Sound Studies: Traditionen - Methoden - Desiderate: Eine Einführung [1. Aufl.] 9783839408940

Was höre ich - jetzt? Wie höre ich in diesem Raum oder auf diesem Platz? Die Buchreihe Sound Studies möchte ein Sprechen

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German Pages 316 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Über Klänge sprechen
Aus der Geschichte
Klänge aus Lautsprechern
Ist Klang das Medium von Musik?
Methodische Zugänge
Stop/Start Making Sense!
Im Reich von Δt
Bewegung Berührung Übertragung
Kann man die Ware hören?
Funktionale Klänge: Mehr als ein Ping
Daten hören
Desiderate der Praxis
die zukunft des klangs in der gesellschaft?
Die Zukunft ihr Klang im Radio
Klangumwelten
Am Umschlagplatz Klang
Plädoyer für multisensorische Markenmodelle
Für eine Kunst als Forschung
Autoren
Abbildungsnachweis
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Sound Studies: Traditionen - Methoden - Desiderate: Eine Einführung [1. Aufl.]
 9783839408940

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Holger Schulze (Hg.) Sound Studies

Sound Studies

Herausgegeben von Holger Schulze

Volume 1

Beirat Sam Auinger (Linz/Berlin)

Diedrich Diederichsen (Wien/Stuttgart/Berlin)

Florian Dombois (Bern)

Sabine Fabo (Aachen)

Peter Kiefer (Mainz)

Doris Kolesch (Berlin)

Elena Ungeheuer (Berlin)

Christoph Wulf (Berlin)

Sound Studies

Die Buchreihe Sound Studies versammelt Forschungsergebnisse, Studien und Essays zu einem neuen und doch vertrauten Forschungsfeld: Wie leben gegenwärtig, historisch und künftig, Menschen und Tiere und Dinge mit den Lauten ihrer jeweiligen Gegenwart zusammen? Wie gestalten sie Sounds, handeln durch sie hindurch und erkunden ihre Welt, in fremden und vermeintlich vertrauten Kulturen? Sound Studies liegen als Forschungsfeld quer zu etablierten Disziplinen und Ausdrucksformen. Die Publikationen dieser Buchreihe stellen künstlerische und gestaltungstheoretische Ansätze gleichermaßen wie kulturwissenschaftliche, kommunikationstheoretische und ethnographische, historisch-anthropologische Ansätze vor; Klangforschungen der Musik-, Kunst- und Literaturwissenschaft haben hier ebenso ihren Ort wie künstlerische Arbeiten, die Verständnisse von Klang anders zu zeigen beabsichtigen. Die Buchreihe Sound Studies öffnet ein Sprechen aus, mit und über Klang – über Fachund Methodengrenzen hinweg, über die Grenzen wissenschaftlichen Sprechens hinaus. Die Reihe wird herausgegeben von Holger Schulze.

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation an der Deutschen Nationalbibliografie; detallierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagfoto: Christina Giakoumelou, An der Ostbahn, Berlin 2008 Redaktion: Katrin Werner, Berlin Lektorat: Adele Gerdes, Bielefeld Umschlaggestaltung und Satz: Christina Giakoumelou, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-894-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@ transcript-verlag.de

Holger Schulze (Hg.) Sound Studies Traditionen – Methoden – Desiderate Eine Einführung

Inhalt

9 Über Klänge sprechen Holger Schulze

Aus der Geschichte 19 Klänge aus Lautsprechern Martin Supper 29 Eine originäre Kunst für das Radio Andreas Hagelüken 57 Ist Klang das Medium von Musik? Elena Ungeheuer 77 Meshing Sound Arts Golo Föllmer

Methodische Zugänge 91 Stop/Start Making Sense! Jens Gerrit Papenburg 109 Drei Typen von Klangzeichen Diedrich Diederichsen 125 Im Reich von ∆t Wolfgang Ernst 143 Bewegung Berührung Übertragung Holger Schulze

167 Kann man die Ware hören? Roger Behrens 185 Funktionale Klänge: Mehr als ein Ping Georg Spehr 209 Daten hören Thomas Hermann

Desiderate der Praxis 231 die zukunft des klangs in der gesellschaft? Sam Auinger 237 Die Zukunft ihr Klang im Radio Johannes Wilms 249 Klangumwelten Alex Arteaga und Thomas Kusitzky 269 Am Umschlagplatz Klang Daniel Ott 281 Plädoyer für multisensorische Markenmodelle Carl-Frank Westermann 291 Für eine Kunst als Forschung Florian Dombois

303 Autoren 311 Abbildungsnachweis

Über Klänge sprechen Einführung Holger Schulze

»Sound: Mechanical disturbance from a state of equilibrium that propagates through an elastic material medium.« Encyclopaedia Britannica, 2003 A.D.

Am Rande einer Stadt oder mittendrin. Die Elektrizität, die gerne grell leuchtet, dröhnt und surrt, summt und brummt. Elektromechanik rattert und prallt, die Glasscheiben erzittern − ganze Zitadellen aus Stahlbeton, verschalt von gläsernen Panzern. Aus Schießscharten knallen Membranen ihren Schall über die Straße, Verbrennungsmotoren brummen in sanft surrend-wiederholten Detonationen, Werbebotschaften suchen auf akustischem Wege ihre Zielgruppe, sie zu treffen. Menschen tauschen sich darüber aus, was sie wahrnehmen, empfinden, sehen, schmecken, hören: Wir wollen uns mitteilen, beeindruckt, erschrocken, erfreut über ein Ereignis in Klang. Es ist eine übliche Gewohnheit unserer Kultur geworden, seit Jahrhunderten, darüber zu sprechen, was wir wie empfinden und wie wir etwas beurteilen, das uns zustieß. Doch wie beschreiben wir eigentlich eine solche Erfahrung? Wie kann ich Ihnen deutlich machen, nachvollziehbar, wie ich jetzt, an meinem Flüssigkristallmonitor schreibend, meine Hörsituation wahrnehme − und wie könnten Sie mir womöglich Ihre Empfindung klar machen? Wir wissen beide nicht, wie der oder die andere hört, wahrnimmt, bewertet oder empfindet in einer gegebenen Situation: selbst wenn sie die vermeintlich gleiche wäre. Die eine, ähnliche Situation bringt so viele Hörerfahrungen hervor wie Hörerinnen und Hörer anwesend sein können. Sie hören die Lüftung Ihres Rechners, Warntöne Ihres Mobiltelefons; Widerhall einer Stimme an dem Ort, in jedem Raum, in dem Sie sich gerade aufhalten. Die Autorinnen und Autoren dieses Buches sprechen über Klänge: in rückblickenden

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Erzählungen aus der überlieferten und neu zu erzählenden Geschichte; in Berichten von ihrem Berufsalltag in den Wissenschaften, den Künsten, in der Gestaltung; und in Versuchen, über den Hallraum dieses Tages oder dieses Jahres hinaus zu horchen in eine nähere oder fernere Zukunft hinein. Wie werden Menschen wohl künftig mit Klängen oder durch Klänge arbeiten und gestalten? Erst knapp hundert Jahre ist es her, ein geschichtlich kaum nennenswerter Moment, seit Menschen die bestimmten Klänge ihrer Umgebung nachträglich oder im Vorhinein bearbeiten und gestalten können. Seit gut einem Jahrzehnt wiederum überschwemmen uns zahllose Lautsprecher und Klangerzeuger an nahezu jedem Ort der medial vernetzten Welt. Massen von Sendungen, Abmischungen und Botschaften, Schallschüsse auf Zielgruppen zu jeder Zeit. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes sind nicht die Ersten, die über Klänge sprechen. Solange Menschen Klänge wahrgenommen haben und ihnen ihr eigenes Hören nicht vollkommen selbstverständlich schien, solange dauert es an, das Wundern und Befragen von sich und anderen, das Nachdenken und Nachforschen, all die Versuche, dieses besser zu benennen und zu verstehen, was geschieht: wenn um uns herum Vibrationen sich fortbewegen − durch hinreichend elastische Materialien. Wenn auf unseren Körper sie treffen, unsere Ohren schließlich, unser Knochenmark durchrütteln, den Magen-DarmTrakt, unseren Schädel.

1. Sound Studies Klang oder Sound, Geräusch oder Laut sind keine Nebensache mehr, kein Akzidenz, kein Dekor. Eine neue Aufgabe der Gestaltung wie auch der Lebensführung stellt sich sowohl in professioneller wie auch in anthropologischer Hinsicht: Neue Berufe entstehen und sind entstanden – neue tägliche Handlungsgewohnheiten bildeten und bilden sich weiter. Vor wenigen Jahren, manchmal nur Monaten wären sie noch unvorstellbar gewesen. Mehr und mehr wird es Hauptsache, sich zu fragen: Wie verbinden sich Architektur mit Kommunikationstechnik, Stadtplanung mit Benutzerführung, Notation mit Design, Markenkommunikation mit Unterhaltungsmedien, anthropologische mit medienwissenschaftlichen Erkenntnissen – in den Klängen um uns und ihren Wirkungen? Klänge, die ich womöglich nur wenig spüre und von denen ich doch nachhaltig beeindruckt bin. Diese Klänge zu erkunden, sie zu studieren, ist eine veränderte, neue und größere Aufgabe geworden. An jedem Tag. In Ihrem und meinem Leben gleichermaßen. Sound Studies wenden sich diesem Untersuchen der Klänge in all seinen vielfältigen Erscheinungsformen zu. Sie liegen als Forschungsfeld damit quer zu etablierten Disziplinen und Ausdrucksformen. Ähnlich den transdisziplinären und methodisch bis heute

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Einführung

nachhaltig innovativen Projekten der Cultural Studies oder den offenen Projekten der Media Studies, bis hin zu den Visual Studies, sehen sich auch die Sound Studies als ein offenes Feld von Desideraten, die sich anders verstehen und anders angelegt sind als traditionelle Disziplinen im engeren Sinne: in anderen Gegenständen, anderen (auch institutionellen) Protagonistinnen und Protagonisten und anderen, im gleichen Maße künstlerischen wie wissenschaftlichen Methoden der Untersuchung und Erkundung. Die Buchreihe Sound Studies öffnet für diese Desiderate ein Sprechen aus, mit und über Klang – über Fach- und Methodengrenzen hinweg, über die Grenzen wissenschaftlichen Sprechens hinaus. Sound Studies können für ihre neuen Fragestellungen kaum das überkommene Wissensfabrikationsdispositiv einer »Wissenschaft«, einer »Truth Inc.« einfach unbedacht weiternutzen. Es gilt dagegen, ein mutmaßlich längst gut geschnürtes und verschlossenes Päckchen wieder neu zu öffnen: die Fäden lösen sich – andere Bindungen und Zusammengehörigkeiten zeigen sich. Klänge fallen anders zusammen. Die Erkundung der Klänge in ihrer ganzen Breite ist Gegenstand der mit diesem Band beginnenden Reihe. Sie versammelt künstlerische und gestaltungstheoretische Ansätze ebenso wie kulturwissenschaftliche, kommunikationstheoretische und ethnographische, historisch-anthropologische Ansätze; Klangforschungen der Musik-, Kunst- und Literaturwissenschaft haben hier ebenso ihren Ort wie künstlerische Arbeiten, die andere Verständnisse von Klang anders zu zeigen beabsichtigen. Diese Zusammenführung auf neuem Terrain macht erkennbar: eine Aufmerksamkeit für das Körperliche, das Materielle des Klangs ist unseren westlichen Kulturen bis heute noch fremd in einem tiefgreifenden Sinne und so auch den wissenschaftlichen und technischen, den kommunikationsgestalterischen Disziplinen. Andererseits ist die technische Durchdringung der Bearbeitungshilfsmittel weit verbreitet. Sound Studies tragen dazu bei, die Kontingenz von Klanggestaltungen, ihre Abhängigkeit von Bedingungen wie Räumlichkeit, Kultur und individueller Erfahrung, ihre Gestaltbarkeit in den Vordergrund zu rücken und damit begreif- und lehrbar zu machen. Klänge sind nicht nur technisch-physikalische Emanationen, nicht nur musisch-ästhetische Imaginarien: Sie sind greifbarer und reicher Gegenstand unseres Empfindens, Fühlens und Denkens. Teil Ihres und meines Lebens. Ein neuer Materialismus.1

1 Vgl. die kulturtheoretische Strömung des »New Materialism«, dargestellt etwa in Howes 2005.

Über Klänge sprechen · Holger Schulze

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2. Eine Einführung Der vorliegende Band ist eine Einführung. Er entfaltet anhand der wissenschaftlichen und ästhetischen Diskussionen im deutschen Sprach- und Kulturraum grundlegende Traditionen, methodische Ansätze und weiterführende Desiderate, die das Forschungsfeld der Sound Studies prägen. Er stellt sich damit nicht gegen, sondern neben die im angloamerikanisch geprägten Sprach- und Kulturraum erschienenen Grundlagenbände etwa von Michael Bull und Les Back2 oder auch Christopher Cox und Daniel Warner3. Diese beiden Bände vor allem waren es, die international in den letzten Jahren die transdisziplinäre Diskussion über Klang haben hörbar und durchhörbar werden lassen. Sie sind unverzichtbare Sammlungen von Studien, Positionen und auch historischen Grundlagentexten. Ihnen zur Seite möchte dieser Band, möchte diese Reihe sich gesellen, um Positionen und Studien des deutschen Sprachraumes ebenso hörbar werden zu lassen. Wir beginnen diesen Band mit vier Beiträgen aus einer künftig zu schreibenden Geschichte der Auseinandersetzung mit Klang. Hier werden die wissenschaftlichen, künstlerischen und kulturellen Strömungen entfaltet, die dazu geführt haben, dass die Aufmerksamkeit sich von Struktur- und Konstruktionsfragen der Komposition solchen der Formung, der Plastizität und der Körperlichkeit des Klanges zuwenden konnte. Den Auftakt übernimmt Martin Supper mit einer konzisen Deutung der gewandelten ästhetischen Praxis des Hörens und des Klingens in und seit den Avantgarden des vergangenen Jahrhunderts. Andreas Hagelüken nimmt diesen Ansatz auf und wendet sich beispielhaft der langen und fortwährend suchenden Geschichte einer originären Kunst für das Radio zu. Eng damit verbunden zeigt sich die jüngere Theorie und Geschichte komponierter Musik, die Elena Ungeheuer nach bestimmten und neuartigen Weisen des Umgangs mit Klang durchsucht. Golo Föllmer schließt sich daran an mit seiner Deutung von Klängen in den weltweit vernetzten Datenbanken des Internet unter dem Begriff der Meshworks. Eine Frage, die wir uns bei der Redaktion dieses Bandes – vor allem anhand dieses Teiles – immer wieder stellten, möchte ich hier nicht unerwähnt lassen: Warum enthält diese Einführung zwar zahlreiche Beiträge von oder unter Mitwirkung von Klangkünstlern wie etwa Sam Auinger oder Alex Arteaga – jedoch keinen einzelnen Beitrag, der die folgenreiche und für den deutschen Sprachraum prägende Geschichte der Klangkunst noch einmal darstellt? Zum einen ist diese Geschichte jüngst vielfach und mit einander ergänzenden Methoden des Hörens recht gut erkundet und aufgearbeitet worden; wir

2 Bull, Back 2003. 3 Cox, Warner 2004.

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Einführung

wollten an dieser Stelle keine summarische Zusammenfassung vorlegen4. Zum anderen stellt die Klangkunst für die Sound Studies insgesamt einen geschichtlich derart prägenden Grundton dar, dass er – wie in diesem Band zu lesen und zu hören sein wird – in nahezu allen Beiträgen dieses Bandes teils ausführlicher, teils mehr angedeutet Erwähnung finden wird. Dieser Einführungsband ist ein Beleg für die gleichermaßen ästhetische, wissenschaftliche, kulturelle und nicht zuletzt institutionelle Anregungskraft, die die Klangkunst in all ihren Ausprägungen seit mehreren Jahrzehnten nun ausübt. Der zweite und umfangreichste Teil dieser Einführung legt eine Reihe sich ergänzender methodischer Zugänge des Untersuchens von und des Arbeitens mit Klang vor. Den Anfang macht Jens Gerrit Papenburg, der neue Formen der Musikanalyse vorstellt, um die Populärmusikforschung mit einer technischen Medienwissenschaft erkenntnisreich zu verbinden. Beide Stränge werden in den folgenden Beiträgen fortgeführt: Diedrich Diederichsen stellt einesteils drei Zeichentypen vor, die zum besseren Verständnis des Klangs in der Popmusik und bei Sound Logos dienen können; zum anderen untersucht Wolfgang Ernst, welche Bedeutung ein zeitkritisch verstandener Klang in der technischen Medienwissenschaft Berliner Prägung einnimmt. Holger Schulze nimmt diese Motive auf und schließt eine Übersicht zu gegenwärtig grundlegenden Fragestellungen an, die in einer historischen Anthropologie des Klanges untersucht werden: das Wissen der Klangkunst wird hier theoretisch und anthropologisch fruchtbar. Ausgehend von dieser ganz gegenwärtigen Auseinandersetzung wendet Roger Behrens sich dem Begriff des Klangs – vor allem: seiner zeitgenössischen Deutung als Sound – noch einmal grundlegend zu, um ihn vor dem Hintergrund der analytischen Tradition einer kritischen Theorie tiefschürfend zu untersuchen. Klang in einer zeitgenössischen Nutzung und Bearbeitung stellt Georg Spehr vor, indem er das breite Forschungsfeld der funktionalen Klänge entfaltet: in seiner Vielfalt der Gegenstände und Anwendungen zwischen Unterhaltungsmedien, Kommunikation technischer Daten und der Nutzung in wissenschaftlicher Forschung. Eine besonders herausragende Ausprägung hiervon präsentiert Thomas Hermann in seinem Beitrag, der die Sonifikation als wissenschaftliche Methode der Auswertung und Darstellung vorstellt. Der Band schließt mit einem dritten Teil, der sich den Desideraten der Praxis, des Arbeitens mit Klang zuwendet: What is desired? Eingangs befragt Sam Auinger die möglichen Aufgaben des Klangs in gegenwärtigen und künftigen Gesellschaften – anhand einer Reise und einem vermeintlich fremden Ort. In den Raum der Schallwellen bewegt sich Johannes Wilms, wenn er in Miniaturen und Cut-ups eine Zukunft für den technischen

4 Exemplarisch etwa Helga de La Motte-Haber (1999), Helga de La Motte-Haber, Matthias Osterwold und Georg Weckwerth (2006) oder Brandon LaBelle (2006).

Über Klänge sprechen · Holger Schulze

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Apparat des Radios und die daran geknüpften sozialen Netzwerke und Praktiken sucht. Gebäude, Bauformen und Architekturen und ihre Bedeutung für den Klang beschäftigen beide Autoren. Dieses Anliegen nehmen Alex Arteaga und Thomas Kusitzky auf in der Beschreibung ihrer gegenwärtig beginnenden Praxis der Auditiven Architektur: Wie können Räume des Alltags, des Wohnens und Arbeitens gestaltet werden – klanglich? Klangversuche im urbanen Raum eines Hafens stellt daran anschließend Daniel Ott im Umfeld des experimentellen Musiktheaters vor. Carl-Frank Westermann schließlich stellt grundlegende Fragen an die Aufgaben und Vorgehensweisen einer künftig stark sich positionierenden akustischen Markenkommunikation – im Gefüge vieler Sinne. Als kommunikationswirtschaftliche Umsetzung, Anwendung und berufspraktische Weiterentwicklung etlicher Erkenntnisse der Sound Studies ist die Bedeutung dieses Zweiges des Arbeitens mit Klang im engsten Sinne schon gegenwärtig kaum hoch genug einzuschätzen. Der Band schließt mit einem Beitrag von Florian Dombois, der methodisch kritisch sich der Frage stellt, wie und unter welchen Bedingungen eine Kunst zu klingen und sich zu zeigen hätte, die sich selbst als Forschung verstünde. Als künstlerisch-wissenschaftliche Recherche im größtmöglichsten Sinne, so verstehen sich insgesamt die Sound Studies. All die Themen und Fragen der vorliegenden Einführung werden künftige Bände dieser Reihe ausführlicher wieder aufnehmen und weiterführen.

3. Sonic turn? In den Medien- und Kulturwissenschaften ist seit einiger Zeit immer wieder einmal die Rede von einem ominösen Sonic turn. Das schmeichelt selbstverständlich den Sound Studies und allen, die in ihrem Sinne und an ihren ästhetischen und theoretischen Fragen, ihren künstlerischen wie wissenschaftlichen Forschungsfeldern arbeiten. Ganz offensichtlich steht eine Disziplin der Akustischen Kommunikation zum Anfang dieses Jahrhunderts erst ganz am Beginn einer wohl langen Entwicklung; vergleichbar vielleicht den zarten Anfängen einer Visuellen Kommunikation an den Akademien und den Hochschulen für Gestaltung: Entdeckungen des Weißraums und eminenter typographischer Prinzipien, die im Laufe des letzten Jahrhunderts zu Lehrinhalten sich gefestigt haben, sind in den Sound Studies noch institutionell und didaktisch als grundlegende Prinzipien zu vermitteln und – so ist zu hoffen – werden künftig noch in vielen Studienangeboten im deutschen Sprachraum, aber auch international vermittelt wie auch künstlerisch-theoretisch kenntnisreich gelehrt. Die euphorischen Lobgesänge auf das Hören und Klingen in den Feuilletons und Populärpublikationen der letzten Jahrzehnte – rhythmisch wiederkehrend wie’s scheint alle

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Einführung

zehn Jahre seit den späten 1960ern – diese oft recht selbstgenügsamen (auch: selbstgerechten) Hymnen mit allzumeist leider kaum peripherer Wirkung im gesellschaftlichen Alltag der Gestaltung, der Stadtplanung, der Kommunikationswirtschaft oder auch der Pädagogik und der Politik, sie sollen hier nicht einfach unbedacht weitergesungen werden. Es geht vielmehr um eine grundsätzliche Wandlung unserer Einstellung zur gestalteten Umwelt. Die Frage Wie gestalten wir unsere Umwelt – akustisch? wäre in den Hörweisen dieses Bandes und dieser Reihe zu reformulieren als die Frage: Sind wir uns der weitreichenden Folgen bewusst, die unser gestalterisches, technisches, künstlerisches und gedankliches Handeln für die Hörerfahrungen hat, die wir in den nächsten Jahrzehnten und Jahrhunderten noch machen können – in unseren im höchsten Maße medial-artifizialisierten Gesellschaften? Eine Frage, die unseren Hörraum unmittelbar öffnet: weg von einem vermeintlichen Gegensatz der visuellen zur akustischen Kommunikation – hin zu einem weiterzielenden Projekt: die gesamte Welt der Artefakte in ihrer Vielfalt sinnlicher Wahrnehmungen als gestaltete zu begreifen. Der Schritt hin zur akustischen Kommunikation als nötige Ergänzung der visuellen ist damit nur ein Anfang, um gestalterische Verantwortung auch auf die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke auszuweiten, die auf uns wirken: Gerüche – Geschmäcker – körperliche Berührungen. Nicht nur eine Wendung zum Klanglichen, sondern eine Ausweitung in die sinnliche Empfindung. Ein Anfang, der sich keiner Nebensache zuwendet. Sondern einer Hauptsache: dem Klang unseres täglichen Lebens. Wie dieses Leben erträglich, hörbar und lebbar sein könnte, in der Zukunft: gestaltet.

4. Quellen Howes, David (Hg.) (2005): Empire of the Senses. The Sensual Culture Reader, Oxford. Bull, Michael, Back, Les (Hg.) (2003): The Auditory Culture Reader, New York. Cox, Christoph, Warner, Daniel (Hg.) (2004): Audio Culture, New York. LaBelle, Brandon (2006): Background Noise: Perspectives on Sound Art, London, New York. La Motte-Haber, Helga de (Hg.) (1999): Klangkunst: Tönende Objekte und klingende Räume. Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Band 12. Laaber. La Motte-Haber, Helga de; Osterwold, Matthias und Weckwerth, Georg (Hg.) (2006): Katalog »sonambiente berlin 2006 – klang kunst sound art«, Heidelberg.

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Aus der Geschichte

Klänge aus Lautsprechern Klang in der Geschichte der Elektroakustischen Musik Martin Supper

Welch schöne Hoffnungen und traumhaften Vorstellungen erwachen für sie! Wer hat nicht schon im Traume ›geschwebt‹? Und fest geglaubt, daß er den Traum erlebe? – Nehmen wir uns doch vor, die Musik ihrem Urwesen zurückzuführen; befreien wir sie von den architektonischen, akustischen und ästhetischen Dogmen; lassen wir sie reine Erfindung und Empfindung sein, in Harmonien, in Formen und Klangfarben (denn Erfindung und Empfindung sind nicht allein Vorrecht der Melodie); lassen wir sie der Linie des Regenbogens folgen und mit den Wolken um die Wette Sonnenstrahlen brechen; sie sei nichts anderes als Natur in der menschlichen Seele abgespiegelt und von ihr wieder zurückgestrahlt; ist sie doch tönende Luft und über die Luft hinausreichend; im Menschen selbst ebenso universell und vollständig wie im Weltenraum; denn sie kann sich zusammenballen und auseinanderfliehen, ohne an Intensität nachzulassen.1 So Ferruccio Busoni, nachdem er 1906 in einer Zeitung über das Dynamophone des Dr. Thaddeus Cahill gelesen hatte. Cahill hatte um 1900 in Washington eine 200 Tonnen schwere elektrische Klangmaschine entwickelt. Lautsprecher gab es noch nicht, so wurden die Dynamophone-Konzerte über das Telefonnetz übertragen. Busoni weiter: »Dem Bericht, dem ich diese Nachrichten entnehme, sind authentische Photographien des Apparates beigegeben, welche jeden Zweifel über die Wirklichkeit dieser allerdings fast unglaublichen Schöpfung beseitigen.«2 Die Entwicklung dieser »unglaublichen Schöpfung«, die elektrische Klangerzeugung, ist

1 Busoni 1916, 42. 2 Ebd.

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weitergegangen. Die künstlerischen Ausprägungen sind im 21. Jahrhundert unermesslich groß. Dies nicht nur, was die elektroakustische Klanggenerierung betrifft. Auch die Haltung des Hörers ist betroffen: es gibt nicht mehr den Virtuosen auf der Bühne. Doch beginnen wir bei unserem Exkurs beim Hören.

1. Das Ohr und die Kommunikation Bei jeder elektroakustischen Wiedergabe von Sprache und Musik, beispielsweise von einer Schallplatte, haben die Lautsprecher die Funktion einer akustischen Photographie oder eines akustischen Films: das mehr oder weniger schlechte Abbild einer dem Zuhörer bekannten Realität. Bei einer Rundfunkübertragung wird der Hörer am Lautsprecher eine Realität erzeugen, die seine Erfahrung außerhalb des Radiohörens abbildet. Im Gegensatz dazu generiert die Lautsprecherwiedergabe von elektronisch transformierten oder synthetisch erzeugten Klangmaterialien – wie sie bei den meisten Arbeiten Elektroakustischer Musik verwendet werden – einen unsichtbaren Klang. Diese neue Situation, ein Lautsprecher, der keine bekannte Realität mehr abbildet, wurde in ihrer Radikalität von dem Begründer der musique concrète, Pierre Schaeffer, bereits in den 1940er Jahren erkannt. Die Aufgabe des Komponisten war dabei, das Klangmaterial so zu gestalten, so zu komponieren, dass der Hörer keine Referenz mehr zu dem klangerzeugenden Objekt herstellen kann: »Das Klangobjekt darf nicht mit dem es erzeugenden Klangkörper verwechselt werden.«3 Überlegungen in diese Richtung hatte auch Max Butting in seinen Lehrgängen für Rundfunkkomposition an der Rundfunkversuchsstelle der Berliner Musikhochschule Charlottenburg angestellt, sowie Paul Hindemith und Ernst Toch, die 1930 Orginalwerke für die Schallplatte vorführten.4 Und auch davor gab es die Idee schon.

Abb. 1: Firmensignet von Gramophone Record: Ein Engel »schreibt« die Rillen der Schallplatte.

3 Schaeffer, Reibel 1967, Abschnitt 73 = dritter Gedanke, Begleitheft zu den Tonträgern. 4 Vgl. Stange 1989.

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Aus der Geschichte

Die anfangs unmittelbare Verbindung bei der Schallplatte, Reproduktion, Aufnahme zeigt sich nicht bei diesem weltbekannten Signet: Ein Engel »schreibt« die Rillen der Schallplatte. Diese Möglichkeit des Neuen wurde später normalisiert: Der Hund Nipper löste den Engel ab.

Abb. 2: Firmensignet von Gramophone Co, Ltd, Hayes. Middlesex, England: The Master‘s Voice. Der Hund Nipper hört die Stimme seines Herrn.

Was der Engel zeigt, inspiriert zu der Frage, ob und wie neue Medien, hier das Medium Schallplatte, losgelöst von der puren Reproduktion einer bekannten Wirklichkeit, neue, bisher nicht mögliche Richtungen in Musik und Kunst erlaubten und insbesondere dazu (ver)führten. Die Möglichkeiten der Nichtreproduktion bei diesem neuen Medium entdeckte und faszinierte Rainer Maria Rilke (1875-1926). Er publizierte diese Gedanken bereits 1919 unter dem Titel Ur-Geräusch: Sprach oder sang jemand in den Schalltrichter hinein, so übertrug der in dem Pergamente steckende Stift die Tonwellen auf die emfängliche Oberfläche der langsam an ihm vorbei gedrehten Rolle, und ließ man gleich darauf den eifrigen Zeiger seinen eigenen (inzwischen durch einen Firnis befestigten) Weg wieder verfolgen, so zitterte, schwankte aus der papierenen Tüte der eben noch unsrige Klang, unsicher zwar, unbeschreiblich leise und zaghaft und stellenweise versagend, auf uns zurück. Damals und durch die Jahre hindurch meinte ich, es sollte mir gerade dieser [...] aufbewahrte Klang unvergeßlich bleiben. Doch die Erinnerung von Rilke bezog sich auf etwas anderes: »[...] jene der Walze eingeritzten Zeichen waren mir um vieles eigentümlicher geblieben.« Mehr als anderthalb Jahrzehnte später besuchte Rilke die Anatomievorlesungen an der École des Beaux-Arts in Paris und stellte fest, dass »die Kronennaht des [menschlichen] Schädels [...] eine

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gewisse Ähnlichkeit [hat] mit der dicht gewundenen Linie, die der Stift eines Phonographen in den empfangenen rotierenden Cylinder des Apparates eingräbt. Wie nun, wenn man diesen Stift täuschte und ihn [...] über eine Spur lenkte, die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tons stammte [...] eben (z.B.) die Kronen-Naht [...] Ein Ton müßte enstehen, eine Ton-Folge, eine Musik [...], das Ur-Geräusch.«5 Der Text Ur-Geräusch zeigt auch, welche Ideen des Zeitgeistes Auswirkungen auf die Literatur um 1900 erlangt haben: der Anblick eines Schädels führt nicht zur Nachdenklichkeit wie bei Shakespeares Hamlet, sondern zur Phonographenspur. Vermutlich hatte niemand vor Rilke die Idee, eine Struktur klanglich, mechanisch zu »decodieren« bzw. zu interpretieren, die niemand in diesem Sinne (en)codierte. Konkreter wurde 1923 László Moholy-Nagy: »Da vor allem die Produktion (produktive Gestaltung) dem menschlichen Aufbau dient, müssen wir versuchen, die bisher nur für Reproduktionszwecke angewandten Apparate (Mittel) zu produktiven Zwecken zu erweitern.« Moholy-Nagys Ritzschrift für die Schallplatte erlaubt dies und kann nach seinen Worten »eine neue mechanische Harmonie« hervorbringen.6 Paul Hindemith bezweifelte, dass die von Moholy-Nagy und auch von Hans Heinz Stuckenschmidt propagierten Möglichkeiten der skulpturalen Klangerzeugung musikalisch nutzbar gemacht werden könnten, Hindemith 1927: »Die Versuche, musikalisches Geschehen auf Grammophonplatten [...] manuell einzuritzen, kommen einstweilen nicht in Frage. [...] Ich glaube nicht, dass diese Aufzeichnungsart jemals für die musikalische Praxis verwendbar zu machen ist.«7 Doch, wie bereits erwähnt, drei Jahre später experimentierte er selbst mit Schallplatten. Ausgangspunkt war das von der Rundfunkversuchsstelle der Berliner Musikhochschule – heute Universität der Künste Berlin – veranstaltete viertägige Festival Neue Musik Berlin 1930 unter der Leitung von Heinrich Burkhard, der bereits die entsprechenden Festspiele in Donaueschingen (1921-1926) und Baden-Baden (1927-1929) geleitet hatte. Auf dem Programm standen u.a. Orginalwerke für Schallplatten von Ernst Toch. Die genaueste Beschreibung dessen, was Hindemith dazu beitrug, gibt Heinrich Burkhard in der Zeitschrift Melos, 1930: Diese Orginalschallplattenmusik wurde erzielt durch Überblenden verschiedener Plattenaufnahmen und real gespielter Musik, durch Verwendung von Schnelligkeitsgraden, Tonhöhen und Klangfarben, die dem realen Spiel nicht möglich sind.

5 Rilke 1966 [1919], 1087. 6 Moholy-Nagy 1923, zit. nach Block, Glasmeier 1989, 53f. 7 Hindemith 1927, 156, nach Elste 1996, 213.

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Aus der Geschichte

So enstand eine Orginalmusik, die nur durch den Grammophonapparat wiedergegeben werden kann.8 Hindemiths Orginalschallplattenmusik wurde durch unterschiedliche Autoren mehr und mehr ins Kolossale getrieben, beispielsweise durch Fred Prieberg und Hellmut Kühn. Unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation zwischen Komponist und Publikum sah Hindemith bei der Schallplatte und der in dieser Zeit postulierten mechanischen Musik die »Möglichkeit der absoluten Festlegung des Willens des Komponisten, Unabhängigkeit von der augenblicklichen Disposition des Wiedergebenden, Erweiterung der technischen und klanglichen Möglichkeiten, Eindämmung des längst überreifen Konzertbetriebs und Personenkults, wohlfeile Verbreitungsmöglichkeiten guter Musik.«9 Klar ist bei diesen Versuchen, dass es sich um ausgesprochene Medienkompositionen handelt, ein Terminus, wie ihn sinngemäß Hans Rudolf Zeller 1978 in einem Aufsatz über die entsprechenden Kompositionen von John Cage einführte.10 Nach wie vor inspiriert das Medium Schallplatte:

Abb. 3: Christian Marclay: Installation at gelbe Musik, Berlin 1988

Für viele ist eine interpretenlose Konzertsituation, ein reines Lautsprecherkonzert – man denke nur an Karlheinz Stockhausens Gesang der Jünglinge (1955/1956), an Bernd Alois Zimmermanns Tratto (1966), an Pierre Schaeffers Quatre études de bruits (1948) – im-

8 Burkhard 1930, 230, nach Elste 1996, 212f. 9 Hindemith 1967 [1927], 550. 10 Vgl. Zeller 1978.

Klänge aus Lautsprechern · Martin Supper

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mer noch eine merkwürdige Sache, und es wird gerne gesagt, es fehle der Interpret. Doch sollte man auf keinen Fall die Live-Elektronik gegen das interpretenlose Konzert ausspielen. Es sind zwei grundsätzlich verschiedene Dinge. Man sagt zwar, bei der Elektroakustischen Musik fehle der Interpret. Aber was heißt schon fehlen? Man sagt, Musik, die nur auf Tonband existiert, sei langweilig, da jede Wiederholung des entsprechenden Stückes mit der vorigen identisch ist. Aber was heißt schon langweilig? Sagen wir dasselbe bei einer Skulptur im Museum, bei einem Gemälde? Wann immer wir ein Gemälde mehrfach betrachten, es bleibt dasselbe Gemälde. Oder doch nicht? Die Arbeit eines Komponisten, der ein Stück für Tonband fertigt, ist vergleichbar mit der Arbeit eines Bildhauers oder eines Malers. Er geht über Wochen oder Monate ins Atelier, beim Komponisten Studio genannt, um sein Werk zu fertigen. Das Ergebnis einer elektroakustischen Tonbandkomposition lässt sich in der Tat nur über Lautsprecher hören. Aber was heißt ›nur‹? Hören wir mittlerweile nicht zu 99 Prozent jede Art von Musik über Lautsprecher? Kann insofern nicht überspitzt gesagt werden, dass die Elektroakustische Musik die einzige adäquate Musik für die Lautsprecherwiedergabe ist, da für das Instrument Lautsprecher komponiert wird, während in allen anderen Fällen der Lautsprecher die Funktion eines Fotoalbums hat: das Präsentieren eines mehr oder weniger schlechten Abbilds einer akustischen Realität, ja, der Versuch einer Simulation einer Realität, High Fidelity.

2. Der abstrakte Klang American Standards Association: »Timbre is that attribute of auditory sensation in terms of which a listener can judge that two sounds similarly presented and having the same loudness and pitch are dissimilar.«11 Pierre Boulez 1955: »In der bisherigen Musikgeschichte hat es wohl kaum eine radikalere Entwicklung gegeben. Der Musiker sieht sich vor die gänzlich ungewohnte Situation gestellt, den Klang selbst erschaffen zu müssen.«12 Werden die Klänge unsichtbar, der Lautsprecher zum notwendigen Instrument, und bietet der neue Klang keine Möglichkeit, eine Referenz zu einer bekannten Realität aufzuzeigen, bleibt die Frage, was sich der Rezipient vorstellen kann oder soll. Die Konzertübertragung eines Violinkonzertes im Radio ist nicht nur eine (elektro-)akustische Übertragung: falls der Radiohörer das Instrument selbst spielt und das Violinkonzert kennt, werden gewissermaßen auch die Schwierigkeiten des Spiels, der Lagenwechsel,

11 American Standards Association 1960. 12 Boulez 1972 [1955], 77.

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der Fingersatz, die Strichart etc. ›übermittelt‹ werden. Anders ausgedrückt, bei jeder elektroakustischen Wiedergabe von instrumentaler oder vokaler Musik, beispielsweise von einer Schallplatte, haben die Lautsprecher die Funktion einer Photographie: das mehr oder weniger schlechte Abbild einer Realität. Im Gegensatz zur Lautsprecherwiedergabe von instrumentaler oder vokaler Musik ist die Elektroakustische Musik eine unsichtbare Musik. Doch was nehmen wir wahr? Was hören wir, was ›sehen‹ wir am Lautsprecher? Hatten die Lautsprecher bei der Wiedergabe von instrumentaler und vokaler Musik noch die Funktion einer akustischen Photographie, so ist die Frage, was unser Gehirn beim Hören von sogenannten abstract sounds, von bisher nicht gehörten, elektroakustischen Klangfarben wahrnimmt. Der Konstruktivismus kommt beim Hören Elektroakustischer Musik, beim Hören einer abstrakten, neuen Klangfarbe gewissermaßen doppelt zum Tragen: der Zuhörer errechnet nicht nur eine Realität, er konstruiert eine Realität, die er bisher nicht kannte.

Abb. 4: François Bayle (von hinten) sitzt an der Steuerung des Lautsprecherkonzertes Acousmonium, das er 1974 entworfen hat. Maison de Radio France, Paris 1980.

Der Komponist und Architekt Iannis Xenakis (1922-2001) begreift die Perzeption Elektroakustischer Musik von einem konstruktivistischen Standpunkt, hier zu seiner Komposition La légende d‘Eer (Diatope), Pièce électroacoustique pour bande 8 piste (1977-1978): Musik ist keine Sprache. Jedes Musikstück ist eine Art Felsblock in einer komplexen Form mit Schrammen und Mustern, die darauf oder darein geritzt sind und die Menschen auf tausend verschiedene Weisen entziffern können, ohne dass eine dieser Weisen die beste oder wahrste wäre. Auf Grund dieser Vielfalt von Deutungen fördert die Musik wie ein Kristallkatalysator alle möglichen Phantasmagorien zutage.13

13 Xenakis 1977-1978/1995.

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Die Bedeutung des Neuen bei der Wahrnehmung von elektroakustischen Klangfarben wurde von der Musikwissenschaft bisher nur rudimentär behandelt. Jede Beziehung zwischen zwei oder mehr Tönen kann wunderbar analysiert werden, es wird jedoch oftmals verkannt, dass auch der Anschlag nur eines einzelnen Tones am Klavier bereits eine sinnliche Wahrnehmung ist. Die Generierung neuer Klangfarben im Studio für Elektroakustische Musik ist ein kompositorischer Prozess, auch wenn dies nicht immer gesehen wird. Geradezu aktuell erscheinen die nahezu 100 Jahre alten Gedanken Arnold Schönbergs zur Klangfarbe: Ich kann den Unterschied zwischen Klangfarbe und Klanghöhe, wie er gewöhnlich ausgedrückt wird, nicht unbedingt zugeben. Ich finde, der Ton macht sich bemerkbar durch Klangfarbe, deren Dimension die Klanghöhe ist. Die Klanghöhe ist nichts anderes als Klangfarbe, gemessen in einer Richtung. Ist es nun möglich, aus Klangfarben, die sich der Höhe nach unterscheiden, Gebilde entstehen zu lassen, die wir Melodien nennen, Folgen, deren Zusammenhang eine gedankenähnliche Wirkung hervorruft, dann muß es auch möglich sein, aus den Klangfarben der anderen Dimensionen, aus dem, was wir schlechthin Klangfarbe nennen, solche Folgen herzustellen, deren Beziehung untereinander mit einer Art Logik wirkt, ganz äquivalent jener Logik, die uns bei der Melodie der Klanghöhen genügt. Das scheint eine Zukunftsphantasie und ist es wahrscheinlich auch. Aber eine, von der ich fest glaube, daß sie sich verwirklichen läßt. Von der ich fest glaube, daß sie die sinnlichen, geistigen und seelischen Genüsse, die die Kunst bietet, in unerhörte Weise zu steigern imstande ist. Von der ich fest glaube, daß sie jenem uns näherbringen wird, was Träume uns vorspiegeln; daß sie unsere Beziehungen zu dem, was uns heute unbelebt scheint, erweitern wird, indem wir dem Leben von unserem Leben geben, das nur durch die geringe Verbindung, die wir mit ihm haben, vorläufig für uns tot ist. Klangfarbenmelodien! Welche feinen Sinne, die hier unterscheiden, welcher hochentwickelte Geist, der an so subtilen Dingen Vergnügen finden mag! Wer wagt hier Theorie zu fordern!14

14 Schönberg 1986 [1911].

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3. Der Raum Auf die Verschiedenartigkeit architektonischer Räume wurde im Laufe der Musikgeschichte unterschiedlich reagiert. Die in der Venezianischen Schule (ca. 1530-1620) entwickelte Ensemblekanzone nahm dabei besonderen Bezug auf die architektonischen und akustischen Gegebenheiten der Kathedrale von San Marco. Für den Bau heutiger Konzertsäle hat sich eine für Architekten gültige Norm herauskristallisiert, die für Konzertdarbietungen Neuer Musik nur wenig geeignet ist. Moderne Konzertsäle haben akustische Eigenschaften, die vorwiegend für die Musik des 19. Jahrhunderts geeignet ist. Dies gilt zum einen für die Nachhallzeit des Raumes, zum anderen für die Anordnung von Orchesterpodium und Bestuhlung für die Zuhörer: das Publikum sitzt wie in einem Theaterraum und blickt bzw. hört in eine Richtung. In fast allen bekannten Konzertsälen wäre es daher nicht möglich, ein Werk wie Karlheinz Stockhausens Carré für vier Orchester und vier Chöre (1958/1959), die im Quadrat angeordnet sind, aufzuführen. Stockhausens Klassiker Gesang der Jünglinge (1955/1956) ist weit mehr als eine Komposition für Lautsprecher. Es ist die erste Komposition elektronischer Raummusik. Ein reines Tonbandstück für fünf um die Zuhörer im Raum verteilte Lautsprechergruppen. Die Auseinandersetzung mit Elektroakustischer Musik und Computermusik und den damit verbundenen Medien führten zu einer (Rück-)Besinnung dahingehend, den Raum wieder in das kompositorische Konzept einzubeziehen. So beispielsweise bei den Arbeiten von Bill Fontana: die akustischen Eigenschaften eines Raumes in einen anderen Raum zu transportieren ist so selbstverständlich, dass nur wenig darüber bewusst nachgedacht wird. Dieser Vorgang geschieht bei jedem Hören einer Schallplattenaufnahme und bei jeder Rundfunkübertragung. Die Sprecher und/oder die Instrumentalisten befinden sich in einem (Aufnahme-)Raum, der Hörer in einem anderen Raum. Bei der elektroakustischen Aufnahme oder Übertragung werden naturgemäß nicht nur die Stimmen und Instrumente von den Mikrophonen registriert, sondern auch die akustischen Eigenschaften des Raumes. Bei Fontanas 1984 gezeigter Klangskulptur Entfernte Züge wurde der Berliner Anhalter Bahnhof wieder zum Leben erweckt: Fontana nahm zunächst mit einem achtspurigen Tonbandgerät die Klänge des Kölner Hauptbahnhofs auf: abfahrende und einfahrende Züge mit ihren Bremsgeräuschen, Lautsprecheransagen, Stimmengemurmel etc. Am ehemaligen Anhalter Bahnhof – er besteht nur noch aus einem Brachgelände und der Ruine des Eingangsportals – wurden über das ganze Gelände verteilt Lautsprecher versteckt und über diese der Klang des Kölner Hauptbahnhofs wiedergegeben. Der Wanderer auf dem Brachgelände konstruiert sich einen »lebenden« Bahnhof.

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4. Quellen American Standards Association (1960): American Standards Acoustical Terminology, New York, American National Institute, zit. n. David M. Howard, Andy M. Tyrrell, Psychoacoustically informed spectography and timbre, in: Organised Sound, Vol. 2, Nr. 2, August 1997, 65-76, hier 65. Boulez, Pierre (1972): An der Grenze des Fruchtlandes, zit. n. der neuen Übersetzung, in: Pierre Boulez, Werkstatt-Texte, Stuttgart, 76-91, erstveröff. in: die Reihe, 1, 1955, 47-56. Burkhard [recte Burkard], Heinrich (1930): Anmerkungen zu den Lehrstücken und zur Schallplattenmusik, in: Melos (9), H. 5/6, 230, nach Elste 1996, 214. Busoni, Ferruccio (1916): Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, 2. erw. Aufl., Leipzig. Elste, Martin (1996): Hindemiths Versuche »grammophonplatteneigener Stücke« im Kontext einer Ideengeschichte der Mechanischen Musik im 20. Jahrhundert, in: Hindemith-Jahrbuch, Annales Hindemith 1996/XXV, Mainz, 195-221. Hindemith, Paul (1967/1927): zit. im Eintrag »Mechanische Musik«, in: Riemann Musik Lexikon (Sachteil), hg. v. Hans Heinrich Eggebrecht, Mainz, 550. Hindemith, Paul (1927): Zur mechanischen Musik, in: Die Musikantengilde (5), H. 6/7, 156, nach Elste 1996, 213. Moholy-Nagy, László (1923): Neue Gestaltung in der Musik, in: Der Sturm, 7, zit. n. Ursula Block, Michael Glasmeier (Hg.), Broken Music. Artists‘ Recordworks, Berlin 1989, 53-54. Rilke, Rainer Maria (1966): Ur-Geräusch, in: Sämtliche Werke, Bd. 6, Frankfurt a.M. (Reprint von: Das Inselschiff 1, 1919/1920, H. 1, Oktober 1919, 14-20). Schaeffer, Pierre, Reibel, Guy (1967): Solfège de l‘objet sonore, Paris. Schönberg, Arnold (1986, 1911): Harmonielehre [1911], 7, Wien, 503-504. Stange, Joachim (1989): Die Bedeutung der elektroakustischen Medien für die Musik im 20. Jahrhundert, (= Musikwissenschaftliche Studien, Bd. 10, hg. v. Hans Heinrich Eggebrecht), Pfaffenweiler. Xenakis, Iannis (1977-1978): Programmheft zur Komposition ›La légende d‘Eer‹ (Diatope), Pièce électroacoustique pour bande 8 piste, wiederveröff. im Begleitheft zur Compact Disc: Montaigne Auvidis, (= Iannis Xenakis 2), WDR 1995. Zeller, Hans Rudolf (1978): Medienkomposition nach Cage, in: Musik-Konzepte: Sonderband John Cage, 107-131.

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Eine originäre Kunst für das Radio Andreas Hagelüken

Ars Acustica, als Bezeichnung für einen bestimmten Umgang mit klingenden Materialien im Medium, hat ihren begrifflichen Ursprung im WDR-Studio für Akustische Kunst 1 und wurde vom früheren Redakteur Klaus Schöning in den 70er Jahren geprägt. Zur Bestimmung des Terminus schreibt Schöning: Für die Akustische Kunst sind alle hörbaren Erscheinungen gleichwertige Komponenten. Die Akustische Kunst ist ein Schmelztiegel heterogener Elemente. Akustische Kunst: Welt aus Klängen und Geräuschen der akustischen Umwelt oder künstlich erzeugter Töne. Und Welt aus Sprache, Sprache, die zum Laut tendiert, zum Sprachklang und zur Musik, dem Allklang der Töne. Akustische Kunst: Symbiose dieser Sprach- und Geräuschwelten und ihrer Klangorganisation mit den Mitteln der elektronischen Technik. Ihr aufnehmendes, sensibles Ohr: das Mikrophon. Ihr Ton-Träger: das Tonband die Kassette, die Schallplatte, der Microchip. Ihr sprechender Mund: der LautSprecher. Eine ihrer Utopien: ein allen zugänglicher Hörraum: das Radio und andere virtuelle Spielräume.1 Das Auftauchen eines Begriffes bedeutet jedoch nicht gleich, dass da etwas tatsächlich Neues entstanden wäre, sondern nur, dass ein Name für eine bestimmte Methode, Materialästhetik oder Form gefunden wurde, mithilfe dessen eine Abgrenzung zu anderen Radiokunst- bzw. Audiokunstgattungen möglich wird. Auch wenn sich zeigen wird, dass seit den Anfängen des Radios und selbst davor zahlreiche Bestrebungen für eine akustische, später dann auch dem Medium verbundene Kunst existieren, lässt sich

1 Schöning 1997, 1.

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dennoch keine stringente Entwicklung der Ars Acustica allein aus der Geschichte des Hör-Mediums destillieren. Ihren Anteil an dieser Entwicklung hat desgleichen die Kulturrevolution in Europa zwischen 1910 und 1925, die ganz im Zeichen der Suche nach neuen Ausdrucksformen stand und sich gegen die Verbindlichkeit des tradierten Ausdruckes und einen bürgerlichen Wahrheits- oder Kulturbegriff wandte. Der vorliegende Text aber konzentriert sich wesentlich auf den Ursprung der Ars Acustica im Entwurf einer radiophonen Kunst. Da der Rundfunk in seinen Ursprüngen wesentlich als eine Form der Nachrichtenübermittlung und der Unterhaltung genutzt wurde (und eigentlich auch heute wieder wird), kommt den akustischen Künsten als Ausdrucksform im Medium eine ohnehin den Betrieb nur »schmückende« Bedeutung zu. Eine kulturelle und künstlerische Nutzung des Mediums ist in Deutschland noch immer keine Selbstverständlichkeit. Übersehen wird zumeist, dass gerade die künstlerischen, auf Radiophonie bauenden Entwürfe des Hörspiels und des Features das Medium in seiner geschichtlichen Entwicklung formal immer wieder voran gebracht haben. Radiogattungen wie Schallspiel2, Hörspiel3, Radiokunst4 und Ars Acustica (um nur die noch weitestgehend gebräuchlichen zu nennen), stehen für einen solchen primär künstlerischen Umgang mit den Mitteln und Möglichkeiten des explizit auditiven Mediums. Es gab zahlreiche Versuche des akustischen Spiels, elektro-akustischer und akusmati-

2 Der Begriff des Schallspiels sei im Folgenden als bewusster Umgang mit den klanglichen Qualitäten des Materials Ton, Wort und Geräusch verstanden und hat als Gegenüber den Begriff des (der Literatur verpflichteten und auf gesprochener Sprache basierenden) Handlungshörspiels, das seinerseits zu differenzieren ist in Sendespiel und Worthörspiel. 3 Hörspiel meint in diesem Zusammenhang das aus der literarischen Vorlage hergeleitete, i.d.R. dialogisch agierende Handlungsspiel, das sich wesentlich auf den semantischen Gebrauch der Sprache stützt, Musik und Geräusch als illustrative Elemente also dem Handlungsgeschehen zwingend unterordnet (vgl. auch Fn. 2). Wobei auch dieser Begriff im Laufe seiner Geschichte stark diversifiziert wird (s.u.). Die literarische Determination des Hörspiels ändert sich entscheidend mit dem Neuen Hörspiel, in dem auch Musik und Geräusch dramaturgische Funktionen erhalten (s.u.). 4 Radiokunst wird hier tendenziell als Oberbegriff gebraucht, der alle künstlerisch motivierten Sendeformen unter sich subsumiert. So wäre der traditionelle Hörspielbegriff ebenso damit gefasst wie der der Ars Acustica und des Schallspiels. Dem gegenüber erfährt der Terminus Radiokunst durch bspw. das ORF-Kunstradio auch einen äußerst spezifischen Gebrauch. Heidi Grundmann (Initiatorin des ORF-Kunstradios) grenzt ihn durch ihre Definition ganz bewusst von dem der Ars Acustica (als einer nicht zwingend an die Mittel des Sendemediums gebundenen Form) ab. Radiokunst ist nach ihren

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scher Spielformen5, in den Künsten allgemein – als einer gegenseitigen Annäherung – aber speziell im Rundfunk, der sich im Laufe seiner Geschichte als wohl geeignetste Plattform zur Förderung und Entwicklung einer eigenständigen Audiokunst jenseits der Musik erwies. In Deutschland sind die Begriffe Ars Acustica und Radiokunst – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern – eng mit der Geschichte des Hörspiels verknüpft (weniger mit der zeitgenössischen Musik). Auf diese Zusammenhänge soll im Folgenden mithilfe eines entwicklungsgeschichtlichen Blickes auf den Umgang mit den Kompositions- und Arbeitsmaterialien (Stimme/Wort, Geräusch und Musik) sowohl des Hörspiels als auch der Ars Acustica näher eingegangen werden. Aus dieser geschichtlichen Herkunft erklärt es sich, dass Ars Acustica in Deutschland (und im deutschsprachigen Raum), im Gegensatz zu den europäischen Nachbarn, nach wie vor weitestgehend im Verantwortungsbereich öffentlich-rechtlicher Hörspielabteilungen liegt, auch wenn die Sendeplätze bzw. Redaktionen immer seltener das Hörspiel als ihren Gegenstand benennen und – nicht zuletzt in der Hoffnung, nach außen hin populärer zu erscheinen – auf Begriffe wie radio art, sound art, Medienkunst oder gar Klangkunst ausweichen.

1. Hörspiel – ein Sammelbegriff für radiophone Ideen Aufgrund der Mannigfaltigkeit der Formen gibt es bislang keine umfassende Definition für die gemeinhin als Hörspiel bezeichnete Rundfunkkunst.

Vorstellungen unmittelbar mit dem künstlerischen Akt im Sendevorgang verbunden und unterscheidet sich derart von vorproduzierter Tonträgerkunst. In Verlegenheit kommt diese Definition bei genauerem Blick auf die Geschichte des Hörspiels, das wohl ohne das Radio nicht existierte und zumindest heute auch vorproduziert wird. – Erhellend ist hier auch das Studium der Karl-Scuka-Preisträger seit 1955 (durch den Preis explizit als Radiokünstler ausgewiesen) hinsichtlich ihrer redaktionellen Herkunft. Deshalb bezeichnet Radiokunst hier ganz allgemein die künstlerischen Formen, die – wie auch immer – mit dem Radio korrespondieren. 5 Der Begriff der akusmatischen Spielformen steht hier allgemein für die Lautsprecherkunst und das Spiel mit Lautsprechern im Raum und leitet sich vom französischen Begriff der »Acousmatique« her.

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Bereits die Anfänge des Radios in Deutschland (in der Weimarer Republik, ab 19236), die tatsächlich unter dem Zeichen der Suche nach dem Medium adäquaten Spielformen standen, brachten drei – in ihrem Ansatz grundverschiedene – Auffassungen dessen, was ein Hörspiel sei und was es zu leisten habe, hervor: Da ist einmal das Sendespiel, das in seiner Form dem Ideal des »Theaters für Blinde« nachempfunden war und sich »verkürzt als die Fortsetzung des Theaters mit anderen Mitteln«7 bezeichnen lässt. Das Sendespiel wurde als die naheliegendste und auf vorhandenes Material aus der Literatur zurückgreifende Spielform bis 1926/1927 zur dominierenden Form innerhalb des Hörspielfunks. Es war apolitisch und wurde als Chance gewertet, eine breite, kulturell bislang »unterversorgte« Bevölkerung mit klassischer deutscher Dramenliteratur zu konfrontieren und derart den Rundfunk als Bildungsinstitution zu begründen. Der Hörakt erschöpft sich hierbei in der Rekonstruktion eines äußerlich angelegten Geschehens. Daneben findet sich schon sehr früh die Position des »Sprach- oder Wortkunstwerkes«8 – das Worthörspiel, das einerseits in der Form von Literaturadaptionen dem Sendespiel sehr nahe stand, andererseits aber vom Bestreben geleitet war, das neue Medium Rundfunk durch eine eigene, literarische Rundfunkkunst zu bereichern. Das Worthörspiel ist die Verabsolutierung des poetisch gedachten und dramaturgisch gesprochenen Wortes. Es schafft in seiner Begrifflichkeit Welten und strebt in seiner lyrischen Anlage den Zustand einer individuellen Zurückgezogenheit des vollkommen verinnerlichten Hörens an. Die dritte Form des jungen Hörspiels war das die Möglichkeiten einer radiophonen Schallkunst auslotende »Musikhörspiel« 9, das überwiegend seitens der »Musikredaktionen« in Experimenten mit der gleichstellenden Kombination aus Wort, Musik und Geräusch entwickelt und ausprobiert wurde. Die Elemente des Hörspiels werden hier primär als Klangmaterial gefasst.

