zeilen blieben bis 1866 unentdeckt. Nobody hat sich der Filmerzählung zufolge in den 1850er Jahren in England aufgehalten, vgl. Rickman: „The Western Under Erasure: Dead Man“, S. 382; William Blake 1757-1827. Kunst um 1800. 16 Vgl. Kegler: „Jim Jarmusch: Dead Man“, S. 142.

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Tempo verfolgen. Es beginnt in dem zweiten, längeren Teil des Films die Flucht des sichtlich angeschlagenen Protagonisten Blake sowie seines Führers Nobody durch das verwahrlost wirkende Land Richtung nordwestlicher Pazifikküste, bis nach der Reise in Trance der Tod des Buchhalters am Ende des Films steht. Bislang wurde vor allem auf die vielschichtigen Verflechtungen von Dead Man mit literarischen Texten verwiesen.17 Es fällt allerdings auf, dass im Film ein Unbehagen gegen das vorrangig von Autoritätspersonen geschriebene Wort formuliert wird, viele der Figuren können – oder wollen – nicht lesen.18 Gregg Rickmann oder Melinda Szaloky bringen die audiovisuelle Ebene mit Genrekonventionen des Westerns in Verbindung; wie zahlreiche Filme zuvor betreibt Dead Man eine Revision des mit Konstruktionen der Frontier verbundenen Geschichtsbildes.19 Aber der klassische „Journey Western“ gibt nur die narrative Hülle des Films vor. Anders als die Vorbilder, in denen eine spirituelle, psychologische oder moralische Entwicklung des Protagonisten im Zentrum steht, bleibt Bill Blake eigentümlich unbeteiligt.20 Dead Man lässt sich vielmehr als Expedition durch den Zauberwald des Wilden Westens beschreiben, eine Fahrt, während der ein bürgerliches Leben gegen ein trostloses Abenteuer ohne klaren Ausgang eingetauscht wird. Das entscheidende an dieser filmischen Reise ist, dass im Gegensatz zur westlichen Überwachungstechnik der Schrift audiovisuelle Traumwelten als Wissen definiert werden:21 Erst der Vergleich mit den Bildstrategien surrealistischer Filmexperimente bringt daher die entscheidende Erzählung zum Vorschein.22

17 Vgl. Rickman: „The Western Under Erasure: Dead Man“; Müller: Der doppelte Blick. Erzählstrukturen und Bedeutungsvielfalt in Jim Jarmuschs Spielfilm Dead Man, S. 186ff. Genannt werden neben William Blakes Dichtung Homer, Vergil, Dantes Divina Comedia, Charles Dickens, Franz Kafka, John Miltons Paradise Lost, T. S. Eliots The Waste Land oder Joseph Conrads Heart of Darkness. 18 Etwa der Heizer, der zu Beginn des Films im Zug auftaucht, und Conway Twill, einer der Kopfgeldjäger. 19 Rickman: „The Western Under Erasure: Dead Man“; Szaloky: „A Tale N/nobody Can Tell“. 20 Vgl. Rickman: „The Western Under Erasure: Dead Man“, S. 390. 21 Vgl. Koch: „Traumleinwand“, S. 285. Blake wird von einem Brief nach Machine gelockt, geschriebene Schrift taucht im Zug, auf Schildern in Machine oder Blakes Steckbriefen auf; vgl. zur Schrift als europäische Medien- und Überwachungstechnik Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870-1960), S. 17ff. 22 Damit möchte ich Michael Richardson widersprechen, der annimmt, Jarmusch „uses the images of surrealism […] despite any conscious knowledge […]“, Richardson: Surrealism and Cinema, S. 75.

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Historisch gesehen existierte in den 1920er und 30er Jahren kein einheitlicher surrealistischer Film und schon gar kein dem entsprechender Stil.23 Gemeinsam ist den frühen Experimenten das Anliegen, mit der bewegten Audiovisualität des Films traumhafte Strukturen zu evozieren. Bereits in den 1840er Jahren wurde die Traumforschung ausgehend von Frankreich institutionalisiert; vor allem in Literatur und Graphik experimentierten Künstler mit einer Ästhetik des Traums, doch war es Sigmund Freud, der in seiner Traumdeutung (1899-1900) verschiedene Traditionen bündelte, weiterentwickelte und maßgeblich prägte.24 Zuvor waren in Kunst und visueller Kultur Traumikonographien mit feststehenden Symbolen üblich, doch der Psychoanalytiker lieferte gewissermaßen das Drehbuch für filmische Bildlösungen zur Darstellung eines individuellen wie kollektiven Unbewussten,25 indem er die inneren Prozesse und Dynamiken beschrieb, die Unterdrücktes quasi-automatisch in „visuelle und akustische Bilder“, in ein „Bilderrätsel“ oder eine „Hieroglyphenschrift“ umwandelten.26 In dieser Tradition verkündete schließlich Salvador Dalí in Anlehnung an Edmond Duranty, ein französischer Literat, der 1864 schrieb, es sei „ein schwarzer Grund, der nichts anderes ist als derjenige unserer Lider, wenn die Augen geschlossen sind, auf dem sich die Bilder der Träume zu malen beginnen“,27 der „beste Film ist der, den man mit geschlossenen Augen wahrnehmen kann.“28 Würden Träume Freud zufolge logische Bindungen lockern, um die Versatzstücke zu zerstückeln, zu drehen, zu zerbröckeln und wieder zusammenschieben wie treibendes Eis,29 spielt in den 1990er Jahren längst ein anderer Aggregatzustand des Wassers, nämlich der in Dead Man immer wiederkehrende Dampf, die zentrale Rolle: Verschiedenste Traditionen werden vaporisiert und in etwas Neues überführt, ohne dass wie bei einer Col-

23 „Die surrealistische Kino-Tradition läßt sich weniger auf der Ebene der Motive, als auf der Ebene systematischer Invertierung von Zeiten, Räumen und Bewegungen verfolgen, durch die auf dem Schneidetisch […] eine ‚totale Transmutation‘ herbeigeführt wird.“ Holl: Kino, Trance und Kybernetik, S. 220. Vgl. auch Kovács: From Enchantment to Rage. The Story of Surrealist Cinema, S. 40f. 24 Vgl. Heraeus: Traumvorstellung und Bildidee. Surreale Strategien in der französischen Graphik des 19. Jahrhunderts, S. 9ff; Träume 1900-2000: Kunst, Wissenschaft und das Unbewusste. 25 Der Film war wiederum die technische Voraussetzung der Psycho- und Traumanalyse, vgl. Holl: Kino, Trance und Kybernetik, S. 109. 26 Freud: Die Traumdeutung, S. 122, 280, 319. 27 Duranty zit. in:. Heraeus: Traumvorstellung und Bildidee. Surreale Strategien in der französischen Graphik des 19. Jahrhunderts, S. 81. 28 Dalí: „Kunst-Film – Antikunst-Film“, S. 34. 29 Freud: Die Traumdeutung, S. 310ff.

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lage die Bruchstücke und Klebstellen sichtbar bleiben.30 So spielerisch sich die französischen Surrealisten auf die Psychoanalyse bezogen, so spielerisch adaptierte Jim Jarmusch deren mittlerweile klassische und mehrfach popkulturell gewandelte Bildwelten. Das Projekt einer umfassenden Sexualisierung etwa, das bei der historischen Avantgardebewegung als Antrieb für die Auseinandersetzung mit kinematographischen Traumwelten benannt werden kann, spielt keine Rolle.31 Stattdessen bestimmen drei Erzählcluster die Handlung – sie ranken sich um Wasser, Blut und den Zauberwald.

Das Blut eines Dichters Der Indianer Nobody erzählt zu Beginn der Reise, dass er Blake, um ihn auf die „andere Seite“ zu bringen, an einen spiegelnden See führen wird – Dead Man ruft den Narziss-Mythos und seine zahlreichen kunst- und medientheoretischen Verstrickungen auf. Im surrealistischen Experimentalfilm findet sich dieses Motiv prominent in der berühmten Szene aus Jean Cocteaus Blut eines Dichters (F 1930). Das Alter Ego des Regisseurs erkundet phantastische Traumwelten, indem sich ein glasklarer Spiegel in flüssiges Wasser verwandelt, schließlich taucht der Dichter in die schwarzen Tiefen seines Unbewussten ein (Abb. 3). Cocteaus Film, der im Folgenden in den Zimmern eines Hotels spielt, ist ein Versuch, vom psychischen Apparat produzierte innere Bilder zu visualisieren.32 Für die Traumfabrik Hollywood stellte eine solche Reise Anlass zu großer Beunruhigung und Internierung in medizinischen Institutionen dar, das Aufgehen in Traumwelten war meist unerwünscht.33 Alfred Hitchcock mobilisiert in Spellbound (USA 1945) eine ganze Ärzteschaar, um den von Gregory Peck gespielten John Ballantine von seinen Halluzinationen zu heilen,34

30 Vgl. Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, S. 465, ich danke Dietmar Rübel für den Hinweis. 31 Kovács: From Enchantment to Rage. The Story of Surrealist Cinema, S. 20ff. Je weiter sich in Dead Man der Zug der Stadt Machine nähert, desto geringer wird die Anzahl der weiblichen Passagiere; Thel wird zu Beginn des Films erschossen und die Freundin von Nobody (Michelle Thrush) verschwindet nach einer kurzen Szene laut schimpfend im Wald. 32 Vgl. Springer: „Die filmische Gestaltung des Unbewussten: Zu Jean Cocteaus Le Sang d’un Poète“. 33 Vgl. Matthews: Surrealism and American Feature Films, S. 11. Das Interesse für surrealistische Strategien findet sich eher im experimentellen Kino, vgl. Kuenzli: Dada and Surrealist Film, S. 1. 34 Vgl. Freedman: „From Spellbound to Vertigo. Alfred Hitchcock and Therapeutic Culture in America“. Spellbound domestiziert filmische Wahnwelten zusätzlich, in-

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und Samuel Fuller situiert seinen Spielfilm Shock Corridor (USA 1963) ebenfalls in einem Sanatorium – bei allen Unterschieden steht in beiden Filmen die Therapie der Träumenden im Vordergrund. Doch in dem experimentellen Grau von Dead Man kommt alles ganz anders. In einer Szene erfahren die drei Kopfjäger, dass Dickinson auf Blake einen Preis ausgesetzt hat. Einer von ihnen, der schwarze Johnny „The Kid“ Pickett, will in Anlehnung an die Narzisspose aus einer Pfütze trinken. Cole Wilson rät ihm seltsamerweise davon ab und als Johnny seine Anweisung missachtet, ermordet ihn sein Gefährte von hinten brutal durch einen Kopfschuss (Abb. 4).

Abbildung 3: Screenshot, Blut eines Dichters (F 1930, Regie Jean Cocteau)

Abbildung 4: Screenshot, Dead Man: Blutwolken im Wasser

Die Szene zeigt, dass dem schwarzen Kopfjäger ein eigenes Spiegelbild verweigert wird – nur wer eine gesellschaftliche Machtposition einnimmt, kann sich auch in Traum- und Wahnwelten verlieren – und das ist im Westerngenre allein der weiße Mann. Zudem wird deutlich, dass sich in Dead Man trotz der Bezüge auf den Surrealismus kein verborgenes Inneres, keine Architektur des Unbewussten oder ein deutlich markiertes Tor zu einer geistigen oder poetischen Welt öffnet. So blenden die schwarzen Bildkader mit dem Filmbild das Bewusstsein der Protagonisten aus.35 Dadurch, dass Blake vom Tod seiner Eltern berichtet oder dass der Kopfjäger Wilson Mutter und Vater nicht nur vergewaltigt, sondern auch gekocht und anschließend verspeist haben soll, wird zusätzlich einer möglichen freudianischen Vereinnahmung des Geschehens durchaus ironisch entgegengewirkt. Dead Man eignet sich nicht für die Aufklärungsinteressen der psychoanalytischen Diagnose,36 vielmehr handelt es sich dem Traumbilder mit konkreten sprachlichen Bedeutungszuweisungen versehen werden. 35 Diederichsen: „Dead Man“, S. 227. 36 Vgl. hierzu Koch: „Traumleinwand“, S. 285. „Traum“ bezeichnet bei Jarmusch wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts das weite Feld von „nächtlichem Traum, Träu-

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um – wie es Fredric Jameson in Hinsicht auf den ununterbrochenen Fluss der Fernsehbilder und die mit ihnen korrespondierende Videokunst beschrieben hat – „Surrealismus ohne das Unbewusste“.37 Ein handelndes beziehungsweise träumendes Subjekt wird verabschiedet und dementsprechend dient die Reise in Dead Man im Gegensatz zum Acid Western El Topo (Mexiko 1970) nicht der Selbstfindung und Selbstbestätigung des männlichen Protagonisten:38 Figuriert wird das kollektive „Optisch-Unbewusste“ der USA.39 Entspricht der Fabrikbesitzer Dickinson bis ins kleinste Detail dem von sich entworfenen Selbstbild, wie es ein Portrait in seinem Büro verdeutlicht, lagern sich auf Bill Blake während des gesamten Films ununterbrochen von außen an ihn herangetragene Rollen ab – die des Dichters William Blake, des Stutzers oder des Outlaws. Zusätzlich wird nahe gelegt, dass vergleichbar dem Andalusischen Hund (F 1929), der von Luis Buñuel unter der Mitarbeit von Salvador Dalí gedreht wurde, oder Maya Derens Meshes of the Afternoon (USA 1943) auch in Dead Man mehrere Zustände einer Person nebeneinander existieren (Abb. 5, 6).

Abbildung 5: Screenshot, Meshes of the Afternoon (USA 1943, Regie Maya Deren/Alexander Hammid)

Abbildung 6: Screenshot, Dead Man: Bill Blake und Nobody

Wie es Ute Holl für die Filme Derens formuliert, verlieren sich bei Jarmusch die Protagonisten ebenfalls in „raumzeitlichen Labyrinthen und begegnen sich selbst als Andere auf ihren Wegen durch die fremden Räume wieder“; dabei entsteht die Frage „wie das Ich optisch ins Verhältnis zu Anderen verstrickt

merei, Wunschtraum, Vision, Alptraum, Halluzination, Wahnsinn, Opium- und Haschischrausch oder Somnambulismus“, Heraeus: Traumvorstellung und Bildidee. Surreale Strategien in der französischen Graphik des 19. Jahrhunderts, S. 12. 37 Jameson: „Surrealismus ohne das Unbewusste“, S. 177ff. 38 Vgl. zum Acid Western Rosenbaum: Dead Man, S. 49ff.; Rickman: „The Western Under Erasure: Dead Man“, S. 394f. 39 Vgl. Benjamin: „Kleine Geschichte der Photographie“; Krauss: The Optical Unconscious; Holl: Kino, Trance und Kybernetik, S. 21.

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ist.“40 Dead Man legt daher nahe, dass neben Nobody und Blake auch Thel oder der Kopfjäger Wilson unterschiedliche Facetten ein und derselben Figur darstellen: Thel und Blake werden von derselben Kugel getroffen und Nobody und Wilson erschießen sich in Zeitlupe, als der Buchhalter am Ende des Films stirbt beziehungsweise in eine differente Form des Seins übergeht. Es scheint im silbrigen Halbdunkel von Dead Man allerdings kein mittleres Gemeinsames, keine gelungene freudianische „Mischbildung“ oder „Mischperson“ zu existieren – wie sie auch dem Mythos vom nordamerikanischen „Melting Pot“ entsprechen würde.41 Stattdessen wird der von Freud in der Traumdeutung beschriebene „Wettstreit der visuellen Bilder“42 wörtlich genommen; ständig erschießen oder verletzten sich die Figuren. Der Gebrauch von Schusswaffen spielte bereits im Andalusischen Hund eine wichtige Rolle. Der männliche Protagonist (Pierre Batcheff) verdoppelt sich in einer Sequenz: Die mit der Erinnerung an die Kindheit in Verbindung stehende Figur kann ein Buch in Pistolen verwandeln und mit dieser Poesie sein autoritäres Über-Ich erschießen. Im Verlauf von Dead Man gewinnt Blake ebenfalls an Selbstvertrauen, indem er verschiedene Waffen sammelt und schließlich identifiziert er sich mit der Rolle des Dichters, wie Nobody es vorhergesehen hat: „That weapon will replace your tongue. You will learn to speak through it. And your poetry will now be written with blood.“ Damit entspricht Dead Man sowohl der surrealistischen Dogmatik, als auch der des amerikanischen Westerns.43 Der Waffengebrauch ist bei Jarmusch allerdings keineswegs poetisch, sondern vielmehr slapstickhaft und ganz und gar unheroisch. In einer Szene treffen die beiden Hüter des Gesetzes, die Marshalls Lee und Marvin auf Blake; Marvin richtet sein Gewehr auf den Buchhalter. Doch als dieser die Frage, ob er William Blake sei, bejaht und auch noch fragt: „Do you know my poetry?“ gelingt das Unmögliche. Bill

40 Holl: Kino, Trance und Kybernetik, S. 85, vgl. zum Doppelgängermotiv bei Deren ebd., S. 103ff. Laut Szaloky: „A Tale N/nobody Can Tell“, S. 58, handelt es sich bei Blake um einen „dying/dead/dreaming man and his shadowy doppelgänger, Nobody“. 41 Freud: Die Traumdeutung, S. 318ff. Jim Jarmusch thematisiert in seinen Filmen immer wieder, dass sich Nordamerika aus unterschiedlichen Kulturen zusammensetzt, so sieht das Publikum New York, Cleveland und Florida durch die Augen eines Ungarn (Stranger Than Paradise, USA, D 1984); New Orleans und Teile von Louisiana durch diejenigen eines Italieners (Down by Law, USA, D 1986) oder Memphis durch diejenigen zweier Japaner (Mystery Train, USA, Japan 1989). 42 Freud: Die Traumdeutung, S. 322. 43 Wie es im Zweiten Manifest des Surrealismus heißt: „Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen.“ Breton: „Zweites Manifest des Surrealismus“ (1930) 1977, S. 56.

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trifft Marvin mit einem Schuss mitten ins Herz und dieser wiederum verwundet Lee, woraufhin beide zu Boden sinken. Der Buchhalter nimmt sich der neu angenommenen Rolle gemäß die Zeit, um eine Zeile aus William Blakes Auguries of Innocence zu zitieren, bevor er nach einer quälend langen Pause den hilflos wimmernden Vertreter des Gesetzes kaltblütig erschießt. Dead Man zitiert nicht direkt aus der Geschichte des surrealistischen Experimentalfilms, sondern der Film instrumentalisiert die historischen Bildpraktiken der französischen Surrealisten für seine eigenen Zwecke – US-amerikanische Geschichtsräume und imaginäre Traumorte vermischen sich, um eine Revision des Westerngenres, der damit verbundenen Geschichtsschreibung und Bildklischees zu betreiben. Dieser distopische Film visualisiert dementsprechend keine Erschließung, sondern die ungeschönte Kolonialisierung des Westens. Der Reise auf befremdlichem Terrain entspricht weder ein Aufbruch in die Heimat, noch der Weg von Aufklärung oder Erleuchtung. Obwohl sich Dead Man geographisch an den klassischen Western-Schauplätzen entlang bewegt, werden tradierte Ansichten und Panoramabilder vom Monument Valley oder den Rocky Mountains vermieden, wie es Jim Jarmusch beschreibt:44 „And when we were scouting for locations, whenever we saw any magnificent view, like a postcard type, we would appreciate it […] and then turn our backs and look for our location with that out of view.“45 Denn solche Motive einer erhabenen Natur dienten bereits den Malern der amerikanischen Hudson River School des 19. Jahrhunderts dazu, die Unterwerfung des Landes als zivilisatorische Mission zu legitimieren und – weiße – amerikanische Identität als Prozess der Naturunterwerfung zu definieren.46 Keinesfalls ist die in Dead Man gezeigte Landschaft unberührt, paradiesisch oder erhaben, sie ist vernutzt und von menschlichen wie tierischen Skeletten, zerborstenen Planwagen sowie Überresten indianischer Siedlungen übersäht:47 Es ist, als ob die Erde ihre Toten aus-

44 Der Film wurde in Arizona (Peaks Ranger Districts und Coconino National Forest in der Nähe des Grand Canyon, Sedona), Nevada (Virginia City), Oregon (Grants Pass), Kalifornien (Redwood National Park und Küste), Washington State (Neah Bay, Olympic Peninsula) und New York gedreht, vgl. Rosenbaum: Dead Man, S. 32f., 92; Müller: Der doppelte Blick. Erzählstrukturen und Bedeutungsvielfalt in Jim Jarmuschs Spielfilm Dead Man, S. 67. 45 Jarmusch zit. in: Macaulay: „End of the Road“, S. 150. 46 Vgl. Wonders: Habitat Dioramas. Illusions of Wilderness in Museums of Natural History, S. 182ff.; I Like America. Fiktionen des Wilden Westens. 47 Der elektrische Telegraph entstand parallel zur Eisenbahn, vgl. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, S. 32f. Dementsprechend hat sich Blakes Steckbrief bis in die entlegendsten Landstriche verbreitet. Selbst im Makah-Dorf, das in der Schluß-Sequenz

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gespuckt hätte. Durch zahlreiche Achsensprünge drohen die Reisenden in den Wäldern verloren zu gehen; vergleichbar Andrei Tarkovskys Stalker (D, Sowjetunion 1979) wandern oder reiten die Reisenden von links, rechts oder von hinten durch das Bild, auf diese Weise wird eine lineare Reiseroute durch das Dickicht dieser labyrinthischen Landschaft vermieden.48 Darüber hinaus suggerieren zahlreiche Kameraeinstellungen aus der Froschperspektive, die den schlammigen Boden fokussieren, eine Geschichte von unten. In Dead Man wird nach und nach ein anderer Sprecher sichtbar, allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine Metapher für unterdrückte psychische Energien, sondern um den Verweis auf eine Kultur, deren historisch belegte räumliche Verdrängung und Vernichtung mit Hilfe surrealistischer Strategien thematisiert wird.

Durch den Zauberwald Eine Sequenz zeigt Nobody und Blake, wie das Paar in Kalifornien im Redwood National Park einen Wald mit riesigen Sequoien durchreitet. Diese Szene erinnert an Alfred Hitchcocks Spielfilm Vertigo – aus dem Reich der Toten (USA 1958). James Stewart und Kim Novak besuchen ebenfalls die berühmten Mammutbäume und treten vor einen Querschn:itt, dessen Jahresringe zentrale geschichtliche Ereignisse markieren (Abb. 7, 8).

Abbildung 7: Screenshot, Vertigo – aus dem Reich der Toten (USA 1958, Regie Alfred Hitchcock)

Abbildung 8: Screenshot, Dead Man: Im Zauberwald

Obwohl mit den mehr als 2000 Jahre alten Bäumen historisches Material anwesend ist, setzt die von einem christianisierten Zentrum ausgehende geschriebene Geschichte Amerikas bezeichnenderweise erst 1492 mit der ‚Entdeckung‘

zu sehen ist, findet sich technisches Gerät in Form einer Nähmaschine, die an das surrealistisch vereinnahmte Motto Lautréamonts von der Begegnung eines solchen Objekts mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch erinnert. 48 Vgl. Müller: Der doppelte Blick. Erzählstrukturen und Bedeutungsvielfalt in Jim Jarmuschs Spielfilm Dead Man, S. 67, 203.

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des Kontinents durch Christopher Kolumbus ein. Dead Man wählt einen andern Fokus, denn von allen Figuren besitzt ausschließlich Nobody eine historische Dimension. Diese Figur erinnert an Indianer wie Wi-jun-jon oder Tisquantum, die im Nordamerika vergangener Jahrhunderte zwischen den Kulturen wandelten,49 und in dem einzigen Flashback des Films, in dem statt schwarzen weiße Bildkader von einer Szene zur nächsten überleiten, berichtet Nobody von seiner Verschleppung nach England.50 Doch wird Blakes Führer nicht ungebrochen als edler Wilde inszeniert,51 vielmehr betreibt der Film eine „reversible Ethnologie“52. Der als weiß imaginierte Teil des Kinopublikums kann in surrealistischer Tradition einen Blick auf die eigene Kultur werfen, um sich von ihr befremden zu lassen, indem große Teile des Films nicht durch die Augen Bill Blakes, sondern aus der Perspektive dieser Figur gesehen werden. Viele der in Paris ansässigen Surrealisten nutzten außereuropäische Kulturen für ihre Wissenschafts- und Vernunftkritik. Wie dies Gabriele Werner beschreibt, unterschied sich dieser „surrealistische Exotismus“ in entscheidenden Punkten vom so genannten Primitivismus. Das Andere war in diesem Kontext kein Spiegel, in dem die eigene Zivilisation als überlegen erschien, weder wurden außereuropäische Kulturen als natürlich oder ursprünglich gedacht noch standen sie für Zivilisationsflucht.53 Max Ernst etwa ließ sich 1942 – gehüllt in einen Pelz – in New York inmitten von Katchina Figuren, Holzpuppen, wie sie Hopi-Indianer im Südwesten Amerikas benutzen, fotografieren.54 Weitere surrealistische Künstler waren statt an unhinterfragter Identifikation an theoretischer Reflexion interessiert, sie suchten „die eigene kulturelle Ähnlichkeit mit dem Anderen“ und gingen zumindest in theoretischen Schriften statt von einer evolutionären Entwicklung der Kulturen von ihrer Gleichzeitigkeit aus.55 Doch obwohl sich die französischen Surrealisten beispielsweise gegen die Ex-

49 Wie Nobody berichtete Wi-jun-jon seinen Stammesangehörigen von der Wunderwelt der Weißen, doch wurde er für einen Lügner gehalten; Tisquantum fand bei seiner Rückkehr alle Angehörigen seines Stammes von einer Seuche dahingerafft – Nobody befürchtet, die Decken, die ein Missionar zum Kauf anbietet, seien verseucht, vgl. Trenk: „‚Going White‘“, S. 57f., 73f. 50 Vgl. Trenk: „‚Going White‘“, S. 60f. Erinnerungsbilder korrespondieren in diesem Film mit einer weißen Leinwand beziehungsweise dem Konzept der Tabula Rasa. 51 Vgl. Kilpatrick: Celluloid Indians. Native Americans and Film, S. 169ff. 52 Vgl. Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870-1960), S. 31ff. 53 Werner: „Fremdheit und Weiblichkeit. Zum surrealistischen Exotismus“, S. 80ff. 54 Vgl. Max Ernst – Retrospektive zum 100. Geburtstag, S. 321. 55 Vgl. Werner: „Fremdheit und Weiblichkeit. Zum surrealistischen Exotismus“, S. 88.

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position Coloniale aussprachen, die 1931 in Paris stattfand,56 diente die Bezugnahme auf außereuropäische – also auch indianische – Kulturen der Erkundung der eigenen Gesellschaft und ihrer Geschichte; die gesammelte außereuropäische Kunst blieb zeitlos wie anonym. In Dead Man ist die Relation zwischen Eigenem und Anderem weniger klar definiert und daher komplexer, so richtet sich der Film über Dialoge, die weder übersetzt noch untertitelt werden, ausdrücklich an ein indianisches Publikum, das ebenfalls ethnographisch tätig werden soll. Zusätzlich kehren sich Klischees, mit denen außereuropäische Kulturen traditionellerweise bedacht werden, um. Sichtbar werden verweiblichte beziehungsweise homosexuelle Trapper und kannibalistische wie inzestuöse Kopfgeldjäger.57 Darüber hinaus steht das Paar Nobody und Blake bei näherer Betrachtung entgegen der ersten Vermutung für eine beginnende Mischung der Stereotypen.58 Nobody, der den gesamten Film mit der erinnerten und gesprochenen Dichtung von William Blake unterlegt sowie mindestens drei indianische Dialekte beherrscht und dessen Eltern zwei verfeindeten Stämmen angehörten, verkörpert kaum dominante Klischees indianischer Kultur, wie sie sich im Westerngenre finden.59 Als Blake und Nobody am Ende der Reise ein Dorf von Angehörigen des MakahStamms betreten, sind sogar dokumentarisch anmutende Aufnahmen zu sehen; dieses Set wurde mit Hilfe von Stammesangehörigen, Mitgliedern des Makah Cultural and Research Center und Museumsartefakten rekonstruiert.60 Bill Blake ist am Ende seiner Kräfte und kann kaum noch gehen, er sackt an einen Walfischknochen gelehnt in sich zusammen und verliert das Bewusstsein, während Nobody über ein Seekanu verhandelt. Der Buchhalter ist längst in einem tranceartigen Bewusstseinsstadium zwischen Wachen und Träumen angekommen, er kann die Menschenmenge, die ihn anstarrt und sich über ihn

56 Breton u.a.: „Ne visitez pas l’Exposition Coloniale“ [1931]. 57 Zudem sehen für Nobody alle weißen Engländer gleich aus: „Each new city contained the same white people as the last“, heißt es in einer Sequenz. Brinckmann: „Unsägliche Genüsse“, S. 92f.; Schmidt-Linsenhoff u.a.: Beschreiben und Erfinden. Figuren des Fremden vom 18. bis zum 20. Jahrhundert; Berglund: Cannibal Fictions. Vgl. zu Geschichte und Mythologie von „white cannibals“ Rice: Radical Narratives of the Black Atlantic, 122ff. 58 Diese Ebene findet sich auch in den Biographien der beiden Hauptdarsteller. Der Kanadier Gary Farmer gehört zum Wolf Clan der Cayuga-Indianer, Ontario, und Johnny Depps Großvater war Cherokee, vgl. Rosenbaum: Dead Man, S. 21. 59 Es handelt sich um die Sprachen Blackfoot, Cree und Makah; Nobodys Eltern gehörten zu den sich im 19. Jahrhundert bekriegenden Stämmen Blackfoot und Blood, ebd., S. 23f. 60 Ebd., S. 49.

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lustig macht, nicht fokussieren.61 Durch den Einsatz einer schwankenden Kamera, zahlreicher Überblendungen und prismatischer Aufsplittungen sowie der dröhnenden Soundspur kippt die vermeintlich authentische Dokumentation in ein fiebertraumartiges Bild. Blake fällt erneut in Ohnmacht und die gezeigte Kultur bleibt rätselhaft. Dead Man maßt es sich nicht an, ein authentisches Bild indianischer Lebensformen zu entwerfen und vermeidet den zweifelhaften Versuch, Unterdrückten eine Sprache zu verleihen.62 Die Aufmerksamkeit richtet sich statt dessen auf den europäisierten Nobody sowie den verwilderten Bill Blake – diese beiden Figuren stehen besonders deutlich mit surrealistischen Strategien in Verbindung. Der Name Blake verweist in diesem Underground-Film vor allem auf seine populäre Rezeption; bereits die französischen Surrealisten schätzten den Dichter wegen seines Status’ als Außenseiter, als unangepassten Denker, der eine eigene Mythologie mit visionären Anklängen entwarf. Jim Jarmusch bezieht sich jedoch weder direkt auf Blake noch auf die historische Avantgardebewegung, obwohl viele Sätze Nobodys wie Adaptionen indigener Aphorismen klingen, aber Werken William Blakes entnommen sind. Andere Stellen, die Jarmusch in Anlehnung an indianische Sprachbilder geschrieben hat, erinnern an Zitate des englischen Dichters.63 Die Bezüge sind in Dead Man vielschichtiger: Es ist, wie Diedrich Diederichsen schreibt, die psychedelische Kultur der 1960er und 70er Jahre, die in diesem Film – von damaligen Globalisierungsphantasien und der Hoffnung auf den Kontakt mit ursprünglichen Kulturen entledigt – als transkulturelles Bindeglied angeboten wird.64 Um nur eine von vielen möglichen Assoziationsketten zu beschreiben: Der Schriftsteller Aldous Huxley etwa, der sich intensiv mit bewusstseinserweiternden Drogen beschäftigte, erwähnt Blake fortlaufend in seiner berühmten Schrift The Doors of Perception (1954);65 diesem Buch wiederum entlehnte die Rockband The Doors 61 Auch im anthropologischen und ethnologischen Film finden sich Verweise auf surrealistische Techniken, so war ein wichtiges Vorbild für Gregory Bateson William Blakes Kunst, vgl. Holl: Kino, Trance und Kybernetik, S. 80. 62 Vgl. Spivak: „Can the Subaltern Speak?“ 63 Vgl. Lippy: „Jim Jarmusch“, S. 258. 64 Vgl. Diederichsen: „Dead Man“, S. 238ff.; ders.: „Verschleiern und Entschleiern: Die Kultur des Psychedelischen“, S. 85ff.; Saada: „Entretien avec Jim Jarmusch“, S. 30; zum Zusammenhang von „Tribalism“ und Hippie-Kultur Rodenberg: Der imaginierte Indianer, S. 252ff. In Dead Man wird auf die nachfolgende Underground-Bewegung des Punk verwiesen: Bill Blake legt sich neben ein totes Rehkitz und ruft das Cover der Single Who Killed Bambi? (1979) von den Sex Pistols auf, vgl. Müller: Der doppelte Blick. Erzählstrukturen und Bedeutungsvielfalt in Jim Jarmuschs Spielfilm Dead Man, S. 170. 65 Huxley: The Doors of Perception.

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ihren Namen.66 Zusätzlich finden sich in Jim Morrisons Song End of Night (1967) Zitate aus Blakes Gedicht Auguries of Innocence, Textzeilen, die von Nobody und später auch Blake rezitiert werden.67 Diese Bezüge zu einem psychedelischen „Surrealism of our technological age“68 zeigen sich bei Bill Blake vor allem durch seine Kleidung, das Westernoutfit erinnert an Inszenierungen von Jimi Hendrix, ein Pelzmantel an Frank Zappa (Abb. 9-11).69

Abbildung 9: Screenshot, Dead Man: Der verwilderte William Blake

Abbildung 10: The Mothers of Invention: Freak Out! Plattencover, 1966

Abbildung 11: David Montgomery: Jimi Hendrix, für die LP Electric Ladyland (1968), 1967

Die entsprechenden Anspielungen sind bei Nobody komplexer. In der entscheidenden Sequenz des Films nimmt er Peyote zu sich, den in indianischen Ritualen eingesetzten und von Huxley untersuchten psychoaktiven Kaktus,70

66 Vgl. Collmer: Pfeile gegen die Sonne. Der Dichter Jim Morrison und seine Vorbilder, S. 187. 67 Die entsprechende LP heißt Doors; Morrison orientierte sich zusätzlich an literarischen Vorbildern wie Arthur Rimbaud sowie den Utopien der indianischen Ghost Dance-Bewegung des frühen 19. Jahrhunderts. Auch betonte der Sänger immer wieder die zentrale Rolle, die Träume bei seiner Arbeit spielen würden, vgl. ebd., S. 200ff., 360ff. 68 Schwartz: „Psychedelic Art. The Artist Beyond Dreams“, S. 39. 69 „The Electric Gypsy“ Jimi Hendrix ist auch deshalb eine wichtige Referenz, weil der Musiker, der bei seinen Bühnenshows mit Stroboskoplicht, Verzerrer und Rückkopplungen arbeitete, indianische Vorfahren besitzt und seine Liedtexte an Träumen orientiert haben soll, vgl. Shapiro/Glebbeek: Jimi Hendrix – Electric Gypsy, S. 21f., 45. 70 Huxley: The Doors of Perception, S. 5ff. Nur wenig später experimentierte Huxley mit LSD, vgl. Lee/Shlain: Acid Dreams. The CIA, LSD, and the Sixties Rebellion, S. 48. Allerdings verweigert Nobody Bill Blake das Halluzinogen, der Eskapismus der Hippie-Bewegung wird umgangen. Blake raucht nicht einmal Tabak, ein Genussmittel, nach dem ihn Nobody ständig fragt. Tabak wird in indianischen Ritua-

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worauf es zu einer Halluzination kommt, die schon deshalb einen besonderen Stellenwert einnimmt, da in Dead Man vergleichbare Verfremdungsstrategien nur selten zu finden sind – das Gesicht von Bill Blake wird mit einem Totenschädel überblendet (Abb. 12, 13).

Abbildung 12, 13: Screenshots, Dead Man: Kritische Abbildung 14: The Grateful Paranoia im technologischen Zeitalter Dead: Cover der LP Skull and Roses, 1971 (Detail)

Sehhilfen wie Brillen sind nicht mehr nötig. Der Film bezieht sich auf eine magische Traumvorstellung, doch wird die gezeigte rituelle Handlung nicht als eine ekstatische Auflösung der Persönlichkeit interpretiert, statt dessen verweist Jarmusch auf das Kino als eine der „Trancetechniken unserer Kultur“:71 Die Sequenz erinnert überdeutlich an die von Salvador Dalí propagierte „Kritische Paranoia“, die statt einer privaten Halluzination eine aktiv gestaltete Lebenseinstellung darstellt.72 Optische Informationen sollten – in Anlehnung an JeanJacques Grandvilles Lithographienzyklen des 19. Jahrhunderts und die Paranoia der Psychoanalyse – bewusst „falsch“ interpretiert werden, damit sich Wahnbilder und Realität verschleifen und die Welt gemäß den eigenen Obsessionen einer Metamorphose unterzogen und neu organisiert werden kann. In diesem Sinne transformiert etwa der Protagonist von Luis Buñuels und Salvador Dalís Spielfilm L’Age d’Or (F 1930) das Plakat einer Puderquaste in das sexuell aufgeladene Bild eines Haarbüschels. Nobody ist nicht naiv, vielmehr entschließt er sich, den Buchhalter für seine Zwecke zu instrumentalisieren, indem er ihn als William Blake identifiziert, wie er an einer Stelle bemerkt:73 „You are a poet. And a painter. And now you are a killer of white man“. Die Überblendung verschafft Klarheit über den Status von Nobodys Mitreisenden – es handelt sich gleichermaßen um einen Dichter, der im Reich der Toten wandelt, wie um einen todgeweihten Buchhalter. Blake verkörpert in mehrfacher Hinsicht einen toten Mann, zusätzlich wird deutlich, dass die Kultur des len verwandt, gleichzeitig ist die Geschichte dieses Rauschmittels zutiefst mit der Kolonialisierung des Landes verbunden, vgl. Rosenbaum: Dead Man, S. 34f. 71 Vgl. Holl: Kino, Trance und Kybernetik, S. 23; Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870-1960), S. 31. 72 Vgl. Dalí: „Der Eselskadaver“, S. 131ff. 73 Vgl. Saada: „Entretien avec Jim Jarmusch“, S. 26.

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weißen Amerika, die Industrialisierung, auf dem Genozid der Indianer aufbaut.74 Die geschilderte Szene lässt darüber hinaus die dem Film zugrunde liegende und ansonsten unsichtbare Struktur erkennen, denn mit Nobody verbindet sich ein weiteres Zitat aus einem surrealistischen Filmklassiker. Als in einer Szene ein weißer Trapper mit einem Gewehr auf Blake zielt, schleicht sich Nobody von hinten an den Angreifer heran und durchtrennt seine Kehle mit einem Messer. Vor allem durch die Parallelmontage mit einem grellen Blitz, der plötzlich den nächtlichen Himmel zerteilt, erinnert die Sequenz an den berühmten Prolog des Andalusischen Hundes: Luis Buñuel steht mit einem Rasiermesser hinter einer Frau, die folgenden Bilder nehmen das Geschehen – den Schnitt durch den Augapfel – auf einer symbolischen Ebene vorweg, indem an einem Vollmond dünne Wolkenbänder vorbeiziehen. Auch Nobody, der nach dem Mord siegessicher ins imaginierte Filmpublikum blickt, wird als derjenige inszeniert, der schneidet und Haut durchtrennt – also in Anlehnung an den Regisseur Buñuel als aktiv handelndes Subjekt, das die filmische Handlung bestimmt.75 Eine dritte Sequenz untermauert diese These. Walter Benjamin beschreibt die Mitglieder der surrealistischen Gruppe als „fabelhafte Schlüsselbewahrer“, die „einen Bund mit Schlüsseln aller Zeiten“ in ihren Händen halten.76 In Dead Man kommt Nobody diese Rolle zu: Kurz bevor das MakahDorf erreicht wird, sieht das Publikum mit Blakes Augen eine abgebrannte Indianersiedlung, doch handelt es sich um exakt denselben Kameraschwenk, mit dem Nobody in seinem Flashback eine Stunde zuvor von seiner Jugend berichtete (Abb. 15, 16).77 Es ist Nobody, der die Erzählung, ihre Bildwelten und 74 „L’Amérique est un pays qui s’est bâti sur la violence, et sur un génocide. Combien d’indiens ont été tués en Amérique du Nord? Je crois qu’il y a eu vingt-cinq millions de victimes. Voilà, c’est ça l’Amérique.“ Jarmusch zit. in:. Saada: „Entretien avec Jim Jarmusch“, S. 30. Diese Kritik findet sich in der Tonspur des Films wieder; Jarmusch berichtet, dass Neil Young in Songs wie Cortez the Killer (1975) oder Pocahontas (1979) schon immer Themen wie den korrumpierten amerikanischen Mythos und die Vernichtung der Indianer thematisiert habe, vgl. Macaulay: „End of the Road“, S. 149; zudem besitzt der Musiker eine der größten privaten Bisonherden Nordamerikas, also die Tiere, deren Dezimierung im 19. Jahrhundert eng mit dem Genozid an „Native Americans“ verbunden war, vgl. Müller: Der doppelte Blick. Erzählstrukturen und Bedeutungsvielfalt in Jim Jarmuschs Spielfilm Dead Man, S. 74. 75 Das französische Wort „pelicule“ bezeichnet neben dem Filmstreifen in einem biologischen Zusammenhang das „Häutchen“, vgl. Fend: Medium Haut, S. 248. 76 Benjamin: „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“, S. 300. 77 Vgl. Szaloky: „A Tale N/nobody Can Tell“, S. 65.

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den Blick des Kinopublikums steuert, ja sogar Zeitebenen nach Belieben kollabieren lässt.

Abbildung 15: Screenshot, Dead Man: Nobodys Flashback …

Abbildung 16: Screenshot, Dead Man: … und Bill Blakes Blick auf eine abgebrannte Siedlung

Am Ende des Films haben sich die Figuren Blake und Nobody vermischt. Der in ein Kanu gebettete Buchhalter ist in indianische Kleidungsstücke gehüllt und mit einem Amulett, das ein Foto von Nobody zeigt, welches während seiner Gefangenschaft in England aufgenommen wurde,78 und Tabak ausgestattet. Schließlich fährt er sterbend in den Pazifik über den äußersten Rand des Westens hinaus. In diesem Kontext ruft Nobodys Peyote-Vision neben einer traditionellen Ikonographie des Todes das Logo der Rockband The Grateful Dead auf (Abb. 14):79 Die kritische Paranoia des Indianers verweist auch auf „das Prinzip der Gegenkulturen, durch Grenzerfahrungen und Todesnähe der bürgerlichen Existenz überlegene Lebensformen zu entwickeln“.80 Blake entkommt seinen Verfolgern mit Nobodys Hilfe; er verlässt die Höllenlandschaft und zum ersten Mal sind der Himmel sowie eine Panoramaeinstellung zu se-

78 Vgl. Porter: „Photographing Dead Man“, S. 264. Es kommt zwischen Blake und Nobody zum „endlosen Gabentausch“ eines Nehmens und Zurückgebens von Abbildern, eines „Feedback“ oder einer „geteilten Ethnologie“, wie sie Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870-1960), S. 312, für andere Zusammenhänge beschreibt. 79 Dem Cover liegt eine Abbildung zugrunde, die Edmund Sullivan für eine Wiederauflage der persischen Gedichtsammlung The Rubaiyat of Omar Khayyam (10481123) im 19. Jahrhundert anfertigte. Der Künstler Alton Kelly nutzte dieses Bild 1966, um ein Poster für das Konzert von The Grateful Dead im Avalon, San Francisco, zu gestalten. Auf dem ensprechenden Plattencover der Band sind folgende Zeilen abgedruckt: „DEAD FREAKS UNITE/Who are you? Where are you?/How are you?/Send us your name and address / and we’ll keep you informed/Dead Heads/P.O. Box 1065/San Rafael, California/94901“. 80 Diederichsen: „Dead Man“, S. 240.

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hen.81 Der Gang durch den Spiegel, an der Stelle, wo das Meer auf den Himmel trifft, ist auch ein Übergang von Blake, wie Nobody es beschreibt, „back to the place where all the spirits came from, and where all the spirits return“ – allerdings ist hier nicht zwingend psychedelischer Weltanschauung folgend spirituelle Transzendenz gemeint sondern ein Übergang in den Wasserdampf der Wolken. Doch existiert in Dead Man keine unberührte Natur. Diese Wolken werden, wie es das Publikum am Anfang erfahren hat, von Maschinen ausgestoßen, begleitet von elektrischen Gitarrenriffs – es ist das Kino selbst, das diese Transformation ermöglichen kann und der Mischperson Blake/Nobody eine Existenz zwischen den Kulturen ermöglicht, eben „anders zu werden und alle Zuschreibungen im Bild zu subvertieren, zu multiplizieren, zu rekombinieren“.82 Der Film wird als Loop erkennbar und die kryptischen Worte, die der rußgeschwärzte Heizer des Zuges (Chrispin Glover) in der Eingangssequenz an Bill Blake richtet, erhalten retrospektiv einen Sinn:83 Look out the window. And doesn’t this remind you of when you were in the boat and then later that night you were lying looking up at the ceiling and the water in your head was not dissimilar from the landscape and you think to yourself why is it that the landscape is moving but the boat is still?84 Die Bewegungsunfähigkeit der träumenden Person geht mit einem instabilen „Ensemble von freischwebenden Erinnerungen und Bildern einer Vergangen-

81 Die wenigen Totalen, die im Film auftauchen, eröffnen keinen visuellen Überblick, der Horizont ist nur selten zu sehen, vgl. Müller: Der doppelte Blick. Erzählstrukturen und Bedeutungsvielfalt in Jim Jarmuschs Spielfilm Dead Man, S. 202. 82 Holl: Kino, Trance und Kybernetik, S. 104f. Bei dem Rauch, der von Dickinsons Fabrik aufsteigt, handelt es sich um eine digitale Animation, vgl. Rosenbaum: Dead Man, S. 33. 83 Vgl. Rickman: „The Western Under Erasure: Dead Man“, S. 401. Der Gang durch die Stadt Machine und der durch die Makah-Siedlung ähneln sich, vgl. Müller: Der doppelte Blick. Erzählstrukturen und Bedeutungsvielfalt in Jim Jarmuschs Spielfilm Dead Man, S. 148. 84 „Ceiling“ bedeutet nicht allein die „Zimmerdecke“, wie es die deutsche Untertitelung vorschlägt, sondern auch die „Wolkenhöhe“ oder „Wolkenuntergrenze“. Das Kanu entspricht einer vorindustriellen Verkehrsbewegung, es treibt mit Wasserund Windströmung. Der Heizer verweist auf die amerikanische Besonderheit, dass sich die Dampflok aus dem Flussdampfer und seinen Verkehrswegen entwickelte; einige zeitgenössische Autoren beschreiben sogar, dass die Eisenbahnwaggons mehr an ein Schiff als an eine Kutsche erinnern, vgl. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, S. 97ff.

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heit im allgemeinen [einher], die in schwindelerregendem Tempo vorbeiziehen“, wie es Gilles Deleuze in seiner Kinotheorie und Jim Jarmusch in Coffee and Cigarettes gleichermaßen beschreiben.85 Am Ende ist zwar keine Kabine zu sehen, dafür die beschriebene „Bewegung der Welt“.86 Die schwarzen Zwischenbilder, die den Film ein- und ausleiten sowie die gesamte Handlung strukturieren, suggerieren mit dem schwarzen Grund unserer Lider den eigenen Augenschlag, aber keine subjektive Innenwelt.87 Vielmehr wird in diesen Momenten die Leinwand in schwarzes Licht getaucht; das Publikum kann sich in melancholischen Imaginationen verlieren, aber es existiert ein Ausweg aus dem Albtraum. Break on Through to the Other Side meint in Dead Man auch den Kontakt von Filmwelt mit dem Erfahrungsraum des Kinosaals und seines Publikums, etwa wenn Interessierte Indianerreservate kontaktieren, um die nicht untertitelten Passagen in Cree, Makah oder Blackfoot zu verstehen – eben die Hoffnung auf eine Poésie pratique.88

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85 Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 79. 86 Ebd, S. 83. 87 Die Farbe Schwarz wurde im 19. Jahrhundert für die Thematisierung subjektiver Innenwelten eingesetzt, vgl. Heraeus: Traumvorstellung und Bildidee. Surreale Strategien in der französischen Graphik des 19. Jahrhunderts, S. 74ff.; Die Farben Schwarz. 88 William Blake schreibt in seinem Gedicht The Land of Dreams: „Dear child, I also by pleasant streams/Have wandered all night in the land of dreams/But through calm and warm the waters wide/I could not get to the other side“, Stevenson: Poems of William Blake, S. 581. Jim Morrison wiederum war optimistischer: Break on Through to the Other Side sang er 1967. Ich danke Maria Parker Pascua, Makah Cultural and Research Center, herzlichst für ihre Übersetzung.

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Bildnachweise: Abb. 1, 3-9, 12-13, 15-16: Standbilder von den entsprechenden DVDs; Abb. 2: John Walker: Joseph Mallord William Turner, Köln 1978, Tafel 39; Abb. 12, 14: Internet; Abb. 13: Innere Plattenhülle von Jimi Hendrix’ LP Electric Ladyland (1968).

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Walburga Hülk

Entgleisung im Salon Kubricks Eyes Wide Shut nach Schnitzlers Traumnovelle Wenn der Surrealismus mehr ist als eine Epoche oder Tendenz der Kulturgeschichte und der Geschichte der Künste, dann stellt sich zum einen die Frage nach dem, was bezeichnet werden kann als „Surreales“, zum anderen nach dem, was praktischerweise weiterhin bezeichnet wird als „Surrealistisches“. Während zweifellos das „Surreale“ ein komplexer Suchbegriff ist, der gerichtet ist auf ein immenses Feld anthropologischer und ästhetischer Phänomene, auf Analogien und Differenzen verwandter Begriffe (wie z.B. „surnaturel“, phantastisch, phantasmagorisch, wunderbar/„merveilleux“, märchenhaft) und der die Geschichte und Geschichtlichkeit der Imagination, des Imaginären, des Träumens, die gesamte Welt innerer Bilder in ihren Motiven und Überlagerungen, ihrer Funktionsweise, ihren Effekten und ihrer Präsenz in der so genannten Realität zu reflektieren hat, wird im Folgenden der Begriff des „Surrealistischen“ von dem des „Surrealen“ deshalb unterschieden, weil das „Surrealistische“, will man es prägnant fassen, doch zuallererst eine reflektierte Methode oder Technik der experimentellen, ja rationalen Exploration und Inszenierung des Surrealen unserer Wirklichkeit ist, nicht aber dieses Rätselhafte selbst. Wenn ich mich also befasse mit Arthur Schnitzlers Traumnovelle und vor allem mit Stanley Kubricks Eyes Wide Shut, dann ist evident, dass das „Surreale“ als Geträumtes, Imaginiertes und Imaginäres, immer ganz Verrätseltes und Irritierendes allererst das Thema ihrer narrativen und bildlichen Inszenierung ist, ohne schon ihr generatives und organisatorisches Prinzip zu sein. Insofern kann die Frage nicht lauten, ob in ihnen deshalb surrealistische Elemente zu finden seien, weil sie Traumgeschichten und Nachtszenen innerer Bilder erzählen, waren diese doch immer schon – im onirischen Allegorismus des Roman de la Rose ebenso wie im barocken Traumtheater, in den Gespenstern der Romantik oder dem Wahn und der Hysterie des ausgehenden 19. Jahrhunderts – „surreal“, ohne „surrealistisch“ zu sein. Vielmehr ist die Frage, ob genuin surrealistische Erkenntnismethoden oder ästhetische Verfahren im Hinblick auf die Welt der Träume konzeptuell und narrativ bereits in der Traumnovelle anklingen und ob sie filmästhetisch in Eyes Wide Shut als surrealistisch inszeniert erscheinen, vielleicht erst hier als surrealistisch erscheinen können, gilt doch gerade der Film, wie ebenso die Photographie, überhaupt als privilegiertes Medium, die Irrealität ins Bild zu setzen und die technischen Spuren ihres

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Erscheinens in einem „fruchtbaren Augenblick“1 oder einem „Punctum“2 ganz vergessen zu machen. Während nämlich bereits Gabriele D’Annunzio das Wunderbare als Zentrum des Kinematographen feierte und schon dem frühen Film enthusiastisch die Möglichkeit zusprach, das Übernatürliche als Natürliches sichtbar zu machen und ästhetisch zu realisieren, da es technisch keine „Grenze für die Repräsentation des Wunders und des Traums“3 gäbe, stellt sich mir im Rahmen der Thematik „Surrealismus und Film“ doch auch die Frauge, ob es ratsam ist, im Aufriss einer „Ästhetik des Surrealen“ den Begriff des „Surrealismus“ zu entkräften, der doch ganz offensichtlich eine ganz eigene, elementare Faszination ausübt. Diese fasste Walter Benjamin 1929 in seinem „Sürrealismus“-Aufsatz in die mechanische und mediale Metapher eines Kraftwerks und eines explosiven (Wecker-)Anschlags auf die Zeit und ebenso als „die letzte Momentaufnahme des europäischen Geistes“4, deren energetisches und „innervierendes“ Potential, so will mir scheinen, noch im „Leibund Bildraum“ einer „profanen Erleuchtung“ und als „anthropologische Inspiration“5 des Films Eyes Wide Shut evident ist. Immer wieder ist im Zusammenhang der Surrealismusforschungen der Bezug zu Freuds psychoanalytischer Traumdeutung aufgeworfen und verworfen worden, die nicht zuletzt bei Benjamin stets gegenwärtig ist. Wenn ich diesen Bezug auch im Zusammenhang meiner Thematik herstellen muss, dann schon deshalb, weil der aufregende Dialog Schnitzlers mit Freud schlechthin nicht geleugnet werden kann und die Traumnovelle ein ebenso intrikates wie subtiles Geschehen zwischen Wachen und Träumen erzählt, vielleicht auch – wer weiß – ein doppeltes Traumgeschehen, das durch die erotische Energie, durch die libidinösen, dynamischen Bewegungs- und Kombinationsmuster der von Freud „erfundenen“ Traumarbeit geprägt ist und daher nicht repräsentativen, sondern prozessualen Charakter hat. Es geht mir dennoch im Folgenden nicht um generell surrealisierende Bildfolgen (etwa im „dissolve“ oder auch im Kristall-

1

Vgl. Lessing: „Laokoon oder die Grenzen der Malerei und Poesie“, S. 7-187; S. 555-660.

2

Barthes: La chambre claire.

3

Vgl. Vorwort der Verf. in: Hoffmann/Hülk/Roloff : Alte Mythen – Neue Medien, S. 8.

4

Benjamin: „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“, S. 295-310; vgl. dazu Sigrid Weigel: „Passagen und Spuren des ‚Leib und Bildraums‘ in Benjamins Schriften“, in: dies. (Hrsg.): Leib- und Bildraum. Lektüren nach Benjamin, Köln/Weimar/Wien 1992, S. 49-64.

5

Benjamin, op. cit., S. 297.

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bild6) und auch nicht vorrangig um Analogien zu surrealistischen Bildern, obwohl gerade diese ganz evident zitiert sind in Kubricks Film, der sich, wie schon die Surrealisten selbst, einer Fülle theatraler, phantasmatischer und explorativer Szenen aus dem Bildarchiv, aus dem Fundus des Masken- und Puppenspiels der Moderne und der Vormoderne bedient (Abb. 1-8).7

Abbildung 1: Paul Delvaux: Les dryades, 1966

Abbildung 2: Paul Delvaux: L’escalier, 1946

Abbildung 3: Screenshot, Eyes Wide Shut

6

Vgl. dazu Deleuze, Gilles: L’Image-temps, Paris 1985; Roth, Patrick: Im Tal der Schatten. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a.M 2002; Lommel, Michael: Erinnerung und Dissolve: Zum Gedächtniskino in James Joyce’ Erzählung The Dead“ [im Druck], Erstiý, Marijana: Kristalliner Verfall. Luchino Viscontis Familien-Bilder „al di là della fissità del quadro“, Heidelberg 2008.

7

Vgl. zum Thema der Masken: Freytag, Julia: Verhüllte Schaulust. Die Maske in Schnitzlers Traumnovelle und in Kubricks Eyes Wide Shut, Bielefeld 2007; vgl. auch Arbeitsgruppe München: „Kunst und Todesritual. Handeln auf der Grenze zwischen Leben und Tod“, in: Fischer-Lichte, Erika/Horn, Christian u.a. (Hrsg.): Ritualität und Grenze, Tübingen/Basel 2003, S. 69-90; bes. S. 81ff.

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Abbildung 4: Helmut Newton: Big nudes, 1981

Abbildung 6-8: Venezianische Karnevalsmasken

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Abbildung 5: Helmut Newton: o.T., 1980

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Vielmehr suche ich nach Impulsen und Energien des „Surrealistischen“, die sich, so meine These, im Film Eyes Wide Shut nicht ausschließlich durch die Grundierung des „Surrealen“, sondern über die Re-Inszenierung bildlicher und akustischer Chocs und Überreizungen in ihrer ganzen Kraft entladen.8 Dass es hierbei nicht geht um die zweifelhafte Nobilitierung des historischen Surrealismus im Sinne eines dann schon Klassischen, ja Musealen (wie es z.B. immer wieder Wolfgang Asholt befürchtet9), sondern im Gegenteil um dessen immer noch provozierende ästhetische und intellektuelle Prägnanz und Intensität, versteht sich von selbst. Ich zitiere und übersetze hierzu Breton aus dem „Second manifeste du surréalisme“: […] rappelons que l’idée du surréalisme tend simplement à la récupération totale de notre force psychique par un moyen qui n’est autre que la descente vertigineuse en nous, l’illumination systématique des lieux cachés et l’obscurcissement progressif des autres lieux, la promenade perpétuelle en pleine zone interdite et que son activité ne court aucune chance sérieuse de prendre fin.10 Erinnern wir uns, dass die Idee des Surrealismus einfach auf die totale Wiederherstellung unserer psychischen Kraft abzielt, durch ein Mittel, das nichts anderes ist als der Schwindel erregende Abstieg in unser Inneres, die systematische Erleuchtung der versteckten Orte und die progressive Verfinsterung der anderen Orte, der andauernde Spaziergang inmitten der verbotenen Zone, und dass seine Aktivität keinerlei Chance hat aufzuhören. (Übersetzung W.H.) Es war Michael Imboden, der bereits 1971 in seiner Dissertation mit dem Titel Die surreale Komponente im erzählenden Werk Arthur Schnitzlers11 auf den Traditionszusammenhang der Vermischung von Realität und Traum und dessen Aktualisierung in der Literatur um 1900 hinwies und der zugleich daran erinnerte, dass der ältere Schnitzler sehr aufmerksam die Äußerungen der französischen Surrealisten verfolgt hatte.12 Das wäre, glaube ich, nicht besonders interessant, wenn Schnitzler an ihnen nur entdeckt hätte, was Maurice Nadeau be8

Zur Musik. Kontrast zwischen Salonmusik, „Strangers in the Night“, Schostakovitsch, Waltz No. 2 aus sog. Jazzsuite no.1, Ligetis experimentellem, minimalistischem Klavierstück „Musica ricercata II … mesto, rigido, ceremoniale“ und digitaler Musik.

9

Asholt: „Fotografie und neuer Mythos bei André Breton“, S. 123-138.

10 Breton: „Second manifeste du surréalisme“, S. 791. 11 Imboden: Die surreale Komponente im erzählenden Werk Arthur Schnitzlers. 12 Ebd., S. 124 (Verweis auf ein Gespräch zwischen Schnitzler und George Antheil).

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schrieben hat als „surrealistische Gesinnung“ oder „surrealistische Verhaltensweise“, die zu allen Zeiten vorkomme.13 Interessant erscheint mir der Hinweis erst dann, wenn man unterstellt, dass Schnitzler in den Surrealisten Wahlverwandte entdeckte gerade deshalb, weil sie, Nachgeborene der experimentellen Psychologie und Zeitgenossen Freuds wie er selbst, das durchaus traditionelle, aber um 1900 auch modische, das ebenso romantische wie nachromantische Thema der Abgründe der Seele, der Brüchigkeit der Oberflächen-Realität, der Magie der Dinge in systematischen Versuchsanordnungen zu generieren und zu erforschen suchten, sei es in der so genannten, auf den Psychiater Pierre Janet zurückgehenden „écriture automatique“ (ab 1889), sei es in Freuds „talking cure“. Dann nämlich, so will mir scheinen, löst sich das „Surrealistische“ aus dem bloß „Surrealen“, und die Diagnose des genuin „Surrealistischen“ beim späten Schnitzler wäre dann deshalb erlaubt, weil Albertine und vor allem Fridolin, wie nach ihnen Alice und Bill, von dem „gefährliche[n] Wirbel“, dem „unfaßbar[en] Wind des Schicksals“14 nicht einfach, „und wär’s auch nur im Traum“15, erfasst werden, sondern weil sie ihn entgegen ihren wechselseitigen Beteuerungen begehrend ergreifen, „bang, selbstquälerisch, in unlauterer Neugier“, und das „Hereinbrechen geheimer Bezirke“16 lebens-, wissens- und erzählsüchtig provozieren, exerzieren und aushalten. Und dann erst, aber dann wirklich, kann man die Traumnovelle lesen als freudianisches Experiment17 und zugleich auch, wie es Imboden tut, „als ein Meisterwerk des Schnitzlerschen Surrealismus“18. Als solches ist es, denke ich, nicht einfach eine neue Variante des Schauspiels des Surrealen. Vielmehr bezieht es seine Wirkung erst durch eine radikale, aus historischen Praktiken abgeleitete Durchführung, ein Exerzitium surrealistischer, unheimlicher Selbsterprobung, und es erscheint als ernste „Komödie“ 19 eines ebenso erregenden wie bedrohlichen Défilés von Masken und „Schattengestalten“20 einer „geheime[n] Gesellschaft“21, welche das wandernde Auge, schreckensweit geöffnet und träumend zugleich, in metropolitanischen Irrgärten der Zeitenwenden, in den Labyrinthen herrschaftlicher

13 Ebd., S. 9. 14 Schnitzler: Traumnovelle, S. 61. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Vgl. dazu schon Baumann, Gerhart: Arthur Schnitzler. Die Welt von Gestern eines Dichters von Morgen, Frankfurt a.M./Bonn 1965, S. 29, zit. in Imboden, S. 123. 18 Schnitzler, op. cit., S. 54. 19 Ebd., S. 60, 111. 20 Ebd., S. 60. 21 Ebd., S. 111.

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Sexualordnungen und -orgien sowie den end- und bodenlosen Treppen- und Raumfluchten des eigenen Inneren erblickt. Ich folge bei meiner Lektüre einem Bild, das Freud benutzt in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse22, und ich zitiere es deshalb, weil an ihm jenes „Hereinbrechen innerster Bezirke“, jene Bewegung von Transgression und „Re-Gression“ (freudianisch „Verdrängung“) aufgezeigt werden kann, welche Traum und Realität, Innen und Außen, Surreales und Reales miteinander in eine fluktuierende Beziehung und systematische Rahmung setzt, welche die Dynamik und die Form dieser Erzählung und dieses Films prägen, deren Protagonisten am Ende deshalb ganz wach sind, weil sie die Unterminierung des „règne de la logique“23 das „Andere der Vernunft“ als „Bestandteil der Lebenswelt“24 erfahren haben, weil sie aber auch sehenden Auges und klaren Blicks die Interstitien von Traum und Wirklichkeit, die Fremdheit des eigenen und anderen Ich in Worte fassen – und bei Kubrick in Taten – umsetzen können, die nicht geträumt sind. Bei Freud liest man: Die roheste Vorstellung von diesen Systemen (des Unbewußten und des Bewußten, W.H.) ist die für uns bequemste; es ist die räumliche. Wir setzen also das System des Unbewußten einem großen Vorraum gleich, in dem sich die seelischen Regungen wie Einzelwesen tummeln. An diesen Vorraum schließt sich ein zweiter, engerer, eine Art Salon, in welchem auch das Bewußtsein verweilt. Aber an der Schwelle zwischen beiden Räumlichkeiten walte ein Wächter seines Amtes, der die einzelnen Seelenregungen mustert, zensuriert und sie nicht in den Salon einläßt, wenn sie sein Mißfallen erregen. Sie sehen sofort ein, daß es nicht viel Unterschied macht, ob der Wächter eine einzelne Regung bereits vor der Schwelle abweist oder ob er sie wieder über sie hinausweist, nachdem sie in den Salon eingetreten ist. Es handelt sich dabei nur um den Grad seiner Wachsamkeit.25

22 Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge, S. 293f. 23 Breton: „Manifeste du surréalisme“, S. 316. 24 Vgl. den Ankündigungstext zum Workshop Surrealismus und Film, der am 14. und 15. Dezember 2006 im Rahmen des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs „Medienumbrüche“ an der Universität Siegen stattgefunden hat. 25 Freud, op. cit., S. 293.

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Abbildung 9: Screenshot, Eyes Wide Shut

In der Tat verwendet Freud mit diesem Bild die „roheste Vorstellung“ des psychischen Systems deshalb, weil er sich eines räumlich-organischen Modells bedient, das zur Zeit seiner Vorlesungen 1915/16, wie dem Physiologen, dem Arzt bekannt gewesen sein dürfte, als überholt galt. Gleichwohl ist es ein zwingendes Bild, ist doch augenblicklich deutlich, dass es Freud – wie dann auch Breton – mit der topographischen Metapher nicht vorrangig um Verortungen oder Kartierungen von seelischen Zuständen geht, sondern um Schwellen. Transgressionen und Re-Gressionen (freudianisch: Verdrängungen), um Bewegungsmuster innerhalb der hier metaphorisierten Wiener Bezirke und zwischen jenen „Salons“ und „Vorräumen“, in denen das bürgerliche Subjekt der Jahrhundertwende ebenso zuhause wie unbehaust war, zugleich als Herr, Wächter und Eindringling, oder, wie es an anderer Stelle heißt, als Akteur und Zuschauer der Schauspiele und Szenen des Begehrens.26

Abbildung 10: Salvador Dalí: Visage de Mae West pouvant être utilisé comme appartement surréaliste, 1934/35

26 Vgl. Weber: Freud-Legende, S. 36f.

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Dies ist ein vorrangiges, natürlich auch im Hinblick auf die Geschlechterrollen interessantes Thema27 – ein Thema (in, wie schon Kubrick betonte, geringen Variationen) zweier Jahrhundertwenden und zweier Medien, der Traumnovelle (erschienen 1926), an der Arthur Schnitzler fast zwanzig Jahre lang gearbeitet hat, und des Films Eyes Wide Shut (1999), den Stanley Kubrick fast ebenso lange, und bis zu seinem Tode, im Kopf und vor Augen hatte, und dieses Thema war zweifellos auch ein Incitament des surrealistischen Aufbruchs, der „révolution surréaliste“28 in ihren aufregendsten Zeugnissen und Versuchen, die nicht zuletzt Teil ihrer Arbeit an einer „mythologie moderne“ sind. Deren Spuren möchte ich nun in Eyes Wide Shut nachzeichnen. Stanley Kubrick verlegt die Ehegeschichte aus dem Wien der Jahrhundertwende in das New York des Millenniums und lädt, wie Georg Seeßlen schrieb, ein in den „erste(n) Film, in dem Lacan sich heillos verirren würde“29 – was viel heißen will. Die Besetzung dieses Films ist ein Dreamteam, in den Hauptrollen sieht man das kurzzeitige dreamcouple der glamourösen Traumfabrik. Der Arzt William Harford, dargestellt von Tom Cruise, begibt sich, einen Tag nach dem Besuch eines aufreizenden Winterballs im Hause seines reichen Patienten Victor Ziegler (gespielt von Sydney Pollack) und im Anschluss an ein trunkenes Geständnis seiner Ehefrau Alice (in Gestalt von Nicole Kidman), die ihm ihre erotischen Träume und Erinnerungen offenbart, auf einen ebenso erregenden wie gespenstischen Trip durch das vorweihnachtliche, nächtliche New York City. Was ihn, mit einer „logique de pur fantasme“30, unaufhaltsam vorantreibt, ist das durch die Kränkung hemmungslos freigesetzte – wenn auch zuletzt gezügelte – Verlangen nach sexuellen Abenteuern, das ihn durch die irrlichternden, von Autoscheinwerfern, Neonreklamen und Weihnachtsbäumen gleißenden und blinkenden Straßen Manhattans führt, zu unbekannten, magisch verschlüsselten Orten mit ungewissen Ausgängen: in ein Trauerhaus, in dem die Tochter des Verstorbenen Bill am Totenbett eine Liebesofferte macht; in die Wohnung einer Prostituierten namens Domino, mit der Bill

27 Vgl. dazu Hanuschek, Sven: „Traumnovelle (Arthur Schnitzler – Stanley Kubrick): ‚All diese Ordnung, all diese Sicherheit des Daseins nur Schein und Lüge‘“, in: Bohnenkamp, Anne (Hrsg.): Literaturverfilmungen, Stuttgart 2005, S. 177-184 und Maurer Queipo, Isabel: „Estetica surreale in Doppo Sogno e in Eyes Wide Shut“, in: Cimmino, Luigi/Dottorini, Daniel/Pangaro, Giorgio (Hrsg.): Il doppo sogno di Stanley Kubrick, Milano 2007, S. 69-92. 28 La Révolution Surréaliste, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Centre Pompidou 06.03. – 24.06.2002, hrsg. von Spies, Werner, Paris 2002. 29 epd Film 9/99, s. http://www.filmzentralecom/rezis/eyeswideshutgs.htm. 30 Cahiers du cinéma 538, Schwerpunkt: Eyes Wide Shut, septembre 1999, S. 31

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nur deshalb nicht schläft, weil plötzlich das Handy klingelt und Alice ihn durch diesen Anruf, wie er später erfährt, vielleicht vor einer HIV-Ansteckung bewahrt; in ein Nachtcafé, in dem ihm sein Bekannter Nick Nightingale, ein Pianist, die aktuelle Adresse und das Passwort eines allnächtlich den Ort wechselnden Maskenballs verrät, auf dem dieser mit verbundenen Augen eine „spacy music“ – ein rückwärts gespieltes rumänisches Liebeslied – an einem Mischpult erzeugt, in den Kostümverleih „Rainbow Fashions“ eines zwielichtigen Händlers, der zugleich Zuhälter seiner sehr minderjährigen Tochter ist; zum Herrensitz Somerton, auf dem der Ball stattfindet, zu dem er mit dem Passwort „Fidelio“ Einlass erhält und als Eindringling in Mönchskutte bedroht und errettet wird; zum Hotel Nightingales, der dieses in verdächtiger Begleitung und mit unbekanntem Ziel noch nächtlings verlassen hat; zuletzt, am darauf folgenden Tag, nach einem erneuten drastischen Traumbericht seiner Ehefrau, in den das Szenario auf Somerton eingeblendet scheint, noch einmal atemlos zum Kostümverleih, ins Café und in die Leichenhalle, in der er jene Prostituierte aufgebahrt findet, deren Drogenabhängigkeit er beim Weihnachtsball Zieglers diagnostiziert hatte und die sich beim Maskenball auf Somerton für ihn opfern wollte. In dieser einen Nacht der Eyes Wide Shut, der Nacht der flottierenden Zeichen, nicknames und Masken, der Nacht eines kalkulierten „dérèglement“, einer provozierten Entgleisung und eines geordneten Rückzugs, wird Bill zum Landmann von NYC, der gleich dem „paysan“ Aragons die lockende Wildnis der Welthauptstadt durchstreift, ein Irokese auf den Spuren der neuen Geheimnisse von New York31, die in die Salons potenter Netzwerker32 und in jene Vorräume der Wollust führen, die immer auch das Reich käuflicher Frauen waren. „Neigez, images, neigez, c’est Noël“, „schneit, Bilder, schneit, es ist Weihnachten“, fleht der „Paysan de Paris“33 bei der Odyssee durch die wollüstigen Labyrinthe („labyrinthes voluptueux“34) der „Passsage de l’Opéra“ und des Parks der „Buttes-Chaumont“. Ich zitiere und übersetze Aragon: Sur de longs couloirs qu’on prendrait pour des coulisses d’un théâtre s’ouvrent des loges, je veux dire des chambres, toutes du même côté vers le passage. Un double système d’escaliers permet de sortir plus

31 Evoziert werden hier Eugène Sues Les Mystères de Paris, in denen die nordamerikanische Wildnis James Fenimore Coopers transformiert wird in die Pariser Moderne. 32 Nick/nickname und fake aus dem Netzwerker- und Drogencode; nightingale bei Romeo and Juliet, Hamlet (Dänemark) bei Schnitzler 33 Aragon: Le Paysan de Paris, S. 101. 34 Ebd., S. 25.

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ou moins bien dans le passage. Tout est ménagé pour permettre des fuites possibles, pour masquer à un observateur superficiel les rencontres […] on cherche la signification de cette porte […] où ils se cachent […], ces héros maudits en suspens sur la pointe de leurs pieds entendent encore derrière les portes les soupirs inconscients du plaisir des autres. Par moments les couloirs s’éclairent, mais la pénombre est leur couleur préférée. Qu’une chambre s’entrouvre, et c’est un peignoir ou une chanson. Puis un bonheur se défait, des doigts se délacent, et un pardessus descend vers le jour anonyme, vers le pays de la respectabilité.35 Auf langen Fluren, die man für die Kulissen eines Theaters halten würde, öffnen sich Logen, ich meine Gemächer, alle auf einer Seite zum Durchgang hin. Ein doppeltes System aus Treppen erlaubt mehr oder weniger gut, in diesen Durchgang hinauszugehen. Alles ist so angelegt, dass Fluchten möglich sind, um einem oberflächlichen Beobachter die Begegnungen zu verbergen […] man sucht die Bedeutung dieser Tür […] wo sie sich verstecken […], diese verdammten Helden, angespannt auf ihrer Fußspitze, hören noch hinter den Türen das unbewusste Stöhnen der Lust der Anderen. Möge eine Tür sich öffnen, und es erscheint ein Bademantel oder ein Lied. Dann zerbricht ein Glück, Finger schnüren sich auf, und ein Überzieher steigt hinab in den anonymen Tag, hin zum Land der Respektabilität. Und unermüdlich wandert der Bauer weiter durch die Schilder und Lichter der Großstadt: […] je reviens sur mes pas; la lumière à nouveau se décompose à travers le prisme d’imagination, je me résigne à cet univers irisé. Qu’allais-tu faire, mon ami, aux confins de la réalité?36 […] ich folge weiter meinem Schritt, aufs Neue zerfällt das Licht durch das Prisma der Imagination hindurch, ich füge mich dem schillernden Universum. Was tätest du, mein Freund, an der Grenze der Wirklichkeit? Und gleich ihm geht Bill weiter, vorbei an Leuchtreklamen und Finsternissen, Jäger und Gejagter, durch eine andere Straße, durch Greenwich Village, überblendet mit Alice in den Armen des Marineoffiziers auf Cape Cod, durch die Nacht, und wieder durch eine andere Straße, durch Greenwich Village, durch 35 Ebd. 36 Ebd., S. 63.

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die Nacht usw., Dominos Appartement, Soho, Sonata Cafe, Rainbow Fashions, Brooklyn Bridge, eine Landstraße, vor das Tor der Landresidenz Somerton, die er mit Maske und Mönchskutte betritt, auf den Lippen das ironische Losungswort „Fidelio“ – „wer bleibt hier treu?“ –, und weiter durch die Halle der Etikette, die Vorräume der Ekstase, die große Halle des Minotaurus, des Inquisitors, des Zeremonienmeisters hierogamischer Rituale, die Bill, den Bauern – de celui qui ouvre à tout de grands yeux on dit qu’il sort de sa campagne – gemahnen an die okkulte Urgeschichte der Lust. Bei Aragon heißt es: Voilà donc l’amour, le hiératique amour qui fait la haie sur notre passage. A la recherche du plaisir, ou de quelque confusion innombrable, tout le désespoir humain est là, se pliant à ce rite imaginaire, dans un temple de fusains, où tout se ligue, le froid vif et les regards, contre le culte qu’on y célèbre. Mais je suis un objet de ce culte, ma présence, la nôtre: on croirait voir les candélabres d’argent ciselé en promenade au milieu des autels où cette messe basse est officiée par des prêtres hiératiques soumis à d’étranges canons véritables, dans leurs chapelles de baiser […].37 Dort also ist die Liebe, die hieratische Liebe, die auf unserem Durchgang eine Hecke bildet. Auf der Suche nach der Lust oder nach irgendeiner unzählbaren Verwirrung ist die ganze menschliche Verzweiflung da und beugt sich diesem imaginären Ritus in einem Tempel aus Pfaffenhütchen (oder: Kohlezeichnungen), wo alles sich verbindet (verschwört), die lebhafte Kälte und die Blicke, gegen den Kult, den man dort feiert. Aber ich bin ein Objekt dieses Kultes, meine Präsenz, die unsrige, man würde glauben, Kandelaber aus ziseliertem Silber hin- und hergehen zu sehen inmitten der Altäre, wo diese niedere Messe gefeiert wird von hieratischen Priestern, die fremdartigen wahren Kanongesängen unterworfen sind, in ihren Bumskapellen […]. Es war Walter Benjamin, der im Kontext seines zeitgleich zum Surrealismus konzipierten Passagen-Werks von der physischen und existentiellen Unruhe spricht, die Aragons Paysan de Paris in ihm auslöste, von dem er des Abends im Bett nie mehr als zwei oder drei Seiten habe lesen können, weil sein Herzklopfen dann so stark würde, dass er das Buch aus der Hand legen musste. Es will fast scheinen, als habe Stanley Kubrick beides gekannt, Aragons Paysan de Paris

37 Ebd., S. 178f.

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– ins Englische zuerst übersetzt als Nightwalker38, dann als Paris Peasant39 – und Benjamins Lektüre, Aragons synkretistische „mythologie moderne“, mittels derer er den Alltag verschlüsselt und zugleich das „merveilleux quotidien“ ausstellt und Benjamins Vorstellung eines Leib-Raums, der aufgeladen und beschleunigt, innerviert ist bis zum Zusammenbruch oder bis zum Umschlag in die höchste Klarheit des Wissens. Im Passagen-Werk heißt es: Der Vater des Surrealismus war Dada, seine Mutter war eine Passage. […] Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt. Erwachen ist nämlich die kopernikanische Wende des Eingedenkens. Es ist ein eminent durchkomponierter Umschlag der Welt des Träumers in die Welt der Wachen, […] um so die Gegenwart als Wachwelt zu erfahren, auf die sich jeder Traum bezieht.40 Aragon hat seinen Roman André Masson gewidmet, dem Stiefbruder Jacques Lacans, für dessen buchstäblich skandalöses Courbet-Bild L’origine du monde Masson, um es vor unliebsamen Blicken zu schützen, eine Holzverkleidung in Gestalt einer maskierten Vagina schuf. Masson freilich ist auch einer derjenigen, die, wie auch sein Freund Michel Leiris, wie Georges Bataille und wie vielleicht Salvador Dalí, mit seiner „méthode paranoïaque-critique“41, die äußere und die innere Natur wahrlich gnadenlos durchforstet und nach außen gekehrt haben, um so das Andere der zivilisatorischen Vernunft, die Nacht der Herrschaften und ihre psychisch-sexuellen Mechanismen, die „faune des imaginations, et leur végétation marine“42, die Fauna der Einbildungen und deren Meeresvegetation zu entbergen, zu erforschen und zu manifestieren. Eine Serie wie diejenige der Vingt-deux dessins sur le thème du désir verdankt sich dieser Freisetzung von Energie, und wie das Gemälde Paysage iroquois zeigt, gehört sie dem Projekt jener modernen Mythologie an, welche die Larven, Risse, Abgründe und Wucherungen der zivilisatorischen Ordnung in dynamischen, manchmal grausamen und agonalen Exerzitien und Profanationen43 erprobt, entlarvt und auferlegt, nicht als Repräsentation, sondern als Operation.

38 Brown, Frederic: Nightwalker, Englewood Cliffs 1970. 39 Watson Taylor, Simon: Paris Peasant, Boston [1971] 1994. 40 Benjamin: Passagen-Werk, S. 1057f. 41 Vgl. Maurer Queipo, Isabel/Rißler-Pipka, Nanette (Hrsg.): Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, Bielefeld 2007. 42 Aragon, op. cit., S. 20. 43 Vgl. dazu Agamben, Giorgio: Profanierungen, Frankfurt a.M. 2005.

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Abbildung 11: André Masson: Paysage iroquois, 1942

Für diese Versuche möchte ich an dieser Stelle den amerikanischen Begriff des „gutting“ benutzen, der eine viszerale, ebenso materielle wie geistige „Ausweidung“ oder Ausschlachtung bezeichnet, wie sie sich für mein Empfinden häufig auf Bildern Dalís findet oder in den Filmen Buñuels, als beunruhigende Visualisierung, Präsentifikation und Sektion extremer Wünsche und Ängste. Auch wenn uns ähnlich manische, lepröse oder kadaveröse Bilder in Stanley Kubricks Film erspart bleiben, ist doch auch das Kalkül von Eyes Wide Shut ein vergleichbar radikales Projekt, welches seinen Protagonisten Bill Harford ebenso wie dessen Zuschauer konfrontiert mit dem „Hereinbrechen innerster Bezirke“44 in die Sehordnung und ins Filmbild. Dies gilt umso mehr deshalb, als sich ganz am Ende dieses „Hereinbrechen geheimer Bezirke“ in die Salons der feinen Gesellschaft und aus diesen ins Bild herausstellt als Inszenierung, als „staged“, als „sharade“ und als „fake“45 – als ein freilich robuster Schwindel, der den Eindringling das Fürchten lehrt und erinnert an jene bösen Spiele, mit denen die Surrealisten die Gewissheiten der Wahrnehmung und der bürgerlichen Ordnung durchbrachen und ihrerseits nicht nur die Macht des Imaginären, sondern auch das Imaginäre der Macht46 von innen nach außen kehrten und von außen nach innen, das Begehren farcierten, stopften und zerlegten, bis dass dem Schaulustigen Hören und Sehen vergingen, als Wahn oder als „profane Erleuchtung“ der Wirklichkeit,

44 Schnitzler, op. cit., S. 61. 45 staged, sharade, fake: weist in der Kunst, anders als die Fälschung es tut, auf den gefälschten Status hin, hat also erkenntnisleitenden Charakter durch die Demonstration des „staging“ und ist ein Begriff, der Kritik äußert an der Ideologie des Originals; zum Zusammenhang von Ritual und Theater vgl. Fischer-Lichte, Erika: „Ritualität und Grenze“, in: dies./Horn, Christian u.a. (Hrsg.): op. cit., S. 11-30. 46 Behrens, Rudolf (Hrsg.): Die Macht und das Imaginäre, Würzburg 2005.

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materialisiert im „bleichen Leichnam der vergangenen Nacht“47. Der Schwindel freilich ist eben nicht bloß eine Fälschung, sondern eine „sharade“, ein „fake“, ein Silbenrätsel, eine Pantomime und eine Ausstellung jener psychischen Machtsysteme, die das individuelle und das kollektive Unbewusste besetzen. Das sind doch keine Durchschnittsbürger gewesen. Angenommen, ich würde Ihnen die Namen sagen – ich werde sie Ihnen nicht sagen –, aber wenn ich es täte, dann könnten Sie nicht mehr ruhig schlafen.48 Schlaflos in New York: Es ist eine „eminent durchkomponierte“49, eine der „Doppelnovelle“50 entsprungene „dialektische Feerie“51, die Eyes Wide Shut zu einem aktuellen Manifest jener psychischen, intellektuellen und ästhetischen Unruhe macht, die auch der energetische, ja exorzistische Impuls des Surrealismus war, und in diesem Sinne ist Stanley Kubricks letzter Film eine surrealistische Farce, eine „ernste Komödie“52. Am Ende werfen Alice und Bill einen wachen Blick auf sich selbst und auf Traum und Wirklichkeit einer „verwirrenden Nacht“, deren Wirklichkeit niemals die volle Wahrheit sein kann, so wie der Traum niemals nur ein Traum ist: Alice: Wenn überhaupt, denke ich, dass wir dankbar sein müssten. Und zwar dafür, dass es uns beiden gelungen ist, rauszukommen aus all unseren Abenteuern. Ob sie nun real waren oder nur geträumt. Bill: Und du bist dir da völlig sicher? Alice: Die Frage ist gut. Nur so sicher, wie ich etwas anderes weiß: die Wirklichkeit einer verwirrenden Nacht, sogar die Wirklichkeit unseres gesamten Lebens, kann niemals die volle Wahrheit sein. Bill: Und ein Traum ist niemals nur ein Traum.53

47 Schnitzler, op. cit., S. 27. 48 Kubrick/ Raphael: Eyes Wide Shut/Arthur Schnitzler Traumnovelle, S. 178. 49 Vgl. Benjamin, Passagen-Werk, op. cit., S. 1058 (s. Anm. 41). 50 So der ursprüngliche Titel für die Erzählung. 51 Der Begriff erscheint in einem frühen Exposé (1927), das den Kern des PassagenWerks bildet: Pariser Passagen. Eine dialektische Phantasie, s. Passagen-Werk, op. cit., S. 1117. 52 Vgl. Anm. 19. 53 Kubrick/Raphael, op. cit., S. 184.

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„Was sollen wir tun, Albertine?“ Sie lächelte, und nach kurzem Zögern erwiderte sie: „Dem Schicksal dankbar sein, glaube ich, daß wir aus allen Abenteuern heil davongekommen sind – aus den wirklichen und aus den geträumten.“ „Weißt du das auch ganz gewiß?“ fragte er. „So gewiß, als ich ahne, daß die Wirklichkeit einer Nacht, ja daß nicht einmal die eines ganzen Menschenlebens zugleich auch seine innerste Wahrheit bedeutet.“ „Und kein Traum“, seufzte er leise, „ist nur ein Traum.“54 Und weil sie dieses tun, und weil das letzte Wort hier (in der Originalversion) ein four-letter-word ist, das ebenso unmissverständlich wie doppeldeutig wahrhaftig ist, ist dieser Film ein Film über das Kino, ein Film über Amerika, vor allem aber ein Liebesfilm.

Literaturverzeichnis Agamben, Giorgio: Profanierungen, Frankfurt a.M. 2005. Aragon, Louis: Le Paysan de Paris [1926], Paris 1963. Arbeitsgruppe München: „Kunst und Todesritual. Handeln auf der Grenze zwischen Leben und Tod“, in: Fischer-Lichte, Erika/Horn, Christian u.a. (Hrsg.): Ritualität und Grenze, Tübingen/Basel 2003, S. 69-90. Asholt, Wolfgang: „Fotografie und neuer Mythos bei André Breton“, in: Hoffmann, Yasmin/Hülk, Walburga/Roloff, Volker (Hrsg.): Alte Mythen – Neue Medien, Heidelberg 2006, S. 123-138. Barthes, Roland: La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980. Behrens, Rudolf (Hrsg.): Die Macht und das Imaginäre, Würzburg 2005. Benjamin, Walter: „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“, in: ders.: Gesammelte Schriften II.1, Werkausgabe Bd. 4, hrsg. von Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann, Frankfurt a.M. 1980, S. 295-310. Benjamin, Walter: Passagen-Werk, in: ders.: Gesammelte Schriften, Werkausgabe Bd. 5, hrsg. von Tiedemann, Rolf/ Schweppenhäuser, Hermann, Frankfurt a.M. 1982. Breton, André: „Manifeste du surréalisme“, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, Paris 1988, S. 309-346.

54 Schnitzler, op. cit., S. 128.

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Breton, André: „Second manifeste du surréalisme“, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, Paris 1988, S. 775-828. Brown, Frederick: Nightwalker, Englewood Cliffs, N.J. 1970. Cahiers du cinéma 538, Schwerpunkt: Eyes Wide Shut, septembre 1999. Deleuze, Gilles: L’Image-temps. Paris 1985. epd Film 9/99, auch: http://www.filmzentralecom/rezis/eyeswideshutgs.htm., 10.11.2006. Erstiý, Marijana: Kristalliner Verfall. Luchino Viscontis Familien-Bilder „al di là della fissità del quadro“, Heidelberg 2008. Fischer-Lichte, Erika: „Ritualität und Grenze“, in: dies./Horn, Christian u.a. (Hrsg.): Ritualität und Grenze, Tübingen/Basel 2003, S. 11-30. Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge, Sudienausgabe, hrsg. von Mitscherlich, Alexander/Richards; Angela/Stackey, James, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1969. [Vorlesung: Widerstand und Verdrängung]. Freytag, Julia: Verhüllte Schaulust. Die Maske in Schnitzlers Traumnovelle und in Kubricks Eyes Wide Shut, Bielefeld 2007. Hanuschek, Sven: „Traumnovelle (Arthur Schnitzler – Stanley Kubrick): ‚All diese Ordnung, all diese Sicherheit des Daseins nur Schein und Lüge‘“, in: Bohnenkamp, Anne (Hrsg.): Literaturverfilmungen, Stuttgart 2005, S. 177184. Hülk, Walburga: Vorwort zu Alte Mythen – Neue Medien, in: Hoffmann, Yasmin/Hülk, Walburga/Roloff, Volker (Hrsg.): Alte Mythen – Neue Medien, Heidelberg 2006. Imboden, Michael: Die surreale Komponente im erzählenden Werk Arthur Schnitzlers, Bern/Frankfurt a.M. u.a. 1971. Kubrick, Stanley/Raphael, Frederick: Eyes Wide Shut/Arthur Schnitzler Traumnovelle, Frankfurt a.M. 1999. La Révolution Surréaliste, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Centre Pompidou 06.03. -24.06.2002, hrsg. von Spies, Werner, Paris 2002. Lessing, Gotthold Ephraim: „Laokoon oder die Grenzen der Malerei und Poesie“, in: ders.: Werke VI: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, hrsg. von Albert von Schirnding, Darmstadt 1974, S. 7-187; S. 555-660 (Aus dem Nachlass).

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Lommel, Michael: Erinnerung und Dissolve: Zum Gedächtniskino in James Joyce’ Erzählung The Dead“in: LiLi – Zeitschrift für Linguistik und Literaturwissenschaft [im Druck]. Maurer Queipo, Isabel/Rißler-Pipka, Nanette (Hrsg.): Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, Bielefeld 2007. Maurer Queipo, Isabel: „Estetica surreale in Doppo Sogno e in Eyes Wide Shut“, in: Cimmino, Luigi/Dottorini, Daniele/Pangaro, Giorgio (Hrsg.): Il doppo sogno di Stanley Kubrick, Milano 2007, S. 69-92. Roth, Patrick: Im Tal der Schatten. Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt a.M. 2002. Schnitzler, Arthur: Traumnovelle, in: ders.: Traumnovelle und andere Erzählungen. Das erzählerische Werk, Bd. 6, Frankfurt a.M. 1979, S. 59-129. Watson Taylor, Simon: Paris Paesant, Boston [1971], 1994. Weber, Samuel: Freud-Legende. Drei Studien zum psychoanalytischen Denken, Olten/Freiburg i. Br. 1979. Weigel, Sigrid: „Passagen und Spuren des ‚Leib und Bildraums‘ in Benjamins Schriften“, in: dies. (Hrsg.): Leib- und Bildraum. Lektüren nach Benjamin, Köln/Weimar/Wien 1992, S. 49-64.

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Lena Butz

Tarsem Singhs The Cell – Surrealistische Frauenentwürfe zwischen Traum und Wirklichkeit Apollinaire gab bereits 1917 seinem Theaterstück Les Mamelles de Tirésias den Untertitel drame surréaliste und initiierte damit den Beginn einer Bewegung, die bis heute aktuell ist. Das Stück handelt von einer Frau, Thérèse, die ein Mann werden will, um ein Amt in Wirtschaft, Politik oder Militär zu bekleiden. Daraufhin fliegen ihre Brüste weg, eine blau, eine rot, und sie ist ein Mann, Tirésias. Ihr Mann hingegen muss die Rolle der Frau einnehmen und Kinder gebären. Der Zweiakter ist als „derbe Parodie auf patriotische Parolen“ zu verstehen. Aber er thematisiert auch die latente Angst des Mannes vor einem neuen maskulinen Frauentyp, der die „Grundfeste der patriarchalischen Gesellschaft“ ins Wanken zu bringen droht.1 Die Darstellung der Frau ist eines der Hauptthemen der surrealistischen Künstler. Auffällig ist jedoch, dass nie eine „normale“ Frau gezeigt wird, sondern traumartige Wesen, mitunter entartet, teilweise reduziert auf typisch weibliche Attribute. Die Frau wird dämonisiert oder fetischisiert. Einmal tritt sie dem Betrachter als allmächtige Göttin entgegen, dann wieder als femme fatale, deren weiblichen Reizen sich der männliche Betrachter kaum entziehen kann. Die reale Frau dient vielen Surrealisten zwar als Quelle der Inspiration, z.B. Gala, Dalís Frau, von der viele ein Foto bei sich trugen. Dennoch erscheint sie stets defiguriert im surrealen Gewand, wie Angela Lampe feststellt: Die Frau im Surrealismus mutiert zu einem hybriden, nahezu außerirdischen Wesen mit neuartiger Anatomie. Die surrealistischen Künstler verwandeln sie in eine Kunstfigur, deren lebensnotwendige Gliedmaße abgetrennt und durch animalische oder botanische Prothesen ersetzt werden.2 Eine weitere Verfahrensweise, die Frau darzustellen, ist die Transformation ins Puppenhafte. In Hans Bellmers Fotoserie Les Jeux de la poupée (1949) setzt er den Frauenkörper neu zusammen, ohne Kopf, aber mit doppeltem Geschlecht. So entsteht nach Lampe „Aus der Zerstückelung und Collagierung des weiblichen Körpers […] ein erotisch-pornographisches Ungeheuer.“3 Die 1

Vgl. Lampe: „Größter Schatten oder größtes Licht“, S. 29f.