6 »Der Rundfunk wurde in Deutschland 1923 als Vergnügungsrundspruch institutionalisiert, um – so der Postminister im Reichstag – einem großen Publikum das Mithören zu ermöglichen. Am 15. Oktober 1923 wurde der Deutsche Unterhaltungsrundfunk der Öffentlichkeit übergeben, am 18. Oktober begannen die Versuchssendungen und am 29. Oktober wurde das erste Abendprogramm des jetzt regelmäßigen Sendedienstes ausgestrahlt, dessen noch ausschließliche Musikfolge als gedrucktes Programm erhalten ist. Am 24. Oktober 1924 wird in Frankfurt mit Hans Flesch‘s ›Zauberei auf dem Sender‹ das erste Hörspiel in Deutschland gesendet.« Vgl. Döhl 1982. 7 Döhl 1988, 122. 8 Ebd., 123 – im Weiteren auch als Worthörspiel bezeichnet. 9 Im Weiteren auch Schallspiel, wobei mit diesem Begriff zuerst einmal die Position des technischakustischen Spiels bezeichnet ist.

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Gerade dieser Ansatz spricht das Neue des Rundfunks an, das es unter künstlerischen Aspekten umzusetzen galt. Denn in der Frage nach den Eigenschaften einer Rundfunkkunst tritt deren akustische Beschaffenheit in den Vordergrund: Hör-Spiel, der doppelte Imperativ, verweist neben der Aufforderung zum – wie auch immer ausgerichteten – Spiel ebenso auf die Art der Wahrnehmung des Mediums über das Gehör. Damit ist das Hörspiel nun aber nicht mehr einzig als das Wort im semantischen Sinne nutzendes Spiel mit einer rein begrifflich zu fassenden Welt verstanden, sondern auch als Klangphänomen, in welchem die vielfältigen Ausdrucksformen unter dem Aspekt ihrer Klanglichkeit angeordnet werden können. Heute bietet sich aufgrund der Zuortbarkeit von Hörspielen nach Sujet oder Zielgruppe eine terminologische Einteilung nach Gattungen an. Dazu zu zählen sind Kurzhörspiel, Science-Fiction-Hörspiel, Originalton-Hörspiel, Mundart-Hörspiel, Kinderhörspiel, Kriminalhörspiel, Wortkunstwerk oder Schallspiel, Sendespiel, Feature u.a. Es fällt dabei jedoch auf, dass die Gattungen nicht nach spezifischen Formcharakteristika bestimmbar sind, wie dies (zumindest traditionell) für den Gattungsbegriff in Musik und Literatur zutrifft. Vielmehr findet zwischen diesen als Gattung bezeichneten Weisen des Hörspiels ein ständiger Austausch der Stilmittel und auch der Formen statt, was zu einem weiten und (mitunter) unbestimmten Formbegriff der jeweiligen Typen führt. Spricht man dem Begriff der Gattung dennoch Gültigkeit zu, so äußert sich hier innerhalb des Hörspielspektrums ein Phänomen, das am ehesten über den Begriff der Gattungskorrespondenz beschreibbar ist. Diese Korrespondenz wiederum ist sowohl wesentliche Kraft der Entwicklung jedes einzelnen Hörspieltypus als auch entscheidend für das Fortkommen des gesamten Bereichs. Besonders deutlich ist der angesprochene Erfahrungsaustausch zwischen den Gattungen an der Entwicklung von Science-Fiction- oder Kinderhörspielen (aber auch Features) nach den Innovationen durch das »Neue Hörspiel«10 aufweisbar, insofern hier eingesetzte Techniken, Konzepte und Spielweisen mit akustischen Materialien unmittelbar Eingang in die Organisation traditioneller Handlungshörspiele oder Reportagen finden. Wichtig ist die Legitimität der behaupteten Differenzierbarkeit des Hörspielspektrums in Gattungen, wenn auch die Grenzen fließend sind. Die daraus resultierende Ordnung innerhalb des Spektrums ist sicherlich so noch nicht als Bewusstsein in der Weimarer Republik vorhanden, schafft indes vom gegenwärtigen Standpunkt aus eine Orientierung, aufgrund derer die Betrachtung des Hörspiels und seiner späteren Formen in einer Geschichte und Typologie überhaupt erst möglich wird.

10 Seit den 70er Jahren im Umfeld des WDR produziert und durch Publikationen als Paradigmenwechsel in der Hörspielproduktion zelebriert, s.u.

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2. Schallspiel – eine Vorform der Ars Acustica? Wie bereits erwähnt, handelt es sich beim Hörspiel der Weimarer Republik um die Entwicklung einer (Rundfunk-)Gattung in einem der künstlerischen Arbeit gerade erst zugänglich gewordenen Medium. Das Neue des Mediums und die Suche nach ihm adäquaten Ausdrucksformen barg, sofern ernsthaft als Suche betrieben, die Notwendigkeit des Experiments in sich (s.o.), da gängige Formen oder Methoden der Ideenumsetzung noch nicht ausgebildet waren. Nach anfänglichen Adaptionen vorhandener Ausdrucksformen erwuchs ein Interesse, »passendere« und das Medium Rundfunk ausschöpfendere oder forderndere Formen zu entwickeln. Ein gangbarer Weg war, die Elemente des Hörspiels nicht mehr als »bloße« Handlungsträger oder in ihrer Stützfunktion zu begreifen, sondern ihre Materialität und (Klang-)Wertigkeit innerhalb des komplexen Hörspielgeschehens zu überdenken. Die Elemente erfuhren dadurch eine erste Erweiterung ihrer Bedeutung für das Hörspiel. Diese Umdeutung der Elemente auf ihre klangliche und selbstredende Qualität soll im Folgenden kurz umrissen sein. Sprache als Material Die schriftlich fixierte Sprache, die Ausgangspunkt der radiophonen Adaption literarischer Quellen war, bietet in einer hörspielerischen Umsetzung als gesprochene Sprache bereits mannigfaltige Möglichkeiten. Um nur einige zu nennen: Das erzählende Sprechen bindet den Hörer eins zu eins an einen rein sprachlich determinierten Handlungsstrang. Es kann mit den Mitteln des Rundfunks auf mehreren Ebenen gestaltet werden (Intensität des Sprechens über Mikrophonabstände, Erzählhaltung u.Ä.) – ein Klassiker unter den Sprachformen des Hörspiels. Ähnlich verhält es sich mit dem szenischen Sprechen: die Handlung wird auf mehrere tatsächliche oder nur angenommene Personen bzw. Perspektiven aufgeteilt. Eine Geschichte entspinnt sich entlang einer dramatisch begründeten Konstruktion. Ob die Stimmen hier überzogen dramatisch oder theatralisch, naturalistisch und sonst wie inszeniert werden, richtet sich nach jeweiligen zeithistorischen Gepflogenheiten und der künstlerischen Absicht des Regisseurs. Als dritte, bereits in die Richtung einer auf Klang und Struktur zielenden Handhabung von Sprache weisende Option sei das rhythmische, das tänzerische und abstrakt einen Text gestaltende Sprechen angeführt. Bei allen Formen des hier nur angedeuteten Umgangs mit Textvorlagen kommen die jeweiligen technischen und (seit Einführung der Stereophonie) auch die produktionsästhetischen (Mikrophonierung, Definition des Handlungsraumes und der darin platzierten Akteure) Einflüsse hinzu.

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Wesentlich ist bei allen Formen, dass von einem Handlungsgeschehen ausgegangen wird und die semantische Qualität der Sprache diese Handlung insgesamt bestimmt. Über die inhaltliche Interpretation schriftlich fixierter Sprache hinaus kommen für den Rundfunk als Parameter der medialen Umsetzung die Betonung, der Klang, der Sprechrhythmus, die Geschwindigkeit und die Sprachmelodie, selbst der Stimmcharakter hinzu. Diese Qualitäten können in der Radiokomposition zu selbstständigen Trägern eines die »bloße« Wortbedeutung abstrahierenden Materials werden. Auch lässt sich in der zeitlichen Strukturierung von Sprache eine Veränderung vollziehen, die der zuerst einmal streng der seriellen Zeitordnung unterworfenen Literaturvorlage (Lesen als Abfolge) nun die formal der Musik näher stehende Möglichkeit eines in der Gleichzeitigkeit Gesprochenen hinzufügt. Bei fortschreitender Verdichtung des Sprachmaterials (etwa in einer Gleichzeitigkeit) tritt die reine Wortbedeutung zugunsten einer dann entstehenden Klang- und Geräuschstruktur mehr und mehr zurück. Ein neues Spielfeld zwischen Abstraktion und flatterhaftem Wortsinn entsteht. Auf beiden Ebenen kann in der Radiokomposition und Ars Acustica agiert werden, beide Ebenen lassen sich auch mischen. Die Form der Präsentation also gewinnt einen mannigfaltigen und entscheidenden Einfluss auf die Vermittlung eines wie auch immer gearteten Inhaltes. In diesem Kontext ist als eine weitere wesentliche Facette zu nennen: der mit der Sprache experimentierende bzw. die Sprache rein lautlich und asemantisch in Klang auflösende Umgang, wie ihn beispielsweise der russische Futurismus und der Dadaismus hervorbrachten, und der heute unter dem Begriff der Lautpoesie gefasst wird. Sprache erscheint hier in einem unüblichen Zusammenhang und entwickelt künstlerisch neue Qualitäten, die besonders in der Ars Acustica zum Tragen kommen. Musikalisches Material Eine ähnliche Erweiterung des formalen Einsatzes lässt sich auch für die Entwicklung der Hörspielmusik und der musikalischen Struktur im Hörspiel aufzeigen. Für die Musik im Hörspiel bedeutet das (ganz allgemein und grob) die Genese vom funktionalen Einsatz – bloßes Anfangs- bzw. Schlusssignal (z.B. Gong), Pausenzeichen oder in eine andere Szene überleitende Funktion – über einen leitmotivischen Einsatz, der bestimmte Handlungsräume oder Personen kennzeichnet, hin zu einer (wenn auch erst in der Folge des Neuen Hörspiels ausgereiften und konkretisierten) Eigenständigkeit der Musik, die nicht mehr ein sprachlich zuvor Vermitteltes illustriert, sondern »selbst redend« zum Handlungsträger wird. Zudem dient die musikalische Form schon sehr früh der Strukturierung des jeweiligen Handlungsgerüstes. Die Betrachtung der Musik im Hörspiel bedarf also der Differenzierung zwischen einer Musik im sprachorientierten Handlungshörspiel und der konkreten Komposition, die selbst zum Hörspiel wird. Letztere ist eng

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mit der Suche nach einer adäquaten, trotz der Begrenztheit der technischen Mittel auch übertragbaren Rundfunk-Musik verknüpft, die ihrerseits – gefördert von den Musikabteilungen – wiederum neue Formen hervorbrachte. Musik im Hörspiel Für das eine Handlung nachzeichnende Worthörspiel wird zwischen »acht Möglichkeiten der Hörspiel-Musik« differenziert 11: 1. Szenische Musik, eine vom äußeren Gang der Handlung geforderte geschlossene Musiknummer 2. Musik als akustische Kulisse 3. Musik als Ersatz von optischen Vorgängen durch musikalisch-rhythmische Vorgänge 4. Musik als charakteristische Untermalung dramaturgisch gehobener Dialogpartien 5. Musik als Sprechgesang oder als Gesang mit instrumentaler Untermalung (Melodram) 6. Musik als Akzentuierung (Musikakzent), meist mit nur einem Instrument, häufig einem Schlagzeug 7. Musik als Ersatz einer dramaturgisch bedeutsamen Ausdrucksgeste 8. Musik zur Darstellung naturgemäßer Vorgänge. Der Musik kommt in diesen Hörspielen ausschließlich eine der Sprache untergeordnete Funktion zu, insofern ihr Einsatz allein einer sprachlich vermittelten Handlung dient. Demgegenüber versucht das Musikhörspiel, eine Eigenständigkeit von Musik und Klang im Hörspiel umzusetzen. Die Definition des Hörspielbegriffes hier fasst den Vorgang des Hörens weiter, als das im Worthörspiel üblich war. Zu hören war eben nicht primär Sprache, sondern die Kombination von Sprache, Musik und Geräusch, wobei all diese Bausteine gleichberechtigt zueinander gesetzt waren. Es war üblich, solche Hörspiele auch als Funkkantaten oder -oratorien im Rahmen von Musikfestivals aufzuführen – eine Tradition, die sich in anderer Form und mit anderen Materialien bis heute fortgesetzt hat, beispielsweise in der elektroakustischen Aufführungspraxis, die der Ars Acustica in mancher Hinsicht sehr nahe steht.

11 Hagemann 1928, 169.

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Geräuschwelten Der Einsatz des Geräusches im Hörspiel erfährt, wie bereits erwähnt, eine dem Wandel des künstlerischen Einsatzes von Sprache und Musik vergleichbare Entwicklung. Auch das Geräusch und die ihm innewohnenden Möglichkeiten der Artikulation und Komposition waren bereits im Vorfeld des Rundfunks Gegenstand vielfältiger, von den italienischen Futuristen angestrengter Experimente. So schreibt Luigi Russolo in einem Brief vom 11.3.1913 über seine Vorstellung von zeitgemäßer Musik an den Musiker Balilla Pratella, der der futuristischen Gruppe um Filippo Tommaso Marinetti angehörte: Heute wird sie immer komplizierter. Sie sucht jene Kombinationen von Tönen, die sehr dissonant, fremdartig und rauh ins Ohr fallen. So nähern wir uns mehr und mehr der Musik des Geräuschs [...]. Wir Futuristen haben die Musik der großen Meister alle sehr geliebt. Beethoven und Wagner haben jahrelang unsere Herzen erschüttert. Aber jetzt haben wir von ihnen genug. Uns wird viel größerer Genuß aus der idealen Kombination der Geräusche von Straßenbahnen, Verbrennungsmotoren, Automobilen und geschäftigen Massen als aus dem Wiedererhören beispielsweise der Eroika oder Pastorale [...]. Wir werden uns damit unterhalten, daß wir im Geiste die Geräusche der Metallrollos vor Ladenfenstern, von zuschlagenden Türen, das Schlürfen und Drängen der Menge, die Massenunruhe der Bahnhöfe, Stahlwerke, Fabriken, Druckpressen, Kraftwerke und Untergrundbahnen orchestrieren.12 Es sei angemerkt, dass es Russolo und den italienischen Futuristen nicht um eine getreue Abhandlung der technischen Welt als tönender oder geräuschhafter Welt ging, sondern um die Hinzunahme der Geräusche des (modernen) Alltags zu musikalischen Ereignissen, um deren Einbindung in den Orchesterapparat. Zumindest die von den Futuristen eingeleitete »Emanzipation des Geräusches« bereitet eine Verwendung desselben im Hörspiel im Sinne eines künstlerisch eigenständigen Umganges und Einsatzes als strukturierendem und eigendynamischem Baustein der akustischen Ausdruckskunst vor.

12 Zit. n. Prieberg 1960, 32.

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3. Hörspiel in seinen Anfängen: Auffächerung und Organisation des Spiels Rückblickend kann die Entwicklung des Hörspiels in der Weimarer Republik bis 1930 verkürzt und idealtypisch in drei Phasen gegliedert werden: (I) Die erste Phase, die im Zeichen der Annäherung an das neue Medium und seine Gestaltungsmöglichkeiten stand, diente »wesentlich der Erprobung der medialen Suggestivkraft« oder der »Demonstration akustischer Illusionsmöglichkeiten«.13 (II) Die zweite Phase zeigte das Hörspiel bereits in Abhängigkeit von der technischen Organisation des Mediums. In dieser Organisation tritt – zumindest in der Kunstform Hörspiel – die akustische Sensation in den Vordergrund, oder, wie Helmut Heißenbüttel es später im Zusammenhang mit dem Neuen Hörspiel nennt, wird das Hörspiel zur Hör-Sensation. Der Begriff schließt den Wandel der Anlage des Materials mit ein. Döhl betont hierbei auch den Charakter der Medienabhängigkeit des Hörspiels, d.h., die Sensation existiert überhaupt nur in der Vermittlung durch den Rundfunk. (III) Ende der 20er Jahre begann die dritte Phase, die aktuelle Begebenheiten (oder reale Sensationen) umzusetzen suchte. So erweckten einschneidende Ereignisse, wie die Ozeanüberquerung Lindberghs (»Der Lindberghflug« von Bertold Brecht und Kurt Weill) und Katastrophen das Interesse der Hörspielautoren. Ebenso fand (parallel zur literarischen Auswertung) eine Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg (bspw. Johannsens »Brigadevermittlung«) statt. Ein direkter Bezug zum politischen Geschehen der Weimarer Republik konnte in der Regel – aufgrund der zensurähnlichen Kontrolle – im Hörspiel nicht umgesetzt werden. Ein Grund hierfür ist sicherlich auch das Bestreben der Intendanten, den Rundfunk von parteipolitischen Stellungnahmen frei zu halten. In allen grob skizzierten Phasen der Entwicklung des Hörspiels der Weimarer Republik ließen sich Experimente auch hinsichtlich der Definition der Elemente des Hörspiels (Musik, Sprache und Geräusch) als primär nach seiner Klanglichkeit gefasstem Material aufzeigen. Die Gründe für diese Experimentierfreudigkeit sind nicht zuletzt in der »offenen« Rundfunkpolitik zu suchen, die von den Intendanten der einzelnen Rundfunk-

13 Döhl 1992, 6/193; Beispiele hierfür wären u.a. die o.g. Hörspiele »Danger« (1924) von Richard Hughes, Hans Fleschs »Zauberei auf dem Sender« (1924), Rolf Gunolds »Bellinzona« (1924, ungesendet), und Erich Ebermayers »Der Minister ist ermordet« (1926).

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anstalten verfochten wurde. Aber schon zu Beginn der 30er Jahre wuchs der Druck von politischer Seite auf die einzelnen Intendanten hinsichtlich ihrer Programmgestaltung. Das Jahr 1932 brachte die ersten Säuberungen unter den Rundfunkakteuren. In den Jahren 1932/1933 wurde ein Großteil der Führungskräfte, die den Rundfunk in seiner vielseitigen Gestalt (sowie auch das Hörspiel) entwickelt hatten, entlassen. Nach der »Machtergreifung« (vom 30.1.1933) wurden viele von ihnen in das Konzentrationslager Oranienburg verschleppt. Ihre Posten besetzten linientreue Nationalsozialisten mit dem Ziel, den Rundfunk möglichst effizient zum parteipolitischen Massenmedium umzufunktionieren. Von nun an diente – verkürzt gesagt – beinahe alles, was durch den Rundfunk verbreitet wurde, der Propaganda.14

4. Nachkriegsradio – Der lange (Rück-)Weg zur Radiokunst Rahmenbedingungen Für die Idee radiophoner Kunst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg waren einige Umstände der Neuorganisation des Rundfunks mitbestimmend. Die Rundfunkanstalten standen unter der Aufsicht der Besatzungsmächte, die eine unter dem Stichwort »Reeducation« fassbare Rundfunkpolitik vertraten. Dementsprechend wurde die Aufgabe des Rundfunks überwiegend in der Belehrung und Erziehung der Hörerschaft gesehen und daraufhin das Programm kontrolliert. Im Sinne dieser Erziehungsabsichten durch die Alliierten hatten auch die Musik-, Wort- und Hörspielsendungen konzipiert zu sein. Insofern aktuelle, hauptsächlich menschliche Probleme (Heimkehr, Wiederaufbau, Obdachlosigkeit, Existenzgründung, Neuorientierung u.Ä.) zu thematisieren waren, bedeutete das für die Hörspielpraxis die Vorgabe einer Handlungsbezogenheit. Das Primat der Handlung bedingte die Anlage des Hörspiels als Worthörspiel mit der »Tendenz zur Verinnerlichung und Reduzierung der Wirklichkeit auf den menschlich-privaten Bereich«.15 Für schalltechnische Experimente (bspw. akustische Filme, Collagen und Montagen) gab es folglich vonseiten der Rundfunkorganisatoren vorerst keinen Spielraum. Auch auf der Seite der Hörerschaft überwog die Forderung nach Unterhaltung durch das Radio. So genügte die Anlage des Hörspiels als Wort- oder Handlungshörspiel, um den Bedürfnissen der Hörer nachzukommen.

14 Nanny Drechsler spricht von der nationalsozialistischen Rundfunkarbeit als einem »propagandistischen Trommelfeuer«, vgl. Drechsler 1988, 35. 15 Würffel 1978, 120.

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Mit zu bedenken ist bei der Bewertung des Programmangebotes, dass der Rundfunk aufgrund der Zerstörung von Theater- und Konzerthäusern wie auch der Kinos neben den Zeitschriften der einzige Informationslieferant und mit die einzige, allgemein zugängliche Institution mit Unterhaltungswert war. Ein direktes Anknüpfen an die Hörspielarbeit und die Experimente der Weimarer Republik wurde überdies allein wegen der Verluste der meisten Rundfunkarchive und mangelnder Aufzeichnungsverfahren verhindert. Infolge all dieser Faktoren behauptete sich zunehmend das Wort- oder Handlungshörspiel, das – ganz im Interesse der Hörer – weitestgehend auf eine entpolitisierte und verinnerlichte Rezeptionshaltung abzielte. Die Verengung des Hörspielbegriffes wurde außerdem gefördert durch die 1950 beim NWDR vollzogene Trennung zwischen Hörspiel- und Featureredaktion. Damit war dem Hörspiel die anfänglich noch vorhandene Möglichkeit, sich auf aktuelle Ereignisse zu beziehen, vorerst genommen. Im Vordergrund der Hörspielarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg stand die literarisch durchdachte oder poetisch aufbereitete Handlung, die von Geräusch und Musik lediglich illustrativ gestützt wurde. Das ›reine‹ Worthörspiel erfuhr seine Definition als das »eigentliche Hörspiel«. Schallspiele oder die Umsetzung zeitgleich in der Musik sich entwickelnder Tendenzen (s.u.) beeinflussten die Hörspielarbeit vorerst nicht. Ausbruch aus der funktionalen Bindung Ab etwa Mitte der 60er Jahre kam es wieder zu einer Annäherung des Hörspiels an andere Formen des künstlerischen Ausdrucks. Im Folgenden sollen einige wesentliche Gründe hierfür angezeigt sein. Dabei werden kulturelle Tendenzen der 50er und 60er Jahre als Einflussfaktoren für die Entwicklung des Hörspiels (zum Neuen Hörspiel bzw. später zur Ars Acustica) gewertet, insofern sie Techniken bzw. Denkweisen erprobten und entwickelten, die dann ab Mitte der 60er Jahre auch für das Hörspiel bedeutsam wurden und zu Innovationen in diesem Bereich führten. Hörspielinterne Sprachauflösung In den Handlungshörspielen veränderte sich allmählich der Charakter der in ihnen verwendeten Sprache. Sie erfuhr eine Annäherung an Tendenzen der Konkreten Poesie. Dieser Prozess lässt sich bereits im steten Wandel der Stücke Günter Eichs16 erkennen. Seine Hörspiele zeichneten sich durch eine Konzeption aus, die die Hörerschaft zum Mitdenken und Urteilen aufforderte, wodurch beim Hörer eine Unsicherheit in der Rezeptionshaltung erzeugt wurde. Dabei änderte Eich auch die technische Machart und

16 Günter Eich gilt als einer der wichtigsten Rundfunkautoren im Nachkriegsdeutschland.

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somit den Gesamtcharakter des Stückes, indem er vor allem statt der (weichen) Blende den (schroffen) Schnitt verwendete. Die Auffassung sämtlicher Teilbereiche der Sprache (Laut, Buchstabe, Wort, Satz, Wortgruppe, aber auch Artikulationsweise u.Ä.) als phonetisches oder rhythmisches Kompositionsmaterial, wie sie ab 1968/1969 besonders im Umfeld des Neuen Hörspiels verstärkt anzutreffen ist, fand konkret im Werk des Dichters Gerhard Rühm eine Vorarbeit. Rühm hatte bereits in den 50er und 60er Jahren die Materialität der Sprache zum Ausgangspunkt seiner Lautpoesie gemacht. Als Mitglied der Wiener Gruppe hatte er Lautgedichte wie das »gebet« (1954) konzipiert, in dem die Vokale a, u, e, o, i in einem Singsang so lange von Konsonanten umspielt werden, bis sich alle Möglichkeiten der Zuordnung von Konsonanten zu den Vokalen ergeben haben. Auch der Dialekt wurde in Rühms Konzept als phonetisches Material verwendet. Gerade die Mundart bietet sich für Lautgedichte an, da sie Ausdruck der gesprochenen, nicht der literarisch fixierten Sprache ist. Die Erfahrung dieser Arbeit konnte Rühm dann 1969 mit radiophonen Mitteln im Tonstudio einsetzen, wo seine Hörspielproduktion Zensurierte Rede entstand. In diesem Stück reduziert Rühm eine in tschechischer Sprache gehaltene Rede auf die An- und Auslaute der Proklamation selbst. Im Endeffekt ist also nur noch zu hören, dass da eine Rede ist, nicht aber mehr ihr Inhalt – ein sinnfälliges Bild für den Eingriff in die Meinungsfreiheit durch die Zensur. Genau diese Verschiebung in der Verwendung von Sprache ist charakteristisch für die sprachspielende Hörspielkonzeption im Umfeld des Neuen Hörspiels und später der Ars Acustica. Technische Neuerungen Der gesamte Rundfunk als (bisheriger) Bildungs- und Unterhaltungsfunk erfuhr in den 60er Jahren eine nicht zuletzt durch das Aufkommen des Fernsehens ausgelöste Wandlung in seinem Selbstverständnis. Die bis dahin gesendeten Hörspiele, die überwiegend Handlungshörspiele waren, wurden allmählich durch Fernseh- und Spielfilmproduktionen vom »Markt« verdrängt. Viele Autoren wechselten zum lukrativeren Fernsehen über. Die Hörerzahl insgesamt und nicht nur beim Hörspiel ging stetig zurück. Das erforderte eine Neuorientierung vonseiten des Rundfunks – allein, um Marktanteile zu behalten. Damit wurde auch »der Hörspielbereich von seiner bisherigen (hier so verstandenen) literarischen Bildungsaufgabe befreit und gezwungen, sich in dem neuen Konkurrenzverhältnis zum optischen Medium auf seine spezifischen Qualitäten«17 zu besinnen.

17 Keckeis 1973, 108.

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Angestoßen durch diesen äußeren Anlass empfahl sich für die Institution Rundfunk ein neuerlicher Anlauf im Sinne der Radiokunst und Ars Acustica als mit den spezifischen Qualitäten des Mediums spielender Kunstform. Auf eine neue Grundlage gestellt, ging es letztlich wieder um die Auffächerung des indifferenten Gattungsbegriffes Hörspiel, was als Parallele zu den Anfängen des Rundfunks gelesen werden kann. Das Terrain einer radiophonen Kunst war neu abzustecken. Zugleich schufen technische Neuerungen wie die Stereophonie im Sendebetrieb für die Definition des Hörraumes als eines schallenden Erlebnisraumes grundsätzlich neue Perspektiven, insofern allein in Bezug auf das Hörerlebnis nun ein Projektionsraum entstand, an dem der Hörer aber unversehens partizipierte. Darüber hinaus bot die Stereophonie, durch ein Verteilen mehrerer Schallquellen im Raum, die Möglichkeit zu einer im Studio herstellbaren Konzeption sehr komplexer Klanggebilde, die aufgrund ihrer räumlichen Anordnung trotz ihrer Vielschichtigkeit vom Hörer differenziert und aufgeschlüsselt werden konnten. Auch die Abmischung der Grundbausteine Musik, Geräusch und Sprache erfuhr durch verbesserte Studiotechniken18 neue, ihren Materialcharakter aufwertende Perspektiven. Bereits Ende der 60er Jahre wurde im Hörspiel und im Feature verstärkt auch mit der Kunstkopfstereophonie experimentiert. Hier soll mit einem speziellen, der menschlichen Hörphysiognomie nachempfundenen Mikrophon (Kunstkopf) das menschliche Hören möglichst naturgetreu aufgezeichnet werden. Allerdings musste man die derart produzierten Arbeiten unter einem Kopfhörer abhören, was sich auf Hörerseite nicht durchsetzte. Auch projizierte das Gehirn den Spielraum unter dem Kopfhörer tendenziell nach hinten – eine Szene vor dem Gesichtsfeld des Rezipienten entstehen zu lassen, war mit dieser Technik kaum realisierbar. Schließlich waren auch die Produktionen extrem aufwendig, da in den »natürlichen« Umgebungen produziert werden musste, um die entsprechenden Szenen in den jeweiligen Räumen stattfinden lassen zu können. Dagegen lassen sich normale Stereo- und – heute – Surroundsituationen auch im Studio simulieren. Alles in allem: ein Flop, der viele enttäuschte Enthusiasten hinterließ und dennoch auch Erfahrungen gerade im Umgang mit dem Raum und seiner Klanglichkeit zeitigte.

18 Vgl. hierzu Eimert, Humpert 1973 (hinsichtlich der Begrifflichkeit) und Humpert 1987, besonders 57ff., sowie Klüppelholz 1976.

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5. Gattungskorrespondenzen Die endenden 50er und beginnenden 60er Jahre stellen sich im Rückblick als eine Krise der Neuen Musik dar, insofern serielle Techniken zu einer Intellektualisierung und Mathematisierung musikalischer Parameter geführt hatten. Die bis dahin mehr oder minder ›geschlossene Front‹ der Neuen Musik, die eine Institution und ein Forum in den »Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik« hatte, begann sich in sich voneinander entfernende Kompositionsmethoden und Materialauffassungen aufzufächern. Die für unseren Zusammenhang relevanten Richtungen waren: 1. Serialismus und Aleatorik,19 2. elektronische Musik, 3. das traditionell ausgerichtete Komponieren, das an rein musikalische Parameter und Techniken, die auch im Serialismus gebräuchlich waren, anzuknüpfen suchte, 4. die Einbeziehung der sinnlichen Ausrichtung von Musik unter Rückgriff auf ein multimedial angelegtes Verfahren mit erweitertem Materialverständnis. Der Schlüssel zum Verständnis des Begriffes der Grenzüberschreitung liegt in der Untersuchung der Materialauffassung. Dies meint die Einbeziehung von semantischen Bedeutungsträgern – wie konkretem Geräusch und wortsinnigen Strukturen – in den Kompositionsprozess von Neuer Musik einerseits und die Anlehnung an klangtechnische und musikalische Praktiken des zeitgenössischen Komponierens im Neuen Hörspiel andererseits. Die Veränderungen im Verständnis dessen, was Musik und Hörspiel zu leisten haben, vollzogen sich in der Tat parallel und lassen sich gegen Ende der 60er Jahre als ein Ineinandergehen der Entwicklungen unter den Motti »Komponisten als Hörspielmacher« bzw. »Musik als Hörspiel – Hörspiel als Musik« begreifen. Diesem Zusammentreffen von ursprünglich getrennten Kunstformen gingen verschiedene Bestrebungen vonseiten der Komponisten wie auch der Hörspielmacher/innen voraus. Sie werden im Folgenden kurz aufgezeigt, da sie wesentlich zur eigenständigen Form der Ars Acustica geführt haben. Als Reaktion auf die Strenge der Vorschrift und Vorgehensweise innerhalb der seriellen Musik, deren Prinzip gerade die völlig durchorganisierte und jede Einzelheit prä-determinierende Reihentechnik war, wurde Ende der 50er Jahre – wohl auch teils in oppositioneller Absicht – das Prinzip der Aleatorik entwickelt: Dies hatte als Konzept, das Prinzip des Zufalls als den (jeweiligen) Ablauf und aber auch die Gestalt der Komposition selbst bestimmende oder organisierende Kraft walten zu lassen.

19 Vgl. hierzu Dahlhaus, Danuser, 1984, Kap. IV, besonders 299ff.

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Die Auflösung der kompositorischen Prä-Determination vollzog sich hier auf mehreren Ebenen: a. Ging man von der Zusammensetzung eines musikalischen Komplexes aus mehreren Formteilen aus, so wurde die (vordem) geregelte Abfolge nun variabel. Die einzelnen Teile waren nicht mehr im strengen Kontinuum einer (traditionellen) Partitur notiert, sondern lagen bspw. simultan auf Einzelblättern vor. Dieser Zustand der relativen Unstrukturiertheit zog b. eine Zufälligkeit der Gestalt der Komposition nach sich: der Interpret wird kompositorisch tätig und das Musikstück wird vollständig erst in der kollektiven Aktion seiner Aufführung gestaltet.20 Dieses Prinzip einer Beteiligung des (im übertragenen Sinne) gesamten Produktionsteams an der Gestalt des Hörwerks fand gerade im Experimentalhörspiel der 70er und 80er Jahre eine Umsetzung, insofern das Konzept der offenen Vorgabe bzw. des selbsttätigen Interpreten (Sprecher, Techniker, Regisseur) zur einzig verbindlichen Vorschrift gemacht wird21 und das zur Produktion herangezogene Material in seiner endgültigen Gestalt über die Spontaneität oder Zufälligkeit technischer Bearbeitungsexperimente gewonnen bzw. ausgeformt wird. Einen weiteren Niederschlag fand das aleatorische Konzept in der Sprachbehandlung innerhalb des Hörspiels. Hier sind besonders die Hörspiele im Umfeld des Kölner Hörspielstudios zu nennen, in denen mit den klanglichen Aspekten der Sprache experimentiert wurde. Die Konzepte, mit denen das Material der jeweiligen Hörspiele ausgewählt und aufbereitet wurde, suchten Sprache in ihrer Klanglichkeit als phonetisches Material, als semantisch orientierte Sprachkritik oder in ihrer Variabilität durch die Sprechweise zu fassen. Die Bedeutung der elektronischen (elektroakustischen) Musik für das Neue Hörspiel, das Schallspiel oder das Experimentalhörspiel und die Ars Acustica ist offensichtlich: Einer-

20 Die traditionelle Notation fasst alle Stimmen (sofern mehrere davon existieren) untereinander zusammen. In Lutosawskis Streichquartett (1964) sind die Stimmen hingegen in »51 Sektionen« gefasst. Vgl. Altmann 1984, 173. 21 Beispiele hierfür gibt es zahlreiche. Um nur einige zu nennen: Ronald Steckels »Das China Projekt« (SFB/SWF/WDR 1985 – an anderem Ort vom Autoren dieses Textes detailliert analysiert); die Zufälligkeit des Materials ist auch in M. Kagels »(Hörspiel) – ein Aufnahmezustand« (WDR 1969) ein bestimmender Aspekt; John Cages O-Ton-Konzepte (nach literarischen Motiven) passten ebenso in die Reihe der (mit-)zufallsbestimmten Hörwerke.

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seits waren es die synthetischen Verfahren wie bspw. Modulation und Verfremdung der Ausgangsimpulse, mit denen Kompositionsmaterial für die kompositorische Arbeit gewonnen wurde. Andererseits etablierte sich hier aber auch das Tonband als regelrechtes Kompositionsinstrument, mit dessen Hilfe die z.T. sehr komplexen und vom Musiker kaum noch ausführbaren Strukturen montierbar wurden. Infolgedessen erfuhr auch der Kompositionsprozess als solcher eine Entwicklung weg von der »Notation« des Werkes hin zum experimentellen Umgang mit den Materialien im Entstehungsprozess des Werkes. In der Idee der musique concrète wurden ab 1948 im Umfeld Pierre Schaeffers und Pierre Henrys die Bestrebungen um eine Form der Geräuschmusik bzw. -poesie wieder aufgegriffen. Experimentiert wurde mit überwiegend elektronisch verfremdeten, natürlichen Geräuschen, die keine die Wirklichkeit abbildende Assoziation beim Hören mehr zulassen sollten. Vielmehr strebte Schaeffer eine ästhetische Eigenständigkeit der Geräuschwelten an, die er der bloß illustrativen Verwendung gegenüberstellte. Damit schuf er, in Anlehnung oder Fortführung der Emanzipation der Geräusche durch die Bruitisten des beginnenden 20. Jahrhunderts, eine Grundvoraussetzung für den Entwurf eines bildfreien, der Eigenwelt des Schallvorganges zugewandten Hör- bzw. Schallspiels, wie es Knilli in seinem Buch von 1961 als totales Schallspiel massiv forderte (s.u.). Die musique concrète kann von daher als Wegbereiter einer Erweiterung der Spielidee im Hörspiel der 60er und 70er Jahre gelten. Der Begriff des Auditiven wurde als ein Sprache, Geräusch, Artikulation wie auch Musik umfassender Bereich erkannt. Das hatte auch seine Wirkung auf die Diskussion um die Organisation und Aufgabe einer spezifischen Kunst im Medium Rundfunk: weg von einem die Gegenständlichkeit der Realität abbildenden Betätigungsfeld, hin zu einem technischen Realitätsbegriff, der das spezifisch Hörbare selbst zum Thema werden ließ. Wesentliches Gestaltungsprinzip der musique concrète war, »dass der musikalische Wert der Elemente und der so gewonnenen, neu zusammengesetzten Klänge von deren Herkunft ganz unabhängig und nur an die Kriterien der hörenden Wahrnehmung selbst gebunden«22 ist. Ein Beispiel hierfür ist Schaeffers Stück Objets liés (1959)23, das zwar aus Geräuschen und Vibrationen konkreter Gegenstände collagiert ist, dessen Ablauf aber keine Rückschlüsse auf die Objekte selbst mehr zulässt. Dem gegenüber ist Luc Ferraris Konzept der Anekdotischen Musik zu sehen, mit dem Ferrari gerade durch die Verwendung konkreter Geräusche die »Erfahrung und Imagination der Hörer anzusprechen«24 suchte. Beispiele hierfür sind Presque Rien No. 1 (Lever du jour au bord de la mer) (1970), in dem der Beginn eines Morgens zur akustischen

22 Schaeffer 1967, 618. Vgl. auch Hörbeispiele auf der Schallplatte, FONO CE 31025. 23 Z.B. in einer neuen Version als Take 1 auf LP: Musique Concrète, Label: Candide, CE 31025. 24 Hansjörg Pauli, in: Begleittext zur Schallplatte Luc Ferrari, Avantgarde.

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Erfahrung gemacht wird, und das 1972 mit dem Karl-Sczuka-Preis ausgezeichnete Portraitspiel (SWF 1971), in dessen Verlauf Ferrari über das Gespräch mit einer Frau sich selbst in seinem Verhältnis zur Musik zu (v)ermitteln sucht, indem die Reflexionen in einen akustischen Kontext von elektronischen Klängen, Musikzitaten, Schreien, Geräuschen u.a. eingebunden werden. Die Authentizität des Materials und dessen Einbindung in musikalisch-akustische Verläufe machen diese Komposition zu einer Art Rede über Musik mit semantischen und musikalischen Mitteln. Allen zuletzt genannten Konzepten war die Absicht der Abkehr von einem als obsolet empfundenen Kunstbegriff gemeinsam. Die Experimente und deren Umsetzung zielten auf die Erweiterung des mit akustischen Mitteln Sagbaren und einen Gegenentwurf zum ›bürgerlichen Kulturbetrieb‹, der in der Kunst das dem Alltagsgeschehen Enthobene, Höhere zu entdecken glaubte. Parallel dazu sei das Aufkommen der Happening-Kultur in den 60er Jahren genannt, die in der Aufhebung der Distanz zwischen ästhetischem und realem Bereich emanzipatorisch wirken wollte. Wie im Happening Realität ästhetisiert wurde, so wirkte die Einbeziehung von Geräuschen, die gemeinhin Alltagsbezüge assoziieren lassen, in der Musik wider eine Kunstauffassung, die strikt zwischen Alltag und Kunstgenuss differenzieren zu müssen glaubte.

6. Neues Hören Nicht zuletzt bestand die Hoffnung, in der Musik wie auch im Hörspiel eine Hörerschaft zu erreichen, die zunehmend vom gängigen Konzertbetrieb unberührt blieb. Ein neues Hören durch die Konzeption einer voraussetzungslosen auditiven Komposition zu erwecken, musste auch im Interesse der Institution Rundfunk liegen, da so dem Publikumsschwund (spätestens seit den 70er Jahren und nicht zuletzt durch die Versorgung der Haushalte mit televisionärer Bilderunterhaltung, s.o.) durch eine Förderung spezifischer, radiophoner Qualitäten hätte entgegengewirkt werden können. Die Rundfunkanstalten nutzten die hier angezeigten Tendenzen der Neuen und der Elektronischen Musik für den Hörspielbereich jedoch sehr zögerlich. Die Initiative eines gattungsübergreifenden Radiokunstkonzeptes blieb überwiegend bei den Künstlern selbst und stellte sich von nun an als musiktheoretische Konzepte mit einbeziehende Kunstform dar. Knillis Entwurf des totalen Schallspiels Einen wichtigen publizistischen Beitrag zur Etablierung der Ars Acustica als eigenständige Radiokunstform leistet Friedrich Knilli 1961 mit seiner Schrift »Das Hörspiel – Mit-

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tel und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels«25 – ohne den Begriff der Ars Acustica bereits zu verwenden. Die akustische Anlage wird in seinem Entwurf zum einzigen Maßstab des Schallereignisses Hörspiel und deshalb im Begriff des totalen Schallspiels vom herkömmlichen Hörspiel abgegrenzt. Die Elemente des Hörspiels stehen nach seiner Vorgabe nicht länger in einer Beziehung zur Außenwelt, sondern sind in ihrer Materialität allein aufeinander bezogen. Darin sieht Knilli die Verwandtschaft zur Musik. Auch sein Entwurf des Schallspiels ist mit den skizzierten Veränderungen der Kulturlandschaft Deutschlands in den 60er Jahren (Fernsehen, elektroakustische Komposition, Abkehr von einem rein verinnerlichten Hören und Hinwendung zu multimedialer Agitation und synästhetischen Experimenten) eng verflochten. Karl-Sczuka-Preis Nicht als Einflussfaktor, der zu neuen Formen im Hörspielbereich führte, sondern in einer reagierenden Position der (nachträglichen) Auszeichnung musikalisch bzw. radiophon durchdachter Hörspielarbeiten ist der im Rahmen der Donaueschinger Musiktage verliehene Karl-Sczuka-Preis26 zu nennen. Durch das Anliegen, ein Forum der Neuen Musik mit experimentellen Produktionen im Hörspielbereich zusammenzubringen, reagierte man auf sich abzeichnende Tendenzen der Grenzaufhebung zwischen Formen der Neuen Musik und neuen Konzepten im Hörspiel, die als spezifische, radiophone Kompositionen angelegt waren. Obschon es sich bei den prämierten Werken überwiegend um Arbeiten handelt, die – wie es das Los vieler zeitgenössischer Kunst zu sein scheint – die Masse, im Sinne des Massenmediums Rundfunk, wohl niemals erreichen werden und zudem einer gewissen Vermittlung bedürfen, nimmt dieser Preis bis heute eine herausragende Position in der Welt der Radiokunst und Ars Acustica, oder allgemeiner: der Audioart, ein. Denn durch die Hervorhebung und Auszeichnung mindestens eines Werkes pro Jahr27 wurde und wird über die Jahre hinweg ein Katalog erstellt, der gerade die Bandbreite spezifisch radiophoner Kompositionen dokumentiert – das Feld der akustischen Kunst gewissermaßen absteckt, es aber mit jeder neuen Preisvergabe potenziell auch erweitert.

25 Knilli 1961. 26 Seit 1955 wird er für Hörspielmusiken verliehen. Seit 1970 zeichnet er explizit radiophone Kompositionen im heutigen Sinne der Ars Acustica aus und gilt derzeit als höchstdotierte Auszeichnung in diesem Bereich. 27 1969, 1978, 1980 und 1991 wurde der Preis nicht vergeben. Seit 1991 wird gelegentlich außerdem ein Förderpreis vergeben.

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Bedauerlich ist, dass die prämierten Stücke nicht individuell abrufbar sind. In Publikationen werden die Preisträger zwar dokumentiert28, die Hörstücke selbst bleiben über die gelegentliche, seltene Ausstrahlung in den Programmen regionaler Sender hinaus jedoch ungehört. Dass der Preis ein internationaler ist, erhöht seinen Einzugsbereich und damit seine theoretische Aussagekraft. Natürlich gibt es andere wichtige Preise, die ihren Teil zum vollständigen Bild aktueller Audiokunst beitragen29; indes ist der Karl-Sczuka-Preis eben Europas älteste und die mit der größten Kontinuität verliehene Auszeichnung auf dem Gebiet der experimentellen Radiokunst.30 Untersucht man die ab 1968 mit dem Karl-Sczuka-Preis ausgezeichneten Hörspiele mit Blick auf ihren theoretischen Ursprung, so entsteht der Eindruck einer – im Vergleich zur literarischen wie musikalischen – verzögerten Entwicklung. Wie oben gezeigt, sind die wesentlichen Konzeptionen und Kompositionsverfahren in der Neuen Musik bereits auf die ersten zwanzig Jahre nach Kriegsende zu datieren. Mit den 70er Jahren setzt hier bereits eine Umkehr ein – weg vom rein rationalen und zurück zu eher gefühlsbetonten, nach Publikumsnähe sowie Ausdrucksreichtum strebenden Konzeptionen. Hatte sich in der Experimentierphase der Neuen Musik gerade durch die Öffnung zu (anfangs) fremden Verfahren wie Collage und die Hinzunahme von Geräuschen eine Nähe zum Hörspielschaffen eingestellt, so kann die Besinnung auf traditionelle Gestaltungsweisen unter melodischer und harmonischer Ausrichtung als Prozess der »Remusikalisierung« und somit neuerlichen Entfernung vom Hörspiel ausgelegt werden. Im Hörspiel kann man indes Ende der 60er Jahre eine Innovationsbewegung ausmachen;

28 SWR-Schriftenreihe 2005. 29 Bspw. der einige Male vom WDR verliehene »Prix Ars Acustica«, der »phonurgia nova« in Frankreich sowie der »Radio Art works contest« im Rahmen des Festivals für zeitgenössische Musik CDMC in Alicante, 2008 zum 15. Mal vom Festival und RNE-Radio Clássica ausgeschrieben. Außerdem gibt es eine ganze Reihe renommierter Hörspielpreise (Prix Italia, Prix Europa, Prix Marulic u.Ä.), die in verschiedenen Kategorien verliehen werden und mitunter auch Arbeiten aus dem Umfeld der Ars Acustica hervorheben. 30 Der Vollständigkeit halber sei hier auch der »Hörspielpreis der Kriegsblinden« genannt, der zwar – wie dem Titel bereits entnommen werden kann – eine etwas anders gelagerte Ausrichtung hat, dennoch auch immer wieder avantgardistische Hörspiele hervorhob und somit zur Entwicklung des gesamten Genres wesentlich beitrug – etwa im Jahr 1968 Ernst Jandls und Friederike Mayröckers Hörspiel »Fünf Mann Menschen«.

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eine Annäherung an das Akustische geschieht nun von Seiten der experimentierenden Radio- und Hörspielmacher/innen. Dabei sind Techniken und vor allem die Ergebnisse einer Reflexion über den Wirkungsbereich der Neuen Musik wesentliche Bestandteile. Was zuvor als Grenzerweiterung oder Grenzgebiet in der Literatur oder der Musik aufgesucht wurde, schafft sich in der Gattung des experimentellen Hörspiels bzw. der Ars Acustica nun einen eigenständigen Raum. Der Ausdruck im Akustischen, den es in seiner Mannigfaltigkeit (mit Unterbrechungen) im Verlauf der Hörspielgeschichte zu entdecken galt, scheint mit seinen Grundbausteinen (Ton/Klang/Musik, Sprache/Sprechen und Geräusch) endlich etabliert und sucht nun Formen der komponierten Umsetzung. Neue Medien und Digitalisierung Mit der massenhaften Verbreitung des PC im auslaufenden 20. Jahrhundert explodierte auch die Zahl der auf dem Gebiet elektroakustischer Komposition Experimentierenden. Eine große Anzahl der entstandenen Produktionen zielte auf den Unterhaltungssektor und bediente bzw. revolutionierte u.a. die Club-Kultur. Audio-Lounges entstanden vielerorts, in denen ein Mix aus umgänglichen Beats, Klangflächen, musikalischen Strukturen und konkreten Geräuschen gespielt wurde. Ein Beispiel hierfür wäre die Ambient Music, die sowohl als akustische Tapete rein atmosphärisch wirken, als auch detailfreudig mit einer ausgereiften Materialästhetik explizit zum Hören anstiften kann. Mit diesen Entwicklungen in populären Bereichen fand so etwas wie die zweite Emanzipation konkreter Klänge in der Musik statt. In diesem Zusammenhang wurden Menschen für die Welt als einer auch klingenden sensibilisiert, die bislang weder der so genannten ernsten Musik, der elektroakustischen Komposition und musique concrète noch irgendwelchen Hörkunstformen jemals Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Damit erlangten sie zumindest potenziell auch die Grundvoraussetzung für ein ästhetisches und Alltäglichkeit ästhetisierendes Hören und die künstlerische Verarbeitung der hörbaren Welt, z.B. in Form der Ars Acustica. Große Klangkunstausstellungen taten das ihre zu einer Sensibilisierung der Bevölkerung für ihre Hörwelt im Alltag bzw. außerhalb der Medien. Explizit für eine ganze Reihe wichtiger Festivals seien an dieser Stelle die Berliner Festivals »Für Augen und Ohren«, 1980, und »sonambiente – festival für hören und sehen«, 199631, genannt. Eine Vielzahl

31 Das Festival »sonambiente« wurde 2006 wieder neu aufgelegt, um der Bedeutung der Stadt als Zentrum klangkünstlerischer Aktivitäten Rechnung zu tragen. Die Hochzeit der Klangkunst in Berlin war aber sicherlich in den 1990er und frühen 2000er Jahren, als zahlreiche Klang-Galerien zusätzlich zu den Festivals einen regelmäßigen Ausstellungsbetrieb garantierten und derart den Diskurs um die Klangkunst vorantrieben. Selbst der regionale öffentlich-rechtliche Sender SFB leistete sich in dieser Zeit

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von Installationen und den Stadtraum akustisch ausstellenden Arbeiten waren in Berlin verteilt und befanden sich teils an so exponierten Stellen, dass der Passant/die Passantin sie kaum überhören, bzw. übersehen konnte.32 Parallel zu diesen Entwicklungen änderten auch die Hörspielabteilungen stellenweise ihr Selbstverständnis. Sie wurden zu »Medienkunststätten«, die auch das Live-Ereignis außerhalb der Rundfunkhäuser und – im Falle des SFB33 – radiofremde Klanginstallationen für sich entdeckten. In manchen Fällen öffneten sie sich sogar der Club-Kultur. Schließlich begründete die massenhafte Verbreitung des PC auch zahlreiche neue Berufsbilder. Ehemals getrennte Bereiche der Produktion konnten nun – zumindest technisch – wieder zusammengefasst werden. Was zuvor auf dem Gebiet der elektroakustischen Komposition bereits relativ gebräuchlich war, fand jetzt auch Eingang in die Hörspielpraxis: Der Komponist oder Autor entwirft seine Werke nicht nur für eine Interpretation durch andere, sondern er selbst führt sein Werk bis zur Sendereife aus. D.h. er eint die Rolle des Autors, des Dramaturgen, Regisseurs und Produzenten – in Personalunion. Bereits in den 50er Jahren brachte die (elektronische) Musik diesen Typus des Musiker- oder Komponistenproduzenten hervor; in den letzten beiden Dekaden des 20. Jahrhundert kam nun noch der Autorenproduzent hinzu. Wobei die »vereinfachten« technischen Bedingungen noch nicht gleich einen ästhetischen Mehrwert garantierten, sondern zuallererst rein quantitativ den Zugang zu den Produktionsmitteln eröffneten.

die SFB-Klanggalerie und 2000 bis 2003 das monatliche Klangkunstmagazin »Sound Rules«, das das Ziel einer radiophonen Präsentation und Adaption der Klangkunst verfolgte. Mittlerweile hat sich der Nachfolger des SFB, der RBB, allerdings vollständig aus dieser Art Engagement zurückgezogen (s.u.). 32 Vgl. hierzu den Katalog »sonambiente – festival für hören und sehen«, hg. von Helga de la MotteHaber (1996). 33 SFB ist der frühere Sender Freies Berlin (heute Rundfunk Berlin Brandenburg). Manfred Mixner initiierte 1995 die SFB-Klanggalerie, die über zehn Jahre hinweg regelmäßig im Rundfunkhaus Klanginstallationen in Auftrag gab. Die Materialien der Installationen wurden dann für den Sendeplatz »Internationale Radiokunst« weiterentwickelt und als Radiokomposition gesendet. 2005 wurden die Klanggalerie und 2006 der Sendeplatz von der RBB-Leitung ersatzlos gestrichen.

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7. Radio heute: Radio-Institution, zeitgenössische Audiokunst und Ars Acustica Entgegen einer hier angedeuteten Sensibilisierung der »Massen« für hörbare Phänomene und deren ästhetische Verarbeitung zieht sich einer der wichtigsten Impulsgeber der Ars Acustica, das Radio, derzeitig stetig aus seiner Verantwortung für diesen künstlerischen Bereich zurück. Ob wie in Kanada, Australien, Holland oder zuletzt in Deutschland beim Rundfunk Berlin-Brandenburg die Sendeplätze radikal verschwinden, oder aber, wie bei anderen Anstalten, durch Etatkürzungen »ausgehungert« werden. Der längst zum eigenen Genre gewordene Ausdruck zeitgenössischer, nicht-musikalischer oder literarischer Hörkunst wird von den Rundfunkverantwortlichen weitestgehend ignoriert oder aus Unkenntnis eingespart – und droht nach erfolgreicher »Einsparung« zukünftig übergangen zu werden. So kann heute festgestellt werden, dass die Idee einer spezifischen Radiokunst das sie einst hervorbringende Medium überholt hat: Radiokunst und Ars Acustica sind zu einer eigenen Kunstform herangereift, die ihren Platz im Kulturbetrieb, auf Festivals, in eigenen Hörreihen, Clubs34 und online35 neben der bildenden Kunst, der Literatur und Musik behauptet. Dass die Anstalten sich der explizit radiophonen Kunst entledigen, gerade zu einem Zeitpunkt, wo ein neues, auch jüngeres Publikum für diese Bereiche entstanden ist, ist nicht allein bedauerlich oder widersinnig, sondern kann die Gebührenregelung in Deutschland (GEZ für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk) von ganz unerwarteter Seite wieder auf den Tisch bringen. Darüber hinaus droht neben dem Verlust einer die Mittel und Möglichkeiten des Mediums reflektierenden Werkstatt im Medium der Verlust einer anspruchvollen Hörerschaft außerhalb des Mediums, und das verspricht mittelfristig zum Problem des Rundfunks insgesamt zu werden. Perspektiven Generell lässt sich feststellen: Die Entwicklung nicht nur der Radiokunst, auch ihres Umfeldes geht weiter und berührt die unterschiedlichsten, auch medienfernen Bereiche. Das mag nicht zuletzt mit einer gewissen, bereits angedeuteten, Sensibilisierung der Menschen unseres Kulturraumes für den Hörsinn erklärt werden können, hat aber

34 Exemplarisch für zahlreiche Berliner Initiativen seien hier Thomas Gerwins akusmatische Aufführungen KlangWelten in der »unsicht-Bar« und radiotesla genannt, 2005 bis 2007 im Berliner medienlabor TESLA – ab 2008 im »Ausland«, siehe Tesla Veranstaltungsarchiv 2008. 35 Mehr hierzu siehe bspw. Breitsameter 2008.

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ebenso mit einer in manchen Bereichen zu beobachtenden, visuellen Überreizung der Menschen zu tun sowie mit den bislang relativ stiefmütterlich behandelten auditiven Möglichkeiten des Internets, bzw. der neuen Medien. Unter den vielen existierenden, nationalen wie internationalen Initiativen und Vorstößen seien im Folgenden einige wenige exemplarisch aufgegriffen, um die Bandbreite experimenteller Audio- bzw. Radiokunst zu veranschaulichen: Auf der Erfahrung der Feature- und Hörspielgeschichte aufbauend, gibt es im Spannungsfeld zwischen Hörbild, Hörfilm und journalistischer Dokumentation unter Einbindung neuester, mobiler Übertragungstechniken zunehmend nicht-kommerzielle Konzepte für Hörwege, bzw. Audiowege, die auf einen erweiterten Radiobegriff abzielen. Auf Initiative des Deutschlandradios wurde 2006 ein Audio-Blog unter dem Namen »Blogspiel« im Internet gestartet36 und 2008 zu »breitband-online« ausgebaut. Sowohl »Blogspiel« wie auch der Nachfolger »Breitband« widmen sich explizit frei produzierten und experimentellen Hörstücken, rufen zu Einsendungen auf und stellen unter den eingegangenen Stücken regelmäßig je eine Arbeit in einem eigens angesetzten Magazin im Programm des Deutschlandradios vor – ein Audio-Blog mit Radioanschluss. Ähnliche Vorstöße hat es seit 200037 immer wieder gegeben und es ist anzunehmen, dass sie eine neue Form der Kontaktaufnahme für junge Autorenproduzenten zu Redaktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks darstellen werden. D.h. umgekehrt, dass auch die Rundfunkanstalten sich zusehends für Audioaktivitäten im Netz öffnen – nicht zuletzt allerdings wegen erhoffter Einsparungen gerade im Produktionsbereich. Freie Initiativen wie die 2006 mit einer ersten CD an die Öffentlichkeit getretene pressplay-Edition38 wollen sich – neben dem bereits seit Jahren erfolgreichen Forum des Plopp-Wettbewerbs an der Adk-Berlin – zum Forum der Autorenproduzenten machen. Auf europäischer Ebene wird seit einigen Jahren der Aufbau eines Online-Archivs für internationale Radiokunst und ›ars acustica on demand‹ diskutiert. Was bislang an der

36 Blogspiel existiert seit Januar 2007 und ist modifiziert aufgegangen in Deutschlandradio Breitband (http://www.breitband-online.de/, 02.03.2008). 37 Zum Sommer 2000 initiierte die Hörspielabteilung des SFB zusammen mit der Akademie der Künste im Rahmen von »Z 2000«, einer Sommerspielinitiative Berlins, das erste freie und umfangreiche, mit einer Suchmaschine ausgestattete Samplearchiv aus dem Altgeräuschebestand der Hörspiel- und Featureabteilungen des SFB. Man schrieb einen Miniaturenwettbewerb aus. Die fünf besten Einsendungen wurden prämiert und im Rundfunk-Programm der »Internationalen digitalen Radiokunst« beim SFB ausgestrahlt. Mehr dazu siehe: hoerspielbox.de – das frei zugängliche Soundarchiv im Netz. 38 Vgl. Mairisch Verlag 2008.