2

Ebd., S. 34.

3

Ebd., S. 92.

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Lena Butz | Tarsem Singhs The Cell

Rollen der Frau sind zwar vielfältig, aber niemals wird sie als dem Mann gleichwertig angesehen. Als Sinnbild und Höhepunkt einer solchen Transformation kann die internationale Surrealismus-Ausstellung von 1938 gelten, bei der sechzehn Surrealisten Schaufensterpuppen dekorierten.4

Verrätselung statt Enträtselung Die neuen Frauenentwürfe rekurrierten gleichsam auf die Thesen der Psychoanalyse, des Traums, der Zerstückelung und Fragmentierung. Das, was die Surrealisten an Freud5 interessierte, war die Erforschung des Unbewussten, des Traums. Jedoch knüpften die Surrealisten an das eigene Unbewusste an und wollten im Gegensatz zu Freud nicht analysieren. Freud schob ältere Traumdeutung in Märchen und Mythen etc. beiseite, die seiner Meinung nach nur spekulativ und deshalb nicht wissenschaftlich sei und setzte seine Methode der Traumdeutung als die einzig richtige dagegen. Die Surrealisten aber wandten sich gerade dem Mythischen und Märchenhaften wieder zu. Sie waren der Meinung, dass man nicht mit der Vernunft auf Lösungen kommen kann und stellten Motive direkter Aufschlüsselung in Frage. Die Erkenntnisse, die Freud wiederum über die Sexualität gewann und mit denen die Surrealisten teilweise übereinstimmten, lösten eine Revolution im medizinischen Diskurs aus. Sie waren fasziniert von seinen „unglaublichen“ Erkenntnissen über das von der Gesellschaft tabuisierte Thema Sexualität. Dazu gehören z.B. seine Theorien über frühkindliche Sexualität, mit der der Ödipuskomplex einhergeht. Das Begehren ist bei Freud ein Trieb und damit biologisch bedingt, also naturwissenschaftlich fassbar. Bei den Surrealisten ist nicht das Biologische/Faktische, sondern die Welt des Imaginären das Reizvolle. Motive und Themen von Freud und der Psychoanalyse werden zwar aufgegriffen, allerdings treiben die Surrealisten nur ein Spiel damit. Diese werden ständig variiert. Das Ziel der Surrealisten besteht schließlich darin zu verrätseln, statt wie Freud zu enträtseln. Während Freud die Traumbilder und -texte zur Heilung seiner Patienten zu enträtseln suchte, bekundeten die Surrealisten andererseits bereits früh ihre Freude an eben diesen disparaten, surrealen Bildern, ihrer Rätselhaftigkeit und Mehrdeutigkeit, die als konstituierende, neben weiteren [auch hier] vertretenen Elementen des Surrealismus her4

Ebd., S. 98.

5

Vgl. Freud: Die Traumdeutung.

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vorzuheben ist, wie ihre Begeisterung am Märchen und Mythos, an Maskerade, Masken und Fetischen, am Spiel der Identitäten und an sexuellen Spielformen, an Puppen und an der femme fatale und der femme-enfant, an Traum und Wahn.6

Traumästhetik im Film Da der Traum und seine besondere Ästhetik eine reiche Quelle des Kryptischen, Rätselhaften darstellt, avanciert der Film schnell zum präferierten, da traumanalogen, Medium. Im Traum ist man zugleich „Regisseur, Schauspieler und Zuschauer“.7 Man spielt verschiedene Rollen, während man unbewusst Inszenierungen entwirft und gleichzeitig Betroffener ist. Der Film verfügt gleichsam über technische Möglichkeiten, Spielformen zu entwickeln, um Traumhaftes darzustellen. Schnitt- und Montagetechnik geben diesem Medium hervorragende Möglichkeiten, um „das Kino in unserem Kopf“8 zum Ausdruck zu bringen. Es wird möglich, vermeintlich Unvereinbares miteinander zu verbinden. Der surrealistische Film soll Träume imitieren, und darüber hinaus als „Katalysator und Generator jener Bilder [fungieren], die der Filmzuschauer aus seinem eigenen Imaginären, seinem Bildrepertoire erinnert, vermischt, fragmentiert und überlagert“9. Der Traum kombiniert disparate Gegenstände, spielt mit Raum und Zeit, die sich dehnt oder beschleunigt; der Raum wird entgrenzt oder verdichtet. Die Sinne können verstärkt wahrgenommen und verschachtelt werden. Der Traum ist Ausdruck sexueller Phantasien, Wünsche, Begehren und Gefühle; er lebt von der Schnelligkeit der Verwandlung und chaotischer Ubiquität, von Diskontinuität und Fragmentierung. Genau diese Verfahrensweisen des Traums nutzten die Surrealisten bewusst für ihre Kunstproduktion, die am ehesten im Film umgesetzt werden können. Hierfür ist auch der Film The Cell beispielhaft anzuführen, der von seinen bizarren Traumbildern lebt, die Tarsem Singh inszenierte. Ein weiteres Traumelement, das sich die Surrealisten zunutze machten und in Filmen häufig Verwendung findet, ist das Karnevaleske, Absurde und

6

Maurer Queipo: „Surreale Ästhetik in der Traumnovelle von Arthur Schnitzler und in Stanley Kubricks Literaturadaption Eyes Wide Shut“, S. 2.

7

Vgl. Lenk: Kritische Phantasie, S. 142.

8

Roloff: „Intermedialität als Forschungsparadigma Allgemeiner Literaturwissenschaft“, S. 121.

9

Roloff, Volker: „Groteske Gesichter in surrealistischen Bildern und Filmen“, S. 156.

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Groteske, das man z.B. auch bei Salvador Dalí findet.10 Es ist die Freude an Vermischungen, bizarren Darstellungen von Menschen und Tieren, Fabelwesen und Pflanzen, die schon im Spätmittelalter oder im Barock zu finden sind und von bedeutenden Vorbildern wie bei Hieronymus Bosch prägnant visualisiert wurden. Der frühe surrealistische Film (Buñuel, Cocteau, Dalí) konfrontiert den Zuschauer mit immer neu auftauchenden Bildern, die er einzuordnen versucht, letztendlich aber daran scheitern muss, da Sinnzusammenhänge aufgelöst werden. Er findet sich nicht mehr zurecht. Dagegen bietet beispielsweise Hitchcocks Spellbound (1945), für dessen Traumsequenzen Dalí engagiert wurde, am Ende des Films eine Problem lösung im Sinne Freuds und nicht im Sinne der Surrealisten. Auch andere Regisseure wie David Lynch, Lost Highway (1997), Mulholland Drive (2001), Blue Velvet (1986), der sich gleichsam den Abgründen menschlichen Lebens widmet, verwenden in ihren Filmen Traumelemente. Einige Filme, die sich surrealistischer Elemente bedienen, führen jedoch zu einer Auflösung mit Tendenz zum Happy End, wie Eyes Wide Shut (1999) von Stanley Kubrick. Die Radikalität des Surrealismus geht dabei verloren. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Produktionskosten ins Unermessliche wachsen können. Außerdem sehnt sich der (konventionelle) Zuschauer nach einem Happy End. Dieser Kategorie ist auch The Cell einzuordnen.

Tarsem Singh: The Cell Das „synaptische Transfersystem“ Ein schwarzer Rappe galoppiert durch eine endlose Dünenlandschaft. Auf seinem Rücken sitzt eine engelsgleiche Erscheinung, die bald ihr Ziel erreicht: das Gespräch mit einem Jungen namens Edward, der sie mit einem kleinen Spiegel angeblinkt hat. Das Besondere daran ist, dass sich die junge Frau im Unterbewusstsein des Kindes befindet. Die Kargheit der Wüste in der Einstiegssequenz, verpackt in atemberaubende Bilder in Verbindung mit ungewöhnlicher Musik, stellt bereits eine kleine Kostprobe auf das dar, was den Zuschauer in der zweiten Hälfte des Films erwartet: ein bizarrer Trip in die grausige und zugleich wunderschöne Traumwelt eines schizophrenen Serienkillers, der die folgende Analyse gilt.

10 Vgl. zu Dalí: Maurer Queipo/Rißler-Pipka (Hrsg.): Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, Bielefeld 2007.

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Die Story von The Cell11 ist eher zweitrangig. Es ist die phantastische und verstörende Optik, die diesen Film aus der Masse heraushebt. Der indische Regisseur Tarsem Singh hat sich zusammen mit seinem Autor Mark Protosevich und seinem Kameramann Paul Laufer auf seine Videoclip-Qualitäten besonnen und fabelhafte (Alp-)Traumwelten geschöpft, in denen eine Überraschung auf die nächste folgt. Was in Starghers Kopf vorgeht, ist ein Theater der Groteske, das, so wie es sich der zum ersten Mal Regie führende Singh vorstellt, eine Zusammenstellung des Surrealen ist. Die surreale Welt, in die der Zuschauer entführt wird, findet ihre Umsetzung im Traum. Genauer gesagt, geht es um freudsche Traumdeutung, da der Zuschauer zusammen mit der Psychologin Catherine Deane (Jennifer Lopez) in die tiefsten Welten des Unterbewusstseins des Killers vordringt, die es zu entschlüsseln gilt. Dies geschieht mittels eines vor sieben Jahren erfundenen „synaptischen Transfersystems“12, mit dem sich Catherine zunächst in das Unterbewusstsein des im Koma liegenden Kindes Edward Baines (Colton James) versetzen lässt. Sie tut das bereits seit einigen Monaten im Rahmen eines von Dr. Miriam Kent (Marianne Jean-Baptiste) geleiteten Projekts, mit dem der Junge ins Leben zurück geholt werden soll. Währenddessen versuchen die FBI-Agenten Peter Novak (Vince Vaughn) und Gordon Ramsey (Jake Weber) fieberhaft, einen Serienmörder zu ergreifen, der in immer kürzer werdenden Abständen sieben junge Frauen sexuell missbraucht und getötet hat. An der siebten Leiche findet die Polizei ein Haar, das der Gerichtsmediziner Dr. Reid (Pruitt Taylor Vince) für das eines AlbinoHundes hält. Da der perverse Mörder alle seine Leichen bleicht, könnte es durchaus zutreffen, dass der Hund zu ihm gehört. Während der Sexualmörder sein achtes Opfer Julia Hickson (Tara Subkoff) aus einer Tiefgarage entführt, kommt die Polizei durch eine Züchterin, die vor drei Jahren einen Albino-Schäferhund-Welpen verkauft hat, auf die Spur des Täters. Sein Name ist Carl Rudolph Stargher (Vincent D’Onofrio). Unmittelbar bevor die Polizei sein Haus stürmt, bricht Carl aufgrund einer seltenen Form von Schizophrenie zusammen und fällt ins Koma. Zur Enttäuschung von Peter Novak und Gordon Ramsey finden sie Julia nicht auf dem Grundstück. Dafür entdecken sie im Keller ein Video, auf dem zu sehen ist, wie eines der Opfer des Psychopathen in einer nur zentimeterweise, aber unaufhaltsam voll Wasser laufenden Glaszelle („the cell“) verzweifelt um Hilfe schreit. Außerdem stoßen sie auf eine Hebevorrichtung, die offenbar im Zusammenhang mit den Metallringen steht, die in der Haut von Carls Rücken

11 DVD: The Cell. 12 Zitat aus The Cell.

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steckten: Damit hängte der sadomasochistische Psychopath sich wie ein Fakir in die Ketten der Spezialanlage und hob sich über die nackten, gebleichten, auf dem Rücken liegenden Leichen seiner Opfer.

Carls Puppenspiel Das Zimmer ist voll von skurrilen Objekten, die auf den Fetisch des Killers hinweisen: Überall sieht man nackte gebleichte Puppen, darunter auch Barbies, die teilweise von hinten kopulierend angeordnet sind. Daneben steht ein kleiner Junge, ebenfalls in Form einer Puppe, nackt und mit Blut verschmiert, dessen Augen durch eine schwarze Sichtblende verdeckt sind. Vor ihm befinden sich drei Glasdildos. Andere Puppen wiederum wurden enthauptet, um ihnen dann einen Vogelkopf, oder auch nur das Skelett dessen, aufzusetzen. Ein anderes nacktes Objekt hat anstelle eines Gesichts nur eine Aushöhlung aufzuweisen und zwischen seinen Beinen ist ein Vogelnest mit Eiern platziert. Ausgestopfte Vögel in Glaskästen, aber auch „freifliegende“ Attrappen fügen sich in dieses Horror-Kabinett ein (Abb. 1a-d). Dieses Szenarium verweist bereits darauf – auch wenn es sich hier um eine krankhafte Persönlichkeit, die Schizophrenie, handelt – worum es hier geht: die Frau, erhoben zum Fetisch, die nach Freud, und eben auch im Surrealismus, zum idealisierten oder dämonisierten Fantasieobjekt erhoben wurde.13 So erinnert bereits diese Darstellung an surrealistische Kunstwerke, in denen das „Unheimliche“ der Frau zum Ausdruck kommt und die Frauenkörper einem „lustvollen Spiel von Destruktion und Rekonstruktion unterzogen wurden“14. Diese Mischwesen aus Mensch und Tier wurden u.a. von surrealistischen Künstlern wie René Magritte, Félix Labisse (Abb. 2) oder Wilhelm Freddie, geschaffen, deren Mischwesen zwischen anziehender und Furcht einflößender Körperlichkeit oszillieren. Bis heute wird den männlichen Surrealisten aufgrund dieser Metamorphosen des Frauenkörpers Misogynie vorgeworfen. Rudolf E. Kuenzli sieht in diesen Darstellungen nichts anderes, als dass der surrealistische Künstler den weiblichen Körper „fetischisiert […], manipuliert, entstellt, ja misshandelt […], um seine Kastrationsangst zu überwinden und seinem eigenen Ego Auftrieb zu geben.“15

13 Bronfen: „Erschreckende Bilder vertrauter Art“, S. 124. 14 Vgl. Lampe: „Größter Schatten oder größtes Licht“, S. 33. 15 Ebd., S. 35.

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Abbildung 1a-d: Screenshots, The Cell

Abbildung 2: Félix Labisse Das Glück, geliebt zu werden (1943)16

16 Bronfen: „Erschreckende Bilder vertrauter Art“, S. 124.

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Dieser Vorwurf erscheint jedoch zu pauschal – denn viele Surrealisten, wie Ernst, Dalí, u.a. stellen die Frau als vergötterte Traumwesen dar, die sie verehren, entziehen ihr jedoch gleichsam ihre Stellung als „reale“ Frau. Trotzdem bewahrheitet sich Kuenzlis Theorie m. E. bei Carl Stargher, dem Serienkiller, wie sich noch herausstellen wird. Im weiteren Verlauf des Films wird der Zuschauer Schritt für Schritt mit der Gedankenwelt des Killers vertraut gemacht, in der er auch eine Erklärung für sein „abnormales“ Verhalten erfährt. Da Novak und Ramsey wissen, dass jeweils vierzig Stunden zwischen der Entführung und dem Tod der Frauen vergingen, nehmen sie an, dass Julia noch lebt – aber die Zeit droht ihnen davonzulaufen. Nach Aussagen des Arztes ist Stargher „nicht nur katatonisch“. Er tritt weg, „als hätte er einen Traum, aus dem er nicht mehr erwacht – und zwar für immer“17. Als sie von der neuen Möglichkeit erfahren, in die Gedankenwelt eines Komapatienten vorzudringen, lassen sie Carl in Henry Wests Klinik bringen. Catherine, von der das ganze Unternehmen abhängt, äußert vorerst Bedenken: „In schweren Fällen ist es den Betroffenen nicht möglich, zwischen Phantasie und Realität zu unterscheiden.“18 Genau dieses Zerfließen der Grenzen stellt ein Faszinosum des Surrealismus dar. Es liegt nun an ihren empathischen Fähigkeiten, Vertrauen zu Carl aufzubauen und von ihm die notwendige Information zu erfahren. Das neurologische „Kontakttransfersystem“, mit dem sie in Carls Gedankenwelt vordringt, liefert nicht nur Abbildungen der Gedanken, es sendet auch Signale an sein Gegenüber. Das heißt, man kann sich einklinken, wobei es wesentlich mehr ist, als nur ein Einklinken, man wird ein Teil der Vorstellung. Dabei tritt jeweils nur ein Part in die Gedankenwelt des anderen. Die Welten der Partizipierenden werden also nicht vermischt. In diesem Fall dringt Catherine in das Gehirn des Kranken ein. In ihrer Hand hat sie ein Mikrochip implantiert, der auf Berührung reagiert, wenn sie die Sitzung beenden will oder wenn es ihr zu intensiv wird.

Traumästhetik in The Cell „Der Film, so formuliert es Kracauer, macht sichtbar, was wir zuvor nicht gesehen haben oder vielleicht nicht einmal sehen konnten.“19 Die insgesamt vier Traumsequenzen in Carl Starghers Gedanken bieten dem Betrachter eine bizarre Bilderorgie in virtuoser Umsetzung mit den Mitteln des 17 Zitat aus The Cell. 18 Ebd. 19 Roloff: „Groteske Gesichter“, S. 168.

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Films: Die Überlagerung von Bildern, Zeitraffer und Beschleunigung, der Einsatz von Ton, Farbe und Licht sowie die Kamerafahrten sorgen für eine grandiose Traumästhetik. Jede Szene in den Köpfen der Protagonisten stellt eine audiovisuelle Kreativitätsexplosion dar, die den Rahmen der Leinwand zu sprengen droht. Singh schöpfte das Potenzial des Films auf formeller Ebene umgehend aus und modellierte so eine surrealistische Ästhetik mit ihren Verfremdungen und Verzerrungen, der Kreation unheimlicher und seltsamer Atmosphären durch disparate Kombinationen im tonalen und visuellen Bereich. Das Medium Film faszinierte gerade deswegen auch schon die Surrealisten, da das filmische Instrumentarium für die Darstellung ihrer Theoreme, des Traums, des Traumhaften, des Unbewussten, der Auflösung von Zeit, Raum und Logik, am nächsten kam.20 Der Traum in The Cell lässt beim Betrachter den Eindruck entstehen, dass es sich um einen „realen“ Traum handelt, dessen phantastische Bilder in Kombination mit dem Inhalt den Atem des Zuschauers stillstehen lassen. Natürlich ist er inszeniert, aber dieser Film hat den Anspruch, den Traum „real“ und nachvollziehbar zu gestalten. Aus marketingstrategischen Gründen bedient er am Ende die Hollywoodobsession der Lösungslieferung – gegen das sich Regisseure wie z.B. Lynch durch Sinnentzug vehement wehren.

Visualisierte (Alp-)Traumwelten als freudsche Psychotherapie Traumsequenz (1): Sexmarionetten – Carls Krankheitsbild Die erste der vier Traumsequenzen im Film konfrontiert den Zuschauer mit der ganzen Grausamkeit und den Abgründen von Carls Persönlichkeit, aber er lernt auch das scheue Kind Carl kennen. Als Catherine den ersten Einstieg in Carls Gedankenwelt unternimmt, wird sie erst durch eine Wassertaufe katapultiert, umgesetzt durch eine virtuose Kamerafahrt, die den Raum und die Gesetze der Schwerkraft aufzulösen scheint, bis sie auf einem nassen Boden zu sich kommt. Ein weißer Hund schüttelt sich in Zeitlupe, in weiter Ferne sieht man einen kleinen Jungen auf einer scheinbar endlosen Treppe, die dem bizarren Werken Piranesis21 bzw. M.C. Eschers entnommen sein könnte. Die Psy-

20 Vgl. Maurer Queipo: „Surreale Ästhetik in der Traumnovelle von Arthur Schnitzler“, S. 8. 21 Vgl. zum Werk Piranesis v.a. Kupfer: Piranesis Carceri – Enge und Unendlichkeit in den Gefängnissen der Phantasie; Das Motiv des Labyrinthischen spielt ebenfalls eine bedeutende Rolle im Surrealismus.

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chologin folgt ihm in einen Raum, dessen Wände mit lauter Uhren behangen sind. In der Mitte des Raumes steht ein Pferd. Das Ticken der Uhren wird plötzlich überlaut, ein Countdown läuft ab und das Kind schafft es gerade noch, Catherine vor dem Tod zu bewahren, indem es sie vom Pferd wegstößt, das in mehrere Stücke zerteilt wird, als von der Decke zahlreiche Glasplatten herabsausen. Verstört läuft der Junge weg, Catherine folgt ihm. Sie gelangt in einen Raum, der, wie sich im weiteren Verlauf herausstellt, einem (Grusel) Puppenkabinett von E.T.A. Hoffmann gleicht, in das der Erwachsene Stargher seine Opfer eingebaut hat (Abb. 3a-m).

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Abbildung 3a-m: Screenshots,The Cell

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Die stöhnenden Sexmarionetten dieses sadomasochistischen Horrorszenarios haben alle etwas gemeinsam: Sie tragen einen Kragen aus Metall, der sie zum Eigentum von Carl macht. Jedes der sieben Opfer ist in einer Art Stillleben inszeniert, das an ein Wachsfigurenkabinett mechanischer Puppen erinnert. So fungieren sie als intermediale Rekurrenz auf die (prä)surrealistischen Werke Hieronymus Boschs, Hans Bellmers, aber auch auf die statischen Bilder weiblicher Nacktheit, Réne Magrittes, Paul Devaux’ und Helmut Newtons, die die Frau als (Kunst)Objekt fest- und im Kunstwerk stilllegen.22 Die unheimliche Puppenhaftigkeit wird nicht nur dadurch erzielt, dass alle Frauen mit Chlor gebleicht wurden – womit ebenfalls das Klischee der unschuldigen Jungfrau erweckt wird. Einige ihrer weiblichen Attribute wurden noch verstärkt durch „Barbie-Montage“ hervorgehoben: Eine Puppe trägt eine Maske über ihrem Gesicht, die Barbie kopiert: lange blonde Haare, übergroße blaue Augen mit langen Wimpern und knallroter Lippenstift. Dieses Motiv ist auch teilweise bei den anderen Puppen zu finden. Ist es nicht die Maske über dem Gesicht, so sind Teile des Gesichts entstellt. Einem anderen Opfer wurden die Haare an einigen Stellen ausgerissen, wodurch große Löcher im Kopf entstanden, eben wie bei einer Puppe. Ein Auge ist schwarz ausgehöhlt, während das andere aus einem Barbie-Auge blickt. Alle Frauen sind gefesselt und die „Bodybuilderin“, die außer ihren langen blonden Haaren sonst keine Weiblichkeit verkörpert, hat überdimensional große Brüste (alle Abb. 18). „Eine Beschwörung männlicher Kastrationsangst, […], eine misogyne Reduzierung der Frau auf typisch weibliche Attribute – lange Haare, lange Fingernägel, lange Beine […] – entsteht“23, dazu entblößte Brüste, Pumps, große blaue Augen, lange Wimpern. Diese Puppendarstellungen erinnern gleichsam an Hans Bellmers erwähnte Fotoserie La Poupée (1934) (Abb. 19). Der Künstler inszenierte die Puppen bereits in erotischen Posen, die teilweise an Unterwerfung und Vergewaltigung denken lassen.24 Auch das Werk Wilhelm Freddies (Abb. 20) kann als Vorlage für die Bilder aus The Cell dienen.

22 Maurer Queipo: „Surreale Ästhetik in der Traumnovelle Arthur Schnitzler“, S. 11. 23 Lampe: „Größter Schatten oder größtes Licht“, S. 28. 24 Vgl. ebd., S. 92.

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Abbilung 4: Hans Bellmer, La Poupée, 1934

Abbildung 5: Wilhelm Freddie, Zola and Jeanne Rozérot, 1938

Bevor Catherine einer der entstellten Frauen helfen kann, die ihr die Arme entgegenstreckt, wird sie von der „Bodybuilderin“, die während Catherines „Rundgang“ aus ihrer Zelle gestiegen ist, gepackt und Carl zum Opfer gebracht. Auch diese Szene stellt einen visuellen Höhepunkt dar: Carl, „von dem nichts mehr da ist, außer einer idealisierten Variante seiner Selbst“, dessen Umhang den gesamten Saal umspannt, „tritt als ein König über ein Reich völlig bizarrer Form auf, wo er alles ausleben kann“25. Kamera und Ton – Carls Stimme ist an dieser Stelle seltsam verzerrt – Maske und Kostümabteilung übertreffen sich hier gegenseitig und erschaffen mit immer neuen, schillernden und berückenden Szenarien eine surreale Ästhetik. Diese Freude an den „besonderen Möglichkeiten des Films, solche Metamorphosen, Konfusionen und grotesken Verwandlungen darzustellen“26, zeigten auch schon früh die Surrealisten. „Der Film ist, wie Cocteau erkennt, das beste Medium, um das Groteske, die Visualität und Theatralität der Träume zum Ausdruck zu bringen, das Gleiten und die Kontingenz, die Rätselhaftigkeit der Bilder des Traums.“27 Gerade rechtzeitig schafft es Catherine mit Hilfe des Mikrochips Carl zu entrinnen, womit sie wieder in der Realität ist. Völlig verstört von den perversen Gedanken, die sie gesehen hat, weigert sie sich, zurückzukehren. Novak appelliert mit einer Geschichte aus seiner Vergangenheit an ihre Vernunft. Da eine kleine Chance besteht, über das Kind Carl den Aufenthaltsort von Julia zu erfahren, wagt Catherine einen zweiten Versuch. 25 Zitat aus The Cell. 26 Roloff: „Groteske Gesichter“, S. 170. 27 Ebd.

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Traumsequenz (2): „Das Heim des Bösen“ – Kindheitstrauma Während der erste Traumeinstieg das Krankheitsbild von Carl vorführte, werden in der zweiten Traumsequenz die Ursachen für Carls Verhalten aufgezeigt. Das Rätsel um diese Grausamkeit kann mittels freudscher Traumdeutung gelöst werden. Bevor Catherine abermals die Reise auf sich nimmt, scheint die Gedankentransfusion nicht zu funktionieren. Ihre Kollegen erklären, dass der Stromkreis gestört sei. Als Catherine noch einmal aufstehen muss, um dies zu regeln, passiert etwas Seltsames. Während sie zurückgeht, verändert sich die Raumillusion, ihr Körper ist im Verhältnis viel kleiner als der Raum, und, noch absurder, sie sieht sich selber noch auf der Liege, die sie ins Unterbewusstsein befördert. In Wirklichkeit sind Traum und Realität an dieser Stelle schon verschwommen und sie ist längst in Carls Kopf, was einen Hinweis auf das Kommende gibt. Mit einem plötzlichen Schnitt findet sich die Therapeutin in einem Glaskasten wieder, „the cell“. Der Deckel öffnet sich und sie fällt scheinbar entgegen der Logik und Schwerkraft nach oben, was in Wirklichkeit aber unten ist, heraus. In Zeitlupe landet sie auf dem Boden. Daraufhin begibt sie sich in das Haus, in dem sie den kleinen Carl an einer Spüle vorfindet. Als ihm ein Teller entgleitet, sperrt er Catherine in einen Spind, aus dem sie die folgende Szene beobachten kann: Carl spielt mit Puppen. Als sein Vater das sieht, ist er außer sich: „Puppen sind was für Mädchen, du Weichei. Willst du mal ein Mann werden? Ich hätte dich ertränken sollen wie die Katze.“ Daraufhin schaltet sich die Stiefmutter ein, die ihn vor den Schlägen des Vaters beschützen will: „Er ist doch noch ein kleiner Junge.“ „Halt’s Maul, du bist nicht seine Mutter.“ Und zu Carl: „Sie ist nicht deine Mutter. Sie hat uns sitzen lassen. Vergiss das nie.“ Er reißt die Beine der Frau auseinander und schreit: „Siehst du das? Das ist das Heim des Bösen. Töte es, bevor es dich tötet!“28 Der Vater schimpft weiter auf das Kind ein und peitscht es mit dem Gürtel: „Kleine Schwuchtel! Ich zieh doch keine Schwuchtel groß!“29 Dann verbrennt er sein Kind mit einem Bügeleisen. Die Frau wird deutlich degradiert. Er warnt sein Kind vor der Frau, deren weibliche Reize, insbesondere ihr Geschlechtsteil, zwar auf der einen Seite Begehren auslösen, dem er selbst nicht widerstehen konnte, aber nur Unheil an-

28 Hier sei auf den von Freud geprägten Begriff des dunklen Kontinents zur Bezeichnung des Weiblichen verwiesen. Vgl. hierzu v.a. Rohde-Dachser: Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse, Berlin, Heidelberg u.a. 1991. 29 Zitate aus The Cell.

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richten. Dieses Oszillieren zwischen Lust und Verbot löst auch Unbehagen beim Betrachten surrealistischer Werke aus. „Anbetung geht in Angst über, Faszination kippt um in Furcht. Der Betrachter wird permanent mit der Ambivalenz weiblicher Gefährlichkeit in lustvoller Inszenierung konfrontiert.“30 Dieser Einblick, den der Zuschauer, wie auch Catherine, aus dieser Szene gewinnt, deckt einen Teil des Geheimnisses für Carls Fetisch auf: die Puppen und die Bestrafung für das Spiel mit ihnen. Schritt für Schritt wird der Zuschauer an der Hand geführt und kann die Gründe für Carls Persönlichkeit wie ein Puzzle zusammenfügen: Der Killer ist ein missbrauchtes Kind gewesen, dessen Vater ihn regelmäßig dafür züchtigte, dass er mit Puppen spielte und gleichzeitig immer vor dem Horror der Frauen warnte. Deswegen lässt er seinen Zorn an der Frau aus, die schwächer ist als er und baut sie in sein Puppenkabinett ein, weil er sie zwar verehrt, aber gleichzeitig verabscheut. Nach dieser Szene verwandelt sich der Spind in das Zimmer von Carl, in dem er mit seinem ersten Opfer sitzt, das ausgeblutet in der Badewanne liegt. Der Killer erzählt Catherine, dass er Angst hatte, bei seiner Taufe zu ertrinken. Keiner hätte geholfen – ein weiterer Hinweis für die Verfahrensweise mit seinen Opfern. Danach passiert das, was sich schon beim Einstieg in den Traum angekündigt hatte. Catherine hält die Traumwelt, ganz im Sinne des Surrealismus, für real, was bedeutet, dass „theoretisch ihr Verstand ihrem Körper einreden kann, das alles, was ihm dort angetan wird, tatsächlich geschieht“.31 So könnte der alte Aberglaube, dass, wenn man im Traum stirbt, auch im Leben stirbt, zur Gefahr werden. Solange sie zwischen Phantasie und Realität nicht unterscheiden kann, ist Catherine in den Gedanken von Carl gefangen.

Traumsequenz (3): Enträtselung des Plots Die dritte Traumsequenz löst endgültig das Rätsel um den Aufenthaltsort von Julia. Um die Therapeutin zurückzuholen, wird Novak als zweite Person in Carls Gedankenwelt eingeschaltet. Was ihn dort erwartet, gleicht einem orientalischen Festsaal aus Tausendundeiner Nacht32 und bildet eine weitere visuelle Klimax. Catherine, zu der Novak mit Worten nicht durchdringen kann, ist als Konkubine an einem riesigen Himmelbett festgekettet (Abb. 21). Sie scheint die Worte von ihm gar nicht zu hören, die wie von weit her hallend an ihr Ohr heran dringen. Ihr einziges Bestreben liegt in der Verführung. Die sur30 Lampe: „Größter Schatten oder größtes Licht“, S. 35. 31 Zitat aus The Cell. 32 Vgl. zur Faszination des Mythos und des Märchenhaften im Surrealismus Roloff: „Anmerkungen zur neuen Mythologie der Surrealisten“.

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reale Traumästhetik wird an dieser Stelle besonders unterstrichen, da nur die unterschwelligen Lüste herrschen, dargestellt in einem Kuss der beiden, während die anderen Sinne ausgeschaltet sind und Blick und Begehrung dominieren (Abb. 6a, b).

Abbildung 6a, b: Screenshots aus The Cell

Als Novak es schafft, Catherine wieder in ihr Bewusstsein zurückzuholen, folgt ein Szenenwechsel, der wieder eine abstrakte Darstellung der Zelle zeigt, in der sich das Opfer befindet. Auch das Firmenzeichen, das Novak zuvor im Keller von Carl gesehen hatte, taucht vervielfacht auf, was ihn auf die Lösung des Rätsels bringt. Bevor Catherine dem jungen Carl helfen kann, unterbricht Novak per Mikrochip die Neuronentransmission und katapultiert sie in die Realität, um Julia zu retten. Das Zeichen stellt sich als Emblem eines Wasserversorgungsunternehmens „Carver Industrial Equipment, Bakersfield, California“ heraus, bei dem Carl gearbeitet hatte. Julia kann gerettet werden. Doch ein letztes Rätsel muss noch gelöst werden:

Traumsequenz (4): Carls Tod – Therapie-Ende In dieser letzten Traumsequenz kommt es zur Katharsis, da Carl durch seinen Tod endlich Erlösung findet. Dieses Mal kehrt Catherine die Gedankenströme jedoch um, so dass Carl in ihre Welt kommt. Bevor die Psychologin die Neuronentransmission beginnt, sieht der Zuschauer eine Tarotkarte auf der Computertastatur liegen und eine Schnee-GlasKugel. Diese zwei Elemente setzen Catherines Welt um, die im Gegensatz zu Carls Welt nicht schwarz, sondern kirschblütenrosa ist. Sie tritt als Übermutter auf, umgeben von zwei Pfauen, die als Symbol für Wiedergeburt und Auferstehung gelten, genauso wie es vorher auf der Karte zu sehen war. Dazu schneit es Kirschblüten. In der nächsten Szene erfährt der Zuschauer ein weiteres Detail vom erwachsenen Carl. Er erzählt eine Geschichte aus seiner Kindheit:

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Als Kind fand er einen Vogel, der sich das Bein gebrochen hatte. Carl nahm ihn zu sich auf und pflegte ihn, aber es dauerte nicht lange, bis sein Vater dahinter kam. Bevor er dem Tier etwas antun konnte, ertränkte es Carl im Waschbecken und ersparte ihm so Leid. Carl, dessen böses Über-Ich seinen Vater symbolisiert, sieht sich selbst als den Vogel, der gerettet werden muss. Er will, dass ihn Catherine, die wohl einzige Frau, zu der er Vertrauen hat, ertränkt. Die Harmonie wird unterbrochen, als das Monster Carl vor ihnen, durch eine Tarantel angekündigt, auftaucht. Es kommt zu einem Kampf zwischen Catherine und ihm, und die Pfeile, die ihn durchbohren, verursachen an denselben Stellen blutende Wunden bei dem Jungen. Das verdeutlicht noch einmal, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Blutüberströmt bittet er Catherine, ihn zu retten. Mit den Worten „Du kannst bei mir bleiben.“ ertränkt sie das Kind und damit auch alle anderen Persönlichkeiten von Carl. Der Zuschauer kann sich nun einen weiteren Reim auf die Tötungsweise von Carl machen: Die Frauen sollen ertrinken, weil sie einerseits das gleiche Leid wie er bei der Taufe erfahren sollen. Gleichzeitig kompensiert er so seine Angst vor Frauen und tötet „das Heim des Bösen“, bevor es ihn tötet. Andererseits hat man zu Beginn gesehen, dass die Puppen auch Vögelköpfe hatten, was darauf schließen lässt, dass er Mitleid mit ihnen empfindet, obwohl (oder gerade weil) er wie sein Vater handelt. Verblüffend ist, dass auch Carl, der im Koma liegt, zur gleichen Zeit stirbt. Der Aberglaube wird also wahr (s. 2. Traumsequenz, S. 40): Wenn man im Traum stirbt, stirbt man auch im Leben. Damit scheint der Traum, das Unbewusste, ganz im Sinne des Surrealismus, genauso real wie das Bewusste im Menschen. Trotzdem geht die Radikalität des Surrealismus am Ende verloren, da es schließlich zur Enträtselung (und nicht zur Verrätselung) kommt. Auch wenn der Plot im Film an bisherige „storylines“ anknüpft (vgl. Das Schweigen der Lämmer), und von daher nichts grundsätzlich Neues hervorbringt, ist deren formale Umsetzung unter Ausreizung aller Möglichkeiten der digitalen Technik in surrealistischer Traumästhetik kaum zu übertreffen. Der Film ist einerseits eine direkte Umsetzung der freudschen Psychoanalyse, der dem Zuschauer eine plausible Lösung der Alptraumwelt von Carl bietet, andererseits eine Visualisierung surrealistischer Elemente. In der zeitgenössischen Kunst sind surrealistische Ansätze wieder hoch aktuell. Sie will in eine weitere unbekannte Realitätsebene vordringen – die Welt der virtuellen Wirklichkeit. Die digitale Bildbearbeitung eröffnet nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, vertraute Motive zu verfremden oder in surrealen Collagen zu verbinden. Dies gilt nicht nur für den Film, sondern auch für das Musikvideo. Ebenso bedienen sich Werbung, Computerspiele, Science Fiction,

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allgemein Filme mit künstlerischer Ambition, immer wieder surrealistischer Verfahrensweisen und surrealer Ästhetik.

Literaturverzeichnis Bronfen, Elisabeth: „Erschreckende Bilder vertrauter Art: Freud Stil mit einer Denkfigur“, in: Lampe, Angela: Die unheimliche Frau. Weiblichkeit im Surrealismus, Heidelberg 2001, S. 113-126. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Nachwort von Hermann Beland, Frankfurt a.M. 2003. Kupfer, Alexander: Piranesis Carceri – Enge und Unendlichkeit in den Gefängnissen der Phantasie, Stuttgart/Zürich 1992. Lampe, Angela: „Größter Schatten oder größtes Licht. Surrealistische Frauenentwürfe zwischen Traum und Wirklichkeit“, in: dies. (Hrsg.): Die unheimliche Frau. Weiblichkeit im Surrealismus, Heidelberg 2001, S. 25-48. Lenk, Elisabeth: Kritische Phantasie, München 1986. Maurer Queipo, Isabel: „Surreale Ästhetik in der Traumnovelle Arthur Schnitzler und in Stanley Kubricks Literaturadaption Eyes Wide Shut.“ Unv. Man. 2005, S. 1-5. Maurer Queipo, Isabel/Rißler-Pipka, Nanette: Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, Bielefeld 2007. Roloff, Volker: „Groteske Gesichter in surrealistischen Bildern und Filmen“, in: Beilenhoff Wolfgang/Erstiý, Marijana, Hülk, Walburga/Kreimeier, Klaus (Hrgs.): Gesichtsdetektionen in den Medien des 20. Jahrhunderts, Siegen 2006, S. 153-172. Roloff, Volker: „Anmerkungen zur neuen Mythologie der Surrealisten“, in: Hülk, Walburga/Roloff, Volker (Hrsg.): Alte Mythen und neue Medien, Heidelberg 2006, S. 11-19. Roloff, Volker: „Intermedialität als Forschungsparadigma Allgemeiner Literaturwissenschaft“, in: Zelle, Carsten (Hrsg.): Konturen der Allgemeinen Literaturwissenschaft. Profile im Pluralismus, Opladen 1997, S. 115-127. DVD: The Cell. Director’s Cut. New Line Cinema/Kinowelt Home Entertainment GmbH. USA 2001.

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Michael Lommel

Die Erkaltung der Restwärme Surreale Milleniumsbilder in Songs from the second floor 1.

Das Surreale in Episodenfilmen

Der Terminus „Surrealismus“ suggeriert eine abgeschlossene Epoche, eine Schule oder Bewegung, einen Kanon. Er befördert die Vorstellung, Surrealismus könne heutzutage im Kino nur als uneigentlicher oder Neo-Surrealismus in Erscheinung treten. Ich bevorzuge, um diese Historisierung zu vermeiden, den Ausdruck Ästhetik des Surrealen: Als ästhetisches Verfahren ist das Surreale im Weltkino allgegenwärtig. Es kann grundsätzlich in jedem Film und jedem Filmgenre vorkommen, sogar in einem Western, wie in Jim Jarmuschs Dead Man (1995). Der Episodenfilm besitzt eine vergleichbare Offenheit und Anschlussfähigkeit wie die Ästhetik des Surrealen. Er besteht aus autonomen Teilen oder Einzelfilmen, die durch Gemeinsamkeiten oder Berührungspunkte verbunden sind. Er prozessiert die Paradoxie von Autonomie und Konvergenz.1 Das bedeutet, dass er eher auf einem Erzählkonzept beruht, eher ein Querschnittsgenre als ein eigenes Genre ausbildet. Ein Krimi, Melodram oder Western kann ein Episodenfilm sein. Und selbstverständlich können Episodenfilme auch surreale Elemente aufnehmen. Man denke etwa an den Froschregen in Paul Thomas Andersons Magnolia (1999), die Geistererscheinung Elvis Presleys in Jim Jarmuschs Mystery Train (1988/89) oder, in Stephen Daldrys The Hours (2002), die Überflutung des Hotelzimmers, in dem Laura Brown (Julianne Moore) beinahe Selbstmord begeht. Anders gesagt: Wenn man die surreale Ästhetik im Film untersucht, wird man dabei auch auf Episodenfilme stoßen. Ich nenne zwei ältere Beispiele, die nicht nur, wie die genannten Filme von Anderson, Jarmusch und Daldry, surreale Einsprengsel enthalten, sondern durchweg surreal verlaufen: Hans Richters Dreams that money can buy (19441947), der nach Vorlagen von Max Ernst, Fernand Léger, Man Ray, Alexander Calder und Marcel Duchamp gedreht wurde, und Luis Buñuels Le fantôme de la liberté (Das Gespenst der Freiheit, 1974), der uns nahtlos von einer Episode zur anderen führt und dabei systematisch die Konvention missachtet, Haupt- und

1

Zum Episodenfilm vgl. Treber: Auf Abwegen; sowie Lommel: „Überlegungen zur Aktualität des Episodenfilms“.

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Nebenfiguren klar zu trennen. Diese beiden Filme sind surreale Episodenfilme sui generis. Man könnte noch allgemeiner die These aufstellen, dass die Erzählstruktur des Episodenfilms der surrealen Ästhetik entgegenkommt. Fragmentierung, Collage, unvermittelte Handlung- und Ortswechsel, Kontinuitätsbrüche – das sind Kennzeichen, die surrealen und episodischen Filmen eigen sind. Alexander Kluge hat in seiner Dankesrede für die Verleihung des Filmpreises der Stadt Hof (bei den Hofer Filmtagen 2006) gesagt, das Episodische sei die angemessene Darstellungsform unserer Zeit – einer Zeit, die von flüchtigen Begegnungen, Multioptionen, Bastelbiografien und globalen Netzwerken geprägt ist. Episodenfilme bilden eine Abbreviatur solcher Gegenwartsphänomene, der Jahre um die magische Zahl 2000, die Jahrtausendwende. Ich stelle einen surrealen Episodenfilm vor, der exakt aus dem Jahr 2000 stammt. Man könnte ihn als Milleniumsfilm bezeichnen: Roy Anderssons Songs from the second floor. Ich möchte zeigen, wie dieser Film aus der Fusion des Surrealen und des Episodischen diagnostische Zeitbilder, Milleniumsbilder gewinnt.

Roy Anderssons Songs from the second floor

2.

(Sånger från andra våningen) Die Zeit ist schwarz, ich mach euch nichts weis. Es gibt genug Lieferanten von Windeln. Und manche liefern zum Selbstkostenpreis. (Erich Kästner)

Schon der Titel ist surreal: ein Zufallsprodukt, das mit dem Film gar nichts zu tun hat. Andersson hatte im zweiten Stock seines Stockholmer Studios erste Ideen notiert. Später gab er in einem Interview zu, er habe gedacht, er werde schon noch einen Grund finden, warum der Film so heißt. Das sei ihm dann aber leider nicht mehr gelungen.2 Andersson greift Stimmungen und Gefühlslagen der Jahrtausendwende auf. In einer bizarren Endzeitvision fängt er die apokalyptischen Phantasmagorien ein, die sich mit dem Milleniumswechsel verbunden haben (z.B. fiel der befürchtete Milleniums-Bug der Doppelnull in den Computersystemen dann ganz harmlos aus). Schauplatz ist die Stadt Stockholm, die jedoch eher als Kulisse dient und stellvertretend für eine beliebige westliche Großstadt stehen könnte. An ihrem Beispiel führt Songs from the second floor den Zerfall einer Wohlstandsgesellschaft vor. Der ungezügelte Kapitalismus hat längst surreale Formen angenommen. Wer das für übertrieben 2

Zit. in: www.3sat.de/kulturzeit (18.1.2008).

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hält, den könnte Andersson auf die Experimente mit Adam Monk verwiesen. Mr. Monk ist ein Affe, genauer gesagt ein Weißstirnkapuziner, der mit seiner tierischen Willkür mehr Geld gewinnt als die versiertesten Zocker und Finanzjongleure der Wall Street mit ihren ausgeklügelten Prognosen. Seit fünf Jahren lässt ihn die Tageszeitung Chicago Sun Times Aktien empfehlen – und inzwischen bereuen selbst die Initiatoren, nicht in die Affenaktien investiert zu haben: Adam Monk liegt bis zu 37 Prozent über dem Markt.3 In Anderssons Film befinden sich die Kapitalmärkte allerdings im freien Fall, und die Menschen können dagegen so wenig ausrichten wie gegen das Walten des Schicksals. Der Börsencrash bricht so unvermittelt über die Menschen herein wie der Schwarze Freitag 1929, der Folgen bis zum Zweiten Weltkrieg hatte. Auf den Vorstandssitzungen der großen Firmen sitzt eine Wahrsagerin zwischen den ratlosen Herren und lässt ihre Kristallkugel von Hand zu Hand gehen. Mit dem Absturz der Aktienkurve4 stürzen auch die Menschen ins Bodenlose, kehren zu atavistischen Opferritualen, mittelalterlicher Selbstgeißelung und offenem Rassismus zurück. Ein Ausländer, der Passanten nach dem Weg fragt, wird zusammengeschlagen und blutend auf dem Bürgersteig liegen gelassen. Zwischen den Automobilen, die ständig im Stau feststecken, ziehen postmoderne Flagellanten durch die Straßen, in der verzweifelten Hoffnung, ein Gott könne den Zivilisationsstau auflösen. Alle Protagonisten des Films sind von dieser Enthumanisierung erfasst worden – mit Ausnahme von Thomas (Peter Roth), der früher einmal Gedichte schrieb. Als er eines Tages in eine katatonische Schweigsamkeit verfällt, wird er von seiner Familie in eine Irrenanstalt eingeliefert. Andersson knüpft in diesen Szenen an die Gesellschaftskritik des frühen Surrealismus an. Die Episoden seines Films bilden zwar Abbreviaturen einer Dystopie, doch die Wirklichkeit, der Status quo, wird oft nur um ein Weniges ver-rückt. Die Gegenwart wird von den Gespenstern, den Untoten und Zombies der Vergangenheit heimgesucht. Sie lassen sich nicht vertreiben, weil sie die verdrängte Erinnerung verkörpern. 3

Vgl. Stolle: „Monkey Business“. Stefan Klein bestätigt, dass an der Börse der Zufall dem Kalkül zumindest ebenbürtig ist: Zwischen 1988 und 2002 ließen Redakteure des Wall Street Journal jeden Montag Börsenstars gegen eine Gruppe antreten, die Dartpfeile auf den Börsenkurs der Zeitung warf. Zwar gewannen die Banker mit 90 zu 57 gegen die Dartwerfer, aber diesen Vorsprung „dürften die Finanzexperten vor allem dem Umstand verdanken, dass die einflussreichste aller Wirtschaftszeitungen ihre Empfehlungen vorab veröffentlicht und damit Anleger zum Kauf dieser Aktien ermuntert. Als der Wirtschaftswissenschaftler Burton Malkiel […] diesen Effekt herausrechnete, schnitten beide Gruppen gleich erfolgreich ab“ (Klein: Alles Zufall, S. 99).

4

Als zur Jahrtausendwende die Dotcom-Blase platzte, wurde so manchen Optimisten in den kapitalistischen Ländern wieder vor Augen geführt, wie fragil das globale Finanzsystem in Wirklichkeit ist.

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Wie zu Zeiten von Méliès und Lumière, in den Anfangsjahren der Kinematografie, hat Andersson mit starrer Kamera gedreht. Der Film besteht aus 46 Einstellungen. Es gibt – bis auf eine einzige Kamerafahrt auf einem Bahnsteig – keinerlei Kamerabewegung. Die Filmbilder erscheinen wie tableaux vivants, oder besser gesagt tableaux morts, eingefrorene, in kühler Geometrie ausstaffierte Bilder zwischen Kino, Theater und Malerei, artifizielle Bilder an der Grenze zur Bewegungslosigkeit, zur visuellen Apathie. Im Grunde weist der Film nur zwei Topografien, zwei Raumordungen auf, die ich nun genauer ausleuchten will: Interieurs und Nicht-Orte.

2.1

Interieurs

„Unsere Terminologie versagt rasch bei der sauberen Trennung von Orten und Räumen“, schreibt Hans Belting. „So sprechen wir von öffentlichem und von privatem Raum trotz der Erfahrung, daß beides an Orte (also z.B. die eigene Wohnung) gebunden ist. Räume haben es überdies in sich, daß sie heterogen und diskontinuierlich organisiert sind.“5 Das Arrangement der Interieurs, der Innenräume in Anderssons Film, wiederholt sich immer wieder. Meistens sind zwei Personen zu sehen, in einem kargen Raum platziert, in der Intimität ihrer Wohnung. Die eine Person sitzt oder liegt im Vordergrund, die zweite (der Ehemann, die Frau, Freundin, …) steht im Hintergrund, im Türrahmen, am Fenster oder vor dem Bett. Nach Walter Benjamin sind Interieurs ‚Futterale der Epoche‘. „Wohnung wird im extremsten Falle zum Gehäuse“ 6, schreibt Benjamin, sie wird zum Lebensetui des Kleinbürgertums, zum muffigen Gefühlsvakuum. Mag sich im 20. Jahrhunderts auch die Ausstattung und soziale Differenzierung der Interieurs geändert haben (die Unterschicht übernimmt den Einrichtungsstil der Mittelschicht), mögen die aufgeblähten Polstermöbel vom nüchternen Ikea-Bausatz abgelöst worden sein – die Behausung des Unbehagens reicht ins 19. Jahrhundert zurück, das Benjamin vor Augen hatte (Abb. 1, 2): Das Schwierige in der Betrachtung des Wohnens: daß darin einerseits das Uralte – vielleicht Ewige – erkannt werden muß, das Abbild des Aufenthalts des Menschen im Mutterschoße; und daß auf der anderen 5

Belting: Bild-Anthropologie, S. 54.

6

Benjamin: Passagen-Werk, Bd. 2, S. 292. Vgl. auch Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 322-328 (Kapitel „Proust, Interieurs“): „Wer Interieurs hinreichend zu interpretieren wüßte, könnte uns Auskunft geben über gesellschaftliche Inkubationszustände, Bürgerkriege und die Abwicklung von Gesellschaftszuständen“ (ebd., S. 322).

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Seite, dieses urgeschichtlichen Motivs ungeachtet, im Wohnen in seiner extremsten Form ein Daseinszustand des neunzehnten Jahrhunderts begriffen werden muß.7 Zwar habe, wie Karl Schlögel Benjamins Beobachtung ergänzt, das 20. Jahrhundert diese Wohnform des Futterals zunächst aufgelöst. Doch „dabei sollte es nicht bleiben. Ende des 20. Jahrhunderts kommt es noch einmal zu einem Rückzug aus der Welt des Lärms, der verpesteten Umwelt und der unübersehbaren Gefahren“ und damit zur Wiedergeburt der ‚Puppenstube‘, die der Jugendstil verbannt hatte.8

Abbildung 1, 2: Screenshots, Songs from the second floor

Im Audio-Kommentar der holländischen DVD sagt Roy Andersson, er suche, wenn er Filme mache, den Vergleich mit der Malerei, „to come up to the same level like painting.“ Man könne sich viele Gemälde 1000 Mal anschauen, dies gelte aber gleichermaßen nur für ganz wenige Filme. Andersson hat seine Filmbilder mit schier unglaublicher Akribie und Ausdauer immer wieder neu entworfen und geprobt, Rollen mit anderen Schauspielern besetzt, Aufbauten und Kulissen, Beleuchtung und Perspektive wieder verändert, bis er seine Tableaus endlich für stimmig hielt. Dabei hat er diverse Vor-Bilder der Malerei verarbeitet. Aus dem großen Spektrum (er arbeitete 10 Jahre an dem Film) greife ich eine Referenz heraus, die besonders auffällt: Edward Hopper (Abb. 3, 4). Die Theater- und Filmbeleuchtung in Hoppers Bildern ist vielfach beschrieben worden. Oft ist der Bildaufbau ähnlich wie ein Filmset gestaltet und ausgeleuchtet, d.h. für einen Betrachter inszeniert.

7

Benjamin, ebd.

8

Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 327.

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Abbildung 3, 4: Edward Hopper: Excursion into Philosophy (1959), Morning Sun (1952)

Der Einfluss des Kinos auf Hoppers Malerei wird durch Bilder wie New York Movie (1939) dokumentiert. Umgekehrt hat Hopper das Kino bis heute immer wieder inspiriert: Alfred Hitchcocks Psycho (USA 1960), Wim Wenders’ The End of Violence (F/D/USA 1997) und Don’t come Knocking (D 2005), Wong KarWais Fallen Angels (Honkong 1995) und My Blueberry Hill (2007), David Lynchs Blue Velvet (USA 1986), Lost Highway (USA/F 1997) und Inland Empire (USA/F/P 2006), Todd Haynes Far from Heaven (USA/F 2002), um nur einige zu nennen.9 Hoppers Interieurs haben etwas Gespenstisches, den Menschen seiner Interieurs eignet ein melancholischer Blick, der aus dem Bild herausführt und zugleich ihrer Innenschau entspricht, der Tristesse ihrer inneren Leere und grüblerischen Isolation.10 Wie bei Hopper sind auch in Songs die Figuren isoliert und in Gedanken versunken. Selbst dann, wenn sie zu zweit oder zu dritt sind, bleiben sie alone together. Die Szenerie in den Filmbildern wirkt eingefroren, ausgekühlt. Die Charaktere erscheinen mit ihren bleichen Gesichtern wie Vampiropfer, weil ihr Lebenssaft vom Leviathan, dem Lebenskampf und Konkurrenzdruck im kapitalistischen Wettbewerb, ausgesogen wird. Gegen die biologische Natur hat die Gesellschaft die Warmblüter zu Kaltblütern gemacht. Hoppers Restwärme erkaltet in diesen Bildern; die Lichtquellen sind

9

Hitchcock hat gesagt, dass er bei der Gestaltung des Spukhauses in Psycho Hoppers Gemälde House by the Railroad (1925) benutzt habe, worüber der Kinofan Hopper wiederum hocherfreut war. Nighthawks wird nicht nur in Wenders’ The End of Violence, sondern auch in Wong-Kar Wais Fallen Angels zitiert – d.h. nicht nachgestellt, sondern eingebildet.

10 Vgl. die Beiträge im Ausstellungskatalog der Tate Gallery London und des Museums Ludwig Köln: Sheena Wagstaff (Hrsg.): Edward Hopper, bes. Margaret Iversen: „Hoppers melancholischer Blick“, und Brian O’Doherty: „Hoppers Blick“. Zur Verbindung Hoppers mit dem Kino vgl. Peter Wollen: „Zwei oder drei Dinge, die ich von Edward Hopper weiß“. „Mehr als alles andere“, so Wollen, „war Edward Hopper ein Maler von Zimmern – von Innenräumen, in denen ein oder zwei Personen, nackt oder bekleidet, männlich oder weiblich, sitzen oder stehen“ (S. 69).

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meistens künstlich: Neonröhren, Glühbirnen, Nachttischlampen. In Anderssons Film bekommen die Interieurs nichts mehr von Hoppers berühmtem Sonnenlicht ab, der Wärme, die morgens in die Zimmer und Häuser, auf die Veranden und Geschäftstraßen fällt und Lichtstreifen auf den Boden breitet. Auch Hoppers Bilder erzählen bereits von der Anonymität der Großstadt, der Auskühlung der Familien- und Sozialwärme in der Metropole, der „Sehnsucht nach der unwiederbringlich verlorenen vorindustriellen Zeit“11. Kunstgeschichtlich betrachtet, ist das ein neuer Schlüssellochblick ins Interieur. Bei Jan Vermeer, dem großen Maler des Interieurs im 17. Jahrhundert, sind die Figuren niemals in sich selbst, sondern immer nur in ihre Tätigkeiten versunken: Sie musizieren in Das Konzert, Die Musikstunde und Junge Frau am Virginal, sie nähen in Die Spitzenklöpplerin und malen in Die Malkunst. Und der Geograph hält nur deshalb inne, weil er über seine Arbeit nachdenkt: Seinen Zirkel legt er erst gar nicht aus der Hand (Abb. 5). Die Milchmagd konzentriert sich ganz darauf, ihre Milch in eine Schüssel zu gießen (Abb. 6). Kurz gesagt, bei Vermeer gibt es keinerlei Introspektion oder Isolation, seine Interieurs sind Räume der Balance: angehaltene Momente des menschlichen Tuns.

Abbildung 5, 6: Jan Vermeer: Der Geograph (1668/1669), Dienstmagd mit Milchkrug (165860)

Anderssons Milleniumsbilder, die Hoppers Gegenwartsbilder der 50er und 60er Jahren neu formieren, belichten den Wärmetod in den Beziehungen zwischen den Menschen. Bereits die Eingangsszene des Films, der Prolog, zeigt, dass die Wärme den Körpern künstlich zugeführt werden muss: Der Firmenchef fordert, während er im Solarium liegt, von seinem Angestellten eine Pro11 Anfam: „Rothkos Hopper“, S. 44.

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fitsteigerungsrate, die zur fristlosen Entlassung selbst altgedienter Mitarbeiter führen wird. Sein Betrieb steht offensichtlich vor dem Konkurs, und er erwägt bereits, sich ins Ausland abzusetzen. Wie in ein Sandwich ist der Vorgesetzte, der von bösen Hustenanfällen geschüttelt wird, in die futuristisch anmutende Apparatur eingeklappt, in ein noch engeres Etui, als es jedes Interieur sein könnte, in eine Maschine, die dem Körper kurzfristig jene Wärme zuführt (also doch nur verheißt), die ihm das stahlharte Gehäuse des Kapitalismus längst entzogen hat (Abb. 7).

Abbildung 7: Screenshot, Songs from the second floor

Man verfehlte die eigentümliche Überlagerung, die Schichtung der Bildmotive in diesem Film, wenn man allein auf Hopper verwiese. Andersson bedient sich ebenso beim Cartoon und der Karikatur, wodurch er Hoppers Interieurs ins Surreale und Satirische wendet. Mehrere Szenen in Songs erinnern an Karikaturen von George Grosz und Otto Dix, Michael Sowa und Manfred Deix.12 Entscheidend ist dabei weniger, ob Andersson die Bilder dieser Maler und Karikaturisten wirklich vor Augen hatte, als er seine Interieurs entwarf; eher kommt es auf die gemeinsame Grundstimmung und Figurenzeichnung an. Eine Wohnung sei eine Schonung, heißt es bei Peter Sloterdijk. Michael Sowas Bilder – bekannt sind seine Illustrationen zu den Büchern von Max Goldt (Die Radiotrinkerin, Quitten für die Menschen zwischen Emden und Zittau) – pervertieren Sloterdijks Satz. Um noch einmal auf Walter Benjamins Passagen zum Interieur zurückzukommen: „Solche Kleinbürgerzimmer sind Schlachtfelder, über die der verheerende Ansturm des Warenkapitals siegreich dahingefegt ist, es kann nichts Menschliches mehr da gedeihen.“13 12 Michael Sowas Bezug zum surrealen Film ist durch seine Entwürfe für Jean-Pierre Jeunets Die fabelhafte Welt der Amélie ausgewiesen; z.B. hat er Amélies „Schweinelampe“ erfunden. 13 Das notierte Benjamin im Moskauer Tagebuch zu den Interieurs im Moskau der 20er Jahre (S. 71).

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2.2

Nicht-Orte

Wenn der Film das Interieur, den kleinbürgerlichen Innenraum, die trügerische Schutzhülle verlässt, in dem der „Ansturm des Warenkapitals“ eine Seelenwüste hinterlassen hat, in der am so genannten Feierabend der Mann am Tisch so tot ausschaut wie der Fisch, der vor ihm liegt (Abb. 8, 9), spielt er ausschließlich an Nicht-Orten, an denen man schon per definitionem nicht heimisch werden kann.

Abbildung 8: Michael Sowa: Mann, Fisch, Tisch

Abbildung 9: Screenshot, Songs from the second floor

Mit Deleuze könnte man sagen: Der Innenraum ist die Falte (le pli) des Außenraums. Im Interieur faltet sich der Nicht-Ort ein: Die eigene Frau steht so fremd und distanziert im Türrahmen wie ein Mitreisender in der U-Bahn. Der Anthropologe Marc Augé bestimmt die Non-Lieux als Durchgangsorte, wo Menschen vorübergehend zusammentreffen, Orte der Unverbindlichkeit, der Mobilität, Anonymität und Funktionalität.14 Fast alle Nicht-Orte, die Augé anführt, kommen im Film vor – als hätte Andersson Augés Liste vor Augen gehabt: Büroflur, Krankenhaus, Taxi, Bahnhof, Flughafenterminal, U-BahnWaggon, Nachtbar usw. Oftmals, wie in der unwirtlichen Halle des Flughafens 14 Vgl. Augé: Non-lieux: „eine Welt, die solcherart der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist, bietet dem Anthropologen ein neues Objekt [...]“, zit. nach der deutschen Ausgabe: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 2. Aufl. 1994, S. 93. Der Begriff Nicht-Ort ist etwas missverständlich, weil das griechische „u-topos“, das für den noch nicht existierenden Wunschort der Zukunft steht, ins Deutsche übersetzt auch schon „Nicht-Ort“ bedeutet. Zum Verhältnis des Non-Lieu (den Foucault synonym zu „Heterotopie“ vewendet) und Utopie vgl. Foucault: Die Heterotopien. Der utopische Körper, Frankfurt a.M. 2005.

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(Abb. 10), verlieren sich die Fluchtpunkte im Unendlichen, als sei ein Abschluss, eine Begrenzung der Nicht-Orte, die Transite bewerkstelligen und Massen durch ihre Schleusen schicken, Ausweise und Scheckkarten einscannen, gar nicht mehr möglich. Die endlose Reihe der Schalter, die sich alle wie Kopien gleichen, schließt das Nichtidentische geradezu aus. Der Nicht-Ort verwandelt sich in einen surrealen Un-Ort, der schon immer hinter seiner glatten Schauseite verborgen war. Die Menschen versuchen verzweifelt aus der Stadt, aus dem Land, aus dem Kontinent zu fliehen, kommen aber, weil sie sich von keinem einzigen Stück ihres Hab und Gut trennen können, mit dem schweren Gepäck nur zentimeterweise voran. Wie das Interieur gehört auch der Nicht-Ort zu Edward Hoppers bevorzugter Ikonografie. Hopper war ein Maler der Heterotopien, von denen Marc Augé und Michel Foucault sprechen, der Hotels, Büros, Theater- und Kinosäle, der Automatencafés und Nachtbars (Abb. 12, 13), die sich allerdings, im Vergleich mit der heutigen Innenarchitektur solcher Räume, geradezu beschaulich ausnehmen. Die meisten dieser Innenräume haben die lieblose Patina öffentlicher Nutzung, und ihre nur kurz verweilenden Besucher verschanzen sich hinter jener distanzierten Aura, wie man sie nun einmal in der Öffentlichkeit an den Tag legt.15 Auch Hoppers berühmtestes Bild Nighthawks leuchtet wie ein Dissolve hinter der Nachtbar in Songs hervor (Abb. 11, 13).16 Marc Augé führt das Präfix „sur“, das ja auch in „surréalisme“ steckt, im Untertitel seines Buchs über die Non-Lieux an: Introduction à une anthropologie de la surmodernité. Surréalisme und Surmodernité sind verwandte Phänomene: Der Surrealismus, schreibt Maurice Blanchot, ist „nicht mehr hier oder dort, er ist allenthalben. Er ist ein Phantom, das auf Schritt und Tritt vor einem aufleuchtet.“17

15 Wollen: „Zwei oder drei Dinge“, S. 93. 16 Weil Hoppers Bild seine Geschichte nicht preisgibt, hat sich Philippe Besson zu einer Nacherzählung anregen lassen. Sein Roman Nachsaison erfindet die Geschichte, die sich zwischen den Personen auf dem Bild abgespielt haben könnte. 17 Roy Anderssons zweiter Spielfilm You, the Living (2007) setzt die surrreale Ästhetik von Songs fort, indem er die einzelnen Episoden noch mehr zersplittert, die Rekurrenzen und Verbindungslinien der szenischen Tableaus weiter reduziert.

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Abbildung 10, 11: Screenshots, Songs from the second floor

Abbildung 12, 13: Edward Hopper: Hotel Lobby (1943), Nighthawks (1942)

2.3

Unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit – der surreale Schnitt

Ein nicht gerade schlanker und nicht mehr junger Zauberkünstler kommt im abgetragenen Frack auf die Bühne. Für die Standardnummer, die seit jeher zum Repertoire der Zauberer gehört – einen Menschen in zwei Teile zu zersägen – wird ein ‚Freiwilliger‘ von seinen Kumpanen auf die Bühne gezerrt, ein dürres, schüchternes Männlein mit dicker Hornbrille. Die Assistentin lässt das Sägeblatt in der Luft singen, um zu demonstrieren, dass hier keine Attrappen eingesetzt werden. Dann wendet sich der Zauberer zu dem großen Holzkasten, in dem der Mann nun schon ausgestreckt liegt, und setzt die Säge im vorgesehenen Schlitz an. Mit mehr Kraft, als es die Eleganz der Zauberkunst gestattet, müht er sich mit weit ausholenden Bewegungen ab und hält verwundert inne, als das Männlein, der Freiwillige aus dem Publikum, einen Wehlaut von sich gibt. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, fährt der Zauberer fort und die Katastrophe herbei. Das Männlein gibt nun vor Schmerz all seine dem Lampenfieber geschuldete Schüchternheit auf und lässt keinen Zweifel mehr daran, zumal auch schon ein feiner Blutstrom aus dem Holzkasten rinnt, dass dieser Trick heute nicht funktioniert. Nach dem Ein-Schnitt folgt ein FilmSchnitt: Wir sehen eine Krankenstation, die Notaufnahme. Dort befinden sich ein Arzt und eine Krankenschwester, die sich in eine trübsinnige Affäre

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verstrickt haben (die uns hier nicht weiter interessieren soll) – bis die paralytische Situation durchbrochen wird und erst das fragende Gesicht der Zauberers durch die Tür lugt und dann auch schon der arme Freiwille mit zittrigen Schritten auftaucht. Weit klafft die Wunde auf, die die Säge gerissen hat. Solche wenig zimperlichen, doch vom Absurden verfremdeten, ins Groteske überhöhten Szenen enthält Anderssons Films zuhauf (Abb. 14, 15).

Abbildung 14, 15: Sreenshots, Songs from the second floor

Der makabere und morbide Humor war bereits ein Kennzeichen des frühen Surrealismus, der mit den Erwartungen und Sehgewohnheiten der Zuschauer spielte. Max Ernst pflegte eine besondere Vorliebe für schwarzen Humor – und Roy Andersson teilt diese Vorliebe: Der unerwartete Schnitt, der dann doch erfolgt, die vom Zauberer inszenierte Unwahrscheinlichkeit, einen Menschen in zwei Teile zu zersägen, die Illusion also, wird zerstört. Das Wahrscheinliche rückt in die Position des Unwahrscheinlichen. Dass das Unwahrscheinliche im Trick gelingt, ist höchst wahrscheinlich. Misslingt es, verwandelt sich das Wahrscheinliche in den Schock des Unwahrscheinlichen. Der Trick ist jedem geläufig. Daher ist es für die Zuschauer (die Zuschauer im Film und die Zuschauer des Films) unwahrscheinlich, dass der Mann tatsächlich angesägt wird. Wahrscheinlicher ist, dass der Trick wie immer fake ist; im Film wird jedoch dargestellt und ausgestellt, was unwahrscheinlich scheint. Der Film zeigt also, indem er vorführt, dass der Trick auf der Bühne misslingt, einen Zaubertrick zweiter Ordnung. Denn natürlich besteht genau darin der filmische Trick: das Scheitern als fake zu inszenieren. Schließlich wird ja der Schauspieler, der den Mann spielt, nicht verwundet. Die Szene aus Buñuels und Dalís Un Chien andalou (Ein andalusischer Hund, 1928), die sich mit der Duschszene aus Hitchcocks Psycho wohl die Ehre der meistzitierten Filmsequenz teilen darf, drängt sich regelrecht auf. Sie beruht auf demselben Kippspiel der Unterscheidung von Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit wie in der beschriebenen Szene aus Songs. Eine Rasierklinge wird zum Augapfel einer Frau geführt, deren Gesicht in Großaufnahme zu sehen ist. Mit Daumen und Zeigefinger zieht ein Mann (Buñuel selbst) ihr Auge auf (Abb. 16). Nach einem Schnitt, der den Schock scheinbar ausspart

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(Wolken ziehen am Mond vorüber), kehrt der Film wieder zum Auge zurück und zeigt uns doch noch den (Film-)Schnitt, die Amputation des Auges, den ausfließenden Glaskörper. Er liefert den mit Erleichterung ersparten Schockeffekt nach – und verstärkt ihn dadurch.

Abbildung 16: Screenshot, Un chien andalou

Roy Andersson betreibt in der Szene mit dem dilettantischen Zauberer ein gleichermaßen makaberes Spiel mit den Erwartungen der Zuschauer wie Buñuel und Dalí es seinerzeit getan haben. Die „okulare Virulenz“ in den Werken der Surrealisten beinhaltet die Auslöschung des Sehsinns und verweist mit dem Angriff auf das Auge – wie mit den Bildern von fehlenden oder verstümmelten Augen – auf die „Kritik des Sehens“ im 20. Jahrhundert.18 Nach Peter Weiss markiert der Augen-Schnitt im Wortsinn eine Zäsur, weil er mit allem bricht, „woran sich ein intellektuell-verspieltes Publikum bislang ergötzt hatte. In einer drastischen Attacke ist das Auge, das etwas Schönes, etwas Interessantes erwartete, aufgeschlitzt worden. In Aktion gesetzt werden sollte jetzt das zentrale Nervensystem“19.

2.4

Gesänge

Einerseits finden wir in Songs from the second floor die Interieurs, deren Heimeligkeit Benjamins Archäologie des bürgerlichen Zeitalters für trügerisch hält, zum andern die Nicht-Orte im Sinne Augés, die Kreuzungspunkte der Anonymität und Flüchtigkeit. Wenn wir nun von diesen eher soziologisch bestimmtem Raumtypen zum Diskurs über den Hörraum des Films übergehen, dann kommen wir zum Nicht-Ort, wie ihn Michel Chion beschrieben hat. Der Zwi-

18 Flach: „Das Auge“, S. 55. 19 Zit. nach ebd., S. 55.

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schenraum von Bild und Ton ist nach Chion eine Heterotopie, ein audiovisueller Pakt, der „auf gutem Glauben“ gründet. Unsere synästhetische Wahrnehmung fusioniert den Ton – Sprache, Geräusche, Musik – mit dem, was wir auf der Leinwand sehen. Die Audiovision gründet auf einer Lücke, die sich niemals schließt, einem Zwischenraum: Bild und Ton sind technische Artefakte, die keiner realen Wahrnehmung entsprechen. Wenn wir im Kino sitzen, tun wir, was Kinder tun, wenn sie einem Puppenspiel zuschauen. Für sie gehört die Stimme ganz selbstverständlich zur Holzpuppe, die das Kasperle verkörpert.20 In Songs hören wir einen Chorgesang, einen Choral, den die Fahrgäste in einem U-Bahn-Wagon mitsingen (Abb. 17). Benny Andersson, früher Mitglied der Popgruppe Abba, komponierte diese Filmmusik. Der Gesang erklingt weiter, wenn Roy Andersson den Ort wechselt und von der U-Bahn zur Nachtbar schneidet. Dort stimmt die Kellnerin mit ein, setzt den Choral fort, als gäbe es eine geheime Übereinstimmung zwischen den Menschen, die wie kommunizierende Röhren Raumgrenzen ignorieren. Man fragt sich: Wo kommt eigentlich diese Musik her?21 Weshalb fangen die Menschen plötzlich an zu singen, als müssten sie ihren eigenen Klage- oder Totengesang intonieren, als käme etwas über sie, das ihnen die Münder aufreißt?

Abbildung 17: Screenshot, Songs from the second floor

20 Vgl. Chion: Audio-Vision. 21 In Paul Thomas Andersons Magnolia gibt es eine ähnliche Sequenz: Aus dem Off erklingt Aimé Manns Song Save me, den die Protagonisten, die sich im San Fernando Valley in LA aufhalten, simultan mitsingen, obwohl sie räumlich weit von einander entfernt sind. Das Surreale dieser Sequenz kommt schon dadurch zum Ausdruck, dass Earl Partridge, der an Lungenkrebs erkrankt ist und sonst höchstens noch Atem zum Flüstern hat, aus Leibeskräften mitsingt. Save me öffnet wie in Songs eine Ebene jenseits der Einzelepisoden und der trostlosen Schicksale, eine Ebene bzw. Region, die den Zwischenraum von Bild und Ton besetzt.

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Michael Lommel | Erkaltung der Restwärme

Es öffnet sich ein Wahrnehmungsraum zwischen Film und Zuschauer, der die Bildgrenzen überschreitet. Das Surreale entspricht der Konvergenz der filmischen Schauplätze. Hier überschneidet sich das Surreale mit dem Erzählrhythmus des Episodenfilms. Das Off wird zum akusmatischen und magischen Nicht-Ort. Sehnsucht, Emotion, Ergriffensein (wie immer man es nennen soll), fallen den Subjekten nur im Übersprung der filmischen Welt, also im Wortsinn surreal zu. Die Musik durchquert die Individuen. Sie überformt ihren Eigensinn; ihre innerste Regung ergreift sie wie eine fremde, höhere Macht, als Musik aus dem Off des Offs. Und wer weiß, welche unbewussten Kräfte den Regisseur gelenkt haben, als er sich den scheinbar bedeutungslosen Filmtitel ausdachte. Hören wir nun doch noch die Lieder des zweiten Stockwerks, das noch kein Mensch betreten hat? Das Schöne, wusste Rilke, ist des Schrecklichen Anfang.

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Kirsten von Hagen

Spielformen des Surrealen in Jean-Pierre Jeunets Kinowelt Mit Jean-Pierre Jeunets Amélie wurde das Filmwunder in Frankreich Realität. Jeunets Kunstfigur mit den staunenden Kinderaugen lockte die Besucher im In- und Ausland gleich Scharenweise an die Kinokassen. Und fast alle verließen das Kino mit verklärtem Blick. Die Welt schien besser geworden zu sein – für einen Augenblick. Doch Jeunets Film erwies sich nicht nur als Publikumsmagnet und Bauplan einer besseren Welt, er ist auch für unsere Fragestellung interessant: Spielformen des Surrealen, das intermediale Experimentieren sind Strategien des Films, der nicht zuletzt eine Kunstform der Surrealisten für den Film im digitalen Zeitalter adaptiert: die Collage. Aspekte von Jeunets Ästhetik des Surrealen sind die Theatralisierung des Alltags, die Surrealisierung, Verfremdung und Deplazierung alltäglicher Elemente und die permanente Unterminierung des „règne de la logique“. Die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit sind aufgehoben in diesem Filmmärchen, das eine künstliche Welt, ein Kunst-Montmartre, präsentiert, wofür Jeunet nicht selten kritisiert worden ist – zu unrecht, schaut man sich den Film genauer auf die ihm zugrunde liegenden ästhetischen Prinzipien an. Die Zeit schrieb: ,,Amélie ist ein fantastisches Puzzlespiel, das davon träumt, ein echtes Bild zu sein. Das Bild bleibt eine Kopie, aber das Puzzle ist ein Original.“1 Ob der Film tatsächlich davon träumt, ein echtes Bild zu sein, darüber lässt sich trefflich streiten. Auch ob das Bild des Puzzlespiels hier adäquat ist, mutet der Film doch eher an wie die „cadavre exquis“-Spiele der Surrealisten. Bereits zu Beginn wird das spielerische Element betont und der Zufall, wird die Koinzidenz unterschiedlicher Ereignisse thematisiert. Der Filmvorspann zeigt nicht nur in bekannter Digressionsmanier (man denke etwa an die Narration eines Sterne) die Zeugung Amélies, sondern auch ihre kindlichen Spiele. Die Eltern werden in Form kurzer Ich mag/ich mag nicht Listen charakterisiert. Strukturierendes Prinzip der wunderbaren Einfälle, die der Film in Szene setzt, ist die Collage, die gleich auf mehreren Ebenen des Films als mise-enabyme gegenwärtig ist, wie die folgenden Ausführungen verdeutlichen sollen. Doch zunächst ein kleiner Exkurs zur Geschichte der Collage. Das Wort Collage ist abgeleitet von „papiers collés“ (geklebte Papiere) und bezeichnet demzufolge vom Sprachgebrauch her zunächst nur einen tech1

Worthmann: „Großmanöver Glück“.

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nischen Vorgang. Unter den Erfindungen neuer malerischer und graphischer Techniken zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Collage nicht ohne Grund eine herausgehobene Bedeutung erlangt. Die Collage spielte als Kunstform im Surrealismus eine entscheidende Rolle. Schon um 1912, als Braque und Picasso zum ersten Mal Papierstücke in ihre Bilder klebten, war die Collage mehr als nur eine weitere künstlerische Technik. Sie war zugleich die Weiterentwicklung von Picassos in den ,,Demoiselles d’Avignon“ spürbaren Bildkonzepts: Das Einkleben von Papierfragmenten, Zetteln oder Tapetenresten wurde schnell als Möglichkeit zur Konfrontation unterschiedlicher Realitätsebenen erkannt. Endgültig zum selbständigen Medium ausgearbeitet wurde die Collage dann vor allem von Dadakünstlern. Künstler wie Max Ernst, Hannah Höch oder Kurt Schwitters versammeln in ihren Collagen meist Reste, Abfallprodukte einer bürokratisierten bürgerlichen Alltagskultur: Fahrscheine, Formulare, Gebrauchsanweisungen, Etikette, Lebensmittel und Eintrittskarten, Anzeigen, Verpackungsmaterialien und Zeitungsausschnitte. Am Anfang steht auch hier, wie später bei Bretodeau oder Nino, die der Film hier als gleichsam stellvertretend für die Tätigkeit des Filmemachers selbst etabliert, das Sammeln. Dieses zunächst absichtslose Vergnügen am gefundenen Ding, am „objet trouvé“, am Sammeln von anregendem Ausgangsmaterial also teilt der Film mit den Surrealisten.2 Brüche zwischen den einzelnen Partikeln sollten bewusst werden, wie auch im Film Jeunets, der die Collage zum zentralen Gestaltungsprinzip seines Films erhebt. Im Film wird die Collage immer wieder selbstreflexiv thematisiert. Amélie montiert aus Ausschnitten alter Briefe einen neuen Brief, den sie der Concierge als Brief ihres verschollenen Mannes präsentiert. Und Nino setzt aus zerrissenen Fotos der Schnellbildautomaten nicht nur die Gesichter der Fotografierten zusammen, sondern erstellt sich so ein Fotoalbum ganz eigener Art. Spielt bereits der Internetauftritt, der für die wunderbare Welt der Amélie Poulain wirbt, mit der Technik der Collage in Form zusammengesetzter SchwarzWeiß-Fotos aus Schnipseln der beiden Protagonisten, so strukturiert diese Collage-Technik zugleich den gesamten Film: Der Film besteht aus zahlreichen bizarren Einfällen, ist angeordnet wie ein Kuriositätenkabinett der schrulligen Typen und wunderlichen Zufälle. Auch der Nachspann nimmt noch einmal auf die collagenhafte Anordnung Rekurs, zeigt er doch ebenfalls die Akteure des Films und ihre Rollen als zusammengeklebte Fotoserie: Der Film thematisiert so auch sein eigenes Verfahren, die Charaktere seiner Figuren vor allem aus Vorlieben und Abneigungen zusammenzusetzen. Da ist die Mutter Amélies, die es mag, ihre Handtasche auszuräumen und wieder einzuräumen, da ist ihr Vater, der es nicht mag, wenn die nasse Badehose an seinen Beinen 2

Vgl. Zepter: „Vom papier collé zur Materialaktion“.

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klebt. Da ist Amélie selbst, die gerne ihre Hand in einen Sack mit Hülsenfrüchten gleiten lässt.

Kindliche Spiele Neben der Collage ist es das Spiel, das nicht zufällig auf mehreren Ebenen des Films präsent ist. Zu Beginn ist es das an ein Kinderspiel gemahnendes frei assoziierende Spiel des „ich mag/ich mag nicht“, das die Linearität des Films durchbricht und ein ganzes Panoptikum exzentrischer Figuren mit ihren noch exzentrischeren Vorlieben präsentiert. Später verkleidet sich Amélie als Zorro und spielt mit Nino ebenfalls ein Kinderspiel, das erneut auch Elemente der Collage aufgreift. Nino muss aus unterschiedlichen Schnitzeln und Einzelteilen die Spur zu seinem verloren gegangenen Album und zu Amélie rekonstruieren. Die Gegenstände scheinen hier nicht selten ihrer Funktion enthoben. Immer wieder werden kindlich Imaginiertes und Träume in Szene gesetzt, zu Beginn, wenn Amélie als Kind mit einem Stethoskop das Krokodil abhört, aber auch später wenn die Nachttischlampe, der Fuß in Form eines Schweins im Anzug, plötzlich zu sprechen beginnt. Und die Gans auf dem Gemälde darüber ihm antwortet. Nicht zufällig hat Jeunet hier auf Entwürfe des deutschen Zeichners und Cartoonisten Michael Sowa zurückgegriffen. Martin Zipps versucht die Kunst Sowas folgendermaßen zu klassifizieren: In vielen seiner Werke der letzten drei Jahrzehnte steckt die Respektlosigkeit eines Manfred Deix, der Surrealismus von René Magritte, die Landschaftsgewalt von Caspar David Friedrich und die Tiere von Gary Larson. Große Räume, weite Flure, unendliches Meer, hässliche Spinnen. Monströse Licht- und Schattenspiele, Landschaften von großer künstlerischer Genauigkeit. Mittendrin: Satirische Brüche und optische Revolten.3 In Jeunets Film treten das Schwein und die Gans aus ihrer Funktion, aus ihrem Rahmen und verselbstständigen sich, wie die Einfälle Amélies. Sie sind es, die ihr als Freunde den entscheidenden Hinweis geben, selbst zu handeln. Sie stehen stellvertretend für das Irrationale, den Traum, die kindliche Phantasie. Sie stellen ein surrealistisches Stilmittel dar, das die filmische Illusion gleichermaßen ausstellt, wie es sie durchbricht. Die Collage ist ebenfalls in der Schnitzeljagd d’amour präsent und in Ninos Suche nach dem geheimnisvollen Passfotoautomaten-Mann. Amélie folgt

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Zips: „Idyllen voller Abgründe“.

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ihm durch die Bahnhöfe der Stadt, weil er an den Fotofixautomaten die weggeworfenen Bilder sammelt und damit die Anzahl der Filmgesichter und Geschichten vervielfacht. Zugleich ist die Collage mise-en-abyme des erzählerischen Prinzips des Films, der aus vielen Story-Fäden eine Geschichte kreiert, die von der Hauptfigur Amélie zusammengehalten wird.

Sammelleidenschaft und Kuriositätenkabinette Eine weitere Besonderheit des Films ist die Sammelleidenschaft, die auf mehreren Ebenen thematisiert wird. Hier wird auf die Kuriositätenkabinette der Surrealisten und die Ästhetik des Objet trouvé alludiert. Wie Breton aus seinem persönlichen Kuriositätenkabinett schöpfen konnte, so auch Jeunet. Jeunets Figuren spiegeln diese Sammelleidenschaft: Der kleine Junge, der seine Schätze in einer Truhe aufbewahrt und damit zugleich Spiel und Sammelleidenschaft verbindet. Nino, der Fußabdrücke in Zement, weggeworfene Fotos, Alltagsmaterial sammelt und neu zusammensetzt. Monsieur Poulain, der sich in seinem Garten ein Monument ganz eigener Art aus diversen Memorabilia wie dem berühmten Gartenzwerg errichtet, der später von der Tochter auf Reisen geschickt wird, um ihn aus seiner Lethargie zu befreien. Der Film spricht gleich mehrere Sinne an, ist bewusst synästhetisch gestaltet. Immer wieder werden Geschmack, Gerüche und sinnliche Erlebnisse evoziert. Man meint ihn förmlich zu riechen, den Butterkuchen, der Nino schließlich zu Amélie lockt. Wochentage haben hier eine Farbe und Kindheitserinnerungen einen Klang. Die Tonspur gehorcht dabei ähnlichen Prinzipien wie die Bildspur, auch hier zeigt sich eine collagenhafte Anordnung. Eine Herausforderung für die Musik, die von Yann Tiersen komponiert wurde. Auffällig ist die Instrumentierung mit Spielzeugklavier, Glockenspiel, Banjo und Mandoline neben Akkordeon und Gitarre. Aber auch die Melodien, die Tiersen raffiniert variiert, gehorchen dem Prinzip der Collage und des Spiels. Wenn in „Pas si simple“ eine Schreibmaschine fast unmerklich in die Musik integriert wird, das Amélie-Thema als sanfter Walzer erklingt oder das Akkordeon französischen Lokalkolorit verbreitet, dann wird deutlich, wie auch hier mit diversen Versatzstücken und Klischees operiert wird. Obwohl der Film auf den ersten Blick heiterer ist als seine düsteren Vorgänger, sind auch in Amélies Welt die Abgründe, die grotesken Einfälle und absurden Geschichten nur allzu offensichtlich. So vermag ihr Optimismus nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es eine zutiefst grausam-groteske Welt ist, die sie durch ihr Eingreifen zu verbessern sucht. Und dass ihre Einfälle häufig ebenso so grausam sind wie kindliche Spiele. Wenn sie etwa die Welt des Gemüsehändlers Colignon verrückt, sein Türschloss manipuliert, seine

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Pantoffeln austauscht, ihm Schuhwichse in die Zahnpasta tut und Mundwasser in die Cognac-Flasche, dann mutet dies zutiefst gleichzeitig aberwitzig wie grausam an. Auch die Erziehung Amélies selbst, der ihr Vater auf Grund eines fälschlicherweise diagnostizierten Herzfehlers eine normale Entwicklung versagt, vermag trotz aller komisch-grotesker Einfälle – der Narration und der kindlichen Autorin – seine grausam-düstere Seite nicht verhehlen.

Ein Film wie ein Gemälde Der Film spielt auch mit unterschiedlichen Medien. Das Gemälde der Ruderer, das der Mann aus Glas jedes Jahr einmal malt, ist ebenso präsent wie die Anleihen beim Comic. Am deutlichsten wird jedoch das Fernsehen thematisiert. Die Fernsehaufnahmen, die Amélie und der Maler austauschen, sind collagenartig angeordnet: Jeunet hat die einzelnen Fernsehausschnitte nach dem Prinzip des Zappings zusammengefugt und in den Film integriert wie die Aufnahmen des Pferdes, das neben den Tour-de-France-Rennfahrern herläuft: Bilder, die eigenen ästhetische Prinzipien gehorchen, doch durch die Art der Montage im Film selbst eine andere, neue Bedeutung gewinnen. Historische Fernsehaufnahmen werden auch instrumentalisiert, um die Figuren im Café zu charakterisieren. Später werden Amélie oder auch Nino in historische Dokumentaraufnahmen montiert, um Amélies Tagtraum zu verdeutlichen. Die Aufnahmen sind hier vorwiegend schwarz-weiß, was einen deutlichen Kontrast zur grellbunten Farbigkeit des übrigen Films evoziert. Zum ersten Mal drehte Jeunet für diesen Film außerhalb eines Studios. Der stets auf vollständige Kontrolle seiner Aufnahmen bedachte Regisseur ließ alle ihn störenden Elemente aus den Straßen von Paris räumen, anschließend überarbeitete er die Aufnahmen noch mit digitaler Tricktechnik. Anders als in seinen früheren Filmen, die düster und unheimlich waren und in dunklen Farben ein grotesk-schauriges Szenario entwarfen, wird die Welt hier in leuchtende Farben getaucht. Das Licht des Films, die Beleuchtung (Bruno Delbonnel) profitierte von einem neuen System, das es erlaubt, unabhängig und sehr präzise die Tönung der einzelnen Farben zu kontrollieren und zu modifizieren, so dass die einzelnen Bilder wie gemalt aussehen. Die Farben wirken künstlich, es ist eine Farbigkeit wie auf alten handkolorierten Postkarten. Grün und braun sind die Wohnungen derer, die sie fast nie verlassen, wie der Concierge Madeleine Wallace und des alten Dufayel. Grün ist auch das Wasser des Kanals, auf dem Amélie ihre Steinchen springen lässt, und grün und sandsteingelb ist Paris. Rot ist die stärkste aller Farben, die Farbe von Amélies Lippen, ihrer Wohnung, ihrer Kleidung und der vielen kleinen Dinge und Objekte, die sich durch die Geschichte ziehen wie der sprichwörtliche Faden, wie die roten Turnschuhe des Foto-Fix-Techni-

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kers. Und Rot ist naturgemäß die Farbe des Sexshops, in dem Nino arbeitet. Der Vollständigkeit der Farbpalette wegen sei noch Blau erwähnt. Blau sind die Wegweiser auf dem Asphalt, und blaugrauschwarz erscheinen die Fernsehbilder. Sie alle sind das Ergebnis von Jeunets Bildersuche: Wie der alte Dufayel Jahr für Jahr Renoirs „Frühstück der Ruderer“ malt, um den perfekten Ausdruck auf allen Gesichtern zu erreichen, so malt Jeunet sein Montmartre, ein Traum-Montmartre, eines der Erinnerung. Amélie ist auch ein Film über das französische Kino. Ausführlich wird das Kino der 40er und 50er Jahre zitiert; der Film ist nicht zuletzt eine Hommage an Truffaut. Dabei eignet dem Film eine durchkomponierte, surreale Bildästhetik. Extreme Close-Ups, verzerrender Weitwinkel in den Montmartre-Panoramen, kurze Einstellungen, Kameraschwenks und -bewegungen, die den Blick unerbittlich mit sich ziehen. Jeunets Mikrokosmos skurriler Gestalten wird mit Hilfe von Close-Ups, Reißschwenks, extremen Auf- und Untersichten sowie Zeitraffer umgesetzt, der einen comicartigen Effekt zeitigt. Exzessive digitale Bearbeitung, viel Tricktechnik und unstete Blickbewegungen sind die Folge. Es ist ein digital nachkoloriertes Montmartre-Idyll, das Jeunet dem Zuschauer vorführt. Rückblenden in melancholischem Schwarz-Weiß kontrastieren mit grellbunten Aufnahmen, die an kitschige Postkarten erinnern. Komplettiert werden die vielen ungewöhnlichen Kameraeinstellungen durch überlegt eingesetzte Computergraphik wie die Aufnahmen, in denen sich die Wolken über Paris zu Teddybären und Hasen formen. Seine digitalen Effekte, etwa eine wie Wasser zerfließende Heldin oder ein rot pulsierendes Herz, setzen häufig comicartig Sprichwörtliches in Szene (tomber à l’eau, aller au cœur). Es ist nicht zuletzt die Collage, das Spiel mit unterschiedlichen Medien und Codes, die den Reiz dieses Films ausmacht. Der Film kreiert bewusst eine Kunstwelt, eine Bühne, die das Wesen der Kunst selbst reflektiert und seine eigenen Wirkungsmechanismen in einer Art permanenter mise-en-abyme vorführt.