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vor allem in Deutschland ungeklärten Rechteproblematik scheiterte, wird von einzelnen Ländern im nationalen Rahmen allmählich umgesetzt. Mit dem Jahr 2008 stellt das Studienzentrum für Künstlerpublikationen / ASPC39 eine erste Sammlung explizit radiokünstlerischer Arbeiten zusammen, die Sommer 2008 im Rahmen der Ausstellung »art on air« im Neuen Museum Weserburg Bremen präsentiert werden und anschließend über das ASPC-Archiv zugänglich sein sollen. In den letzten Jahren fanden besonders in Berlin mehrere Festivals statt, die sich ganz gezielt mit neuen Distributionswegen auseinandersetzten und (auch) mit junger Audioart sowie Radiokunst und Ars-Acustica-Entwürfen arbeiteten. 2007 versuchte auch die Akademie der Künste Berlin, die Tradition der »Woche des Hörspiels« wieder aufzunehmen, um aktuelle Hörspiele und Radiokunstproduktionen vorstellen und diskutieren zu können. Vielleicht im Bewusstsein der Unverzichtbarkeit experimenteller Anwendungen förderte auch der Hauptstadtkulturfonds40 Berlin seit 2004 immer wieder Radioprojekte. Eine umfassende Förderung bekamen 2006 das Radioprojekt »Radio 1:1« und 2007 das Festival »Radiovisionen – 250 Jahre Radio«41 im Umfeld des Tesla medienlabor. Mit dem an die Universität der Künste Berlin angebundenen deutsch-polnischen Künstlerradio »Radio_Copernicus«42, das 2005 über mobile Sendestationen in Stralsund, Warschau, Berlin und Wroclaw und online sendete sowie den »Radiorevolten«43 2006 in Halle erfuhren gar zwei Radioprojekte die Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes. Schließlich seien auch die Berliner Radiogruppierungen »für ein freies Radio«, organisiert in der »Radiocampagne«44 erwähnt – und festgestellt, dass auch das personalisierte Radioprogramm keine Zukunftsmusik mehr ist. Die Liste der hier aufgeführten Initiativen könnte noch z.B. um zahlreiche, mittlerweile in jeder größeren Stadt existierende Hörzirkel45 erweitert werden, mag an dieser Stelle

39 Vgl. Studienzentrum für Künstlerpublikationen 2008. 40 Vgl. Hauptstadtkulturfonds Berlin 2008. 41 Mehr dazu siehe: Radiovisionen – 250 Jahre Radio, 2008. 42 Radio_Copernicus (2005/2006), http://radio-c.zkm.de/radio-copernicus.org//de/index.html, 16.6.2008. 43 Vgl. Kupfer 2008. 44 Mehr dazu siehe Berliner Radiogruppierungen »für ein freies Radio« 2008. 45 Häufig angegliedert an städtische Theater, Literaturvereine, öffentlich-rechtliche Rundfunkhäuser oder ganz freie Träger und mitunter auch mit einem Ohr für experimentelle oder besondere Formen und Konzepte.

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aber genügen, um das breit gestreute Interesse und die offensichtliche Relevanz experimenteller Medien-, bzw. Radiokunst – weit über die Belange des Mediums hinaus – zu dokumentieren. All diese Beispiele gegenwärtiger Bemühungen um »Horizonterweiterung« – innerhalb der bestehenden Rundfunkstrukturen und darüber hinaus – weisen in Richtung einer Erneuerung des zunehmend in seinem Selbstverständnis angeschlagenen Apparates, nicht zuletzt mit den Mitteln visionärer Konzepte der Radio- und Medienkunst. Im Zuge dieser Entwicklung wird der Begriff des Radios sich erheblich wandeln. Einzig wichtig wird jedoch bleiben, dass die Fähigkeit des Zuhörens bis zur »Renaissance« des anspruchsvollen Programms nicht ganz verloren geht – womit der Kreis zur »Kunst des Radios« geschlossen ist.

8. Quellen Altmann, Günter (1984): Musikalische Formenlehre, München. Breitsameter, Sabine (2008): AudioHyperspace, in: http://www.swr.de/swr2/audiohyperspace/, 21.03.2008. Dahlhaus, Carl, Danuser, Hermann (Hg.) (1984): Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd.7: Die Musik des 20. Jahrhunderts, Regensburg. Deutschlandradio Breitband, http://www.breitband-online.de/, 02.03.2008. Döhl, Reinhard (1982): Nichtliterarische Bedingungen des Hörspiels, Habilitationsvortrag 23.5.1979. Druck in: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache in Forschung und Lehre. Jg. 32, H. 3, 154-179. Hier zitiert nach: http://www.uni-stuttgart.de/ndl1/ bedingun.htm#Rundfunkprogramm%20und%20H%F6rspiel, Kapitel: Übertragung und Aufnahme, Universität Stuttgart, 05.03.2008. Döhl, Reinhard (1988): Das neue Hörspiel (= Geschichte und Typologie des Hörspiels 5, hg. v. Klaus Schöning), Darmstadt. Döhl, Reinhard (1992): Das Hörspiel zur NS-Zeit (= Geschichte und Typologie des Hörspiels, hg. v. Klaus Schöning), Darmstadt. Drechsler, Nanny (1988): Die Funktion der Musik im deutschen Rundfunk 1933-1945, Pfaffenweiler. Eimert, Heribert, Humpert, Hans Ulrich (1973): Das Lexikon der elektronischen Musik, Regensburg. Friedrich Knilli (1961): Das Hörspiel – Mittel und Möglichkeiten eines totalen Schallspieles, Stuttgart. Hagemann, Carl (1928): Hörspielmusik, in: Funk, H. 22, 169; zit. n. Timper, Christiane: Hörspielmusik in der deutschen Rundfunkgeschichte, Diss., Berlin 1990, 29.

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Aus der Geschichte

Hauptstadtkulturfonds Berlin (2008): http://www.hauptstadtkulturfonds.berlin.de/, 02.03.2008. hoerspielbox.de – das frei zugängliche Soundarchiv im Netz, http://www.hoerspielbox. de, Andreas Hagelüken (Site-Inhaber, Koautor), 02.03.2008. Humpert, Hans Ulrich (1987): Elektronische Musik – Geschichte – Technik – Kompositionen, Mainz. Keckeis, Hermann (1973): Das deutsche Hörspiel 1923-1973, Frankfurt a.M. 1973. Klüppelholz, Werner (1976): Sprache als Musik – Studien zur Vokalkomposition seit 1965, Diss., Köln, Herrenberg. Kupfer, Thomas (Projektleit.) (2008): RadioREVOLTEN, http://www.radiorevolten.radiocorax.de/, 02.03.2008. La Motte-Haber, Helga de (Hg.) (1996): Katalog »sonambiente – festival für hören und sehen«, München, New York, Berlin. Mairisch Verlag (2008): pressplay – Die Anthologie der freien Hörspielszene, http:// pressplay.mairisch.de/, 02.03.2008. Pauli, Hansjörg: Begleittext zur Schallplatte Luc Ferrari, Avantgarde, Deutsche Grammophon 2561041. Prieberg, Fred K. (1960): Musica Ex Machina – über das Verhältnis von Musik und Technik, Frankfurt a.M., Berlin. Radiovisionen – 250 Jahre Radio, http://www.radiovisionen.de/, Johannes Wilms (SiteInhaber, Koautor), 02.03.2008. Schaeffer, Pierre (1967): Art. »Musique concrète«, in: Riemanns Musiklexikon, Sachteil d. 12. Aufl., Mainz. Schöning, Klaus (1997): Zur Archäologie der Akustischen Kunst im Radio, in: Klangreise – Studio Akustische Kunst – 155 Werke 1968-1997, hg. v. WDR, Köln. Studienzentrum für Künstlerpublikationen (2008): http://www.nmwb.de/nmwb_ deu/1tp_aspc.php, Neues Museum Weserburg, 02.03.2008. SWR-Schriftenreihe (2005): Grundlagen I – Akustische Spielformen: von der Hörspielmusik zur Radiokunst. Der Karl Sczuka-Preis 1955-2005, 2. erw. Aufl. Baden Baden. Tesla Veranstaltungsarchiv (2008): http://www.tesla-berlin.de, Moritz von Rappard (Redaktion), 02.03.2008. WDR-Studio (1997): Akustische Kunst, 155 Werke, 1968-1997, Köln. Würffel, Stefan Bodo (1978): Das deutsche Hörspiel, Stuttgart.

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Ist Klang das Medium von Musik? Zur Medialität und Unmittelbarkeit von Klang in Musik Elena Ungeheuer

Alles in allem verhält sich die Medientheorie zur Philosophie im Allgemeinen etwa so wie die feministische zur allgemeinen Ethik. Die feministische Ethik ist keine neue Disziplin neben der herkömmlichen Moralphilosophie, aber sie leistet einen wichtigen Dienst als ein Korrektiv der bisherigen Ethik. Ihre Aufgabe ist es, den Blick zu verändern, um Verzerrungen und Verzeichnungen wahrnehmen zu können, die durch die Privilegierung männlicher Perspektiven in der Ethik entstanden sind und weiterhin entstehen. Ist sie erfolgreich, so bereichert sie ein ganzes Feld der Betrachtung, indem sie eine Veränderung der Art dieser Betrachtung bewirkt. Eine analoge Veränderung zu bewirken, ist die Aufgabe einer Philosophie der Medien. Sie soll das Bewusstsein wecken und vertiefen, wie sehr und wie weit die Praxis der Menschen – außerhalb wie innerhalb der Wissenschaft – eine mediale Praxis ist.1 »Spektralmusik«, »Exotismus und Meditation«, »Klangkomposition«, »Dialektisches Komponieren«, »Kammermusik«, so lauten – wahlweise herausgegriffen – Kapitelüberschriften zu Ulrich Dibelius’ Moderne Musik II. 1965-1985 2 und Helga de la Motte-Habers Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1975-2000 3. Sie ergeben ein bemerkenswert heterogenes Bild musikalischer Gattungen, Kategorien des Komponierens oder auch musikalischer Stile, deren Kriterien (Aufführungskontext, kompositorische Methode, Nutzung, sozialkritischer Bezug u.a.m.) kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu brin-

1 Seel 2003, 14f. 2 Dibelius 1988a. 3 La Motte-Haber 2000.

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gen sind. Insbesondere Bezeichnungen wie »Klangkomposition« provozieren zu weiteren Fragen. Gibt es eine Musik, die sich mehr, intensiver und expliziter mit Klang befasst als andere? Ist »Klang« nicht immer dasjenige, worum es in Musik geht? Um welchen Klang geht es in welcher Musik? Antworten suchend wollen wir nicht den Weg des freien Philosophierens beschreiten, sondern möglichst nahe an dem bleiben, wie Musik gemacht wird. Das erfordert eine pragmatische Formulierung der Untersuchungsfrage, nämlich: Wie wird mit Klang in Musik umgegangen?

1. Was ist »Klang«? Auch wenn der Umgang mit Klang als das Tertium comparationis gelten soll, das den Kategorien der Musikgeschichtsschreibung zu fehlen scheint, kommen wir um eine Grundbestimmung von »Klang« nicht herum. Was bezeichnet »Klang«? Das Unspezifische dieses Begriffs prädestiniert ihn nicht gerade für musikästhetische Vergleiche. Aktuell beobachtbare Ansätze, mithilfe der Termini »Klang« oder »das Sonische« gerade über den Grad ihrer Abstraktheit eine Qualität des Objektiven oder Universalen zu etablieren, verdeutlichen einen zeitgemäßen Wunsch, der postmodernen Pluralitätsdebatte mit dem Gegengewicht der Unrelativierbarkeit zu begegnen4. Vielleicht zeigt überdies der internationale Druck, sich der Darstellungsnorm des Konferenzenglisch zu beugen, mittlerweile inhaltliche Wirkung. »Klang« ist in der muttersprachlichen Bedeutung nicht ohne weiteres übersetzbar. Als ein unterdeterminierter Begriff, der für sich genommen nichts mehr bezeichnet als die Wirkung von Schallwellen auf das Hörorgan, steht »Klang« nicht für eine Universalgestalt, die als Basisform aller Klangphänomene gelten kann. Das periodisch sich Wiederholende, das Ephemere, das Ein- und Ausschwingende sind nicht fundamentale Eigenschaften der Sinneswahr-

4 Vgl. die Formulierungen im Call for Paper zur 10. PopScriptum-Plattform »Das Sonische – Sounds zwischen Akustik und Ästhetik« (Schriftenreihe herausgegeben vom Forschungszentrum Populäre Musik der Humboldt-Universität zu Berlin): »Das Sonische – Sounds zwischen Akustik und Ästhetik will die Tauglichkeit der methodischen Distinktion Schall/Klang/Musik für die Analyse von (populären) Musikformen überprüfen. Der bisher nicht systematisch bedachte Begriff des Sonischen lässt sich dabei auf der Ebene des Klangs, also zwischen diskursiv konstituierter Musik und rein physikalischem Schall verorten.« (http://www2.hu-berlin.de/fpm/popscrip/themen/pst10/Popscriptum_10. htm, 3.12.2007).

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nehmung Klang, sondern Eigenschaften der physikalisch definierbaren Größen des Schalls (Schallquelle, Schallwelle, Schallausbreitung). Wie Schallwellenanordnungen klingen, lässt sich psychoakustisch und phänomenologisch bestimmen. Die hörbaren Gestalten konkreter Klänge sind klassifizierbar, beschreibbar, nicht hingegen die abstrakte Kategorie »Klang«. Anders verhält es sich mit dem beides integrierenden englischsprachigen Terminus »sound«, der sowohl für »Schall« als auch für dessen psychoakustisches Pendant »Klang« verwendet wird und nicht in das Dilemma führt, sich eine Art »ungestaltete Urgestalt« vorstellen zu müssen. Bleiben wir bei »Klang«. Was lässt sich über eine solcherart unbestimmte Erscheinung überhaupt aussagen? Wie pauschal darf ein Kriterium, das zur Unterscheidung des Musikalischen dienen soll, sein, um noch nachvollziehbare Differenzierungen vorzunehmen? Indem wir im vorliegenden Kontext nicht fragen, was Klang in Musik ist, sondern wie mit Klang in Musik umgegangen wird, zeigt sich, dass es gerade Musikstile unterscheidet, wie Klänge kompositorisch konkretisiert, spezifische Klanggestalten geformt und Klangkonzepte entwickelt werden, aus denen sich Handlungsanweisungen für das Gestalten, das Zulassen und das Verhindern von Klängen ableiten lassen. Das bedeutet nicht, »Klang« stelle eine irrelevante Kategorie für die Musik dar. Doch der Zusammenhang »Klang« und »Musik« ist eher diskursiv als phänomenal. Mit der (noch) Nicht-Gestaltetheit von Klang verbindet sich ein stilübergreifend bedeutsames ästhetisches Ideal der Unmittelbarkeit, und zwar nicht im Sinne eines Niemals-Gestaltet-Seins, sondern im Sinne eines Nicht-Vermittelt-Seins. Damit kann das Nicht-von-Menschenhand-geformt-Werden gemeint sein oder auch das Nicht-durch-eine-Vorschrift-verordnet-Sein oder das Nicht-von-Medien-abhängig-Sein. In »Klang« kreuzen sich manipulative und diskursive Intentionen des Ästhetischen, mündet mediales Tun in die Vorstellung vormedialen Seins.

2. Ist Klang das Medium von Musik? Welche Rolle wird Klang für Musik zugewiesen? Eine (vor)schnelle Antwort, die eine Vergleichsebene für die unterschiedlichen Musikformen suggeriert und gängige Klischees berücksichtigt, gäbe die Definition: »Klang ist das Medium von Musik«. In dieses Bild lässt sich der Komponist integrieren als derjenige, der etwas Musikalisches mithilfe von Klängen schafft und gleichsam ausdrückt, und der Hörer als derjenige, der die ästhetische Botschaft des Komponisten den Klängen als Medium von Musik wieder entnehmen kann. In medienwissenschaftlicher Hinsicht entspricht diese Formulierung allerdings nicht dem State of the Art. Längst beschränkt sich das Konzept »Medium«

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nicht länger auf die Modellierung kommunikativer Vorgänge mit nachrichtenübertragungstechnischen Prämissen gemäß des Sender-Empfänger-Modells. In den medienphilosophischen Diskursen der letzten Jahre hat das Medium seine exklusive Funktion als Transportinstrument preisgegeben, und damit an Flexibilität und Differenziertheit gewonnen5. Aus dem breiten Spektrum medienphilosophischer Definitionsangebote sei ein Vorschlag ausgewählt, der entwickelt wurde, um die Besonderheit der der Musik in gewissem Sinne verwandten Kunstgattung Film herauszuarbeiten. Joachim Paech fixiert das Medium zwischen dem filmerzeugenden Apparat und der aus diesem resultierenden Kunstform »Film«. Die Formungsbedingung Film liegt, so Paech, in seiner Besonderheit des Bewegungsbilds: Im Zentrum des spezifisch Kinematographischen steht ein Differenz-Effekt, der mechanisch apparativ durch eine Abfolge von Bildern hergestellt wird, die sich in einer Weise voneinander unterscheiden, dass die Illusion von Kontinuität oder Bewegung entsteht. [...] Das Bewegungsbild ist ein kontinuierliches Bild von Formen, das durch eine diskontinuierliche Abfolge von Differenzen formuliert wird.6

3. Übersetzende Medien im Film und in der Musik Das Paechsche Konzept, das Medium Film als Formungsbedingung anzusehen, die den Film als Kunstwerk prägt, lässt sich nicht ohne zusätzliche Differenzierungen auf Musik übertragen. Was wäre die Formungsbedingung der Musik? Wenn man von »Musik« spricht, werden damit noch keine apparativ-produktiven Gegebenheiten präzisiert, aus denen spezifische Formungsbedingungen resultieren. Musik erklingt mithilfe von Musikinstrumenten, Alltagsgegenständen, Computern oder Synthesizern u.a.m. Jedes der musikalischen Produktionsinstrumente funktioniert anders. Dennoch liefert die Übertragung des Paechschen Medienbegriffs auf Musik eine sinnvolle Basis für weitere Betrachtungen, wenn es gelingt, von seinem konkreten Beispiel einer Literaturverfilmung zu abstrahieren.

5 Aus der Vielfalt medienphilosophischer Abhandlungen seien einige herausgegriffen, die pragmatische Aspekte des Umgehens mit den Medien berücksichtigen. Sandbothe 2001; Schmidt 2000, v.a. Kap. 6, »Vorschläge für ein integratives Medienkonzept«, 93-104; Krämer 2003; Vogel 2005. 6 Paech 2008, 13.

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Paech sagt: Etwas (A, z.B. ein Roman) wird mithilfe des Mediums (FB, Formungsbedingung Film) zu etwas anderem (B, eine Literaturverfilmung). A

FB

B

Wir haben es also mit Formungsbedingungen zu tun, die zum Zweck der Übersetzung aktiviert werden, nennen wir sie FBÜ. Wo finden übersetzende Formungsbedingungen Einsatz in der Musik? Alle genannten Produktionsinstrumente sind Klangerzeuger, die auf je eigene Weise Klänge formen. Hier lässt sich eine wörtliche Entsprechung zu dem apparativ bedingten Medium Film erkennen. Diese Formungsbedingungen wurden allerdings im Abendland lange Zeit in der Hierarchie musikalischer Wertigkeiten als sekundär gegenüber der Festlegung der Tonhöhe und der Tondauer eingestuft. Berücksichtigung erfuhren die Formungsbedingungen, die einen Klang entstehen lassen, als Erzeugungsbedingungen von »Klangfarbe« in akustischen Forschungskontexten. Als epochemachende »Emanzipation der Klangfarbe« fasst die Musikgeschichtsschreibung verschiedene Ansätze der Musik seit dem 20. Jahrhundert zusammen, die dem Klang formenden Bedingungen einen ästhetisch und kompositionstechnisch relevanten Rang einräumten (Orchestrierung seit Berlioz, Ausbau des Schlagwerks, elektroakustische Musik, Klangkompositionen und so fort). Die Formung von Klängen durch die sie erzeugenden Instrumente erhält eine mediale Bedeutung allerdings erst, wenn sie etwas übersetzt, etwa einen Strukturplan, ein kompositorisches Konzept. Dazu bedarf es einer Ausweitung der Modellierung, wie sie gleich vorgenommen wird. Das vom Klangerzeuger Geformte ist im Falle europäischen Komponierens seit dem Mittelalter nicht klingende Musik, sondern es sind in Form von Stimmen oder einer Partitur niedergeschriebene Symbole für Klänge und Klangfolgen bzw. für die Art, wie die Klänge instrumentell zu erzeugen sind (z.B. in der Lautentabulatur). Man könnte ein Pendant zur Partitur im filmischen Drehbuch erkennen, das schließlich durch den Filmapparat zu den bewegten Bildern geformt wird. Doch schon die Partitur, die dem medialen Prozess der Klangerzeugung in einem veritablen Akt der Übersetzung unterzogen wird, ist ihrerseits medial geformt. Es muss also eine zweite Sequenz modelliert werden, um zur Partitur zu gelangen. Die Klänge und Klangfolgen, die das Werk ausmachen (A), werden zur Partitur (B) geformt. Die Formungsbedingungen für diese Übersetzung liefert das Notationssystem. A

FBü

B (Partitur)

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B

FBü

C (klingende Musik)

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In beiden Modellsequenzen liegt eine Übersetzung, also ein medialer Formungsprozess vor. Doch ist das Notationssystem, dem die Formungsbedingungen entspringen, die die Partitur prägen, kaum als Apparat zu bezeichnen. Was verbindet Apparate mit einer Kulturtechnik wie Schrift? In einem Apparat kann ein Idealtypus eines bis auf Minimalbedingungen einer Abhängigkeit von der Umwelt (z.B. Stromzufuhr) autarken und produktionsfähigen Systems gesehen werden, dessen Regelwerk dasjenige, was produziert wird, formt. Apparateigene Formungsbedingungen nennen wir erzeugende Formungsbedingungen (FBE). Ein Apparat, der schlichtweg funktioniert, erzeugt seinen spezifischen Output. Erst die Übersetzungsleistung macht die erzeugenden Formungsbedingungen zu einem Medium. Jetzt wird erkennbar, dass Paech ein pragmatisches Medienkonzept verfolgt, das Medien aus dem spezifischen, nämlich übersetzenden Umgang mit erzeugenden Formungsbedingungen entstehen lässt. Abstrahieren wir vom Apparat, der Formungsbedingungen hervorruft, seine Funktion als Regelwerk, so eröffnet sich eine Achse, die es uns erlaubt, neben Apparaten Kulturtechniken wie Schrift und Zahlensysteme oder schließlich auch andere Regelwerke als Quelle für Formungsbedingungen vorzustellen. Wir gelangen von der apparativen über die symbolische zur konzeptuellen Ebene. Dies ist für Kunstkontexte ausgesprochen wichtig, entfaltet das Ästhetische seine Bindungskraft doch aus dem Ineinander von Sinnlichkeit und Sinn, dessen Substrat in der künstlerischen Idee, in der zugrunde liegenden Metapher oder im übergeordneten Modell, in der Botschaft oder in der strukturellen Logik des Werks, und damit auf einer geistigen Ebene zu suchen ist. Die konzeptuelle Ebene des Kunstschaffens stiftet Formungsbedingungen für das Kunstwerk, unabhängig davon, wie bewusst das Konzept etwa dem Komponisten selbst ist, und unabhängig davon, ob das Konzept als schlüssiges Gesamtsystem ausgereift ist oder ein Konglomerat von Einzelvorstellungen und Teilkonzepten ergibt. Jetzt lässt sich auch die für die angestellten Überlegungen zentrale Frage beantworten, wie die Formungsbedingungen für Klang auch medial wirksam sein können. Klang wird ästhetisch relevant vermittels der konzeptuellen Arbeit, die klangliche Erzeugungsbedingungen in Formungsbedingungen für die Werkstruktur übersetzt. In derselben Weise engagierte sich etwa Sergej Eisenstein, als er aus der apparativen Notwendigkeit, im Film zu schneiden und zu montieren, eine Montageästhetik z.B. des sich verselbständigenden Schnittrhythmus entwickelte, die seine Drehbücher prägte. Die Fähigkeit, in ästhetischen Konzepten einen werkspezifischen Zusammenhang für Kunst zu generieren, liegt nicht zuletzt darin begründet, dass Konzepte sich eignen, heterogene Zusammenhangskonstruktionen zu amalgamieren. Musikalische Konzepte integrieren möglicherweise Klingendes und Nicht-Klingendes, sie beziehen apparative Formungsbedingungen ein oder richten sich auf musikfremde Systeme bzw. Modelle aus unterschiedlichsten Disziplinen (z.B. Selbstähnlichkeitsketten der Chaostheorie oder

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Wahrscheinlichkeitsprozesse der Physik). Oder sie stilisieren performative Bedingungen der Musik wie Instrumentalpraxis oder kommunikative Prozesse. Es gibt derzeit noch keine systematisch vergleichenden Untersuchungen zur konzeptuellen Arbeit von Komponisten; in Werkanalysen und Komponistenmonographien findet diese Erwähnung als werkspezifische Poetik oder als Individualstil des Komponisten. Die Experten streiten sich darüber, was dabei originär hervorgebracht wird, sich also erzeugenden Formungsbedingungen verdankt, oder was übersetzt wurde, also übersetzenden Formungsbedingungen folgt (vom Klang ins visualisierte Modell oder vom visualisierten Modell in Klang, vom Gefühl in Zahl oder unmittelbar in Zahl gedacht). Die komplexe Verschränkung akustischer wie allgemein sinnlicher, mentaler, produktiver, performativer und diskursiver Aspekte, die Musik ausmachen, erschwert die medienkritische Analyse kreativer Vorgänge, zumal sich ihre synthetische Natur oftmals der Zerlegung verweigert. Es bleibt die Herausforderung, eine medienwissenschaftliche Musikanalyse in hinreichend feiner Auflösung der Betrachtung zu betreiben, um die verschiedenen Ebenen des Musikalischen und ihre gegenseitigen Formungen zu erkennen. Dem Gesagten folgend, müssen wir noch eine konzeptuelle Formungssequenz, in der Konzepte bzw. Regelwerke des Komponierens erzeugende bzw. übersetzende Formungsbedingungen generieren, unserem bisherigen Medienmodell vorschalten. X FBü A (Werkstruktur)

A FBü B (Partitur)

B FBü C (klingende Musik)

Diese Modellierung wird nicht dadurch entkräftet, dass in vielen Fällen die Werkgenese und die Partiturgenese nicht zeitlich aufeinander folgen, sondern zusammenfallen. Es bleibt für die Modellierung von erzeugenden und übersetzenden Formungsbedingungen wichtig, die Formungsebenen getrennt zu benennen. Die Werkstruktur A wird also durch ein Regelwerk X strukturiert. In Musik formt ein Regelwerk die Werkstruktur, ob diese aus dem komplexen Tonsatz einer Sinfonie oder nur aus einem einzigen Ton besteht, der eine bestimmte Dauer, Klangfarbe und Lautstärke aufweist. Das Regelwerk erzeugt entweder Formungsbedingungen fürs Werk oder mithilfe des Regelwerks wird etwas in die Werkstruktur übersetzt. Dieses Etwas kann ein Modell sein, ein Bild, eine Erzählung oder eine Zahlenkonstruktion. Ein unstrittiger Fall des Übersetzens ist mit der Tonmalerei gegeben, wenn außermusikalische Gestalten mithilfe musikalischer Zeichen »vertont« werden. Metaphorisch wird dieser Übersetzungsvorgang auch für die Musikalisierung von Seelenregungen, Gefühlen und geistigen Botschaften des Komponisten angenommen. Trotz der Klischeevorstellung, dass Musik alles auszudrücken in der Lage sei, nimmt Musik niemals das Wesen einer Sprache im Sinne der Verbalsprache an; expliziten Übersetzungsvorgängen wie etwa zeichenhaften Verweisen auf Außermusika-

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lisches kommt immer eine Sonderrolle in Musik zu. Die musikalische Praxis zeigt, dass häufig beide Bedingungsvarianten, die erzeugenden und die übersetzenden, kompositorisch genutzt werden. In das musikalische Kombinationsspiel mit den Erzeugungsbedingungen des kompositorischen Systems werden stets neue mediale Umformungen eingearbeitet. Dies kann zu musikalischen Zeichen führen, zu Verweisen (»Musik über Musik«), zu ironischen Brechungen durch ästhetische Selbstreflexion. Die musikalischen Zeichen fallen im Verlauf eines Werks wieder in den Status der Unmittelbarkeit zurück, werden als nicht vermittelnde Struktur weiterentwickelt. Musikalische Konzepte liegen keineswegs immer in endgültiger, abgeschlossener Weise vor, bevor die Werke geschrieben werden. Vielmehr wirken die kompositorischen Besonderheiten der Werke ihrerseits formend auf die Konzepte ein und treiben so Musikgeschichte voran. Gerät die konzeptuelle Arbeit des Komponisten besonders eigenständig, gilt sie in der Musikgeschichte als Setzung. Setzungen spielen in unserem musikalischen Medienmodell die Rolle von Konzepten, die weniger bereits bestehende Regelwerke reflektieren, also vom Gewesenen ins Aktuelle übersetzen, sondern abgekoppelt vom Tradierten unmittelbar erzeugend wirksam werden. Konzeptuelle Setzungen stellen eine ihnen eigene formende Unmittelbarkeit einer anderen Unmittelbarkeit entgegen, nämlich derjenigen, die ein bestehendes System ausstrahlt, wenn es in immer neuen systemeigenen Varianten aktualisiert wird. Das Komponieren etwa im Regelwerk der Dur-Moll-Tonalität bewirkte lange Zeit diesen Eindruck von Unmittelbarkeit im Sinne der Natürlichkeit einer gewachsenen Sprache. Bei der kompositorischen Arbeit mit Tonalität kann man sich auf tradierte Klangkonzepte verlassen, die auf harmonischen Obertonverhältnissen und den aus ihnen abgeleiteten Intervallproportionen beruhen. Unterschiede der tonalitätsorientierten Klangkonzepte finden sich im Bereich der Dissonanzdefinition, was mit Stimmungsfragen und Vorschlägen zur Unterteilung der Oktavskala (Mikrotonalität) einhergeht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden qua konzeptueller Setzungen andere Erscheinungen von Unmittelbarkeit angestrebt, oftmals als Unmittelbarkeit des Klanglichen. Dazu wurde »Klang« konzeptuell geformt bzw. exklusiv gestaltet. Um diese Unmittelbarkeit zu erreichen, bedarf es medialer Vorgänge. Die Klangkonzepte der Neuen Musik übersetzten vielfach aus nicht unbedingt neuen, aber bislang nicht in dieser Weise für musikalische Arbeit berücksichtigten Formungsbedingungen anderer Vorstellungswelten. Um dieser Beobachtung im Einzelnen nachzugehen, brauchen wir ein Verständnis von demjenigen, das das Mediale in der Musik kompensiert, nämlich dem Konzept der Unmittelbarkeit.

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4. Vom notwendigen Gegenüber des Medialen: die Unmittelbarkeit Unmittelbarkeit ist für Kunst eine mindestens ebenso wichtige Kategorie wie das Mediale. Sie ist nicht als Verfahrensrealität beobachtbar wie mediale Prozesse, sondern stellt eine Qualität, einen Zielzustand dar. Als ein solcher ist Unmittelbarkeit eine primär diskursive Größe, die in allen Bereichen des Ästhetischen verortet wird: Es gibt konzeptuelle wie apparative, produktive wie rezeptive Ideale der Unmittelbarkeit. Die Qualität des Unmittelbaren wird als gegeben angenommen oder strategisch generiert. Was meint Unmittelbarkeit? In den Seminaren einer südkalifornischen Universität, so berichtete ein befreundeter Professor, der vor wenigen Jahren von Deutschland aus dorthin berufen wurde, fiele es auf, dass die Studierenden nicht imstande wären, im Gespräch ein persönliches Feedback zu geben. Wenn sie im Seminar aufs Gesicht zu gefragt würden, ob sie dieses oder jenes verstanden hätten, oder was ihre Meinung zum Thema wäre, erfolge keinerlei Reaktion. Was hingegen immer funktioniere, sei ein vermitteltes Feedback: das Beantworten von Multiple-Choice-Fragebögen, die Positionierung eines Ratings auf angebotenen Skalen, das Betätigen von Buttons im Stile von TED-Befragungen würden stets ohne Zögern ausgeführt. Dieselbe Abhängigkeit von vorgeformten Formaten gelte auch für die standardmäßige Evaluation der Lehrperson und ihrer didaktischen Fähigkeiten am Ende eines Seminars, die – in einer merkwürdigen Diskrepanz zur mangelnden kritikübenden Eigeninitiative während der Seminarsitzungen – mit großer Emphase stattfände. Die Zusammenhänge dieses Befunds mit Ausprägungen posthumaner Gesellschaftsformen, deren Verhaltensideale an Massenmedien geschult sind, lassen sich an dieser Stelle nicht erörtern. Was das beschriebene Phänomen für medienwissenschaftliche Betrachtungen bedeutet, liegt eher in der Sinnfälligkeit der zugrunde liegenden Gegenüberstellung von natürlich-sprachlicher, unmittelbarer Äußerung (hier als frei formuliertes mündliches Feedback) und der medial vermittelten Äußerung (hier als Ausfüllen einer vorgeformten Antwortmöglichkeit auf gestellte Fragen) begründet. Genau betrachtet geht es um eine infinitesimale, immer feiner und unanschaulicher werdende Annäherung vom Extrem medialer Vorformung hin zum Phänomen der Unvermitteltheit oder Unmittelbarkeit. Der Pol des Medialen ist anschaulich. Das Mediale der Übersetzung eines Romans durch einen Film in der Literaturverfilmung offenbart sich unanzweifelbar: Eine Textvorlage erhält ein neues Erscheinungskleid, apparativ durch die Bewegungsbilder und konzeptuell durch die Schnittästhetik des Films geprägt. Der Film gilt dann als das Medium für die Literatur. Gehen wir einen Schritt höher auf der Infinitesimalskala: War der Roman auch schon eine mediale Vermittlung von etwas anderem? Das Medium Schrift als Kulturtechnik, kombiniert mit dem Medium Buchdruck, scheint den in dem Roman dramaturgisch angeordneten Gedanken und Beschreibun-

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gen bereits eine bestimmte Prägung mitgegeben zu haben: Kapiteleinteilung, Überschriften, Leserichtungen, Linearität (gegenüber einem Hyperlink-Medium), eventuell Positionierung von Abbildungen. Man könnte die Reihe der Beobachtungen fortsetzen und fragen, ob die Sprache, die da in buchfähige Schrift gesetzt wurde, ihrerseits schon mediale Formungsbedingungen für die Gedanken und Beobachtungen darstellte. Wie eindeutig bestimmbar sind die Wortbedeutungen in einer Sprache oder auch: wie reichhaltig der Fundus ihrer mehrdeutigen (poetischen) Verflechtungen, wie wirkt sich Sprachklang auf Wortwahl aus (etwa durch Alliteration), welche Jargons evozieren welche Sprachkontexte usw.? Neben Schrift als Medium auch Sprache als Medium zu akzeptieren, mag noch einleuchten. Nichtsdestotrotz ist damit schon ein Bereich der Unanschaulichkeit berührt: Wo drückt sich Vorsprachliches in der Narration aus, und wo generiert die Narration die ihr eigenen narrativen Formen. Wer vermag hier noch mit dem Lineal die Grenze zwischen Unsprachlichem, das durch Sprache medial vermittelt wird, und sprachlicher Unmittelbarkeit des Ausdrucks zu ziehen? Zahlreiche Diskurse um musiksprachliche Gestaltungsqualitäten operieren mit dieser Gegenüberstellung. Selbst wenn die Grenze zwischen Unmittelbarkeit und Vermitteltheit in Kunst nicht klar fixierbar ist, erfüllt sie eine wichtige diskursive Funktion. Die medienkritische Betrachtungsmethode, die uns aufzeigen soll, wie in der Musik mit Klang umgegangen wird, bedarf selbst der Kategorie des Unmittelbaren. Denn dasjenige, was die Rede vom Medium ausmacht, dass das Medium nämlich seine Bedingungen dem Vermittelten als Bedingtheit weitergibt (als Prägung, als Formungsbedingung), erhält seine Bedeutung erst vor dem Hintergrund des Unvermittelten, des bedingungslos Da-Seienden. Unvermitteltes und medial Vermitteltes bilden ein nicht hintergehbares Spannungsfeld für Kunsttheorie; Musik lässt sich hinsichtlich medialer Vorgänge analysieren, wenn damit der Diskurs um ihre je spezifische Unmittelbarkeit eröffnet wird. Und dieser entzündet sich meist am expliziten oder impliziten Klangkonzept.

5. Unmittelbarer Klang als Leitidee medialer Prozesse in Musik Musik ist ein komplexes Phänomen, das über die gängige Dreiteilung in produktive, aufführende und rezeptive Bereiche hinaus noch feingliedrigere Differenzierungen eines Felds ästhetischer Praxis aufweist. Unter anderem erscheint es notwendig, im Bezug auf die Werkgenese konzeptuelle, organisatorische, kompositorische (im Sinne von in der Zeit anordnenden) und produktive (im Sinne von klangerzeugenden) Handlungen zu unterscheiden. Ebenso differenziert muss auch die Untersuchungsfrage gestellt werden: In welchem musikalischen Bereich, auf welcher Ebene kompositorischer Arbeit, im Zuge

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welcher produktiven, ausführenden oder rezeptiven Handlungen wird Unmittelbarkeit angestrebt und mithilfe welcher medialer und anderer Verfahren wird sie erreicht? Es lassen sich verschiedene Typen klanglicher Unmittelbarkeit voneinander unterscheiden. Generative Unmittelbarkeit: seriell-elektronische Musik7 Serielles Komponieren gilt als Inbegriff des Konstruktiven, des durch abstrakte Konzeptionen Gesteuerten in der abendländischen Musik. Dabei wird mangels systematischer Vergleiche musikalischer Konzeptionen oft übersehen, wozu die ausgeprägte konzeptuelle Arbeit den Komponisten serieller Musik dient, nämlich Systeme zu installieren, die mit der ganzen Dynamik des Unmittelbaren die ihnen eigene Klangwelt zu entfalten vermögen. In unserem Kontext interessiert diesbezüglich vor allem, wie apparativ erzeugte Formungsbedingungen die serielle Klangkonzeption selbst mitgestalten, und wie ein medialer Austausch zwischen konzeptuellen, das Klangmaterial organisierenden und – im Falle seriell-elektronischer Musik – die Tonbandmusik realisierenden Arbeitsbereichen verwirklicht wird. Die poietische Verschmelzung der unterschiedlichen Tätigkeiten, die das jeweilige Werk hervorbringen, verortet der gängige musikästhetische Diskurs als integrativen Anspruch seriellen Komponierens, Makro- und Mikrodimensionen des Klanglichen miteinander zu verbinden. Folgerichtig wird serielle Musik als eine Kunst wahrgenommen, deren Sinn in einer komplexen Konzeptualisierung liegt, deren Output, das Werk als hörbare Struktur, weniger relevant sei als ihre generative Logik. Was dabei ausgeblendet wird, ist das primäre Interesse serieller Komponisten an unmittelbarer Sinnlichkeit der Klangerscheinung. Und es ist gerade die mediale Verflechtung konzeptueller und organisatorischer Arbeit seriellen Komponierens, bei der die (apparative) Klangrealisation mit den Prinzipien der Klangkonzeption aufs Engste abgeglichen wird, die die Stringenz der Werke und ihr Vermögen, immer neue Facetten des Klangmöglichen zu zeigen, garantiert. Dabei geht es um dieselbe generative Unmittelbarkeit, wie sie der Tonsprache eines Komponisten wie Mozart konzediert wird. Die Individualstile oder auch werkspezifischen Stile seriellen Komponierens verfolgen in ihrer Sprachlichkeit allerdings weniger Prinzipien der entwickelnden Variation, der thematischen Arbeit oder der harmoniegebundenen Rhythmik, wie sie klassisch-romantische Musik kennzeichnen. Die stilistische Formung serieller Musik folgt vielmehr direkt aus der konzeptuellen Vorgabe, der seriellen »Weltanschauung«, zwischen Extremen zu vermitteln. Klang präsentiert sich in serieller Musik kaleidoskopartig in der Vielseitigkeit seiner Facetten. Hierbei tritt ein anderes Ideal von Unmittelbarkeit in Kraft. Es wird nämlich eine Unmittelbarkeit des Klanglichen selbst garantiert, die nicht durch Präferenzen aus

7 Referenzpublikationen: Decroupet, Ungeheuer 2002; Ungeheuer 2005; Ungeheuer, Decroupet 1996.

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Menschenhand gewichtet erscheint. Unmittelbarkeit erhält dabei die Konnotation von Ursprünglichkeit im Sinne einer Natürlichkeit, die in serieller Musik durch die exponierte Totalität des Möglichen stilisiert erscheint. Insbesondere seriell-elektronische Musik treibt das ästhetische Unmittelbarkeitsprojekt mit einem großen Einsatz medialer Verfahren voran, ja sie kann als Idealtypus einer medialen Musik gelten. Es ist schon häufig analysiert worden, dass seriell-elektronische Musik ihr Klangkonzept der akustischen Forschung verdankt: Prominentes Beispiel ist die Fourieranalyse, die den Sinustonkompositionen zugrunde liegt. Doch fragt man nach den konkreten Formungsbedingungen der kompositorischen Klangsynthese, erscheint die Lesart der akustischen Modelle mindestens ebenso berücksichtigenswert wie die akustischen Modelle selbst. So war es für Karel Goeyvaerts (Komposition No. 4 mit toten Tönen)8 und Stockhausen (Studie I) wichtig, mithilfe von Sinustönen als Uratome eine Idee von Reinheit musikalisch zu verwirklichen. Messtechnische Geräte lieferten Sinustöne, welche sich, dem Fourierschen Theorem folgend, zu beliebigen Klangspektren zusammensetzen lassen – hierin verbarg sich die große kompositorische Herausforderung. Im Medium einer bis aufs Äußerste reduzierten Technik sollte sich die reine Idee beweisen. Goeyvaerts Komposition Nr. 5 für reine Töne geht den didaktischen Weg: Auf- und Abbau einer Sinustonschichtung, die aufgrund verschiedener Dauernwerte im Mittelteil zu einer komplexen rhythmischen Formation anwächst. Stockhausen, mit der Verwendung von temperierten Intervallen, den Reihenintervallen aus Anton Weberns op. 24 folgend, und der Ausarbeitung von Echostrukturen in der Studie I noch hörbar an Bekanntes anschließend, radikalisiert sein Verfahren in der Studie II: Mikro- und Makrostruktur folgen ebenmäßig dem Gesetz der Zahl 5. Einen ersten Hinweis auf den feldorientierten Umgang mit seriellen Verteilungen, der die Musik der späten Jahre kennzeichnet, findet sich in den Charakteristika der fünf Teilabschnitte. Sie heben sich dadurch voneinander ab, dass das Gruppenverhalten der Klänge hinsichtlich ihrer Hüllkurven sich – einem Wechsel verschiedener Möglichkeitsfelder gleich – ändert. Im Gegensatz zu Goeyvaerts Komposition Nr. 5 tritt in der Studie II der isolierte Sinuston nicht hörbar in Erscheinung. Das Atom wirkt im Verborgenen. Stockhausen ergreift sogar Maßnahmen, den Verschmelzungsgrad der Sinustöne im Klang zu erhöhen: Die Einzeltöne eines Klanges werden für seine Studie II in einen Hallraum geschickt, was einer Vervielfältigung und statistischen Überlagerung der Klangbestandteile gleichkommt; im Stück finden schließlich nur die von den Originaltönen abgetrennten, geräuschhaft verhallten Zusammenklänge Verwendung. Damit reagierte Stockhausen auch auf die Kritik, welche Komponistenkollegen gegenüber der Studie I hervorgebracht hatten. Waren mit

8 Ungeheuer, Decroupet 1994.

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der Schichtung der Sinustöne wirklich homogene Klangmischungen erreicht oder hörte man die Teiltöne nicht weiterhin als Bestandteile von Akkorden?9 Die angestrebte Reinheit, in unserer Argumentation eine Facette ästhetischer Unmittelbarkeit, beweist sich in der Authentizität des hörbar Neuen.10 Phänomenale Unmittelbarkeit: Klangkompositionen11 Bei postserieller Musik, die nicht nur auf serielle Musik folgt, sondern der auch zugeschrieben wird, einen ästhetischen Gegenentwurf zu unternehmen, denkt man als Erstes an die sogenannten Klangkompositionen. Ein Merkmal des Postseriellen, so die musikhistorischen Einschätzungen, läge in der besonderen Unmittelbarkeit des Klangs: Vielzitiert ist diesbezüglich Ligetis Atmosphères von 1961. Ulrich Dibelius, dessen Musikgeschichtsschreibung maßgeblich am Stilbegriff »Klangkomposition« beteiligt war, umschreibt einen diesbezüglich relevanten ästhetischen Sachverhalt der Ursprünglichkeit, der uns wieder auf die Spur der Unmittelbarkeit führt: Es [...] steckt gerade in der Hinwendung zur Klangkomposition der Reflex einer alten Grunderfahrung. Der Traum vom reinen, elementaren Klingen zieht sich wie eine puristisch-spekulative Spur durch alle Epochen der Musik seit ihren magischen Anfängen. Und je komplizierter sie selbst wurde, desto sehnlicher wird die Nähe zu solchem Ursprung umworben. Von Wagners Es-dur-Klang im RheingoldVorspiel über das anschwellende H in Bergs Wozzeck-Verwandlung nach dem Mord an Marie bis zu dem B-dur-Nonenakkord in Stockhausens Stimmung (1968) oder der lang ausgehaltenen h-fis-Quinte (Composition 1960, No. 7) und dem ›Eternal Sound‹ des Dream House (ab 1962/64) von La Monte Young lässt sich verfolgen, welche Dringlichkeit solche Durchblicke an die unverfälschte Materie erlangt haben. Der Umgang mit komplexeren Sonoritätsformen, die nicht allein ein Obertonspektrum entfalten, sondern Klänge wie modellierbaren Stoff verwenden, hat eben darin seinen Ausgangspunkt.12 Die Unmittelbarkeit von Klangkompositionen hebt auf eine Aura natürlicher Erscheinung ab, was ihre Kategorisierung als phänomenale Unmittelbarkeit rechtfertigt. Ihr Kontext ist der Diskurs, der sich zwischen den Polen Natur-Kultur aufspannt. Wenn Kultur als

9 Vgl. Boulez 1966, 197 (dt.: 1972, 70) und Pousseur 1955, 44. 10 Vgl. Ungeheuer 1998; Ungeheuer 1996; Decroupet 2002. 11 Referenzpublikationen: Dibelius 1988b; Wieschollek 2005a und 2005b. 12 Dibelius 1988b, 46.

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Gegenpart zum unmittelbar Natürlichen fungiert, erscheint die in anderen Kontexten ihrerseits als unmittelbar empfundene tonalitätsgebundene Sprachlichkeit von Musik wiederum als mediale Verfremdung. Der Natürlichkeitsanspruch postserieller Musik ist von ganz anderem Wesen als der seriellen Komponierens, welches das Natürliche im Facettenreichtum des Klingenden exponiert. Dagegen verfährt die Dramaturgie der Klangkompositionen Ligetis oder Pendereckis regelrecht redundant. Kontinuierliche Gestaltveränderungen und stofflich erlebbare Profile vor allem der Clusterklänge suggerieren überdies Analogien zu Naturereignissen. Es entsteht der Eindruck von Verdichtung, Auflösung, Gleichverteilung, Zähigkeit im Verlauf u.a.m. Zur anderen Seite hin grenzt sich Klangkomposition von Merkmalen tonaler Musik ab. Das Etikett »unmittelbare Klanglichkeit« legitimiert sich bei Klangkompositionen infolge struktureller Ausschlussverfahren, die eine der tonalen Harmonik angepasste Rhetorik (Auftakt, Schlussfloskeln, Entwicklungslogik) vermeiden. Dibelius weist zurecht darauf hin, dass eine solche Ästhetik ex negativo unter Umständen nicht von langer Dauer ist: Die einmal unternommene Probe aufs Exempel, was von Musik an Ausdrucksmöglichkeiten, was dem Komponisten an Gestaltungsmöglichkeiten eigentlich übrig bleibt, wenn alle Oberflächenlineatur und jede markante rhythmische Bewegung wie überflüssiges Beiwerk gestrichen wird und klangliche Aggregatzustände das einzige verwendbare Material sind – dieser Test auf einer äußersten Reduktionsstufe behält seine fortdauernde Erlebnisqualität, einerlei wohin die Entwicklung danach auch führen mag. Und Ligetis Weg, auf dem sich die leergefegte Klangfläche nach erstem Zögern bald wieder mit Figuration, Satztechnik und allerhand Traditionssymbolen füllte, ist ja nur eine der denkbaren, dazu eine höchst individuelle Art, aus der Konfrontation mit dem dechiffrierten Klang Konsequenzen zu ziehen.13 Formungsbedingungen seriellen Komponierens wirken in den frühen Klangkompositionen wie Atmosphères auf den Aufbau der Klangstrukturen als im Detail ausnotierte Klanggestalten ein. An vielen Stellen meint man, die apparativen Klangformungen des elektronischen Studios (Klangmetamorphosen, Verrauschen, Filterverfahren) als mediales Vorbild für die Arten der Klangverläufe in Klangkompositionen mit zu hören. Diese Formungsbedingungen beeinflussen aber nicht die Verfahren, Klänge zu generieren, sondern sie werden dramaturgisch als eindrückliche Prozesse der Klangverwandlung inszeniert.

13 Dibelius 1988b, 45f.

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Mediale Unmittelbarkeit: Akusmatische Musik14 Was Pierre Schaeffer in seiner Musique concrète vorschwebte, verdient ein Oxymoron als Titel: Mediale Unmittelbarkeit. Denn es sind genau die Formungsbedingung der Schallplatte oder des Tonbands als Abspielgerät einer auf Tonträger gespeicherten Musik, die eine neue Art des Hörens, das unmittelbar zum Wesen des Musikalischen vordringt, erlauben sollen. Die Möglichkeit, eine Schallplatte oder ein Tonband mehrfach abzuspielen, ist die allgemeinste Bedingung dieses in Anlehnung an Husserls Phänomenologie Ecoute réduite genannten Hörens. Die Loops, entweder mithilfe der geschlossenen Rille oder einer Tonbandschleife realisiert, dienen weiter dazu, die mit Mikrophon aufgenommenen Klänge in der Wiederholung ihrer Einbindung in situative Gegebenheiten zu entkleiden, so dass sie schließlich nicht mehr semantisch auf den Kontext verweisend, sondern – als Ergebnis eines Hörprozesses – in ihrer reinen Klanglichkeit wahrgenommen werden. Auch die Schnitttechnik, die Art, Klänge nach klanglichen Gesichtspunkten aneinander zu montieren, formt das Hören der Klänge. Die Unmittelbarkeit, der Schaeffer mit großem reflexiven Aufwand, wie seine Schriften beweisen, nachforscht, ist – entgegen dem Ruf der Musique concrète – nicht diejenige unmanipulierter Klänge, die aus dem Alltag, aus der Natur aufgenommen werden. Seine Unmittelbarkeit entspricht im Gegenteil wieder dem Ideal einer Reinheit, diesmal einer rezeptiven Reinheit, die erst erreicht werden kann, wenn sich der Hörende seiner alltäglichen Hörgewohnheiten und Wahrnehmungsklischees entledigt hat, um sich ganz der für jeden Klang originären musikalischen Struktur als solcher zu öffnen. Einer Ursprünglichkeit der klangerzeugenden Situation verschreibt sich hingegen eine Weiterentwicklung akusmatischer Musik, die unter dem Namen Soundscape firmiert. Zwar werden die Klänge einer Stadt oder einer Landschaft bei der Werkrealisierung im elektronischen Studio medialen Umformungen unterzogen, dennoch bleibt ihre Referenz auf die Klangquelle und ihre Situation als Verweisdimension und Grundpfeiler der Soundscape-Ästhetik erhalten. Man könnte diesbezüglich von semiotischer Unmittelbarkeit sprechen. Performative Unmittelbarkeit: Klangkunst15 Klangkunst, verstanden als Kunst der lokalen und situativen Installationen, die in actu ihre Klänge erzeugen, modulieren und einen ästhetischen Austausch zwischen ihrem Seinsort, ihrer Seinszeit und ihrer Seinsweise in Gang setzen, lassen eine performative Unmittelbarkeit der medialen Prozesse erkennen. Das Komponieren zieht sich vielfach

14 Referenzpublikation: Dack 2002. 15 Referenzpublikation: La Motte-Haber 2000.

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zurück auf den Bereich des Instrumentenbaus und der lokalen Inszenierung der klangerzeugenden und klangverändernden Instrumente. Von besonderem Interesse sind die medialen Prozesse im Falle von Interaktion. Von Interaktion wird im Kontext von Musik oder Kunst allgemein eigentlich nur gesprochen, wenn sich auf exponierte Weise Mensch und Maschine begegnen, wobei die Technikseite möglicherweise noch als hybride Konstruktion aufzufächern ist in ein Konglomerat unterschiedlichster Einzeltechnologien. Was zur Erläuterung ästhetischer Interaktion in sämtlichen Standardtexten zur Live-Elektronik und interaktiver Kunst nun laufend praktiziert wird, ist eine kommunikationstheoretische Idealisierung, denn eine wirklich symmetrische Kommunikation, die das Konzept üblicherweise glauben machen will, wird es in der Mensch-Maschine-Interaktion niemals geben. Wenn wir stattdessen Interaktion medientheoretisch denken, so könnte eine symmetrische, also gleichwertige gegenseitige Formung von Mensch und Maschine zum Merkmal interaktiver Kunst werden. Umso deutlicher wird in dieser Formulierung, dass das eigentlich Interessante darin liegt, wer der am Kunstwerk oder an der Musik beteiligten Menschen formend auf die Technik einwirkt (der Instrumentalist, der Komponist, der Klangregisseur, der Zuhörer ...) und wie sich die Technik bzw. die Maschine formend bemerkbar macht: über ihre Bewegungen im Raum (Robotics), vermittels (zweite mediale Übersetzung) der von ihr produzierten Klänge als Zeichen, die verstanden werden müssen, oder als Gestaltvorgaben, denen nach bestimmten Regeln Folge geleistet wird. Und besonders raffiniert wirken sich die unterschiedlichen Freiheitsgrade auf beiden Seiten aus, mit den Formungsbedingungen umzugehen. Formen meint nicht ausschließlich, Analogien zu bilden. Es ist ein ganzer Variantenreichtum des Geformt-Werdens denkbar, der den ästhetischen Horizont eines Werks ausmacht. Magische Unmittelbarkeit: Maschinenästhetik16 Große musikästhetische Diskurse und zahlreiche Werkanalysen tragen den traditionsreichen Konflikt zwischen den Antipoden des Technischen und des Menschlichen aus. Ähnlichlautende Gegenüberstellungen sind: konstruktiv versus gefühlt, oder: gerechnet versus sprachlich, oder: automatisch versus lebendig, und so fort. Im 20. Jahrhundert – eine Diskursgeschichte vermag schon viel früher vermittelnde Denkansätze auszumachen – etabliert sich mit dem Konzept des Kybernetischen ein Versuch der Synthese des einander ausschließend Gedachten. Denn kybernetische Systeme sind nicht nur im Biokosmos zu beobachten und technisch realisierbar, sondern sie tragen auch Merkmale des Lebendigen wie des Automatischen. Input-Output-Vergleiche, die Kategorien der Stellgröße oder des Sensors für systemfremde Umweltdaten und alle Arten von Feed-

16 Referenzpublikationen: Deleuze, Guattari 1972; Schmidgen 1997; Carlé 2001.

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backprozessen beeinflussen wissenschaftliche Modelle und Theorien über alle Disziplinen hinweg. Was – um an dieser Stelle einen großen gedankengeschichtlichen Sprung zu wagen – Deleuzes und Guattaris Machines désirées, die Wunschmaschinen des Unbewussten, aufdecken, ist eine besondere psychologische Tradition kybernetischen und sogar maschinenorientierten Modellierens unbewusster Seelenvorgänge. Dabei fällt ein Maschinenkonzept ins Auge, das beide Instanzen, die des Menschlichen und die des Technischen, mit ihrem gesamten Konfliktpotential in sich selbst verlagert und vereint. Als Maschinen haben die Wunschmaschinen eine geschlossene Oberfläche und bieten keinen Einblick in ihr Inneres. Der Nimbus der Maschine ist – auch über Deleuze und Guattari hinaus – der des autarken Produzierens. Die logische Konsequenz ist der mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Roboter. Eine Maschine braucht außer Energie eigentlich keinen Input, um auf der Basis der ihr eigenen erzeugenden Formungsbedingungen zu arbeiten. Doch, um wieder zu Deleuze zurückzukommen, die psychischen Wunschmaschinen wirken auch übersetzend als Medien, denn sie kanalisieren das Erlebte. Dem zugrunde liegt, dass sich die Begriffe »Struktur« und »Maschine« in Deleuzes Philosophie eng berühren.17 Die Formungsbedingungen der Wunschmaschinen, das sei aus den komplexen Darstellungen Deleuzes und Guattaris herausgegriffen, sind das Strömen und der Einschnitt (teilweise sprechen sie auch vom Zerstückeln).18 Mit diesen herausgegriffenen Bruchstücken zur Theorie der Machines désirées sei ein beherzter Zugriff auf die Maschinenästhetik in der Clubkultur gewagt. Die den Techno produzierenden Maschinen geben ihre Aura des Nicht-Hintergehbaren, des Nicht-Zerlegbaren auf den Klang, den sie hervorbringen, ab. Der Klang des Techno wirkt unmittelbar, und zwar nicht auf der Basis konzeptueller Arbeit, sondern als Ausdruck und Anzeichen der Maschinenmagie, die nicht verrät, wie sie gemacht ist, sondern nur anzeigt, wie sie macht. Und warum sollte an dieser Stelle nicht medienkritisch die Parallele zu den unbewussten Wunschmaschinen gezogen, warum nicht das vom Clubbesucher Erlebte als durch den maschinellen, ewig strömenden Beat und seine spezifischen Einschnitte, Breaks, kanalisiert betrachtet werden? Die Technomaschinen als Medien im Bezug auf Lebenswelt

17 Schmidgen referiert: »Im Anschluß an den Strukturalismus von Lèvi-Strauss und Jakobson wird dort die ›frohe Botschaft‹ verkündet: ›le sens n’est jamais principe ou origine, il est produit‹ (Logique du sens, Paris: Minuit, 1969, S. 89f./99). Von diesem Theorem der ›Sinn-Produktion‹ geht Deleuze sogleich zu der Auffassung über, der Ort dieser Produktion, nämlich die Struktur, sei eine Maschine. Tatsächlich werden Strukturen in Logique du sens auch einfach als ›Sinn-Produktionsmaschinen‹ bezeichnet: ›La structure est vraiment une machine à produire le sens incorporel (...)‹ (ebd., S. 88/97).« (Schmidgen 1997, 46; vgl. auch ebd. 51). 18 Vgl. zusammenfassend ebd. 42-44.