Der Filmemacher als Bricoleur Auch wenn der Film nicht so düster daherkommt wie seine Vorgänger, sind auch hier Einbildungen und Inszenierungen des Grotesken, Absurden, Bizarren, Irrationalen auszumachen. Die Großstadt wird als Raum des Zufalls in Szene gesetzt, der hier zugleich das Wunderbare, Unerklärliche meint, die nicht erklärbaren Korrespondenzen zwischen Räumen und Ereignissen. Es ist ein Spiel mit den Versatzstücken unterschiedlicher Paris-Darstellungen, sei es in Filmen, in der Literatur, der Musik, der Poesie. Marcel Carné, René Clair, Jean Renoir, der Literat Georges Perec, der Poet und Surrealist Jacques Prévert, der am Montmartre lebte, wo Amélies Geschichte spielt, sie dienten als Material

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für den Bricoleur Jeunet. Von Perec übernahm Jeunet auch die Vorliebe für Listen, die er bereits 1989 in seinem Kurzfilm Foutaises durch Aufzählungen im Stil von „Ich mag/Ich mag nicht“ auslebte und die er hier in exzessiver Konsequenz weiterfuhrt. Immer wieder wird wie bei Victor Hugo ein Flug über Paris imaginiert. So fragt sich Amélie, wie viele Menschen etwa gerade einen Orgasmus erleben, woraufhin unterschiedliche Einblicke in unterschiedliche Schlafzimmer in kurzen Einstellungen einander ablösen. Der Film ist ein lustvolles Spiel mit Klischees, mit diversen Versatzstücken eines idealisierten Paris-Bildes: Das Frankreich Amélies – Montmartre, ein bisschen Bohème, gescheiterte Schriftsteller und jugendliche Träumer – ist die stilisierte Wiederholung eines Klischees ebenso wie es ein populäres Selbstbildnis ist. Anders als in den früheren Filmen Jeunets ist das Spiel der Farben und Formen freier, das, was in den düsteren und grotesken Bildern bedrohliche Züge annahm, ist hier zwischen den Bildern auszumachen. Die engen Grenzen der einstmals finsteren Jeunet-Stadt sind hier nur noch zu erahnen. Dennoch ist die Welt voller Risse und Spiegelungen. Wer genau hinsieht, erkennt, dass dieses ideale Paris aus lauter verschiedenen Welten, aus lauter Spielen und Erfindungen besteht, die sich wie in einem Spiegelkabinett vervielfältigen. Auch die Stadt selbst setzt sich aus Versatzstücken zusammen, Impressionen eines Ideals bzw. Postkartenparis. Amélie ist wie Jeunet ein „meneur de jeu“, sie ordnet Dinge und Figuren an, wie der Regisseur des Films selbst. Das erzählerische Prinzip des Films ist zugleich das Lebensprinzip der Amélie Poulain: Während im Fernsehen Lady Dis Tod gemeldet wird, findet die Pariser Kellnerin hinter einer Kachel im Bad eine Blechdose, in der einst ein Junge seine wertvollste Habe versteckt hatte. Auslöser des Fundes ist nicht zufällig der Deckel eines Flacons, der hier wie eine Murmel zu der entsprechenden Kachel rollt. Die Blechdose ist ein Sammelsurium von Gegenständen, Erinnerungsstücke an eine längst vergessene Kindheit - und an die Schmach, die der Junge einst mit Murmeln erlebte, die dem kindlichen Spiel ihre grausame Seite entlockten. Amélie beschließt, den unbekannten Jungen zu suchen und findet dabei die Aufgabe ihres Lebens: andere glücklich zu machen. Dabei bevorzugt sie den Umweg, das Versteckspiel, den gezielten Einsatz scheinbaren Zufalls. Der Zuschauer folgt ihren Einfällen, die immer sofort, manchmal beschleunigt im Zeitraffer, in die Tat umgesetzt werden. Eine deutliche Theatralisierung ist hierbei zu beobachten. Amélie versucht, den Gemüsehändler zu bekehren, indem sie seine Wohnung zur Bühne macht, auf der die Gegenstände scheinbar ein Eigenleben entwickelt haben und sich gegen ihren Besitzer stellen, was diesen so sehr verstört, dass er fortan seine Umwelt mit anderen Augen betrachten wird. Ebenso erfindet Amélie für die Zigarettenverkäuferin Georgette und den eifersüchtigen Joseph eine Liebesgeschichte, Liebe auf Rezept gewissermaßen, die beide danach aus-

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agieren - bis zum erneuten Bruch. Den Kreislauf aus Liebe, Begehren und Eifersucht kann selbst Amélie nicht durchbrechen. Auch wenn für Augenblicke das Glück einkehrt, nachdem Amélie die Kräfte neu arrangiert hat, so bleiben doch die Brüche in ihrem wunderbaren Universum immer gegenwärtig. Es sind zutiefst groteske Figuren und Welten, die Jeunet hier wie auch in seinen früheren Filmen präsentiert. Figuren, die zwar nicht in der Unterwelt leben, wie in Delicatessen, aber doch am Rande, und die teils ihre Wohnungen nie verlassen, wie der Mann aus Glas oder die alkoholabhängige Concierge. Auch Amélies Vater würde sich in seinem grotesken Mausoleum einmauern, würde Amélie nicht den Gartenzwerg auf Reisen schicken. Und Nino würde weiterhin nur seine Fotoschnipsel zusammenkleben, wenn sie ihn nicht auf eine andere Spur leiten würde. Dabei ist die Maskerade ständig präsent. Amélie maskiert sich als Zorro, um Nino irrezuleiten und dieser arbeitet als Gespenst in einer Geisterbahn. Ihre erste körperliche Begegnung wird nicht zufällig als danse macabre inszeniert. Der Zuschauer wird bei all diesen Einfällen zum Mitwisser, zum Voyeur, der mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen die Manipulationsversuche der Heldin verfolgt. Die Schnitzeljagd, die sie für Nino inszeniert, verweist dabei ebenso wie die zusammengeklebten Passfotos auf die collagenhafte Anordnung des Films. Der gesamte Film setzt sich aus beobachteten Details zusammen, es ist ein Kuriositätenkabinett oder ein Sammelsurium von Bausteinen unterschiedlicher Art. Jeunet verwandelt alltägliche Fundstücke, Kleinkram und „gefundene Objekte“, die den Surrealisten so heilig waren, in Dinge mit quasi magischer Ausstrahlung. Amélie alias Jeunet ist auch ein Fälscher, ein Meister der surrealistischen Kombinatonk und Täuschungen. Die Täuschungsversuche Amélies können als mise-en-abyme verstanden werden: Wie der Film seine eigene Fiktionalität ausstellt, so wird auch Amélie als Autorin von Fiktionen installiert - und als Ursprung der Täuschungen, die die Handlung erst in Gang setzen. Ganz deutlich zeigt sich dies, als Amélie aus diversen Ausschnitten der Briefe des verstorbenen Ehemannes ihrer unglücklichen Nachbarin einen neuen Brief zusammensetzt, einen erlösenden „lettre d’amour“. Das Verfahren, das sie dabei anwendet, erinnert nicht von ungefähr an die Traumfabrik schlechthin, das Kino. Die Briefe werden gesammelt, gelesen, kopiert, auseinandergeschnitten, montiert, geklebt, wieder kopiert. Der Brief wird dann, wie ja auch der Film Jeunets als Hommage an das Kino der 40er Jahre daher kommt und doch seine wahre Herkunft aus dem digitalen Zeitalter nicht verleugnet, künstlich vergilbt und schließlich als überraschendes Fundstück aus der Vergangenheit präsentiert. Der Film spielt hier mit dem eigenen Medium, um ein anderes Medium, den Brief, in Szene zu setzen. Als die Concierge den Brief in der Hand hält, verknüpft Jeunet die Illusion der Witwe auf der Tonspur mit der Cut-up-

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Technik, die der Illusion zugrunde liegt: Der Verstorbene trägt selbst vor, aus dem Off, und jeder seiner Sätze bekommt eine andere Atmosphäre unterlegt. Der erlösende letzte Brief, aus Schnippseln der vorigen komponiert, wird im Zeitraffer gezeigt. Der fertige Brief liest sich auf der Tonspur als sprunghafte Collage der Originalstimmungen. Amélie konstruiert sich ihre eigene Welt, aber auch ihren eigenen Film. Wenn sie eine Erklärung sucht, warum Nino nicht zum verabredeten Treffpunkt kommen kann, wird dies in eben den Schwarz-Weiß-Aufnahmen rekonstruiert, die an die mit Hilfe der Videokamera aufgezeichneten Fernsehfundstücke des Malers erinnern. Die Aufnahmen dienen indes nur als Hintergrund, als Kulisse für die Heldin selbst, die zusammen mit Nino in die Bilder hineinmontiert wird. Interessant ist in dem Zusammenhang auch, dass hier bewusst eine Bild-Ton-Décalage eingebaut wird: So werden zum russischen Originalton der Widerstandskämpfer französische Untertitel eingeblendet, die sagen: „Das Recht auf ein gescheitertes Leben ist unantastbar.“ Zum Schluss imaginiert Amélie, wie Nino angezogen vom Duft ihres fabelhaften Butterkuchens die Straßen durchstreift und schließlich zu ihr findet. Der Film handelt auf diese Weise auch von der Freude an der Manipulation, am voyeuristischen Element, die anderen in die Falle gehen zu sehen, kurz: vom Kino selbst. Der Brief ist nicht zuletzt ein Bild für das Kino, das erst durch „découpage“ und „montage“ funktioniert. Die Collage verweist als Montageprinzip auf das technische Prinzip des Films selbst, der ja auch aus zusammenmontierten Einzelbildern besteht und auch auf die neue digitale Technik. Dies wird nicht zuletzt durch den Einsatz dieser Technik im Film eigens verdeutlicht. So lässt Jeunet Amélie gegen Ende des Films wie Wasser zerfließen – ein Bild, das mit Hilfe zahlreicher Pixel filmisch umgesetzt wurde. Enjott Schneider bezeichnet den Film denn auch konsequent als Mutter aller Künste und verweist auf Collageformen der Postmoderne. Schneider geht in dem Kontext auch auf Unterschiede zwischen Montage und Collage ein. Während es sich bei der Montagetechnik und eine handwerkliche und ältere Form handelt, bei der es darum geht, Brüche eher zu verschleiern, stellt die Collageform Brüche aus. Bei der Collage, die nicht wie die Montage eindimensional, sondern mehrdimensional rezipiert werden kann, wird auch stärker multimedial operiert. Für den Film heißt das, dass Montage da zur Anwendung kommt, wo verschiedene Bilder aneinandergefügt werden, Collage aber die Schichtung unterschiedlicher Ausdrucksebenen, wie z. B. Bild und Tonebene bezeichnet und die Brüche zwischen den Aufnahmen deutlich macht.4 Wir ha4

Schneider: „Der Film als Mutter aller Künste: ‚Collage‘ in der Postmoderne“, S. 19, und S. 9. Die multimediale Collage zählt somit zum „offenen Kunstwerk“ im Sinne Ecos und lässt sich als Kunstprinzip der Postmoderne klassifizieren.

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ben an einigen Beispielen gesehen, wie die Collage auf verschiedenen Ebenen des Films gegenwärtig ist, wie immer wieder selbstreflexiv das eigene künstlerische Verfahren thematisiert wird. Das Paradox besteht nun aber gerade darin, dass die Brüche einerseits zwar deutlich werden, andererseits aber überdeckt, so dass eine leichte Rezipierbarkeit des Films möglich ist. Wie in dem bereits zitierten Beispiel des Briefes, der sich auf den ersten Blick auch als Fundstück aus der Vergangenheit präsentiert und erst beim genaueren Hinsehen (oder gar beim Verdeutlichen des Produktionsprozesses) seine eigene Künstlichkeit offenbart. So werden in Le Fabuleux destin d'Amélie Poulain einerseits die Brüche stets deutlich gemacht, sei es auf der Bild-Ton-Ebene, der Bild-Ebene mit dem Zusammenfügen von historischen Fernseh- und aktuellen Filmaufnahmen, auf der StoryEbene mit dem Zusammenfügen unterschiedlicher Klischees und Versatzstücke, auf der Figurenebene mit der Charakterisierung der Figuren. Andererseits aber auch überdeckt, wie gerade durch den Einsatz der digitalen Technik verdeutlicht wird. Der Film inszeniert wiederholt Maschinen, Textmaschinen, Bildmaschinen, digitale Maschinen, die Menschenbilder produzieren. Dabei generiert er Effekte, setzt vor allem auf die Oberfläche der Dinge, die den Abgrund nur erahnen lassen. Ekkehard Knörrer schreibt, das Kino, für das Amélie stehe, genüge sich im Effekt, dem eigenen und dem, den es hervorbringt. Es nutze alle technischen und narrativen Mittel, wo es sie braucht, bringe sie aber nicht zum Verschwinden, sondern spiele damit.5 Meines Erachtens nach kann man noch weiter gehen: Der Film ist nicht zuletzt auch ein Beispiel für einen Regisseur, der zuerst aus der Werbeindustrie seine Impulse bezog. So kann, wer will, in dem Film die Brüche erkennen, die Abgründe, die düster-groteske Seite und die absurden Einfälle. Wer nicht mag, kann ihn aber auch einfach als wunderbares Kinomärchen goutieren. Jeunet inszeniert, wie Georg Seeßlen schreibt, seit Delicatessen geschlossene Systeme, die auf fragwürdigen Prämissen beruhen wie dem Kannibalismus oder der körperlichen und mentalen Ausbeutung der Kinder. Auch in seinem Alien-Film zeigt er eine Welt, die sich als immer stärker in sich geschlossen erweist, bis sie nur noch zerstört werden kann. Häufig spielen in seinen Filmen inversive Maschinen eine Rolle wie die suizidalen Maschinen in Delicatessen, die Traummaschinen in Stadt der verlorenen Kinder oder Winona Ryder als Maschinenmensch in Alien 4. In Amélie dagegen scheint es zunächst, als würde der Regisseur statt von der geschlossenen Welt der Maschinen von der Öffnung der Welt für das Spiel der Heldin erzählen. Aber tatsächlich geht es auch hier wieder um geschlossene Welten, Kreise, die sich schließen, wie die Reise des 5

Knorr: „Die fabelhafte Welt der Amélie: Herrliche Lust am Inauthentischen.“

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Kirsten von Hagen | Spielformen des Surrealen in Jeunets Kinowelt

Gartenzwergs, Räume, die die ganze Welt beinhalten wie das Café, in dem sie arbeitet. Die Maschine, um die es hier geht, ist nicht zuletzt das Kino selbst. Seeßlen konstatiert: „Eine Maschine, die den cineastischen Surrealismus ebenso verarbeitet und schmackhaft gemacht hat wie die Nachtmärchen Rivettes, eine Maschine, die Carnet und Prévert verknetet, und Jacques Tati und Louis Malle durch echte und imaginäre Museen treibt.“6 So ist dieser Film nicht zuletzt eine Einladung zum lustvollen Umgang mit eben jenen Bildern, die nicht nur der Film, sondern auch die Mythen des Alltags, die Literatur, die Musik, der Comic und das Fernsehen generiert haben und die nun von Jeunet in einem selbstreflexiven Spiel nicht minder lustvoll aneinandergefügt werden zur fabelhaften Welt der Amélie Poulain.

Literaturverzeichnis Knorr, Ekkehard: „Die fabelhafte Welt der Amélie: Herrliche Lust am Inauthentischen. Überlegungen zu Amélie, Ideologie und Wiederverzauberung“, in: http://www.filmzentrale.com/rezis/amelieek.htm (30.08.2006). Schneider, Enjott: „Der Film als Mutter aller Künste: ‚Collage‘ in der Postmoderne“, in: http://www.norbert-schneider.com/pdfs/Collage.pdf (01.09.2006). Seeßlen, Georg: „Die fabelhafte Welt der Amélie: Giftsüß und verführerisch“, in: http://www.filmzentrale.com/rezis/fabelhafteweltderameliegs.htm (29.08.2006). Worthmann, Merten: „Großmanöver Glück. Die Spezialeffekte des Lebens in Jean-Pierre Jeunets Film Die fabelhafte Welt der Amélie“ in: DIE ZEIT 18.12.2008 (http://www.zeit.de/2001/34/Grossmanoever_Glueck) Zepter, Michael Cornelius: „Vom papier collé zur Materialaktion: Anmerkungen zur Geschichte der Collage“, in: http://www.michaelzepter.de/ collage.htm (01.09.2006, zuerst erschienen als Vorwort zum Katalog der Ausstellung Collage, Assemblagen, Objekte in der Hahnentorburg Köln 1981). Zips, Martin: „Idyllen voller Abgründe. Große Räume, weite Flure, hässliche Spinnen: Die fabelhafte Welt des Zeichners Michael Sowa“, in: Süddeutsche Zeitung 24.11.2001 (http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/ artikel99208.php)

6

Seeßlen: „Die fabelhafte Welt der Amélie: Giftsüß und verführerisch“.

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Beatrice Schuchardt

‚Surrealism goes Hollywood‘: Julie Taymors Frida 1.

Einleitung

Obwohl die mexikanische Malerin Frida Kahlo sich Zeit ihres Lebens gegen die Vereinnahmung ihres künstlerischen Schaffens durch den französischen Surrealismus verwahrt hatte,1 so war sie dennoch für den Mitbegründer dieser Bewegung, André Breton, Surrealistin avant la lettre.2 Während Susanne Klengel in diesem Zusammenhang die Strategien einer eurozentristischen Vereinnahmung der Kunst Kahlos durch die surrealistische Bewegung betont3 und die in der Kahlo-Forschung immer noch aktuelle Verquickung von Künstlerin und Werk letztendlich auf die eurozentristische Lesart Bretons zurückführt, so erweitert Uta Felten die Vereinnahmungs-These um einen entscheidenden Aspekt. Wir wollen diesen hier unter dem Begriff der „Verhandlung“ subsumieren, welcher dem Umstand Rechnung trägt, dass dem hegemonialen Versuch der kulturellen oder ästhetischen Inbesitznahme immer auch ein Widerstand entgegensteht. Dieser führt zu einer „Konfrontation der Blicke auf das Eigene und das Fremde, der von Verstehen und Missverstehen, von versuchter Vereinnahmung und kreativem Austausch gleichermaßen geprägt wird“, und der nicht nur die „Selbstaffirmation eines mexikanischen Surrealismus“ bewirkt, sondern gerade im Moment des Widerstreits hybride Phänomene in Gang zu setzen vermag.4 Entsprechend versteht Felten die „pikturalen und literarischen Texte des mexikanischen Surrealismus“ unter Rückgriff auf Vittoria Borsò als „Orte bestimmter heterogener diskursiver Praktiken“, die ‚widerstreitende und resistente Kräfte aufbauen‘ und Brüche und [sic] diskursive Kollisionen offenlegen“.5

1

Herrera: Frida, S. 308.

2

Breton: „Frida Kahlo de Rivera“, hier S. 144.

3

Klengel: Amerika-Diskurse der Surrealisten, S. 122: „Frida Kahlo ist […] scheinbar auf eindeutige Weise vom Surrealismus klassifiziert und vereinnahmt: durch ihre Kunst, durch ihre Weiblichkeit und durch ihre mexikanische ‚Andersheit’ oder Exotik, die zusammen unauflösbar eine ästhetische Einheit bilden.“

4

Felten: „‚Éste, que ves, engaño colorido‘ – Intermedialität und hybride Diskurspraxis in der mexikanischen Literatur- und Mediengeschichte“, S. 254.

5

Ebd. in Bezug auf Borsò: Mexiko jenseits der Einsamkeit, S. 38.

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Beatrice Schuchardt | ‚Surrealism goes Hollywood‘: Julie Taymors Frida

Die vorliegende Studie möchte Feltens Perspektivierung des mexikanischen Surrealismus als eine „wahrnehmungsästhetische Kategorie, die neue spannungsreiche Bild-Text-Kombinationen ermöglicht, die sich einer vereindeutigenden sinnsuchenden Hermeneutik entziehen“6 auf die bewusste (Re)Konstruktion surrealistischer Bild-Elemente durch den aktuellen HollywoodFilm anwenden. Hierbei soll die Möglichkeit der Initialisierung hybrider Prozesse als Resultat der Verhandlung zwischen dem Versuch der Vereinahmung einerseits, und Widerstand gegen die Inbesitznahme des Lebens und Werks Frida Kahlos durch die amerikanische Filmindustrie andererseits, geprüft werden. Gegenstand der Untersuchung ist hierbei Julie Taymors Film Frida aus dem Jahre 2002.

Julie Taymors Frida zwischen Kunst und Kommerz

2.

Eine Analyse, die sich mit der filmischen Umsetzung der Biografie der Künstlerin Kahlo durch das Medium Film auseinandersetzt, darf die Vermarktung des ‚Produkts Frida Kahlo‘, der sich vor allem seit Beginn der 1990er Jahre abzeichnet, ebenso wenig außer Acht lassen wie ihren Status als Ikone der Popkultur. So konstatiert Katie Clifford, die Hollywoodproduktion Frida erobere die Kinos nicht zufällig „at the peak of ‚Fridamania‘“.7 Als einige Beispiele unter vielen für einen regelrechten ‚Kahlo-Hype‘ dürfen nicht nur die jüngste Kahlo-Ausstellung 2005 in London und die in diesem Kontext vertriebenen Devotionalien gelten, sondern auch der Status Kahlos als ‚Fashion-Ikone‘ und ‚Werbestar‘ post mortem: Designer wie Gaultier oder Moschino haben sie als Inspirationsquelle für ihre Kollektionen herangezogen, jüngst wurde ihr Name auch in einem Werbespot für eine skandinavische Automarke verwendet.8 Trek Thunder Kellys Acrylgemälde The Suicide of Frida Kahlo (2004) mag das auf das letzte Jahrzehnt zurückgehende, wiedererwachte Interesse an Kahlo als einem popkulturellen Bestseller – das der kommunistischen Gesinnung der Künstlerin entgegen steht – treffend veranschaulichen. Dabei thematisiert 6

Felten: „‚Éste, que ves, engaño colorido‘ – Intermedialität und hybride Diskurspraxis in der mexikanischen Literatur- und Mediengeschichte“, S. 259.

7

Clifford: „Featuring Frida“, S. 61: „In the past decade, Kahlo’s self-portraits have been widely reproduced, appearing on posters, T-shirts and even U.S. postagestamps. Her paintings are increasingly featured in museum exhibitions and have fetched record auction prices; her life has been construed in books, operas, plays and documentaries; and her story has attracted pop entertainers such as Jennifer Lopez and Madonna […], who sought to play the artist in other film projects that never got off the ground.“

8

Zarzycka: „‚Now I live on a painful planet.‘ Frida Kahlo Revisited.“, S. 73.

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Kelly nicht nur die Vermarktung Kahlos als ‚Sexsymbol‘, sondern auch die zunehmende Attraktivität ihres Mestizentums in Zuge eines „Hype um Hybridität“9, greift Kellys Gemälde doch sowohl die androgynen als auch die transkulturellen Aspekte Kahlos, die Tochter einer indianischen Mutter und eines deutsch-jüdischen Vaters war, auf. Die Einschätzungen hinsichtlich der künstlerischen Qualität, kommerziellen Orientierung und Authentizität – sofern man angesichts des erwiesenen Konstruktionscharakters der Biographie als Teilbereich der Historiographie überhaupt von einer solchen sprechen darf – der jüngsten filmischen Interpretation des Lebens Frida Kahlos, die, nebenbei bemerkt, auf Hayden Herreras Porträt der Künstlerin basiert, sind geteilt. Während John Anderson an Julie Taymors Film die Präponderanz der Hollywood-Formel bemängelt – „[…] the long-awaited biopic on the late, generously eyebrowed Surrealist […] still gives Kahlo the Hollywood-treatment“10 –, konstatieren Batra & Mraz zwar die biographischen Inkorrektheiten des Films,11 grenzen ihn aber dennoch klar von der Konvention der Hollywood-Biographie ab: „The acknowledgement of female sexuality in Frida stands in sharp contrast with that of Hollywood.“12 Weiter heißt es: In placing a Mexican mestizo communist woman – who, moreover, drinks heavily, takes drugs, and has lesbian relationships – at the center of the story, Frida has gone against the grain of biopics, where history is ‚male, white and American [sic]‘.13 Man könnte dagegen die berechtigte Frage einwerfen, ob es sich bei dieser filmischen Darstellung Kahlos nicht gerade um eine exotistische Stilisierung Me9

Vgl. die gleichnamige Publikation von Kien Nghi Ha, Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld: transcript 2005, wo Nghi Ha das Hybride als Warenform des Spätkapitalismus untersucht.

10 Anderson: „Channeling Kahlo“, S. 47. 11 Batra/Mraz: „Las ‚Dos Fridas’: History and Transcultural Identities“, S. 452f. Zu diesen „Ungenauigkeiten“ zählen Batra und Mraz etwa die Marginalisierung bzw. die Ausblendung ihres politischen Engagements in der kommunistischen Partei Mexikos (PCM), ihr Stalin-Portrait und ihren letzten öffentlichen Auftritt bei einer Demonstration gegen den Sturz des demokratisch gewählten Regimes in Guatemala durch die Intervention der USA. Die mexikanische Kritik ergänzt diese Aufzählung durch die Betonung der Abneigung Kahlos gegen Tequila, den Salma Hayek alias Frida im Film dennoch in rauen Mengen zu sich nimmt. Ebd., S. 455. 12 Ebd., S. 452. 13 Batra/Mraz: „Las ‚Dos Fridas’: History and Transcultural Identities“, S. 455 in Bezug auf Custen: Bio/Pics: How Hollywood Constructed Public History, S. 109.

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xikos zum weiblichen und sexuell unbezähmbaren Anderen der – wie Batra & Mraz selbst einräumen –, männlich und weiß definierten amerikanischen Gesellschaft handelt, und somit um eine durchaus intendierte Projektion männlicher Begierden auf die Figur Fridas handelt. So hat sich die Zurschaustellung weiblicher Homoerotik aus kommerziellen Gesichtspunkten jedenfalls als durchaus lohnenswert erwiesen, wie u.a. die lesbische Liaison der Figur Catherine Tramell in Verhoevens Basic Instinct illustriert. Zudem könnte man Batra & Mraz mit Clifford entgegenhalten, dass dem Aspekt der Mestizierung außerhalb des Aspekts der typisch folkloristischen Kleidung Kahlos im Film verhältnismäßig wenig Raum gegeben wird.14 Dennoch betont neben John Anderson auch Clifford die Anleihen Fridas an die Ästhetik des Surrealismus und spricht von „surrealistic flourishes that honor the spirit of Kahlo’s art“.15 Diese Perspektive wird durch Taymors eigene Angaben gestützt, die ihre ‚surreale Annäherung‘ („surreal approach“16) an die Figur Kahlos und ihr Werk betont. Wenn die Gründe für die Inbezugsetzung Fridas zur Ästhetik des Surrealismus seitens der Sekundärliteratur möglicher Weise darin liegen, dass es sich hierbei im Sinne Susanne Klengels um eine unreflektierte Reproduktion des vereinnahmenden Diskurses André Bretons und um ein Echo des Kanons der Kahlo-Forschung handeln mag, so können wir dies auch in Bezug auf Taymor nicht ausschließen. Dies ist zumindest wahrscheinlicher als eine inflationäre Verwendung des Surrealismusbegriffes seitens Taymors, ist doch davon auszugehen, dass diese sich in der Auseinandersetzung mit Herreras Biographie auch mit dem um Kahlo entbrannten ‚Surrealismus-Streit‘ beschäftigt haben muss. Ebenso denkbar wäre es, dass der Einsatz einer am Surrealismus orientierten filmischen Ästhetik die inzwischen zum Allgemeinplatz gewordene Verquickung der Künstlerin Kahlos mit der surrealistischen Bewegung bewusst untermauert, und dies wiederum zu Zwecken der Tarnung der exotisierenden Tendenzen des Films hinter der künstlerisch anspruchsvollen Fassade einer ehemaligen Avantgarde-Bewegung wie dem Surrealismus einsetzt. In diesem Sinne würde es sich bei der durch das Medium Film erzeugten, surrealistischen Ästhetik um eine Konstruktion handeln, die der Künstlerin Kahlo einen surrealistischen Blick gleichsam unterstellt.17 Dieser Umstand steht der Möglichkeit der Produktion hybrider Effek14 Vgl. Clifford: „Featuring Frida“, S. 61. 15 Ebd. 16 Taymor: „Director’s Notes“, S. 9. 17 Dies steht interessanter Weise in harschem Gegensatz zu Bretons Definition des Surrealismus als einem „Automatisme psychique par lequel on se propose d’exprimer, soit verbalement, soit par écrit, soit de toute autre manière, le fonctionnement réel de la pensée. Dicté par la pensée, en absence de toute contrôle exercé par la raison, en

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te im Sinne Feltens im Übrigen keineswegs entgegen, impliziert doch der Umstand, dass diese gerade in den Brüchen widerstreitender Diskurse entstehen, ihre Nicht-Intendiertheit, was bedeutet, dass Hybridität somit in einer Lesart des filmischen Textes ‚gegen den Strich‘ auszumachen wäre. Wenden wir uns zur Erhellung dieser Problematik zunächst der durch filmische Techniken erzeugten, spezifischen Ästhetik Fridas zu, bevor wir die surrealistisch anmutenden Sequenzen des Films anhand von ausgewählten Beispielen einer näheren Betrachtung unterziehen.

3.

Filmische Techniken in Frida

Für Ellen McCracken ist Frida die postmoderne Re-Inszenierung der mexikanischen Identität als hybrid,18 eine Einschätzung, die zunächst in harschem Gegensatz zu Cliffords These von der Marginalisierung der Mestizierung bei Taymor zu stehen scheint und die McCracken unter dem Begriff der „supra-ethnicity, that is, an overlaying level of the ethnic“19 subsumiert. Entsprechend liest sie die Farben, die folkloristischen Elemente, die Kleidung, die dekorative Verwendung von Lebensmitteln, die Musik und – allen voran – die im Film verwendete Technik dessen, was Taymor als „juxtaposing period realism with 3-D live painting“20 bezeichnet, als filmische Stilmittel zur Erzeugung von Hybridität. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass McCracken Hybridität demnach als etwas erachtet, das bewusst produziert werden kann und nicht als etwas, das, wie Bhabha betont, gänzlich gegen die Intention eines Diskurses entsteht21, ein Umstand, den wir an späterer Stelle erhellen wollen. Für McCracken sind in erster Linie jene visuellen Elemente Generator von Hybridität, die Taymor selbst als Basiselemente ihrer „surrealen“ (s.o.) Annäherung an Leben und Werk Frida Kahlos ausweist. Hierzu gehören neben Collagen dehors de toute préoccupation esthétique ou morale“ (meine Hervorhebung). Breton, Manifestes du surréalisme, S. 35. 18 McCracken: „Hybridity and Supra-Ethnicity in Plastic and Filmic Representation: Frida Kahlo’s Art and Julie Taymor’s Frida“, S. 244. 19 Ebd., S. 250. 20 Taymor: „Director’s Notes“, S. 9. 21 So ist bei Bhabha etwa davon die Rede, dass „der Akt des kulturellen Ausdrucks – der Ort der Äußerung – von der différance des Schreibens überkreuzt wird“. Entsprechend definiert er den „Dritten Raum“, der ein möglicher Ort der Entstehung von Hybridität ist, als „sowohl die allgemeinen Bedingungen der Sprache als auch die spezifische Implikation der Äußerung innerhalb einer performativen und institutionellen Strategie, derer sich die Äußerung nicht ‚in sich‘ bewußt sein kann (meine Hervorhebung).“ Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 54f.

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und filmischen Zitaten vor allem die Kontrastierung der Immobilität der Malerei mit der Bewegung des dreidimensionalen Raumes des tableau vivant sowie die sogenannte „3-D-Stop“-Tricktechnik.22 Der Einsatz dieser Techniken verleiht dem Film eine individuelle Ästhetik, welche den künstlerischen Anspruch des Films untermauert und seinen exotisierenden Tendenzen – etwa die Darstellung Fridas als eine vom Leid gezeichnete, aber nichtsdestotrotz erotisch äußerst aktive, faszinierende und unbezähmbare Tequila trinkende Mexikanerin23 – entgegensteht, ja diese möglicher Weise verdeckt. Im Folgenden sollen nun zwei Sequenzen des Films im Hinblick auf das Verhältnis von surrealer Ästhetik, Hybridität und den kommerziell orientierten Genre-Konventionen des Hollywood-Films untersucht werden. Es handelt sich dabei zum einen um die filmische Transposition des Gemäldes Allá cuelga mi vestido o New York (1933), eine Szene, der Taymor selbst einen „surreal aspect“24 zuweist und die in konkreten Bezug zu Kahlos Gemälde gesetzt werden soll. Zum anderen wollen wir die Visualisierung des Nahe-Tod-Erlebnisses Kahlos in Folge ihres Busunfalls im Jahre 1925 via 3-D-Stop-Technik einer näheren Betrachtung unterziehen, ist dieser doch emblematisch für jene auf Breton zurückgehende Verquickung von Werk und Künstler-Biographie, von der eingangs schon die Rede war.

4.

Die Albtraum-Sequenz: Mexiko im surrealen Jenseits des Animationsfilms

Der Visualisierung des Nahe-Tod-Erlebnisses als biographische Grenzerfahrung durch eine Animationssequenz geht die Inszenierung des schicksalhaften Busunfalls Kahlos voraus, eine Inszenierung die, wie McCracken betont, Elemente des 1929 entstandenen Gemäldes „El autobús“ aufgreift.25 Die letzte 22 Ebd., S. 43. 23 In diesem Zusammenhang hat Juan Bruce-Novoa in seiner Analyse der homoerotischen Tanz-Szene zwischen Frida Kahlo und Tina Modotti zu Recht darauf hingewiesen, dass die physische Agilität Fridas, die in dieser Szene Vehikel der filmischen Botschaft ihrer erotischen Ausstrahlung ist, der körperlichen Verfassung der Künstlerin in Folge ihres nahezu tödlichen Busunfalls ein paar Jahre zuvor (1925) zuwider läuft. Bruce-Novoa: „Images of Latin America in Hollywood Film. Dance American Style“, unveröffentlicht. Vortrag an der Universität Siegen am 2. Juli 2007. 24 Taymor: „Director’s Notes“, S. 13. 25 McCracken: „Hybridity and Supra-Ethnicity in Plastic and Filmic Representation: Frida Kahlo’s Art and Julie Taymor’s Frida“, S. 251.

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Einstellung der Bussequenz vor Überleitung in die via 3-D-Stop-Technik visualisierte Todeserfahrung ist die auf dem zersplitterten Boden liegende und von einer Eisenstange durchbohrte Frida in ihrer Schuluniform, auf die in Slow-Motion gefilmter Goldstaub wie ein himmlischer Segen hinabregnet. Hier finden wir nicht nur einen Verweis auf die mexikanische retablo-Malerei26, und damit ein von der Regisseurin durchaus intendiertes interpiktorales Zitat von Darstellungen des Martyriums des von Pfeilen durchbohrten heiligen Sebastian.27 Trotz der historischen Korrektheit des Vorhandenseins von Goldstaubes28 zum Zeitpunkt des Unfalls, erfolgt darüber hinaus durch das bildliche Arrangement und mittels der Wiedergabe der Szenerie in Slow-Motion eine visuelle Ästhetisierung des Unfalls sowie seine Erhebung zum ästhetischen Schlüsselmoment. Dadurch wird nicht nur auf die Zentralität des Unfallerlebnisses mit seinen für Kahlo lebenslangen schmerzhaften Folgen verwiesen, eine Referenz, welche die den gesamten Film durchziehende, biographische Interpretation ihres Werkes stützt, sondern auch ein Bezug zur Rezeption Kahlos durch den Feminismus hergestellt: Für diesen ist die mexikanische Malerin zu einer ambivalenten Ikone geworden, schwankt die feministische Rezeption doch zwischen der Reduktion der Künstlerin auf den Opferstatus einer modernen Märtyrerin einerseits, und ihrer Rolle als „Subjekts des Schmerzes“ andererseits.29 Medizinische Behandlung und Schmerz werden demnach vom Patienten nicht mehr nur passiv erduldet und erlitten, sondern in der künstlerischen Verarbeitung und Verformung aktiv erlebt und gestaltet. Der Feminismus hat diesen aktiven Dialog mit dem Leiden als Manifestation einer „Politik der Unterdrückten“30 gedeutet.

26 Zum Zusammenhang der Kunst Kahlos und der mexikanischen retablo- und ex-voto Malerei vgl. Knoxville: „Frida Kahlo’s Spiritual World – The Influence of Mexican retablo and ex-voto Paintings on her Art“, S. 21. Dort definiert Knoxville das retablo als in Spanien und Lateinamerika verbreitete, architektonisch eingerahmte religiöse Bilder, Malereien oder Skulpturen, die hinter dem Altar oder seitlich im Kirchenschiff angebracht sind und die einen einzelnen Heiligen, Christus, die Jungfrau Maria oder eine Gruppe von Heiligen zeigen. 27 McCracken: „Hybridity and Supra-Ethnicity in Plastic and Filmic Representation: Frida Kahlo’s Art and Julie Taymor’s Frida“, S. 253 mit Verweis auf den Audiokommentar der Regisseurin auf der DVD Frida. 28 Taymor/Sunshine: Frida, S. 40 mit Verweis auf die Schilderung des Busunfalls durch Alejandro Gómez, nach dessen Aussage ein ebenfalls in besagtem Bus reisender Maler ein Päckchen mit Goldstaub mit sich führte, der Kahlo in Folge des Unfalls bedeckte. 29 Zarzycka: „‚Now I live on a painful planet‘. Frida Kahlo Revisited“, S. 74f. 30 Ebd., S. 75.

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Eine analoge und in diesem Falle durch den Film Frida behauptete künstlerische ‚Verarbeitung‘ des Unfallerlebnisses und der daraus folgenden körperlichen Deformation suggeriert nun besagte Albtraumsequenz, welche das Nahe-Tod-Erlebnis der Künstlerin und das Ringen der Ärzte um ihr Leben mit Referenz auf den mexikanischen Día de los Muertos31 als eine inspirierende surrealistische Halluzination Fridas inszeniert, deren visuelle Motive später Eingang in ihre Bilder finden werden. Eine solche Lesart wird rückwärtig durch die am Ende der Sequenz in Fridas Pupillen gezeigten Totenköpfe in Detailaufnahme nahe gelegt, welche verdeutlichen, dass es sich bei den zuvor gezeigten, animierten Pappmaché-Skeletten um eine Vision des halluzinierenden Künstler-Subjekts Kahlo handelt. Die mit einer Länge von 20 Sekunden recht kurze, größtenteils in schwarz-weiß- und Grautönen gehaltene Sequenz beginnt mit der Detailaufnahme des Gebisses eines weißen Pappmaché-Totenkopfs (mexikanisch: calavera) vor schwarzem Hintergrund, das zunächst nachdenklich auf einem auffällig roten Stift herumkaut und sodann mit deutlich sichtbarer, weil ebenfalls roter Zunge zu sprechen beginnt. Die Stimme der Figur klingt hierbei gemäß der bewusst hergestellten surrealistisch-onirischen Prägung der Szene fremdartig, d.h. blechern und verzerrt. Während der Zuschauer nun über diese blecherne Stimme die gebetsmühlenartige Diagnose hinsichtlich der erlittenen Verletzungen Kahlos hört, wird der Totenschädel in der folgenden Überblendung der Detail- in eine Halbnah-Einstellung als Arzt ersichtlich,32 dem eine ebenfalls aus Pappmaché geformte Skelett-Schwester zur Seite steht. In den Hintergrund der unscharfen Einstellung der sich ruckartig bewegenden Animationsfiguren wird sodann eine rote Fieber-Kurve eingeblendet, während um die Köpfe der Skelette elektrisch-zuckender Nebel zu wabern beginnt. Dieser lässt im heller werdenden Hintergrund nach und nach die Schemen eines dunklen Zimmers mit einem weißen Fenster und Stuhl erkennen – wahrscheinlich die künftige Perspektive der Verletzten vom Krankenlager aus –, während die Köpfe der Pappmaché-Figuren nach und nach abgedunkelt werden, wodurch sich die Szenerie schließlich in dunklen Schemen auflöst. Durch die nachfolgenden gräulichen Licht-Reflektionen entsteht eine Unterwasser-Optik, die den Traumcharakter der Sequenz erneut unterstreicht und aus der sich langsam Fridas Augenpartie in Detailsicht herauskristallisiert. Als diese die Augen öffnet, sind besagte Totenköpfe in ihren Pupillen deutlich erkennbar, während aus dem Off weiterhin die monotone und blecherne Stimme zu hören ist. Aus der subjektiven Untersicht der liegenden Frida wird sodann ein Arzt mit

31 Vgl. Taymor: „The Hospital Nightmare“, S. 43. 32 Und zwar anhand von Kittel und Kopflampe.

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nebenstehender Schwester gezeigt, die Blechstimme normalisiert sich und wird als Stimme des diagnostizierenden Arztes ersichtlich, der Fridas Aufwachen mit Interesse verfolgt. Hierbei wollen wir die Schilderung dieser Sequenz belassen. Taymor selbst betont in Bezug auf deren visuelle Gestaltung: I envisioned a comic, grotesque and highly theatrical scene of the hospital, replete with skeletons of beds, nurses, doctors, medical instruments and bones. […] After receiving the raw footage […], we cut it into an impressionistic sequence that at once disturbs and teases the audience with how the storytelling of the film will unfold.33 Interessant ist, das Taymor dieser in hohem Maße onirischen Sequenz selbst keinen surrealen Charakter zuschreibt, während sie weit weniger offensichtlich surrealistisch inspirierte Szenarien mit diesem Etikett belegt. Dies lässt vermuten, dass Kahlo mittels der halluzinogenen Traum-Sequenz wie nebenbei ein surrealistischer Blick unterstellt werden soll; ein Blick in Räume des Unbewussten, in denen prominente Figuren aus späteren Kahlo-Gemälden, so suggeriert es der Film, präfiguriert sind. Gedacht ist hierbei konkret an El sueño o La cama (1940), auf dem ein ebensolches Skelett aus Pappmaché zu sehen ist, wie es auch die Filmsequenz zeigt.34 Mit diesem gleichzeitigen Verweis auf den mexikanischen calavera-Kult legt die Regisseurin die kreative Ineinswerdung der kulturellen Sphäre der Künstlerin mit ihrem biographischen Erleben nahe. Wie bereits angedeutet, wertet nun McCracken die obig als surreal charakterisierte Albtraumsequenz als essentiell hybrid,35 ein Umstand, der das subversive Potential, das der Hybridität noch bei Bhabha zu eigen ist, zunächst zu entwerten scheint. Am Ende ihres Essays über Hybridität und Supra-Ethnizität in Frida gelangt McCracken jedoch zu dem Schluss, dass es sich bei der vermeintlichen Hybridität des Films um eine Inszenierung handelt, welche der Exotisierung Kahlos durch das Hollywood-Kino dient; eine Exotisierung, die McCracken mit der nicht minder exotistischen Vereinnahmung Kahlos durch die Surrealisten Breton und Duchamp vergleicht. Entsprechend entlarvt sie Frida schlussendlich als kommerziell orientierten Hollywood-Film, der einer33 Ebd. 34 Genauer gesagt handelt es sich dabei um eine Judas-Figur. Siehe hierzu auch McCracken: „Hybridity and Supra-Ethnicity in Plastic and Filmic Representation: Frida Kahlo’s Art and Julie Taymor’s Frida“, S. 251. 35 McCracken: „Hybridity and Supra-Ethnicity in Plastic and Filmic Representation: Frida Kahlo’s Art and Julie Taymor’s Frida“, S. 250: „Other hybridity such as 3-D animation in the nightmare hospital scene […] imprints cultural tropes on the subject, overlaying ethnic images of calaveras, Day of The Dead skeletons, with computer technology.“

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seits amerikanische Sehnsüchte befriedigt und zugleich den verstörenden Charakter jenes Fremden verharmlost, das als Migrant aus Ländern der sogenannten ‚Dritten Welt‘ in das amerikanische Idyll Einzug hält und es mit einer anderen Ordnung konfrontiert: […] the supra-ethnicity in Taymor’s film speaks to American audiences’ need in 2002 for cheerful, colorful, exotic, and nostalgic images of Mexico, perhaps to counteract the threatening images of third world others – immigrants, terrorists, Latino gangs – that so pervade our news media.36 Wie aber verhält es sich mit der Möglichkeit einer Lesart dieser surrealistischen und zugleich kommerziellen Vereinnahmung Kahlos gegen den Strich? Wie ist es um die Widerständlichkeit Mexikos bzw. des mexikanischen Surrealismus bestellt? Und wo können wir jenen Prozess der Verhandlung zwischen Eigenem und Fremdem, in dessen Zwischenraum Uta Felten zufolge Hybridität erst entstehen kann, ausmachen? Das Argument, dass wir hier zur Untermauerung von Feltens These ins Feld führen wollen, gründet sich im Wesentlichen auf das Hollywood-Kino als Manifestation des kollektiven Bewusstseins der USA. Wenn dieses kollektive Bewusstsein, wie dies in Taymors Frida der Fall ist, Mexiko – und mit ihm Lateinamerika – durch Exotisierung zu verharmlosen sucht, so gestattet es dem Fremden gerade durch dessen Marginalisierung, sich in den Raum des Eigenen einzuschreiben. Hiermit wären wir bei der bhabhaschen Bedeutung von Hybridität als etwas Nicht-Gewolltem angelangt, das im Dritten Raum der Sprache entsteht, und zwar durch eine „spezifische Implikation der Äußerung innerhalb einer performativen und institutionellen Strategie, derer sich die Äußerung nicht ‚in sich‘ bewußt sein kann“ (meine Hervorhebung).37 In diesem Sinne wäre Taymors Rekonstruktion einer unterstellten surrealen Ästhetik in der Albtraum-Sequenz eine Einschreibung der mexikanischen Kultur – genauer gesagt, der Ikonographie des Tages der Toten – gegen den Strich und in das kollektive Bewusstsein der USA, wodurch sich die mexikanische Kultur ihrer Inbesitznahme und Verharmlosung durch Hollywood widersetzt. Denn die präkolumbianische wie spanische Elemente gleichermaßen vereinende mexikanische Realität, die in besagter Sequenz synekdochisch durch den Día de los Muertos repräsentiert wird und die, wie bereits Alejo Carpentier hervorgehoben hat, per se Ort eines „wunderbaren Wirklichen“ (real maravilloso) ist,38 wird in Taymors Albtraum-Sequenz eben gerade in den jensei36 Ebd., S. 256. 37 Wie Anmerkung 21. 38 Carpentier: „Über die wunderbare Wirklichkeit Amerikas“, S. 131ff.