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und ihre Gefühle ...? In Peter Wickes Theorie der Kulturgestalt19, die dem Gestaltetsein traditioneller Musik ein noch Gestaltbares der Popmusik entgegensetzt, gäbe es vielleicht für diese mediale Funktion tönender Wunschmaschinen durchaus Platz.

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19 Vgl. Wicke 1992.

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Meshing Sound Arts Klang und Vernetzung als Gegenstand und Gestaltungsmittel Golo Föllmer

mesh [engl.: mࢳ∫]: (n) Masche; (v) ineinander greifen, verzahnen, verbinden

1. Präambel Der Begriff ›Klangkunst‹ steht paradigmatisch für die Öffnung musikalischer Praktiken zu anderen Kunstformen, so wie er für Bildende Kunst und Architektur, für Literatur, Hörspiel, Tanz etc. die Öffnung zu musikalischen Techniken bedeutet. Der Raum mit allen seinen körperlichen Erscheinungs- und Nutzungsweisen und mit seiner Geschichte wird damit zu musikalischem Material. Umgekehrt bereichert der Klang andere Kunstpraktiken um den zeitlichen Fluss und nichtkörperliche, ephemere Ausdrucksweisen. Dieser Vorgang ist offenbar Ausdruck einer Entgrenzung der Kunstformen, bedeutet in der künstlerischen Praxis aber auch eine Eingrenzung, denn er wird von jeweils aktuellen Themen und Fragestellungen geprägt. So wurde das, was man in den 1990er Jahren unter Klangkunst fasste, zwar als weitläufiges Phänomen wahrgenommen. Die verschiedenen Herangehensweisen schienen aber auf einige wenige gemeinsame Fluchtpunkte hinauszulaufen, so z.B. das Motiv der Sensibilisierung für Klangphänomene in einer visuell dominierten Kulturepoche und die Suche nach ›Übersetzungen‹ auf Grund struktureller Ähnlichkeiten zwischen den angestammten Kunstformen, die als Umrisse innerhalb dieser Synthesekunst nach wie vor präsent sind. Dass Klangkunst vor allem als musikalisches Phänomen diskutiert wurde, welches in den Raum ausgreift, war dem Umstand geschuldet, dass sich vor allem Musikforscher analytisch mit Klangkunst auseinandersetzten. Mit der Etablierung des Begriffs und der damit verbundenen Ausbreitung klangorientierter Praktiken in den 1990er Jahren lösten sich

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diskursive Beschränkungen auf. Mittlerweile wird der Terminus vielfach als einengend empfunden und seine Tauglichkeit zur Beschreibung aktueller Praktiken in Frage gestellt, weil mit ihm die oben genannten Themen und Arbeitsweisen unmittelbar verbunden sind. Daher liegt es nahe, heute differenzierter von Ton, Sound, Audio, Musik, Geräusch, Stimme etc. als Gegenstand und Gestaltungsmittel intermedialer Arbeiten zu sprechen.

2. Netzmusik Eine ähnliche Entwicklung ist auch bei der deutlich jüngeren Netzmusik zu beobachten. Sie ist ein Phänomen, das mit der Popularisierung des Internets durch das WWW um 1994 einsetzte. Elementare Bedingung für den Begriff ›Netzmusik‹ ist die Auffassung des Internets als Verbund einzelner Computer, die sich dezentral zu einem größeren, nichthierarchischen Zusammenhang formieren und Gebrauchsformen provozieren, die diese Strukturen spiegeln. Sobald technisch-strukturelle, soziale oder ästhetische Muster des Mediums die Musik prägen, kann man darunter eine medienspezifische Praxis verstehen, die eigenständig, also abgegrenzt von anderen musikalischen oder klangkünstlerischen Formen existiert. Vorläufer vernetzter Musikpraktiken kann man daher nicht ohne weiteres als Netzmusik bezeichnen.1 Die wegweisende League of Automatic Music Composers (ab 1977/1978) und die Folgegruppierung The Hub (ab 1985) etwa verstanden sich zuerst einmal als ›Computer Music Band‹, die die Möglichkeiten des Computers anders auffasst als ihre Kollegen an den Mainframe-Rechnern der Universitäten. So nutzten sie den Computer eben nicht als große Rechenmaschine, sondern vor allem als Kommunikationsmedium, und zogen dabei die Verbindungsstruktur eines nichthierarchischen Netzwerks dem einer hierarchischen Dirigenten-Interpreten-Struktur bei der Konstruktion ihrer SoftwareInstrumente und -Partituren vor.2 Genauso hatte auch Max Neuhaus bei seinen Vernetzungen von Telefonanrufern und Rundfunkübertragungswegen nicht das Netzwerk als solches zum Gegenstand seiner Rundfunkarbeiten Public Supply (ab 1966) und Radio Net (1977) gemacht. Er verwendete die elektronische Verbindungsstruktur nur als eine von mehreren Möglichkeiten – vor allem nämlich neben seinen Klanginstallationen, die

1 Die meisten der folgenden Beispiele sind detailliert beschrieben in Föllmer 2005a. Audiobeispiele, Software und weiteres Material findet sich in Föllmer 2004. Der Vollständigkeit halber werden hier zusätzlich Primärquellen genannt. 2 Vgl. Bischoff, Gold, Horton 1978.

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er meist im öffentlichen Raum ansiedelte, um offene Bedingungen akustisch-musikalischer Kommunikation zu schaffen.3 Ein weiterer Vorläufer dieser Art ist Razionalnik (1987) von Josef Klammer und Seppo Gründler in Graz und Mitspielern in Budapest, Ljubljana und Trento.4 Diese Situation wandelte sich mit der einsetzenden Verbreitung des Internets Mitte der 1990er Jahre. Plötzlich war das Netz selbst von größter Bedeutung, da vermutet wurde, dass die Bedingungen dieses Kommunikationsmediums erheblichen Einfluss auf das zukünftige Leben haben würden. Dementsprechend widmeten sich die vielen neu entstehenden musikalischen Projekte entweder direkt technischen oder ästhetischen Spezifika des Mediums oder reflektierten die sozialen Bedingungen der Online-Existenz des Menschen. Für diesen Zeitraum ist der Begriff ›Netzmusik‹ angebracht, weil zu jener Zeit das Netz inhaltlich und formal im Zentrum der Beschäftigung stand und nicht nur ein Mittel der Umsetzung darstellte. Netzmusik im engen Sinne zeichnet sich nach diesem Verständnis also dadurch aus, dass Spezifika elektronischer Netzwerke den Werkeindruck maßgeblich prägen, sei es innerhalb des musikalischen Herstellungsprozesses, in der Klangästhetik oder auf der Ebene der Rezeption. Stilistische oder formale Abgrenzungen impliziert der Begriff dagegen nicht. Vom beat-orientierten Umgang mit Instrumental-Samples bis zu komplex strukturierten Geräuschkompositionen und von der Bühnendarbietung über Installationen bis hin zu reinen Online-Präsentationen schließt er alles ein.

3. Typen von Netzmusik Netzmusik ist weit davon entfernt, einen kompositorischen Stil oder gar eine musikalische Gattung zu bilden. Vielmehr versammelt der Begriff heterogene künstlerischmusikalische Praktiken, die sich als Feld verwandter, je nach den angelegten Beschreibungskriterien unterschiedlich gelagerter Typen darstellen. Gil Weinbergs vier Kategorien ›The Server‹, ›The Bridge‹, ›The Shaper‹ und ›The Construction Kit‹ unterscheiden z.B. strukturell-technische Verbindungsarten zwischen aktiven Teilnehmern von OnlinePerformances.5 Andere Typologien orientieren sich eher am Zweck der Verwendung von Netzwerken, z.B. wenn Álvaro Barbosa u.a. zwischen ›Music Composition Support Sys-

3 Vgl. Neuhaus 1994. 4 Vgl. Kriesche 1987, 57f. 5 Vgl. Weinberg 2002.

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tems‹ und ›Shared Sonic Environments‹ unterscheidet.6 William Duckworth wiederum differenziert inhaltliche Schlüsselkonzepte wie ›Availability‹, ›Portability‹, ›Collectivity‹ und ›Communication‹.7 Die von mir vorgeschlagene Typologie8 ist ein Versuch, Kriterien aller relevanten Beschreibungsebenen (technische Struktur, kompositorische Gestaltungsweise, Rezeptionsangebot, sozialer Kontext) zu integrieren, und gelangt zu fünf Gruppen/Clustern von insgesamt zwölf Typen. Am weitesten verbreitet ist das Cluster spielerischer Online-Anwendungen, die von Benutzern – meist in ›einsamer Individualarbeit‹ – eigenständig gesteuert werden. Dass sich solche Anwendungen schnell und einfach programmieren und meist ohne jegliches musikalisches Vorwissen konsumieren lassen, sind zwei Gründe für ihren Erfolg. Die daraus resultierende Eignung für PR- und Werbezwecke zeigte der u.a. von MTV initiierte iClip Award 9, der den kreativen Hochschulnachwuchs dazu aufforderte, künstlerische Gestaltung und Mehrwertfunktion des Webs mit Werbebotschaften zu verbinden. Diese ›Soundtoys‹ ziehen einfache Analogien zwischen visueller Steuerung per Maus oder Tastatur und klanglichem Resultat heran, u.a. Nachbildungen von Apparaten mit allgemein bekannter Funktionsweise oder Abbildungen von Räumen oder Objektansammlungen, in denen Klänge gefunden und aktiviert werden müssen. La pâte à son 10 beispielsweise bietet mit Hilfe des hierfür am häufigsten verwendeten Formats Shockwave (die simplere Alternative ist Flash) ein modular zusammenstellbares System von Röhren, das von automatisch generierten Noten durchflossen wird. Zentral ist hierbei das Vergnügen am Entdecken und spielerischen Kombinieren unterschiedlicher Funktionen und Klangfarben. Verschiedene Arten von Foren bilden ein weiteres Cluster. Es umfasst Mailing-Listen zu Fragen musikalischer Computer-Praxis, online verfügbare Klangarchive und RemixProjekte, die das Netz zum Austausch kurzer Kompositionen nutzen, um sie innerhalb stilistisch definierter Benutzergruppen sukzessive weiterzuverarbeiten. Das Netz wirkt bei diesen Formen nicht unmittelbar konstitutionell für die entstehende Musik, legt aber bestimmte Themen und Handlungsweisen nahe: z.B. die Verwendung non-proprietärer und experimenteller Software, die Implementierung nichthierarchischer Kontributoren-

6 Vgl. Barbosa 2003. 7 Vgl. Duckworth 2005, 160f. 8 Vgl. Föllmer 2005a, 73f. 9 MAGIX-iClip Award, bundesweiter Wettbewerb für die Gestaltung und Entwicklung interaktiver Musikclips für das Internet (http://www.iclip-award.de, 25.3.2008). 10 Beitrag der Pariser Künstlergruppe LeCielEstBleu im Rahmen der Ausstellung »Funky Pixels«, siehe LeCielEstBleu 2004.

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archive, Remix und Appropriation als kulturpraktischer Ausdruck der Zugehörigkeit zu Jugendkultur oder subkultureller Elite etc. Sound Transit von Derek Holzer, Sara Kolster und Marc Boon11 greift z.B. die Arbeit einer zu diesem Cluster gehörigen Online-Community von Geräuscharchivaren auf und kombiniert die Klänge auf Anfrage zu einer akustischen Weltreise. Mit der interaktiven Webseite enthält dieses Beispiel auch Elemente der ersten Typengruppe. Instrumente und Werkzeuge für die Erstellung von Online-Instrumenten werden eher von erfahrenen Musikern genutzt. Dieses Cluster unterscheidet sich von den ebenfalls oft instrumentenartig aufgebauten ›Soundtoys‹ durch höhere Komplexität und Variabilität in Anwendung und musikalischem Ergebnis. Zwei Systeme, die auf die unter Laptopund Computer-Musikern verbreiteten Autoren-Softwares PD und SuperCollider aufsetzen, sind aktuelle Beispiele dafür, wie in Entwickler-Communities nach Instrumenten geforscht wird, die neue Formen musikalischer Improvisation ermöglichen. netpd von Roman Haefeli12 stellt Erweiterungen für PD zur Verfügung, mit denen sich ein SoftwareInstrument relativ einfach auf eine Weise programmieren lässt, dass es von mehreren Spielern zugleich, als ›shared instrument‹ gespielt werden kann. Die Gruppe PowerBooks_UnPlugged verwendet ihr ›shared instrument‹ für die vernetzte Performance mehrerer Spieler im Publikum13. Während Echtzeitprogrammierung in der Laptop-Szene bereits eine Öffnung des Instruments bedeutet, das der Musiker auf der Bühne herstellt und kontinuierlich in seinen Parametern modifiziert, öffnet serendiPD mehreren Performern zugleich den Zugriff auf die Struktur des Instruments. Dieses Prinzip wird als ›extreme programming‹ bezeichnet, was seinen Anspruch auf radikale Offenheit der daraus resultierenden Interaktion betont. Diese Instrumente suchen nach Möglichkeiten intuitiver Interaktion mit autonomen Softwareprozessen und anderen Spielern und propagieren die Implementation flacher Hierarchien in kreativen Gemeinschaften. Bei Netz-Performances werden in der Regel selbst programmierte Online-Instrumente eingesetzt, dem bloßen Instrument wird aber noch ein bestimmtes kompositorisches Konzept, ein spezieller Bezug zu Online-Daten und/oder eine spezifische Form der Darbietung bzw. Rezeption hinzugefügt. Ein klassisches Beispiel dafür ist NetOsc der Sensorband14.

11 SoundTransit entwickelte sich aus der Serie »Phonographic Migrations«, erstmals 2004 in Stralsund beim Garage Festival realisiert und präsentiert, siehe Holzer, Kolster, Boon 2004. 12 Siehe Haefeli 2007. 13 PowerBooks_UnPlugged (Alberto De Campo, Echo Ho, Hannes Hoelzl, Jan-Kees van Kampen, Julian Rohrhuber, Renate Wieser), 2003 aus dem »Warteraum1«-Seminar hervorgegangen, siehe De Campo u.a. 2003. 14 Vgl. Tanaka, Bongers 2001, 177-181.

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Drei entfernt voneinander auftretende Performer spielen dabei identische Online-Instrumente. Lokal sind die fein verstimmbaren Sinustöne aller drei Spieler hörbar. Die Projektion der grafischen Spieloberfläche lässt das Publikum eigene Schlüsse aus dem Verhältnis zwischen den rätselhaften Abstimmprozessen unter den Musikern einerseits und dem gehörten Resultat andererseits ziehen. Eine Besonderheit der Netz-Performances des ORF-Kunstradios in Wien ist, dass sie sich nicht auf die musikalische Verwendung des Netzes in einer Darbietung vor Publikum beschränken, sondern auch visuelle, textliche und konzeptionelle Elemente einbinden und das Netz mit anderen Medien verknüpfen, u.a. mit dem Radio, mit Ausstellungsräumen, öffentlichen Orten etc. Bei diesen Projekten spielt auch der Forumsgedanke des zweiten Clusters eine wichtige Rolle: Wie der Titel eines dieser Projekte, Horizontal Radio 15, andeutet, bringen sich die Teilnehmer im Rahmen einer horizontalen Hierarchie ein. Den üblicherweise vertikalen Hierarchien des Radios und der meisten Formen westlicher Musik (symbolisiert durch den Dirigenten) wird hier radikal widersprochen.

4. Vergleiche zur Klangkunst Beim Vergleich formaler, gestaltungspraktischer und inhaltlicher Merkmale klangkünstlerischer und netzmusikalischer Arbeiten treten Parallelen zwischen den beiden Kategorien zutage. Der Materialbegriff, Formkonzepte, Umgangsweisen mit Raum und Zeit sowie Rezeptionsangebote weisen viele Ähnlichkeiten auf. Die klangkünstlerische Methode der ›Artikulation von Raum‹16 bringt Ausdehnung, materiale Beschaffenheit, Nutzungsweise oder allgemein die Atmosphäre eines physischen Raumes zum Ausdruck. Übertragen auf die Spezifika des virtuellen Raumes findet sich eine vergleichbare Strategie in der Musikalisierung elektronischer ›Raum‹inhalte oder der Korrespondenz zwischen visuellen und akustischen Elementen, z.B. bei ›Netz-/Rauminstallationen‹. ›Konditionierung von Raum‹17, in der Klanginstallation die akustische Überformung eines vorgefundenen Klangraumes, äußert sich im Netz primär als atmosphärische Prägung einer Webseite durch Musik beim Typ ›algorithmische Installation‹. Der Begriff der ›Exploration‹18 beschreibt einen Aspekt von

15 Stocker, Grundmann 1995. 16 Vgl. Minard 1993. 17 Ebd. 18 Vgl. Föllmer 1999, 225.

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Klanginstallationen, bei dem die Entdeckung räumlicher und systemischer Zusammenhänge durch den Rezipienten im Vordergrund steht. In der Netzmusik taucht dieses Element der Exploration u.a. bei algorithmischen Arbeiten auf, ist aber beispielsweise auch für Soundtoys bedeutsam.

5. Die Öffnung des Begriffs Die enge Verbindung zu Klanginstallationen ist nur ein Beispiel von mehreren, das die Geschlossenheit von Netzmusik als eigene künstlerische Kategorie in Frage stellt. Vergleichbare Verbindungen existieren zur elektroakustischen Musik, zu experimentellen Radiopraktiken, zu medienkünstlerischen Formen unterschiedlicher Couleur (Installation, Netzkunst, Software Art), zu konzeptkünstlerischen Arbeiten, zur Videokunst etc. An diese Überlegung anschließend lassen die folgenden Beispiele neuerer Arbeiten eine Tendenz deutlich werden: Vernetzung spielt hier im Gegensatz zu früheren Projekten nicht mehr die zentrale Rolle, sondern ist heute meist Teil eines umfangreicheren Konzeptes oder Apparates. Thoughts go by Air von mXHz (Machine cent’red humans) ist eine Rauminstallation aus einfachen Flugrobotern.19 Die Ballons können hören – sie verwenden ein Sonar, um ihre Position zu bestimmen –, und sie können sich mit Hilfe kleiner Propeller eigenständig bewegen. Ihre Aktivität und ihr Verhältnis zueinander sowie zum Publikum organisieren sie algorithmisch und orientieren sich dabei an Prinzipien sozialer Netzwerke. Die Maschinengeräusche und die technischen Signale, die sie zur Orientierung verwenden, sind ihr musikalischer Ausdruck. In der Darstellung der in Software-Prozessen verborgenen Maschinerie findet sich eine Verbindung zu Praktiken der Netzkunst.20 David Birchfields Sustainable 21 geht noch einen Schritt weiter. Die Klanginstallation besteht aus sieben autonom agierenden Aquarien, die ringförmig durch einen Schlauch verbunden sind. Jedes Subsystem regelt den Zufluss von Wasser durch eine eigene Pumpe, senkt dadurch aber den Wasserstand des davor positionierten Aquariums. Hörbar wird der jeweilige Wasserstand an den Tonhöhen im Wasser hängender Gongs. Die Pumpen und Klöppel der sieben Stationen werden individuell durch programmierte Chips geregelt. Als Kommunikationsmedium zwischen den Stationen dient nicht elektrischer

19 Machine cent’red humanz (mXHz) 2003. 20 Vgl. Arns 2001. 21 Vgl. Birchfield, Lorig, Phillips 2005.

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Strom, sondern Wasser. Birchfield setzt die Vernetzung umso expliziter ein, als er ein ungewöhnliches Medium für sie benutzt. Dennoch bleibt sie Mittel zur Realisierung einer »[...] perpetual evolution of the sonic, visual and timbral aspects of the installation«.22 ground loops: for solo percussion and internet von Peter Traub verwendet das Internet gleichwertig neben einem modular auskomponierten Instrumentalpart.23 Die PercussionKlänge werden über eine sukzessiv zunehmende Anzahl von Feedback-Schleifen über das Netz (Audiodaten werden zu einem Server gestreamt und von dort zurückgespiegelt) klangfarblich und zeitlich verfremdet. Die Instrumentalstimme ist aber nicht, wie es bei frühen Netzmusikprojekten häufig der Fall war, primär dazu da, diesen Spiegel zu erregen; vielmehr wird der Spiegel wie eine eigene Stimme oder wie Live-Elektronik in einer Aufführung elektroakustischer Musik eingesetzt. Die Faszination für Charakteristika des Mediums, z.B. für die typischen Codec-Artefakte und das Schwanken der Verzögerungszeit, ist einem differenzierten, stärker musikalisch als medial motivierten Einsatz gewichen. Das letzte Beispiel betrifft Forschungen zur Indizierung akustischer Materialien im Internet. Die dort lagernden Materialmengen sind für den Menschen ohne Hilfe nicht überschaubar: Allein die Bestände auf www.archive.org werden z.B. auf eine Spieldauer zwischen 35 und 2000 Jahren geschätzt, sind aber in der Regel nur mit Titel und Autor und nicht in Bezug auf ihre klangfarblichen und zeitstrukturellen Merkmale indiziert.24 Daher werden Automatismen entwickelt, die solche Merkmale erfassen und in komplexer Kodierung indizieren. Ziel ist es, im Netz archivierte Klänge produktiv einzusetzen: Michael Casey spricht von einer ›meta-music‹, »[...] which is composed by querying large databases and synthesizing audio content from the results«.25 Das Prinzip ähnelt automatischen Collagetechniken wie in Sven Königs sCrAmBlEd?HaCkZ!26 oder Erik Büngers Let them sing it for you 27, erhält seinen speziellen Reiz aber aus der um zig Potenzen größeren und daher ungleich feiner differenzierten Materialbasis. Hier werden also Ressourcen des Internets unter Berücksichtigung der Umstände ihrer Lagerung aktiviert. Während man bei solch einem Projekt vor einigen Jahren noch die Archiv- und Übertragungscharakteristika des Netzes hätte hörbar machen wollen, geht es nun pragmatisch um die Beherrschung der Datenmengen im Sinne eines musikalischen Konzepts.

22 Vgl. Birchfield, Lorig, Phillips 2005, 268. 23 Vgl. Traub 2005. 24 Vgl. Casey 2005. 25 Ebd. 26 König 2005. 27 Bünger 2003.

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6. meshworks Es sollte deutlich geworden sein, dass die Bezeichnung ›Netzmusik‹ für die Etablierungsphase musikalischer Praktiken in Netzwerken stimmig ist. Regelrechte Netzmusik setzte auf Vorläuferexperimente in den 1960er und 1970er Jahren auf, kam etwa 1995 in eine ›heiße Phase‹ und büßte nach dem Jahr 2000 mit der Aufgabe ihrer strengen Fokussierung ihre Eigenständigkeit ein. In der heißen Phase hörten Musiker und Künstler in die Strukturen des Internets hinein und stellten Charakteristika von Netzwerken ganz ins Zentrum ihrer Arbeiten. Sie suchten nach einer originären Musik der Netzwerke. Wie die jüngeren Beispiele zeigen, erreicht diese Fokussierung ein natürliches Ende. Die grundlegenden Fragen und Möglichkeiten der Vernetzung sind eruiert, manche hochfliegenden Erwartungen wie die der Demokratisierung der produktiven Mittel wurden relativiert. Vernetzungstechniken sind immer häufiger nur ein Element in einem Pool verschiedener Diskursinhalte und gestalterischer Mittel. Damit werden die aktuellen Praktiken auch einem veränderten Blick auf das Medium Internet als solches gerecht. Verbindungen zu allen möglichen älteren Medien und zu neuen mobilen Technologien werden derzeit immer wichtiger. Das Netz wird in zunehmend subtileren Formen und komplexeren Kombinationen mit anderen Medien und Handlungsfeldern verknüpft. Die Auflösung von Netzmusik als Konsequenz der Diffusion des Netzes in andere Medienbereiche mündet in wechselhafte künstlerische Konstellationen. Der Begriff der Masche hebt diese Eigenart hervor. Er betont die Verzahnung heterogener Medienbereiche, Konzepte und künstlerischer Praktiken, sieht sie aber – stärker als etwa der Begriff des Netzwerkknotens – als eigenständig bleibende Bestandteile, die nicht in einer Synthesekunst verschmelzen, sondern sich gegenseitig durchwirken. Was eingangs bereits für Klangkunst skizziert wurde, gilt auch für Netzmusik: Die Bestimmung eines eigenständigen künstlerischen Feldes ›Netzmusik‹ muss nach dem Jahr 2000 einem weiter gefassten Verständnis dieses Bereiches weichen. Vernetzung ist nunmehr allgemeiner als Gegenstand und Gestaltungsmittel von Musik aufzufassen. Klangkunst und Netzmusik verlieren ihre Bedeutung als geschlossene Praktiken. Klang und Vernetzung bilden im Zusammenspiel mit heterogenen Elementen changierende Maschenwerke. Diese meshworks basieren auf struktureller und vor allem auf disziplinärer Offenheit. Erstveröffentlichung dieses Textes: La Motte-Haber, Helga de; Osterwold, Matthias und Weckwerth, Georg (Hg.) (2006): Katalog »sonambiente berlin 2006 – klang kunst sound art«, Heidelberg, 340-347.

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Aus der Geschichte

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Stop/Start Making Sense! Ein Ausblick auf Musikanalyse in Popular Music Studies und technischer Medienwissenschaft Jens Gerrit Papenburg

1. Popular Music Studies und der Dualismus von Text und Kontext In den Analysen von populärer Musik, wie sie sich in den Popular Music Studies finden,1 lässt sich ein – letztlich unhaltbarer – Dualismus diagnostizieren, der als der von Text und Kontext bzw. von »Musik selbst« und ihr äußerlicher »kultureller Prozesse« bzw. von »musikanalytischen und kulturanalytischen Zugängen« beschrieben werden kann.2 David Brackett schreibt: »One of the debates that recurs most often at popular music studies conferences is the debate over the relative importance of the popular music ›context‹ vs. the popular music ›text‹.«3 Birgt die Analyse kultureller Prozesse letztlich

1 Seit den 1970er Jahren hat sich in der Musikwissenschaft eine Richtung entwickelt, die weder für artifizielle noch für volkstümliche sondern dezidiert für populäre Musik zuständig sein will. Diese Richtung kann als Popular Music Studies bezeichnet werden. Inzwischen sind zwei Reader erschienen, die Vorschläge für kanonische Texte der Popular Music Studies machen (Frith, Goodwin 1990 und Bennett, Shank, Toynbee 2006). Eine Aufsatzsammlung (Hesmondhalgh, Negus 2002) gibt einen Überblick über diese Disziplin. Die Zeitschriften Popular Music and Society (seit 1971) und Popular Music (seit 1981) widmen sich – neben einer Vielzahl jüngerer Publikationen – ausschließlich populärer Musik. 1981 wurde die International Association for the Study of Popular Music (IASPM) gegründet. Seit 2003 erscheint die auf 23 Bände angelegte The Continuum Encyclopedia of Popular Music of the World. Die Popular Music Studies sind interdisziplinär ausgerichtet. Sie bleiben aber musikwissenschaftlich, sobald sie den spezifischen Charakter von Klängen, die als musikalisch in der Popmusik erkannt werden, untersuchen (vgl. Shepherd, Wicke 2003, 94). 2 Wicke 2003. 3 Brackett 1995, 17.

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die Gefahr, überhaupt nicht mehr über Musik zu reden, sondern populärer Musik etwa nur soziologische Relevanz zuzusprechen, dann birgt die Analyse der »Musik selbst« die Gefahr, bereits einen »methodologische[n] Blindflug«4 gestartet zu haben, der die Analysemethode und die ihr zugrunde liegenden Begriffe unreflektiert lässt. Traditionelle Methoden der musikwissenschaftlichen Analyse mögen zwar eine Vergleichbarkeit, deren Sinnhaftigkeit im besten Fall auf Selbstverständlichkeit hofft, etwa der Lieder Schuberts und der der Beatles oder von Strawinsky und Frank Zappa möglich machen bzw. zeigen können, warum bspw. so genannter Art Rock »bessere« Musik sei als Disco oder Punk, jedoch beschreiben sie keineswegs neutral die »Musik selbst«. Richard Middleton hat in Hinblick auf die Analyse populärer Musik die Kritik an diesen Methoden zusammengefasst.5 Eventuell sei die verwendete Terminologie unpassend und vorbelastet (wenn etwa so genannte pandiatonische Cluster in Popsongs ausgemacht werden würden). Auch könnten die Methoden sehr gut Tonhöhenstrukturen und Harmonie, schlechter Rhythmus und sehr schlecht Timbre beschreiben. Des Weiteren würden sie dazu neigen, zum einen Musik und Notentext gleichzusetzen, obwohl doch etwa rhythmische Details, Tonhöhennuancen und Soundqualitäten gar nicht notiert werden könnten, und zum anderen dazu, das Musikstück als strukturiertes »Werk« von externen Aspekten zu isolieren. Außerdem setzten diese Methoden eine ganz bestimmte Art des Hörens voraus: »Listening is monologic. What the analyst hears is assumed to correlate with ›the music‹, and the possibility of variable aural readings is ignored.«6 Die Analyse der »Musik selbst« wirft jedoch nicht nur das Problem auf, mit welcher Methode die »Musik selbst« zu analysieren sei, sondern darüber hinaus die fundamentalere Frage, was denn überhaupt die »Musik selbst« sein soll.7 Die Antwort hierauf könnte lauten: der musikalische Text, der dann per Textanalyse aufgeschlossen werden kann. Der unbedarfte Leser ist vielleicht verleitet anzunehmen, dass es sich bei dieser Textanalyse um die Analyse von Songtexten, also der lyrics, handele oder gar um die Analyse des Notentexts. Dem ist aber nicht so. Musikalische Textanalyse meint – und das hat sich als reine Konvention eingeschliffen – in Abgrenzung von der Kontextanalyse die Analyse, die sich primär mit Klängen und nur sekundär mit der Analyse der

4 Wicke 2003. 5 Vgl. Middleton 2000, 4. 6 Ebd. 7 Zum Topos der »Musik selbst« vgl. Hooper 2006, 73-98, v.a. 89-98. Hooper stellt diesen Topos der Vermittlung gegenüber. Er plädiert jedoch dafür, die »Musik selbst« nicht einfach in Vermittlungsprozessen aufzulösen, sondern eine Dialektik zwischen beiden Bereichen zu erhalten.

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Zusammenhänge beschäftigten will, in die diese Klänge eingebettet sind.8 Trotzdem führt der Textbegriff den Begriff des Kontexts mit sich und unterscheidet sich insofern von einem Werkbegriff, über den Musik von nicht-musikalischen Faktoren entkoppelt werden soll. Wicke9 weist darauf hin, dass die Übertragung des aus Literaturwissenschaft und Linguistik stammenden Textbegriffs auf die Musikanalyse die recht unspezifische Funktion hätte, Musik nur »irgendwie mit Bedeutungen« zu verbinden. Der Textbegriff der Literatur sei eine »an die Schrift als linear aufgebauten Kode gebundene Kategorie«10, die auch eine Lesemetaphorik nahe legen würde. Sowohl Lesemetaphorik als auch Linearität des Kodes ließen sich aber nicht ohne weiteres auf die Musik übertragen. Wicke will mit Stan Hawkins11 »im Klanggeschehen die Knotenpunkte eines Netzes [sehen], das über die Grenzen des Klanglichen hinausreicht und einen dialogischen Prozess in Gang hält, der die Akteure, Musiker wie Publikum einbegreift«. Mit dieser Netzwerkmetapher, über die Klangliches und Außerklangliches verbunden sind, soll der Dualismus von Text und Kontext, wohl aber auch seine dialektischen Varianten – so plädiert bspw. Middleton für ein offenes und dynamisches Textverständnis12 – unterlaufen werden. Eine Musik, die nicht mit außerklanglichen Faktoren verbunden ist, gibt es hiernach nicht. Die Analyse populärer Musik muss also in diesem Sinn zum einen, will sie nicht theoretisch und methodologisch im Dunkeln tappen und etwa Johannes Brahms mit DJ Hell vergleichen, den Gegenstand ihrer Analyse problematisieren, und zum anderen die Methode, mit der auf diesen zugegriffen wird, reflektieren. Wie bereits erwähnt, birgt die Analyse populärer Musik die Gefahr, nur den Kontext zu analysieren und sich nicht mit den Klängen auseinanderzusetzen – »the tendency to neglect the text« nennt Middleton das.13 Das führt dazu, dass die Musik nicht als Musik analysiert wird, sondern nur bspw. auf ihre soziologische Relevanz hin Überprüfung findet. Dieser Ansatz ist vor allem durch einen »consumptionism«14 möglich, der mit der Theoriebildung bzw. der Subkulturtheorie des CCCS (Center for Contemporary Cultural Studies in Birmingham) assoziiert werden kann. Die Betonung des produktiven und widerständigen Konsums – wie sie die Autoren der Cultural Studies vor allem in Bezug

8 Vgl. Brackett 1995, Middleton 2000 und Moore 2001. 9 Wicke 2003. 10 Ebd. 11 Wicke 2003, Hawkins 2002. 12 Vgl. Middleton 2000, 8, 14. 13 Ebd., 7. 14 Ebd., 9.

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auf und Abgrenzung von Adornos Manipulationsthese15 formulierten – führt letztlich dazu, dass die Eigenheiten des gehörten Popsongs beinahe irrelevant werden und der Fokus auf dem Gebrauch liegt. Insofern sucht man in Schlüsseltexten des CCCS – bspw. in Dick Hebdiges Subculture. The Meaning of Style 16 – aber auch in Büchern, die sich im deutschsprachigen Raum mit der Subkulturtheorie auseinandersetzen – wie etwa das von Tom Holert und Mark Terkessidis herausgegebene Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft 17 vergeblich nach Analysen der Klänge der Musik, die über die Adjektivkaskaden und Metaphern des Musikjournalismus hinausgehen. Paul Willis hat als einer der wenigen Autoren des CCCS darauf hingewiesen, dass es ein Resonanzverhältnis – welches allerdings in Bezug auf Musik nicht spezifiziert wird – zwischen Artefakten und sozialer Gruppe geben müsse: »The essential base of a homological culture relation is that an artefact or object has the ability to reflect, resonate and sum up crucial values, states, and attitudes for the social group involved with it.«18

2. Technische Medienwissenschaft: Notenschrift, Speichermedien, Sound Um den Dualismus von Text und Kontext in Bezug auf die Musikanalyse zu überwinden, plädiert Wicke für die Hinterfragung der »musiktheoretischen Episteme« bzw. einen »epistemologischen Bruch mit den musikwissenschaftlichen Paradigmen«19. Es lässt sich ergänzen, dass erst diese Episteme bzw. Paradigmen die Bedingungen für den genannten Dualismus schaffen. Nach Wicke ist diese Episteme unter anderem durch die Notenschrift geprägt.20 Traditionelle Musikanalyse läuft über Notenschrift. Philip Tagg hat in Bezug auf die populäre Musik darauf hingewiesen, dass

15 Diese präzisierte Adorno bspw. 1941 in Bezug auf das durch die Musikindustrie initiierte plugging, also dem, was man heute Promotion nennen würde, von populärer Musik wie folgt: »Thus, the disproportion between the strength of any individual and the concentrated social structure brought to bear upon him destroys his resistance and at the same time adds a bad conscience for his will to resist at all.« (Adorno 2006 (1941), 470) 16 Hebdige 1979. 17 Holert, Terkessidis 1996. 18 Willis 1974. 19 Wicke 2003. 20 Vgl. ebd.

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notation should not be the analyst’s main source material. The reason for this is that while notation may be a viable starting point for much art music analyses, in that it was the only form of storage over a milennium, popular music, not least in its Afro-American guises, is neither conceived nor designed to be stored or distributed as notation, a large number of important parameters of musical expression being either difficult or impossible to encode in traditional notation.21 Es besteht also die Gefahr, dass eine Analyse die klanglichen Parameter in den Vordergrund stellt, die mit ihrem Instrumentarium und ihren Methoden leicht notiert werden können.22 Außerdem schafft die Notenschrift die Basis dafür, dass Musik als Partitur scheinbar von nicht-musikalischen Faktoren getrennt werden kann. Auch außerhalb der Musikwissenschaft hat eine Auseinandersetzung mit den Klängen der populären Musik stattgefunden, die weder in eine Kontextanalyse abdriftet noch Musik von nicht-musikalischen Faktoren isoliert. Diese findet in einer Medienwissenschaft statt, die sich vor allem der Materialität und Operativität von technischen Medien gewidmet hat.23 Die nicht-musikalischen Faktoren, mit denen Klang hier verbunden wird, sind jedoch weder sozio-ökonomische noch allgemein kulturelle, sondern dezidiert technische. Diese Engführung scheint aus der Perspektive einer Musikwissenschaft, die annimmt, dass Klang nur in »komplexen, sozial bedingten, technologisch, ökonomisch und diskursiv geprägten Zusammenhängen«24 als Musik wahrgenommen wird, ein Re-

21 Tagg 1982, 41. 22 Vgl. hierzu auch Middleton 1990, 104, 106 und Middleton 2000. 23 Mit Medienwissenschaft ist hier im Folgenden eine ganz spezifische – nämlich technisch orientierte – Medienwissenschaft gemeint, die sich in den 1980er Jahren in Deutschland aus der Literaturwissenschaft entwickelte und deren Programm sie anfangs selbst als »Diskursanalyse technischer Medien« beschrieben hat (vgl. Kittler 1986, 180). Wobei die kritische Auseinandersetzung mit der Diskursanalyse Michel Foucaults hier den entscheidenden Ausgangspunkt bildet. Medienwissenschaftlich ist jedoch einzuwenden, dass Foucaults Analysen mit dem Auftauchen der technischen Medien jenseits der Schrift enden (vgl. Ernst 2000). Foucault wird dahingehend kritisiert, dass er sich in erster Linie mit geschriebenen Texten auseinandergesetzt hätte und nicht mit technischen Apparaten und Artefakten. Hieraus die Konsequenzen ziehend wird der Gegenstandsbereich der medienwissenschaftlichen Diskursanalyse bereits in den 1980er Jahren um Grammophone, Film, Schreibkugeln und -maschinen erweitert (vgl. Kittler 1986). Die Diskursanalyse technischer Medien gerät an ihre Grenzen, wenn auch das »non-diskursive Dispositiv« untersucht werden soll (Ernst 2000, 33). 24 Wicke 2003.

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duktionismus, erhebt aber gleichzeitig einen Präzisionsanspruch, der nicht in der akademischen Disziplinierung stecken bleibt. Diese Medienwissenschaft hat zur Bestimmung der Notenschrift in der Musikanalyse zweierlei beizutragen. Erstens: Die Notenschrift hat in der Medienwissenschaft einen anderen Stellenwert als in der Musikwissenschaft. Diese Medienwissenschaft muss sich nicht an einer übermächtigen »notational centricity«25 abarbeiten. Notenschrift ist medienwissenschaftlich betrachtet nur ein vortechnisches Medium der Musik, welches mit technischen Medien (etwa dem Phonographen Edisons) in Konkurrenz tritt. Diese Konkurrenz ist möglich, weil Notenschrift und Phonographen in Bezug auf Musik gleiche Funktionen – bspw. die Speicherung von Klängen – ausüben. Solche Medien sind jedoch nicht bloß möglichst neutrale Vermittler, sondern bilden immer auch eine gewisse Selbstreferenz aus. Diese kann der Ansatzpunkt einer anderen Musikanalyse sein, die jedoch nicht einfach nur die »Musik selbst« analysieren will, sondern gleichzeitig auch das Medium der Musik mitreflektiert. Inwiefern technische Medien wie der Phonograph allerdings die analytische Qualität der Notenschrift ersetzen oder sogar erweitern können (immerhin ist bloße Schallspeicherung noch keine Musikanalyse), wird später zu klären sein. Wickes Kritik, dass es der Musikanalyse nicht gelungen sei, »musikalische Praxis und musikalische Analyse in ein angemessenes, theoretisch begründetes und begrifflich schlüssiges Verhältnis zueinander zu bringen«26 und dass sie insofern nicht mit den musikwissenschaftlichen Paradigmen brechen würde, liest sich in medienwissenschaftlichen Termini formuliert wie folgt: Während so [durch die Verschriftung, JGP] die Operation der künstlichen Verknappung Sound zur musikalischen Analyse her- und einrichtet, wird der Mangel, den sie implantiert – und das ist der Trick! – wie ein schwarzer Peter weitergereicht und woanders verziffert: ›Dass die meisten Rockmusiker nur mangelhaft oder gar nicht Notenlesen können, ist zweifelsohne ein Mangel‹.27 Zweitens: Medienwissenschaftlich lässt sich zeigen, welche Funktion die Notenschrift in der Musikwissenschaft hat, wie sie mit der Notenschrift verschweißt ist, welche medialen Alternativen es zur Notenschrift gibt und welche Konsequenzen diese für die Musik-

25 Tagg 1982. 26 Wicke 2003. 27 Scherer 1982, 142; das Zitat im Zitat stammt aus Kneif 1978.

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wissenschaft haben; darüber ist, in einer sehr konkreten Form, der von Wicke geforderte Bruch mit musikwissenschaftlichen Paradigmen möglich.28 Der Musikwissenschaftler Wolfgang Scherer hat, auf eine medienwissenschaftliche Terminologie und Methodik zurückgreifend, bereits zu Beginn der 1980er Jahre das »musikwissenschaftliche Diskurssystem« bzw. die »musikwissenschaftliche Wissensproduktion« versucht freizulegen.29 Er beschreibt die Musikwissenschaft als eine »historischhermeneutische«.30 Das Wissen dieser über Musik sei durch die Kategorie des Opus geprägt. Opera würden zu »großen Werkausgaben«31 zusammengefasst und in Serien angeordnet werden.32 Durch eine solche Anordnung werde Musikgeschichte erzählbar. Den Opusbegriff sieht Scherer dabei mit der Notenschrift bzw. mit »perfekt abgeriegelten Partituren« verknüpft.33 In den Partituren der Opera werde die Musik harmonisch verziffert. Die Partituren unterlägen danach – und das ist der hermeneutische Teil der Musikwissenschaft – »philologische[n] Entzifferungen«.34 Die Notenschrift ist für die Musikwissenschaft also nicht nur ein einfaches Medium der Musik, sondern sie reguliert gleichzeitig, was in einer historisch-hermeneutischen Musikwissenschaft über Musik gewusst werden kann. Über und von einer Musik, die sich jenseits dieser Partituren abspielt, kann diese Musikwissenschaft beinahe nichts wissen. Das, was der Notenschrift35 entgeht, nennt Scherer Sound. Sound »wird am Rand der Schrift« hörbar.36 Etwa zur gleichen Zeit und am gleichen Ort (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Breisgau) definiert der Literaturwissenschaftler und spätere Medienwissenschaftler Friedrich Kittler Sound als das – zumindest mit traditioneller Notenschrift – »Unaufschreibbare

28 Anzumerken ist, dass auch in der Musikwissenschaft bspw. unter Rückgriff auf Spektrogramme und Diagramme nach medialen Alternativen zur Notenschrift in Bezug auf die Musikanalyse gesucht wird (vgl. etwa Brackett 1995 oder Pfleiderer 2006). 29 Scherer 1982, 144, vgl. auch Scherer 1983. 30 Scherer 1982, 143, vgl. auch 146, 154. 31 Ebd. 142. 32 Vgl. ebd., 143f. 33 Ebd., 142. 34 Ebd., 143, vgl. auch 146. 35 Eine solche Notenschrift ist allerdings von den Musikschriften des Mittelalters zu unterscheiden (vgl. Scherer 1982, 148-152). 36 Scherer 1982, 141. Die Diskussion um die Kategorie »Sound« wird auch gegenwärtig in den Popular Music Studies geführt (vgl. Phleps, von Appen 2003 und Binas 2008). Leider wird dabei die medienwissenschaftliche Diskussion um diesen Begriff aus den 1980er und 1990er Jahren vollständig ignoriert.

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der Musik und unmittelbar ihre Technik«.37 Sowohl Scherer als auch Kittler entwickeln diesen Soundbegriff in Auseinandersetzung mit Produktionen populärer Musik: Patti Smith bei Scherer38 und Pink Floyd, The Doors, The Beatles, Jimi Hendrix, aber auch der Jazz (Lester Young, Charlie Parker und Dizzy Gillespie) bei Kittler.39 Stefan Heidenreich hat anschließend an Kittler medienwissenschaftlich einige »Rückwirkungen von [Medien-]Technologien auf Musik«40 herausgearbeitet. Er untersucht solche Rückwirkungen in Auseinandersetzung mit populärer Musik. Letztlich skizziert er grob eine »Geschichte populärer Musik, die die musikalischen Effekte von Technologien« thematisiert.41 Die zentrale Frage seines Aufsatzes ist: Gibt es einen Zusammenhang zwischen bestimmten Musikstilen und technischen Medien bzw. einen »stilbildenden Einfluss«42 von Letzteren auf Erstere? Weil »›ernste‹ Musik« den »diskreten Code der Noten, bei allen Varianten und Abstraktionen« beibehalte, wählt Heidenreich »Unterhaltungsmusik« als Untersuchungsgegenstand43, um an mehreren »technologischen Brüchen«44 zu zeigen, wie solche Rückwirkungen denn historisch konkret aussehen könnten. Heidenreichs historisch ausgerichtete These dazu lautet, dass das, was in dem älteren Medium nicht darstellbar ist – und was er in Anschluss an die Informationstheorie Rauschen nennt und was dem Soundbegriff Scherers und Kittlers ähnelt – von dem nachfolgenden Medium eventuell dargestellt und dort stilprägend werden kann: »Welches Rauschen stilprägend wird, hängt von dem Verhältnis zwischen altem Medium, alter Stilform und neuer Technologie ab.«45 So machten etwa – in Bezug auf analoge Medien – die piano rolls des player pianos, im Gegensatz zur herkömmlichen Notenschrift, das Timing des Ragtimes exakt speicherbar; dieses sei für die Notenschrift Rauschen, weil diese nur quantisierte Zeit speichern könne.46 Dieses Rauschen der Notenschrift sei wiederum stilprägend für Ragtime. Ebenso seien die Improvisation, Artikulation, Synkopen und Blue Notes des

37 Kittler 1993 (1982), 133. 38 Scherer 1983. 39 Vgl. Kittler 1993, Kittler 2002 (1988) und Kittler 1998. 40 Heidenreich 1995, 19. 41 Ebd., 24. 42 Ebd., 22. 43 Ebd., 17. 44 Ebd., 19. 45 Ebd. 46 Vgl. ebd., 19f.

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Jazz47 Rauschen für die Notenschrift, würden aber im Jazz stilprägend und seien durch die Schallplatte speicherbar und in Bezug auf diese kein Rauschen mehr. Mikrophone machten die »ganze Skala emotionaler Lautäußerungen«48, die im Rauschen der Schallplatte unterzugehen drohten, hörbar und führten zu Crooning und Rock’n’Roll.49 Auch wenn Heidenreichs Überlegungen skizzenhaft und bisweilen unscharf bleiben50, konzipiert er theoretisch und zeigt er historisch konkret, wie Musik und Medien jenseits des Mediums Notenschrift zusammenhängen könnten. Heidenreich folgt nicht einem viel gefürchteten Technikdeterminismus. Er schreibt, dass die Technologie »nicht als Auslöser [von neuen Stilbildungen, JGP] begriffen werden« kann.51 Das heißt aber auch nicht, dass sie nur auf eine schlichte Wirkung oder eine Vermittlerrolle reduziert wird; dass also bspw. Rock’n’Roll schon vor dem Mikrophon und der Verstärkung existent war und diese Technologien den Rock’n’Roll nur lauter gemacht haben. Anstatt das Verhältnis von Technologie und Musik in ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis zu rücken, beschreibt Heidenreich dies als »parallele Bewegungen auf zwei Seiten«.52 Hiermit unterscheidet er sich bspw. von Kittler, der von einem Primat der Medien in Bezug auf Rockmusik ausgeht. Zuerst tauchen Medien auf und eröffnen einen klanglichen Möglichkeitsraum, der dann in der Folgezeit von den unterschiedlichen Stilistiken populärer Musik exploriert wird.53 Den hier dargestellten medienwissenschaftlichen Ansätzen ist gemein, dass sie die Materialitäten und Funktionsweisen von Medien und nicht das »hermeneutische SinnVerstehen«54 fokussieren wollen. Kittler weist darauf hin, dass der Phonograph Schwin-

47 Vgl. ebd., 21. 48 Wicke 1987, 135. 49 Vgl. Heidenreich 1995, 23. 50 Die Rückwirkung des Mediums auf die Musik nimmt sich am Beispiel des Jazz sehr schwach aus (auch beim Ragtime ist diese nur insofern auszumachen, dass das player piano geholfen hat, den Ragtime zu überliefern). Heidenreich schreibt, dass, nachdem Jazz 1917 mit der Schallplatte konfrontiert wurde (1917 wurde von der Original Dixieland Jass Band die erste Schallplatte unter der Bezeichnung »Jass« oder eben »Jazz« eingespielt), enthusiastische Amateure anfingen, nach älteren Jazzmusikern zu suchen, und diese drängten, wieder in ihrer alten Art und Weise zu musizieren. So entstand erst nachträglich die Geschichte des Jazz (vgl. Heidenreich 1995, 20). 51 Ebd., 20. 52 Ebd. 53 Vgl. Kittler 2002. 54 Scherer 1982, 155.

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gungen bzw. Frequenzen und eben keine Töne, Intervalle und Akkorde (die dann wieder als sinnvolle in einem Tonsystem gehört werden können) speichert: Mit alldem bricht der Begriff Frequenz, wie ihn erst das neunzehnte Jahrhundert entwickelt. Anstelle des Längenmaßes tritt als unabhängige Variable die Zeit. Eine physikalische Zeit, die mit den Metren oder Rhythmen der Musik nichts zu tun hat und Bewegungen quantifiziert, deren Schnelligkeit kein Menschenauge mehr erfaßt: von 20 bis 16.000 Schwingungen pro Sekunde. Reales rückt anstelle des Symbolischen. [...] So tief ist der Schnitt, der Alteuropas Alphabetismus von einer mathematisch-physikalischen Verzifferung trennt.55 Die dargestellten medienwissenschaftlichen Analysen zeigen, inwiefern die Sounds populärer Musik nicht in der Notenschrift zu Tönen bzw. Noten werden können, sondern in anderen Medien als Sounds erhalten bleiben und als solche über eine Analyse von technischen Medien aufgeschlossen werden können. Die grundlegende Forderung dieser Medienwissenschaft in den 1980er Jahren war also – um mit den Talking Heads bzw. Norbert Bolz zu sprechen – Stop Making Sense! Der Verzicht auf eine »Hermeneutik des Sinns« soll die Einsicht in die »Materialität der Medien« möglich machen.56 Medienwissenschaftlich betrachtet vermittelt also zwischen dem Text und dem Kontext ein technisches Medium, welches immer schon populäre Musik mit nicht-klanglichen, technischen Faktoren verschaltet hat. Es bleibt zu klären, inwiefern diese Verbindung von Klang und Technologie Ausgangspunkt einer methodologisch reflektierten Musikanalyse werden kann.

3. Stop/Start Making Sense! Natürlich sind die Popular Music Studies keineswegs bei der Diagnose der im ersten Teil dargestellten, von Middleton zusammengefassten Defizite einer traditionellen Musikanalyse stehen geblieben. In diversen jüngeren Büchern und Aufsätzen, die sich mit dem Klanggeschehen befassen und sich den Popular Music Studies zuordnen lassen, wird eine Analyse von Parametern angestrebt, auf die nicht oder nur schwer über die Notenschrift zugegriffen werden kann. Solche Analysen helfen, Sound nicht einfach nur

55 Kittler 1986, 42. 56 Bolz 1989, 7.

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als Anderen der Notenschrift zu definieren, weil sie versuchen, Methoden und Begrifflichkeiten zu entwickeln, über die bestimmte Aspekte des allgemeinen Begriffs »Sound« aufschließbar sind: So etwa Groove und Rhythmus57, Stimmlichkeit und Körperlichkeit58 oder Räumlichkeit und Raumordnung.59 Auffallend ist nun, dass diese Ansätze – eine Ausnahme stellt Pfleiderer dar, der seine Untersuchung wahrnehmungspsychologisch fundiert60 – eine Kategorie in den Mittelpunkt der Musikanalyse stellen wollen, die sie als Bedeutung bezeichnen. Damit schließen sie an semiotische Traditionen der Musikanalyse in den Popular Music Studies an.61 Barry Shank schreibt in der Einleitung zu dem ersten Teil des Popular Music Studies Readers, der mit Music as Sound, Music as Text überschrieben ist: »Most of the efforts to create a popular musicology eschew the traditional jargon while continuing to uncover musical meaning.«62 Der implizite und zwingend pauschale Vorwurf an die traditionelle Musikwissenschaft lautet also, dass diese sich nicht um Sinn und Bedeutung von Musik kümmern würde, sondern in erster Linie formale Analyse betreiben würde, die – so lässt sich ergänzen – durch die Notenschrift möglich wird. Susan McClary und Robert Walser haben 1988 – also in der gleichen Dekade, in der die Medienwissenschaft die Interpretationslust der Literaturwissenschaft mit dem Aufruf Stop Making Sense! bändigen und für die sinnferne Seite von Medien sensibilisieren wollte – einen Aufsatz mit dem Titel Start Making Sense! geschrieben. Adressat von diesem war die eigene Disziplin – die Musikwissenschaft. Wie kam es zu diesen sich widersprechenden Aufrufen, die in ihrer Entstehungszeit, obwohl sie dem gleichen Gegenstand gewidmet waren, wahrscheinlich nichts voneinander hörten? Der Text von McClary/Walser ist eine wütende Polemik gegen den Formalismus der Musiktheoretiker und den Positivismus der Musikhistoriker, die Musik als autonome und als von der »social world« abgekoppelt betrachten würden.63 Formalismus und Positivismus würden »transcendental greatness« und keinen »socially grounded sense«64 betrachten. Strategisch richtet sich der Aufruf Start Making Sense! also gegen bzw. an den Mainstream der Musikwissenschaft, der Musik autonom setzt und dann formal und bedeutungsfrei

57 Vgl. Pfleiderer 2006, Danielsen 2006. 58 Vgl. Jarman-Ivens o.J. 59 Vgl. Doyle 2005. 60 Vgl. Pfleiderer 2006, 10. 61 Vgl. z.B. Tagg 1982. 62 Shank 2006, 11. 63 McClary, Walser 1990 (1988), 281. 64 Ebd.

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die Struktur von Musik beschreiben will oder annimmt, dass die Bedeutung der Musik immanent sei. McClary/Walser wollen aber klären, wie »music produces socially based meanings«65, und das geschähe über die »political effectiveness«66, den »sexual appeal«67 oder die »sensual power«68, die Musik erst in Verbindung mit der Gesellschaft entfalte. Das Start Making Sense! von McClary/Walser richtet sich natürlich nicht an das Stop Making Sense! der erwähnten medienwissenschaftlichen Analysen. Bemerkenswert ist nun, dass solche Analysen keineswegs Musik als ästhetisch autonom verstehen und ihr »transcendental greatness« unterstellen, sondern dass sie das Transzendentale vielmehr in einem »historische[n] Apriori«, das als »Medientechnologie« konkretisiert wird, erden und gleichzeitig an der Popmusik versuchen zu zeigen, dass diese Musik abhängig von technischen Medien ist.69 Diese Verbindung von Medientechnologie und Musik wird dann noch um eine Verbindung zum Körper – bzw. zur »sensual power« wie McClary/Walser es nennen würden – erweitert, nicht aber zu Sinn, Bedeutung und Gesellschaft.70 Medienwissenschaftlich kann vor allem gezeigt werden, dass Popmusik nicht nur »recorded performance«71 ist, sondern es kann die analytische Frage formuliert werden, inwiefern die Medien in der Musik stecken. Somit subvertiert eine medienwissenschaftlich informierte Musikanalyse die Vorstellung einer autonomen oder reinen Musik, indem sie zeigt, inwiefern historisch konkrete Medien der Musik immanent sind; insofern verbindet sie klangliche und nicht-klangliche Faktoren, ohne dabei Gefahr zu laufen, das Klanggeschehen aus den Augen zu verlieren. Indem sie darauf hinweist, dass Medien dem historischen Wandel unterliegen, kann sie das Dogma der Musiktheorie kritisieren, das vorgibt, dass sich diese Theorie nur neutral um die Syntax der Musik bzw. um die Beziehungen zwischen den Tönen kümmern würde. Medientheoretisch wäre dann zu zeigen, inwiefern das historische Medium Notenschrift, auf das die Musikanalyse zurückgreift, einen bestimmten Begriff von der »Musik selbst« diktiert.

65 Ebd., 290. 66 Ebd., 288. 67 Ebd., 289. 68 Ebd. 69 Kittler 2002, 8. 70 Wie Musik und Medientechnologie medienwissenschaftlich mit dem Körper und den Sinnen verbunden werden, kann im Rahmen dieses Textes nicht thematisiert werden. Zur kritischen Darstellung des Zusammenhangs von populärer Musik und Körperlichkeit in der medienwissenschaftlichen Analyse bei Kittler und Bolz vgl. Winkler, Bergermann 2003. 71 McClary, Walser 1990, 282.

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4. Musik und Medien als Gegenstand der Analyse Ein verbreitetes Vorurteil über populäre Musik ist, dass sie »Volksmusik der Gegenwart« (Carl Belz) sei und dass sie sich zur artifiziellen Musik verhalte wie Oralität zu Literalität. Ist artifizielle Musik an die Notenschrift gebunden, dann ist die Annahme, dass populäre Musik in einer oralen Tradition oder auch in Tradition einer so genannten sekundären Oralität stehe, deren historische Quelle etwa im Zusammentreffen von elektronischen Medien und afroamerikanischen Volksmusikformen gesehen wird, überaus problematisch.72 Diese Problematik entsteht, weil elektronischen Medien nur eine schlichte Übertragungs- oder Speicherfunktion von präexistenten musikalischen Aufführungen unterstellt wird. Die Aufführungen sollen unabhängig von diesen Medien existieren. Rolf Grossmann hat hingegen behauptet, dass Musikverstehen auch immer mehr understanding media bedeute, und versucht, »Musik in den Medien als Medienmusik im Sinne eines technikkulturellen Begriffs zu beschreiben, als eine Musik, der die elektronischen Medien nicht nur äußerlich bleiben«.73 Dieser von Grossmann beschriebene Zusammenhang artikuliert sich nach dem Hören einer CD – so kann hier ergänzt werden – etwa in folgender Frage: »Bringen die das auch live?« Musikanalytisch wäre aufzuzeigen, inwiefern die Medien in der Musik selbst stecken und die Musik nicht unabhängig von diesen existieren kann. Die Klangaufnahmen der populären Musik sind keineswegs rein dokumentarische Aufnahmen von Aufführungen. Insofern ist es problematisch, populäre Musik von der Aufführung her zu verstehen. Die Aufnahme ist nicht das Ergebnis einer Aufführung. Theodore Gracyk74 geht insofern von einem Primat der Aufnahme aus. Populäre Musik wird von Gracyk bspw. dahingehend untersucht, inwiefern diese in der Aufnahme überhaupt erst konstruiert wird. Eine Analyse diverser Rockplatten leistet Gracyk, indem er nachweist, dass eine Aufnahme nicht aus einer einzigen Aufführung resultiert und die Identität des Musikstücks erst am Ende des Aufnahmeprozesses entsteht, dass Klänge bei der Aufnahme mit Hilfe des Speichermediums konstruiert werden oder Speichermedien zur Komposition verwandt werden. Solche »manifestations of sound recording’s influence« hat Mark Katz auf den Begriff »phonograph effect« gebracht.75 Katz will damit die Unterschiede von aufgeführter und aufgenommener Musik herausarbei-

72 Zur kritischen Darstellung der Verbindung von Oralität und populärer Musik vgl. Middleton 1990, 73-83, v.a. 74f. Auch stehen natürlich Tin Pan Alley Stücke in einer literalen Tradition. 73 Grossmann 1997. 74 Gracyk 1996. 75 Katz 2004, 3.

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ten.76 Die Analyse des phonograph effect’s ist dabei nichts anderes als eine medientechnisch fundierte Musikanalyse. Ein gutes Beispiel aus den Popular Music Studies für eine Musikanalyse, die nicht auf Notenschrift zurückgreifen kann, ist Peter Doyles Echo & Reverb. Fabricating Space in Popular Music Recording 1900-1960. 77 Doyle untersucht in Auseinandersetzung mit Mono-Schallplatten das Klanggeschehen populärer Musik bis zum Rock’n’Roll der späten 1950er Jahre in Hinblick auf seine Räumlichkeit. Auf Notenschrift basierende Methoden können zu dieser Analyse wenig beitragen. Doyles Fokus bleibt jedoch – insofern besteht er den »McClary and Walser test«78 – auf die Bedeutungen, die die Räumlichkeiten entwickeln, gerichtet. Doyle erwähnt zwar unterschiedliche technische Verfahren der Echo- und Hallproduktion, setzt sich mit diesen aber nicht detailliert auseinander und streift deshalb nur eine medientechnisch fundierte Musikanalyse. Die Funktionsweise von spezifischen technischen Raumerzeugungsverfahren, die etwa in den unterschiedlichen Musikstudios in der zweiten Hälfte der 1950er zur Rock’n’Roll-Produktion benutzt wurden, interessiert Doyle wenig. Er legt den Fokus, dem oben erwähnten »consumptionism« der Cultural Studies nicht unähnlich, auf den bloßen Gebrauch dieser Techniken und Technologien. Strategisch lässt sich dieser Reduktionismus Doyles wohl insofern begründen, als dass Doyle seine Studie über Echo und Hall von Technikgeschichten der Musikproduktion abgrenzen will, die einem unreflektierten Fortschrittsgedanken folgen und sich in formalen Erklärungen der Funktionsweise von Technologien erschöpfen.79 Doyles Kritik an solchen technikzentrierten Ansätzen ist dann auch, dass sie die sozialen Bedeutungen, die im Zusammenhang mit sonischen Raumerzeugungsverfahren entstehen, nicht eingehend analysieren und dass sie das sich historisch ändernde Vokabular für Räumlichkeiten nicht untersuchen würden.80 Doyle hingegen thematisiert die Verknüpfung von unterschiedlichen Echo- und Hallformen etwa mit dem Unheimlichen, mit heroischer Einsamkeit oder mit einem Underground. 81 In seinem Vergleich von Räumlichkeiten im Rock’n’Roll und Rhythm & Blues der späten 1950er Jahre der US-amerikanischen Labels Chess Records und Sun Records arbeitet Doyle sorgfältig die unterschiedlichen Bedeutungen und Raumordnungen heraus, die die Produktionen des jeweiligen Labels konnotieren. So gebrauchen die beiden Labels Echo

76 Vgl. ebd., 4. 77 Doyle 2005. 78 Ebd., 24. 79 Vgl. ebd., 23f. und 27. 80 Vgl. ebd. 23f. 81 Vgl. ebd., 200f.

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und Hall nicht mehr, um ein quasi-realistisches Zentrum-Peripherie-Schema zu schaffen.82 Der Einsatz der Raumeffekte sei jedoch bei Chess »one of drive, of finely wrought, highly energized but disziplined feels«83, der einen Raum schaffe, der vollständig vom Sänger bzw. vom Instrumentalisten okkupiert werde; bei Sun hingegen werde kein Versuch unternommen, eine konsistente Räumlichkeit zu schaffen.84 Das Echo von Suns Elvis Presley spalte dessen Präsenz und schaffe einen Raum, in welchen der Zuhörer eingeladen werde.85 Dieser stehe im Gegensatz zu Chess’ Echo, das die Präsenz von etwa John Lee Hooker, Little Walter und Muddy Waters verdopple und diesen ermögliche, den ganzen sonischen Raum zu besetzen.86 Doyle erwähnt zwar, dass sowohl Sun als auch Chess in den 1950er Jahren begannen, mit einem Tonbandecho zu arbeiten, setzt sich aber nicht detailliert mit der Funktionsweise der jeweils eingesetzten Maschinen auseinander. Inwiefern etwa das rhythmisch unpräzise Echo Suns zuerst einmal ein Effekt der von Sam Phillips – dem Besitzer von Sun Records – zur Produktion dieses Echos verwendeten zwei Tonbandmaschinen vom Typ Ampex 350 war, bleibt unreflektiert. Doyle erwähnt zwar, dass Presley, »[der Gitarrist Scotty] Moore and [der Bassist Bill] Black first found their voice in the Sun Studio«,87 geht aber darauf nicht weiter ein. Dass Presleys berühmter Schluckaufgesangsstil quasi auf das Echo im Sun Studio antwortet und dieses zu exponieren hilft,88 muss Doyle demzufolge entgehen. Doyle zeigt, wie Echo und Hall als Effekte zur Simulation von »realen« Räumlichkeiten in den künstlichen Räumen des Rock’n’Roll beinahe kollidieren und rhythmische Funktionen zu übernehmen beginnen oder als Klangfarbe eingesetzt werden. Eine genauere Untersuchung der für die Echoproduktion eingesetzten Tonbandmaschinen würde es bspw. möglich machen, die Sun und Chess-Aufnahmen aus den 1950er Jahren mit den Klängen der Produktionstechnologien späterer Dekaden zu vergleichen und auf eine gemeinsame mediale Basis zu stellen. So dringt das Tonband in den 1950er Jahren immer weiter in die populäre Musik ein und macht immer kleinere Zeitintervalle technisch steuerbar. Diese ermöglichen zuerst das Tonbandecho und in den folgenden Jahrzehnten Chorus, Flanger, Phaser und später gar – in einem anderen Medium – den Harmonizer.89

82 Vgl. ebd., 179. 83 Ebd., 183. 84 Vgl. ebd. 85 Vgl. ebd., 187. 86 Ebd. 87 Ebd., 183, Hervorhebung im Original. 88 Vgl. dazu Baumgärtel 2004. 89 Zur Verbindung von Echo und Harmonizer vgl. Kittler 2005.

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Eine medientechnisch fundierte Musikanalyse müsste solche Verbindungen aufdecken und zeigen, inwiefern etwa das Tonband und die ihm historisch nachfolgenden Medien in den Produktionen populärer Musik stecken und in diesen signifikant werden.

5. Quellen Adorno, Theodor W. (Mitarbeit von George Simpson) (1941): On Popular Music, in: ders. (2006) (hg. von Robert Hullot-Kentor): Current of Music. Elements of a Radio Theory (= Theodor W. Adorno. Nachgelassene Schriften, hg. vom Theodor W. Adorno Archiv, Abteilung I: Fragment gebliebene Schriften, Bd. 3), Frankfurt a. M., 411-476. Baumgärtel, Tilman: Ein Gott mit Prothese, in: Die Tageszeitung vom 19.07.2004, http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2004/07/19/a0221, 17.12.2007. Bennett, Andy, Shank, Barry, Toynbee, Jason (Hg.) (2006): The Popular Music Studies Reader, London, New York. Binas-Preisendörfer, Susanne: Rau, süßlich, transparent oder dumpf – Sound als eine ästhetische Kategorie populärer Musikformen. Annäherung an einen populären Begriff, in: Kaspar Maase (Hg.) (2008): Die Schönheiten des Populären. Zur Ästhetik der Gegenwart, Frankfurt a. M., New York, 192-209. Bolz, Norbert (1989): Stop Making Sense!, Würzburg. Brackett, David (1995): Interpreting Popular Music, Cambridge. Danielsen, Anne (2006): Presence and Pleasure. The Funk Grooves of James Brown and Parliament, Middletown, Conn. Doyle, Peter (2005): Echo & Reverb. Fabricating Space in Popular Music Recording 1900-1960, Middletown. Ernst, Wolfgang (2000): M.edium F.oucault. Weimarer Vorlesungen über Archive, Archäologie, Monumente und Medien, Weimar. Frith, Simon, Goodwin, Andrew (Hg.) (1990): On Record. Rock, Pop, and the Written Word, London, New York. Gracyk, Theodore (1996): Rhythm and Noise. An Aesthetics of Rock, Durham, London. Grossmann, Rolf (1997): Konstruktiv(istisch)e Gedanken zur ›Medienmusik‹, http:// audio. uni-lueneburg.de/texte/rg_medienmusik.pdf, 17.12.2007. Hawkins, Stan (2002): Settling the Pop Score. Pop Texts and Identity Politics, Aldershot. Hebdige, Dick (1979): Subculture: The Meaning of Style, London.

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Drei Typen von Klangzeichen Diedrich Diederichsen

Pop-Musik kennt im Prinzip zwei Zeichen, ein kurzes, punktuelles und ein langes, das wie eine Färbung des ganzen Musikobjekts funktioniert. Darüber hinaus kennt sie zwei Modi, in denen diese Zeichen gegeben werden: musikimmanent, also ohne dass ihre Zeichenhaftigkeit die musikalische Dimension stört, wie auch immer diese jeweils verfasst sein mag, oder außermusikalisch, als der Musik hinzugefügte, erkennbar äußerliche, ja womöglich gar störende Komponente. Soundzeichen – ob nun punktuelle oder ausgedehnte – sind, je indexikaler, also von Außenweltgeräuschen hervorgebracht, je unmusikalischer also, desto mehr unterbrechend und verstörend im Sinne einer heilen scheinhaften Gestalt des Musikalischen: Sie bleiben gleich gut geeignet für Einbrüche des Realen und der Reflexion wie für die von Werbung und Warenkommunikation. Dies haben sie mit anderen unterbrechenden Interventionen in anderen Künsten gemein – vom aufklärerisch und selbstreflexiv gemeinten Brecht’schen V-Effekt zur Werbeunterbrechung des Privatfernsehens und zur Pop-Up-Belästigung im Internet. Die Illusionsunterbrechung und Störung des Scheins setzt in beiden Varianten die Realität ins Recht, nur dass diese einmal mit den Fiktionen inhaltlich vermittelt wird, das andere Mal nur auf deren ökonomische Basis durch Werbefinanzierung verweist, ohne dass dies Konsequenzen hätte. Dies konnte die Pop-Musik in den 50ern in den USA aber auch schon wissen.

1. Sound-Logo: Fetisch, Totem & Tool Am Anfang der Pop-Musik stehen die »ablösbar« gewordenen, »fungiblen« »Einzelmomente«, die »jedem Sinnzusammenhang auch technisch entfremdet« sich »zur Reklame

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schicken.«1 Also Tricks, Jingles, Witze, akustische Logos und Trademarks, die kleinsten und einfachsten Einheiten auf der untersten Stufe des Vokabulars der Kulturindustrie. Diese »Elemente« hatten in der Logik von Kulturindustrie und Werbung in etwa dieselbe Funktion, die das Logo in der visuellen Kommunikation hat: Beschleunigung der Kommunikation: »[Das Logo] schlägt eine Schneise durch die narrativen, grammatischen, logischen und paradoxen Dickichte des Bewußtseins, wo der Eigensinn der Individuums waltet […]. Um einerseits mit Geschwindigkeit sich […] einen Weg zu bahnen, quasi das Bewußtsein umgehend, um andererseits nicht als bloßer Schock […] anzukommen, muß das Logo nahezu ballistischen Gesetzen folgen.«2 Logo-Pionier Loewy erfand nicht umsonst auch die Stromlinienform als ästhetisches Ideal. Diese isolierten und jederzeit neu isolierbaren Reklamezeichen bilden den zentralen Grundstock pop-musikalischer Mittel. Sie sind am denotativen, »unkünstlerischen«, kommunikativen, zweckmäßigen Pol angesiedelt, am absolut anderen Ende von Kunstmusik. Das, was Adorno/Horkheimer in den 40er Jahren an ihnen beobachten konnten, dürfte sich vor allem im Radio verbreitet haben: eine anschwellende Flut von Senderkennungen, persönlichen DJ-Scherzen, Radio-Werbung und schließlich nach wenigen Erkennungszeichen unterbrochene Musik – auch wenn sich das Radio erst während der 50er ganz in diese Richtung entwickelte und die als Erfinder des Rock’n’Roll gepriesenen DJs Murray the K und – sogar im wörtlichen Sinne – sein Namensgeber Alan Freed genau in solchen akustischen Umgebungen arbeiteten. In dieser Umgebung und unter den Konkurrenzkampfbedingungen, unter denen sich die vielen kleinen und oft lokalen Plattenfirmen in den 50er Jahren noch bekämpften, fand das kleine kommerzielle Signal, das Audio-Logo seinen Weg natürlich auch in die Neue Musik selbst. Und während von allen Seiten Rhythmik, sexualisierte Stimmen und Performances oder die Begegnung weißer Hillbilly- mit schwarzer Rhythm&Blues-Kultur als entscheidende Elemente des Rock’n’Roll benannt wurden, war es doch das kleine fungible Logo-Geräusch, das zu einem der hartnäckigsten Kennzeichen von Pop-Musik werden sollte, weil es die größte strukturelle Neuerung darstellte. In seinen ersten Fassungen stammte es aus drei unterschiedlichen Quellen: Erstens waren dies Logo-Geräusche, die sich aus besonderen Kunststückchen und kontingenten Erkennungszeichen ergaben, die die Musiker selbst entwickelt hatten. Die Schluckauf-Vocals und vergleichbare Effekte, die vom Rockabilly in den Rock’n’RollGesang wanderten, zählen dazu wie später eine bestimmte auf Funk Bezug nehmende Variante des slapping bass in der New-Wave-Musik der frühen 80er. Neben stimmak-

1 Horkheimer, Adorno 1980, 187. 2 Schirner 1990, 183.

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robatischen Stunts waren es auch als Kennzeichen markierte und auf besondere Weise intonierte Begrüßungen oder Schimpfwörter, vom »Hello!« des Big Bopper bis zum »Sissy!« des X-Clans. Auch hier sind die Begrüßungsrituale und Wiederholungen des Stationsnamens der Radio-DJs das Vorbild. Zweitens gab es »konkrete« Geräusche aus der Außenwelt – von den gerne benutzten Explosionen oder Schussgeräuschen im frühen Rock’n’Roll über die Maschinenpistolengarben in der Anti-Vietnam-Protest-Musik bis zur Uzi-Verherrlichung im HipHop massiv militärisch aufgerüstet. Daneben sind unzählige auch zartere Geräusche zu verzeichnen, von den der Musik immerhin benachbarten Kirchenglocken über die singenden Stimmen zum Klingen gebrachter Gleise, Dampf- und Dieselloks, Straßenbahnen, über zahlreiche Motorräder – seitdem die Shangri-Las dem toten »Leader of the Pack« ein Denkmal setzten –, Küchengeräte, die es in der britischen Musique-Concrete-NewWave-Single »Kitchen Motors« zu einer eigenen kleinen Hit-Symphonie brachten, startende Flugzeuge, Regen in allen Dosierungen – leise tropfend bis tropisch stürmend –, murmelnde Bäche, Wasserfälle, und bei John Fahey sogar einmal eine »singende Brücke«, die besondere Töne von sich gibt, wenn man sie mit dem Auto überquert. Drittens gab es die als Erkennungszeichen und Logo-Sounds geeigneten Sounds neuer – elektrischer oder elektronischer – Instrumente. Nicht nur Gitarrenmodelle, die anders oder sehr spezifisch klangen, sind da gemeint, sondern auch solche, die herausklangen, die sich aus dem Zweispur-Soundbrei früher Pop-Musik als Einzeldaten heraushören ließen, und dies vor allem in der – oft noch matschigeren Klangestaltung von Live-Konzerten. Oft waren dies aber gar nicht die prägnant pomadigen Hammond-Orgeln oder die spitzen Licks von elektrischen Gitarren, sondern das mehr als eine Pop-Musik mit Erkennungseffekten und Logo-Zeichen auf je unterschiedliche, soundspezifische Weise versorgende Tambourin – meist übrigens in der Hand der Leadsänger (Mick Jagger, Grace Slick) und so auf besondere metonymische Weise mit deren Anspruch verbunden, die Markierungshoheit der Performance innezuhaben. Weiter gab es elektrische und elektronische Sounds, die nicht zuzuordnen waren zu einer konventionellen Quelle, die zwischen konkretem Geräusch und dem, was man als Keyboard oder Gitarre kannte, nicht eindeutig unterzubringen waren und damit die Bedingungen eines ganz besonderen Faszinosums erfüllten: der Klang ohne Ursache, der seine indexikale Spur verlässt und von überall her zu kommen scheint. Soweit hätten die Sound-Logos aber ohne weiteres zum Bestandteil einer kommunikativen Strategie werden können und rein aufgehen in werblichen Aufgaben, so wie ihre visuellen Verwandten. Und natürlich haben sie diese Aufgabe auch erhalten und erfüllen sie bis heute – doch hat die Werbung seit der massenweise weltweit während der 50er und 60er Jahre eingeführten Televisualität nicht mehr sehr stark auf Soundzeichen gesetzt. Das Vokabular visueller Kommunikation – als werbliches auch vorher schon sehr

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viel differenzierter entfaltet als jede Werbemusik, die meist nur eine unterentwickelte und vereinfachte, auf Liedeffekte setzende populäre oder Volksmusik war – war in seinen Untergebieten Graphik-Design, Produkt-Design und in der visuellen Gestaltung des urbanen Raums und seiner Displays sehr bald sehr viel schneller, genauer und virtuoser geworden als es die Klang-Logos sein konnten. Nicht zuletzt, weil die Sphäre der Werbung und die des Verkaufs über eine gemeinsame visuelle Sprache und Orientierungssysteme miteinander kompatibel wurden und auf einander verweisen konnten. Die aus der Sicht des expansiven Kommunikationskapitalismus nur sekundär wichtigen Sound-Logos entfalteten aber eine andere Funktion, sie wurden zu Erkennungszeichen der subkulturellen Tribes, die sich seit den 50er Jahren um einzelne Gattungen und Stile zu scharen begannen. Man begann – Urszene der Subkulturen und der gesamtkunstwerkartigen Verfasstheit von Pop-Musik – einen Lebensstil mit einer bestimmten Musik zu verbinden, die wiederum – natürlich nur unter anderem – mit bestimmten SoundLogos operierte. Im Zuge dieser Entwicklung veränderte sich der Umgang mit dem Logo und der Wahl seiner Quelle. Im klassischen Rock’n’Roll und Rockabilly kennt man Logo-Sounds vor allem als Signature-Sounds oder -Tricks bestimmter Vokalisten oder als das, was man Novelty-Records nennen sollte: Songs, meist auf Singles, die auf einer spezifischen Attraktion aufbauten und ebenfalls meist mit Logos des ersten Sorte arbeiteten, gelegentlich mit Geräuschen, wenn sie unter die konventionellen Vorstellungen von Humor fielen. Novelty-Records enthielten aber klar erkennbar einzelne, isolierte Attraktionen, wegen derer sie gekauft wurden – ein Hahnenschrei, ein aufheulendes Motorrad oder ein dumpfes Wummern, das in einem Song wie »50 Megatons« von Sonny Russell den Sound einer explodierenden Wasserstoffbombe repräsentiert.3 Dies schärfte um ein Weiteres das Gespür für einen Umgang mit Einzelheiten mit Elementen und diskreten Stücken, der für musikalische und zeitkünstlerische Aufgaben neuartig war. In der Musik operierte man auch in ihren heruntergekommensten industriellen Formaten mit Entwicklungen, Steigerungen und Vorstellungen von Organizität, nicht mit diskreten und abrupten Gestalten. Wenn dies irgendwo in der Musik außerhalb der Pop-Musik geschah, dann am ehesten in den zur gleichen Zeit sich etablierenden ersten Labors »seriöser« elektronischer Musik: auch hier wurden Elemente in einer Weise zu singulären und ansteuerbaren Objekten jenseits des Holismus des Musikalischen – möglicherweise eine der Ursachen für viele später so fruchtbare Begegnungen zwischen beiden Kulturen,

3 »Well, I was blown out of bed, hit in the head/ I saw three flashes of atomic red/ Spun around town, shot in the ground/ Swirled and swirled three times faster than sound/ It was a fifty megatons/ It was a fifty megatons/ It was a fifty megatons hydrogen/ Like they rate an atomic bomb«, Sonny E. Russel 1963.

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in den Zeiten des Progressive Rock ebenso wie in den Jahren nach Techno. Dennoch gab bei diesen Verwendungsweisen singulärer Soundobjekte in der Neuen Musik selten die konventionell musikalische Umgebung, die so nachdrücklich wie in der Pop-Musik die ontologische Differenz zwischen dem fremden, diskreten und – tendenziell – indexikalen singulären Sound-Objekt und eben dieser »musikalischen« Umgebung betonte. Die Identifikation der (sozialen) Gruppe mit dem Sound-Logo war natürlich keine ausgesprochene Verabredung, sondern eine strukturelle Konvergenz. Der Ort des Sound-Logo war in der natürlich in erster Linie musikalisch traditionell verstandenen Musik ein ebenso offener wie verborgener Ort wie der Fundort des entwendeten Briefes von Edgar Allen Poe. Das Klang-Logo findet sich im Intro oder an anderweitig exponierter Stelle, als Break, als Teil des Refrains. Dass es aber wie ein Schlüsselzeichen oder Shifter für die Bedeutung auch des musikalischen Restes eine entscheidende Rolle spielt, ist ihm für Außenstehende nicht anzusehen. Damit eignet es sich ideal für die Hipster-Logik subkultureller Gruppenbildung. Ihre Erkennungszeichen sind grundsätzlich nicht versteckt, aber sie würden normalerweise nicht als zentral oder bedeutsam gewürdigt werden. Das Klang-Logo tritt hier neben andere Attraktionen, die eine ähnliche Funktion haben können. Man darf sich sein Funktionieren dennoch nicht so schematisch vorstellen, wie das hier anklingt: man nehme eine mehr oder weniger konventionelle Klangfolge und füge ihr an für den eingeweihten erkennbarer Stelle ein Zeichen hinzu, das es ermöglicht, die bisherige Klangfolge anders und im Sinne einer geheimen Bruderschaft zu lesen und zu empfinden. Natürlich sind subkulturelle Gruppen nicht unentschlüsselbar oder abgeschlossen klandestin organisiert. Aber zu ihrem Ethos wie zu der strukturellen sozialen Logik ihres Funktionierens passt es, in ähnlicher Weise, an einem besonderen Ort, im ästhetischen wie im sozial logistischen Sinne, die Merkmale der Gruppe unterzubringen. Und nur in der einfachsten und für die Beschreibung dieser Logik daher geeignetsten Form kann man sich die Zeichen so diskret und voneinander geschieden als Zeichen ganz verschiedener Ordnung vorstellen. In der Praxis gingen sie mehr ineinander über: Wo ein Sound-Logo seine soziale und ästhetische Funktion erfüllte, waren meist auch der Rest der Musik und der Performance von dem infiziert, was das Logo denotierte: den sozialen Sinn der Gruppe, von Rebellentruppe zur Geschmacksgemeinschaft, von männlich heterosexueller Truppe zu queerer Elite, von einer um einen nicht benannten oder nicht gewussten Kern organisierten lockeren Szene zur inhaltlich oder organisatorisch straffen Zelle. Das allerdings entscheidende Element des Sound-Logos – in Bezug auf seine spätere Wirkung und die Entwicklungsfähigkeit einer Kunst, die nicht darauf beschränkt blieb, ein Zeichensystem zu bilden, das sich auf die parasitäre Nutzung kulturindustriell entwickelter Kommunikationstools beschränkte – war seine Fähigkeit, als Fetisch begehrt zu werden. Dies war insbesondere bei den Sound-Logos der zweiten und der dritten

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Sorte möglich. Auch musikalische Fetische funktionieren – wie Sound-Logos – ähnlich einer, von der Perspektive der Musik-Musik aus gesehen, regressiven Logik. Adorno beschreibt in seinem berühmten Aufsatz den Fetischcharakter des Hörens als ein Ergebnis des Fehlens jener unter kulturindustriellen Bedingungen verlernten Fähigkeit, Werkzusammenhänge nach- und mitvollziehend zu hören – als Unfähigkeit, Musik zu hören, als Ausrichtung des Begehrens auf bloße, schnell erkannte Effekte sogenannter Melodien, möglichst bekannter Melodien. In der Pop-Musik, die nach dem kulturindustriellen Atombombenabwurf entstanden ist, ist dieser Prozess längst von den meisten Radiohörern vollzogen worden. Der musikalische Fetisch ist nun oft eher das Gegenteil, nämlich ein Klangobjekt, das den falschen Schein von Liedform und Schlagermelodie durchbricht: mit konkreten Klängen und Geräuschen aus der Außenwelt, mit seltsamen, scheinbar ursprungslos elektrischen und elektronischen Klängen, mit plötzlicher Unterbrechung der Liedform durch Alltagsrede, mit der Unterbrechung der den Sprechakt aussetzenden Rede der Kunst durch Sprechakte – wenn etwa mitten in einem zum Tanzen animierenden Soul-Show-Stück der eben noch imaginäre Frauen anschwärmende Sänger konkrete Rumsteher im Publikum aufruft: »Take your hands outta your pocket!«. So konnte auch die Ansage, die Conference, die reine Ausstellung einer bestimmten Stimmqualität in diesem Sinne Sound-Logo und -Fetisch werden. Entscheidend ist für diese Eigenschaft die tatsächliche oder simulierte Indexikalität des Soundzeichens: dass es erkennbar von etwas verursacht wurde, das außerhalb des nur symbolischen, fiktiven und künstlerischen Universums der Musik angesiedelt ist: von Realität. Durchbrechung der rein musikalischen Lied- und Aufführungsform, sowohl in ihrer musikalischen Logik wie in ihrer Logik als rein fiktive Aufführung durch indexikale und Sprechakt-Elemente, die eine direkte Verbindung zur nicht fiktiven Realität haben; Eignung zum Sound-Totem für eine Subkultur; Einzelstellung, Diskretheit; Ansteuerbarkeit; zusätzliche Eignung zum Fetisch aufgrund gewisser sinnlicher Qualitäten, die nicht musikalischer Natur sein müssen aber können: Lautstärke, Volumen, hohe Sounddefinition, auffälliges Crescendo oder Decrescendo – all dies sind Voraussetzungen für die Bildung dieses ersten Zeichentypus der Pop-Musik, desjenigen, den ich den kurzen genannt habe. Er hat, wie gesehen, mehrfache Funktion: 1) als Fetisch für das Begehren des Hörenden, der seine Hörlust um das Eintreffen und Auskosten des musikalischen (oder allgemeiner akustischen) Fetischs herum organisiert, 2) als Totem, an dem ein subkultureller Stamm seine Musik, seine Sakramente erkennt und seine Angehörigen sich zuhause fühlen, und schließlich 3) als Logo und Kommunikationsbeschleuniger, unabhängig davon, um welche Form der Kommunikation es sich handelt, aber meistens um jene werbliche und kommerzielle, die den Begriff der Kommunikation ohnehin zusehends mehr und mehr usurpiert hat.

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Diese drei verschiedenen Funktionen und deren soziale Wirkungen überlagern sich und werden von Beteiligten und Beobachtern oft vermischt und verwechselt – was entsprechend auch das Verstehen der Zeichen verändert. Der Siegeszug der elektrischen Gitarre – erst als punktuelles Zeichen, dann als Soundfarbe, die zunächst für eine konkret-physische Aneignung des zunächst körperlos empfundenen elektrischen oder elektronischen Sound stand, und damit doppelt für körperliche, ja sexuelle Emanzipation, dies aber zugleich im Bündnis mit einer neuen, expansiven, fortschrittlichen Technologie – nahm eine andere Wendung, nachdem die verschiedenen Verzerrungen und Soundmodulationen zum größten Teil als fixe Klangbilder mit sicheren kuscheligen Bedeutungen fixiert werden konnten. Das elektrische Geräusch, der »elektrische Sturm« hatte, nachdem er bewältigt worden war, ein Gesicht, das nun eher nach Art eines ikonischen Zeichens Ähnlichkeit mit seinen Bedeutungen hatte: unaussprechliche Weiten, schmusige oder pansexuelle Zärtlichkeit, Herrschaft des Phallus und des Leaders. Dies wurde durch klangliche »Landschaften« vermittelt, die die neuen zunächst noch nicht semantisierten Sounds nach und nach mit bestimmten Bedeutungen verkoppelten; dies aber nun nicht mehr indexikal – unter Bezugnahme auf die elektrischen wie menschlich energetischen Klangursachen –, noch symbolisch – Schaumgitarre als einmal festgelegtes Zeichen für Kuscheln, anschwellend verzerrtes Knurren als willkürlich festgelegtes Zeichen für den sich drohend erhebenden Phallus –, sondern eben ikonisch: über klangliche Ähnlichkeiten mit dem visuell von den Rezipienten abgespeicherten Bild, oder noch abstrakter, über klangliche Eigenschaften, die mit Metonymien des Gemeinten verbunden waren: Schaumig sprühende Gitarrenklangarben erinnern an Textileigenschaften, die wiederum in Werbung und populärer Imagination mit einer bestimmten Vorstellung von Zärtlichkeit verbunden sind. Doch darf man aus diesen Beschreibungen nicht unbedingt eine strenge, allgemeine Regel ableiten, dass der Weg eines Pop-Zeichens vom Index zum Ikon immer einer des Niederganges im Sinne einer Pop-Spezifik wäre: Die meisten klassischen Pop-MusikFormate leben vom Nebeneinander beider Zeichentypen, in einem weiteren Nebeneinander – im Übrigen – meistens mit nichtzeichenhaften Anteilen. Man kann allerdings sagen, dass das Zeichenschicksal – vom Index zum Ikon – sich in eine größere historische Tendenz, wenn nicht so etwas wie eine Thermodynamik der Pop-Musik eintragen ließe. Der abrupte indexikale und der jeweiligen Form gegenüber externe Soundeffekt wird beherrscht und zum Ausdrucksmittel. Dieses wird er, indem er gestaltet wird. Seine Gestalt ähnelt nun aber – zumindest in der künstlerischen Behauptung seines Benutzers – dem, was er darstellen oder auslösen soll. Er wird zu einem – im übertragenen Sinne: denn natürlich ist Sound-Gestalt, anders als visuelle Gestalt nicht objektiv nachvollziehbar ähnlich – zum ikonischen Zeichen, zu einem Sound-Bild. Damit wären wir schon fast zum zweiten großen Zeichentypus der Pop-Musik, den eben

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in der Zeit ausgedehnten Zeichen vorgedrungen. Zuvor aber noch ein paar Worte zu dieser Thermodynamik. Auch die ikonischen Pop-Zeichen, die Sound-Flächen und -Farben sind nicht primär Musik im Sinne von Tonhöhenmanipulationen in Zeitmaßen und -abständen. Auch sie haben in erster Linie eine Soundgestalt, und diese ist höchstens in einem lockeren, oft kann man sagen, parasitären Verhältnis mit Musikobjekten wie einer Tonfolge, einer Kadenz oder einer rhythmischen Figur verbunden. Solche Verbindungen brauchen auch die ikonischen Pop-Zeichen zum Leben, und sie sind, da sie sich in der Zeit ausdehnen müssen, in einem stärkeren Maße auf diese musikalischen Elemente und ihre Gesetzmäßigkeiten angewiesen, als die punktuellen Soundeffekte oder die pointierten und repetitiven Zeichen. Ihre Gestalt, mithin die Art und Weise, in der sie ikonisch im übertragenen und ähnlich in einem zumindest psychologisch nachvollziehbaren Sinne sind, ist aber nicht musikalisch, sondern soundmäßig. Im Ergebnis tendiert aber das Arbeiten mit ihnen, ihre Beherrschung, zur Rekonstruktion und Abdichtung des Scheinhaften oder der scheinhaften Seite von Pop-Musik, wo das punktuelle Zeichen zu deren Perforation tendiert. Die Thermodynamik besteht nun nicht nur darin, dass Sound-Indices zu mit Musik verbundenen sound-ikonischen Klanglandschaften und sonischen Teppichen werden, sondern auch darin, dass sich beide Elemente aus je neuem Material stets regenerieren. Außermusikalische Sound-Effekte wurden unter den Indices etwa durch innermusikalische ersetzt, die aber genauso – punktuell, perforierend, momenthaft und extern – eingesetzt wurden, Sound-Ikone regenerieren sich aus Material, das zuvor indexikal eingesetzt wurde. Neben aber dieser eher physikalischen Tendenz, die funktional äquivalenten Teile quantitativ in gleichen Mengen zu halten, gibt es auch eine historische Tendenz, die zur Trennung der Elemente neigt, ihre simultane Ko-Existenz aufzukündigen scheint. Spätestens mit der Arbeitsteilung von Techno und Ambient, die am Anfang der Entwicklung digital-elektronischer Pop-Musik um 1990 steht, haben wir zwei Gattungen, die – zumindest vom ersten Eindruck her – jeweils nur aus der einen der beiden Zeichensorte zu bestehen scheinen. Inwieweit dieser Zustand als Ergebnis oder Stadium einer historischen Entwicklung gelesen werden kann, mag für den Moment offen bleiben. Hier soll es genügen, als Horizont der zwei Zeichentypen genannt sein.

2. Sound Design: Konzeptualismus der Klanggestalt Der zweite flächige Zeichentypus ist historisch etwas später auffällig geworden als der erste. Dass man einen punktuellen Sound-Effekt als Vorbild für alle möglichen zeichenhaften Gebrauchsweisen von Pop-Musik-Material hat, zeichnete sich in den 50ern

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relativ schnell ab. Dass es eine andere Möglichkeit gibt, Soundprägungen zu gestalten, erkannten die Produzenten von Girl Groups und anderen weniger auf individuelle Stars zugeschnittenen Gattungen in den frühen 60ern. Natürlich wird man hier den sprichwörtlichen Erfinder des »Wall of Sound«, den zur Zeit der Niederschrift dieses Textes unter Mordanklage stehenden Phil Spector nennen müssen. Spector gestaltete die Hintergründe der teilweise von ihm erfundenen Bands wie den Crystals oder den Ronettes, später von Berühmtheiten wie den Righteous Brothers oder Ike & Tina Turner zu scheinbar undurchdringlichen, die Zeiteinheit von zweieinhalb Minuten vorhaltenden Klangeffekten. Spectors »Walls of Sound« und andere zu jener Zeit von Leuten wie Berry Gordy oder George Shadow Morton entwickelte parallele Klangkostüme oder Klangräume waren aber nicht einfach aus alten Einzeleffekten hervorgegangen: sie sind von Anfang an mit der Absicht, lang anhaltende, vorhaltende Soundkontinua zu schaffen, entwickelt worden. Zum Motown-Sound, dessen Urheberschaft sich die Motown-Hausband mit den Hauskomponisten Eddie und Brian Holland, Lamont Dozier und Smokey Robinson mit dem Firmenchef Berry Gordy teilen dürften, gehörten zwar durchgehende, repetitive Percussioneffekte: wenn man so will, also wiederholte Index-Effekte. Aber sie wurden nicht so eingesetzt und waren auch nicht so zu verstehen. Sie standen in keinem Kontrast zur musikalischen Aufmerksamkeit, sie durchlöcherten nicht die musikalische Scheinhaftigkeit: sie steigerten sie bis zu einem – wenn man so will – psychotropen Effekt. Übereinstimmend wird der »Wall of Sound« als eine psychologisch neuartige Erfahrung beschrieben. Man muss ihn sich als die musikalisch wie studiotechnisch kontrollierte Antwort auf die neuen Massenphänomene kreischender Teenager und anderer Exaltationen vorstellen, in denen Einzelstimmen und Einzeltöne in der Produktion wie in der Rezeption überlagert werden von additiven Phänomenen. So wie in Spielfilmen psychische Krisen durch anschwellende und dabei ununterscheidbar werdende Hintergrundgeräusche angezeigt werden, wird durch den »Wall of Sound« eine psychische Dichte und Abgeschlossenheit erzeugt, die etwa Kenneth Anger inspirierte, Spector-Hits, die damals als harmlose Teenager-Nummern galten, als Hintergrund für die queere BikerPhantasie »Scorpio Rising« einzusetzen. Die Dichte aus ineinandergreifenden Streicherund Bläser-Arrangements, die quäkenden Vocals der Sängerinnen, das üppige Perkussions-Geflecht aus Glöckchen, Klingeln, Becken, dazu jede Menge Overdubs aus Gitarren und Bässen, eignete sich für gleichzeitig grandiose, überbordende wie schutzbedürftige, unsichere, öffentlich geächtete oder queere Gefühle. Gefühle, die sich, aus sehr unterschiedlichen Gründen, nicht in die Dramaturgie und Hierarchie normaler Dramen fügten, bei denen das für Camp und Spielarten des Glamour ebenso wie für Teenager-Kultur typische Missverhältnis aus Anlass und Begründung von Tränen und Klangspuren und deren Gestaltreichtum, Größe und Dauer ästhetisch entscheidend wird. Auch die »Walls

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of Sound« sind – neben anderen Möglichkeiten – als campe Hypertrophien lesbar, für ihre Rolle als Modell des Soundzeichens hingegen spielte das keine Rolle. Musikalisch waren diese Arrangements nicht gedacht: es ging nicht darum, die Vielzahl an Spuren und Klangquellen für komplizierte Zusammenklänge oder Kontrapunkte zu nutzen. Musikalisch war der »Wall of Sound« redundant: die vielen Stimmen und Overdubs brachten keinen zusätzlichen musikalischen Reichtum. Nach den Worten von Spectors Songwriter-Mitarbeiter Jeff Barry war das Arrangement ein in sich einigermaßen schematischer und stabiler Standard, der meist mit einer Quinte und ein paar Obertönen in den Bläser-Stimmen auskam und unterschiedslos auf die verschiedensten von Spector produzierten Stars und Ensembles und deren Songs appliziert werden konnte. Der »Wall of Sound« war eine Sound-Idee und er war – wenn man für benennbare historische Einschnitte schwärmt – wahrscheinlich die Erfindung des zweiten Soundzeichens. Bei der dafür notwendigen Tendenz zum Verschmelzen der (musikalischen) Stimmen – sie dürfen ja nicht mehr als individuelle wahrnehmbar bleiben, weder im musikalischen, noch in einem performativen Sinne – half die unterentwickelte Mehrspurtechnik: um Overdubs zu erzielen, musste man ja immer alles bisher Aufgenommene auf einer Spur kondensieren und dann eine zweite Spur dazu aufnehmen. Mehr Spuren standen nicht zur Verfügung. Der »Wall of Sound« war also eine Mischung aus Studiogebastel und dessen Grenzen, also der Notwendigkeit, Musiker noch mit einzubeziehen. Das sich bald immer schneller vervollkommnende Mehrspurverfahren war aber nicht eine Rückkehr zum musikalischen Potenzial einzeln ansteuerbarer Stimmen, sondern eine Zunahme nichtmusikalischen konzeptuellen Denkens in Aufnahme-Studios. Die Möglichkeit, Tonspuren ganz für sich als Objekt von Gestaltung und Manipulation zu betrachten, trug zu einer Denaturalisierung des Produktionsprozesses im Bewusstsein von Produzenten bei, für die die Liedform und die klassischen (populär-)musikalischen Attraktionen noch den Status einer (zweiten) Natur hatten. Die buchstäbliche Greifbarkeit des Aufzeichnungsbandes mit seinen Manipulationsmöglichkeiten, die Mischbarkeit von musikalischen und nichtmusikalischen Klängen des unterschiedlichsten Status, hatten seit Spector, Morton, George Martin, Joe Meek und anderen in den frühen 60ern eine ganz ähnliche Wirkung wie auf die Komponisten der Neuen Musik im Köln der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der Unterschied war nur der, dass diese Pop-Produzenten nicht aus einem avancierten immanenten Musikverständnis auf die neuen Möglichkeiten reagierten (außer teilweise George Martin), sondern mit einer Mischung aus einer effekt- und attraktionsfixierten Naivität und einem lakonischen bis kalten, von außen auf die Musik gerichteten Blick einen eigenen Konzeptualismus der Pop-Musik entwickelten. Eine entscheidende Konsequenz dieses Konzeptualismus war die Erweiterung des (nicht)musikalischen Sound-Verständnisses: von der punktuellen Attraktion mit ihrer fetischistischen und/oder totemistischen Funktion zum Sound-Anstrich, zum kontinuierlichen Soundzeichen.

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Für dessen Beschreibung muss man nun aber noch andere Unterscheidungen einführen. Wir haben unter den Beispielen Soundfarben kennen gelernt, die aus dem rhythmischen Zusammenwirken von Perkussions-Instrumenten bestehen, und solche, die aus eher stehenden, lang angehaltenen oder ineinandergreifenden Sounds (etwa der Orgel, der verzerrten oder mit Effektgeräten bearbeiteten Gitarre etc.) bestehen. Natürlich sind die nicht zu unterschätzen, die ganz aus außermusikalischen Fremdkörpern bestehen, aber dennoch für ein ganzes Stück oder einen längeren Zeitraum innerhalb eines Stückes, vielleicht an- und abschwellend, eingesetzt werden: man denke nur an die Kurzwellensendersounds oder die Jet-Turbinengeräusche, die die Byrds schon auf »Younger Than Yesterday« (1966) inmitten von noch relativ konventionellen Pop-Songs einsetzen (»Goodbye to Lear Jet«). Gerade im letzten Fall, kann man allerdings sagen, handelt es sich trotz der Dauer eher um Soundzeichen der ersten Art. Obwohl sie oft für einen ganzen Song andauern, haben sie die Funktion der schnell erkennbaren externen Soundsensation, die die Liedform perforiert, nicht die des andauernden und eher ikonisch funktionierenden Soundzeichens, das, um bei derselben Band und derselben Platte zu bleiben, die indische Tambura in »Mind Gardens« hat: Evokation einer Landschaft, Ähnlichkeit der strukturell offen fließenden Tongestalten mit dem imaginären und utopisch konnotierten, »anderen« Raum etc., Abdichtung des klanglich-musikalischen Erlebnisses gegen eine Außenwelt, nicht Öffnung zu derselben hin, wie im Falle des indexikalen Sound-Effekts. Natürlich entscheidet in letzter Instanz immer die Pragmatik eines echten Songs, eines realen Tracks. Musiker und Produzenten gingen, als ihnen die hier beschriebenen konzeptuellen Möglichkeiten zufielen und sich so etwas wie eine neue Kunst jenseits von musikalischer Musik in der Pop-Musik abzeichnete, sehr unterschiedlich mit diesen um. Als die Beatles in »I Feel Fine« im Intro erstmals einen elektrischen Gitarren-Soundeffekt ohne Anbindung an eine Melodie herausarbeiteten – genau genommen sogar zwei: Boinnng! Zärrrrr! – beeilten sie sich anschließend, aus diesem Knall aus einer anderen Welt so schnell wie möglich und doch ohne Intensitätsverlust wieder herauszukommen: nämlich musikalisch. Also wurde das Stück auf Uptempo gebracht und mit Mitteln der Rock-Musik versucht, das unwirkliche Intro und seinen Geschmack aus einer anderen Welt zugleich zu erhalten und vergessen zu machen. Als John Cale bei Velvet Underground nur ein Jahr später die – im Sinne des Minimalismus bzw. der Dream Music, die Cale selbst mit u.a. La Monte Young und Tony Conrad zu Beginn der 60er entwickelte, gespielte und gestimmte – Viola in einen experimentellen Rock-Kontext einführte, hätte das als eine pure Bereicherung und Erweiterung der musikalischen Sprache verstanden werden können und war von Cale und seiner Band vermutlich auch so gemeint gewesen. Tatsächlich aber funktioniert die Viola nicht nur wie eines der andauernden, ikonischen Soundzeichen, die sich ja stets mit der Musik

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um sie herum vertragen haben, sondern auch wie ein indexikales, das nicht verleugnen kann, von einem anderen Kontext verursacht zu sein, aus einer anderen Welt zu kommen, und so auch das experimentelle Rock-Ganze von Velvet Underground, das z.T. von den langen schleifenden Viola-Tönen selbst errichtet wurde, wieder perforiert und seine Geschlossenheit durch das Einbrechen-Lassen einer Außenwelt aufbricht. Der Minimalismus, der ja in derselben Zeit wie die Pop-Musik entstand, stellte in der Abstraktheit einer »reinen« Musik die Frage, die für das unreine Musik-/Zeichensystem Pop-Musik von höchster Wichtigkeit sein sollte: Was ist ein andauernder Klang? Was ist musikalische Dauer? Die vom Minimalismus eingeführten Begriffe Drone und Pulse scheinen unseren beiden Zeichentypen – dem kurzen indexikalen und dem langen ikonischen Pop-Musik-Zeichen – zu entsprechen, meinen nun aber nicht die zeichenhafte, sondern die klangliche, physische – und wenn man so will, auch die mediale – Seite. Diese muss zwar nicht, kann aber die Zeichen-Pragmatik entscheidend beeinflussen. Aber gerade in ihrer minimalistischen Reinheit schlägt die Zeichenfunktion in das Gegenteil des von ihrem physikalischen Präsenz-Modus Nahegelegten um. Der vom Minimalismus zuweilen gepflegte reine Pulse ist im Pop-Kontext natürlich dazu angetan, als dauerndes Zeichen verstanden zu werden, der Drone von Cales Viola, in seiner minimalistischen Original-Umgebung im Theatre of Eternal Music ein Bestandteil einer nicht zeichenhaft gedachten, aber doch geschlossenen, ikonisch-imaginär ausgerichteten Musik, wird bei Velvet Underground zum Fremdkörper im oben beschriebenen Sinne. Inwieweit Melodie und Rhythmus im weiteren Sinne als Medien oder Träger der Zeichen oder als deren Umgebung zu verstehen sind und wie man als Produzent oder Künstler damit umgeht, ist die Frage jeder Pop-Ästhetik an die Pop-Semiotik. In dem Moment, wo ein Pulse noch rhythmisiert wird und nicht so ungerichtet und scheinbar ohne körperliche Beteiligung zustande kommt, wie im Minimalismus, gibt es eine Spannung zwischen der Präsenz- und Präsens-Behauptung der rhythmisch agierenden Körperlichkeit und dem Bezug des von ihm hervorgebrachten Sounds zu einem überzeitlichen, ikonischen Ganzen des Songs, Tracks oder der Komposition. Der Beat ist einerseits zu stark, um zeichenhaft werden zu können, zu präsent, zu hier und jetzt, und doch ist er der hervorragendste Ort, die exquisiteste Unterbringung für Totem und Fetisch. Das neben oder zum Beat geschlagene Tambourin oder die geschüttelte Marracas – von Motown-Soul bis zum Folk-Rock in den 60er Jahren verbreitetes Stilmittel – nähert sich dieser Chance und dieser Grenze auf besonders schlaue und wirksame Weise. Es können sich auch Melodien und Harmonien in einer ähnlich präsentistischen Weise ergänzend wie konkurrierend in Spannung zu einem Zeichen setzen. Dabei ist allerdings der präsentistische Anteil der Melodie im Gegensatz zu dem auf etwas Abwesendes verweisenden Zeichen anders gebaut als beim offensichtlichen Präsentismus des ständig erneut sein »Hier«Sein meldenden Beat. Sie entfaltet sich auch hier, aber sie ist eingebaut in eine längere,

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mit der eigenen partiellen Abwesenheit rechnende, zeitliche Struktur, ist also selber aus An- und Abwesenheit zusammengesetzt. Hinzu kommt, dass sie als mehr oder weniger traditionell bestimmtes Ordnungsgefüge ein Eigenleben hat, jenseits ihrer Soundfärbung. Dies kann die Soundfarbe nutzen, es kann sie aber auch scheitern lassen. Easy-Listening-Musik, Muzak und andere auf unterschwellige Wirkungen abzielende Musikformen lebten früher ausschließlich von der Wiedererkennbarkeit von Melodien jenseits ihres originalen Sounds. Erfolgreiche Hits wurden von Big Bands und Streichorchestern nachgespielt und bezogen ihren Effekt aus dem gleichzeitigen Widererkennen der Melodie, während man doch spürte und spüren sollte, dass diese Musik nicht so verbindlich gemeint war, nicht so für den individuellen Hörer bestimmt war, wie das Original oder die bekanntere Soundgestalt, die dasselbe Thema als Filmmusik oder Charts-Hit schon einmal hatte. Easy Listening, oft als Musik des Eskapismus und der Harmlosigkeit gebrandmarkt, hatte auch immer ein Moment der Schonung, das natürlich heute wieder geschätzt wird, wenn man sich seit den 90ern wieder für die Easy-Listening-Musik der 60er begeistert, deren wesentliches Charakteristikum es doch war, die überall mit viel Bedeutung aufgetragenen Sound-Zeichen-Marmeladen zu neutralisieren und durch die Null-Beschriftung von Streicherarrangement oder Big-Band-Sound zu ersetzen. Das war das Geniale an »Yesterday«: Die Beatles, als melodiös ausgesprochen begabte, aber natürlich gleichwohl noch viel virtuoser und bemerkenswerter mit Soundzeichen hantierend, und zwar mit beiden Sorten, erlebten es öfter als jede andere Pop-Band, dass ihre Stücke in Easy-Listening-Gewändern zurückkehrten; diesen Spiegel zerschlugen sie, indem sie selbst mit einem Streichquartett als Easy-Listening-Ensemble ihr »Yesterday« begleiten ließen; plötzlich war der Null-Sound zu einem Sound-Zeichen geworden. Die Rolling Stones reagierten stante pede mit »As Tears Go By« und Paul McCartney versuchte es später noch ein zweites Mal, diesmal mit einem noch buchstäblicheren, wenn auch – Novum! – eher symbolischen Zeichengebrauch, gleichzeitig musikalisch höchst ehrgeizig: Wenn er sich bei »She’s Leaving Home« einerseits musikalisch mit seinen Streichern Mühe gibt, andererseits aber ihren Sound eindeutig dem Spießertum, der Lieblosigkeit und der Langeweile zuordnet, aus der sich die Protagonistin des Liedes befreien muss.

3. Soundeffekt: Die kulinarische Sensation Es wäre in der Pop-Musik – betrachten wir Sound-Logo und Sound Design in dieser Weise – nicht ganz zutreffend, den V-Effekt heranzuziehen, wenn es um die Wirkung von indexikalen Zeichen oder anderen, ihrer Struktur nach ähnlichen unterbrechenden

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Effekten geht. Zum einen ist der V-Effekt mit seinen bewussten und expliziten Zielen zu hoch gehängt. In der Pop-Musik handelt es sich um einen Zeichengebrauch, der sich nie oder selten die volle Konsequenz seiner Pragmatik eingesteht oder eingestehen darf. Er ist eher vergleichbar mit gewissen nonchalanten Momenten bestimmter Schauspieler im Umgang mit der Kamera, die nicht drastisch mit der Fiktion brechen, aber dennoch sehr bestimmt die Aufmerksamkeit der Zuschauer von der Verfolgung der Fiktion auf die Arbeit des Schauspielers umlenken: »moments of peripheral distraction, bemusement, fretfulness, mere flickerings of skeptical interest.«4 Pop-Musik-Zeichen durchbrechen fortgesetzt eine musikalische Konvention, sie unterbrechen den (Trivial-)Kunstcharakter, aber sie gehören auf der anderen Seite wieder zu den mühsam errungenen oder im Schatten des Nichtmarkierten, des als Nur-Musik-Durchgehenden hergestellten Zusammenhängen zwischen Welt und Musik und Bild, die als Zusammenhang sich gerade wieder darum bemühen, Konventionen herzustellen und zusammenzuhängen. Aber es gab und gibt auch eine ganz andere und oft als besonders lustvoll erfahrene Unterminierung der Zeichenhaftigkeit, die gerade nicht von der Musik und der musikalischen Seite ausgeht, sondern vom Sound, allenfalls, wenn man so will, kann man sagen, von der musikalischen Seite des Sounds. Die Verselbstständigung des Soundeffekts zur kulinarischen oder physisch erschütternden Sensation. Diese Entwicklungen setzen die Soundsensibilitäten und deren Bewusstsein, das sich erst in der zweiten und vor allem in der dritten und vierten Dekade der Pop-Musik herausbildete, voraus. Je mehr Gestaltungsmöglichkeiten, je genauer die Ansteuerbarkeit von Details, desto weiter ließen sich Feinheiten des Sounds herausarbeiten, die über die relativ groben sozialen und psychologischen Denotate weit hinausgingen und zunächst physisch oder ästhetisch – als Gestalterfahrung – aufgenommen wurden. Extreme Bässe, alle Arten von Verzerrungen, zerhackte oder aufgelöste Störgeräuschspektren, gebröselte sehr tiefe oder sehr hohe, gefundene oder bearbeitete digitale Klänge mit ihrer potenziell hohen Definierbarkeit überwucherten den sozialen Distinktionsklang, der mir sozusagen sagt, wo ich geschmacklich hingehöre, ebenso wie er den Fetischismus hinter sich zurücklässt, der immer ein ganz bestimmtes Begehren befriedigt. Doch gerade diese neue ästhetische und sensuelle Vielfalt gedieh natürlich nicht nur in einer Umgebung technischer und geschmacklicher Verfeinerung, sondern unter auch veränderten sozialen Rahmenbedingungen und neuartigen Soundbiografien. Sich von spezifischen Klängen direkt angesprochen zu fühlen, ganz im Sinne der »ideologischen Anrufung«, von der Louis Althusser in seinem »Ideologie und ideologische Staatsapparate«5 sprach, ist

4 Farber 1998, 145. 5 Althusser 1977.

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das Nachbargefühl zu den Erhabenheits- und Überwältigungsästhetiken von Echos und Dubs. Die Tiefe des die Zeichenhaftigkeit hinter sich lassenden Soundeffekts hat auch was mit der individuellen Enge zu tun, die von demselben Effekt eben noch denotiert wurde. Da, wo man zu den dekonstruierten und freigelegten oder freigelassenen Sounds tanzt oder psychedelische Drogen nimmt, deren unbearbeitete Version als Klingelton nicht nur meine Arbeitsleistung abruft, sondern auch die vorübergehend vielleicht unterbrochene Arbeit der Subjektivität streng wieder einfordert, da ist der Sturz des Zeichens in die Nacht der Nichtbedeutung nie wirklich ein Sturz ins Leere, ihm sind die psychedelischen Strudel einer Ich-Unterbrechung, womöglich eines vorübergehenden Ich-Verlustes beigegeben, die es nie in den Genuss absoluter und/oder autonomer Musik geschafft hätten, sondern davon ausgelöst und perpetuiert werden, dass die meisten Transzendenz-Sounds gerade noch ganz funktionale Verwandte hatten.