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tigen Raum des Traumes verschoben, ein Raum, der mittels der 3-D-TrickfilmTechnik als Raum des Imaginären gekennzeichnet ist. Der Hollywood-Film als kollektives Bewusstsein verlagert also den Raum der mexikanischen Kultur mit ihren Symbolen mittels der Simulation39 einer surrealistischen Traum-Ästhetik in die Sphäre des Unbewussten. Und da wir es mit einem Hollywood-Film zu tun haben, handelt es sich dabei unzweifelhaft um das Unbewusste der USA. Damit verdeutlicht Frida unwillentlich den Status Lateinamerikas als „Stachel des Fremden“40 im kollektiven Unterbewusstsein der Vereinigten Staaten, wird doch durch die Verlagerung der lateinamerikanischen Ikonographie in den filmischen Raum des Imaginären und des Surrealen eine Marginalisierung vorgenommen, welche mit ihrer ausgrenzenden Strategie zugleich ihre Ohnmacht offenbart: Denn mit der Auslagerung der mexikanischen Kultur und ihrer Symbole in einen jenseitigen Raum wird impliziert, dass Lateinamerika als dem gefährlichen Fremden selbst in der virtuellen Realität US-amerikanischen OnScreen-Raumes kein Platz eingeräumt werden darf. Andererseits wird jedoch gerade durch die Befriedigung exotistischer Bedürfnisse, welche der Film Frida seinem amerikanischen Publikum anbietet, ein unterschwelliges Begehren nach dem Anderen manifest, das anderswo als in der jenseitigen Sphäre des Traums keinen Platz finden darf. In diesem Sinne offenbart sich die Rekonstruktion einer surrealistischen Ästhetik in Taymors Film als eine Strategie der Verdrängung, welche die Gefahr und zugleich die Verlockung zum Ausdruck bringt, die ein Nachgeben in die Sehnsucht nach dem Fremden mit sich brächte.

5.

Allá cuelga mi vestido

Einer ähnlichen Strategie der Exotisierung unterliegt die filmische Verarbeitung des Bildes Allá cualga mi vestido o New York (1933), das in Frida zwar interpiktoral zitiert wird, dem jedoch sein hybrides Potential, welches in seiner ambivalenten Funktion als Symbol des Übergangs und der Grenzziehung begründet ist, genommen wird. Widmen wir uns zur Verdeutlichung dieses Umstands zunächst dem Gemälde, das der zwölf Sekunden dauernden Kleid-Sequenz zu Grunde liegt. Bei dem für das Gemälde räumlich und motivisch zentralen Kleidungsstück handelt es sich um die außergewöhnliche Robe Frida Kahlos, die noch zu Lebzeiten ihren Status als Mode-Ikone begründete und die sie für

39 McCracken spricht hinsichtlich der filmischen Strategie Fridas immer wieder von „Simulakren“ im Sinne Baudrillards. Vgl. McCracken: „Hybridity and Supra-Ethnicity in Plastic and Filmic Representation: Frida Kahlo’s Art and Julie Taymor’s Frida“, S. 246ff. 40 Nach Waldenfels: Der Stachel des Fremden.

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die US-amerikanische und europäische Gesellschaft so außergewöhnlich hatte erscheinen lassen. Zugleich ist das Kleid als Hommage an die präkolumbianische Kultur der Mutter zu werten, ist besagtes vestido doch der traditionellen Kleidung der vom Isthmus Tehuantepec stammenden Tehuana-Frauen zuzuordnen, deren matriarchalische Gesellschaftsform41 wohl nicht zuletzt dazu beigetragen hat, dass Kahlo heute als eine der zentralen Ikonen des Feminismus gilt. Die meisten Interpretationen heben in Bezug auf Allá cuelga mi vestido vor allem den materiellen Kontrast zwischen Bourgeoisie und Proletariat hervor, der sich in dem Gemälde anhand einer Symbolik des Kapitals manifestiert.42 Um das Kreuz im Kirchenfenster auf der linken Bildhälfte windet sich entsprechend ein Dollarzeichen. Zudem dominiert eine horizontale Teilung des Bildes in eine starre, überdimensionierte, bürokratische und industrielle Großstadtlandschaft oben und eine bewegliche Ikonographie der Revolution unten, wo es – zu erkennen an den links aus dem Gebäude schlagenden Flammen – buchstäblich schwelt. Im unteren Drittel des Bildes zeigt eine Collage von Fotografien aus der Zeit der Depression protestierende Massen. In der oberen Bildsphäre hingegen repräsentieren archtiketonische Symbole wie die Freiheitsstatue, Wolkenkratzer und die Börse die kapitalistische Industrienation Amerika. Interessant für unsere Untersuchung ist vor allem die Zwischenstellung des mittig hängenden Tehuana-Kleides. Dies ist zwischen dem ironisch gemeinten Zivilisationssymbol des Klosetts und dem Ehrensymbol der Sporttrophäe angebracht. Die Robe scheint in ihrer Fremdheit, aber auch in der Leichtigkeit ihres Schwebezustandes, zwischen der Starre der kapitalistischen Symbole und der Bewegung im unteren Viertel zu vermitteln. Schaut man genauer hin, so bildet das Kleid genau den Übergang – man könnte sagen, die Brücke – zwischen dem demonstrierenden Proletariat im unteren Drittel und den Symbolen des wirtschaftlichen Erfolgs oben im Bild. Somit stellt das Kleid einerseits eine Verbindung zwischen den symbolisch dargestellten sozialen Schichten her, andererseits bildet es aber auch einen Vorhang, welcher der radikalen Trennung der sozialen Klassen der USA vorgeschoben ist und sie gleichsam verdeckt. Trotz seiner Heterogenität ist das Kleid gerade aufgrund seiner mittigen Positionierung aber doch wieder ein wesentlicher Teil der Gesamtkomposition. Es steht in einer offensichtlichen Beziehung zu den dargestellten Ordnungen: Als funktionales und augenfälliges Element hängt es auf einer vertikalen Achse zwischen Kapital und Proletariat, auf einer horizontalen Achse hingegen zwischen der Profanität des materiellen Fortschritts, symbolisiert durch das Klo-

41 Vgl. Billeter: Das blaue Haus, S. 56. 42 Helland: „Culture, Politics, and Identity in the Paintings of Frida Kahlo“.

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sett, und dem ideellen Wert des Sportpokals. In der Funktion eines kulturellen pars pro totos Mexikos scheint es somit die Stellung des politisch engagierten lateinamerikanischen Künstlers als Gast amerikanischen Gesellschaft zu veranschaulichen: Dort wird nicht nur dessen Kunst, sondern auch er selbst als exotistisches Objekt ausgestellt, eine Interpretation, welche die exponierte Stellung des Kleides als einem radikalen Fremdkörper in der amerikanischen Großstadtlandschaft New Yorks nahe legt. Der Künstler ist einerseits ‚mitten im Geschehen‘, erlebt also die Differenz zwischen Kulturen der beiden Amerikas ebenso wie das Gefälle zwischen den sozialen Schichten am eigenen Leib; andererseits verhindert aber seine Zwischenstellung als Fremder – symbolisiert durch das Kleidungsstück, das sozusagen ‚zwischen den Stühlen‘ angebracht ist –, eine direkte Einflussnahme. Ebenso wie das Kleid, so unsere Schlussfolgerung, befindet sich also der lateinamerikanische Kreativschaffende in einer sozialen und kulturellen Zwischensphäre, in der zwei differente Welten aufeinanderprallen und sich gleichzeitig berühren, wodurch Übergänge entstehen. Jenes hybride Moment von Grenzziehung und Übergang wird hierbei durch das Kleid symbolisiert, das die Grenzen zwischen Oben und Unten, Immobilität und Bewegung, Kapital und Ideal ebenso markiert wie es den Übergang zwischen den verschiedenen Bildelementen herstellt.43 In Taymors Frida steht die Kleid-Sequenz im Kontext eines vorhergehenden Streits zwischen Diego Rivera und Frida Kahlo. Edward Norton alias John D. Rockefeller hatte Diegos mural zuvor aufgrund dessen kommunistischer Anklänge per Dekret entfernen lassen, woraufhin Frida ihren Überdruss gegenüber der amerikanischen Gesellschaft sowie ihren Wunsch bekundet, nach Mexiko zurückzukehren. Diego hingegen weigert sich mit der Begründung, nicht aufgeben zu wollen, und verlässt wütend das Zimmer, allerdings nicht ohne vorher mit dem Messer auf ein Gemälde Kahlos, das eine mexikanische Pflanze zeigt, eingestochen zu haben. Der Wutausbruch Riveras wird mit den 43 Vgl. hierzu Rebecca Blocks und Lynda Hoffman-Jeeps Interpretation von einer „Zwischenstellung“ Kahlos im Gemälde Autorretrato en la frontera entre Méxicoy los Estados Unidos (1932): „Positioning herself between two distinct worlds, Kahlo highlights her role as intermediary in the sense of one who is knowledgeable of both cultures and seeks to facilitate an apt representation of each.“ Block/ Hoffman-Jeep: „Fashioning National Identity. Frida Kahlo in ‚Gringolandia‘“, S. 11. Vgl. vor allem die hybride Deutung desselben Gemäldes durch Gerling und Borsò, welche die im unteren Viertes des Bildes vorhandene Verbindung zwischen Pflanzenwurzeln und Kabeln als eine hybride Verbundenheit der Kulturen der ‚Amerikas‘ lesen. Vgl. Borsò/Gerling: „Von Malinche zu Frida Kahlo: Territorium und Gender am Beispiel Mexikos“. Vgl. auch Harvard: „Frida Kahlo, Mexicanidad and Máscaras: The Search for Identity in Postcolonial Mexico“, S. 247 unter Bezugnahme auf Bhabha: Die Verortung der Kultur, „Kahlo effectively reverses what Bhabha describes as the discourse of American cultural colonialism.“

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Worten „Do you wanna go back there?“ untermalt. Die nächste Einstellung zeigt die einsam in ihrer kahlen New Yorker Wohnung am Tisch sitzende Frida, deren Kopf sich gen Fenster wendet. Per subjektive Kamera wird der Blick Kahlos aus dem Fenster gezeigt, wo inmitten einer tristen New Yorker Großstadtlandschaft Fridas farbenprächtiges und von fallenden Schneeflocken umrahmtes Tehuana-Kleid – das exakt so aussieht wie auf dem der Sequenz zu Grunde liegenden Gemälde Allá cuelga mi vestido – auf einem Bügel an einer Wäscheleine hängt. Die nächste Einstellung, in die per Weißblende und durch einen Abwärtsschwenk vom Weiß des Himmels auf die folgende Szenerie übergeleitet wird, ist Frida mit einem Affen auf der Schulter zu sehen, wie sie in bunter Kleidung und vor einer leuchtend grünen Baumkulisse die Wäsche aufhängt; ein scharfer Farbkontrast also zu der Tristesse der New Yorker Fenstersicht, dem der Affe als exotistisches Symbol und Marker dafür, das sich die Handlung nun wieder in Mexiko entfaltet, hinzugefügt wird. Zwar ist das Motiv des Affen auch auf Kahlos Bildern zu finden, so etwa auf ihrem Autorretrato con monos (1943), dennoch ist der Umstand bezeichnend, das Mexiko als Handlungsraum hier im Film gerade durch ein aus amerikanischer Perspektive per se exotisches Tier wie den Affen gekennzeichnet wird. Wie schon in der Albtraum-Sequenz, wird der Malerin Kahlo auch hier eine ‚surrealistische Wahrnehmung‘ unterstellt, aus der später ein Kunstwerk resultieren wird, besteht die Surrealität der Szene doch für Taymor in der magischen Belebung des hängenden Kleides: Hanging from a clothesline in the midst of a snowy, bleak New York City Skyline floats Frida’s brightly colored tehuana dress. The surreal aspect of this vision is that the dress seems to be inhabited by an invisible but dimensional body, a reference, again, to My dress hangs there.44 Damit wird das Gemälde durch eine von Taymor behauptete, surrealistische Ästhetik vereinnahmt, und auch hier werden Biographie und Kunst durch die filmische Montage in einen engen Zusammenhang gerückt, steht der auch im Film unverkennbar pessimistische Blick der Künstlerin auf die New Yorker Hinterhöfe, der hier als Vorlage für Allá cuelga mi vestido behauptet wird, im unmittelbaren Kontext ihrer Verärgerung über die Entfernung des mural durch Rockefeller. In diesem Zusammenhang fungiert das Kleid zusätzlich als Allegorie der Einsamkeit und Isolation Fridas in New York, wodurch aus dem Gemälde, das ja Vorlage der Sequenz war, einzig der Aspekt einer empfundenen Randständigkeit des lateinamerikanischen Künstlers, nicht aber das Element der Übergänglichkeit übernommen wird. Dies zeigt sich um so deutlicher, 44 Taymor: „Director’s Notes“, S. 13.

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wenn in der nächsten Einstellung die kräftige Farbgebung anzeigt, dass es nun, nach der Rückkehr in die ‚mexikanische Heimat‘, mit der Stimmung der Künstlerin wieder zum Besten steht. Bezeichnend hieran ist, dass die im Film hergestellte visuelle Trennung der kulturellen Sphären des farbenfrohen Mexikos und des in kühlen Farbtönen repräsentierten Nordamerikas dadurch implizit gerechtfertigt wird. So ist eine zentrale Aussage des unmittelbaren Aufeinanderfolgens der Kleid- und der Wäsche-Sequenzen doch, dass der Künstler nur in seiner gewohnten Umgebung glücklich sein kann, während die Fremde Unglück und Gefahren birgt. Hiermit können wir die Befürwortung einer topografischen Trennung Lateinamerikas und der USA als unterschwellige Botschaft des Films subsumieren, eine Botschaft, welche mittels des Symbols des Affen mit der von McCracken konstatierten Strategie exotistischer Bedürfnisbefriedigung ergänzt wird: Das ‚fremde Mexiko‘ ist in seiner Farbenpracht schön, weil fern – und soll es gemäß der filmischen Botschaft auch bleiben. Entsprechend liest McCracken das Kleid als symbolische Repräsentation der Präsentwerdung des abwesenden und fernen Mexiko („presence of an absence“), eine Verlockung der Heimat, die im Film „with a simulacrum of the painted image of the dress hanging out the apartment window on a clothesline“ umgesetzt wird.45 Und wie steht es hier mit möglichen Lesarten dieser filmischen Adaptation des Gemäldes wider die Intention des Hollywood-Kinos? Die Möglichkeit einer Lektüre der Kleid-Sequenz ‚gegen den Strich‘ haben wir bereits angerissen, wenn davon die Rede war, dass durch die Montage der Szene des Wäscheaufhängens in der farbenprächtigen Landschaft Mexikos als Kontrast zur gräulich-trostlosen Farbgebung der Kleid-Sequenz eine harsche kulturelle Grenzziehung erfolgt. Diese geht ach hier mit einer durch die Regisseurin behaupteten, surrealistischen Ästhetik einher. Eine solche Grenzziehung verweist Subjekte letztendlich auf ihr je eigenes kulturelles Territorium und schließt somit eine aus nordamerikanischer Perspektive als ‚Kontamination‘ zu bezeichnende Beeinflussung des (US-) Eigenen durch das (mexikanische) Fremde aus. Nun mag dies zunächst ausschließlich nach Dichotomie und wenig nach Hybridität klingen. Berücksichtigen wir aber Bhabhas Definition des „Dritten Raums“, innerhalb dessen das Hybride durch eine „Implikation der Äußerung […], derer sich die Äußerung nicht ‚in sich‘ bewußt sein kann“ (meine Hervorhebung, s.o.) entsteht, so zeigt die unterschwellige Grenzziehung des Hollywoodfilms Frida eine Angst vor dem Fremden, die zugleich die Ohnmacht desjenigen Diskurses offenbart, der aber gerade die Macht für sich beansprucht. Ähnlich 45 McCracken: „Hybridity and Supra-Ethnicity in Plastic and Filmic Representation: Frida Kahlo’s Art and Julie Taymor’s Frida“, S. 246. Damit verweist sie zugleich auf die Zentralität der Kleidung als Zeichen von Ethnizität in Frida.

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wie im Falle der calaveras werden die Symbole der mexikanischen Kultur auch hier in einen jenseitigen Raum verbannt, und zwar in den surrealen und somit unbewussten Raum jenseits des Fensters. Damit nimmt Mexiko – und mit ihm Lateinamerika – den Status eines tabuisierten Objekts der Begierde ein. Zwar möchte der Film durch den Einsatz einer subjektiven Kameraperspektive nahe legen, dass es sich dabei um das Begehren Kahlos handelt, jedoch kann nun kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass wir es bei dem Kleid letztendlich um das Symbol einer unbewussten Begierde der USA nach Lateinamerika handelt. Dieses Begehren kann aber nur im jenseitigen, surrealen und somit dem Traum zugehörigen Raum artikuliert werden und bleibt ansonsten ein Tabu. Im nicht intendierten Subtext des Films offenbart sich Lateinamerika somit als ein ebenso ersehntes wie gefürchtetes Fremdes, das zum Fetisch reduziert und immobilisiert werden muss, um die Gefahr einer tatsächlichen Berührung durch eine fremde Subjektivität zu verringern. Die Subjektivität Kahlos reduziert Hollywood entsprechend auf die emotionale Sympathie des Zuschauers für diese von Rivera betrogene,46 physisch leidende und doch so leidenschaftliche und künstlerisch kreative Frauenfigur, während ihre kulturelle Alterität durch Farbenpracht und Fülle der exotistischen Stereotypen marginalisiert wird, sich jedoch in Form des Hybriden immer wieder ungewollt in den filmischen Subtext einschreibt.

6.

Fazit

Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass die strategische Produktion einer surrealen Ästhetik durch eine filmische Industrie wie das Hollywoodkino nicht nur zur Verschleierung von exotistischen Diskursen dienen kann, wie McCracken dies herausgearbeitet hat. Wir konnten darüber hinaus verdeutlichen, dass diese Strategie selbst ungewollte hybride Effekte produziert, die sich erst in einer Lektüre des filmischen Diskurses ‚gegen den Strich‘ offenbaren. Damit erweist sich Hybridität abermals als unwillkürliches Rauschen und Störung in den Diskursen der Selbstaffirmation: Rhetorische und ästhetische Strategien der Ab- und Ausgrenzung legen unbewusst ihre Ohmacht offen, indem deutlich wird, dass das ihrer Abschottung zugrunde liegende Motiv im Grunde eine 46 Diesbezüglich ist Cliffords Verweis auf den Umstand erhellend, dass Kahlos außereheliche Affären durch den Film minimiert und bagatellisiert werden, während Riveras Seitensprünge als unerhörte Brüche des ehelichen Vertrauens dargestellt werden, die Kahlo in Trunksucht und Depression verfallen lassen. Clifford: „Featuring Frida“, S. 61. Weiter schreibt Clifford: „[…] the movie focuses on the artist as a victim of circumstance rather than portraying her as an individual with agency.“.

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vor der Verlockung durch das Fremde ist. Paradoxaler Weise kann dieses Fremde aber erst durch diese Versuche seiner Ausschließung Einzug in die Ordnung des Eigenen halten. Die von Taymor selbst als „surrealistisch“ behauptete Ästhetik hat sich entsprechend ebenso als Mittel der Vereinnahmung wie als Versuch der ästhetischen Verschleierung der Marginalisierung des Fremden durch das Hollywood-Kino erwiesen, wobei dieses Fremde aber gerade durch den Versuch seiner Auslagerung in jenseitige Räume – den Raum jenseits des Fensters, den Raum des Traums – hybride Effekte im Zwischenraum der Verhandlung von Inbesitznahme und Widerstand bewirken konnte. In diesem Zusammenhang hat sich das mexikanische Fremde als Stachel, ja als ‚haunting spirit‘ im kollektiven Unterbewusstsein der USA erwiesen. Damit kann Feltens These in Bezug auf unsere Analyse des Films Frida insoweit bestätigt werden, als dass dort die Vielfältigkeit der mexikanischen Kultur selbst, repräsentiert durch Symbole wie die calaveras und das Tehuana Kleid, ihre Widerständlichkeit beweist. Mit der filmischen Auslagerung dieser Marker des Fremden in einen surrealen Raum des Unbewussten kann Mexiko schließlich – und mit ihm Lateinamerika – seinen Raum im kollektiven Unterbewusstsein der USA einnehmen. Dieser Umstand lässt vermuten, das auch in Zukunft mannigfaltige hybride Prozesse als Resultat der Verhandlung zwischen den Künsten, Literaturen und Filmen der Amerikas zu erwarten sind, die sich nicht zuletzt dem Einsatz einer surrealen Ästhetik verdanken.

Literaturverzeichnis Anderson, John: „Channeling Kahlo“, in: Art News 101, 10 (2002), S. 47. Batra, Eli/Mraz, John: „Las ‚Dos Fridas‘: History and Transcultural Identities“, in: Rethinking History 9, 4 (2005), S. 449-457. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. Billeter, Erika: Das blaue Haus. Die Welt der Frida Kahlo, Frankfurt a.M. 1993. Block, Rebecca/Hoffman-Jeep, Lynda: „Fashioning National Identity. Frida Kahlo in ‚Gringolandia‘“, in: Woman’s Art Journal 19, 2 (1999), S. 8-12. Borsò, Vittoria/Gerling, Vera Elisabeth: „Von Malinche zu Frida Kahlo: Territorium und Gender am Beispiel Mexikos“, in: Mae, Michiko/Saal, Britta (Hrsg.): Transkulturelle Genderforschung. Ein Studienbuch zum Verhältnis von Kultur und Geschlecht, Wiesbaden, S. 75-110. Borsò, Vittoria: Mexiko jenseits der Einsamkeit, Frankfurt a.M. 1994.

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Breton, André: „Frida Kahlo de Rivera“, in: Le Surréalisme et la Peinture, Paris 1979, S. 141-144. Breton, André, Manifestes du surréalisme, hrsg. Von Pauvert, Jean-Jacques, Paris 1962. Bruce-Novoa, Juan: „Images of Latin America in Hollywood Film. Dance American Style“, unveröffentlicht. Vortrag an der Universität Siegen am 2. Juli 2007. Carpentier, Alejo: „Über die wunderbare Wirklichkeit Amerikas“, in: ders.: Stegreif und Kunstgriffe. Essays zur Literatur, Musik und Architektur in Lateinamerika, Frankfurt a.M. 1980, S. 118-138. Clifford, Katie: „Featuring Frida“, in: Art in America 90, 12 (2002), S. 61-63. Custen, George F.: Bio/Pics: How Hollywood Constructed Public History, New Brunswick 1992. Felten, Uta: „‚Éste, que ves, engaño colorido‘ – Intermedialität und hybride Diskurspraxis in der mexikanischen Literatur- und Mediengeschichte“, in: dies./Roloff, Volker (Hrsg.): Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus, Bielefeld 2004, S. 253-271. Harvard, Lucy Ann: „Frida Kahlo, Mexicanidad and Máscaras: The Search for Identity in Postcolonial Mexico“, in: Romance Studies 24, 3 (2006), S. 241251. Helland, Janice: „Culture, Politics, and Identity in the Paintings of Frida Kahlo“, in: Broude, Norma/Garrard, Mary D. (Hrsg.): Expanding Discourse, New York 1992, S. 396-407. Herrera, Hayden: Frida. Una biografía de Frida Kahlo, Barcelona 2002. Klengel, Susanne: Amerika-Diskurse der Surrealisten. ‚Amerika‘ als Vision und als Feld heterogener Erfahrungen, Stuttgart u.a. 1994. Knoxville, Tenn: „Frida Kahlo’s Spiritual World – The Influence of Mexican retablo and ex-voto Paintings on her Art“, in: Woman’s Art Journal 25, 2 (2004), S. 21-24. McCracken, Ellen: „Hybridity and Supra-Ethnicity in Plastic and Filmic Representation: Frida Kahlo’s Art and Julie Taymor’s Frida“, in: Interdisciplinary Journal for German Linguistics and Semiotic Analysis 8, 2 (2003), S. 249259. Sunshine, Linda/Taymor, Julie (Hrsg.): Frida. Bringing Frida Kahlo’s Life and Art to Film, New York 2002.

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Taymor, Julie: „Director’s Notes“, in: dies./Sunshine, Linda (Hrsg.): Frida. Bringing Frida Kahlo’s Life and Art to Film, New York 2002, S. 9-15. Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a.M. 1990. Zarzycka, Marta: „‚Now I live on a painful planet.‘ Frida Kahlo Revisited.“, in: Third Text, 20, 1 (2006), S. 73-84.

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„Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Guillermo del Toros Pans Labyrinth und die Ästhetik des Surrealen Wenn André Breton im ersten surrealistischen Manifest die Auflösung der scheinbar gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit, jener „apparances si contradictoires“1 herbeisehnt und, damit einhergehend, konstatiert, dass noch ein Märchen für Erwachsene zu schreiben bleibt („Il y a des contes à écrire pour les grandes personnes, des contes encore bleus.“2), so dürfte jenes Märchen spätestens im Jahr 2007 geschrieben bzw. auf der Filmleinwand erzählt worden sein. Die Rede ist von dem dreifach oscarprämierten Werk Pans Labyrinth (2006) des mexikanischen Regisseurs Guillermo del Toro. Lässt noch der Titel vermuten, es handle sich um eine für Kinder geschriebene Geschichte, so geht aus dem Inhalt des Filmes selbst hervor, dass hier zwar mitunter märchenhafte Elemente Einzug halten, diese jedoch kombiniert werden mit dramatischen Motiven, so dass der Film letzten Endes auf ein Historiendrama hinausläuft.3 Schnell ist die sich vor dem Hintergrund des spanischen Bürgerkrieges abspielende Handlung erzählt, wenngleich sie bei näherer Betrachtung komplexere Formen annimmt. Wir befinden uns im Spanien des Jahres 1944. Die zehnjährige Ofelia reist mit ihrer hochschwangeren Mutter Carmen in den Norden des Landes. Hier hat sich Ofelias Stiefvater Vidal, ein franquistischer Offizier, bereits mit seinen Soldaten in einer abgelegenen Mühle niedergelassen. Gemeinsam gehen sie auf brutalste Weise gegen die noch verbliebenen, aktiven Oppositionellen vor. Weder dem Mädchen noch dem Zuschauer bleiben die Grausamkeiten des Offiziers verborgen. Der Film unterlässt es nicht, Vidals Gewaltausbrüche zu schildern, so dass sich der Zuschauer spätestens in dem Moment, in dem der Offizier einen jungen Dorfbewohner mit einer zersplitterten Flasche misshandelt und tötet, mit der Frage konfrontiert sieht, was solche Szenen mit einem Film zu tun haben, dessen Titel eine um Mythen und Fabelwesen kreisende Erzählung verheißt. Das grausame Vorgehen der Faschisten irritiert und schockiert nicht nur das Publikum im Kino, auch Ofelia sucht vor dem Militärregime Zuflucht in 1

Breton: „Manifeste du surréalisme“, S. 319.

2

Ebd., S. 321.

3

Vgl. Sander: „Pans Labyrinth. Faune und Faschisten“, S. 1.

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ihren Büchern, in Märchen und Sagen und findet sie endgültig an jenem Tag, an dem sie einer Elfe in ein nahe gelegenes Labyrinth folgt, dort dem fabelhaften Wesen Pan (Abb. 1)4 begegnet und dieser ihr eine verblüffende Geschichte erzählt.

Abbildung 1: Screenshot, Pans Labyrinth

Genau an diesem Punkt setzt die zweite Handlungsebene des Filmes ein. Denn laut Pan ist Ofelia jene sagenhafte Prinzessin der Unterwelt, die einst die Welt der Menschen betrat und seitdem nie wieder in ihre Heimat zurückkehrte. Drei Proben muss Ofelia nun bestehen, um sich als rechtmäßige Thronerbin zu erweisen und wieder in die Unterwelt gelangen zu können. Das Mädchen nimmt die Herausforderung an, womit fortan ihr Handeln motiviert sein wird durch das BEstreben, die Schranken des irdischen, des rationalen Seins zu durchbrechen. Und während auf erster Handlungsebene die Schrecken des Krieges ihren Lauf nehmen, verläuft sich Ofelia in den Windungen ihrer Phantasiewelt, ehe sich schließlich die Grenzen zwischen dem Realen und dem Traumhaften vermischen und die Frage, ob Pans Welt lediglich der Phantasie Ofelias entspringt, nicht mehr eindeutig geklärt werden kann. Bereits diese Vermischung von zwei parallel existierenden Welten lädt dazu ein, Pans Labyrinth in die Nähe des Surrealismus und seiner Verfahrens-

4

Zur Bedeutung des Pans für das surrealistische Schaffen vgl. Ottinger, Didier: Surréalisme et mythologie moderne. Les voies du labyrinthe d’Ariane à Fantômas, Paris 2002.

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techniken zu rücken. In der Tat verleitet der Film in mehrfacher Hinsicht dazu, hier von einer Ästhetik des Surrealen zu sprechen. Durch seine Hinwendung zu einer Kunst der Zerstörung, zum Grotesken, Karnevalesken, Hässlichen und Bösen thematisiert der historische Surrealismus den „Terror des Lebens“5 einer dem Ersten Weltkrieg entkommenen Generation. Unter der Führung von Breton ist die Gruppe der Surrealisten um die Heraufbeschwörung einer „crise de conscience“6 bemüht, mittels derer sie sich den Zugang zu einer höheren Wirklichkeit verschaffen will. Wichtige Schlagwörter in diesem Zusammenhang sind die Allmacht des Traumes, das zweckfreie Denken, die Entfremdung des Bekannten oder aber das Spiel mit der Überraschung und dem Schock.7 Breton selbst vermerkt: Rappelons que l’idée de surréalisme tend à la récupération totale de notre force psychique par un moyen qui n’est autre que la descente vertigineuse en nous, l’illumination systématique des lieux cachés et l’obscurcissement progressif des autres lieux, la promenade perpétuelle en pleine zone interdite et que son activité ne court aucune chance sérieuse de prendre fin tant que l’homme parvient à distinguer un animal d’une flamme ou d’une pierre.8 In gemeinsamen Séancen versucht man, sich dem Unbewussten zu nähern. Als hilfreich erweisen sich dabei u.a. Reminiszenzen an das Märchenhafte, das Mythische, aber auch das Kindhafte. Insbesondere im Hinblick auf das Stadium der Kindheit als einem von vielen surrealistischen Maßstäben bietet es sich an, den programmatischen Entwürfen der Surrealisten in Pans Labyrinth nachzugehen. Halten wir in diesem Zusmmenhang zunächt die folgende, auf Breton zurückgehende Aussage fest: L’esprit qui plonge dans le surréalisme revit avec exaltation la meilleure part de son enfance. C’est un peu pour lui la certitude de qui, étant en train de se noyer, repasse, en moins d’une minute, tout l’insurmontable de sa vie. On me dira que ce n’est pas très encouragement. Me je ne tiens pas À encourager ceux qui me diront cela. Des souvenirs d’enfance et de quelques autres se dégage un sentiment d’inaccaparé et par la suite de dévoyé, que je tient pur le plus fécond qui existe. C’est peut-être l’enfance qui approche le plus de la „vraie vie“; 5

Spies: Der Surrealismus, S. 1.

6

Breton: „Second manifeste du surréalisme“, S. 781.

7

Vgl. Spies: Der Surrealismus, S. 18/62ff.

8

Breton: „Second manifeste du surréalisme“, S. 791.

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[Hervorhebung J.C.] l’enfance au-delà de laquelle l’homme ne dispose, en plus de son laissez-passer, que de quelques billets de faveur; l’enfance où tout concourait cependant à la possession efficace, et sans aléas, de soi-même. Grâce au surréalisme, il semble que ces chances reviennent. C’est comme si l’on courait encore à son salut, ou à sa perte. On revit, dans l’ombre, une terreur précieuse. Dieu merci, ce n’est encore que la Purgatoire. On traverse, avec un tressaillement, ce que les occultistes appellent des paysages dangereux. Je suscite sur mes pas des monstres qui guettent; ils ne sont pas encore trop malintentionnés à mon égard et je ne suis pas perdu, puisque je les crains.9 Die hier gepriesene Rückkehr zur Kindheit lässt sich auch in Pans Labyrinth nachwiesen, wird doch die Geschichte aus dem Blickwinkel eines zehnjährigen Mädchens erzählt, das die Grenze des Rationalen überschreitet und fantastische Wesen imaginiert, die, wie noch zu zeigen bleibt, durchaus in das ‚wahre Leben‘ eingreifen. Ofelias Art der Wahrnehmung ließe sich demzufolge mit dem Satz „Ich sehe was, was du nicht siehst“ umschreiben oder aber, um mit den Worten Salvador Dalís und damit der surrealistischen Terminologie zu sprechen: „Ich habe immer das gesehen, was die anderen nicht sahen und das, was sie sahen, sah ich nicht.“10 Auch Ofelia steigt im Sinne Bretons hinab. Sie erhält Zutritt zu jenen „gefährlichen Landschaften“, die sich dem Zugang durch Erwachsene bzw. durch den konventionell Sehenden entziehen. Als einzige der Anwesenden im Haus bemerkt Ofelia die Sehende, dass die Angestellte Mercedes mit den Regimegegnern kollaboriert, erkennt jedoch auch, dass sie Mercedes nicht an Vidal verraten darf. Sie sieht darüber hinaus märchenhafte Gestalten, Fabelwesen, Ungeheuer, wo andere wiederum nicht einmal eine Spur des Übersinnlichen und Phantastischen vermuten.11 Die Thematik des Sehens bleibt nicht nur auf den Wahrnehmungsgestus des Mädchens beschränkt. Sie wird bereits zu Beginn des Filmes aufgegriffen, als Ofelia im Wald einen Stein entdeckt, der sich kurze Zeit später als das fehlende Auge einer alten Skulptur erweist. Am faszinierendsten aber wird die Augen-Motivik wohl anhand der Gestalt des kinderfressenden Monsters (Abb. 2) behandelt. Eine von Ofelias Prüfungen besteht darin, in das Gewölbe jener Kreatur, die schlafend an einer reich gedeckten Tafel ruht, zu gelangen und dort innerhalb eines begrenzten Zeitrahmens einen Dolch zu finden. Ofelia kann die Probe nur unter der Voraussetzung, dass sie sich nicht an dem Essen vergreift, 9

Breton: „Manifeste du surréalisme“, S. 340.

10 Dalí zit. in: Winter: „Das surrealistische Bildtheater Salvador Dalís“, S. 280. 11 Vgl. z. Bsp. Dalís Pseudo-Autobiographie Das geheime Leben des Salvador Dalí, hier insbesondere das Kapitel 4 des ersten Teils: „Falsche Kindheitserinnerungen“.

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bestehen. Doch in einer von Krieg, Hunger und Not geprägten Zeit wirkt das Mahl viel zu verlockend, als dass Ofelia der Versuchung widerstehen könnte. Sie kann sich im buchstäblichen Sinne an dem Festessen nicht satt sehen und zupft eine Traube, woraufhin sich der Tischherr langsam regt.

Abbildung 2: Screenshot, Pans Labyrinth

Es erwacht nun eine bleiche Gestalt, desorientiert, da scheinbar augenlos. Vor ihr befindet sich ein Teller, auf dem ein Paar Augäpfel liegen. Die Kreatur ertastet diese behutsam mit ihren Händen und setzt die Augäpfel in die Handflächen ein. Anschließend hält sie sich die Hände an die obere Gesichtspartie und ist nun in der Lage, das flüchtende Mädchen zu erspähen und die Verfolgung aufzunehmen (Abb. 3, 4).

Abbildung 3, 4: Screenshots, Pans Labyrinth

Gerade diese Sequenz eignet sich besonders, die von den Surrealisten immer wieder proklamierte und in Pans Labyrinth fortgeführte Hinterfragung der Sinne zu verdeutlichen. Die Hände, exemplarisch den Tastsinn vertretend, werden

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hier zum Sehsinn umfunktionalisiert. Nicht nur wird die im westlichen Kulturkreis tradierte Trennung der Sinne zugunsten synästhetischer Erfahrungen durchbrochen. Auch wird die sinnliche, sich der Vernunft widerstrebende Wahrnehmung propagiert: Ich fühle, also bin ich.12 Darüber hinaus wird die Überlagerung der Sinne am Beispiel des Seh- und der Geschmackssinns vor Augen geführt. Die gesamte Filmsequenz ist in satten, kräftigen Farben gehalten. Es genügt ein Blick auf das festliche Mahl und schon vermeinen wir, das saftige Obst zu riechen und zu schmecken.13 Das verheißungsvolle Festessen regt unseren Appetit an, doch dieser vergeht uns beim Anblick des servierten Augenpaares ebenso schnell wie er hervorgerufen wurde. Ein Gefühl des Ekels und des Unbehagens macht sich für einen kurzen Moment breit. Beständig schwankt Ofelia zwischen der realen Welt einerseits und der fabelhaften, „surrealen“ Welt andererseits und wir fühlen uns erinnert an die Bemühungen der Surrealisten, die Schranken der Wirklichkeit zu durchbrechen, etwa wenn Cocteau den Orpheus-Mythos in seinem Schaffen aufgreift und Orphée im gleichnamigen Film die Schranken zur Unterwelt, verkörpert durch Spiegel, überschreitet. Was in Pans Labyrinth auf den ersten Blick als eine Flucht in eine Phantasiewelt ausgelegt werden könnte, erweist sich bei näherer Betrachtung als Grenzverschiebung beider Sphären, und zwar in dem Sinne, als dass die Realität Ofelia stets einzuholen droht. Mit zunehmendem Verlauf der Handlung gewinnen die Geschehnisse in der Phantasiewelt parallel zu den Ereignissen des wahren Lebens an Grausamkeit.14 Keineswegs handelt es sich um eine „Traumwelt“, die Ofelia beschreitet, vielmehr haben wir es mit einer Alptraumwelt zu tun: Das Leben ein Alptraum.15 Ofelias Betreten der „paysages dangereux“ erweist sich somit auch als ein Abstieg in die Unterwelt, in das Reich der Finsternis, der Ängste und der Alpträume, in ihr Innenleben. Hier bietet es sich erneut an, die in Pans Labyrinth thematisierte Grausamkeit, das Schockpotential einzelner Szenen, die Vermischung des Märchenhaften mit dem Grausamen, dem Bestialischen und dem Grotesken als Anklang an die Praktiken und Vorlieben der Surrealisten zu interpretieren. So erinnern beispielsweise zahlreiche Motive an die Werke Goyas, jenes Malers, dessen

12 Vgl. Böhme: „Sinne und Blick“, S. 215-255. 13 Vgl. im Zusammenhang mit farblicher Gestaltung und sinnlicher Wahrnehmung auch den Beitrag von Kirsten von Hagen in diesem Band. 14 Vgl. Leweke: „Die hohe Kunst der Verdrängung“, S. 1f. 15 Zur Geschichte und Bedeutung des Traumes für den westlichen Kulturkreis vgl. insbesondere Alt, Peter-André: Der Schlaf der Vernunft.: Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit, München 2002.

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Werk sich auf die Leitmotive ‚Gewalt‘ und ‚radikale Brutalität‘16 reduzieren lässt und dessen Vermächtnis im Schaffen der Künstlergruppe um Breton fortlebt (Abb. 5-8).

Abbildung 5: Goya: Warum? Blatt 32. der Abbildung 6: Goya: Barbaren! Blatt 38 der Schrecken des Krieges; Schrecken des Krieges

Abbildung 7: Goya: Saturn frisst seine Kinder, Abbildung 8: Screenshot, Pans Labyrinth 1820-1823

Es ist insbesondere der graphische Zyklus der Desastres, welcher auf anschauliche Weise Goyas kritische Auffassung zur Realität, die nicht unter dem Diktum der rationalen Kontrolle steht, die Banalität des Grauens, die Brutalität des Lebens, die quälende Außenwelt an sich verdeutlicht. Hier gelingt Goya durch die Hinwendung zur „beobachtbaren Wirklichkeit“ eine „Verwirklichung der nackten Anarchie, die ebenso gnadenlos in der Außenwelt wie in der Welt irrationaler Lust und Angst herrscht.“17 Diese Anarchie hat, von Goya, über die Surrealisten, Dalí berichtet beispielsweise von imaginierten 16 Licht: Goya, S: 183 17 Ebd., S. 180.

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Wesen, „die täglich furchterregender waren“18, bis hin zu Pans Labyrinth weiterhin bestand und bleibt, berücksichtigt man die Art, wie der Film an die Thematisierung des spanischen Bürgerkrieges herangeht, ungeachtet des zeitlichen Kontextes ein Bestandteil menschlichen Seins. Stets verwischt in Pans Labyrinth der Kontrast zwischen Phantasie und Realität, die Grenzbereiche werden aufgebrochen. Reales wirkt sich auf „Irreales“ aus. Umgekehrt nehmen die Gestalten der Parallelwelt, so unwirklich sie auch erscheinen mögen, Einfluss auf das Geschehen der realen Welt, sie sind in ihr verankert und manifestieren sich auf unterschiedlichste Weise. (Alp-)Traum und Wirklichkeit gehen Hand in Hand. Damit fungiert die „surreale Welt“ Ofelias, die „schrecklich schön und schön schrecklich“ zugleich ist, nicht bloß als Gegenentwurf zur Realität, sondern ist vielmehr in das reale Geschehen eingebettet und mit ihr verwoben. Als Beispiel sei die Sequenz mit der Alraune genannt: Sichtlich geschwächt hütet Ofelias Mutter das Bett, um das Leben des ungeborenen Kindes nicht zu gefährden. Ofelia, den Ratschlag Pans befolgend, legt daraufhin eine in Milch und Blut getränkte Alraune, die allzu gern ein Säugling wäre, unter das Bett der Schwangeren und führt auf diese Weise innerhalb weniger Tage eine Besserung ihres Gesundheitszustandes herbei. Doch die Genesung währt nicht lange. Vidal entdeckt die Alraune, sieht in ihr nichts weiter als eine übel riechende Wurzel und wirft sie wütend ins Feuer. Nichtsahnend setzt er damit das Leben seines ungeborenen Sohnes aufs Spiel und unterschreibt zugleich das Todesurteil seiner Ehefrau. Die Verflechtung von Realität und Phantasie/Magie wird überdies an jenem Buch ersichtlich, das Ofelia von Pan erhält. Es zeichnet sich dadurch aus, dass die einzelnen Seiten unbeschrieben sind, Ofelia jedoch dessen ungeachtet ihre eigene Lebensgeschichte nachlesen kann.19 Mit jedem Aufschlagen der Seiten tut sich nicht nur Vergangenes, sondern auch Künftiges kund, so dass das Mädchen nicht nur die Rolle des Lesers einnimmt, sondern zugleich Bestandteil einer Erzählung ist und sich damit ihr eigenes Leben als Buch, als Text entlarvt. Sie ist Figur und Leser zugleich, das Erzählte geht über sich selbst hinaus und greift in das Leben hinein. Auf diese Weise wird die Kontinuität des Geschehens, die Chronologie aufgebrochen: In dem Augenblick, in dem Ofelia liest, ist ihr Leben bereits verflossen, erzählt und schriftlich fixiert. Was augenblicklich geschieht, ist in Wirklichkeit bereits gewesen. Die logische lineare Abfolge der Zeit ist hier nicht mehr gegeben. Labyrinthartig ist die 18 Dalí: „Das geheime Leben des Salvador Dalí“, S. 55. 19 Im Übrigen wird auch hier die Thematik des konventionellen Sehens aufgegriffen und hinterfragt. Denn die Erzählung des Buches ist nicht in Worten, sondern in Bildern verfasst. Die Bilder wiederum offenbaren sich erst, sobald Ofelia mit dem Buch spricht oder aber die Seiten ertastet.

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Existenz des Lebens mit dem Buch verwoben.20 Das Gelebte ist das Erzählte. Ofelia liest eine Geschichte, welche im Grunde der ihren gleicht und sie spiegelt. Mit anderen Worten: Ihr Leben ist bereits ein Buch, (ein Traum, den) das sie liest und lebt, ihr Körper ein Text.21 Es sei dem Leser überlassen, das Ende dieses Text-Körpers weiter zu verfolgen. Festzuhalten bleibt, dass Pans Labyrinth sowohl auf verspielte und märchenhafte als auch auf erschreckende Weise von den Ängsten des Menschen und den Schreckenszeugnissen der Realität berichtet. Gerade in der Entlarvung der Kompromisslosigkeit und Sinnlosigkeit der realen Welt liegt die Nähe zum historischen Surrealismus begründet. Nur träumend und an die Existenz einer anderen Welt glaubend gelingt Ofelia die Überwindung der Wirklichkeit.

Literaturverzeichnis Alt, Peter-André: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit, München 2002. Borges, Jorge Luis: Buch der Träume, München 1998. Böhme, Hartmut: „Sinne und Blick. Zur mythopoetischen Konstitution des Subjekts“, in: ders.: Natur und Subjekt, Frankfurt a.M. 1988, S. 215-255. Breton, André: „Manifeste du surréalisme“ (1924), in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, Paris 1988, S. 309-346. Breton, André: „Second manifeste du surréalisme“ (1930), in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, Paris 1988, S. 775-833. Dalí, Salvador: Das geheime Leben des Salvador Dalí, hrsg. von: Schiebeler, Ralf, München 1984. Hocke, Gustav René: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst, Hamburg 1987. Leweke, Anke: „Die hohe Kunst der Verdrängung. Guillermo del toros erschütternder Film Pans Labyrinth“, in: http://www.zeit.de/2007/10/ Fantasy-Filme (23.07. 2007) Licht, Fred: Goya. Die Geburt der Moderne, München 2001. Ottinger, Didier: Surréalisme et mythologie moderne. Les voies du labyrinthe d’Ariane à Fantômas, Paris 2002. 20 Vgl. Hocke: Die Welt als Labyrinth. 21 Vgl. Borges: Buch der Träume; Alt: Der Schlaf der Vernunft, S. 92-110; Zeuch/Benthien (Hrsg.): Haut zwischen 1500 und 1800.