4. Quellen Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg, Westberlin 1977. Farber, Manny (1998): The Decline of the Actor, in: ders., Negative Space, New York. Horkheimer, Max, Adorno, Theodor W. (1980): Dialektik der Aufklärung, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a.M. Schirner, Michael (1990): Logo – Loewys Markenzeichen, in: Angela Schönberger, Internationales Design Zentrum (Hg.), Raymond Loewy – Pionier des amerikanischen Industrie-Designs, München. Russel, Sonny E. (1963): »50 Megatons«, auf: Various Artists, Jukebox At Eric´s (Eric’s 008/Rough Trade).

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Im Reich von ¨t Medienprozesse als Spielfeld sonischer Zeit Wolfgang Ernst

Der folgende Text beschreibt, wie sich Medien- und Klangwissen in privilegierter Weise auf der Zeitachse treffen; die Melodie wird hier zum Modellfall. Ein Fallbeispiel für solche Konvergenzen stellt die Analyse von rhythmischer Echtzeit in der Kultur (epische Gesänge) und in Medien (digitale Signalverarbeitung) dar, enggeführt durch Informatik und Neurobiologie. Am Ende stehen jene Zeitprozesse, die in Musik, Menschen und Medien mikrotemporal Wellen schlagen: von Fouriers Frequenzanalysen bis zu den Wavelets.

1. Melodien: Die Gegenwartsdauer des Tons Der Bereich, in dem Zeit sonisch wahrgenommen wird, ist das Gehör; es fungiert als eine Art differentialer Analogcomputer. Von einer Tonfolge behält es einerseits das Gedächtnis der sukzessiven Einzeltöne; es bildet zum anderen aber auch eine quasiräumliche Verdichtung zum figurativen Zusammenhang Melodie.1 Was Lessing in seinem 1766er Traktat Laokoon analytisch trennt, nämlich zeit- und raumbasierte Künste, wird im sonischen Bereich relativisch verschränkt, verraumzeitlicht – geradezu eine différance im Sinne Derridas. Musik ist im Sinne Immanuel Kants »transitorisch«, d.h.

1 In der Programmierumgebung SuperCollider lässt sich der Übergang vom Ton zur Melodie bar aller ästhetischen Metaphysik im alphanumerischen Code mit medienarchäologischer Nüchternheit ausschreiben: {f = XLine.kr(50, 0.25, 20, doneAction: 2);SinOsc.ar(Latch.ar(2**LFSaw.ar(f, 0, 2, 10), Impulse.ar(f*4)), 0, 0.5).dup}.play [so zur Verfügung gestellt von Oswald Berthold (Berlin)].

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nur im Kommen und Gehen wahrnehmbar2, und von daher wesensgleich mit der Dynamik der elektromagnetischen Induktion – die zeitkritische Flanke der Kritik der Urteilskraft. Kants Ausdruck »im Kommen und Gehen« deutet schon die widerstrebende Anerkennung von Leonard Eulers Erkenntnis an, dass es hier um den Ersatz der antikepythagoreischen Vorstellung einer Proportionalität von Saitenlängen und Tonhöhen durch den Begriff (hoch)frequenter Schwingungen geht, um periodische Vorgänge, um Sinus und Kosinus. Wir brauchen nicht erst Heidegger für die Entdeckung des existentialen Zusammenhangs von Zeit und Sein zu bemühen; dass sich dies im Medium Ton alltäglich vollzieht, hat Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst definiert: »Die Zeit und nicht die Räumlichkeit [gibt] das wesentliche Element ab [...], in welchem der Ton [...] Existenz gewinnt«; da nun die Zeit des Tons zugleich die des Subjekts ist, »dringt der Ton schon dieser Grundlage nach in das Selbst ein, faßt dasselbe seinem einfachsten Dasein nach und setzt das Ich durch die zeitliche Bewegung und deren Rhythmus in Bewegung«.3 Platon zufolge4 ist Musik diejenige unter den Künsten, welche am tiefsten in die menschliche Seele dringt – denn, so ergänzen wir, sie berührt uns auf der Ebene der Zeitlichkeit unseres Daseins, frequenzbasiert. Diese Grundlage (arché) untersucht Medienarchäologie in Hinblick auf die Optionen hin, wie Medienprozesse genau diese Zeitqualität des Tones selbst gleichursprünglich zu reproduzieren vermögen – nämlich in Oszillationen bis hin zum Schwingkreis im Radio. Was der deutsche Idealismus (Hegel) und die deutsche Klassik (Goethe, Schiller) noch gegeneinander ausspielten – die Nüchternheit der »elenden Gewebe von Zahlenproportionen«, »Gestellen von Darmsaiten und Messingdraht« einerseits, und musikalische Empfindung andererseits5, war längst in der mathematischen Variationsrechnung (Euler, d’Alembert) aufgehoben. Töne (wie Farben) sind nicht einfach gegeben, sondern erweisen sich als wesentlich zeitliche Existenz; damit sind sie ein Gegebenes, das ständig neu erzeugt werden muss, um überhaupt zu bestehen – ein dynamischer Begriff ersetzt statische Ontologie. Es ist Eulers Verdienst, dies nicht in der Verbalsprache der Ästhetik, sondern mit mathematischen Werkzeugen begriffen zu haben; Farben wie Töne ergeben sich aus partiellen Differentialgleichungen. An dieser Stelle wird die Differenz zwischen einer medienarchäologischen Analyse sonischer Prozesse und ihrem musikalischen Begriff offenbar: Hegels Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst begreifen musikalische Töne nicht

2 Boetticher 1983, 21. 3 Zit. nach: Kittler 2001, 133. 4 Platon 1973, 91 (§ 401d). 5 Schiller, zit. nach: Boetticher 1983, 24.

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von der zählbaren Mikrozeit ihrer Schwingungen her, sondern von der musikalischen Makrozeit ihres Einschwingens und Ausklingens.6 Im Begriff der Melodie verschränkt sich aktuale Gegenwart und neurologisches Kurzzeitgedächtnis. Wir vernehmen in einer Melodie auch das soeben Vergangene – die Gegenwartsdauer. Im Unterschied zum realen Jetzt hingegen ist ein gewesener Einzelton c »kein Ton c«.7 Ein Glas Wasser oder Wein, das dasteht, erscheint dauernd (im Unterschied zu dem Getränk, das diffundiert). Diese Dauerhaftigkeit unterscheidet sich vom Ton einer Geige insofern, als Letzterer tatsächlich in der Gegenwart je aktuell neu erzeugt werden muss – in Schwingungen. Dies teilt der Geigenton medienarchäologisch gleichursprünglich mit Oszillationen in der Elektronik; die scheinbare Dauer ist auch hier eine operative, die periodisch immer wieder neu erzeugt werden muss, im Unterschied zur reinen mathematischen Formel, die an sich zeitinvariante Gültigkeit beansprucht. Die Phänomenologie Husserls greift in ihrer Diskussion des Zeitfensters namens Gegenwartsdauer nicht von ungefähr auf die sonische Wahrnehmung zurück. Für diese quasi-melodische temporale Dynamik spannt Husserl den Begriffshorizont der Re- und der Protention: eine stetige Transformation von Zeit. So vermag ein aktualer Ton in der Wahrnehmung gleichzeitig zu sein mit der Erinnerung seiner unmittelbaren Vergangenheit. Diese mikrodramatische Zeitästhetik der vergangenen Zukunft ist das Geheimnis der Melodie, aber auch der unmittelbaren Vorausberechnung feindlicher Flugzeugbewegungen in der Flak-Abwehr des Zweiten Weltkriegs, wie sie in den Hochleistungen von Computerspielen unserer Gegenwart alltäglich wurde. Jetztvergangenheit und aktuale Gegenwart ziehen sich differential zum gemeinsamen Eindruck zusammen – eine Zeitstauchung. Linear prediction heißt sie in der Mathematik Norbert Wieners; »es wird gewesen sein« heißt diese vergangene Zukunft (futurum exactum) auch in der Psychoanalyse Lacans. »Ist das Künftige zum Gegenwärtigen geworden, so ist das Gegenwärtige zum relativ Vergangenheit geworden«8; so operiert der chrono-kairotische Mechanismus, auf dem auch die sonische Wahrnehmung beruht. Reihen sensorischer Empfindungsdaten können nur dadurch als zeitliche Folge bewusst werden, dass sie in Erinnerungsreihen transformiert werden. Dies gilt verschärft für die Prozessualität von Klang als Musik, doch es verbleibt eine Verunsicherung über den temporalen Status dieses Mechanismus. Melodien stehen modellhaft für die Semantik aktiver Temporalisation, im Unterschied zum Hören eines Uhrtakts (betont Bergson). Die altgriechischen Eleaten (Zenon) verkannten die Natur der Bewegung, indem sie

6 Kittler 2001, 133. 7 Husserl 1928/1980, 377f. 8 Ebd., 414.

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dieselbe von dauerhafter Zeit in diskreten Raum verwandelten – ganz im Zuge der antiken Tendenz zur Privilegierung proportionaler Verhältnisse gegenüber der kinetischen Zeit. Deshalb kann Achill die Schildkröte (bis zu Leibniz’ Infinitesimalrechnung und zur Einführung der limes-Werte) nicht einholen. Demgegenüber insistiert Bergson auf der durée réelle als »ce que l’on a toujours appelé le TEMPS«, und zwar als unteilbare.9 Natürlich impliziert Zeit Sukzession, doch nicht notwendig in Form von »früher« und »später« – eine implizite Kritik an Aristoteles’ Zeit-Definition. Eine Melodie ist der denkbar reinste Aus- oder Eindruck einer Folge, doch »c’est la continuité même de la mélodie et l’impossibilité de la décomposer qui font sur nous cette impression«.10 Doch quer dazu kommen die Möglichkeiten der Abtastung, des sampling und der Quantisierung ins Spiel, welche kontinuierliche Bewegung gerade durch Diskretisierung zu reproduzieren vermögen, auditiv wie visuell und symbolisch. McLuhan hat diesen Kunstgriff schon in der Kulturtechnik der vokalalphabetischen Schrift identifiziert, die bereits eine buchstäbliche Form kinematographischer Analyse von Sprache darstellte; Bergson verweist auf die diskrete Notation in Partituren, der gleichwohl Musik entspringt: »Nous nous représentons, sur une feuille de papier imaginaire, des notes juxtaposées à des notes. [...] Faisons abstraction de ces images spatiales: il reste le changement pur.«11

2. Das medienarchäologische Ohr Greifen wir eine Frage auf, die von Elena Ungeheuer pointiert formuliert wurde: »Tickt die musikalische Zeit anders als die medientechnische?«12 Das medienarchäologische Ohr vernimmt – kanalbewusst – auch noise, das Geräusch. Das Ticken wird konkret als Frequenz, wie sie Euler beschreibt – als Schläge nicht nur der Uhr (gleichmäßiger Takt), sondern auch als ungleichmäßiges Knattern, und seien es Gewehrsalven (die Vorform von Techno-Musik). Das medienarchäologische Gehör unterscheidet also vom musikwissenschaftlichen Vernehmen der Unterschied zwischen Akustik und Musik.

9 Bergson 1911/1972, 907. 10 Ebd. 11 Ebd., 905. 12 Podiumsdiskussion unter dem Titel »Tickt die Zeit heute anders? Gestaltung und Wahrnehmung von Zeit in Musik und Medien«, 12. Juni 2007, Universität der Künste, Berlin (Sound Studies – Akustische Kommunikation); Teilnehmer: Ernst Pöppel, Adalbert Ding, Daniel Ott, Martin Supper, Wolfgang Ernst.

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Was die verborgene Periodizität der Klangmaterie betrifft, so spielt sie keine phänomenologische Rolle, weil sie vom Hörer [...] als ununterbrochener Klangstoff wahrgenommen wird. Diese Art der Periodizität interessiert nur den Physiker, der allein in der Lage ist, sie durch künstliche Verfahren sichtbar zu machen [...]13 – und den zeitkritischen Medienarchäologen. Euler definiert die Frequenzen (»Schläge«) eines akustischen Ereignisses, den Schall, anhand der schwingenden Saite, die Luftschwingungen auslöst, die unser Ohr erreichen: Folgen diese Schläge gleichförmig auf einander, oder in ganz gleichen Zwischenräumen, so ist dieser Schall rein regelmäßiger Ton, wie ihn die Musik fordert. Folgen aber diese Schläge ungleichmäßig oder in ungleichen Zwischenräumen auf einander, so entsteht daraus ein unordentliches Geräusch, das zur Musik ganz ungeeignet ist.14 Das medienarchäologische Gehör fasst sonische Ereignisse dies- und jenseits des eigentlich musikalischen Bereichs, ganz im Sinne der Radiofrequenztechnik; demgegenüber stellt Musik eine Form der Modulation durch Semantik dar: »Musica quid est? Bene modulandi scientia«, heißt es in der Scolica Enchiriadis um 875.15 Es herrschen zwei Zeitregime: periodische und unstetige Vorgänge auf medienarchäologischer Ebene, nahe dem kontingenten Mikroereignis; musikalische Makrozeit aber ist eine dramaturgische. Für das Wissen um die zeitliche Dynamik der schwingenden Saite sensibilisierte erst die Mathematik des Inifinitesimalen. Die pythagoreische Proportionsästhetik (via Boethius) verhinderte gerade die Einsicht und das Einhören in Schwingungen bis in die frühe Neuzeit. Was sensibilisierte diese Neuzeit demgegenüber für Oszillationen, für die Allianz aus Takt und Kontinuierlichem? Eine wundersame Kombination aus dem christlich-theologischen Verständnis für infinite Prozesse, Zeitdauer und Ewigkeiten (Augustin), also ein tuning des Zeitsinns einerseits, und die Existenz der getakteten Räderuhr aus den benediktinischen Klöstern des Spätmittelalters andererseits.

13 Moles 1971, 107. 14 Euler 1948 (1760), Brief vom 26. April 1760. 15 Schmid 1981, 60.

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3. Echtzeit-Poesie der Epensänger und Zeitreihenanalyse Was heute für die Taktung von Computern gilt, ist der Kultur ansatzweise vertraut aus der sogenannten mündlichen Poesie, wo senso-motorische Servomechanismen neurologische Feedbackschleifen spiegeln. Milman Parry und Albert Lord haben das Geheimnis längstverklungener homerischer Poesie anhand der epischen Gesänge der guslari im früheren Südjugoslawien erforscht.16 Die effektivste Methode zur Rezitation umfassender mündlicher Epen in schriftlosen Gesellschaften beruht darauf, nicht die komplette Ton- und Silbenfolge sequentiell im Gedächtnis zu speichern und abzurufen, sondern formelhafte Routinen und damit fast schon Algorithmen zur echtzeitigen Reproduktion der gespeicherten Motive zu entwickeln. Das Parry-Theorem einer solchen mündlichen Formel definiert »a group of words which is regularly employed under the same metrical conditions to express a given essential idea«.17 Der Informatiker Werner Zorn beschreibt die Fähigkeit des motorischen Gedächtnisses als »die Fähigkeit, komplizierte musikalische Funktionen in Form von Elementaralgorithmen zu realisieren, ohne daß deren Ausführung im einzelnen noch bewußt gemacht werden muß«.18 Pattern-matching ist elementar für alle lernenden servo-motorischen Systeme, die zwischen varianten und invarianten Eigenschaften unterscheiden. Das Metrum ist die mathematische Zeitbasis musikalischer Prozesse, als Taktung; demgegenüber bildet der Rhythmus Muster, eine buchstäbliche Überlagerung von Frequenzen: »Erst durch den Rhythmus, der es überlagert, wird das Metrum lebendig.«19 Epische Prosodie operiert auf der Basis von Silbenzeiten. Eine Zeitleiste gibt auch in der elektronischen Musik den Parameter von Beats pro Minute. Der Sequenzer untertitelt diese Leiste in gewählte und kalkulierte Quantisierungen, die an die im MIDI-Verbund gekoppelten Soundquellen ausgegeben werden. Sampler, Synthesizer und Drummmachines verfügen über ihre eigenzeitlichen Einheiten (Arpeggiator, interner Sequencer mit Loopfunktion, Timestretching). »Die dominante lineare Zeitleiste, nämlich die des Master-Sequencers, kann damit unterwandert werden«20 – etwa als Überlagerung von Loops mit verschiedenener Metrik, vergleichbar mit der filmischen motion-Operation (time axis manipulation). Der Autor von SuperCollider schildert die Urszene: »Ich erinnere mich noch genau, als ich das erste Mal einen meiner Synthesizer auf einem

16 Lord 1965. 17 Parry 1971, 272. 18 Zorn 1988, 10. 19 Von Wilpert 2001, 690. 20 Danner 2000, 178.

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Rechner kompilierte, der Töne schneller berechnen konnte, als sie in Echtzeit abspielbar waren. Das war für mich die Wende.«21 Mit Supercollider wird eine temporalisierende Entwicklungsumgebung etabliert, »in der für Komponisten das Schreiben von Software und die Aufführung von Musik zu einem Prozess verschmelzen«.22 Echtzeit selbst fungiert hier als Medium – im Sinne von Zeit als medialem Kanal. Der Neurobiologie ist es vertraut, wie zeitliche zerstückelte Wahrnehmungssplitter aus der Umwelt durch das Hirn fast selbstlaufend in zeitlich zusammenhängende Muster transformiert werden, und privilegiert im Musikerlebnis wird dieser Integrationsmechanismus deutlich: Ohne eine Ereignisbindung, die sich über eine bestimmte Dauer erstreckt, würden wir nur sequentiell präsentierte Einzeltöne hören. Tatsächlich aber werden wir von einem musikalischen Motiv, das eine zeitlich zusammenhängende Gestalt bildet, bewegt. Obwohl ein Ton oder Klang schon verklungen ist und darauffolgend ein anderer zu hören ist, wirkt das Vergangene noch nach. Erst auf diese Weise entsteht in uns das Empfinden für die Melodie.23 Wir erkennen hier das akustische Äquivalent zur poietischen Erzählung und zur Form der zeitlichen Organisation von Musik in Sekunden-Segmenten, die von Komponisten bewusst eingesetzt wird. Der Vater von Norbert Wiener, Leo Wiener, lehrte Slawistik an der Harvard University bis 1930; traf er dort auf den jungen Dozenten Milman Parry, vor dessen erster Expedition nach Südjugoslawien 1934? Bringen wir – in einer Theorie-Fiktion – Wieners harmonische Analyse zur Anwendung in der Analyse der phonographischen Aufnahmen Parrys und Lords. »Stated [...] in more musical terms, Wiener was hoping that his apparatus would be as good as the human ear.«24 Medienwissenschaft erinnert daran, dass John Cages Konzept musikalischer Zeit mit der mathematischen Theorie der Information von Shannon und Wiener korreliert; Cage wurde vom militärischen Dienst im Zweiten Weltkrieg suspendiert, um seinem Vater bei der Radarforschung zu assistieren.25 Radar war im Einsatz der Flugabwehr, und hier kommt nun Wieners Mathematik der Interpolation und Extrapolation von Zeitreihen zum Zug, der mit musikalischer Wahrnehmung die Zeitfigur der antizipierten Zukunft teilt, ebenso wie Markov-Ketten in der Stochastik:

21 McCartney 2003, 265. 22 Ranzenbacher 2003, 341. 23 Wittmann, Pöppel 2000, 87. 24 Masani 1990, 185. 25 Gere 2006, 96.

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As a piece of music unfolds the listener is constantly modifying what he expects to hear on the basis of what he has already heard. The listener also estimates what he thinks will come next on the basis of his knowledge of the style in which the piece of music has been composed [...]. [...] there is plenty of information but the speed at which it impinges upon the listener may be too fast and exceed his ›channel capacity‹ [...]26 – weshalb Wiener auch den Elektronenrechner fordert, dessen Geschwindigkeit (die von Elektronen in Vakuumröhren) mit den tatsächlichen Ereignissen zu konkurrieren vermag. Mit dem gleichen techno-mathematischen Werkzeug wird nicht nur die Positionierung eines Flak-Geschützes als Antizipation der nextwahrscheinlichen Bewegungen eines feindlichen Flugzeugs berechnet, sondern der Fluss akustischer Signale. »For a listener to perceive a significant structure in a musical composition it must present him with a temporal-tonal sequence which is neither too certain nor too uncertain« (ebd.). Es kommen also nicht nur militärisch-taktische Argumente der Flugabwehr, sondern auch ästhetische Argumente ins Spiel: Rosenblueth cites the large number of [...] isomorphic (or similarly structured) systems involved in the transition from the set of events that constituted the composition of the piano sonata, Opus 111, by Beethoven in 1823, to the set of events in the mind of a listener today of a Schnabel recording of the sonata made in 1932. Here the relational structures that remain invariant are the ratios among the fundamental frequencies of the simultaneous or successive sounds, their intensity, duration timing and the like. And an important transformation T is between these and the musical notation on sheets of paper (coding), another important T being the final mental decoding that enables us to appreciate the sonata.27 Schon der elektrophysikalische Signalbegriff bringt Zeit als Parameter von Übertragungsprozessen ins Spiel; die dezidierte Entdeckung der Zeit als kritischem Parameter in der Informationstheorie aber verdanken wir pointiert der Kybernetik. Hier geht es um Wahrscheinlichkeitsverteilung als Funktion von Zeit, anders als in der klassischen Newtonschen Physik, wo Zeitpunkte (etwa für die Wiederholung von Experimenten) unerheblich bleiben. Die Natur des Impulses selbst ist zeitkritisch; was hier buchstäblich zählt, ist die Frequenz. Signalverarbeitung prozessiert die Zeit. Hiermit geraten wir ins

26 Der Molekularbiologe Gunther Stent: Stent 1969, 102. 27 Masani 1990, 200.

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Zwielicht von Jüngstvergangenheit und Gegenwart. Wenn der Gegenwartsbegriff von einem punktuellen zu einem des Intervalls erweitert wird, kommt es zu einer relativischen Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in diesem Zeitfenster (das als »Echtzeit« rechenbar wird), wie es Augustin in Buch XI seiner Confessiones beschreibt. Speicher und Aktualität bilden also ein Differential. Für die Gegenwartsdauer T kann [...] eine Größenordnung von etwa 10 sec ermittelt werden. Dies entspricht [...] den künstlerischen Einheiten der Musik (›Motiv‹, ›Phrase‹ – also Thema ohne Variation), der Lyrik (Vers oder kürzere Strophe), der Mime (Bewegungsstück) – Einheiten, die nur deshalb als Einheiten empfunden werden können, weil sie in ihrer Gesamtheit gegenwärtig werden.28 Der von der Hemmung in der Räderuhr in die phänomenale Welt gesetzte Sinn für regelmäßigen Takt kommt zum Zug in der Ästhetik der Vorhersehbarkeit, Vorherhörbarkeit, Vorhersagbarkeit: als eine Korrelation zwischen dem, was bis zur Zeit t geschehen ist, und dem, was im unmittelbar folgenden Moment geschehen wird – sei es durch Extrapolation der Elementenfolge, sei es durch Hochrechnung aus der unmittelbaren Vergangenheit. »Es gibt einen Grad der Vorhersehbarkeit, der nichts anderes als der Grad des Zusammenhanges des Phänomens, ein Maß für seine Regelmäßigkeit ist.«29 Im mathematischen Sinn ist diese Beziehung eine Autokorrelation, eine Funktion der Zeit, über die sich das Vorhersehen erstreckt. Doch keine Autokorrelation ohne (technisches) Gedächtnis, denn der Ausdruck einer Korrelation zwischen dem, was im Augenblick t und im nachfolgenden Augenblick stattfindet, erfordert das gleichzeitige Vorhandensein von f(t) und der Funktion dieses nachfolgenden Augenblicks, also eine Aufnahmevorrichtung, die instantan den Wert der Funktion meldet, in der die Elemente der Nachricht t zum Ausdruck kommen. Musikalische Formerkennung ist also eine Funktion von Redundanz auf Basis von Zwischenspeichern: Dieser Vorgang ist die funktionale Definition dessen, was man Gedächtnis nennt. Vom Standpunkt der wissenschaftlichen Methodologie her ist die Feststellung interessant, daß der Begriff des Gedächtnisses, der von den Wissenschaften vom Menschen [...] ausgegangen ist, in die physikalisch-chemischen Wissenschaften erst mit dem technologischen Fortschritt der Aufnahmegeräte hat eindringen können.30

28 Frank, Meder 1971, 91. 29 Moles 1971, 99. 30 Ebd., 10.

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4. Zeitfelder (mit Stockhausen) Die Rede ist im 20. Jahrhundert in sonischen und anderen Zusammenhängen verschiedentlich vom »Zeitfeld«; nehmen wir den Begriff wörtlich und führen ihn epistemologisch auf Michael Faraday zurück, der mit dem »Feld« ein dynamisches Phänomen benannte, das sich dem altgriechischen Begriff kosmischer (also räumlich oder zyklisch geordneter, letztlich statischer) Naturwissenschaft entzieht: das elektromagnetische Feld. In diesem Feld wird Zeit als differentialer Prozess überhaupt erst erzeugt. Das theoretische und das musikalische Äquivalent dazu finden sich in Karlheinz Stockhausens programmatischem Aufsatz »... wie die Zeit vergeht ...«31 sowie in seiner Komposition Zeitmasze (1955/1956): Zeitfelder größerer Ausdehnung kommen in die Komposition: Strukturen bewegen sich zwischen streng gerichteten Zeitlinien [...] und richtungslosen Zeitfeldern, in denen verschieden große Massen von Tönen zu vibrierenden Klangpulks pulverisiert werden: dynamische und statische Zeitformen kommen – oft gleichzeitig – ins freie Spiel.32 Die Epistemologie des elektromagnetischen Feldes greift also über in die Zeitästhetik von Musik; sie wird hörbar, gar komponierbar. Stockhausen ersetzt hier einen transzendenten Zeitbegriff durch einen seinerseits zeitigenden und trifft damit ins Herz der epistemologischen Allianz von Medienarchäologie und akustischer Ereignisanalyse. Bereits in der traditionellen Musik begegnen uns vor zuallererst Zeitmaße wie adagio und moderato; überhaupt werden alle musischen Äußerungen von Kultur, etwa schon das Drama, als Zeitordnungen definiert.33 Als Kind des 20. Jahrhunderts diagnostiziert Stockhausen ebenso die durch technologische Übertragungsvehikel induzierte neue Zeitempfindung, die Gleichzeitigkeit ganz verschiedener Geschwindigkeiten, die Vieldimensionalität von Zeitschichten.34 Doch entscheidend ist für Stockhausen die wahrhaft techno-logische Verbindung von Zeitprozess und medialer Eigenzeit (nämlich Resonanz) in der Materialität des Instruments – gleich wie Mathematik erst implementiert im Computer zeitlich operativ zu werden vermag. »Die ZEITMASZE ergeben eine ganz dem Instrument und

31 Stockhausen 1957. 32 Stockhausen 1956/2002, 10. 33 Dazu Ernst 2007. 34 Vgl. dazu Virilio 1999.

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der besonderen Instrumenten-Zusammenstellung eigentümliche Zeitstruktur«35 – Zeitverhältnisse, die so nur mit diesen Instrumenten zu verwirklichen sind.

5. Sonische Zeit als Modellfall von Medienprozessen Die spezifische Affinität von Musik und hochtechnischen Medien setzt einen anderen, nämlich operativen Akzent gegenüber der altehrwürdigen Erkenntnis des Zusammenhangs von Musik und Mathematik. Anhand der Kopplung von Musik und Medien lässt sich ebenso exemplarisch erforschen wie ästhetisch erfahren, dass pure technologische Operationen in temporale Semantik übergehen – geradezu »parasemantisch«, um hier einen von der antiken Musiktheorie, namentlich Aristoxenos geprägten, nunmehr unter den Möglichkeitsverhältnissen digitaler Signalverarbeitung medienarchäologisch reaktualisierten Begriff wieder aufzugreifen.36 Musik ist idealtypisch zeitgebunden; »hier gewonnene Erkenntnisse scheinen auf andere algorithmisch formulierbare Kunstformen durchaus übertragbar«37 – wie es das live coding etwa in der Programmierumgebung SuperCollider für Echtzeit(netz)musik praktiziert.38 Sonische Zeitschichten entfalten sich auf den Niveaus von Akustik, Klang und Musik. Auf der mittleren Ebene vollziehen sich dann jene Phasen, mit denen Stockhausen die Zeitabstände, also Intervalle zwischen Veränderungen benennt – ¨t; auf mikrotemporaler, also zeitkritischer Ebene aber steht dieses Zeitmoment dem Ereignis des physikalischen Signals näher als die Musik in ihrer makrotemporalen Dramatik, insofern auch das physikalische Signal einen Zeitverlauf darstellt. Stockhausen stößt dabei auf direkte Beziehungen, Kurzschlüsse und Interferenzen zwischen makroakustischen und mikroakustischen Zeitverhältnissen – analog zu dem, was Pythagoras als harmonische Proportionen feststellt, doch diesmal im Zeitbereich.

35 Stockhausen 1956/2002, 9f. 36 Dazu Carlé 2007. 37 De Campo, Rohrhuber 2007. 38 Siehe Collins, McLean, Rohrhuber, Ward 2003, 327 hier; auch das Beispiel eines entsprechenden Demo-Kodes für ein minimales Setup in SuperCollider, dem der historische Index von Version SuperCollider2 eingeschrieben ist (Programmierung ist ein Spezialfall von Historiographie, also Verschriftlichung von Zeitereignissen): {t= TSpawn.ar(nil)}.play t.source.triggerSynth(Synth.new({SinOsc.ar(440,0,0.1)}))

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Wichtig ist für den Musiker Stockhausen die Einsicht von Helmholtz, dass die Farbe des Klangs ein Ergebnis seiner zeitlichen Strukturierung ist, so dass auch elektronisch in diese Zusammenhänge kompositorisch eingegriffen werden kann. Die eigentliche Botschaft der elektronischen Medien an die Musik ist also nicht so sehr der synthetische Ton, sondern die musikalische Zeit(phasen)manipulation, ein Eingriff ins Musikalische nicht auf dem Feld des Tons, sondern der Temporalität. Sonische Prozesse gereichen zum Modellfall von Medienanalysen, insofern sie dem zeitlichen Kanal von Medienvollzügen wesensgleich sind. Diese medienwissenwollenden Untersuchungen sonischer Prozesse dienen ebenso der Analyse von auf den ersten Blick scheinbar andersartigen Vorgängen, im Sinne etwa von Nam June Paik und von Bill Violas Begriff des elektronischen Videobilds als »Klang der Einzeilen-Abtastung«.39 Auch hier wird die Nähe zum Klang in Bezug auf den Zeitvollzug bemüht. Mit der Oszilloskopie als elektronischem Verfahren der Klanganalyse ist eine Epistemologie auf den Plan gerufen, die an der Musik die Zeit erkennt. Der akustische Kanal ist medientheoretisch privilegiert, aber nicht, um wieder auf Musik hinauszulaufen, sondern um auf zeitkritische Prozesse und die Analyse mikrotemporaler Ereignishaftigkeit in ganz diversen Feldern hinzuweisen (etwa dem elektromagnetischen Feld selbst, welches Maxwell in seiner eminent zeitkritischen, vektorbeschreibbaren Dimension durchrechnete). Methodisches Ziel der medienarchäologischen Klanganalysen ist also nicht ausschließlich die Computermodellierbarkeit von musikalischen Prozessen, sondern dieselben als Modellfall von Mediumvorgängen überhaupt. Allerdings wird in elektronischer Musik und Computermusik das Wesen techno-mathematischer Zeitprozesse besonders sinnfällig – als ästhetische Form von Medientheorie.

6. Musik und Mathematik verzeitlicht: der Computer Die Mathematik digitaler Signalverarbeitung lässt eine andere Musik der Zeit erklingen, als sie der kompositorischen Zusammenstellung von Notenzeichen und der Ästhetik platonischer Sphärenmusik eigen ist. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der medienepistemische Sprung von der Rechenmaschine zum elektronischen, zeitkritischen Computer. Mit der Rechenkraft des Computers wurde nicht so sehr die Numerik an sich revolutioniert, sondern sie wurde blitzschnell und selbstmodifizierend flexibel

39 Viola 1993.

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ausführbar – geradezu eine Wesensveränderung. Mit dem Zeitkritischwerden geschieht eine ontologische Veränderung im Da-Sein-zur-Zeit, weil Menschen auf der Ebene ihrer sensorischen Signalverarbeitung selbst simulierbar werden. Erst im Elektronischen erhält die Rechenmaschine eine Geschwindigkeit, welche sonische Zeitprozesse selbst noch unterläuft – mit Frequenzen, Takten, Speicherzugriffszeiten im hochsynchronisierten Bereich. »Als ›Ton-Rundfunk‹ bezeichnen wir die Technik, akustische Signale, zum Beispiel menschliche Sprache oder Musik, zu einer großen Anzahl von Empfängern zu übertragen«40; Musik im elektronischen Feld ist nur der Sonderfall der Modulation ungedämpfter elektromagnetischer Schwingungen, ein kleiner »kultureller« Ausschnitt in deren Spektrum, in einem Wellengeschehen, das sich zum Licht und zur glühenden Hitze ausweitet. Damit aber hat Musik den Schallraum verlassen und findet ihre Möglichkeitsbedingung (arché) auf einer grundlegenderen Ebene transklassischer Physik. Nachdem sich die Entdeckung der Lichtgeschwindigkeit (also der Endlichkeit des Lichts) zunächst anhand von Analogien zur Laufzeit von Schall abspielte (Huyghens), wurde diese Analogie spätestens bei Euler hinderlich: Er muss (wie andere) einen hypothetischen minimalstpartikulären Äther behaupten, um in Analogie zu Luftstößen (also Schall) die Übertragung von Licht zu erklären. Demgegenüber steht das Modell der elektromagnetischen Felder. Inzwischen ist Elektrotechnik Technomathematik geworden. Zeitkritik im akustischen Raum ist heute ein Spielfeld der Hochzeit von mathematischem Kalkül und elektronischer Geschwindigkeit. Es sind die strikt zeitkritischen Bedingungen elektro-mathematischer Medien, welche Netzwerke zeitabhängiger und zeitkonsumierender Audioalgorithmen zu Modellen für eine zeitindizierte Neuordnung auch allgemeiner Medienoperationen des Speicherns, Verarbeitens und Übertragens am Horizont informierter Kulturtechniken werden lassen.41 Nicht nur als mediale Plattformen digitaler Musikpraxis, sondern auch als Forschungsinstrumente zur neurowissenschaftlichen Durchdringung akustischer Hörvorgänge bis hin zur Modellbildung des musikalischen Hörens in den Kognitionswissenschaften hat sich die Software von Computermusik und Simulatoren akustischer Prozesse digitaler Signalverarbeitung erwiesen. Dass es bei aller Wesensverwandtschaft von Computertaktung und Rhythmus nicht primär um Musik geht, sondern um Funktionen des Akustischen, wird anhand dynamischer Speicher in frühen Computern manifest. Einst tat ein Lautsprecher am Magnettrommelspeicher von Konrad Zuses Z22 als akustisches Interface technomusikalisch kund, ob das Programm abgearbeitet wurde oder sich in einer Endlosschleife befand. Alan Turing,

40 Steinbuch 1968, 111. 41 Carlé 2007.

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der Begründer der mathematischen Maschinentheorie des Computers, beschreibt die zeitkritische Praxis, wenn es um die Programmierung des Einfädelns von Datenstreams geht (wo zu jedem Zeitpunkt ein neuer Wert geliefert wird). »We can so define the direction of time« als »probability distribution for events of that time.«42 An die Stelle sequentieller Ordinarität tritt damit die Zeit selbst als dynamisches Ordnungskriterium. Turing formulierte es eindeutig für den digitalen Rechner: »Treat time as discrete.«43 Das Zusammenspiel von Zeit und Takt bildet die »Musik« des Computers: Um einen Rechenzyklus wiederholt in Gang zu setzen, wie es Laufzeitverzögerungsspeicher praktizieren, muss das Speichersystem mit einem Taktsignal versehen sein, um damit die Zeiten zu unterscheiden, wann ein Impuls erfolgen soll. »Es wäre beispielsweise natürlich, den Rezirkulator [...] mit einer Sinuskurve als Takt auszustatten«44 – das zyklische refresh des Speichers erlangt quasi-sonische Qualität.

7. Induktive Klangzeit (Gabor, Xenakis) Die Heisenbergsche Unschärferelation besagt für die Nanoebene quantenphysikalischer Vorgänge, dass entweder der Ort oder die Frequenz einer Wellenbewegung, also Momentum oder Impuls festgestellt werden kann – das Dilemma von Fourieranalyse (Frequenzbereich) versus Zeitdarstellung in der Analyse von periodischen Vorgängen vom Typus Klang und Licht. Nur dass hier das Ohr die Integration beider leistet (anders, als es Messmedien für die Quantenphysik zu leisten vermögen). Die »Zeitwahrnehmung« ist also selbst schon eine Integration; Zeit ist der Sammelbegriff für Prozesse, die komplexer sind als die Reduktion auf ¨t. Die Theorie (Gabor), Mathematik und mediale Operativität von Wavelets trägt dem Rechnung (computing). Wenn eine sich ändernde Größe wie der Schalldruck in Frequenzen dargestellt wird, so ist dies im Prinzip einer Zeitdarstellung gleichberechtigt. Beide können zumindest theoretisch vollständige Darstellungen der Realität sein, wenn die Zeitpunkte oder die Frequenzen kontinuierlich gedacht werden – »kein Problem für den Mathematiker«45, und damit auch computerrechenbar. Wird die Frequenzdarstellung gewählt, so gibt es im Bereich dieser Darstellung keine

42 Wiener 1948/1950, 200. 43 Siehe Turing 1950. 44 Turing 1987, 191. 45 Stolze 2007.

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Zeit mehr. Doch das menschliche Gehör vernimmt am Ton die Zeit, denn es spielt sich hier eine gemischte Art von Beurteilung des sonischen Ereignisses vor. Für klangbildende Ereignisse, die sich ultraschnell abspielen, wird die Frequenzanalyse praktiziert. Im gröberen Maßstab kommt die Zeitdarstellung zum Zug. Die Verschränkung beider Zugriffe findet ihr medienanalytisches Korrelat im schönen Begriff der Wavelets, der dynamischen Integration von Zeit und Zahl: »Mathematically, position and momentum correspond to the two different sides of the Fourier transform. [..] integrals are the natural tools to use to express them.«46 Die vormals aporetische Alternative von Zeit- und Frequenzdarstellung findet also ihre technomathematische Antwort in den Wavelets. Das Opfer der Fourieranalyse als mathematischem Verfahren, kleinste Ereignisse in der Zeit (nämlich Signale) from time-based to frequency-based zu transformieren, war bislang die Zeit selbst. Dieser Verlust trifft sonische Ereignisse mitten ins Herz: In transforming to the frequency domain, time information is lost. When looking at a Fourier transform of a signal, it is impossible to tell when a particular event took place. If the signal properties do not change much over time – that is, if it is what is called a stationary signal – this drawback isn’t very important. However, most interesting signals contain numerous nonstationary or transitory characteristics: drift, trends, abrupt changes, and beginnings and ends of events.47 Frequenzanalysen lösen Zeitverläufe in Bestandsaufnahmen auf. Für dämpfungsfreie Systeme gilt, dass die Zustandsgröße einer harmonischen Schwingung sinusförmig ist; der Witz beim Anschlag einer Klaviertaste aber ist gerade sein unstetiger Klangverlauf. Dem sucht die Short-Time-Fourier-Analysis beizukommen. Denis Gabor modifizierte 1946 die Fouriertransformation, um lediglich einen schmalen Ausschnitt des Signals zu einem gegebenen Zeitpunkt zu analysieren – windowing the signal. Diese Form akustischer Information kann definitionsgemäß nur mit begrenzter Präzision gewonnen werden, buchstäblich definiert durch die jeweilige Größe des Ausschnitts. Waveletanalyse eröffnet demgegenüber buchstäblich Zeitfenster. Gabor suchte der Alternative »signal as a function of time« versus Fourieranalyse zu entkommen, denn our »auditory sensations insist on a description in terms of both time and frequency«48 – soviel zum Verhältnis von mathematischer Modellierung von physis (Welt) und ihrer Empfindung. Gabor wählt die Sprache der Quantentheorie zur

46 Burke Hubbard 1997, 51. 47 Ebd. 48 Gabor 1946, 429.

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Beschreibung jener »harmonic oscillations modulated by a ›probability pulse‹«.49 Zeit und Frequenz werden dann die Achsen in Diagrammen, »intermediate between the two extremes of time analysis and spectral analysis«.50 Resultat ist die Gabor-Matrix (die auch Werner Meyer-Eppler in seinem Buch Grundlagen und Anwendung der Informationstheorie aufgreift51). Aus diesem Werkzeug einer technomathematischen Klanganalyse wird dann unter den Bedingungen elektronischer Musik unversehens ein Werkzeug der Komposition; an die Stelle einer rein zeitachsenbezogenen Klanganalyse tritt die Phase, die Dynamik der Induktion. »Das akustische Quantum nimmt im Informationsdiagramm Funktionen ein, die in der Musik von Xenakis dem Glissando zukommen«52; O-Ton Xenakis: »Jeder Schall stellt eine Integration von Korpuskeln, elementaren Klangteilchen, Tonquanten dar«53 – und damit eine Ereigniswelt für sich. An die Stelle punktueller Schallereignisse tritt die dynamische Klangbewegung, die sonische différance. »Ein Glissando ist weder Ton noch Note, sondern eine kontinuierliche Veränderung der Tonhöhe in der Zeit. Insofern unterläuft es den symbolischen Code der Musik«54 – zugunsten dessen, was in einer Mischung aus dem Begriff klanglicher Realität und der Mathematik von Reellen Zahlen das sonische »Zeitreal« genannt werden mag.

49 Ebd. 50 Ebd. 51 Meyer-Eppler 1959, 23. 52 Kursell, Schäfer 2005, 176. 53 Xenakis 1960, 63. 54 Kursell, Schäfer 2005, 173.

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Bewegung Berührung Übertragung Einführung in eine historische Anthropologie des Klangs Holger Schulze

Sie blättern diesen Band durch. Sie stoßen auf diesen Beitrag, überblättern ihn vielleicht oder lesen sich hier fest; vielleicht haben Sie diesen Beitrag auch gezielt gesucht? Als Lektüre für einen zu schreibenden Artikel, ein Referat, eine Seminararbeit, vielleicht weitere Anregung für ihre eigenen Studien? In dieser Situation, hier und jetzt, am Ort und zum Zeitpunkt, da Sie diese Zeile hier lesen, befinden Sie sich in einer klangökologisch und klanganthropologisch genau bestimmbaren Umgebung. Das Gleiche gilt für mich, den Autor, der den Anfang dieses Textes an einem frühen Dienstagmorgen im Spätsommer oder Frühherbst des Jahres Zweitausendsieben zu schreiben beginnt. Sie und ich, sowie alle näher oder ferner um uns herum sich aufhaltenden Klangquellen sind Klanghandelnde in unserem »Individualphonotop«.1 Handelnde, deren schierer Lebensvollzug, deren Ausführung vorgegebener Handlungen sich niederschlägt in vielen Auswirkungen auf ihre Umgebung: auf gasförmige Atmosphäre, Partikelströme, Hitze- und Kälteschwaden, Pulse und Stöße, Rütteln und Surren. Die Maschinen und Infrastrukturen, die Menschen und Tiere, Lautsprecheranlagen und Elektrizitätsnetze, die Gespräche und kleinen, sich räkelnden Bewegungen, all dies ergibt Klangsphären, kugelförmig sich ausbreitende Wellenfronten, die einander überlagern, abgestoßen werden und zurückprallen oder hungrig aufgesogen und abgedämpft werden. Eine räumliche, hochverdichtete und schnellbewegliche Körperregung umgibt und durchdringt uns in Gestalt aller Klänge, die wir wiederum auf eine bestimmte Weise erleben können. Die Hörerfahrungen, die Sie oder ich gemacht haben und immer wieder auf‘s Neue machen, sie bilden Hörweisen heraus, die weniger Methoden als Heuristiken

1 Sloterdijk 2004, 592.

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ähneln: Weisen des Findens neuer, hilfreicher, für Sie oder mich je anregender Klangereignisse. Klänge, Geräusche, Sounds, die Sie oder mich berühren. Die wir nicht zuallererst rechtfertigen müssen durch ihre Entstehungsweise und ihren kulturellen, symbolischen oder materiellen Wert – sondern die uns ergreifen. Deren Klanggestalt in unserem Körper andere Verhältnisse von Spannung und Lösung zurücklässt. Wohltuend vielleicht; vielleicht schlicht wirksam und nachhallend. Ein Klangerleben bildet sich in uns, durch wiederholt berührte Neigungen, angeregte Ablehnungen oder Begehren. Grundiert und geordnet wird unser Erleben von Klängen aber erst durch die Weise, wie wir uns darüber austauschen, unsere Hörerträge und -wirkungen weitergeben, überführen womöglich in künstlerische oder erzählerische Artefakte. Sie weiter- und übertragen, hin zu anderen Menschen und Tätigkeits-, Erlebniszusammenhängen. Eine Übertragung findet statt, von Handlungen und ihren Wahrnehmungen, ihren Empfindungen. Diese drei soeben durchlaufenen Formanten der Bewegung, Berührung und der Übertragung, sie kehren im Sprechen über Klang immer wieder. Dieses Sprechen ist nicht naiv, sondern gibt Verhalten und Zugangsweisen seiner Sprecherinnen und Sprecher zu Klängen wieder: Wie ich spreche, das bedeutet, wie ich erlebt habe. Im Folgenden möchte ich in der Form eines offenen Mobile, eines Bewegungsspiels aus Denkkörpern diese drei Formanten der Bewegung, der Berührung und der Übertragung das gesamte Spektrum der Fragen durchlaufen lassen, die eine historische Anthropologie des Klanges untersucht. Dieses Spektrum zeigt menschliche Erfahrungsfelder, die sich geschichtlich wandeln und in denen Klänge in ihren Wirkungen erlebt werden und in der Folge begrifflich nachvollzogen werden können. Vollständigkeit und Abgeschlossenheit aller Erfahrungsfelder ist darin nicht beabsichtigt, sondern ein hinreichend reiches Umkreisen greifbarer und naher Fragen, die sich stellen, wenn Menschen mit gegebenen Klängen umzugehen – und in Klängen zu handeln haben.

1. Raum In der europäisch geprägten Geschichte der letzten Jahrhunderte, bis in überlieferte Bruchstücke von Schriften, die weit hinter der Jahrtausendschwelle liegen, wurde das Sprechen über Hörbares und Klingendes als musik- und kompositionstheoretisches Sprechen verstanden. Dieses Sprechen konnte nicht auf Klänge hinweisen, da diese mangels technischer Gerätschaften nicht aufzuzeichnen waren; es sprach über die zeichenhafte Niederschrift der Klänge durch Hörende und Komponierende.

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Der Zeichenstrom der Partituren und der Klangfluss aufeinanderfolgender, wohlartikulierter Töne in hinreichend gereinigten Oszillationen und Obertönen, dieses Fließen einzelner Klangpunkte und -striche zog das Sprechen über Klang hin zu einem Sprechen über ›Zeit‹. Begeistert und angeregt entfaltete sich im Denken über Klang ein nostalgischer Exotismus des vermeintlich Ungreifbaren, Unkörperlichen, Ortlosen: Ätherhauch und Engelsgesang, Stimmen der Götter und Musen. Klang und Klangfarbe waren in ihrer räumlich ausgedehnten Körperlichkeit nicht zu messen und kaum zu begreifen; so brauchte es die technischen Apparaturen der Experimentalwissenschaften des 19. Jahrhunderts, um Klänge in ihrer Materialität grundlegend anzuerkennen. Seitdem vervollständigte nun die Physik des Klanges eine jahrhunderte-, jahrtausendelange Vermutung: Ja, Klänge entfalten sich in der Zeit, doch im Raum breiten sie sich aus und erhalten materielle Wirklichkeit. Dieses Gespür für einen Raumkörperklang propagierten die neuzeitlichen Künste pionierhaft in Bühnenklangraumentwürfen einer Ästhetik des Gesamtkunstwerks, in Rauminszenierungen der Neuen Musik im 20. Jahrhundert, in Spielanordnungen des Fluxus, in Performances und Happenings bis hin zu Klassikern der Klangkunst wie etwa Bernhard Leitner. Den europäischen Kulturkreis wiesen sie durch ihre eminenten Arbeiten auf die unauflösliche Verbindung von Architektur und Klangkunst hin. Die technische Akustik etwa in den Studien von Jens Blauert vertiefte ihre Forschungen zur Raum- und Bauakustik. Seither gilt: Ohne Raum und materiell-körperliches Substrat der Schwingung ist Klang nicht denkbar. Zeit wiederum wird als eine Funktion des Schallausbreitung ermöglichenden Raumes verstanden: Die Zeit, die ein Klang braucht, um in einer Kathedrale, einer Messehalle oder einem Einkaufszentrum sich auszubreiten, ist notwendig eine andere als die in einem schalltoten Raum, in unserem voll möblierten und belebten Wohnzimmer oder gar in einem rechnerisch erzeugten Raum. Klangkünstlerische Arbeiten, etwa von Mark Bain oder Sam Auinger, machen hörbar, wie die raumzeitliche Grundlage des Klangs bis hinein in unsere Alltagsarchitektur sich auswirkt. Materielle Raumgrenzen sind keine Schallgrenzen, sondern mindestens Membranen, oft sogar Resonatoren, die den Klang gewandelt weiter übermitteln. Das Tonstudio als eminenter Raum gegenwärtiger Klangerzeugung hat dabei eine ganz eigene, entrückt-volatile Raumzeitlichkeit erzeugt, die es notwendig macht, diese Eigenräumlichkeit und Eigenzeitlichkeit als solche zu untersuchen. In vielen Durchgängen, nach Spuren getrennt, in Kabinen einzeln aufgezeichnete oder auch in Netzwerken weltweit verteilter Laptops synthetisch generierte und modifizierte Klänge beruhen auf anderen Erfahrungsweisen der Raumzeit als etwas das eingeübte Ensemblespiel in berührungsnaher Abstimmung und Einschwingung im gleichen physischen Raum. Bis heute ist es technisch nicht möglich, die Schallbrechungs- und widerhallverhältnisse

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eines Raumes in tatsächlich allen Einzelheiten menschlichen Eingreifens und Bewohnens zu berechnen – einen »démon de Laplace«, einen LaPlaceschen Dämon können wir uns nicht leisten, geschweige denn einen diesem zugrunde liegenden kausalistischen Determinismus. Eine raumklangliche Situation kann nur als Modell und also stark vereinfacht berechnet werden; aufgrund der hochverfältelten Wechselwirkungen des Widerhalls und der Überlagerung von Wellen bleibt stets einen großer, auch Tonmeister und Ingenieure immer wieder überraschender Rest: Wie hört sich dieser Raum wohl an, wenn Menschen ihn tatsächlich beleben? Die größte Aufgabe der Klanggestaltung stellt sich denn auch in der Gestaltung unserer täglich genutzten Räume – Büros, Warte- und Besprechungsräume, Wohnungen, Einkaufspassagen, Verkehrsstraßen: im Tagesgeschäft der Investoren-Architektur, der Architekturteams und -büros, die unsere Tage und Nächte in Gehäuse hüllen. Aural Architecture (Blesser2) oder Auditive Architektur (Kusitzky/Arteaga3) sind allzu oft mehr hochgestecktes Ziel als lakonisch-alltägliche Praxis. Muss die Klanggestaltung der Architektur sich doch selbst bei Entwurf und Bau von Konzerthallen, Parlamentsgebäuden, Sakral- und Repräsentanzbauten bis auf den heutigen Tag eher auf ein nachträgliches Beseitigen von Fehlern und Unstimmigkeiten, von überraschend störenden Auswirkungen konzentrieren als auf vorausschauendes, hörsames Gestalten und Entwerfen eines Raumes im Sinne der Einhüllung unserer körperlichen Erfahrungs- und Handlungssituation.

2. Körper Die Materialität des Klanges ist in der Wissenschaftsgeschichte europäisch geprägter Kulturen eine junge Erkenntnis. Seit der Antike wurde – so die uns überlieferten Zeug-

2 Vgl. Blesser 2006. Blesser geht über Lärmschutz, Vibrationsvermeidung und -dämmung der technischen Akustik weit hinaus; er überschreitet Bau- und Raumakustik sowie die Einhaltung von kategorial und epistemologisch fragwürdigen Gesetzesvorgaben zum A-filtrierten physikalischen Schalldruckpegel dB(A), der zwar nur bei niedrigen, auralen phon-Zahlen greift, allerdings im Bundesimmissionsschutzgesetz (BimSchG), in der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm) und auch der europäischen Umgebungslärmrichtlinie 2002/49 EG als Norm festgeschrieben wird. All diese Versuche bleiben bei einer reichlich oberflächlichen und stets negativen Gestaltungs-, sprich: Vermeidungsaufgabe. 3 Vgl. Kusitzky, Arteaga in diesem Band.

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nisse – die Ungreifbarkeit, das Flüchtige und »Aetherische« des Klanges in der Musik über Gebühr betont. Hermann von Helmholtz, Anatom und späterer Gründungspräsident der metrologischen Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Charlottenburg, unternahm Mitte des 19. Jahrhunderts den Versuch, die Körperlichkeit des Klangs begrifflich zu fassen im physikalischen »Schall«. Klang und menschliches Erleben waren, ganz kantianisch, aus ihrer metaphysisch-schwärmerischen Einklammerung zu lösen. Im Sinne der zeitgenössischen Experimentalwissenschaft machte dies Empfindungen mess- und, scheint‘s, nachvollziehbar, les- und ausdeutbar. Klangsinn wurde nicht mehr besungen oder erzählt, sondern in physikalischen Modellen körperlicher Organe und Nervenflüsse dargestellt. Die erzählende Schrift aber rettete sich hinein in die neue Schrift der Messgeräte. Die physikalische Akustik denkt Hören und Klingen seither als Signal-, neuerdings als Datenverarbeitung. Situatives Erleben, der körperlich-räumliche Momenteindruck sowie kulturhistorisch machtvoll ins Erleben jeder einzelnen Person hineinwirkende Erzählungen bleiben hier beiseite. Zugunsten einer besseren Beobacht- und Berechenbarkeit übergeht physikalische Akustik das Ganze menschlichen Erlebens und Erfahrens: unser tägliches Leben mit Klängen, auch in diesem Moment. Indes: Die unmittelbare Wucht, die Durchdringungswirkung von Klängen (und allgemeiner: vieler sinnlicher Materialitäten der Erfahrung), diese Wirkung rückt in medialartifizialisierten Kulturen der letzten Jahre und Jahrzehnte, durch all die Verstärker und Lautsprecher, wieder stärker in die Aufmerksamkeit: »All that works is the sonic plus the machine that you‘re building.«4 Sinnes- und Körperdenker wie Michel Serres und Jean-Luc Nancy betonen darum die nicht-schriftlichen, kaum ausdeutbaren Selbstwahrnehmungen und Erlebnisweisen, die körperliche Erfahrung ausmacht. Wir sind unsere Körper. Die nicht standardisiert sind, deren Organe vielfältig unterschiedlich dimensioniert und gelagert sein können, die keine Verschaltung aus Containern darstellen, sondern eher eine feuchte, blutige Masse, schwingend in Schleim und Membranen, zitternd auf Röhren und Platten aus Knochen, pulsierend und konvulsiv sich zusammenziehend und entfaltend um all die Substanzen, die uns durchfließen, durchziehen, durchmatschen. Mein und Ihr Körper wird täglich von einer Masse medialer und nicht-medialer Aussendungen be- und durchschossen. Ein Körper kann darum gegenwärtig vernünftigerweise kaum mehr als abgeschlossenes Modell der Signalverarbeitung mit deutlich getrennten Ein- und Ausgängen – nach dem überkommenen Sprachbild getrennter »Sinneskanäle« – gedacht werden. Ich sitze als »Subjekt« nicht in

4 Eshun 1998a, 214. »Alles, was noch funktioniert, ist das Sonische, plus die Maschine, die du errichtest.« Eshun, 1998b, 226.