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Sander, Ralf: „Pans Labyrinth. Faune und Faschisten“, in: http://www.stern.de/ unterhaltung/film/583192.html?q=pans%20labyrinth (23.07. 2007) Spies, Werner: Der Surrealismus. Kanon einer Bewegung. Köln 2003. Winter, Scarlett: „Dalís surrealistisches Bildtheater“, in: Maurer Queipo, Isabel/Rißler-Pipka, Nattete (Hrsg.): Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Knsten. Bielefeld 2007, S. 269-288. Zeuch, Ulrike/Benthien, Claudia (Hrsg): Haut zwischen 1500 und 1800. Verborgen im Buch, verborgen im Körper. Ausstellungskatalog. Wiesbaden 2003.

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Surreale und surrealistische Elemente in David Lynchs Fernsehserie Twin Peaks Die Frage nach Elementen des Surrealismus im zeitgenössischen Film oder hier: in einer zeitgenössischen Fernsehserie richtet sich auf eine ästhetische und auf eine strukturelle Ebene. Sind in gegenwärtigen Medienangeboten Fortsetzungen von oder Analogien zu surrealistischen Strategien und Bildkombinationen auszumachen? Wie und in welcher Form ist eine aktuelle Medienavantgarde überhaupt möglich? Hat man es nur noch mit Schwundformen, mit einem surrealism without the unconscious zu tun, wie Fredric Jameson argumentiert, und sind David Lynchs Filme bestenfalls Ausdruck einer regressiven Nostalgie?1 Anhand der Fernsehserie Twin Peaks (USA 1989-1991), die oft als postmodern und auch als surreal2 bezeichnet wird, versuchen wir eine Annäherung an diese Problematik.

1.

Surrealismus ohne Unbewusstes?

„In der spätkapitalistischen Gesellschaft werden Intentionen der historischen Avantgardebewegungen mit umgekehrtem Vorzeichen verwirklicht“3, schrieb Peter Bürger 1974 in seiner Theorie der Avantgarde: Der Verlust reflexiv-kritischer Distanz, den die Avantgardebewegungen mit ihrer Forderung nach einer Aufhebung der Trennung von Kunst und Lebenspraxis riskiert hätten, sei durch die Unterhaltungsindustrie auf fatale Weise verwirklicht worden. Einstmals neue, schockierende und gesellschaftskritisch eingesetzte ästhetische Strategien seien innerhalb der Kunst zu neuen Konformismen erstarrt oder kommerzialisiert worden.4 Auch Benjamin Buchloh zufolge erhielt die Schock- und Überbietungslogik der klassischen Avantgardebewegungen, insbesondere der Surrealisten und der auf sie folgenden Neoavantgarden nach 1945 massive Konkurrenz durch „the extraordinary increase in visual manipulation brought about by the rise of advertising, photography, cinema, and television“5. Die ur1

Vgl. Jameson: Postmodernism, S. 174, 296. – Wir danken Monika Medvegy für Recherchearbeiten.

2

Zu ‚postmodern‘ vgl. Nelson: TV Drama in Transition, S. 235-248; zu ‚surreal(istisch)‘ vgl. Creeber: Serial Television: Big Drama on the Small Screen, S. 48-56.

3

Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 73.

4

Bürger: Das Altern der Moderne, S. 186.

5

Buchloh: Neo-Avantgarde and Culture Industry, S. 356.

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sprüngliche Hoffnung der Avantgardekünstler, Kunst und Alltag innerhalb einer veränderten Gesellschaftsordnung vereinigen zu können, ließ sich nicht aufrechterhalten. Zu vielen surrealistischen Verfahren der Erweiterung bürgerlicher Kunstvorstellungen findet man leicht Analogien in den Bilderfluten von Kino, Comics und Werbung6 – zumal die Surrealisten bereits auf Bildmaterial aus populären Kontexten und auf industriell gefertigte Gebrauchsgegenstände als objets trouvés zurückgriffen. Die Akkumulation und Verdichtung kulturell zirkulierenden Bildmaterials, intertexuelle und intermediale Anspielungen und Zitate sowie die Konfrontation von Bildbeständen aus populären und hochkulturellen Kontexten ließen surrealistische Kunst nicht als wiedererkennbaren Stil, sondern als Methode erscheinen, deren Ziel überraschende, schockierende, unheimliche Effekte waren.7 Werner Spies spricht sogar von einem „ikonographischen Imperativ“8. Eine Analogie oder je nachdem auch eine Komplizität zu den arbeitsteilig organisierten, sich experimentell einem Publikumsgeschmack nähernden Verfahren kommerzieller Medienproduktion kann man in der Erprobung künstlerischer Produktionsweisen sehen, welche die subjektive Kontrolle und Vorstellungen von Genie demontieren, etwa das kollektive Gestalten von cadavres exquis oder das Collagieren mit vorgefundenem Material. Das Ausmaß und der Modus, in dem dabei das Unbewusste ins Spiel kommt oder kommen soll, sind in der Literatur zum Surrealismus umstritten und auch aus den Schriften der Surrealisten nicht eindeutig rekonstruierbar. Wir schließen uns hier der Auffassung an, dass surrealistische künstlerische Artefakte nicht als Ausdruck unwillkürlicher, noch vorreflexiver Reaktionen und einer ungezügelten Phantasie zu sehen sind, sondern in erster Linie als Auslöser solcher Reaktionen.9 Diese Auffassung teilt Adorno, der die Strategie des Surrealismus als Evokation des Warenfetischcharakters von Dingen (Bildobjekten) gesehen hatte; die Mitevokation der in sie investierten Libido oder präziser die Erinnerung daran deute 6

Vgl. die nicht sehr systematische Verfolgung surrealistischer Motive, insbesondere des zerschnittenen Auges aus Buñuels Un chien andalou in Comics, Horrorfilmen, Thrillern, Animationsfilmen u.a. bei Gould: Surrealism and the Cinema.

7

Vgl. Holländer: „Ars inveniendi et investigandi“, hier S. 261.

8

Spies: „Einführung“, S. 37, vgl. S. 26.

9

Vgl. zur ersten Position Steinhauser: „Prolegomena zu einer surrealistischen Programmatik und Bildwelt“, S. 382f. Zur zweiten Position vgl. Hans Holländers Argument, surrealistische Kunst suche keine Verbindung zum Unbewussten in dem Sinne, dass Bilder etwa als Ausdruck unbewusster Regungen oder als Traumäquivalente zu gelten hätten. Es sind Holländer zufolge die manifesten Artefakte, deren Rezeptionseffekte unbewusste Regungen aufrufen, vgl. Holländer: „Ars inveniendi et investigandi“, S. 247-255, Spies: „Einführung“, S. 31.

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eine Restform von Subjektivität an.10 Für Benjamin Buchloh sind es gleichfalls Erinnerungen, welche die Präsentation von alten, abgenutzten Gegenständen als objets trouvés heraufbeschwört. Die ‚unheimliche‘ Aura verfrühter Obsoletheit, die sie im Kunstkontext erhalten, hebe sie aus der ewigen Präsenz und Geschichtsvergessenheit der Konsumwelt heraus.11 Fredric Jameson greift diese Argumente auf, betrachtet die Inszenierung von Dingen im historischen Surrealismus jedoch nicht allein als Evokation von Erinnerungen. Er fasst sie auch als Versuch, einer verdinglichten, materialistischen Welt magische Qualitäten abzugewinnen: The Utopian vocation of surrealism lies in its attempt to endow the object world of a damaged and broken industrial society with the mystery and the depth, the ‚magical‘ qualities (to speak like either Weber or the Latin Americans), of an Unconscious that seems to speak and vibrate through these things.12 Das Unbewusste ist hier – leicht misszuverstehen – ein Sammelbegriff für Erinnerungen, erotische Aufladung, magische und unheimliche Qualitäten, die durch surrealistische Strategien erzeugt werden. Bei Jameson wird die Präsenz eben dieser Qualitäten des ‚Unbewussten‘ zum Differenzkriterium, das die Werke der surrealistischen Avantgarde von vielen ‚postmodernen‘ Ausprägungen der Videokunst, der neuen figurativen Malerei und vom Fernsehen unterscheidet. Zwar setzen diese Formen die surrealistische Methode der Kombination kulturell prozessierten Bildmaterials und der Gegenüberstellung von Diskrepantem fort, ihnen fehlt aber die Bezugnahme auf individuelles oder kollektives Unbewusstes: Man hat es mit einer leeren Hülse des Surrealismus, mit „surrealism without the unconscious“13 zu tun. Diese Aushöhlung führt Jameson auf den Strukturwandel von Kunstwerken zu Medienangeboten zurück: Die ‚kulturelle Logik des Kapitalismus‘ lässt Kultur zunehmend in ihren materiellen Erscheinungsweisen und als in10 Adorno: „Rückblickend auf den Surrealismus“, S. 35 betrachtet surrealistische Bildformen „als Zeugnis des Rückschlags der abstrakten Freiheit in die Vormacht der Dinge und damit in bloße Natur […]. Seine Montagen sind die wahren Stilleben. Indem sie Veraltetes auskomponieren, schaffen sie nature morte. Diese Bilder sind nicht sowohl die eines Inwendigen als vielmehr Fetische – Warenfetische – an die einmal Subjektives, Libido sich heftete. An ihnen, nicht durch die Selbstversenkung, holen sie die Kindheit herauf. Die Modelle des Surrealismus sind die Pornographien.“ 11 Buchloh: Neo-Avantgarde and Culture Industry, S. 270f. 12 Jameson: Postmodernism, S. 173. 13 Ebd., S. 71, 174.

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dustriell reproduziertes Formrepertoire erscheinen. Ein Indiz für diesen Wahrnehmungswechsel ist die Ablösung der älteren Terminologie von künstlerischen Genres und Formen durch den Begriff des Mediums oder der Medien: Er ergänzt die Vorstellung von künstlerischer Tätigkeit um die Berücksichtigung ihrer technologischen und sozialen Rahmenbedingungen.14 Die erste „mediatic art form“15, für die eine solche erweiterte Perspektive erprobt wurde, ist der Film. Als ‚kulturelle Dominante‘ für das 20. Jahrhundert kommt der Film für Jameson aber nicht in Frage, denn die Dramaturgie von Spielfilm und Kinobesuch gleiche mit ihren deutlich markierten Anfängen und Enden und mit ihrer narrativen Zeitstrukturierung traditionellen Kunstformen wie Oper und Theater. Die filmische Zeitstrukturierung beziehe immer noch aktive oder unwillkürliche Erinnerungsakte (und damit ein eigens adressiertes Subjekt) ein. Die eigentlich neuen und genuinen Medien seien Fernsehen und Video, da ihnen diese Strukturierung ebenso fehle wie die Notwendigkeit des Sich-Erinnerns im ständigen, disparaten ‚flow‘ (nach Raymond Williams) des Fernsehens oder in der Echtzeit der Videoinstallation. Während der historische Surrealismus und der Film also subjektive Aktivität noch als Implikat in ihre ästhetische bzw. mediale Struktur einbauten, erlauben Video und Fernsehen nur, sich dem ‚flow‘ distanzlos auszusetzen.16 Wenn auch Jamesons Gleichsetzung von Fernsehen und Video(-kunst) problematisch bleibt, wird seine Einschätzung der Problematik des Fernsehflows von Medienkritikern durchaus geteilt.17 Dagegen sprechen jedoch Skripte, etwa Programm- und Formatstrukturen, die Anknüpfungspunkte für eine speziellere Pragmatik des Fernsehens bieten und andere Rezeptionsweisen zumindest ermöglichen. Die Serie Twin Peaks mit ihrem Fanpublikum, das die wöchentliche Ausstrahlung als Ereignis behandelte, im Internet regelrechte Interpretationszirkel ausbildete und Gegenstand einer Vielzahl akademischer Publikationen wurde, ist ein Beispiel dafür.18 Auch der modellbildende Kultstatus, den Filme und Serien zuweilen erlangen, hebt sie aus der ständigen Gegenwart immer neuer Produktionen heraus und macht sie gelegentlich zu Klassikern. Thomas Elsaessers Einschätzung ‚des‘ Fernsehens scheint solche Phänomene

14 Ebd., S. 67. 15 Ebd., S. 68. 16

Vgl. ebd., S. 71.

17 Vgl. Enzensberger: „Das Nullmedium oder Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind“, und Engell: „Was es heißt, von Dallas zu lernen“. 18 Vgl. Jenkins: „‚Do You Enjoy Making the Rest of Us Feel Stupid?‘ alt.tv.twinpeaks, the Trickster Author, and Viewer Mastery“.

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treffender darzustellen: „television […] especially in the series, ‚addresses‘ its spectator as at once a knowing, a believing and a disbelieving subject.“19 Jamesons Diagnose des Referenzverlusts kultureller Signifikanten in einem ahistorischen, distanzlosen Bilderflow müsste also, ebenso wie seine historische Dichotomisierung ‚von Kunst zu Medien‘ und Buchlohs Bild eines unversöhnlichen Nebeneinander von Kunst und Kulturindustrie differenzierter betrachtet werden.20 Weitere Argumente dafür findet man einerseits in den Affinitäten der historischen Avantgarden, insbesondere des Surrealismus, zur populären und kommerziellen Unterhaltungskultur und andererseits in experimentellen Momenten der massenattraktiven Medienangebote, kurz: im breiten Spektrum der Medienexperimente.21 David Lynchs Serie Twin Peaks ist ein Testfall, aber auch ein Grenzfall für den Versuch, die phänomenologische und strukturelle Präsenz avantgardistischer bzw. surrealistischer Momente in einem gegenwärtigen Medienangebot nachzuweisen. Anhaltspunkte für ein solches Vorhaben bieten die Inszenierung und Kontextualisierung von vertrauten Dingen, die fremdartig und unheimlich wirken und mit ungewisser, nicht entschlüsselbarer Bedeutung aufgeladen sind. Grenzen werden diesem Vorhaben ironischerweise durch die Tatsache gesetzt, dass Twin Peaks die surrealistische Strategie des Anhäufens und Verdichtens inkongruenter Referenzen und (im weitesten Sinne) surrealer Effekte so sehr auf die Spitze treibt, dass sie inflationär werden und ihre Wirksamkeit einbüßen. Eine weitere Schwierigkeit liegt in der trennscharfen Bestimmung des ‚Surrealistischen‘ – definiert es sich doch, wie gesehen, über Verfahren und Effekte und nicht über formale oder stilistische Merkmale. Wir arbeiten im Folgenden mit einer heuristischen Unterscheidung zwischen dem ‚Surrealistischen‘ und dem ‚Surrealen‘. Unter dem ‚Surrealistischen‘ verstehen wir relativ explizite Verfahren, die direkt auf die klassische surrealistische Avantgarde der 1920er und 1930er Jahre anspielen. Unter ‚Surrealem‘ verstehen wir Momente, in denen die imaginären Investitionen in Realitätswahr-

19 Elsaesser: „Fantasy Island: Dream Logic as Production Logic“, S. 143. 20 Peter Bürger etwa spricht vorsichtiger, aber ebenso unbestimmt davon, dass die Auseinandersetzung mit den historischen Avantgarden und ihren gegenwärtigen Resonanzen Anstoß zu einer Neubestimmung des Modernebegriffs als einer heterogenen und pluralistischen Epoche geben könnten (Bürger: Das Altern der Moderne, S. 190). Vgl. zur Kommerzialisierung des Kunst- und Medienbetriebs Buchloh: Neo-Avantgarde an Culture Industry, S. 348, zu einer differenzierten Einschätzung der Spielräume künstlerisch-avantgardistischer Praktiken im medialen Mainstream und zum Begriff Medienexperiment Venus: „Kontrolle und Entgrenzung. Überlegungen zur ästhetischen Kategorie des Experiments“, S. 39f. 21

Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag von Nicola Glaubitz in diesem Band.

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nehmung überraschend manifest werden und – in Form des Unheimlichen, Bizarren oder Makabren – Realität überlagern.22

2.

Das Surrealistische und das Surreale in Twin Peaks

Mit welchen Mitteln und Verfahren knüpften die Ideengeber von Twin Peaks, David Lynch und Mark Frost sowie die verschiedenen Drehbuchautoren und Regisseure der einzelnen Episoden23 an den Surrealismus an? Es gibt explizite Zitate des surrealistischen Films par excellence, Buñuels Un chien anadalou (F 1929). Die Überblendung eines Auges mit einem ähnlich geformten Roulettetisch in Episode 7 (Abb. 1, 2) erinnert an Buñuels schockierende Parallelisierung des Bildes einer am Mond vorüberziehenden Wolke mit der Sequenz eines Rasiermessers, das über ein aufgerissenes Auge geführt wird. In Episode 14 halluziniert Sarah Palmer ein weißes Pferd in ihrem Wohnzimmer (Abb. 3, 4). Auch dies erinnert an eine Passage aus Un chien andalou, in der man einen verwesenden Esel auf einem Klavier sieht.

22 Surreales, d.h. den Zusammenprall inkongruenter Motive, die magisch-erotische Fetischisierung von Gegenständen, den Einbruch von Traum, Wahnsinn und Imaginärem in Reales sowie das Makabre haben die Surrealisten in diesem Sinne auch in barocker Kunst, im Schauerroman und in den Geschichten Edgar Allan Poes ausgemacht, vgl. Spies: „Einführung“, S. 18. 23 David Lynch führte Regie im Pilotfilm und in den Episoden 2, 8, 9, 14, und 29. Mit Mark Frost schrieb er die Drehbücher für Pilotfilm und die Episoden 1, 2 und 8; in 13, 25 und 26 tritt er als schwerhöriger FBI-Agent Gordon Cole auf. Die Episodenzählung folgt der DVD-Ausgabe und Hughes: The Complete Lynch. Sie schließt den Pilotfilm nicht mit ein.

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Abbildung 1-4: Screenshots, Twin Peaks

Die zahlreichen Traum- und Halluzinationssequenzen in Twin Peaks knüpfen an die Faszination der Surrealisten für mentale Zustände an, welche die übliche Trennung von Wirklichkeit und Phantasie verschwimmen lassen: „Die traditionelle Dichotomie von Traum und traumfreier Realität wird im Surrealismus aufgehoben.“24 Einer der Protagonisten, der FBI-Agent Dale Cooper (Kyle McLachlan) träumt schon in Episode 2 von jenem mysteriösen roten Zimmer, welches immer wieder auftauchen wird. Hier erhält er wichtige Hinweise für die Auflösung des Mordes an der 17jährigen Laura Palmer (Sheryl Lee), der ihn in die Kleinstadt Twin Peaks, im Nordwesten der USA und nahe der kanadischen Grenze, geführt hat und der ihn bis zur 15. Episode beschäftigen wird. Die Traumsequenz und die Buñuel-Zitate stehen freilich in den 29 Folgen von Twin Peaks neben einer Vielzahl anderer intertextueller Verweise. Der Name der Ermordeten erinnert an Otto Premingers Figur in dem gleichnamigen Film Laura (USA 1944), und bei Lynch wie bei Preminger bringt das Verschwinden der allseits begehrten Laura ein Geflecht von Intrigen und Manipulationen zum Vorschein. Madeleine Ferguson, Lauras ebenfalls von Sheryl Lee gespielte Cousine, trägt den Namen der Protagonistin aus Hitchcocks Vertigo (USA 1958) und verstrickt sich wie diese fatal in ihrer Rolle als Wiedergängerin. Die Figur James Hurley ist auch optisch nach James Deans Rolle des ‚rebel without cause‘ modelliert. Die Liste der Versatzstücke aus Filmen und Fernsehserien ist wie in Blue Velvet (USA 1986) und dem parallel zu Twin Peaks gedrehten Film Wild at Heart (USA 1990) noch sehr weit fortsetzbar.25 Der visuelle und musikalische Zitatteppich in Lynchs Filmen ist als postmoderne Collage ohne Tiefendimension bezeichnet worden, die eine kennerhafte, distanzierte und ironische Rezeptionshaltung nahe legt.26 Es bleibt je24 Hetzel: Ästhetische Welterschließung bei Oswald Spengler und Walter Benjamin, S. 246. 25 Vgl. zu Dokumentationen Alexander: The Films of David Lynch. 26 Vgl. z.B. Neidhart: „From Blue Velvet Underground to Wild Mainstream“, S. 308311.

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doch nicht bei einem solchen ‚surrealism without the unconscious‘, wie sich wiederum an den Traumsequenzen veranschaulichen lässt. Dass Cooper im Traum Hinweise erhält, die ihn schließlich auf die Spur des Mörders von Laura Palmer bringen, und dass ihm die Tote begegnet und ihm den Namen des Bösewichts ins Ohr flüstert, ist zunächst nicht außergewöhnlich. Verblüffend ist erst die Tatsache, dass er diese Hinweise absolut ernst nimmt und auch seine einheimischen Helfer, Sheriff Harry S. Truman und seine Deputies, in Episode 3 nicht den geringsten Zweifel an ihrer Sachdienlichkeit anmelden. (Sie akzeptieren auch Coopers aleatorische, von tibetanischer Mystik inspirierte Ermittlungsmethoden ohne weiteres.) Dem Traum wird gestattet, auf die (diegetische) ‚Realität‘ überzugreifen, und beide erhalten denselben Status – eine surreale Wissensordnung. Unglücklicherweise jedoch vergisst Cooper (ziemlich typisch für Träume, aber ebenso typisch für das Fernsehserienprinzip der unendlichen Retardation27) den Namen des Mörders genau in dem Moment, in dem er ihn seinen Mitkämpfern verraten will. Die Destabilisierung der Grenze zwischen ‚Traum‘ und (diegetischer) ‚Realität‘ wird im Verlauf der Serie noch verstärkt, da sich herausstellt, dass das rote Zimmer nicht bloß ein Traum Coopers war, sondern auch in einem Traum Laura Palmers vorkam (Episode 16). Es ist paradoxerweise Traum und intersubjektiv zugängliche Wirklichkeit zugleich. Wer freilich erwartet, dass sich auch der merkwürdige, mit magischen Fähigkeiten ausgestattete kleine Junge aus Episode 9 als manifeste Irrealität erweisen wird, wird enttäuscht. Die alte Mrs. Tremond und ihr Enkel (von David Lynchs Sohn Austin verkörpert) helfen der Schülerin Donna Hayward (Lara Flynn Boyle) bei ihren privaten Ermittlungen im Fall ihrer besten Freundin Laura Palmer. Als sie jedoch später Cooper zu den beiden bringen will, stellt sich heraus, dass sie so nie existiert haben (Episode 16). Selbst auf die Durchbrechung des Realitätsprinzips kann man sich also nicht verlassen. Erst das eröffnet einen Spielraum für Verunsicherungseffekte, die nicht allein auf der kognitiven Ebene operieren, sondern auch eine emotionale Dimension erreichen. Gegen Ende der Serie wird das Motiv des roten Zimmers mit seinen gezackt gemusterten Fußböden, vereinzelten weißen Statuen, schwarzen Sesseln, rückwärts sprechenden Zwergen und auftauchenden wie verschwindenden Geistern Verstorbener als Teil einer Welt rationalisiert, die parallel zur diegetischen ‚Realität‘ existiert: als ‚Black Lodge‘, die von Dale Cooper höchst leiblich besucht wird. Mit allerlei Verweisen auf indianische Mythen, parapsychologische Phänomene und Außerirdische werden das rote Zimmer und die Richtigkeit von Coopers ‚Traum‘ plausibel gemacht. Mit der nachgelieferten diegeti-

27 Vgl. Engell: „Die Wiederkehr der Ähnlichkeit“, S. 33.

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schen Motivation verliert es jedoch sein beunruhigendes, rätselhaftes Potential und seine surrealen Qualitäten. In einem Punkt aber ist der Übergang von einem zunächst (subjektiv) erscheinenden Traum Coopers, der sich dann als Vorgeschmack der (irgendwie ‚objektiven‘) ‚Black Lodge‘ erweist28, wegweisend für die weitere Analyse: Die Destabilisierung der Grenze zwischen subjektiv und objektiv, zwischen Traum und Realität ist eines der Verfahren der Destabilisierung, das als eher subtiles Mittel eine surreale Atmosphäre erzeugt. Wir wollen im Folgenden zwei Serien der Destabilisierung untersuchen: die Serie der Verdopplung/Vervielfältigung und die Serie, in der ganz alltägliche Gegenstände zu einem beängstigenden Eigenleben zu erwachen scheinen.

3.

Die Serie der Verdopplung

In Twin Peaks drängen sich Doppelungen, Analogien, Ähnlichkeiten und Wiederholungen penetrant auf: die Zwillingsgipfel des Orts(-namens), die als Madeleine wiederkehrende Laura, die Fernsehserie in der Serie Invitation to Love, Lauras zweites geheimes Tagebuch, die einäugige Nadine Hurley und das Bordell One Eyed Jack’s. Die Figuren selbst verweisen (wie schon angedeutet) durch Namen, Charakterisierung und Aussehen auf Vorläufer. Sie werden so explizit als Typen, nicht als individualisierte Charaktere gekennzeichnet. Agent Cooper, die Inkarnation des aufrechten, gesetzestreuen Amerikaners, der an der frontier gegen das Böse kämpft, wird im Pilotfilm von Dr. Jacoby (Russ Tamblyn) prompt als ‚Gary Cooper‘ angesprochen.29 Auch hier freilich legen Lynch und Frost falsche Fährten aus, denn der nicht minder wackere Sheriff Harry S. Truman (Michael Ontkean) teilt nichts als den Namen mit dem Nachkriegspräsidenten, der eine bedenkliche Rolle im Aufbau der CIA spielte. 28 Ähnliches geschieht auch in Episode 8. Dort erscheint Cooper in seinem Hotelzimmer, nachdem ein unbekannter Täter ihn angeschossen hat, ein mysteriöser Gigant. Es scheint sich dabei um eine Art Halluzination zu handeln, doch diese ‚Halluzination‘ stiehlt Cooper einen Ring von einem Finger. 29 Da sie in der Sekundärliteratur (vgl. z.B. Engell „Die Wiederkehr der Ähnlichkeit“, S. 44-50 und Matthees: „‚She’s filled with secrets‘: Hidden Worlds, Embedded Narratives and Character Doubling in Twin Peaks“) gut dokumentiert sind, rufen wir hier nur einige Beispiele in Erinnerung. Lynch wählte für einige Rollen, z.B. die der Catherine Martell (Piper Laurie), des Dr. Jacoby (Russ Tamblyn), Leland Palmers (Ray Wise) und Norma Jennings’ (Peggy Lipton) bekannte US-Seriendarsteller aus, die bereits mit den entsprechenden Rollen identifiziert wurden. Kyle McLachlan spielte bereits Hauptrollen in Lynchs Dune (USA 1984) und Blue Velvet, Jack Nance, der Darsteller von Pete Martell, war der Protagonist in Eraserhead (USA 1977).

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Verkleidungen und Tarnungen sind an der Tagesordnung, etwa wenn die totgeglaubte Catherine Martell den japanischen Geschäftsmann Mr. Tojomura und Madeleine Laura spielt, der lokale Geschäftsmann und Kriminelle Benjamin Horne (Richard Beymer) sich vorübergehend für den Südstaatengeneral Robert E. Lee hält und in seinem Büro den amerikanischen Bürgerkrieg nachspielt, oder wenn Coopers alter Freund, der DEA-Agent Denis Bryson (David Duchovny), als Transvestit Denise in Twin Peaks auftaucht. Nicht nur die Identitäten der Figuren, sondern auch ihr Status und ihre Beziehungen sind in der Regel doppelbödig. Kaum eine Figur, die ohne geheime Affäre(n) bliebe oder unter dem Deckmantel einer respektablen bürgerlichen Kleinstadtexistenz nicht irgendeiner kriminellen Nebenbeschäftigung nachginge – Drogenhandel, Prostitution, Inzest, Erpressung, Versicherungsbetrug oder Mord. Die Serie folgt insofern dem Muster der Endlossoap, in der immer neue, möglichst sensationelle Verwicklungen und Neukombinationen des Figurenarsenals einen Handlungsverlauf weiterspinnen, ohne jemals auf ein Ende zuzusteuern.30 Sorgt in den meisten Serien poetische Gerechtigkeit für klare Verhältnisse, so wird sie in Twin Peaks durch Sympathielenkung systematisch durchkreuzt. Der trauernde Rechtsanwalt Leland Palmer bleibt bemitleidenswert, auch als klar wird, dass er seine Tochter und seine Nichte getötet hat; und hätte man es dem brutalen Macho Leo Johnson tatsächlich gewünscht, dem sadistischen Serienmörder Windom Earle in die Hände zu fallen? Auch Coopers Ermittlungen steigern die Komplikationen, anstatt sie aufzulösen, und da er offenbar Earle in die Umgebung gelockt hat, ist die Vermutung des kanadischen Gangsters Jean Renault (Michael Parks) in Episode 20 wohl richtig: „Maybe you brought the nightmare with you.“ Solche Ambivalenzen setzen einer kulinarischen Rezeption Widerstände entgegen und überhöhen seichte Melodramatik zu surreal-makabren Szenen.31 Besonders viele davon sind mit Lauras Vater Leland verbunden. Die spätere Enthüllung seines Missbrauchs an Laura wird bei der Beerdigung des Mädchens schon durch eine visuelle Kopplung von Sex und Tod vorweggenommen, als Leland sich weinend auf den Sarg wirft und dieser aufgrund seines defekten Versenkungsmechanismus im Grab rhythmisch auf und ab fährt. In weiteren Episoden wiederholen sich Szenen, in denen Leland zu schwungvollem Bigband-Jazz tanzt (gelegentlich mit Lauras Foto) oder an unpassenden

30 Unangenehm machte sich dieses Muster bei den Zuschauern der Erstausstrahlung der zweiten Staffel bemerkbar, die als zunehmend konfuse Anhäufung von Merkwürdigkeiten wahrgenommen wurde. Vgl. Dolan: „The Peaks and Valleys of Serial Creativity: What happened to/on Twin Peaks“, S. 30. 31 Vgl. zur Rolle der evozierten Affekte und ihren surrealen Qualitäten Ayers: „Twin Peaks, Weak Language, and the Resurrection of Affect“.

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Orten Steptanz- und Gesangseinlagen zum Besten gibt. Diese Szenen führen mit quälender Ausführlichkeit seine mentale Instabilität, seine Zerrissenheit zwischen Schmerz, Trauer und aufgesetzter Fröhlichkeit vor. Andere Charaktere müssen mehr oder weniger freiwillig mitmachen, um den Schein zu wahren. Die makabre Peinlichkeit solcher Szenen ist sehr viel unheimlicher als Momente, in denen klargemacht wird, dass die Missetaten des Anwalts auf seine Besessenheit durch den bösen Geist Bob zurückzuführen sind. Nicht wegen, sondern trotz der Markierung von Figuren und Figurenkonstellationen als duplizierte Versatzstücke popkultureller Formate, und trotz der Anhäufung von Motiven aus Familienmelodram, Mystery-, Horror- und film noir-Erzählungen gelingen den Regisseuren der Serie surreale, beunruhigende Inszenierungen emotionaler und kognitiver Dissonanz.

4.

Die Serie der Dinge: Objekte mit Eigenleben

Walter Benjamin schrieb schon 1925 in seinem Fragment „Traumkitsch“, der Surrealismus sei „der Seele weniger als den Dingen auf der Spur.“ In Träumen erschienen die Dinge als banaler Kitsch, und im Gegensatz zur Kunst, die erst zwei Meter vom Körper entfernt beginne, rücke „im Kitsch die Dingwelt auf den Menschen zu“ und lasse sie schlussendlich zu ‚möblierten Menschen‘ werden.32 Twin Peaks illustriert diese Überlegung getreulich, wenn Dinge immer wieder eine irritierende Eigenständigkeit und Präsenz erlangen, die die diegetische ‚Realität‘ (alb-)traumhaft aufladen. Der Kitsch drängt sich schon im Pilotfilm massiv ins Bild und in die Handlung. Cooper und Truman wollen das Bankschließfach Lauras inspizieren – auf dem Tisch bei den Schließfächern liegt aber ein riesiger ausgestopfter Hirschkopf (Abb. 5). Er sei von der Wand gefallen, heißt es lapidar. Der Hirschkopf erfüllt keine narrative Funktion und lenkt sogar von der ‚eigentlichen‘ Handlung ab. Eine Unmenge an Geweihen, ausgestopften Hirsch- und Schneeziegenköpfen, Fischen, Füchsen und Tierskulpturen überzieht nahezu jeden Innenraum in Twin Peaks.

32 Benjamin: „Traumkitsch“, beide Zitate S. 621/622.

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Abbildung 5: Screenshot, Twin Peaks

Selbst wer sich nicht an die Einstellung auf Norman Bates vor seinen ausgestopften Vögeln aus Hitchcocks Psycho (USA 1960) erinnert, wird durch langsame Kamerafahrten über diese Gegenstände und bedrohliche Musik von ihrer Bedeutsamkeit überzeugt. Langsame Schwenks von diesen und anderen Exemplaren amerikanischen Wohnkitsches leiten häufig neue Szenen ein (vgl. Episoden 5, 6, 9). In einer Sequenz aus Episode 6 sieht man Donna und Maddy in einem Zimmer – doch bevor man sie sieht, fährt die Kamera sehr langsam an einem Klavier und einer Vase vorbei. Man erwartet geradezu, dass irgendetwas mit diesen Dingen nicht stimmt – aber nichts passiert.33 Als Symbole von Ordnung werden die immer sorgfältig aufgestapelten Donuts inszeniert,34 die bei den Ermittlungsarbeiten unverzichtbar und allgegenwärtig erscheinen. Ins Parodistische kippt diese Aufladung mit Bedeutung, wenn sie in Episode 6 selbst ‚Verbrechens‘spuren tragen – nämlich die Blutspritzer des gerade erschossenen Beos Waldo, der als sprachimitierender Vogel zum Zeugen im Fall Palmer geworden war. Die Kamera verweilt, begleitet von langsamer Musik, ausgiebig auf dem Stillleben. In Episode 8 sitzt Cooper mit seinen Kollegen in einem Arbeitsraum im Polizeihauptquartier. Sie lassen den Ermordung von Laura Palmer und den bisherigen Stand der Ermittlungen kurz Revue passieren. Die Kamera löst sich von Cooper und fährt an einer langen Reihe von Donuts vorbei, wobei verschiedene Szenen vom Hergang des Verbrechens überblendet werden. Die alltäglichen Dinge werden hier buchstäblich mit Erinnerung aufgeladen. Das Wohnzimmer der Palmers, Inbegriff amerikanisch-spießiger Behaglichkeit35, wird nicht nur zum Schauplatz des brutalen Mordes an Made33 Dieses Verfahren ist typisch für die Filme von David Lynch. Vgl. den Anfang von Blue Velvet (die Kamerafahrt endet bei einem abgeschnittenen Ohr) und das Selbstzitat zu Beginn von The Straight Story (USA 1999; nach einer ähnlichen Fahrt bleibt die ländliche Idylle intakt). 34 Vgl. Telotte: „The Dis-order of Things in Twin Peaks“, S. 167. 35 Vgl. Tobe: „Frightening and Familiar“, S. 246, 248, 251f.

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leine/Maddy, sondern in Episode 8 zur Projektionsfläche des Bösen. Maddy sitzt in einem Sessel und starrt ab und an auf den Fußboden, genauer: auf den hellfarbenen Teppich. Sie sagt zu Sarah Palmer (Grace Zabriskie), dass sie in einem Traum der letzten Nacht genau aus demselben Winkel auf den Teppich gesehen habe. Eigentlich wäre schon zu diesem Zeitpunkt eine unheimliche Aufladung des Dings gelungen – warum sollte Maddy den Teppich gerade aus diesem Blickwinkel in ihrem Traum gesehen haben? Doch die Szene wird noch gesteigert. Sie blickt auf den Teppich und plötzlich scheint er sich mit einer Art Fleck zu überziehen, was Maddy offenkundig große Angst macht. Ein ganz banaler Teppich wird zur Projektionsfläche von Maddys Ängsten oder – man weiß es nicht genau – wird selbst zum Akteur (Abb. 6-10).

Abbildung 6-10: Screenshots, Twin Peaks

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In der europäischen Version von Twin Peaks wurde an dieser Stelle noch ein verzerrtes, flackerndes Bild von Bob dem Fleck überblendet. Da dadurch der Teppich allerdings wieder durch die parapsychologische Nebenwelt motiviert erscheint, ist diese Überblendung ein Verlust surrealer Qualität. Ähnliches gilt für das Ende von Episode 23. Hier kommt es zu einer Konfrontation zwischen Agent Cooper und Sheriff Truman und der zunächst als Intrigenopfer, dann als Drahtzieherin auftretenden Josie Packard (Joan Chen). Ein Schusswechsel scheint zu drohen, doch plötzlich bricht Josie tot zusammen. Sheriff Truman, der in glücklicheren Tagen ihr Geliebter war, hält ihre Leiche kurz danach in den Armen. Cooper beobachtet die Szene – die plötzlich in grelles Licht getaucht ist. Zu diesem Zeitpunkt weiß man als regelmäßiger Zuschauer bereits, dass dieses Licht einen Einbruch der seltsamen Parallelwelt der Black Lodge in die diegetische ‚Realität‘ bezeichnet. Und in der Tat: In dem Licht erscheinen nacheinander der grässliche Bob (Frank Silva) und der tanzende Zwerg aus Coopers Traum – auch ‚der Mann von einem anderen Ort‘ genannt (Michael J. Anderson). Sekunden später ist der – buchstäbliche – Spuk vorbei und man sieht in der Subjektive Coopers wieder den trauernden Sheriff mit Josie. Die Kamera fährt dann seltsamerweise nach rechts, auf ein Nachttischchen zu, nähert sich diesem – und plötzlich sehen wir eine offenbar gequälte Josie in dem Knauf der Schublade. Sie scheint sich aus dieser misslichen Lage befreien zu wollen, denn der Knauf stülpt sich in Form ihres Gesichtes aus (Abb. 11-15).

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Abbildung 11-15: Screnshots, Twin Peaks

Diese Szene ist zunächst ebenfalls parapsychologisch motiviert – irgendwie haben die seltsamen und gefährlichen Bewohner der Black Lodge mit der Situation zu tun – und Cooper motiviert ihr Erscheinen mit seinem buchstäblich hell-seherischen Fähigkeiten. Doch die Kamerafahrt nach rechts ist nicht mehr mit seiner Subjektive zu erklären. Wäre es so, würde man einen Gegenschuss erwarten, der das – anlässlich des merkwürdigen Einschlusses Josies in dem Schubladenknauf des Nachttischchens – verwunderte oder entsetzte Gesicht Coopers zeigte. Doch die Kamerafahrt scheint von einer anderen Instanz auszugehen. Josie ist nicht bloß in einer ‚Vision‘ Coopers in dem Knauf gefangen, sondern offenbar ‚tatsächlich‘. Sicher ist dieser Einschluss immer noch partiell durch das vorherige Erscheinen von Bob und dem ‚Mann von einem anderen Ort‘, aber nicht mehr vollständig dadurch motiviert: Warum ist Josie – ausgerechnet – in einem banalen Schubladenknauf und nicht z.B. mit Bob und dem ‚Mann von einem anderen Ort‘ in dem roten Zimmer (Black Lodge) gefangen? Unerwartet, aber nicht gänzlich überraschend kommt darin das triviale Geistergeschichtenmotiv der herumirrenden Seele, die Besitz von Wesen und Gegenständen ergreift, zum Vorschein. In den beiden geschilderten Sequenzen bekommen alltägliche Dinge eine abgründige Funktion, die aber partiell immer noch mit der parapsychologischen Parallelwelt motiviert ist – und gerade durch diese Motivation an Surrealität verliert. Doch es sind immerhin Einrichtungsgegenstände – massenproduzierte Möbel, noch mit der Erinnerung an tierisches Leben behaftete Jagdtrophäen, Zierat, Urlaubsandenken, Familienfotos –, die ihren harmlosvertrauten Charakter verlieren und den Figuren wie den Zuschauern ‚auf den Leib zu rücken‘ drohen. In dieser unliebsamen Nähe von Menschen und Möbeln hat nicht nur Benjamin, sondern auch Dalì Potential für Unheimliches entdeckt (Abb. 16).

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Abbildung 16: Salvador Dalí, Le cabinet anthropomorphique (1936)

Unmittelbar typischer für einen surrealistischen Erfahrungsmodus sind Sequenzen, in denen Dinge durch Kadrierung oder Kamerafahrten herausgehoben werden (Abb. 17-22).

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Abbildung 17-22: Screenshots, Twin Peaks

Wir bleiben bei den massenkonfektionierten Innenräumen. Episode 11 etwa beginnt mit Schwärze. Dann bemerkt man, dass die Kamera offenbar zurückfährt, es scheint sich um eine Art Tunnel mit einer rauen, faserigen Wand zu handeln. Man hörte spitze Schreie, Stimmen, die ‚Daddy‘ und ‚Leland‘ rufen und das Geräusch eines Herzfrequenzmessers aus dem Krankenhaus. Die Kamera fährt weiter zurück und man begreift, dass es sich um ein Loch in einer der Verkleidungsplatten, die die Wand bedecken, handelt. Die Kamera fährt weiter zurück und Sheriff Truman kommt von rechts ins Bild. Er versucht Leland anzusprechen, der mit verzerrten und abwesenden Gesicht in die Kamera starrt. Die Großaufnahme von ihm dreht sich ebenso wie zuvor die Kamera, die aus dem Loch herausgefahren war. Die Geräusche, die man hört, sind somit als die Gedanken von Leland zu verstehen. Er denkt an seine ermordete Tochter (‚Daddy‘) und an die Nacht, an der er im Krankenhaus den von Cooper und Truman verhafteten, zwielichtigen Barkeeper Jacques Renault (Walter Olkewicz) ermordet hatte – weil er ihn für den Mörder seiner Tochter hielt (darauf verweist das Geräusch des Herzfrequenzmessers, das in Episode 8 etabliert wurde). Aber wie verhalten sich diese Gedanken zu dem Loch in der Wand? Selbst wenn man behauptete, Leland habe, von seinen Gedanken gequält auf die Wand gestarrt (psychologische Motivation), so erklärt das doch in keiner Weise die Rückwärtsfahrt aus dem Loch. Wieder bekommt ein alltägliches Ding wie eine Wandverkleidung eine seltsame, unbegründete – und in diesem Beispiel auch nicht zusätzlich parapsychologisch motivierte – Präsenz: „Lynch’s surrealism […] continuously refurbishes dead cultural materials.“36 Man könnte viele weitere Beispiele aufführen, deutlich wird jedoch: Nicht die plakativen Traumsequenzen oder ihre Rolle für den Fortgang der Ermittlungen sind für die surreale Anmutung von Twin Peaks verantwortlich. Wichtiger ist die Inszenierung eines Gesamtkontextes, in dem gewohnte Identitätszuschreibungen zu Dingen wie zu Figuren ambivalent werden. Auf dieser Basis

36 Ayers: „Twin Peaks, Weak Language, and the Resurrection of Affect“, S. 95.

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verdichtet sich die musikalische, dramaturgische und visuelle Aufladung der Charaktere und Objekte mit emotionalen Gehalten zu unheimlichen, beunruhigenden oder tragikomischen Momenten. Der Charakter eines Medienexperiments kommt Twin Peaks also nicht dadurch zu, dass die Serie allein in Form eines Pastiches surrealistische Zitate aufeinander stapelt, sondern vielmehr bekommt die Welt der Dinge in Twin Peaks durch entsprechende Inszenierungsstrategien ein eigenes surreales Leben. Sie ist nicht mehr nur eine Welt der Objekte für Subjekte. Und die Subjekte sind mehr und mehr nur Objekte unter anderen – wie die tote Laura Palmer in ihrem Plastiksack.

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Vera Schröder

David Lynchs Lost Highway als surrealistischer Film Vielleicht befinden wir uns gerade in der Traumphase. Wer sagt uns, daß wir nicht im Limbo sind und das wahre Leben vor oder hinter uns liegt? (Rodley, Lynch über Lynch)

Surrealismus ist nicht auf eine bestimmte Gruppe begrenzt. Er entstand zu Ende des Ersten Weltkriegs. Die Ästhetik des Surrealen besteht darin, das Unbewusste zum Vorschein zu bringen. Hierbei beziehen sich die Surrealisten vornehmlich auf Träume, angeregt durch Freud, dessen Passion es war, das Unterbewusste zum Vorschein zu bringen, um es zu dechiffrieren. In diesem Sinn dient das Unbewusste als Problemlösung. Die Surrealisten hingegen verrätseln weiter, sind nicht auf Lösungen aus. Ihre Bilder sollen nichts vorgeben, sondern die Kreativität des Unterbewussten anregen. Die klare Trennung zwischen Traum und Wirklichkeit, wie sie Jahrhunderte lang praktiziert wurde, wird von ihnen in Frage gestellt. Dieses Chiffrierungsprinzip nutzen sie sowohl in ihren Bildern als auch in ihren Filmen. Was jedoch ist das Besondere an surrealistischen Filmen? Das Medium Film birgt eine gewisse Schaulust in sich. Der Rezipient wird zum Voyeur. Ihm werden bestimmte Wünsche erfüllt, die seine Phantasie beschäftigen. Das Phänomen Film spricht gleichzeitig mehrere Sinne an, der Zuschauer erhält die Möglichkeit zu kombinieren. Die Schaulust wird hingegen nicht gestillt, es werden immer mehr Bildwünsche produziert. In den surrealistischen Filmen haben es sich ihre Macher zur Aufgabe gemacht, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Die Kontinuität der Zeit und des Raums wird dargestellt. Das Groteske, Karnevaleske kommt zum Vorschein, so wie die Freude an der Maskerade und die Überschreitung von Tabus. Es findet ein Rollenwechsel statt, auch Geschlechterrollen werden durcheinander gebracht. Nach Freud ist das, was im Traum erkennbar ist, ein systematisches Herantasten an seine Botschaften. Surrealistische Bilder lassen sich jedoch nicht entschlüsseln. Diese Suche nach einer rationalen Erklärung bleibt oft ohne Erfolg. Beispielhaft dafür ist der Augenschnitt in Un Chien andalou, etwas wird mit anderen Augen gesehen. Auch in neueren surrealistischen Filmen finden, inspiriert durch ihre Vorgänger, gleitende Übergänge zwischen Traum und Wirklichkeit statt. Oft lassen sich die Filme insgesamt im Nachhinein als ein Traum erahnen. Wunschtraumsequenzen und Albtraumsequenzen lassen sich kaum unterscheiden. Der Film erfüllt scheinbar zunächst Erwartungen des

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Vera Schröder | Lynchs Lost Highway als surrealistischer Film

Zuschauers, um sie dann zu unterlaufen. Die Wirklichkeit wird ins Absurde geführt. Bei den Surrealisten wirken die Bilder als Bilder, sie sprechen für sich. In den folgenden Seiten beschäftige ich mich mit dieser These. David Lynch ist bekannt dafür Filme zu machen, in denen rationales Denken fehl am Platz ist. Der Versuch, seine Filme in einen erklärbaren Kontext zu übersetzen, schlägt fehl. Selten äußert er sich zu seinen Filmen und ungern erklärt oder interpretiert er diese. Sie sollen für eine subjektive Interpretation offen bleiben. Ich werde mich damit auseinandersetzen, was genau Lost Highway so grotesk werden lässt und warum man ihn als einen surrealistischen Film bezeichnen kann.