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einer unzugänglichen Körperburg und schaue Sie durch Schießscharten hindurch an.5 Wir sind als Körper, bewohnt von mehr Bakterien als Zellen, mit porösen Übergangszonen und durchflossen von sich unaufhörlich wandelnden, fermentierenden und uns marinierenden Substanzen, Hormonen und Enzymen, vibrierend in den Druckwellen und Partikelströmen dieser nächsten Atmosphäre, hier und jetzt, wir finden uns körperlich eingehüllt in Ströme und Gase, Stoffe und Aerosole: Wir selbst sind Teil dieser Umgebungsprozesse, die uns durchlaufen als materielle, physische Spannungen. Sie und ich, wir erschließen uns die Welt durch unsere Körper allein – nicht nur durch sitzende, kontemplative, protoprotestantische Sammlung nach europäischer Konzerttradition. Sinnliche Empfindung in ihrer bestimmten Bewegtheit und Berührtheit enthält jeweils unseren individuellen Zugang zur Welt. Eine Anthropologie aller Sinne wäre an dieser Stelle weit aufzufächern: von der Fernbetrachtung visueller Abbildungen oder Zeichen, der körperlich nahen Berührung unserer Epidermis, unseres Fleisches durch andere Körper oder Bewegungen, der klanglichen Fernbewegung durch Atmosphärenvibration bis hin zum Eindringen von geruchstragenden Molekülen in unseren Körper und ein Durchsetzen unseres Metabolismus mit vergärenden Essenzen, Nähr- wie Schadstoffen unserer Ernährung. Der Zugang des Hörens zur Welt geschieht auf halbem Wege zur vollen Besetzung unseres Körpers durch

5 Diese Sinneskanalburg karikiert Michel Serres polemisch: »Le donjon-corps garde sa distance fixe au château-chair désiré. L‘œil-fenêtre quête derriére l‘abat-jour-paupière et l‘oreille entend les chants de l‘âme-oiseau, de son tympan au papier huilé. Amants timides, retirés sous leurs multiples peaux ou murs raides et horrifiée, guindés haut derrière leur créneau, qui perdront leurs belles amours dès que le prisonnier s‘évadera et qui se hâteront de replacer distances et obstacles comme s‘il n‘y avait d‘amour que retentissement sur des parois viosines placées entre les amants, que des échos multipliés par les cloisons des boîtes, interférences, vibrations, harmonies, battements, la citadelle dessinant un orgue résonnant. Deux fantômes s‘agitent dans des boîtes à musiques construites en forme de geôles. Voilà le corps de la tradition et sans doute de la science.« Serres 1985, 153 – »Der Bergfried/ Körper behält seine festgelegte Distanz zum begehrten Schloß/Fleisch. Das Auge/Fenster späht hinter dem Schirm/Lid, und das Ohr hört den Gesang der Seele/Vögel mit seinem Trommelfell aus Ölpapier. Ängstliche Verliebte, hinter ihre zahllosen Häute oder Mauern zurückgezogen, starr vor Entsetzen, über ihre Zäune schauend, die ihre schöne Liebe verlieren werden, als der Gefangene flieht, und die sich beeilen werden, neuen Abstand herzustellen und neue Hindernisse zwischen sich aufzubauen, als gäbe es Liebe nur als Echo an den Wänden zwischen den Liebenden, als vielfaches Echo an den Trennwänden der Boxen, als Interferenzen, Schwingungen, Harmonien, Schläge, die Zitadelle einer tönenden Orgel. Zwei Geister in Musik-Boxen, die wie Gefängniszellen gebaut sind. Das ist das Korpus der Tradition und ohne Zweifel das der Wissenschaft.« Serres 1993, 192.

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fremde Stoffe – der wir im Falle des Klanges allerdings physisch wehrlos ausgesetzt sind: Wir müssen – zumindest in kleinsten Organen und Knöchelchen – mitschwingen, eine Fremdbewegung einfach in unserem eigenen Körper nachahmen, um überhaupt etwas hören zu können. Der Tonus, die Spannung, die lebende Körper ausmacht, ist damit eine fleischliche Ausprägung des Sonus, der unsere Welten durchläuft. Das Sonische als »Geräusch, Laut (-erscheinung, -gestalt), Schall, Ton (-höhe, -qualität, -schritt, -stufe), Klang (-farbe, -charakter, -gestalt), Musik, musikalische Phrase; außerhalb der musiktheoretischen Traditionen auch als Sprache, Äußerung, Rede, Tonfall, Akzent, Gerücht, Geschrei«6, dieser Überfluss hörbarer Spannungen und Schallungen wird physisch spürbar – im einzelnen Körper. Wir hören nicht nur aural, sondern vestibulär-kinästhetisch vor allem.

3. Situation Amériques, das Orchesterstück von Edgar Varèse, höre ich an einem Nachmittag nach der Schule, kaum zwölf Jahre war ich alt, auf einem alten Kofferplattenspieler; dieses gleiche Stück höre ich im Konzerthaus Berlin, im Herbst des Jahres Zweitausendundsieben, gespielt vom Ensemble Modern Orchestra und dirigiert von Pierre Boulez; und ich höre dieses Stück noch einmal, in einer Surround-Sound-Abhörkabine an einem Wintermorgen in der Hochschule, in der ich forsche und lehre. Drei verschiedene Stücke habe ich gehört: sowohl aufgrund meiner klanglich-musikalisch unterschiedlichen Hörbildung, sprachlich vermittelt, auch aufgrund meiner ganz unterschiedlichen Lebenssituation und -erfahrung, aufgrund meines Selbstempfindens – nicht zuletzt also aufgrund der bestimmten räumlichen und individuellen körperlichen Situation, in der ich mich jeweils befinde. Klänge, die wir in einer bestimmten Situation erleben und hören und dadurch, physisch resonierend, in unserem eigenen Körper wiederholen und nachvollziehen, diese Klänge werden dadurch situativ in uns verankert und an Bedeutungen unserer Lebenssituation geknüpft: Klänge speichern solche Momente. Die Situativität unseres Klangerlebens ist darum für nicht-musikalische Klänge unseres täglichen Lebens noch weitaus wichtiger: Verkehrslärm, Signaltöne, Rufe und Gespräche, Begleitmusik, Marktschreie der Werbeindustrie, die Wiederholung solcher Klänge ist nichts anderes als eine ähnliche Wiederholung ihrer Schwingungen in unserem

6 Hentschel 1972.

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Körper. Die individuelle Verankerung unseres Erlebens entspricht einer körper- und empfindungsnahen Wiederholung der Widerhallsituation, des Hörerlebens. Wir erleben eine ähnliche, meist aber deutlich geänderte Bedeutung. Diese Raum- und Körpererfahrung ist verankert und eingebettet sowohl in kulturgeprägte Handlungs- und Äußerungsweisen als auch in individuelle Erfahrungen und Erzählungen. Die pionierhaften Arbeiten der kanadischen Acoustic Ecology, an die ich hier noch einmal erinnern möchte, haben dies gezeigt. Zwei Komponistenwissenschaftler waren es, Murray R. Schafer und Barry Truax, die erstmals Klangempfinden und gestaltung sich bemühten auf Begriffe zu bringen und in Konzeptionen begreiflich zu machen, die seither, etwa im Wort der ›Soundscape‹, fast zu Gemeinplätzen wurden. Seit den 1960ern macht diese künstlerische Forschungsrichtung auf die Bedeutung der Hörsituation, des Erlernens von Hörweisen und Hörfähigkeiten aufmerksam; Spiele, Techniken, Methoden und künstlerische Genres wurden entwickelt und erfolgreich genutzt, um Hörsituationen zu erkunden und Klangumgebungen nachvollziehbar darzustellen. Für Situationen gilt aber auch: »das Spiel mit diesen Worten, ihre Verwendung im sprachlichen Verkehr, dessen Mittel sie sind, ist verwickelter«7 (Wittgenstein). Der amerikanische Phänomenologe und Psychologe Eugene T. Gendlin erkundet darum, ausgehend von Sprachphilosophie und Handlungstheorie, wie Bedeutungen von Situationen, und eben auch Klangsituationen, ganz wittgensteinsch, genau nicht aus vorgefertigten Rastern ausgewählt werden; sondern wie unsere individuelle Erfahrung eines Momentes, unser »felt sense« 8 (Gendlin), ein sinnhaftes Gefühl, sprachlos, nach Ausdruck, nach Worten ringend, Weiterführung in anderen Handlungen ersehnend, wie unsere Erfahrung generativ wirkt: neue Handlungen, die wir vollziehen; andere, überraschende Beschreibungsweisen; eine Komposition, ein Artefakt, ein Übertragen des Erlebens dieses einen Momentes auf andere. Solche Situativität und auch Körperlichkeit manifest zu machen fällt europäisch geprägten Wissenschaften schwer. Diese bestimmte Spannung, die Sie und ich spüren, wenn wir uns nicht allein sprachlich bewegen, sondern körperlich, wenn wir uns von Empfindungen (die reicher und subtiler gemischt und verwickelt sind als die groben, sprichwörtlichen »großen Gefühle«), leiten lassen, eine uns unglaublich nahe kommende Spannung, hochveränderlich. Unsere Körper und alle menschlichen Verhältnisse sind wandlungsfähige Spannungsgebilde9, empfindend und widerhallend, geschlechtlich,

7 Wittgenstein 1984, §182. 8 Vgl. Gendlin 1992, 192-207. 9 »Un corps, c‘est donc une tension. Et l‘origin grecque du mot est ›tonus‹, le ton. Un corps et un ton. Et je ne dis rien là qu‘un anatomiste ne puisse approuver: un corps, c‘est un tonus.« Nancy 1992/2000,

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historisch und kulturell different. Diese »tension«, diese Spannung ist es, die – mit JeanLuc Nancy gesprochen – menschliche Körper ausmacht als lebende: tote wären bloße Leiber, Leichen oder Fleisch.10 Unser Fleisch und unsere Bewegungen durchzittert diese Spannung der Kontraktion und Relaxation als wirksamer tonus. Klänge durchspannen die Materie, die wir sind, Sie und ich; von unserem Areal spricht Nancy. Wie fern und schwer begreiflich zu denken uns diese bewegliche Spannung scheint, daran zeigt sich beispielhaft das Distanzparadigma, das die europäischen Kulturen noch im Bemühen seiner Überwindung so deutlich prägt: die Annahme, durch größeren Abstand, Nicht-Involviertheit und Nicht-Einstimmung ließe sich eine größere und bedeutsamere Erkenntnis gewinnen als durch Eintauchen, Teilhabe und Einschwingen in Bewegungsformen eines zu untersuchenden Gegenstandes. Sinnes- und erkenntnisanthropologisch ist solches Denken wenig charakteristisch für körperliche Aneignungsformen wie Essen, Trinken, Atmen, Spüren oder Hören; es trägt die Spuren einer Kultur der Zeichen und der Abbildungen in sich.

4. Kultur Ihr und mein Erleben dieser und jeder bestimmten Situation unserer Lebenswelt ist geprägt und vorgeordnet durch die Kultur, in der wir – jede und jeder für sich anders – gelernt haben, uns zu bewegen, zu handeln, innezuhalten oder uns zu äußern. Kulturen als zunächst unausgesprochene Vereinbarungsgemeinschaften, die sich auf bestimmte anzunehmende und bestimmte nicht annehmbare Handlungs- und Äußerungsweisen einigen, bevorzugen oder verwerfen darum auch Umgangsweisen des Sinneserlebens. Eine Kulturwissenschaft des Klanges untersucht die Vielfalt und Besonderheiten, die

126 – »Ein Körper ist folglich eine Spannung [tension]. Und die griechische Wurzel des Wortes ist ›tonos‹, der Ton. Ein Körper ist ein Ton. Und damit sage ich nichts, dem ein Anatom nicht zustimmen könnte: Ein Körper ist ein Tonus.« Nancy 2003, 124. 10 »Quand le corps n‘est plus vivant, n‘a plus de tonus, il passe soit daans la rigor mortis, (la rigidité cadavérique), soit dans l‘inconsistance de la pourriture. Être un corps, c‘est être un certain ton, une certaine tension. Je dirais même aussi qu‘une tension est aussi une tenue.« Nancy 1992/2000, 126 – »Wenn ein Körper nicht mehr lebendig ist, keinen Tonus mehr hat, geht er entweder in den rigor mortis (die Leichenstarre) oder in die Inkonsistenz der Verwesung über. Ein Körper sein, heißt ein bestimmter Ton sein, eine bestimmte Spannung. Ich würde sogar sagen, dass eine Spannung auch eine Haltung (tenue) ist.« Nancy 2003, 124.

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zeitlich und räumlich sich wandelnden oder gleich bleibenden, sich überraschend ähnelnden oder einander unähnlichen Umgangsweisen mit dem Sonischen: Klänge in all ihren Erscheinungsweisen, von denen in Schriftzeichen niedergelegte »Musik« lediglich in uns vertrauten Kulturen europäischer Prägung die uns bekannte Bedeutung trägt. Kulturgeschichtlich werden derart etwa »audile techniques« (Sterne) oder »Hörgeräte« (Papenburg) untersucht und rekonstruiert: Hörweisen, die kulturell geprägt und entwickelt sind, Kulturtechniken des Hörens. Medienwissenschaftlich – oder genauer: mediologisch – lässt sich darin eine jeweilige »transmission culturelle« in der Begrifflichkeit von Régis Debray untersuchen. Eine Übertragungsleistung, die kulturell dispositive Formen, ja Vorstellungswelten, Imaginarien einer Kultur an andere, spätere und fernere übermittelt. Klangerleben ist durch Kultur geprägt. Haltungen und Handlungen des Zuhörens, des Hervorbringens von Klängen im täglichen Leben wie auch die Klangorganisation der Musik zu besonderen rituellen oder feierlichen Anlässen, diese Handlungen entfalten sich im Laufe einer Kultur und einer Ethnie über Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende, über Lebens-, Herrschaftsräume und Handelswege hinweg. Topische Klangfarben wie auch Dissonanz- und Harmonie-Regime werden als ausgezeichnete hervorgehoben im Gegensatz zu anderen, Rhythmen und Takte werden ebenso bevorzugt und verstanden, körperlich folgenreich erlebt – wohingegen andere abgelehnt, ja intuitiv gehasst und nur angewidert körperlich erlebt werden können. Hörhaltungen können sogar entstehen, die erstaunlicherweise ein körperliches Mitschwingen und Mitbewegen im Moment des Erklingens weitgehend vermeiden wollen, die körperliche Wirkungen von Klängen als eine rein geistige, ja epiphanische beschreiben, und einer Gemeinde der Hörenden nur bestimmte Antwortweisen auf erklingende Klänge vorgeben. Krächzend und fistelnd singt die Gemeinde bestimmte Verse. Die Körperstarre hochbürgerlicher Konzertkultur darf sich erst im Applaudieren lösen, gelegentlich im Räuspern und Husten, Räkeln und Tuscheln und selten in abschließendem Buh- und Bravorufen. Es braucht eine Zeit, um Klangorganisationen und Klanggestalten als erlebte Hörweisen einer uns unvertrauten Kultur sich anzueignen. Umgekehrt können wir uns kaum mehr vorstellen, wie es einmal war, als die uns jetzt ganz gewöhnliche Klangumgebung uns zum ersten Mal bekannt wurde und wir nur schwerlich darin uns zurecht finden konnten: Die neue, unvertraute Stadt. Das Lernen, wie im Konzert (eines Orchesters? einer Rockband? eines Jazz-Ensembles? eines Hip-Hop-Kollektivs?) sich zu verhalten wäre. Und wie habe ich Amériques von Edgar Varèse in den 1980er Jahren als vollkommen eintönig und unanregend gehört, enttäuscht über das so begeisternd erwartete Klangerlebnis und -ereignis, das es doch darbieten sollte? Wie ich kaum ein Jahrzehnt später die ersten Stücke eines neuen Genres namens Techno hörte und desgleichen alles vollkommen stumpf und monoton hörte – was ich nur wenige Wochen oder Monate darauf

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dann ganz anders erleben konnte? Strings of Life. We came in Peace for all Mankind. Energy Flash. LFO. Das wittgensteinsche Sprachspiel ließe sich um ein »Klangspiel« (Wulf) erweitern, das wir kulturell und systemisch erlernen: Erst stehen wir ratlos, unangeregt, nichtmitschwingend davor und rätseln, wie jemals jemand dieses Klangereignis als ein wichtiges für sein Leben anerkennen sollte? – Und dann, durch mittuendes, erst körperlich mitschwingendes und die anderen Klanghandelnden etwa nachahmendes Bewegen im Klang, geraten wir in den körperlichen Bewegungsfluss, den dieses bestimmte Klangspiel, hier und jetzt, nun ansinnt. Körperlich berührt mich die Hand eines Menschen, eines mir sehr nahen Menschen, unmittelbar an meinen oder in meinen inneren Organen. Ein Streicheln über meine Magenschleimhaut? Unendlich zarte, feine Nadeln stechen weit in meine Bauchspeicheldrüse hinein, biegsame und lange Akupunkturnadeln bohren sich in meinen Bauchraum – ungeahnt weit. Schauer der Erregung lassen mich erzittern; streicheln unerwartet zart über die oberste Haut hinweg, rollen immer weiter. Fluten meine Unterarme, weiter auf die Schulter, hinauf auf den Nacken. Ein Zittern die Wirbelsäule hinab geht an die Nieren, streicht die Flanken entlang. Gleitet Oberschenkel weiter, die Waden hinab. Erlebe ich einen identifikatorischen Überschwang? Bin ich – durch mimetische, empathische Mitbewegung allein – berührt durch diesen Song, diese Sängerin, diese Situation hier, diesen Komponisten oder diesen Ort? Ich möchte mit Peter Handke sprechen: »Das – dieses Lied, dieser Klang – bin jetzt ich; mit diesen Stimmen, diesen Harmonien bin ich, wie noch nie im Leben, der geworden, der ich bin; wie dieser Gesang ist, so bin ich ganz!«11 Ich erlebe diese Klänge nun anders.

5. Technik Die Möglichkeiten für menschliches Handeln sind gebahnt und mitbestimmt durch Bedingungen, die anderes, vorheriges menschliches Handeln in Gestalt von technischen Apparaturen, Normen und Kodifizierungen bereitgestellt hat. Dieses »Gestell«, um mit Martin Heidegger zu sprechen, legt durch seine jeweilige Gestalt bestimmte Handlungsgewohn- und -geübtheiten nahe, wie es auch andere erschwert oder für die zeitgenössische Kultur geradezu undenkbar erscheinen lässt. Praktiken und Kulturtechniken entzünden sich, entfalten und erblühen aus Anlass dieser Techniken, wie auch Techniken

11 Handke 1990, 88.

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wiederum als Hervorbringungen, Manifestationen und Kristallisationen (Gehlen) bestimmter Handlungsweisen einer Kultur sich ausprägen. Klangereignisse und -ströme begleiteten jedwede kulturelle Handlung und ihre Gestaltung, Betonung und Dämmung, ihre rituelle Nutzung war verbunden mit neuen technischen Hervorbringungen. Handwerkstechniken und Wissensformen des Umgehens mit Klang entstanden in den unterschiedlichen Kulturen und Epochen. Instrumentenbau wie auch Gesangs- und Instrumentalpraktiken, das Ensemblespiel, auch situations- und raumbezogene Rhetoriken im Sinne sprechenden Vortrages, Sprechtechniken wurden benannt und entwickelt, über die vielfältigen Maschinen- und Automatenkünste der Klanghervorbringung und -gestaltung, bis hin zum Wissen der Baumeister und Maurer von Materialwahl und situativen Übertragungsverhältnissen eines Raumklanges. Dieses technische Wissen liegt teils nicht expliziert, nicht schriftförmig kodifiziert vor und wird bis heute von handwerklichen oder virtuosen Meistern an ihre Gesellen oder Schüler und Schülerinnen als individuelle Meisterschaft, als Kenntnis, Gespür und besonders arkanes Wissen weitergegeben. Die zunehmende Explizierung und Verschriftlichung des Wissens droht es zum Verschwinden zu bringen. Demgegenüber nahm die Bedeutung der Wissensformen zu, die in Schriften vorliegen oder deren Handlungsweisen und Erkenntnisse sich kodifizieren, idealerweise: quantifizieren und in Algorithmen überführen ließen. Was Programm wird, kann tradiert werden. Diese Algorithmisierung der Wissensformen vor allem einer europäisch geprägten Welt wurde ausführlich von einer technikgeschichtlichen Medienwissenschaft beschrieben und in ihren Folgen bedacht (Kittler, Ernst, Stiegler): wie Codices, Ablaufpläne und Software zur zunehmend unhintergehbaren Grundlage unser aller täglichen Leben geworden sind. Als Grundlage des Lebens wird diese Algorithmisierung nun mehr und mehr durch Menschen weiterverändert und umgenutzt, reprogrammiert und zerstört. Menschen, die unter Klängen leben, leben auch unter den Bedingungen klangerzeugender, -aufzeichnender, -wiedergebender und -verarbeitender Maschinen und apparativer Konstellationen. Diese Konstellationen nun wandeln meinen Umgang, Ihren Umgang in den täglichen Situationen, in denen wir uns befinden. Und neue Bedürfnisse, andere Selbstwahrnehmungen und sich verändernde Empfindungslagen entstehen durch diese algorithmische Technik: Die Voraussetzungen, auf denen die Entstehung dieser Techniken sich gründete, ändern sich durch ihre Nutzung, und so entsteht das Bedürfnis nach neuen Techniken – respektive ein Herabsinken und eine Missachtung, ein Verhöhnen und gewalttätiges Zerstören der alten. Die ritualartigen Handlungsgewohnheiten, die das Leben in und mit technischen Apparaturen jeweils hervorbringt, diese Gewohnheiten erscheinen uns einmal als belebend und befreiend, anregend und weiterführend; doch ebenso können sie wenig später als Einengung und Beschränkung, als Lebenszeitvernichtung und Raumzerstörung, als

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Körperfesseln sich auswirken. Die Übermacht und Allgegenwärtigkeit der Technik bedingt die Aggression gegen sie (außer im Stockholm-Syndrom, der Verbündung mit dem Aggressor); Vandalismus und Lust an der Zerstörung sind stimmige Antworten auf die Kristallisationen einer medial hochartifizialisierten Welt. Wert, dass es zugrunde geht, ist alles, was entsteht? Technische Apparaturen und Konstellationen sind zu einer oft kaum hintergehbaren Grundlage und Bedingung unseres Lebens und unserer Erfahrung geworden. Eine technische Mythenwelt, die nicht nur in den Schöpfungs-Erzählungen ihrer Macher und Erfinder, Entdecker und Entwickler erscheint, sondern zunehmend in den zahllosen kleinen Erzählungen des täglichen Lebens, den Mikronarrationen, die jeder von uns, Sie und ich, sich und anderen von seinem und ihrem Leben mit Technologien zu erzählen vermag.

6. Erfahrung Erfahrungen, die wir in unserer jeweiligen Lebenswelt machen, tief verwickelt und verstrickt, durchdrungen von lang eingeübten und kaum mehr von außen für uns zu betrachtenden Gewohnheiten, diese Erfahrungen sind als wissenschaftliche Entität schwer zu beschreiben und zu untersuchen. Modelle unseres körperlich erfahrenen und empfundenen Lebens inmitten und durch Sinneswirkungen und Sinnesäußerungen, sie werden gerne nach jeweils epochalem Vorbild (ehedem: Uhrwerk, Dampfmaschine; aktuell: Von-Neumann-Maschine) gedacht und dadurch gedanklich still gestellt. Diese Stillstellung in hinreichend überschaubaren Gründen und Abläufen ist Grundlage der Modellierung. Diese Stillstellung widerspricht jedoch der Erfahrung, hier, jetzt, Ihrer Erfahrung, meiner. Ich möchte von meinem Körperempfinden sprechen, das selbstverständlich nicht in jeder Sekunde, an jedem Ort das gleiche ist. Mein Körper wandelt sich im Empfinden allenthalben, angelehnt und angeähnelt an mein Begehren und mein Empfinden, an mich umgebendes Empfinden und Begehren, die sich alle in Handlungen äußern und so mir nahe kommen, mich berühren. Meine Umgebung, die ich durch handeln wandle, sie wandelt mich durch ihr Handeln. Ich bin ein anderer Körper. Jetzt. Und jetzt. Obwohl teils durch die Geschichte des Empirismus wie auch durch die Methoden der Experimentalwissenschaften scheinbar legitimiert, brauchte es den Schock der Erkenntnis, wie individuell, geschichtlich, kulturell und sozial konstruiert unser Erleben und Erfahren der jeweiligen Wirklichkeit doch ist, um zu erkennen: Es braucht den bedrohlichen und unsicheren Sprung in eine Situation und Kultur als selbst teilnehmender Beobachter oder selbst teilnehmende Beobachterin der Ethnographie, um tatsächlich

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etwas Wesentliches über Erfahrungsweisen erzählen, untersuchen oder gar weitergeben zu können. Auf der Suche danach, wie Erfahrung wissenschaftlich nach- oder gar mitvollzogen und vermittelt werden könnte, wurden zum einen die non-verbalen, unausgesprochenen Vereinbarungen und nicht-explizit gemachten Kenntnisse und Fähigkeiten, das »tacit knowledge« (Polianyi) zu wissenschaftlichen (wenn auch reichlich un-gegenständlichen) Gegenständen; zum anderen wurden »Entdeckungstechnologien der Nähe«12 (Knorr-Cetina) als Methoden genutzt, die zumindest zaghaft das Distanzparadigma neuzeitlicher Wissenschaften überschritten in Richtung auf ein Immersionsund Experienzialparadigma. Studien der Kultur- und Kommunikationswissenschaften begannen, mehr und mehr ethnographische und narrative Methoden zu nutzen, die Grounded Theory (Glaser, Strauss, Krotz) wurde ausformuliert als eine erfahrungsbezogene Methode der Formulierung neuer, stärker gegenstandsbezogener Theorien; und schließlich wurden mehr und mehr Künstler- und Praxistheorien vorgelegt, die mit dem teils hochimpliziten Praxiswissen der Künstlerinnen und Künstler, Praktikerinnen und Praktiker eine durchdringendere Kenntnis der untersuchten Gegenstände verbinden konnten mit einer begrifflichen, historischen und theoretischen Durchdringung des Forschungsfeldes (Lehnerer, Eshun, Collins, LaBelle, u.v.a.m.). Einen anderen, im sprachphilosophischen Sprung gewonnenen Zugang zu individuellem Erfahrungswissen bietet nun das Werk des amerikanischen Phänomenologen und Psychologen Eugene T. Gendlin. Seit den 1960er Jahren arbeitet er – auch hier: theoretisch und praktisch – an Ansätzen, wie die Analyse von Gegenständen an Erfahrungswissen gebunden und generative Prozesse des künstlerischen, wissenschaftlichen oder auch gestalterischen Arbeitens stärker den Bezug zur jeweiligen Erfahrung behalten können. Mit dem Begriff des felt sense, eines sinnhaften Gefühls, einer geahnten oder empfundenen Bedeutung, umfasst er Selbstwahrnehmungen an uns selbst, die uns jeweils vorgängig zum tatsächlichen Handeln helfen, unser Gespür, unsere Neigung, unsere Bedürfnislage zu befragen. Wie befinde ich mich in der jetzigen Lage? An diesem Wintersonntag, dem ersten Advent im Jahre Zweitausendsieben, heute morgen noch einem Konzert des Ensemble Modern gelauscht, neben anderen Incidendo/Fluido (2000) von Olga Neuwirth und ...als...I (2001) von Mark André in den gläsernen Raumeinschiebungen der neuen Akademie der Künste am Pariser Platz 4, die Helmholtz-Resonatoren dort, das kurze Gespräch mit dem Tonmeister des Ensembles, Norbert Ommer. Am späten, dunklen Nachmittag nun bedenke und erwarte ich die eingereichten Beiträge der vielen Autorinnen und Autoren dieses Bandes, leicht angespannt und unsicher, hoffend und freudig. Aus dem Jahre 12 Beaufaÿs 2003, 39.

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1954 klingen über meinen Schreibplatz die Surf Sessions von Moondog alias Louis Thomas Hardin, im 2/4-Takt. Regenspritzer an das Fenster, durch das ich auf die Warschauer Brücke sehe. Ich erzähle meine gegenwärtige Verfasstheit im Klang.

7. Erzählung Heiligen-, Genie- und Märtyrerlegenden von männlichen Komponisten und Künstlern sowie sie legitimierende Stammbäume zur Übertragung kulturprägender Macht herrschen in der Geschichtsschreibung – nicht nur europäisch geprägter – Künste vor; teils eingefasst durch pietistisch-kontemplative Erweckungs- und Epiphanie-Erfahrungen. Wissenschaften von diesen Künsten sind darum bis in die Gegenwart hinein, teils mehr, teils weniger durch ihren stetig bekundeten Bezug auf Erzählungen der (Schöpfungs-) Machtübertragung innerhalb eines Stammbaums bestimmt wie auch durch die Verkündigung, die performative Vergegenwärtigung (vulgo: Aufführung) heiliger Schriften, die ediert, gedeutet, kritisiert, reinterpretiert und derart also weitergeschrieben werden. Ein schriftkulturelles Verdichtungs-, Vernetzungs- und Monumentalisierungswerk, das sich zum einen in Lobgesängen auf errichtete Stammbäume selbst erhöht, immer wieder aber auch neue, überraschende Nebenlinien, Austriebe und Kreuzungen als neue Stammbaumgründungen befördert, stützt und heranzüchten hilft. Andere, weniger organizistische und machtmythische Erzählweisen gab es zu allen Zeiten, wenn auch kaum hegemonial. Allmählich entwickelten sie sich in kultur- und technikgeschichtlichen, soziologischen Erzählungen, von technischen Sprachen, von kompositionstheoretischem Sprechen oder erfahrungsbezogenen Erzählungen der Hörerinnen und Hörer. Der wenig verwunderliche Dogmatismus dieser Einzelfach- oder gruppensprachen verhinderte ein Zusammenhören dieser Stimmen. Es waren darum die Hörerzählungen und Hörerfahrungen der Cultural Studies (Williams, Hall, Hebdige, Grossberg) seit den 1960er Jahren, die einem anderen, kleineren, individuelleren und weniger hegemonial sich legitimierenden und machterhaltenden Sprechen einen Weg zu bahnen beginnen konnten. Sprechen über Klang entspricht damit, klanganthropologisch gesprochen, einem Erzählen und Weitergeben von Klangerfahrungen: Die körperliche Erfahrung eines Klanges wird darin fortgesetzt in Handlungen, die Artefakte hervorbringen, mediale Emanationen. Dieser tägliche, gewöhnliche Austausch unter Klanghandelnden und -wahrnehmenden geschieht selbst in Kulturen und Subkulturen einer schriftkulturell geprägten Wissen(schaft) süberlieferung auch in Gesten und Lauten, kleinen Tänzelbewegungen und mimischen Ausbrüchen sowie einer kaum mehr nur schriftförmigen Sprache. Weniger eine Sprache

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der Axiome, der nach algorithmischem Modell aufgebauten Argumente – Definiens, Definiendum, Schlussketten, Conclusio – hilft uns hier, unsere Erfahrungen zu vermitteln; vielmehr helfen Erzählungen, die einem offenen, sprach- und literaturtheoretisch avancierten Begriff des Narrativen entsprechen: Sonic Fictions (Eshun) oder Klang Erzählungen (Schulze). Im Zwielicht dieses Spätnachmittags Mitte November höre ich Spirit if... von Broken Social Scene Presents: Kevin Drew, Farewell To The Pressure Kids, Tbtf. Erzählungen in diesem Sinne entfalten ihre Gegenstände kaum linear, eher springend, motivisch, assoziativ, empfindungs- und situationsbezogen – ähnlich wie im letzten Satz des vorangegangenen Absatzes: idiosynkratische Selbsterzählungen, die unser Erzählen von Klangspielen und Klangerlebnissen an andere Menschen übertragen sollen. Persönliche Begeisterungs-, Prägungs- oder Abscheuerzählungen sind verbreitete Erzählformen der persönlichen Annäherung im Gespräch; in als bloß »schwärmerisch« gebrandmarkten Rezensionen gelangte diese kleine orale Tradition in die Schriftkultur hinein, wurde überformt von Begriffskonventionen und wiederum anders selektiver Wahrnehmung der Wissenschaften. Neuerdings lebt dieses Sprechen im Schreiben der vergänglichen Literatur der Chats und der E-Mails, der Weblogs und des Instant Messaging wieder auf: Diaristische Materialismen exponieren sich und leben sich aus, die großerzählerische Idealismen der Vergangenheit körperlich überwuchern, karnevalistisch veräppeln, die von sich und ihrem eigenen Körper, der eigenen Situation und Seele und Empfindung sprechen. Körper schwingen in Spannung. Meiner hier und jetzt, Ihrer auch. Wir sind keine Körperstatuen. Dieses Sprechen nennt der Mathematiker und Wissenschaftshistoriker Michel Serres ein synrhetisches Sprechen: Die Synrhese, als altgriechischer Gegensatz zur Analyse, sie ermöglicht erst das Erzeugen, Erkennen und Nachvollziehen neuer Zusammenhänge. Analytisch handelt die Lebensmittelchemie, synrhetisch das Kochen, analytisch die Musikwissenschaft, synrhetisch das Komponieren, Semiotik ist eine Analysemethode, die Narration ein Weg der Synrhese. In all diesen neuen, materialistischen Erzählweisen zeigt sich eine Strömung des Denkens, die nach einem Jahrhundert der erkenntnisversessenen Semiotisierungen, der Struktur- und Poststrukturalisierungen, der Dekonstruktionen und nahezu forensischen Deutungsversuche und Ent-Deutungsvorschläge, die im neuen Jahrhundert – und hier schlage ich selbst eine neue Erzählung vor – dieses oft ausschließliche Eintauchen ins Reich der Zeichen versuchsweise einmal eintauschen mag: gegen ein Auftauchen zum Reich körperlicher Empfindung. Welche Handlungsweisen, Denkempfindungen verwehrt uns der ausschließlich schriftkulturelle Deutungskörper der Aufschreibsysteme? Welchen Wert kann körperliche Empfindung gewinnen, die sich zu ent-schreiben versucht? Eine »éxcription«?13

13 Nancy 1992/2000, 76.

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Methodische Zugänge

Eine historische Anthropologie des Klanges als Mediologie des Klanges verstanden untersucht, wie Klänge hervorgebracht, übermittelt und gestaltet – und als komplexe Artefakte zwischen Ethnien, Kulturen, Epochen und Zeiten übertragen werden. Zur Darstellung dieser Übermittlung braucht sie Erzählweisen, die ein Ungenügen klangmedienwissenschaftlicher Separationen überwinden und eigene Zusammenfügungen, neue Synrhesen versuchen. Synrhetische Erzählungen verbinden Theorien technischer Signalübermittlung, kulturgeschichtliche Archäologie wie auch neurobiologische Erregungsstudien mit Prinzipien der Ästhetik und anthropologisch kennzeichnenden Erfahrungen und Empfindungen. Von Marconi über Tesla zu Moog und Ra eröffnet Elektrifizierung ein Diskontinuum zwischen Technologie und Magie. Wieso Diskontinuum statt Kontinuum? Weil die Veränderung des Stroms eine Sendung von Impulsen über Lücken und Intervalle hinweg bedeutet, keine lineare Fortschreibung. Von diesem Moment an wird elektronische Musik zum Technologie/Mythen-Diskontinuum. Traditionelle Kultur müht sich damit ab, dieses Diskontinuum zu polarisieren. Musik bringt es mutwillig zum Einsturz, verwechselt Maschinen absichtlich mit Mystik, systematisiert dieses kritische Delirium zu Informationsmythen.14

8. Geschichte Ausgehend von einer Kulturgeschichte der Sinne und sinnes- wie körperbezogenen Cultural Studies sind seit einigen Jahren Ansätze zu einer historischen Anthropologie der Sinne vorgelegt worden. Jüngere Sammelbände wie Empire of the Senses 15 (2005), Studien zum Tasten, Riechen, Schmecken16 oder auch Zeitschriftenneugründungen wie The Senses and Society 17 (seit 2006) belegen dieses neu erstarkende Interesse an einer überkommen geglaubten Phänomenologie der Erfahrung, eines Gespürs der Sinne und

14 Eshun 1998, 192. 15 Howe 2005. 16 Diaconu 2005. 17 Herausgegeben von Michael Bull, Department of Media & Film Studies, University of Sussex, Paul Gilroy, Department of Sociology, London School of Economics, David Howes, Department of Sociology & Anthropology Concordia University sowie von Douglas Kahn, Department of Art History, University of California, Davis.

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der kleinen Wahrnehmungen: mit dem Ziel, die gegenwärtige Verfasstheit europäisch geprägter Kulturen angemessener zu durchhorchen – unter Bedingungen hochartifizialisierter Medialisierung. Eine historische Anthropologie des Klanges fragt sich: Wie gelangen Klangerfahrungen und Klang Erzählungen früherer oder gegenwärtiger Zeiten, uns wohl vertrauter oder fernerer Kulturen zu uns? Sie hört auf diese Erzählungen mit historiographischen und kulturhistorischen, mit soziologischen, erfahrungsbezogenen, psychologischen, physiologischen und handlungstheoretischen Hörweisen. Sie bedenkt dabei in ihren Untersuchungen die doppelte Historizität wie auch Kulturalität jeder Forschung: die Geschichtlichkeit und Kulturbedingtheit eines untersuchten Gegenstandes oder Phänomens selbstverständlicherweise – doch ebenso eine kulturbedingte Geschichtlichkeit eben aller eigenen Überlegungen und Herangehensweisen. Sie wendet sich darum besonders den unterschiedlichen Sinnesregimen wie auch den geschichtlich sich wandelnden Körperverständnissen zu. Beide Erfahrungsfelder menschlichen Lebens begreift eine geschichtlich reflektierte Anthropologie nicht als nebensächlich, sondern als Vollzugsweise menschlichen Erlebens, Sich-Austauschens, Handelns. Aus diesem Grund ergeben sich Überkreuz-, Mischungs- und Überlagerungsbewegungen zwischen all diesen Kraftfeldern, deren Subtilität die historische Anthropologie sich annimmt. Ein Erfahrungs- und Handlungsfeld wie das Klangliche im Sinne des Geräusches, des Lautes, des Sounds, auch der Klangfarbe (und darin eingelagert in unserer Kultur: das Musikalische) wird in einer Klanganthropologie darum in einem Überkreuz der Disziplinen, in Schwebungen zwischen Ausdrucksformen untersucht: in seinen verschiedenen kulturellen und ethnischen Ausmessungen wie auch in über wissenschaftliches Arbeiten weit hinausgehenden Formen, die sich außerhalb schriftkultureller Überlieferungen ereignen. Erkenntnisse der Wissenschaftssoziologie gehen hier in die Wissenschaftspraxis mit ein, indem ein empirischer Konstruktivismus 18 (Knorr-Cetina) produktiv gemacht wird für die wissenschaftliche Tätigkeit. Die Vorgehensweise der historischen Anthropologie betrachtet die Felder ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit »nicht substantialistisch«, »nicht objektivistisch«, »nicht generalistisch«, sondern (selbst-)»reflexiv«; sie beruft sich ausdrücklich auf eine »Entdeckungstechnologie der Nähe«19 und lehnt darum – mit Karin Knorr-Cetina zu sprechen:

18 Vgl. Knorr-Cetina 1989, 86-96. 19 Alle Zitate: Beaufaÿs 2003, 39.

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Methodische Zugänge

eine auf Distanz bleibende Modellbildung nicht ab, weil [sie; HS] deren Abweichung von der Wahrheit stört, sondern weil [sie; HS] sich von ihr keine Erschließung von Entdeckungsräumen verspricht.20 Sie hütet sich vor geschichtlich idealisierender oder schmähender Überhöhung oder Herabwürdigung als einem Exotismus der Ferne. Die Ferne aber gebiert Exotismen, Rassismen, Ideale. Historisch anthropologisch gehört rücken dagegen versteckte und verborgene, womöglich auch unergründliche Momente des Hörbaren ins Hörfeld; eine Ethnologie wie auch Anthropologie der Musik in all ihren gewöhnlichen, täglichen Darstellungs- und Ereignisformen wird hörbar; einzelne Handlungsweisen von Protagonisten einer Hörsituation werden als bedeutsam anerkannt wie auch die Weisen des nachträglichen oder einhakenden Sprechens darüber – bis hin zu Ritualen der Mimesis, der Kindheit, des Selbsterlebens und der Selbstfremdheit im Umgang mit täglichen Geräuschen und Klängen, Rhythmen und Musiken. In dieser Hörweise des Geschichtlich-Anthropologischen stellt die europäisch geprägte Überlieferung musikalischer Praktiken, fokussiert auf die Partitur als ausgezeichnetes Medium der Schrift, einen bedeutsamen und kulturbildenden Sonderfall dar. In der abendländischen Ausdrucksform der Musik wird die Entwicklung eines gesellschaftlichen Klangverständnisses hörbar, das entsprechende Weisen der Hervorbringung und Gestaltung von Klängen entwickelt hat und weiterhin entwickelt: angefangen bei Dispositiven der Ausbildung eines Nachwuchs über das Erlernen bestimmter Aufführungssituationen bis hin zur darin fortdauernden Handlungsweise der Schriftauslegung, der Gottesdienste und Heiligenlegenden.21 Musik in diesem Sinne ist aber nicht das einzige Artefakt, das in einer Kultur zum Ort der Hervorbringung und Gestaltung von Klängen werden kann.

9. Zeit Dieser Teil, Sie lesen ihn vermutlich als letzten dieses Beitrages, hat eine eigene Zeitlichkeit. Durch die Lektüre der vorangegangenen Passagen haben sie womöglich Erkenntnisse gewonnen, Sie haben Zweifel in sich gespürt, vielleicht sind Ihnen Beispiele aus

20 Knorr-Cetina 1989, 95. 21 Vgl. hierzu immer noch grundlegend: Attali 1977.

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Ihrer eigenen Erfahrung für die hier beschriebenen Phänomene in den Sinn gekommen – oder Sie konnten mit all dem hier rein gar nichts anfangen? Sie blättern nur eben mal schnell durch und halten ganz ungezielt auf dieser Seite inne? Mit Ihrer Aufmerksamkeit, Ihrer Sammlung oder Fahrigkeit, Ihrer Neigung oder Abneigung befinden Sie sich allerdings auf jeden Fall in einer ganz bestimmten, benennbaren und sich zeitlich wandelnden Erfahrungs- und Erlebniskonstellation: Momente in der Zeit. – Die nun schon wieder sich unwiderruflich gewandelt haben, auf die eine oder andere Art. Die Geschichte der europäisch geprägten Klangorganisation wie auch des daran sich entzündenden Denkens hat sich in Philosophien der Musik gerne auf die vermeintlich gemeinsame Ungreifbarkeit, die Vergänglichkeit, das Vorübergehende des Klanges und seiner ihm eigenen Zeitlichkeit gestützt. Diese exotistische Verwunderung speist sich offensichtlich aus einem sicheren Grund der Nichtvergänglichkeit. Was aber, wenn plötzlich nicht nur der Klang als physischer, greifbarer, zwar wandelbarer, aber nichtsdestoweniger umso wirksamer begriffen wird – sondern auch die Zeit als eine spürbare, wesentliche und in ihrer Situativität körperlich greifbare Eigenschaft begriffen wird? Ein Klang entsteht aus der Bewegung, ein physischer Anlass. Bewegt sich etwas, so entfaltet sich dortheraus eine weitere Bewegung durch Widerhall. Klang wird weitergetragen, von Materie zu Materie weitergegeben. Nun können Menschen nicht schneller hören. Es ist anatomisch wie auch physisch begründet, dass die Aufnahme und Wiedergabe von Schalläußerungen durch unseren Körper in einer Zeit geschieht, die von uns allein weder beschleunigt noch verlangsamt werden kann. Wir müssen, dies wiederum ein Moment der notwendigen perzeptiven Hingabe, dem Zeitraum einer Klangausbreitung folgen. Diese Klangausbreitung ist wiederum räumlich mitbestimmt. Die technischen Mittel der Zeitstauchung oder -dehnung, des unangekündigten Erklingens außerordentlich hohen Schalldrucks und überraschenden Richtungswechsels sind erst wenige Jahre jung – in der Geschichte menschlichen Lebens mit Klängen ein kurzer Moment. Älter sind jedoch kulturell und historisch und individuell unterschiedliche Zeitlichkeiten und Erfahrungsweisen von Klängen: Wir erleben gegenwärtig Zeitgliederungen als geordnet und gemächlich, die ehedem als überstolpert und kaum durchhörbar gegolten hätten, rhythmische Zeiten anderer Kulturen sind uns oft unvertraut und befremdend, Zeitgliederungen der Musik oder das täglichen Lebens anderer Epochen können wir uns kaum wirklich vorstellen in ihrem täglichen Erfahrungsbezug. Die schiere erste Begegnung mit Klängen erfordert es, ihnen die Zeit zur Ausbreitung und Raumdurchdringung zuzugestehen, die sie benötigen. Breche ich das Hören auf einen Klang vorzeitig ab, entgehen mir Einzelheiten des Widerhalls, der Brechung, Überlagerung oder Auslöschung. Diese Einzelheiten sind gegenwärtig in europäoiden Kulturen schwerer auf den Begriff zu bringen und als Gestalt zu erkennen als Einzelheiten des Sichtbaren.

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Methodische Zugänge

Denn: Es braucht einen anderen Umgang mit Zeit, um Klänge nachzuvollziehen, sie körperlich mitzuvollziehen, im Außen- und Körperraum sich ausdehnen zu lassen und um sie zu hören. Bewegung ist dem Sinnesgeschehen des Klingenden nicht nur inhärent, sondern begründet es erst. Diese Bewegung ist ein Ereignis in der Zeit, nicht anders: Indem dieses Ereignis einen Raum durchquert. Übertragung von Klang lässt Zeit dabei vergehen, sich bilden und trifft Hörende zu einem anderen Zeitpunkt an, nahezu immer auch in einem veränderten Raum: Mein Körper ist in dieser Zeit dann leicht gewandelt. Die andere Situation wandelt meine Erfahrung und ich möchte davon erzählen – Geschichte entfaltet sich. Die Zeit des Klangs krümmt sich zurück in einen Raum, der ihn hervorbringt, in der Gegenwart des Hier und Jetzt.

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Methodische Zugänge

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Kann man die Ware hören? Zur Kritischen Theorie des Sounds Roger Behrens

Für Ruth und Peter und anstelle eines Geburtstagsständchens für Oscar Moses Dimitri, 26. November 2007

1. Einführung Kritische Theorie, wie sie in programmatischen Aufsätzen von Max Horkheimer und Herbert Marcuse 1937 begründet wurde1, ist kritische Theorie der Gesellschaft. Gesellschaft wird dabei als die Totalität der strukturellen Dynamik materieller Lebensverhältnisse der Menschen begriffen: für diese Verhältnisse ist sowohl substantiell wie auch akzidentiell, dass sie durch Widersprüche konstituiert und terminiert sind: die Totalität gesellschaftlicher Verhältnisse ist nicht unmittelbar gegeben, auch wenn sie den Einzelnen als unmittelbare Gewalt entgegentritt. Wie aus dem Einzelgeschehen oder Einzelzusammenhang das Ganze zu extrapolieren ist, markiert das Problem der Dialektik einer kritischen Theorie:2 es geht um Vermittlung von Verhältnissen, die zugleich unmittelbar erscheinen – die kritische Theorie spricht hier von ›Verdinglichung‹;3 das gesellschaftliche Ganze gerinnt zum ›Block‹, zu einer homogenen Einheit, deren antagonistischer Charakter allerdings

1 Vgl. Horkheimer 1980 (1937) sowie Horkheimer, Marcuse 1980 (1937). 2 Vgl. Benjamin 1991, 575: »Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken.« 3 Der Begriff, der auf Hegels Philosophie zurückweist, wurde maßgeblich von Georg Lukács in die Diskussion gebracht: vgl. Lukács 1988.

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eben darin besteht, dass sie sich frei von jedem Antagonismus geriert. Zugleich tritt dieser ›Block‹, diese vermeintliche Einheit des Ganzen den Menschen immer auch als fragmentiert und zersplittert oder bis zur Zusammenhanglosigkeit auseinander gerissen gegenüber. Insofern müssen die Menschen permanent ›Vermittlungsarbeit‹ leisten, um zumindest die Vorstellung von Unmittelbarkeit des Ganzen in Relation zum eigenen Leben aufrechtzuerhalten. – So funktioniert die im Spätkapitalismus zur ubiquitären Popkultur fortgeschrittene Kulturindustrie: Eine Band macht Musik, hat Erfolg, geht auf Tournee, tritt einem riesigen Publikum gegenüber, in dem sich jeder einzelne Fan persönlich angesprochen fühlt. Schon 1965 notierte Dieter Baacke sich für sein Buch ›Beat – die sprachlose Opposition‹ den Satz eines Mädchens: »Ich habe das Gefühl, die Beatles singen für mich ganz allein.«4 Es kommt zu keiner solidarischen Form der Kollektivität, weder zwischen den einzelnen Rezipienten, noch zwischen Publikum und Bühne. Etwas sehr Abstraktes, nämlich der ästhetische Genuss – oder das, was davon übrig ist: ein bloßes Wohlgefallen – wird hier, angereichert durch Emotionen und Affekte, mit dem Konkreten verwechselt. Umgekehrt wird währenddessen das Konkrete – etwa die Produktionsbedingungen, der materielle Apparat, der ein Konzert, eine Aufnahme, einen ›Star‹ möglich macht, in die Peripherie des Erlebnisses abgedrängt und zum Abstraktum. Diese ›Verwechslung‹ von Abstraktion und Konkretion spiegelt sich in der Verstellung der Beziehung von ›Gesellschaft‹ (im Sinne von Alltagsleben, Trott, ›Werktag‹ …) und ›Kultur‹ (im Sinne von Feierabend, Spektakel, ›Wochenende‹ …): ›Kultur‹ wird mit ›Gesellschaft‹ vertauscht, die »Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft« wird auf den Kopf gestellt, das heißt Basis und Überbau werden umgedreht.5 Diese Kulturalisierung der sozialen Verhältnisse, die wesentlich mit der Formierung der Popkultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden ist, vollzieht sich unter verschiedenen Aspekten, wovon zwei für unsere Untersuchung hervorzuheben sind: Erstens steht die gesamte Entfaltung der Moderne unter dem Vorzeichen des Visuellen und der Vorherrschaft des Optischen.6 Zweitens ist die Etablierung der Popkultur – im

4 Baacke 1972, 78. 5 Vgl. Marx 1957ff., Kritik der Politischen Ökonomie, 8. Übrigens spricht Marx weder an dieser noch an einer anderen Stelle vom »Überbau« als Kultur; tatsächlich sind »Basis« und »Überbau« als methodisches Schema zu verstehen, so wie der Anatom etwa Organe und Knochenbau unterscheidet, die nur im anatomischen Blick auseinander zu halten sind, nicht aber im realen Lebensprozess. – Für die Popkultur ist signifikant, dass es zu einem »Nivellement« (Peter Brückner) zwischen ›Basis‹ und ›Überbau‹ kommt, gleichwohl die beiden Sphären weiterhin von einer »Ungleichzeitigkeit« (Bloch) gekennzeichnet bleiben. 6 Vgl. Jay 1994 sowie Jay 1992, 178-195.

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Methodische Zugänge

Gegensatz zu den vorausgehenden Kulturstufen der Neuzeit, die wesentlich an die Literatur gebunden waren – auf die Musik als Leitkunst konzentriert.7 – Von daher geht es bei dem Stichwort ›Sound‹ nicht einfach um Veränderungen innerhalb der Musik oder, allgemeiner gesagt, Klangwelt, sondern um eine insgesamt veränderte gesellschaftliche Konstellation unterschiedlichster Faktoren, die – und sei es auch nur entfernt – mit Musik, Klang, Ton, Geräusch etc. zu tun haben. Das heißt: – A) Dass heute ›Sound‹ in Bezug auf Musik oder, allgemein, Klangereignisse als eine paradigmatische Kategorie wahrgenommen wird, ist selbst schon Moment der Kulturalisierung. – B) ›Sound‹ ist dabei keineswegs eine bloß akustische oder ausschließlich das Akustische betreffende Kategorie, sondern strukturell vom Visuellen oder Optischen bestimmt; anders gesagt: ›Sound‹ ist Bild; ein ins Akustische erweitertes visuelles Bild (wenn man so will, sind dann die ›Sound Studies‹ kein Parallelprojekt zu der von Hans Belting begründeten Bildwissenschaft,8 sondern ihre Erweiterung; der ›sonic turn‹ ein Drehmoment des ›iconic turn‹ oder ›pictorial turn‹ (W. T. Mitchell)). – C) Die Durchsetzung der Musik als Leitkunst ist nicht nur allein ästhetisch, sondern vor allem in Hinblick auf die soziale Funktion von Musik und schließlich ›Sound‹ zu untersuchen: hier manifestiert sich nämlich, wenn auch nicht unmittelbar, die spezifische Ästhetik, die mit der kulturellen Ordnung des Spätkapitalismus verbunden ist.

2. Bereits 1932, im ersten Heft der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, beginnt Adorno seinen Aufsatz ›Zur gesellschaftlichen Lage der Musik‹ programmatisch: Wann immer heute Musik erklingt, zeichnet sie in den bestimmtesten Linien die Widersprüche und Brüche ab, welche die gegenwärtige Gesellschaft durchfurchen, und ist zugleich durch den tiefsten Bruch von eben der Gesellschaft abgetrennt, die sie selber samt ihren Brüchen produziert, ohne doch mehr als Abhub und Trümmer der Musik aufnehmen zu können. Die Rolle der Musik im gesellschaftlichen Prozeß

7 Dabei setzt sich die zur Leitkunst gewordene Musik als ›populäre‹ durch und subsumiert schließlich als Popmusik die sogenannte ›ernste‹ Musik, die sich gleichzeitig immer mehr isoliert. Zu berücksichtigen ist die Paradoxie dieser Vorrangstellung der Musik, weil sie sich durch die Unterordnung des Akustischen unter das Visuelle vollzieht (Rock’n’Roll-Konzerte, Woodstock, Moden, Musikfernsehen etc.). 8 Vgl. Belting 2001.

Kann man die Ware hören? · Roger Behrens

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ist ausschließend die der Ware; ihr Wert der des Marktes. Sie dient nicht mehr dem unmittelbaren Bedürfnis und Gebrauch, sondern fügt sich mit allen anderen Gütern dem Zwang des Tausches um abstrakte Einheiten und ordnet mit ihrem Gebrauchswert, wo immer er übrig sein mag, dem Tauschzwang sich unter.9 Die Musik, die vollends vom Tauschgesetz bestimmt wird, ist nicht minder von der Krise erfasst als die Gesellschaft selbst. Denn wie die Gesellschaft ist auch die Musik durch den Widerspruch charakterisiert, der zur Reflexion über die Lage der Musik geraten kann. Die Forderung an die Musik lautet indes, den Warencharakter zu reflektieren, ihre gesellschaftliche Funktion in ihre ästhetische Konstruktion mit aufzunehmen: »Von Musik, die heute ihr Lebensrecht bewähren will, ist in gewissem Sinne Erkenntnischarakter zu fordern.«10 Adorno führt das unter dem Aspekt der »Produktion« an vier verschiedenen Typen avancierter Musik aus (Arnold Schönberg als ›moderne‹ Musik; Igor Strawinsky als Objektivismus und Neoklassizismus; Kurt Weill als surrealistische Musik; Paul Hindemith, aber auch Hanns Eisler als Gebrauchsmusik oder ›Gemeinschaftsmusik‹), beschäftigt sich dann mit »Reproduktion« und »Konsum«. Nicht weiter führt er allerdings aus, inwiefern der Warencharakter in die Musik selbst hineingeht, wie sich die Verdinglichung auf die musikalische Struktur auswirkt – außer dass bestimmten Klangformen die Warenform je schon immanent zu sein scheint, weil die Musik, so Adorno, ganz nach den Erfordernissen des Marktes arrangiert sei: »Sachlich ist der Warencharakter der Jazzmusik evident.«11 Adorno geht es nicht um Kommerzialisierung, sondern um Kommodifizierung: ›Ware‹, ›Warenform‹ und ›Warencharakter‹ bezeichnen eine Struktur, eine Logik der Verwertung. Diese Ökonomiekritik ist – und das ist für unseren Zusammenhang wichtig – von Anfang an in den philosophischen Problemkomplex eingebettet, der mit den Stichworten ›Sinnlichkeit und Erkenntnis‹, ›Wesen und Erscheinung‹, ›Theorie und Praxis‹, ›konkret und abstrakt‹ etc. umrissen werden kann. Marx beginnt das erste Kapital im ›Kapital‹, welches von der Ware handelt, mit folgenden Worten: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Warensammlung‹, […]«.12 Und der Abschnitt über den »Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis« geht ebenfalls von der Wahrnehmung der Ware aus: »Eine Ware erscheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding.«13 Gleichwohl

9 Adorno 1997a, 729. 10 Ebd., 732. 11 Ebd., 774. 12 Marx 1957ff., Das Kapital, 49 [meine Hervorhebung, R.B.]. 13 Ebd. [meine Hervorhebung, R.B.].