Lynch über Lost Highway Über die Erzählstruktur von Lost Highway, einem komplexen Geflecht paralleler Welten und Identitäten, das seine zahlreichen Rätsel nicht ohne weiteres preisgibt, ist viel geschrieben worden. Sie hat bei der Kritik Verwirrung und Ablehnung ausgelöst.1 Zwischen dem letzten Projekt von David Lynch (Twin Peaks) und Lost Highway lagen vier Jahre. Barry Gifford hatte ein Buch mit dem Titel „Night People“ geschrieben. In diesem benutzte er den Ausdruck Lost Highway. Lynch ist der Meinung, dass dieser Titel viele unterschiedliche Assoziationen erzeugen kann. Erst später fand er heraus, dass auch ein Song von Hank Williams mit diesem Titel existierte. Dieser wurde auch sofort in den Film eingebaut. Barry Gifford und David Lynch begannen an diesem Projekt zu arbeiten. Lynch vergleicht seinen Film mit einer Pyramide. Man sieht es beim Schneiden nicht, weil man Szene für Szene schneidet und glaubt, es könne so langsam weitergehen. Wenn man den Film im Ganzen sieht, stirbt man fast. Man fängt an, ihn zu zerhacken. Die meiste Hackerei passiert im letzten Drittel. Da fliegen die Fetzen.2 Zudem erklärt Lynch, dass der erste Teil in Lost Highway – bei Fred und Renée zu Hause – wie ein Alptraum wirkt. Es geht um ein Paar, das spürt, irgendwo an der Grenze des Bewusstseins – oder jenseits dieser Grenze – liegen riesengroße Probleme. 1

Rodley: Lynch über Lynch, S. 291.

2

Ebd., S. 301.

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Doch sie können sie nicht in die Realität holen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Das ungute Gefühl steht im Raum, die Probleme verselbstständigen sich und verwandeln sich in einen Alptraum.3 Was genau Traum und was im Film real ist, lässt David Lynch im Unklaren, eindeutig ein surrealistisches Element. Dem Zuschauer selber bleibt es überlassen, den Film individuell zu entschlüsseln.

Raum und Zeit in David Lynchs Lost Highway Lynch uses the cinema to express non-rational energy in tangible form (visually and aurally). This energy is familiar to us all, but has been repressed in us by language, rationality, and education. This is one reason why Lynch’s easy to make nonsensial films that don’t evoke any feeling at all, because they don’t engage with the non-rational energy that Lynch evokes.4 Lost Highway zu erklären, scheint ein mühseliger und ein nicht notwendiger Versuch. Der Film ist bei jedem Sehen ein anderer. Genauso wenig, wie man einen schizophrenen Menschen greifen und begreifen kann, lässt sich dieser Film auch kaum fassen, und wenn man denkt ihn packen zu können, wendet er sich geschickt wieder in eine andere Richtung und läuft davon. Georg Seeßlen hat dies treffend definiert: „Genauso gut wie ich sagen könnte, dies sei ein Film über einen schizophrenen Mörder, könnte ich sagen, dies sei ein mörderisch schizophrener Film über einen übermüdeten Saxophonspieler.“5 Es könnte aber auch die Intention zu Grunde liegen, dass Lost Highway gar nicht bis ins Letzte verstanden werden soll, denn vielleicht kann man ihn gar nicht bis ins Kleinste in eine gewisse Logik pressen. Dies hätte augenscheinlich eine Parallele zu den Surrealisten, die ihre Bilder, wie auch Filme, nicht rational erklären und der Imagination der Zuschauer überlassen.

Die Story von Lost Highway Der Saxophonspieler Fred Madison und seine Frau Reneé leben zusammen in einem luxuriösen Haus. Ihre Beziehung scheint abgekühlt und ihr Verhältnis zueinander ist nicht das beste. Fred erhält zu Beginn des Films eine Nachricht 3

Ebd.

4

Buckland: „Cognitive Theories of Narration (Lost Highway)“, S. 169.

5

Seeßlen: David Lynch und seine Filme, S. 172.

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durch die Gegensprechanlage: „Dick Laurent ist dead“. Er weiß weder, wer Dick Laurent ist, noch wer ihm diese Nachricht übermittelte. Bald bekommt das Ehepaar Videokassetten, die zunächst Aufnahmen von ihrem Haus zeigen, später sogar, wie sie nachts in ihrem Bett liegen. Auf einer Party, ausgerichtet von Andy, einem Freund Reneés, lernt Fred den „Mystery Man“ kennen. Dieser gibt an, in diesem Moment in Freds Haus zu sein, da Fred ihn dorthin eingeladen hätte. Der „Mystery Man“ besteht darauf, Fred in seinem Haus anzurufen; als Fred dies tut, nimmt tatsächlich der ominöse Fremde ab. Er erfährt von Andy, dass dieser ein Freund von Dick Laurent ist. Ein letztes Video zeigt die Ermordung Reneés durch ihren Mann. Er wird durch einen Faustschlag in die Realität zurückgeholt. Er befindet sich auf dem Polizeirevier und ist wegen des Mordes an seiner Frau zum Tode verurteilt. Fred klagt in seiner Zelle über heftige Kopfschmerzen. Am nächsten Tag sitzt ein anderer Mann in seiner Zelle, Pete Dayton. Er ist Mechaniker und erst einmal wegen eines Autodiebstahls in Konflikt mit dem Gesetz gekommen. Er kehrt in sein Vorstadtleben zurück. Jedoch stimmt irgendetwas nicht, ein Geheimnis liegt über ihm, über das seine Eltern nicht mit ihm sprechen wollen. Er lernt die Freundin seines besten Kunden Mr. Eddy kennen, die Reneé, abgesehen von der blonden Haarfarbe, gleicht. Sie beginnen ein Verhältnis. Mr. Eddy kommt dahinter und Alice stiftet Pete zu einem Überfall auf Andy, ihren Bekannten, an. Dieser stirbt dabei. Sie fliehen in die Wüste. Sie lieben sich. Dort verwandelt sich Pete in Fred. Alice verschwindet und Fred trifft auf den „Mystery Man“. Und schließlich bringt er, mit Hilfe des „Mystery Man“, Mr. Eddy um, der auch Dick Laurent genannt wird, den er zuvor aus dem „Lost Highway Hotel“ entführte. Dann begibt er sich auf die Flucht vor der Polizei. Er hält noch einmal an seinem Haus, um zu klingeln und durch die Gegensprechanlage zu verkünden, „Dick Laurent is dead“. Danach rast er den Highway entlang, um erneut eine Metamorphose zu durchleben. Doch bevor diese vollendet ist, endet der Film.

Das befremdende Element in Lost Highway Christian Metz spricht von der Grammatik des Kinos. Viele Einstellungen und Prozesse, die beim Zuschauer ausgelöst werden, funktionieren. Lost Highway hingegen funktioniert nicht immer, er zeigt nicht das, was unsere Sehgewohnheit wünscht und uns klare Schlüsse ziehen lässt. Dieser Umstand lässt sich schon beim Vorspann des Films finden. Gezeigt wird ein Highway bei Nacht. Die Kamera blickt auf die Straße und schießt den Highway entlang, dem Dunkel entgegen. Allein aus dieser Einstellung heraus könnte ein gewohnter Kino-

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gänger den Schluss ziehen, es mit einem „Road Movie“ zu tun zu haben. Diese Erkenntnis ist allerdings eine trügerische, wie sich schnell herausstellen wird. David Lynch arbeitet mit filmischen Mitteln, die es den Zuschauern erschweren, Zusammenhänge zwischen dem Gesehenen zu finden. Im ganzen Film sind beispielweise subjektive Einfügungen vorhanden. Oft erlebt Fred Madison Vorahnungen, Träume oder Erinnerungen, von denen der Zuschauer erst später begreifen kann, was die Sequenzen darstellten. Dies ruft eine Verwirrung hervor. Zu diesen Einfügungen gesellen sich die achronologischen Syntagmen, im zeitlichen Zusammenhang der Bilder wird oft nicht klar, wann sie passierten und somit auch nicht, ob sie überhaupt passierten. Aus diesem Grund wird vorerst der Eindruck erweckt, es nicht […] mit einem narrativen Geflecht der Bilder in der „Sprache des Films“ zu tun zu haben, sondern mit übereinander geschichteten Bildern, von denen jedes seine eigene Geschichte erzählen will (oder sich eben auch verweigert) und die in ihrer strengen Komposition nicht verschwinden wollen.6 Lost Highway bildet nicht das Leben ab. Seine Filmbilder bringen ein anderes Leben hervor. „Beides, die verstärkende ‚Übertreibung‘ in der Inszenierung, der Meta-Kitsch und die Paradoxie, vollziehen den radikalen Bruch mit dem harmonischen Gleichklang von Abbild und Sinnbild auf der Leinwand.“7 Georg Seeßlen erweitert seine Annahme und gibt vor, dass die Filmbilder Lynchs keinen Inhalt besitzen, sondern vielmehr ihr eigener Inhalt sind. Wir sind gewohnt, Sequenzen in Beziehung zueinander zu setzen. Jedoch macht dieser Prozess bei Lost Highway wenig Sinn. In diesem Film muss versucht werden, eine Sequenz „[…] mehrfach an den anderen und schließlich an sich selbst zu spiegeln.“8 Seeßlen vertritt die Annahme, dass durch Lost Highway eine neue Phase in der Philosophie des Films begonnen hat. „Zum ersten Mal stellt es seine Methodik, seine innere Struktur, seine Grammatik zur Disposition.“9 Er geht noch weiter in seiner Theorie und sagt, dass, wenn die Bilder in Lynchs Film Sätze wären, gewiss von sich behaupten würden, nichts anderes als sich selbst zu kommentieren, und eben darin würden sie zugleich lügen und die Wahrheit sagen, denn die Selbstbezüglichkeit in einem ästhetischen System hebt ihr Sprechen über die Welt – und über seine Urheber – nicht einfach auf, führt es aber auch auf eine höhere Ebene, auf der Ich, zum Beispiel, drei Dinge 6

Ebd., S. 154.

7

Ebd., S. 156.

8

Ebd., S. 159.

9

Ebd.

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gleichzeitig bedeuten kann, nämlich den Autor, das Subjekt der Erzählung und das ästhetische Mittel – den Satz oder die Sequenz.10 In Lost Highway ist es das Saxophon, das Fred charakterisiert. In unserer Kultur verbinden wir den Sound des Saxophons oft mit Einsamkeit. Freds Einsamkeit spiegelt sich in seiner Musik. Das Saxophon symbolisiert in diesem Film das Objekt, das ihn von seiner Frau trennt und ihn isoliert. So ist das zweite Schlafzimmer ein schalldichter Proberaum, und seine nächtlichen Auftritte lassen ihn nicht bei seiner Frau bleiben bzw. sie kontrollieren. Als Pete in der Autowerkstatt an einem Wagen arbeitet, ertönt im Radio Saxophonmusik, die den Zuschauer sogleich an Fred denken lässt. Und tatsächlich, wie bei Metz, der sagt, dass das Pfeifen auf der Tonspur eine Ankündigung des Akteurs ist, wie ein gewisser Code oder eine Konditionierung, hält Pete die Saxophonmusik nicht aus, sie tut ihm in den Ohren weh. Vielleicht soll uns diese Tatsache begreiflich machen, dass Fred wiederkehrt oder dass er nie wirklich verschwunden war, wie es zunächst den Anschein erweckt. Was wir bei Lost Highway sehen, ist ein Bild von einem Bild. Fred sieht das Video, das sein Haus zeigt. Wenn man diese Tatsache genauer betrachtet, sieht der Zuschauer ein Bild von einem Bild. Dieser Fakt ist somit eine Behauptung in einer Behauptung, eine Äußerung, die uns zweifeln lassen kann, echt zu sein. Die Kamera behauptet, dass Freds Haus vorhanden ist, doch es heißt nicht, das ist Freds Haus. Für Fred, der in diesem Moment selber Zuschauer wird, ist das Bild greifbarer als für den Zuschauer im Kino, doch verliert der Zuschauer die Kontrolle über das neue Bild des Hauses, und das Bild des Hauses verliert in der Videoaufnahme seine Glaubwürdigkeit für den Zuschauer. Den folgenden Videoaufnahmen im Film fehlt, wie auch der ersten, der Ton. Es sind Schwarzweiß-Aufnahmen, die ihre eigene Sprache sprechen. Würde man alle Aufnahmen, die am Ende des Films vorhanden sind, aneinander reihen, hätte man einen eigenständigen Film. Dieser bestünde aus Sequenzen, die diskontinuierlich aneinander gesetzt wären und jede für sich ihre eigene Sprache sprechen würde. Raum und Zeit innerhalb dieser Aufnahmen sind außer Kraft gesetzt. Sie zeigen Gewesenes und Zukünftiges. Schaut man sie an, ergeben sie als ein Ganzes dennoch Sinn. Innerhalb dieser Aufnahmen ist alles möglich, innerhalb ihrer ist alles real und von dokumentarischem Charakter. Sie sind quasi die Abbilder der Realität und doch das einzig Echte, was innerhalb von Lost Highway zu finden ist. Sie übermitteln eine große Informationsmenge, jede Sequenz für sich. Doch sind sie letztlich dennoch nur Schatten der eigentlichen Bilder. Behauptungen und Aussagen, die das, was war und sein wird, zeigen wollen. „Das Bild triumphiert über das Original, und das Subjekt des Geschehens weiß nicht mehr, auf welcher Ebene der Abbildungen es sich befin10 Vgl. ebd.

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det.“11 Dem Zuschauer entfernen sie sich, weil sie nichts weiter sind als Bilder von Bildern und von der wirklichen Welt entfernter sind, als es der Film an sich schon ist. Man könnte noch weiter gehen und behaupten, dass die Kamera des „Mystery Man“ das symbolisiert, was wir in unserer Kultur mit ihr verbinden. Videoaufnahmen, Fernsehen wirken echt und dokumentarisch. Wir glauben das, was wir sehen eher, wenn wir davon überzeugt sind, dass es echte, nicht gestellte Bilder sind. Die Kamera hilft dem Zuschauer in gewisser Hinsicht, die Dinge zu dechiffrieren. Hier lässt sich auch eine Parallele zu Un Chien andalou finden. Der Augenschnitt dient dazu, die Dinge mit anderen Augen zu sehen. Die Videoaufzeichnungen könnten dahingehend die gleiche Funktion haben. Doch die Sequenzen sind nicht das einzige Zeichensystem des Films, es sind vor allem die Lichter des Films, die ihre eigene Sprache sprechen. Die hypertrophen Steh- und Wandlampen und ihr dysfunktionaler Lichtwurf in den Lynch-Filmen […] bedeutet nicht „schummriges Licht“/„unklare Verhältnisse“ als Sinnbild, oder „altmodische Lichtquellen“/„vierziger oder fünfziger Jahre“ als Abbild, noch sind sie schließlich an eine distinkte Stimmung in unserer Kino-Konvention […] gebunden. […] Diese Lichter also, ein Beispiel für das LynchObjekt, bekommen vielmehr ihr eigenes Leben in der Dynamik der Komposition. Sie „sprechen“ nur über das Filmbild selber, und dies möglicherweise in einer bildhaften Variation unseres paradoxen, selbstbezüglichen Satzes. […] diese paradoxen Lichtquellen […] beleuchten nichts, was in einem Zeichensystem jenseits des Films „Sinn“ ergeben könnte. Sie sind damit Zeichen ihrer selbst, zugleich aber, in einem ästhetischen System der Selbstähnlichkeit, „Abbildungen“ der ästhetischen Methode des Lynch-Filmes selber.12 Lynch macht keine Filme, die Anspruch darauf erheben könnten, sich in die gewohnte Dramaturgie des Kinos eingliedern zu können. Denn uns führt „[…] die Chronologie der Ereignisse auf der Leinwand […] von dem fort, was eigentlich in dem Film und noch mehr, was in uns geschieht.“13 „Tatsächlich verknüpfen sich das Phantastische und das Alltägliche zu einer Meta-Struktur, die eine Aussage im Sinne eines paradoxen Satzes bedeckt.“14

11 Ebd., S. 164. 12 Ebd., S. 159. 13 Ebd., S. 160. 14 Ebd., S. 170.

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David B. featuring David L. Nach Bordwell löst ein Film einen Prozess in einem Zuschauer aus, in dem ständig Hypothesen aufgestellt werden und der Zuschauer während des ganzen Films mitdenkt und analysiert. Thomas Elsaesser und Warren Buckland beschäftigten sich mit der Theorie Bordwells auch in Bezug auf Lost Highway. So detailliert, wie sie den Film hinsichtlich dieser Theorie analysierten, werde ich nicht vorgehen, da dies eine eigene Arbeit erfordern würde, jedoch werde ich die wichtigsten Szenen und Aspekte herausstellen. Analyse: Zu Beginn des Films wird dem Zuschauer Fred Madison vorgestellt. Er sitzt in der Dunkelheit am Bettende und raucht eine Zigarette, dabei betrachtet er sich im Spiegel.15 Es klingelt und durch die Gegensprechanlage hört er den Satz „Dick Laurent is dead“16. Während er den Weg zum Fenster geht, das auf die Straße führt, hört man im Offscreen leise Polizeisirenen. Als er aus dem Fenster schaut, ist auf der Straße dennoch nichts zu erkennen. Diese Sequenz ist wohl die wichtigste des ganzen Films. „Because of his frequent appearance in the opening scenes, we assume that Fred is the film’s main protagonist. […]“ Nun stellen sich die Fragen: Wer hat geklingelt? Wer ist Dick Laurent? „These two hypotheses are generated in response to the gaps in the fabula that the syuzhet has constructed.“17 Der Zuschauer sieht und hört, was Fred sieht. Fragen werden nun aufgeworfen, die der Zuschauer versuchen muss zu klären, um seine Lücke zu füllen, um die „Geschichte“ zu konstruieren. „Although our hypotheses were non exclusive, it is highly unlikely that any spectactor would generate the hypothesis that Fred is also outside the house pressing his own bell.“18 Dass die Polizeisirenen als wichtige „cues“ angenommen werden, ist unwahrscheinlich. „[…] but as part of the film’s ‚reality effect‘ – that is, background noise that anyone may expect to hear, rather than a significant narrative event.“19 Zur nächsten Szene, es ist Abend geworden. Fred nimmt sein Saxophon, um arbeiten zu gehen. Seine Frau Reneé, die in dieser Szene vorgestellt wird, will lieber zu Hause bleiben und lesen. Der Zuschauer schließt, dass dies am gleichen Tag stattfindet. „In other words, using our narrative schema, we esta15 Allerdings vertrete ich die Hypothese, dass ganz zu Beginn des Films keineswegs Fred an seiner Zigarette zieht, sondern Pete. Erst die nächste Einstellung zeigt Fred, doch geschieht dies so schnell und undeutlich, dass es keine großen Auswirkungen auf den Zuschauer haben dürfte. 16 Buckland: „Cognitive Theories of Narration (Lost Highway)“, S. 174. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 175.

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blish a linear temporal relation between the two scenes.“20 Darüber hinaus vermutet der Zuschauer, dass Fred Musiker ist. Und wir erfahren, dass Fred und Reneé verheiratet sind. Die nächste Szene zeigt die Luna Lounge. Bisher hat Fred mit keinem Wort erwähnt, dass er eine Nachricht erhalten hat, somit ist die Klärung über Dick Laurent immer noch nicht vollzogen. Als Fred vom Club aus anruft, ist niemand zu Hause. Die Kamera zeigt das klingelnde Telefon. Doch es sind nur leere Räume und niemand hebt das Telefon ab. Wo ist Reneé? Zu Hause angekommen, liegt Reneé dessen ungeachtet im Bett. „In combination with the way Fred and Reneé interact in scene 2, the discrepancy enables the spectactor to group these actions together and call them a complicating action, the next stage of the canonical story format.“21 Am nächsten Tag erhalten Fred und Reneé ein Videotape, das vor der Haustür lag. Als sie es sich anschauen, ist darauf ihr Haus zu sehen. This scene again presents another flauntes, focused gap in the fabula (which can be formulated into the following question: Who made the tape?), and its only link to the previous scenes is a continuity of character and settings. There is no narrative continuity between this scene and the film’s previous scenes. But the narration does seem to establish an internal norm, wherby it selects very specific portions of the fabula to show – namely, actions and events performed early in the morning or late.22 Die nächste Szene zeigt das Ehepaar im Bett liegend. Der Zuschauer wird nun Zeuge einiger Erinnerungen Freds aus der Luna Lounge. Während er Saxophon spielt, sieht er, wie seine Frau mit einem Mann den Club verlässt. Nach diesen Erinnerungen lieben Fred und Reneé sich. Danach erzählt er Reneé von seinem Traum. Fred läuft im Haus herum. Jemand geht auf das Bett zu und attackiert Reneé, die in die Kamera blickt und schreit. Danach wacht Fred auf und schaut seine Frau an. Doch ein anderes Gesicht blickt auf ihn. Es ist der „Mystery Man“, der hier zum ersten Mal in Erscheinung tritt. „To make sense of these images, we can generate the probable hypothesis that they refer to a fabula event that took place before the film begins, and that Fred is generating these images to fill in the gap in scene 3.“23 Am nächsten Tag erhalten sie erneut ein Videotape. Diesmal zeigt es ihr Haus und endet in ihrem Schlafzimmer, sie liegen schlafend im Bett. „The second videotape adds to the ‚compli20 Ebd. 21 Ebd., S. 176. 22 Ebd., S. 176f. 23 Ebd., S. 177.

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cating action‘ chunk of the by now strainted canonical.“24 Das Ehepaar ruft die Polizei. Die zwei Detectives schauen sich das Video an und überprüfen das Haus. Auf die Frage, ob Fred auch eine Kamera besitze, antwortet er mit der Frauge, dass er sich lieber an die Dinge auf seine Art erinnere und nicht unbedingt so, wie sie passiert seien. Many critics who reviewed Lost Highway saw this line as a nodal point on which to focus the previous scenes, as a key to the film’s meaning – namely, many of the narration’s twists can be motivated psychologically, as Fred distorted view events.25 Die nächste Szene ist die Party in Andys Haus. Andy ist der Mann, mit dem Reneé den Club verließ. Auf dieser Party wird Fred von dem „Mystery Man“ angesprochen. Dieser sagt, dass sie sich schon begegnet seien. Er meint mutmaßlich die Nacht, in der Fred sein Gesicht sah. Fred jedoch kann sich nicht erinnern. In terms of their meeting before, we tend to side with the mystery man; first because of the comment Fred made in scene 8 (he likes to remember things his own way, not necessarily the way they happened); and second because the mystery man appeared in Fred’s recountes dream in scene 6 (his face is sumperimposed over Reneé’s face). Der Mann fordert Fred auf in seinem Haus anzurufen. Fred tut dies und der Mann hebt in Freds Haus ab. Er sagt, dass er da sei, weil Fred ihn eingeladen hat. „Is Fred simply delusional, and are we sharing his delusion? This assumes that the syuzhet continues to be highly communicative by conveying Fred’s deep experiences.26 Als Fred von Andy wissen will, wer der Mann ist, erfährt er, dass er wahrscheinlich ein Freund von Dick Laurent ist. „The mention of Dick Laurent’s name finally brings into sharper from scene, the syuzhet is now finally beginning to refer back to gaps in previous scenes.“27 Als sie zu Hause sind, läuft Fred durchs Haus, was an seinen Traum erinnern lässt, den er hatte. Schließlich ist auf einmal die Kamera außerhalb positioniert. „At the end of the scene, the syuzhet is also uncommunicative, because it creates a gap in the fabula as the camera is postioned outside a closed

24 Ebd., S. 178. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 179. 27 Ebd.

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door.“28 Doch nun liegt der Gedanke nah, dass Reneé eine Affäre hat und Fred sie attackiert. Fred sieht sich in der nächsten Szene wieder ein Videotape an, das verbildlicht wie er Reneé umbringt. Als er nach ihr ruft, trifft ihn ein Schlag ins Gesicht und er sitzt auf einmal in einem Polizeiverhör. More generally, the film is marked by a lack of synchronization between its fabula.“29 Schließlich kommt Fred als Verurteilter Mörder in eine Zelle. Er leidet unter Kopfschmerzen. In der Zelle beginnt dann seine Transformation. Der Zuschauer sieht einen Highway bei Nacht und drei Leute: Pete, Sheila und seine Freundin. Pete geht auf etwas zu, seine Eltern versuchen ihn zurückzuhalten. Fred windet sich in der Zelle. Am nächsten Tag sitzt Pete und nicht Fred in der Zelle. Von diesem Zeitpunkt an beginnt gleichsam ein zweiter Film. Pete wird als neuer Hauptdarsteller erfasst. Auch eine Frau taucht auf, die Renée zum Verwechseln ähnlich sieht. „The spectactor needs to ask whether Fred and Pete are the same character played by two different actors, or whether they are different characters. Are Reneé and Alice two different characters played by the same actress, or the same characters in disguise?“30 Die Handlung verstrickt sich immer mehr. Andy und Dick Laurent sind mit Alice eng verbunden. Als sich Pete in Andy zurückverwandelt und in das Hotel fährt, bezieht er das Zimmer 25. In Zimmer 26 treiben es Dick Laurent und Reneé. Sie hat eine Affäre, allerdings nicht mit Andy. Als sie gegangen ist, entführt Fred sie in die Wüste, um ihn mit Hilfe des „Mystery Man“ umzubringen. Zuvor zeigt der Mann Mr. Eddy noch eine Videoaufzeichnung, in der Reneé Sex mit Frauen und Männern hat sowie einen Mord an einer Frau. „The mystery man and Alice now seem to be figments of Fred. However, if we accept this, then it generates more questions and additional gaps in the syuzhet, such as: Who made the three video tapes?“31 Als die Detectives in Andys Haus sind und ein Foto betrachten, auf dem Reneé, Alice, Dick Laurent zu sehen sind und als Pete es betrachtet, nur noch Reneé zu sehen ist, wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie nur eine Einbildung Freds war, verstärkt. „In terms of the film’s fabula, perhaps Fred followed Renee to Andy’s place first, killed Andy, and then followed her to the Lost Highway motel, where he subsequently kills Dick Laurent. At some point in

28 Ebd. 29 Ebd., S. 180. 30 Ebd., S. 185. 31 Ebd., S. 184.

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the fabula, he also kills Renee.“32 Nun schließt sich der Kreis. Fred kehrt zu seinem Haus zurück und drückt die Türklingel. Er ist zweimal da. All these cues may lead the spectactor to generate non-exclusive, diffuse hypotheses that are not brought into focus, or are ‚resolved‘ in an improbabe manner. Lynch’s films are open to analysis, as long as we do not try to reduce these ambiguous moments to a rational logic, but recognize that a non-rational but meaningful energy governs them.33 Nach Bordwell ist Lost Highway ein Film, der nach einem Kinogänger verlangt, der schon viele Filme gesehen hat. Denn die ungewöhnlichen Situationen und Augenblicke müssen in Lost Highway akzeptiert werden. Rational kann dieser Film nicht geklärt werden und dieser Fakt muss angenommen werden, um den Film zu „verstehen“. Ähnlich wie man einem Würfel Seiten hinzufügen muss, muss dies auch bei Lost Highway geschehen, denn „[…] die Dinge verhalten sich eben nicht spiegelverkehrt zueinander, sondern dreidimensional, so dass sie jeweils neue Aspekte aufweisen, abhängig davon sozusagen, bei welcher Spiraldrehung man zu sein glaubt.“34

Schlusswort Der auffälligste Punkt, den man nun abschließend anführen kann, um zu zeigen, was Lynch mit den Surrealisten gemeinsam hat, äußerte David Lynch selber. Und diese Aussage fasst treffend meinen Ansatz zusammen. Was das Verständnis der Handlung betrifft, ist LOST HIGHWAY einer Ihrer schwierigsten Filme: was passiert wirklich, was ist Phantasie? Wollten Sie ihr Publikum verwirren? Nein. Nein. Es geht nicht anders, nicht weil ich Verwirrung stiften will, sondern um das Geheimnis spürbar zu machen. Geheimnisse sind gut, Verwirrung ist schlecht, und zwischen beiden besteht ein großer Unterschied. Ich rede nicht besonders gern über Dinge, weil man vieles zerredet. Aber es gibt genügend Hinweise für eine korrekte Interpretation, und ich weise immer wieder darauf hin, daß es vielerlei Hinsicht eine geradlinige Geschichte ist. Nur ganz wenige Aspekte

32 Ebd., S. 185. 33 Ebd., S. 186. 34 Seeßlen: David Lynch, S. 174.

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weichen eine Spur davon ab. Im Leben ist manches nicht ganz zu verstehen, aber wenn es im Film so ist, werden die Leute unruhig. Die meisten Filme sind bewußt so angelegt, daß sie von aller Welt verstanden werden. Da bleibt nicht viel Raum zum Träumen und Staunen.35 David Lynchs Bilder sprechen für sich. Die Geschichte im Film ist erzählt als ein fließender Übergang zwischen Realität und Fiktion. Was real ist und was nicht, bleibt ungeklärt. Wer der „Mystery Man“ ist, der das karnevaleske, groteske Element verkörpert, ist unklar. Ob Alice, die ungreifbare Femme fatale, ein Hirngespinst, ein Traum oder Teil einer Phantasie ist, wird nicht aufgedeckt. Der Zuschauer bleibt alleine mit seinen Gedanken zurück, sich selbst überlassen, mit der Aufgabe den Film auf eigene Faust zu enträtseln. Das Gefühl des Unbehagens und der Unruhe, etwas nicht zu begreifen oder sofort zu verstehen, verleiht diesem Film seinen surrealistischen Charakter. Die Normalität driftet hinein ins Abstruse, Unterbewusste und wie nach einem schlechten Traum, an den wir uns nur dunkel erinnern können, aber den ganzen Tag von ihm begleitet werden, verfolgen uns die Bilder des Films – und die Geschichte verblasst, da wir sie nicht fassen können. David Lynch sagt, dass eine gradlinige Geschichte vorhanden ist, er aber Raum zur eigenen Interpretation lassen möchte und somit auch nur Hinweise auf die Erzählstruktur gibt. Das Medium Film ist also in der Lage, das wiederzugeben, was einen Traum ausmacht, laufende Bilder, seien sie grotesk oder absurd, die Geschichte um sie herum bleibt zweitrangig. Die Dechiffrierung ist der Schlüssel zum Verstehen und somit die eigene Phantasie und die eigenen Codes, die wir durch unsere Prägung mit uns tragen. In diesem Sinn gibt es kein richtig und kein falsch, nur einen Anstoß, das Unterbewusste eines jeden zum Vorschein zu bringen.

Literaturverzeichnis Bordwell, David: „Kognition und Verstehen. Sehen und Vergessen in MILDRED PIERCE“, in: montage/av 1,1 (1992). Buckland, Warren: „Cognitive Theories of Narration (Lost Highway)“, in: ders./Elsaesser, Thomas: Studying Contemporary American Film: A Guide to Movie Analysis, London/New York 2002, S. 168-194. Lexikon des internationalen Films, Hamburg 1998. Metz, Christian: „Probleme der Denotation im Spielfilm“, in: Albersmeier, Franz Josef (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 1998.

35 Rodley: Lynch über Lynch, S. 304.

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Rodley, Chris (Hrsg.): Lynch über Lynch, Frankfurt a.M. 1998. Seeßlen, Georg: David Lynch und seine Filme, Marburg 2000. http://www.hammerposters.com/pics/pb43.jpg. 30.03.2005.

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Autoren Lena Butz, 2000-2002 Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Köln. Von 2002-2005 Bachelorstudium „Literary, Cultural and Media Studies“ an der Universität Siegen und der Universitat Autònoma in Barcelona, Spanien. Ihre Bachelorarbeit schrieb sie über mediale Inszenierungen von Traum, Weiblichkeit und Surrealismus am Beispiel von Madonnas Musikvideo bedtime story und dem Film The Cell von Tarsem Singh. Seit 2005 weiterführendes Masterstudium „Literature, Culture and Media“ an der Universität Siegen. Z.Z. Masterarbeit zum Thema „Quentin Tarantinos Sheroes – Neue Weiblichkeit?“, voraussichtlicher Abschluss im März 2008. Justyna O. Cempel, geb. 1979, Studium der Fächer Englisch und Französisch (Lehramt) in Siegen und Tours. Studentische Hilfskraft an den Lehrstühlen für französische Literatur und Linguistik (Universität Siegen). Seit August 2005 wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für französische Literatur sowie Tätigkeit im Teilprojekt „Intermedialität im europäischen Surrealismus“ des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche (Universität Siegen). Promotionsprojekt zu Catherine Breillat. Andrea Dilcher, geb. 1974, Studium der Allgemeinen Literaturwissenschaft, Kunst, Informatik (IGS) an der Universität Siegen, 2000-2002 studentische Hilfskraft im Sonderforschungsbereich für Bildschirmmedien sfb 240 im Projekt C9 „Interaktive Mediennutzung“, 2002 bis 2004 studentische Hilfskraft am Forschungskolleg 615 für Medienumbrüche im Projekt A4 „Mediendynamik“, tätig als Kulturpädagogin. Marijana ErstiÚ, Studium der Germanistik, Italianistik und Kunstgeschichte in Zadar und Siegen, 2002-2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen (Teilprojekt B2 „Macht- und Körperinszenierungen in der italienischen Medienkultur“); derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt „Macht- und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde.“ Dissertation über die Familienbilder bei Luchino Visconti, Veröffentlichungen zu den Avantgarden in der Romania, zur Intermedialität sowie zu den Konzepten der Bewegung, Wahrnehmung und Gedächtnis um 1900 und 2000. Herausgeberin der Anthologie Zagreb erlesen (Klagefurt 2001). Mithg. von Avantgarde – Medien – Performativität. Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Bielefeld 2005) und von Gesichtsdetektionen in den Medien des 20. Jahrhunderts (Siegen 2006).

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Uta Felten, Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig mit Schwerpunkt im Bereich der französischen und italienischen Literatur und der Kultur- und Medienwissenschaft. Studium an den Universitäten Düsseldorf, Sevilla und Bordeaux, 2001 Habilitation an der Universität Siegen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Das moderne Kino in Frankreich und Italien, Proust und die Medien, Forschung zur italienischen Librettoliteratur des Settecento, Genderdiskurse und subversive Strategien, Systeme der libertinage, écriture transgressive. Nicola Glaubitz, Literaturwissenschaftlerin (Anglistik), wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungskolleg Medienumbrüche, Teilprojekt „Medienanthropologie und Medienavantgarde“, forscht zur Zeit zu digitalisierten Animationsfilmen in Japan und USA. Habilitationsprojekt zu Patricia Highsmith. Weitere Schwerpunkte: Roman und Philosophie in der schottischen Aufklärung (Diss.), Literatur und Visualität, Film. Neuere Publikationen: Akira Kurosawa und seine Zeit. (hrsg. mit Andreas Käuser und Hyunseon Lee), Bielefeld 2005. „Matadors, duellists and suicidal authors: A. L. Kennedy and the discontents of writing. “, in: Anglistik. International Journal of English Studies, Bd. 18, Nr. 2, 2007, S. 163-174; „Reanimationsversuche des Spielfilms. Kopplungen von Zeichentrick und Realfilm und das Kino der 1990er Jahre.“ In: Leschke, Rainer/Venus, Jochen (Hrsg.): Spielformen im Spielfilm, Bielefeld 2007, S. 41-66. Kirsten von Hagen, Studium der Romanistik, Komparatistik, Anglistik und Germanistik in Bonn, Oxford und Reims. Studien- und Forschungsaufenthalte in Paris, Salamanca und Granada. Stipendiatin des DFG-Graduiertenkollegs „Intermedialität“ in Siegen. Ihre Dissertation ist 2002 unter dem Titel „Intermediale Liebschaften. Mehrfachadaptationen von Choderlos de Laclos’ Les Liaisons dangereuses“ im Stauffenburg Verlag erschienen. Vertretung der Juniorprofessur „Geschichte und Theorie der Bildmedien“ an der Bauhausuniversität in Weimar. Habilitation im Rahmen eines Lise-Meitner-Habilitationsstipendiums an der Universität Bonn mit einer Schrift zu „Inszenierte Alterität: Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film“ (erscheint im Fink Verlag). Einjähriger Forschungsaufenthalt (Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung) an der Sorbonne (Paris IV) in Paris. Derzeit DFGgefördertes Forschungsprojekt an der Universität Bonn. Publikationen: Von der Kunst des Genießens bei Marcel Proust, Proustiana, hrsg. von Kirsten von Hagen, Claudia Hoffmann, Volker Roloff, Frankfurt a.M. 2006. Intermedia. Festschrift zu Ehren von Franz-Josef Albersmeier, hrsg. zusammen mit Claudia Hoffmann, Bonn 2007.

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Autoren

Heinz-B. Heller, geb. 1944, Studium in Marburg, Paris, Freiburg; 1973 Promotion, 1983 Habilitation mit einer Studie zum Verhältnis Literarische Intelligenz und Film in der Stummfilmzeit, 1973-1984 Wiss. Assistent an der Universität-GH Wuppertal, seit 1987 Professor für Medienästhetik und Mediengeschichte an der Philipps-Universität Marburg; Gastprofessuren in Austin/TX, Kairo und Moskau. Zahlreiche Veröffentlichungen v. a. zur deutschen und internationalen Filmgeschichte, zur Theorie des Films, zum Dokumentarismus in Film und Fernsehen, zu Problemen und Aspekten der Drehbuchpraxis, zum Komplex ‚Intermedialität‘. – Jüngste Buchveröffentlichungen: Filmgenres: Komödie, hrsg. mit Steinle, Matthias, Marburg 2005). – All Quiet on the Genre Front? Zur Praxis und Theorie des Kriegsfilms, hrsg. mit Röwekamp, Burkhard/Steinle, Matthias, Ditzingen 2007) Walburga Hülk, Professorin für romanische Literaturwissenschaft in Siegen; Lehrtätigkeiten in Freiburg, Gießen, Berkeley; Forschungsschwerpunkte: Literatur des Mittelalters und der Neuzeit; Fragen der literarischen und medialen Anthropologie und der Medienästhetik; wissenschaftsgeschichtliche Themen im Kontext der Metaphoriken der „two cultures“; Publikationen u.a. zu SchriftSpuren von Subjektivität im Mittelalter, zu „Sinnesgeschichten“ in der Literatur, zu Rousseau, Kleist, Flaubert, Proust; derzeit DFG-Forschungsprojekt „Macht- und Körperinszenierungen in der italienischen Medienkultur“. Kerstin Küchler, Studium der Romanistik und Germanistik an den Universitäten Leipzig, Aix-en-provence und Zürich; zunächst studentische und wissenschaftliche Hilfskraft, seit 2006 wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für französische, frankophone und italienische Literatur- und Kulturwissenschaft in Leipzig; Forschungsinteressen und aktuelle Arbeitsprojekte zur Ästhetik der historischen Avantgarden in Frankreich und zum modernen französischen Kino. Petra Lange-Berndt, studierte Kunstgeschichte, Medienkultur und Geschichte in Hamburg und Wien; 2006-07 wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB/FK Medienumbrüche der Universität Siegen (Teilprojekt „Virtualisierung von Skulptur“); lehrt am Department of History of Art, University College, London. Michael Lommel, (siehe www.michael-lommel.de). Studium der Allgemeinen Literaturwissenschaft, Germanistik und Philiosophie in Siegen. Promotion (2000) und Habilitation (2006). Gastprofessur für Theorie des Films an der Universität Wien (2007). Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Siegener Forschungskolleg Medienumbrüche. Publikationen (Auswahl): Der Pariser Mai im fran-

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zösischen Kino: 68er-Reflexionen und Heterotopien, Tübingen 2001; Samuel Beckett – Synästhesie als Medienspiel, München 2006. Mitherausgeberschaft: Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003; Media Synaesthetics: Konturen einer physiologischen Medienästhetik, Köln 2004; Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus, Bielefeld 2004; Surrealismus und Film. Von Fellini bis Lynch, Bielefeld 2008. Isabel Maurer Queipo, Studium der französichen und spanischen Literaturwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften in Siegen. Zunächst wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Theater und Theatralität im Film. Französische Theater/Filme von 1930-1960“, anschließend im Teilprojekt „Intermedialität im europäischen Surrealismus“ des kulturwissenschaftlichen Forschungskolleges Medienumbrüche der Universität Siegen. Seit 2007 Lektorin für spanische Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Dissertation zu Pedro Almodóvar; Habilitationsprojekt zum (Alb-) Traum und Medien. Weitere Forschungsinteressen: Intermedialität in der Romania; europäische Avantgarden, Gender Studies. Publikationen u.a. zu Renoir, Fantômas, Buñuel und Dalí. Vera Schröder, Abitur im Juni 2000; ab Oktober 2000 bis April 2001 Volontariat bei ABC & TaunusFilm Kopierwerk GmbH. Von Mai bis Dezember 2001 Praktikum bei der Firma Pille Filmgeräteverleih, anschließend (bis Oktober 2002) Materialassistenz bei verschiedenen Produktionen und Kurzfilmen, unter anderem „Ein Fall für Zwei“, „Calgon-Werbespot“, „Schlüsselkinder“, „Träume“, „Willkommen Zuhause“, „Klimpels Welt“ und anderen. Beginn des Studiengangs ‚Literary, Cultural and Media Studies‘ im Oktober 2002 an der Universität Siegen. Im Sommer 2005 Abschluss Bachelor of Arts, mit dem Thema der Bachelorarbeit „Isochronie – zeitdeckendes Erzählen im Spielfilm“. Seit 2005 Studierende des Masterstudiengangs ‚Literature, Culture and Media‘. Von Juli bis Dezember 2006 ein Auslandssemester an der University of Canterbury in Neuseeland am ‚Department of Theatre and Film Studies‘. Voraussichtlicher Abschluss des Masters im März/April 2008. Jens Schröter, geb. 1970 in Darmstadt, Studium der Film- und Fernsehwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in Bochum. Dissertation zur Geschichte und Funktion von Computerutopien. Arbeitet derzeit im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 „Medienumbrüche“ an der Universität Siegen zu ‚Virtueller Skulptur‘. Publikationen zu Mediengeschichte, Medientheorie und Philosophie, u.a.: Hrsg. zusammen mit Immanuel Chi und Susanne Düchting von Ephemer_Temporär_Provisorisch. Essen 2002; „Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaft-

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Autoren

lichen Begriffs“, in: montage/av, 7.2/1998, S. 129-154; „Das Malen des Malens. Malerische Darstellungen des Malprozesses von Vermeer bis Pollock“, in: Kritische Berichte, Nr. 1/99, S. 17-28; „Der König ist tot, es lebe der König. Zum Phantasma eines technologischen Subjekts der Geschichte“, in: Angermüller, Johannes/Bunzmann, Katharina und Rauch, Christina (Hrsg.), Reale Fiktionen, fiktive Realitäten: Medien, Diskurse, Texte. Hamburg 2000, S. 13-24; „Die Form der Farbe. Über ein Parergon in Kants Kritik der Urteilskraft“, in: Franke, Ursula (Hrsg.), Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks. Ästhetische Erfahrung heute – Studien zur Aktualität von Kants „Kritik der Urteilskraft“. (Sonderheft des Jahrgangs 2000 der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft). Hamburg: 2000, S. 135-154; „Intelligence Data. Zum Weltbezug der sogenannten ‚Digitalen Bilder‘“, in: Berliner Debatte Initial, Heft 5/2001, S. 55-65; „Biomorph. Anmerkungen zu einer neoliberalen Gentechnik-Utopie“, in: Kunstforum, Band 158, Januar/März 2002, S. 84-95. Visit WWW.THEORIE-DER-MEDIEN.DE Beatrice Schuchardt, geb. 1976; Studium der Romanischen Literaturwissenschaft und Anglistik in Düsseldorf; seit April 2007 in der Siegener Romanistik als Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Christian von Tschilschke tätig. Von 2005 bis 2007 war sie bei Prof. Dr. Vittoria Borsò in Düsseldorf beschäftigt. Ihre als Stipendiatin des Graduiertenkollegs „Europäische Geschichtsdarstellungen“ verfasste Dissertation Schreiben auf der Grenze. Postkoloniale Geschichtsbilder bei Assia Djebar ist 2006 erschienen. Forschungsschwerpunkte sind: Interamerikanische und intermediale Grenzüberschreitungen in Bildmedien und Texten des 19. und 20. Jahrhunderts, postkoloniale Literaturen, weibliches Schreiben in maghrebinischen und frankokanadischen Literaturen. Ausgewählte Publikationen: „(Inter-)Mediale Transformationen von Geschichte in Marguerite Duras’ Hiroshima mon amour“, in: Klein, Christian et al. (Hrsg.): Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflektion – Transformation. Köln et al. 2005, S. 311-336; – das andere denken, schreiben, sehen, hrsg. mit Heike Broh, Vera Elisabeth Gerling, Björn Goldhammer, Bielefeld 2007. Gerhard Wild, Ordinarius für Romanische Literatur- und Medienwissenschaft an der Goethe-Universität/Frankfurt am Main; Studium der Romanistik, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Musikologie, Kunstgeschichte, Philosophie und Arabistik in München. Dissertation über den altfranzösischen Lancelotroman Erzählen als Weltverneinung (1993); Habilitation Paraphrasen der Alten Welt. Interkulturelle Ästhetik im Werk Alejo Carpentiers (2004), Aufsätze zur klassischen spanischen Literatur bis Cervantes, zu ästhetischen Fragen von Manierismus, Fin de Siècle und Postmoderne, zur neueren lateinamerikanischen Literatur (Puig, Neruda, Sábato, Soriano), zu Grenzfragen der Medien- und Literaturästhetik (Franz Liszt, Igor Stravinski, Luís Buñuel, Sal-

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vador Dalí, Werner Herzog, Manoel de Oliveira, Perejaume); Mitherausgeber der Revista d’Estudis Catalans (ZfK); Mitbegründer des VW-Graduiertenkollegs Göttingen Kanon und Wertung; Romanistischer Herausgeber der Neuauflage des Kindler Literaturlexikons (2005 ff.).

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