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Methodische Zugänge

erschließt sich die Ware aber eben nicht unmittelbar in ihrer Erscheinung: »Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.«14 Ausgangspunkt ist auch hier der von Marx so bezeichnete Doppelcharakter der Ware, einen Gebrauchswert und Tauschwert zu haben. So führt Marx aus, dass, »unter dem Gesichtspunkt« des Gebrauchswertes »betrachtet, nichts Mysteriöses an der Ware ist; der Gebrauchswert ergibt sich aus der Nützlichkeit, wonach der Mensch die Naturstoffe entsprechend verändert« – das sei »sinnenklar«. Doch sobald das von den Menschen hergestellte Ding als Ware auftritt, »verwandelt es sich in ein sinnlich übersinnliches Ding«.15 Marx resümiert: »Der mystische Charakter der Ware entspringt also nicht aus ihrem Gebrauchswert.«16 Und kommt zu dem Schluss, dass »der rätselhafte Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es Warenform annimmt[,] […] aus dieser Form selbst […] entspringt«.17 Marx erklärt den Fetischcharakter der Ware nicht durch ein primäres Konsum-Verhältnis zu ihr (das wären der Kaufakt und seine Derivate), sondern aus dem fundamentalen gesellschaftlichen Verhältnis, welches durch die Ware selbst definiert zu werden scheint: Das produzierte Ding mag Ausdruck persönlicher, etwa kreativer oder ›künstlerischer‹ Bedürfnisse sein; tatsächlich erhält es seine gesellschaftliche Bedeutung über den Tauschwert, der sich durch die in dem Warending vergegenständlichte Arbeitszeit bestimmt, welche wiederum als ein Quantum von Arbeitskraft gefasst werden muss; die Arbeitskraft indes wird selbst als Ware veräußert. In einer berühmten Passage formuliert Marx: Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge.18 Es ist jedoch nicht das einfache ›Quidproquo‹, das die warenproduzierende Gesellschaft als solche kennzeichnet, sondern es ist die in diesem ›Quidproquo‹ begründete fetischis-

14 Ebd., 85. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd., 86. 18 Ebd.

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tische Verkehrung der Vorstellung darüber, wie die Wirklichkeit zustande kommt, was sie wesentlich ausmacht und wie sie strukturiert ist. Marx spricht deshalb, wie oben zitiert, von der »phantasmagorischen Form«, in der den Menschen die menschlichen gesellschaftlichen Verhältnisse als Verhältnisse von Dingen erscheinen. Eine Phantasmagorie ist im 19. Jahrhundert ein Illusionstrick im Theater, ein fantastisches Bild auf der Bühne. Bei Marx – der das Wort gelegentlich in den frühen Schriften der Pariser Zeit benutzt – meint ›Phantasmagorie‹ stets Trugbild, Blendwerk, aber auch Hirngespinst. Die Phantasmagorien entstehen in den Köpfen der Menschen – gewissermaßen als ihre ideellen Lebensverhältnisse –, gehen allerdings aus den materiellen Lebensverhältnissen hervor, und zwar notwendig. Zugleich sind die materiellen Lebensverhältnisse nichts weiter als die historischen Manifestationen der Phantasmagorien (anders gesagt: die Waren sind Phantasmagorien, sie erzeugen Phantasmagorien und sie sind Produkt der Phantasmagorien). Phantasmagorien bezeichnen Ideologie, aber eben nicht im Sinne einer unwahren Ansicht, eines Fehlschlusses, einer irrigen Annahme etc., sondern als verkehrte Struktur, die sich verkehrt in den Ideen, Idealen, Begehren und Bedürfnissen Menschen wieder findet. Anders gesagt: Die Phantasmagorie entspricht dem »Bild«, das die warenproduzierende Gesellschaft »so von sich produziert und das sie als ihre Kultur zu beschriften pflegt.«19 Diese Kultur ist heute zur Popkultur avanciert, für die der ›Sound‹ paradigmatisch geworden ist.

3. ›Sound‹ etabliert sich als Gegenstand der Musiktheorie, Ästhetik und Kulturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wesentlich im Zusammenhang mit der Entwicklung der Popkultur und ihrer musikalischen Formen wie zunächst Rock’n’Roll und Soul. Als Kategorie etabliert sich ›Sound‹ in der Musik- und Kulturtheorie erst nach Adornos Tod, und zwar in Hinblick auf die Entfaltung der neuen Musikformen, mit denen ab Mitte der 70er Jahre das Schema Rock versus Pop tendenziell bis, im Verlauf der 90er Jahre dann, vollständig überschritten wurde: Disco, Punk, Reggae, Metal, HipHop, New Wave, House, Techno, Fusion, Hardcore, Elektro, Grunge etc. Ausgangspunkt aller ›Sound‹-Theorien ist ein paradigmatischer Bruch, der die wachsende und mithin konstitutive Bedeutung des Sounds für die Musik und Musikkultur

19 Benjamin 1991, 822.

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markiert: Bis einschließlich der klassischen Moderne, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt und Abschluss findet, steht die Musikentwicklung in der Neuzeit, seit dem späten 16. Jahrhundert, unter dem Vorzeichen von Monodie, Melodie und Metrik, beziehungsweise Tonalität und Rhythmik; doch bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts tritt der Klang als eigenständige Kategorie einer Musikästhetik hervor, wird die Klangfarbe zu einer autonomen musikalischen Qualität. Dies zeigt sich zunächst in den Fortschritten der Instrumentaltechnik und Klangerzeugung beziehungsweise Musikreproduktion, angefangen mit der für die Bedeutung des Sounds entscheidenden sogenannten Wohltemperierten Stimmung (bereits 1681); ferner ist hier zu verweisen auf: Aeoline und Harmonium (um 1819), Ventilhorn (Patentierung 1818), Orchestrion (ab circa 1820), Saxofon (Patentierung 1846), Grammophon (Patentierung 1887), E-Gitarre (ab 1923), Kino-Orgeln (20er Jahre) und Hammond-Orgel (Patent in den 30er Jahren), Trautonium (Prototyp 1930). Damit verändert sich schließlich der musikalische Begriff der Technik selbst und stellt derart den Rahmen für die Herausbildung von ›Sound‹ als ästhetische Kategorie dar: Technik ist nicht nur Kompositionstechnik oder Spieltechnik in Bezug auf Interpretation, sondern dynamischer und dispositiver Ausdruckszusammenhang der musikalischen Produktion und Praxis (zum Beispiel: Studiotechnik, Mikrofontechnik, Sampling und Scratching als Techniken etc.). Begleitet wird diese Neubestimmung der Technik beziehungsweise technischen Aspekte der Musik von grundlegenden Umwälzungen im Bereich der Kunst und Ästhetik, die wiederum an weitreichende Verschiebungen der Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gebunden sind. Hegel macht erstmals die Kunst zum genuinen Gegenstand der Ästhetik, beziehungsweise bindet er die Ästhetik an das Kunstwerk – als historische Einheit und somit systematische Entität. Gleichzeitig bringt Hegel die Künste in einen funktionalen Bezug zur Gesellschaft und nimmt eine Hierarchisierung vor, innerhalb der die Musik als Kunstform der subjektiven Innerlichkeit eine untergeordnete Position erhält. Ihre Aufwertung erfährt die Musik erst durch Schopenhauers Ästhetik, in der sich gleichwohl ein neuer sozialer Status eben der Subjektivität und des bürgerlichen Gefühlslebens spiegelt: Musik wird im Verlauf des 19. Jahrhunderts gesellschaftlich und individuell immer relevanter, was sich an den beiden extremen Formen zeigt, der Wagnerschen Oper – Stichwort Gesamtkunstwerk – einerseits und der Offenbachschen Operette andererseits; über die Musik erfährt die Hochkultur ihre Transformation in Massenkultur, die Konzerte der immer größer werdenden Orchester gleichen in ihrer Organisation der Fabrik der standardisierten industriellen Massenproduktion. Damit treten nicht nur Publikum und Musiker in ein neues Verhältnis zueinander, sondern es bilden sich überhaupt neue Typen des konsumierenden Publikums und des lohnarbeitenden Künstlers heraus. Die Anonymität eines monströsen Konzertbetriebes steht dabei im schärfsten Kontrast zum individualisierten Musikverständnis der Hörer. Klang, Effekte, Spektakel, Dynamik

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und Dramatik der Musik – also Attribute, die später als ›Sound‹ bezeichnet werden – geraten gleichsam zu ästhetischen Leitfiguren des musikalischen Erlebens, das heißt zum Kitt, mit dem Genuss und Gefühl zum subjektiven, schließlich persönlichen Geschmacksurteil verschmolzen werden. Dazu gehört auch, dass in derselben Zeit, in der die großen Konzert- und Opernhäuser sowie Sinfonieorchester gegründet werden (1842: Wiener Philharmoniker; 1855: Offenbachs Théâtre des Bouffes Parisiens; 1876 finden erstmals die Bayreuther Festspiele statt; 1882: Berliner Philharmoniker; 1883: Eröffnung der Metropolitan Opera in New York), sich der Instrumentalist oder Dirigent als Star herausbildet (zu verweisen ist auf Paganini oder Spohr, ebenso Czerny oder Liszt, schließlich Toscanini und Mahler …). – In dieser Zeit wird die Virtuosität zu einem Merkmal der guten Musik, mit der eine besondere Beherrschung des musikalischen Materials zu einem Maßstab wird, die über Interpretation und Spielvermögen hinausweist: der Musiker arbeitet mit einer Handschrift, einem Duktus, mit Effekten und – ganz wichtig – mit Einfällen. Dies kristallisiert sich zwar erst in der eigenständigen Entwicklung der Musikformen der Popkultur als Sound, findet aber in den Varianten der romantischen Musik des 19. Jahrhunderts ebenso seine Antizipation wie in der Jazzmusik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Komplex der Rhythmik und Tonalität löst sich zum einen die sogenannte Agogik (Hugo Riemann 1884), zum anderen erfahren (rhythmische) Schwingung und (tonale) Stimmung eine ästhetische Neubewertung – zu verweisen ist auf Polyrhythmik, auf die Atonalität, schließlich auf den Serialismus; aber eben auch und vor allem auf den Jazz: »It must schwing!«, wie Alfred Lion zu sagen pflegte; ›Sound‹ gilt in diesem Sinne mitunter als Jazz-typischer Begriff und wird als »Grundklang (Farbe) einer Band oder eines Solisten«20 sowie die »Spielweise«21 im Jazz definiert. ›Sound‹ ist insofern mehr als Klang oder Klangfarbe; mit ›Sound‹ kann die Gesamtheit eines musikalischen Ereignisses bezeichnet werden, das nicht nur durch akustische, sondern ebenso visuelle und vor allem ›atmosphärische‹ Elemente charakterisiert ist. ›Sound‹ ließe sich derart definieren als die Emanzipation des Klangs von der Musik; die Ideologie des ›Sounds‹ geht von einem substantiellen oder essentiellen Klang der Dinge aus und impliziert in der ›Sound‹-Qualität eine quasi-moralische Wertung (mehr als dem deutschen Wort kommt dem englischen ›sound‹ eine nachgerade argumentative Kraft zu; in der informellen Logik gibt es die sogenannten Sound Arguments, in der Mathematik das Soundness Theorem …). Im Gegensatz zu Rhythmik und Tonalität ist der ›Sound‹ wesentlich an den musikali-

20 Lindlar 1986, 280. 21 Vgl. ebd., 273: »Wie der Jazz mehr eine besondere Art des Musizierens als eine Art der Musik ist, so kommt es bei Tonbildung und Klang weniger auf die Instrumente als auf die Spielweise an (sound).«

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schen Moment gebunden, der aber gleichwohl das Musikalische selbst zu übersteigen scheint; anders gesagt: als Zeitkunst entfaltet sich die Musik in ihrer rhythmisch-tonalen Struktur und konzentriert sich als Sound in der musikalischen Situation. Man kann sagen: »Die Gitarre ist nicht gestimmt, hat aber trotzdem einen guten Sound.« Oder: »Die Band spielte zwar perfekt, hatte aber einen schlechten Sound.« Oder: »Beim Reggae gefällt mir ein spezifischer Sound, obwohl er mich musikalisch eigentlich nicht interessiert.« Oder: »Mit diesem alten Vintage-Mikrophon kriegt die Bass-Drum einen richtig fetten Sound, den man mit einer Mikrophonierung auf dem neuesten Stand nicht hinbekommt.« Oder: »Vinyl hat einfach einen besseren Sound als CD, gerade wegen der Kratzer und des leichten Rauschens.« Ebenso kann man sagen: »Der Sound der Stadt« oder »Der Motorsound« oder »Dieses Gerät ist eine Soundmaschine« oder »Das ist der Sound, auf den ich total abfahre!« etc. ›Sound‹ ist als soziales Verhältnis zu begreifen, sowohl in seiner objektiven Materialität wie auch in seinem subjektiven Ausdruck. Im Vordergrund steht dabei die Dialektik des Sounds, die zunächst zu tun hat mit dem Widerspruch von Wesen und Erscheinung, der für einen materialistischen Begriff von Welt grundlegend ist: Sound ist Erscheinung, und als solche scheint der Sound zugleich das Wesen musikalischer oder allgemein-klanglicher Phänomene zu sein (»Das Wesen aller Musik ist Sound.«). Sound fungiert sowohl als Kategorie für einen erweiterten Musikbegriff (»Musik = Sound, Sound = Musik«), als auch für einen phänomenologisch reduzierten Musikbegriff (»Nur was Sound hat, ist Musik.«). Die gesellschaftliche Funktion der Musik konstituiert sich über den ›Sound‹ als die Ideologie der Musik – als ihre Realität im Sinne eines sozialen Verhältnisses. Als Konzept ist ›Sound‹ tendenziell redundant und bleibt als Begriff zugleich begriffslos; mithin kann Sound als ein akustisches Bild verstanden werden und berührt sich in seiner Bedeutungs- und Sinnvielfalt mit der Allegorie; so sind die Versuche, Sound begrifflich zu fassen, auf Metaphern angewiesen, und die »Objektivierung« des subjektiven Sound-Erlebens vollzieht sich dabei in bildlich-symbolischen Assoziationsketten beziehungsweise assoziativen Verkettungen. Dies schlägt sich in der gesellschaftlichen Funktion der Musik nieder: im Wechselverhältnis zwischen musikalischer Produktion und Reproduktion. ›Sound‹ wird zum Generalnenner für alle musikalischen Dimensionen und bezeichnet Musik gleichermaßen als Naturverhältnis und als das der Natur Konträre. Sound zielt auf Unmittelbarkeit ab; das ästhetische Modell, dem er folgt, ist das dionysische des Rausches.

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4. Was der Fetischcharakter der Musik als Ware sei, hat die kritische Theorie in Bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Begriff der Kulturindustrie gefasst. Kulturindustrie meint die Gesellschaft als Ganzes, nicht einfach einzelne Sektoren innerhalb der sozialen Formation. Was die kritische Theorie diesbezüglich als Standardisierung etc. beschreibt, ist im Kontext der ökonomischen Transformation des Kapitalismus zu sehen, welche mit der Einführung des Fließbandes in der Automobilproduktion durch Ford und der Durchsetzung der Arbeitsablaufsoptimierungen nach dem Effizienzprinzip des »One best way« durch Taylor mit den Begriffen Fordismus und Taylorismus bezeichnet wird. Kulturindustrie bedeutet: Alle Kultur wird zur Ware. Das ist kein Prinzip, das sich in der Popkultur, das heißt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt erst entwickelt, sondern das vielmehr den Ausgangspunkt der Popkultur in den 50er Jahren bildet. Es ist die zentrale Ideologie der Popkultur, dass sie innerhalb des Kapitalismus eine nicht-kapitalistische Lebensweise ermögliche, und sei es auch nur eine zeitlich (Wochenende, Feierabend, Jugend) oder räumlich (Konzert, Wohnzimmer, Mp3-Player etc.) begrenzte Nische. Es ist dies eine Ideologie – und noch einmal: als notwendig falsches Bewusstsein –, die mit einem fortgeschrittenen Fetischismus der Warenproduktion zu tun hat, der gelegentlich als »Ästhetisierung« (Benjamin) oder »Warenästhetik« (Wolfgang Fritz Haug) begriffen wird. Die Popkultur ist demnach als eine Erweiterung der Kulturindustrie zu verstehen (und keineswegs ist die Kulturindustrie eine Sparte innerhalb der Popkultur) – in der Popkultur ist gleichsam die Formel »Alle Kultur wird zur Ware« auf den Kopf gestellt: »Alle Ware wird zur Kultur«.22 Für die Popkultur gilt, was Adorno und Horkheimer zum Ende des Kulturindustrieabschnitts in der ›Dialektik der Aufklärung‹ prognostizierten: Die Auflösung der Kulturindustrie in Reklame. Jede Ware ist Kulturware, und zwar in ihrer Funktion als Reklame. Dabei geht es weniger um die Eigenwerbung eines bestimmten Produktes für sich selbst, die Firma oder die Branche (die es freilich weiterhin im großen Umfang gibt: als Werbeindustrie), sondern es geht um die Reklame für das System als Ganzes im Sinne einer permanent und perennierend reklamierten Bestätigung der gesellschaftlichen Verhältnisse: Aus der Wirklichkeit, die in dieser Weise konstruiert wird – als Alltag, als Pop, als das reale Leben etc. –, ist die Möglichkeit substantiell verschwunden. Übrig ist nur noch als immer wieder verdoppelter Schein, dass es anders sein könnte; das beharrliche Glücksversprechen, die verschiedensten

22 Vgl. Debord 1967; vgl. auch Marcuse 1979 (1964).

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Wunschbilder, produzieren unablässig ganze Welten, die als Himmelreich vorgestellt werden, ohne auch nur die Struktur des banalen Lebens im Diesseits zu streifen, geschweige denn anzutasten oder gar zu zerschlagen. Die Popkultur ist im Kontext des sogenannten Postfordismus zu verstehen. ›Sound‹ schweißt einerseits die Musik als Ware zusammen, verdichtet ihren Warencharakter derart zum Fetisch, indem ästhetische Qualitäten wie Tonalität, Rhythmus, Instrumentierung etc. der Kategorie ›Sound‹ subsumiert werden; so zum Fetisch geronnen bleibt ›Sound‹ allerdings indifferent und unspezifisch, eigentlich eine Pseudokategorie: ›Feeling‹, allgemeine Emotionen und Affekte werden zu Attributen des ästhetischen Urteils – welches allerdings kein ästhetisches Urteil mehr ist. ›Sound‹ erscheint als Form der Musik (und ihr Inhalt ist dann eine bestimmte Botschaft, ausgedrückt durch die Songtexte beziehungsweise die Lyrics). Das verdichtet sich in der Ideologie, wonach das, was Soundform ist, nicht Warenform sein könne – und insofern wird, zumindest in der Vorstellung, die der Konsument von der Musikware hat, ihr ›ökonomischer Inhalt‹ ebenso wie ihre ›ökonomische Form‹ von der ›ästhetischen Form‹ wie dem ›ästhetischen Inhalt‹ abgekoppelt (die Musikware wäre dann die CD als Ding, die Konzertkarte, die HiFi-Anlage etc., losgelöst von der als ›Sound‹ vorgestellten Einheit der Musik: dem affektiv-emotionalen musikalischen Erlebnis). War die Kulturindustrie von der Verdinglichung der Ware gekennzeichnet, so ist die Popkultur durch die Verdinglichung des Sounds charakterisiert: ›Sound‹ ist die Phantasmagorie, die »sinnlich-übersinnliche« Musik, die sich jeder rationalen Reflexion und Erkenntnis entzieht und vollständig der affektiven Empfindung überlassen bleibt. Exkurs Besonders drastisch zeigt sich das bisweilen in den sogenannten Cultural Studies, die versuchen im Sinne ihres erweiterten, nämlich nicht-elitären Kulturbegriffs ›Sound‹ nicht nur als ästhetisch-technische Qualität zu verstehen, sondern als Qualität einer »autonomen«, gegebenenfalls dissidenten oder subversiven Praxis eines »kulturellen« beziehungsweise »symbolischen Widerstands«.23 Exemplarisch sei hier auf Paul Willis verwiesen, der sich in seiner Studie ›Jugend-Stile. Zur Ästhetik der gemeinsamen Kultur‹ (das Original erschien 1990) mit dem Interpretieren von Sounds im Sinne einer, wie er es nennt, »symbolischen Kreativität« beschäftigt: »Die vorliegenden Untersuchungen zur Popmusik legen meist nahe, dass die Lieder ihre Wirkung in erster Linie durch den ›Sound‹ von Stimme und Instrumenten entwickeln,

23 So argumentieren, wenn auch zum Teil äußerst kontrovers, Simon Frith, Stuart Hall, Angela McRobbie, John Fiske oder Lawrence Grossberg, aber auch Douglas Kellner.

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nicht als explizite verbale oder lyrische Äußerungen.«24 Ausgehend von dieser kaum an einen Begriff heranreichenden Definition konstatiert Willis: Lieder können auf diese Weise symbolische Materialien für die Bildung und Artikulation von spezifischen elementaren Ästhetiken liefern, die sich um das Überleben drehen und es ermöglichen: indem sie Gefühle von Langweile, Furcht, Ohnmacht und Frustration bekämpfen oder ausdrücken. Sie können als affektive Strategien benutzt werden, um mit den Erfahrungen des Alltagslebens klarzukommen, sie zu bewältigen und erträglich zu machen.«25 Was hier ›Sound‹ heißt, wird auf das gesellschaftliche Verhältnis bloß appliziert: das Resultat ist das, was Adorno das Pseudoindividuum nannte: »Die Wirkung von Bass und Rhythmus vereinnahmte, besonders im lebendigen Zusammenhang des Konsumierens, oft die Bedeutung irgendwelcher Worte. Lebendig und am intensivsten erfahren werden diese musikalischen Charakteristika auf der Tanzfläche, und dort werden sie zum Bestandteil einer körperlich elementaren Ästhetik.«26 Diese »elementare Ästhetik«, die den Körper nicht nur ontologisiert, sondern auch gegen die Reflexion ausspielt (die nötig wäre, um aus den beschriebenen ›somatischen Impulsen‹ den ästhetischen Wahrheitsgehalt zu gewinnen), verzichtet auf jede Erkenntnis, setzt die Soundform von vornherein mit der Warenform identisch. – ›Sound‹ bleibt verdinglicht als »Signal« auf der symbolisch-bildhaften, aber zugleich relativ bilderarmen Ebene: Für Willis bestätigt sich gerade darin die Kraft des ›Sounds‹, wenn ein Fan zu ihm sagt: »Es ist Herz-Musik … Musik aus dem Herzen … Ich weiß nicht genau, was es eigentlich ist.«27 Die Bindung an die Musik bleibt irrational-impulsiv und affektiv. Nicht zu wissen, was die Musik in ihrem ›Sound‹ ausmacht, diese Sprachlosigkeit und Naivität im Versuch, Bilder als Abbilder beziehungsweise Illustrationen zu finden (»Herz«), markiert zugleich den Erfahrungsverlust, die Fixierung auf das bloße Erlebnis und bekräftigt zudem das Einverstandensein: Musik ist nur noch Soundtrack für das eigene Leben, so wie es ist.

24 Willis 1991, 85. 25 Ebd. 26 Ebd. 86. 27 Ebd.

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5. Von ›Sound‹ sprach man bis in die 70er entweder gar nicht, oder allgemein auf die »Unterhaltungsmusik« bezogen, die zumeist mit Jazz identifiziert wurde.28 Erst mit den 70er Jahren wird ›Sound‹ zu einer Domäne des Rock und eigenständigen Kategorie: bedingt durch die Entwicklung der Rockmusik, die ihrem Selbstverständnis nach ästhetisch gehaltvoller als Popmusik galt, weil sie künstlerisch autonomer und souveräner schien (weshalb sich die Musiktheorie zunächst primär auf Phänomene des Rock bezog). In diesem Kontext wurde auch, zum Teil im Anschluss an die kritische Theorie Adornos, Benjamins und Marcuses, aber auch Ernst Blochs, versucht, eine kritische Theorie der Rockmusik zu begründen.29 Dazu gehörte vor allem die Etablierung von sachgerechten und gehaltvollen Begriffen, die in zahlreichen lexikalischen und enzyklopädischen Untersuchungen definiert wurden. Auch ›Sound‹ wurde als kritischer Begriff in diesem Zuge präzisiert: Charlie Gillett schreibt ›The Sound of the City‹ (London 1971) und Michael Muschner schreibt über den ›Technologischen Stand der Studioarbeit‹, dabei »Ästhetik und Soundzubereitung« fokussierend.30 Umfassend hat der Musikwissenschaftler Tibor Kneif, der sich schon in den 60er Jahren mit Klangwirkung beschäftigte31 und seinen Ansatz aus Motiven der Blochschen Musikphilosophie entwickelte,32 in seinem ›Sachlexikon Rockmusik‹, Ausgabe 1978, definiert und fünf beziehungsweise sechs Bedeutungen unterschieden: 1: Klang als eine physikalisch-akustische Erscheinung, die mit dem Gehör wahrgenommen wird. – 2: Klangfarbe. – 3: Musikalische Eigenart einer Gruppe, der sogenannte Gruppensound, der darüber Aufschluß gibt, welchen Anteil Vokalstimmen und Instrumente an der musikalischen Faktur haben; desgleichen das Mischverfahren eines Tonmeisters oder eines Studios […] Häufig bleibt unent-

28 »Sound (engl.: Klang, Ton) bezeichnet im Jazz und in der Unterhaltungsmusik den charakteristischen Klang eines Orchesters, einer Band oder eines Solisten (z.B. Ellington-Sound).« (Ullstein Lexikon der Musik, 514). 29 Verwiesen sei hier auf die bisher im deutschsprachigen Raum exzeptionellen Arbeiten von Helmut Salzinger (Salzinger 1972 sowie Salzinger 1973). Vergleichbar sind diese Arbeiten etwa mit Greil Marcus’ Büchern oder Paul Morleys ›Words and Music‹ (Morley 2003). – Darüber hinaus ist, im Anschluss an Hanns Eisler, auf die Arbeiten von Günter Mayer zu verweisen: z.B. Mayer 1978. 30 Vgl. Muschner 1980. 31 Vgl. Kneif 1966. 32.Vgl. Kneif 1965.

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schieden, ob man es mit einem Gruppensound oder mit einem Studiosound zu tun hat. – 4: Polyphone oder homophone Setzweise, noch allgemeiner kompositorische Technik, die sich in der Stimmführung, in der Akkordfortschreitung, in der Verteilung der Instrumente usw. niederschlägt. – 5: Allgemeines Sammelmerkmal einer lokal oder zeitlich näher angebbaren Musikrichtung.33 Schließlich, ohne Ordnungszahl, weil den Begriff selbst reflektierend beziehungsweise seine Pseudo-Ontologie problematisierend: ›Sound‹ wird zudem als ein für allemal feststehend vorgestellt. In Wirklichkeit ändert sich der Sound gerade bei künstlerisch regen Gruppen ständig, so dass es z.B. einen Beatles-Sound gar nicht gibt, vielmehr hat man anzugeben, welches Jahr, welche Platte oder gar welches Musikstück gemeint ist. Da jedoch ein Hang nach begrifflicher Schärfe industriefeindlich, zumindest industriekritisch ausgerichtet ist […] besteht kaum Aussicht darauf, den Sound-Begriff bald durch einen konkreteren und genaueren zu ersetzen, der jeweils auf Stimmführung, Satzstruktur, Besetzung, Studioverfahren usw. Bezug nimmt.34 Solche Konturen und Klarheit als Begriff hat ›Sound‹ allerdings nur in Nachschlagewerken bekommen; im Musikjournalismus blieb die Verwendung des Wortes weitgehend unpräzise und die Bedeutung ungenau und schwebend. So konzediert Wolfgang Sandner schon 1977: Sound ist zum beherrschenden Fetisch der Rockmusik geworden. Von der Gitarrensaite bis zum Aufnahmestudio wird alles auf den geeigneten Sound hin geprüft. Dabei bedeutet das Wort allerdings längst nicht mehr nur Klang oder – im akustischen wie psychologischen Sinne – Klangfarbe. Sound meint die Totalität aller den Gesamteindruck der Musik bestimmender oder vermeintlich bestimmender Elemente, die sogar irrationale Momente wie das Design von Verstärkeranlagen einschließt.35 Sandner gehört zu den wenigen Autoren, die ›Sound‹ in Hinblick auf den Komplex »Geschichte, Ästhetik, Produktion« (so der Untertitel des von ihm herausgegebenen Sam-

33 Kneif 1978, 188. 34 Ebd., 189. 35 Sandner 1977, 83.

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melbandes) analysieren. Dabei geht es nicht nur um die soziale Funktion der Rockmusik (auf die sich die Untersuchungen konzentrieren), sondern vor allem auch um die gesellschaftliche Dynamik technologischer Entwicklungen, insbesondere technischer, das heißt elektronischer Klangerzeugung (Synthesizer, Studiotechnik, Verstärker und Gitarren etc.). Was ›Sound‹ mithin zum Problem macht, seine kaum fassbare, bildhafte Qualität, die sich der Begriffsreflexion und dem Reflexionsbegriff entzieht, verortet Sandner als Fetisch in der Dialektik von Technik und Ökonomie: Was den gewünschten Sound – nachdem der Ton die Einflusssphären mehrerer Personen und der von diesen bedienten Apparaturen durchlaufen hat – letzten Endes bestimmt, lässt sich oft nur schwer analytisch nachvollziehen, zumal vielfach auch nicht mehr am synthetisch produzierten Klang identifiziert werden kann, was das Ausgangsinstrument gewesen ist.«36 ›Sound‹ wird im Übergang von den 70er zu den 80er Jahren mehr und mehr über die Fortschritte in der Musiktechnologie definiert und bekommt darüber seine geschichtliche Signatur – im Kontext der in dieser Zeit sich explosionsartig vermehrenden Popgenres: HipHop, Techno, House, Metal, Postpunk, New Wave, Hardcore etc. Der ›Sound‹ wird gleichsam von spezifischen Pop(sub)kulturen abgelöst, beziehungsweise wird die Technik zum quasi vermittelnden Merkmal eines bestimmten pop(sub)kulturellen ›Sounds‹. Dies lässt sich insbesondere an den Extremen zeigen, nämlich a) am Übergang von Disco zu Rap, b) der sogenannten New Wave Of British Heavy Metal, später bestimmten Labels wie SST oder SubPop, und c) »politisch« konnotierten ›Stilen‹ (Hardcore, aber auch Salsa, ›Weltmusik‹, später Grunge). Durch das Musikfernsehen und auch die Popmusik-Präsenz im Privatfernsehen werden die enorm vervielfältigten Pop-Sounds, begrifflich längst nicht mehr erfassbar, an eine ebenfalls immense Bildervielfalt gebunden. Mit anderen Worten: Eine Pluralisierung der Phantasmagorien, deren Resultat eine bis zur Bedeutungslosigkeit übertriebene Sinnvermehrung ist: ›Sound‹ kann alles und nichts bedeuten. Die geschichtliche Signifikanz von Sounds wird redundant, analog zur postmodernen Überführung der Geschichte in Mode – überhaupt könnte man sagen: ›Sound‹ wird postmodern. Um ein Beispiel zu nehmen: Die Unterschiede zwischen Herbie Hancocks ›Watermelon Man‹ (1962), ›Headhunter‹ (1973), ›Rockit‹ (1983) und schließlich Alben wie ›The New Standard‹ (1995) und ›Future2Future‹ (2001) sind heute im Verhältnis zum ›Sound‹ nur noch technisch relevant, nicht mehr gesellschaftlich. Aber auch das Technische hat im Verlauf der 80er und schließlich 90er Jahre einen Sinnverlust

36 Ebd.

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durch Bedeutungsüberhöhung erfahren – auch hierfür ist die dynamische Beziehung zwischen gesellschaftlicher und technischer Entwicklung verantwortlich (Stichworte: DJ-Culture, Musik & Computer, ›Techno‹). Am Ende ist alles ›Sound‹ und summarisch lässt sich mit diesem Etikett Pop kanonisieren. ›Sound‹ ist zum universellen Kriterium für (Pop) Musik geworden.

6. Schluss ›Kill Sound Before Sound Kills You.‹ Kid 606 (2003) ›Who Still Kill Sound‹ Kid 606 (2004) ›Resilience‹ Kid 606 (2005)

Dass Musik vollends zur Ware geworden sein soll, also womöglich auch die Musik, an der der persönliche Geschmack sich orientiert, will niemand so recht glauben: Aus der Kritik des musikalischen Warencharakters zieht man den Trugschluss, dass die einmal als Fetisch entlarvte Musik auch schlechte Musik sein muss. Doch keine Musik ist dadurch per se schlecht, dass sie im Kapitalismus und unter seinen Bedingungen hergestellt wird; sie verändert nur vollständig ihre Gestalt, ihren Ausdruck – und zwar gerade darin, dass die Warenmusik wie jedes andere Warending etwas ist, dem man seine wesentliche Struktur, Ware zu sein, nicht unmittelbar ansieht, anhört, anschmeckt etc. Das kapitalistische Brot bleibt unserer Vorstellung nach Brot und verliert seinen Charakter erst da, wo es als Brot nicht mehr erkennbar ist (und das ist selbst beim billigen Fabrikbrot nicht der Fall). Faktisch ist das kapitalistische Warenbrot aber ein anderes Ding mit substantiell anderen Eigenschaften als das Brot aus einer Backstube vorkapitalistischer Zeiten. Wir essen eine Ware, die wie »Brot« ist. In diesem ›Als-ob‹, nämlich in dieser Differenz zwischen Ding und Gestalt wiederholt sich geschichtlich die alte Scheidung von Wesen und Erscheinung: sie kulminiert im ›Design‹, welches sich im Zeitalter der Massenproduktion sowohl vom Handwerk als auch von der Kunst abspaltete; im Verlauf des Kapitalismus entwickeln die Dinge eine Dynamik von Form und Charakter, in der Gestaltung und Funktion, Gebrauch und Ware gleichermaßen aufgehoben wird. Im Design verdoppelt sich die Erscheinung; die Dinge sind mehr als bloß Objekte, Gegenstände – sie sind Designobjekte. ›Sound‹ ist gleichsam das Design der Musik; oder mehr noch: Musik hebt sich tendenziell im ›Sound‹ auf. Die Verallgemeinerung der Musik zum ›Sound‹ lässt Musik im

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›Sound‹ verschwinden. Es dürfte kein Zufall sein, dass Adorno seine These von der »Entkunstung der Kunst« am Jazz explizierte, dem er absprach, im emphatischen Sinne Musik zu sein.37 Auch ist die Parallele in der Entwicklung der Soundmusik und den neuen Kulturtechniken wie Film und Rundfunk nicht von der Hand zu weisen; zumal »Musik« als ›Sound‹ im Film wie im Rundfunk neue Funktionen erhielt, wie auch Film und Rundfunk neue ästhetische Verfahren realisierte, die auch auf die Musik abfärbten und neue Umgangsweisen mit ihrer neuen Soundgestalt prägten. Kann man also die Ware hören? Nein. Und doch hören wir, wo Musik vollends Sound geworden ist, nichts anders als die Ware, die heute die Gesellschaft als Ganzes, und damit auch das Musikleben bestimmt.

7. Quellen Adorno, Theodor W. (1997a): Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, in: Gesammelte Schriften (GS), Bd. 18, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M., 729-777. Adorno, Theodor W. (1997b): Zeitlose Mode. Zum Jazz, in: Gesammelte Schriften (GS), Bd. 10, 1, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M., 123-137. Baacke, Dieter (1972): Beat – die sprachlose Opposition, München. Belting, Hans (2001): Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München. Benjamin, Walter (1991): Das Passagen-Werk, in: Gesammelte Schriften (GS), Bd. V, 1, hg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. Debord Guy (1996): Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin. Horkheimer, Max (1937): Traditionelle und kritische Theorie, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 6 (1937), Reprint: München 1980, 245-294. Horkheimer, Max, Marcuse, Herbert (1937): Philosophie und kritische Theorie, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 6 (1937), Reprint: München 1980, 625-647. Jay, Martin (1992): Die skopischen Ordnungen der Moderne, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 20. Jg., H. 2, 178-195. Jay, Martin (1994): Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought, Berkeley, Los Angeles, London. Kneif, Tibor (1965): Ernst Bloch und der musikalische Expressionismus, in: Siegfried Unseld (Hg.), Ernst Bloch zu Ehren, Frankfurt a.M., 277-326.

37 Vgl. Adorno 1997b, 135.

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Kneif, Tibor (1966): Der Gegenstand musiksoziologischer Erkenntnis, in: Archiv für Musikwissenschaft, 23. Jg., H. 3, 213-236. Kneif, Tibor (1978): Sachlexikon Rockmusik. Instrumente, Stile, Techniken, Industrie und Geschichte, Reinbek bei Hamburg. Lindlar Heinrich (Hg.) (1986): ro ro ro Musikhandbuch, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg. Lukács, Georg (1988): Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Darmstadt, Neuwied. Marcuse, Herbert (1979): Der eindimensionale Mensch, Darmstadt, Neuwied (erstveröffentlicht 1964). Marx, Karl (1957ff.): 1) Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 13, Berlin, 1-160. 2) Das Kapital, 1, Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 23, Berlin. Mayer, Günter (1978): Weltbild – Notenbild. Zur Dialektik des musikalischen Materials, Leipzig. Morley Paul (2003): Words and Music. A History of Pop in the Shape of a City, London. Muschner, Michael (1980): Der technologische Stand der Studioarbeit, in: Tibor Kneif (Hg.), Rock in den 70ern. Jazzrock, Hardrock, Folkrock und New Wave, Reinbek bei Hamburg, 13-22. Ullstein Lexikon der Musik (1979), 9., neu bearbeitete Auflage, Berlin, Wien u.a. Willis, Paul (1991): Jugend-Stile. Zur Ästhetik der gemeinsamen Kultur, Hamburg, Berlin. Salzinger, Helmut (1972): Rock Power. Oder Wie musikalisch ist die Revolution. Ein Essay über Pop-Musik und Gegenkultur, Reinbek bei Hamburg. Salzinger, Helmut (1990): Swinging Benjamin, Neuausgabe, Hamburg. Sandner, Wolfgang (1977): Sound & Equipment, in: ders. (Hg.), Rockmusik. Aspekte zur Geschichte, Ästhetik, Produktion, Mainz, 81-99.

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Funktionale Klänge: Mehr als ein Ping Georg Spehr

»Ich kenne dieses Geräusch. – Das ist ein schlimmes Geräusch!«1

1. Einstimmung Wir sind permanent von akustischen Klangereignissen umgeben. Wir weisen ihnen eine Bedeutung zu und handeln dementsprechend, bewusst und unbewusst. Der Mensch orientiert sich mit Hilfe von Klängen, er verständigt sich neben der Sprache auch mit Hilfe von Geräuschen und Klängen, nicht nur mit anderen Menschen (und Tieren), sondern auch mit Geräten und Maschinen. Und wir hören auch, wenn wir nicht »zuhören«. Das Ohr kann vielschichtige klangliche Änderungen registrieren, kann komplexen akustischen Figuren folgen, kann mehrere Klangquellen gleichzeitig verfolgen, kann differenzierte Klangeigenschaften auf feinster Ebene wahrnehmen. Mit Hilfe des Ohres können wir eine eventuelle Affektivität einer Botschaft oft schneller wahrnehmen als deren rationelle Bedeutung. Der menschliche Gehörsinn hat sich im Laufe der Evolution zum Messinstrument entwickelt, das in seiner Genauigkeit, Adaptionsfähigkeit, Fehlertoleranz und hierarchischen Strukturierungsfähigkeit jedes technische System in den Schatten stellt.2

1 Gwen de Marco (Sigourney Weaver) nach Vernehmen eines genretypischen Alarmsignals in der Science-Fiction-Komödie Galaxy Quest, USA, 1999. 2 Dayé, de Campo, Egger de Campo 2006, 1.

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Eine Vielzahl von absichtlich generierten Klangereignissen durchzieht unser tägliches Leben, Wirken und Arbeiten in vielfältiger und bedeutender Ausprägung, auch wenn wir als Erstes nur an Klingel- und Signaltöne in elektronischen Geräten oder an Sirenen der Feuerwehr denken mögen. Diese Klangereignisse unterliegen in ihrer Beschaffenheit Regeln und haben eine bestimmte Bedeutung, die sie transportieren und vermitteln sollen. Klänge und Geräusche zur zielgerichteten Kommunikation, eingesetzt, um ein beabsichtigtes Ergebnis zu erreichen. Funktionalisiert. Der Begriff Funktion wird in seiner Bedeutung aufs Wesentliche reduziert. Der Klang ist die Funktion. Er wird funktionalisiert, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen und um Anforderungen an Hörerinnen und Hörer zu übermitteln. Er ist ein Mittel zum Zweck, dessen Ziel sowohl eine eng umgrenzte Handlungsaufforderung als auch eine umfassende Zustandsbeschreibung sein kann. In der Geschichte lassen sich viele Bespiele finden, in denen zwischenmenschlich mit Klängen kommuniziert wird. Blasinstrumente, Trommeln und Glocken werden schon seit Ewigkeiten verwendet, um nonverbale Botschaften zu übermitteln und damit bestimmte Handlungen auszulösen. Auch in mechanischen Arbeits-Geräten wurden schon vor längerer Zeit akustische Signale eingesetzt, die zu bestimmten Situationen festgelegte Informationen übermittelten. So beschreibt z.B. Meyers Konversationslexikon von 1888, dass Garnhaspeln eine Vorrichtung zum Zählen von Garnmaßen enthalten. Da gesetzlich oder herkömmlich eine Strähne (ein Strang, Stück, Lopp, Schneller) eine gewisse Anzahl von Fäden enthalten und in eine bestimmte Anzahl von Gebinden geteilt sein muß [...], so ist der Haspel mit einer Vorrichtung zum Zählen der Umdrehungen versehen, [...] Das Ende jeder Umdrehung wird durch einen auf der Seitenfläche des Rades stehenden eisernen oder hölzernen Stift bemerklich gemacht, welcher in diesem Moment eine vorher zurückgedrückte hölzerne Feder wieder abfallen läßt (daher Schnappweife). Zuweilen schlägt auch die abfallende Feder an eine Glocke, oder der Stift hebt statt der Feder einen Hammer auf, der beim Zurückfallen auf ein Brettchen oder eine Glocke schlägt.3 Ich möchte drei Zeitpunkte benennen, welche die zunehmende Anwendung von Klang und Geräusch entscheidend mit beeinflusst haben:4

3 Meyers Konversationslexikon 2007. 4 Vgl. Langguth 2007.

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Methodische Zugänge

· Der Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert mit der rasanten Entwicklung von Fertigungs-, Werkzeug und Fortbewegungsmaschinen, die neue Strukturen in Gesellschaft und Umwelt mit sich brachten und somit auch neue kommunikative Erfordernisse. · Die Entdeckung des Elektromagnetismus im 19. Jahrhundert und damit die Möglichkeiten neuer Kommunikationsmedien und -möglichkeiten über Telegraphie, Phonographen, Telefonie, Film hin zur Funktechnik. · Die Digitalisierung im 20. Jahrhundert, die mechanische Geräte (und damit deren Geräusche) mehr und mehr reduzierte und in der Folge andere nahezu lautlose Geräte hervorbrachte, die aber in ihrem Funktionsumfang immer reichhaltiger wurden. Anhand dessen lässt sich feststellen, dass die Verwendung von und das Bedürfnis nach funktionalen Klängen seit Jahrhunderten stetig steigt. Dieses Feld ist bisher nur natur- und kulturwissenschaftlich in vielen Teilgebieten aufgearbeitet, eine übergeordnete Betrachtung gibt es zumeist nur ansatzweise. Angesichts der vielen gleich klingenden, scheinbar lustlos und desinteressiert gestalteten Pieptöne und Piezoeffekte, den übermäßig lauten, aufdringlichen oder unnötigen Gong-, Pfeif-, Heul- und Klimpertönen in den unterschiedlichsten Anwendungen kann man sich darüber nur wundern. Doch gibt es etliche Ansätze und Bestrebungen in mehreren Disziplinen, hier neue Wege zu gehen und Grundlagen zu schaffen: Ein verstärktes Interesse am Klang im Produktdesign – nicht nur gutes Aussehen, sondern auch gutes Klingen; ein umfangreicheres Einbinden von auditiven Elementen innerhalb einer Usabilitiy, also der Bedienbarkeit von Anwendungen (Soft- und Hardware); das Abbilden von Informationen in Klang aufgrund von eingeschränkten visuellen Möglichkeiten; die Verwendung von Klang in Wissenschaft und Forschung aufgrund der oben schon erwähnten Vorteile des Hörsinns; eine Erforschung von Klangräumen und ihres Einflusses auf das Leben und Wirken des Menschen. Und nicht zuletzt die zunehmende Auseinandersetzung mit dem Auditiven in Fächern wie der Klanganthropologie oder Klangökologie. Auch in öffentlichen Medien lässt sich in den letzten Jahren wieder eine zunehmende Aufmerksamkeit vernehmen. Die einen guten Überblick vermittelnde Dokumentation »Im Reich der Töne« (Bergala 2005, ARTE) und die aus dreißig Episoden bestehende Feature-Reihe »Erlebnis Zuhören« (Funkkolleg HR 2006/2007) bilden wahrscheinlich die Glanzlichter, werden aber eingerahmt von vielen, wenn auch kurzen Artikeln und Features mit zugegebenermaßen oft blumigen Titeln wie »Emotionen der Motorsäge« (BR-Online 2004), »Kaufklang« (Deutschlandradio 2004), »Krach, schnurr, dröhn. Der Klang der Dinge« (SZ 2004), »Geräuschdesign – Wer Sport macht, röhrt« (Manager Magazin, 2003).

Funktionale Klänge: Mehr als ein Ping · Georg Spehr

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Aber was können funktionale Klänge sein? Wie sehen Aufgaben und Anforderungen aus? Wie könnte sich eine akustische Gestaltung von funktionalen Klängen beschreiben lassen?

2. Funktionale Spuren Die Anwendungsgebiete, in denen man von funktionalen Klängen sprechen kann, sind im Einzelnen so vielfältig, dass sie den Rahmen dieses Artikels sprengen würden. Um dennoch einen notwendigen Überblick zu erhalten, möchte ich ein Raster mit fünf Bereichen vorschlagen, einschränkend aber schon jetzt anmerken, dass die Übergänge zwischen den Bereichen eher fließend sind. Und es gibt mit Sicherheit nicht wenige funktionale Klänge, die sich aufgrund ihres Kontextes in zwei oder mehr Bereiche einordnen lassen, doch dazu später mehr. Spur 1: Klangliche Repräsentation von bekannten Informationen und Daten Das Vermitteln von eindeutigen Informationen ist die primäre Aufgabe eines funktionalen Klanges in einer Mensch-Maschine oder einer zwischenmenschlichen Kommunikation. Akustische Ereignisse (musikalisch, klanglich oder geräuschhaft) können je nach Komplexität und Erfahrungsschatz der Hörer viele Informationen übertragen, mit der Folge, dass die Zuhörer nach der Hörsituation mehr wissen als vorher. Diese Informationen können Nachrichten, Hinweise, Zustände, Warnungen und Alarme einfachen oder komplexen Inhaltes sein. Einfach, wenn z.B. ein Bankautomat beim Drücken einer Taste piept, um mitzuteilen, dass man soeben erfolgreich eine Taste gedrückt hat. Das mag sich überflüssig anhören, ist aber durchaus sinnvoll, wenn die Taste haptisch kaum noch als Taste bemerkbar ist und auf dem Bildschirm entweder eine schwer erkennbare, zeitverzögerte oder gar keine visuelle Bestätigung erscheint. Eine komplexe Nachricht dagegen wären Tonfolgen aus langen und kurzen Pieptönen, die man bei eventuellen Problemen des Computers hören kann. Diese Fehlersignale (Beep-Code) beschreiben codiert auch die Ursache des Problems: 1x lang, 2x kurz – Grafikkartenfehler: Video-ROM-BIOS – Checksumme falsch; Monitoransteuerung defekt; keine Grafikkarte gefunden.5

5 BIOS-Kompendium 2007.

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Methodische Zugänge

Auf zwischenmenschlicher Ebene begegnen uns permanent informelle Klänge in Form von Sirenen, Autohupen und Fahrradklingeln, Gongs vor Durchsagen, Pfeiftöne von Schiedsrichtern oder Zugschaffnern und Glocken, die zur Messe rufen oder die Uhrzeit angeben. Augenscheinlich sind Klänge gegenüber Sprache im Vorteil, wenn eine Person viele Personen erreichen will, die dazu noch auf etwas ganz anderes konzentriert sind. Man verschafft sich Aufmerksamkeit und vermittelt gleichzeitig eine Botschaft. Geräte basieren mehr und mehr auf digitaler statt auf mechanischer Technik. Sie werden kleiner, handlicher und vielseitiger. Das bedeutet aber auch, dass sie so gut wie keine Geräusche mehr machen. Deshalb werden Lautsprecher integriert, die speziell generierte Geräusche und Klänge von sich geben. Während man bei analogen Kameras das Auslösen der Linse noch deutlich wahrnimmt, so ist bei digitalen Kameras oftmals nur noch ein sehr schwaches Klicken zu vernehmen. Bei analogen Kameras öffnet sich bei Betätigung des Auslösers noch zeitgleich die Linse, bei digitalen Geräten bedingt die Technik oftmals eine Zeitverzögerung. Beides führt dazu, dass ein künstliches Klicken generiert wird, um dem Nutzer die Information »Foto wird jetzt aufgenommen« zu vermitteln. Im Zuge der Digitalisierung beherrscht ein Gerät immer mehr Funktionen, für die man vor kurzem noch mehrere Geräte verwendete. Das beste Beispiel ist hier mit Sicherheit das Mobiltelefon: Neben dem eigentlichen Telefon beinhalten die jüngsten Geräte Kurznachrichten, Email, Internet, Kalender, Adressbuch, Taschenrechner, Notizbuch, Radio, MP3-Player, Fotoapparat, Fotoalbum, Video-Kamera, Diktiergerät, Spielkonsole, Stadtplan/Landkarte, Standortmitteilung, Sequencer, Datenübertragung, Speichermedium, Wecker, Timer und Stoppuhr. Für jede Funktion gibt es elektronische Assistenten, mehrere Sprachen und individuelle Einstellungen. Man kann das Gerät manuell oder automatisch aktualisieren, personalisieren und seinem Tagesablauf anpassen lassen. Das Gerät selbst ist meistens nicht größer als eine Zigarettenschachtel. Dadurch beschränken sich die visuellen Möglichkeiten auf einen Bildschirm, der das Format eines Passfotos hat. Bedien-Elemente reduzieren sich auf ungefähr 15 Tasten und eventuell einen Mini-Joystick oder entfallen auch seit kurzem gänzlich. Da die wenigen Bedienelemente nicht ausreichen und oft mit mehr als zwei verschiedenen Aufgaben belegt sind, werden aufwendige Menüstrukturen nötig, um Zugang zu den einzelnen Funktionen zu bekommen. Ein Einsatz von Klängen ist hilfreich, um zu lernen, wie man mit dieser Menüstruktur umgeht und die Gebrauchsfähigkeit (Usability) der Geräte zu gewährleisten. Zusätzlich sind nicht wenige Menschen wegen eingeschränkter Sehfähigkeiten auf akustische Rückmeldungen ihrer Geräte angewiesen, um sie akzeptabel nutzen zu können. Die technischen Möglichkeiten lassen bereits Klänge mit einer erstaunlichen Qualität zu. Ein nicht ganz unwesentlicher Vorteil, da visuelle und haptische Elemente Platz benötigen, welche die Größe der Geräte oft nicht bietet. Ein weiterer sinnvoller und hilfreicher Einsatz von Klängen ist in »hands-busy-eyes-busy«-

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Situationen im Operationssaal, im Cockpit, in Leitständen von Kraftwerken oder anderen sicherheitsrelevanten Umfeldern. Blick, Hände und Aufmerksamkeit sind an andere Punkte gebunden. Visuelle oder haptische Signalisierungen sind hier wenig effektiv. Um Internetseiten für blinde oder sehbehinderte Menschen zugänglich zu machen, gibt es neben der sprachlichen Übersetzung der Inhalte auch Ansätze, die Navigation akustisch darzustellen. Dabei wird mit Klangzeichen nicht nur die Bedeutung eines Hyperlinks, sondern auch sein Standort innerhalb der Seiten-Struktur gekennzeichnet. Eine interessante Frage wäre, ob dieses Prinzip nicht auch in Leitsysteme für große öffentliche Orte und Gebäude übertragen werden könnte. Die akustischen Signale von Fußgängerampeln bieten ja im Prinzip einen ersten Ansatz, auch wenn die klanglich sehr variablen Umsetzungen sicherlich nicht zu einer eindeutigen Klarheit beitragen. Spur 2: Affektive Beschreibung und Erzählfunktion Es gibt viele Anwendungsgebiete, wo neben eher rationalen, logisch nachvollziehbaren auch affektive Informationen vermittelt werden sollen. Klang eignet sich dazu hervorragend, weil das Ohr ein Organ ist, das affektive Botschaften sehr gut wahrnehmen kann. Mit Klang werden gezielt Emotionen, Persönlichkeiten, Räumlichkeiten, Repräsentationen sowie Zeitliches beschrieben und das Übertriebene, Phantastische und Nichtexistente umschrieben. Sounddesign im Film betreibt dies wohl am längsten in angewandter Form. Das Bild beschreibt das Aussehen einer Tür und wie sie sich öffnet oder schließt. Der dazugehörige Sound verrät uns noch die Dinge, die wir nicht unmittelbar sehen können, wie Material, Gewicht und Alter der Tür und die Gestalt des Raumes, in dem sie sich befindet. Wie und in welcher Absicht wird sie geöffnet? Was erwartet den Zuschauer als nächstes? Mit Hilfe des Sounds kann man bei identischen Bildern völlig unterschiedliche Geschichten zu dieser Tür erzählen. Das Vertonen von affektiven Informationen kann in einer sehr einfachen und übertriebenen Weise geschehen. Der Laugh-Track ist ein akustischer Einspieler mit künstlichem Lachen, der oftmals in Sitcoms verwendet wird. Er wurde gegen 1950 entwickelt, um zu geringes Lachen vom bei der Produktion anwesenden Publikum zu ergänzen oder zu ersetzen.6 Diese Klanganwendung, die sich im Laufe der Zeit als festes Stilmittel entwickelt hat, dient dazu, den Witz zu unterstreichen und den Zuschauer zum Lachen zu animieren.7

6 Vgl. Cohen 2007. 7 Aufgrund der Künstlichkeit wird der Laugh-Track oft auch als störende und bevormundende Anweisung empfunden, insbesondere bei Synchronisationen, bei denen der Live-Ton des originalen Publikums fehlt.

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Methodische Zugänge

Deutlicher wird dies, wenn Eigenschaften beschrieben werden, die unsichtbar sind. Der Klang wird zu etwas Symbolhaften, einer Metapher, beispielsweise in Martial-Arts-Filmen – ein Subgenre des Action Film mit Fokus auf der Darbietung von Kampfkünsten – wo Bewegungen von Armen, Beinen und Waffen mit voluminösen, scharfen »LuftGeräuschen« nachvertont werden. Die sehr schnellen und oft unrealistischen Bewegungen werden durch die Klänge erst verständlich. Hohe Geschwindigkeit und Kraft sowie übermenschliches Können werden versinnbildlicht. Eine weitere Steigerung geht mit der Beschreibung von Dingen und Ereignissen einher, die nicht existent sind. Wie hört es sich an, wenn jemand beim Beamen in seine Atome zerlegt wird, um an einer anderen Stelle wieder komplett zusammengesetzt zu werden? Oder wie klingt ein Phaser in den unendlichen Weiten des Weltraums? Der Sound hilft maßgeblich dabei, das Phantastische und eigentlich Unmögliche zu verstehen und nachzuvollziehen. Musik konnte komponiert werden, aber die Klänge der Zukunft mussten erfunden werden. Roddenberry wollte nicht, dass bei Star Trek die Art Klang verwendet wurde, die in der Filmbranche seit Jahren Standard war. Diese bahnbrechende Serie sollte ihre eigenen Klänge bekommen. [...] Der Phasereffekt erreichte – allen physikalischen Gesetzen zuwiderlaufend – ein Crescendo, wenn die Enterprise eine Breitseite abfeuerte. Die Wissenschaft hat den Beweis erbracht, dass es im Vakuum des Alls keine Geräusche gibt. Aber ohne Toneffekte würde viel von den optischen Effekten verloren gehen. Wenn also das Schiff seine Waffen abfeuerte, war die Tonspur angefüllt mit Geräuschen [...]. Wenn die Enterprise im Warpflug an der Kamera vorüber zog, war es ein wundervoller Klang. [...] Ohne aufregende Bilder und aufregende Klänge als Untermalung würde ein Großteil des Dramatischen verloren gehen.8 Klänge sind ein elementarer Bestandteil von elektronischen Spielen. [...] the game environment, encompasses the sounds and visual elements originating from the game during play. This also includes the sound of the credits before and after the game, all the sounds related to its interface as well as the program or software that defines their deployment or generation.9

8 Solow, Justman 1996, 211. 9 Stockburger 2003, 3.

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Neben der klanglichen Darstellung von Orten und der Vertonung von Erzählsträngen, die sich gewiss nicht hinter Science-Fiction- und Fantasy-Filmen zu verstecken brauchen, müssen auch Interaktionen des Spielers bestätigt oder gefordert und seine Ergebnisse (Score) angezeigt werden10 – durch Kugeln in Flipper-Geräten ausgelöste Punktewertungen und in Geldspielautomaten symbolisierte mögliche »Gewinnzustände«, Bewegungen und Aktionen von Spielfiguren in Arcade-Games, Spielkonsolen, Computer- und Internet-Spielen. Die Klänge beinhalten stets neben rationalen auch affektive Informationen, um ein Gefühl für die Situation zu vermitteln, übrigens unabhängig vom technischen Standard, ob es nun der digitale Pixelsound von Pac Man oder stereophones Monster-Gebrüll bei Lara Croft ist. Ohne diese Klänge wären diese Spiele unspielbar oder zumindest sehr langweilig. Hersteller von Spielzeug bedienen sich ebenso der »erzählerischen« Klänge. Je statischer und einfacher es ist, desto besser lässt sich mittels Tönen ein Bezug zur Realwelt herstellen. Registrierkassen, Telefone, Elektrische Gitarren aus Plastik und FeuerwehrSirenen in Modellautos. Natürlich gibt es auch hier das Phantastische. So verwandelt sich mittels eines klingenden Soundeffekts ein einfacher einfarbiger Plastik-Stab mit Stern in einen »Feen-Zauberstab«. Produkte und zielgerichtete Klanggestaltung. Nicht einfach irgendwelche durch das Objekt verursachten Geräusche hören, sondern solche, die dem Produkt entsprechend eine qualitative und positive Bedeutung vermitteln. Ein Wunschklang, der Erwartungen entspricht und bestätigt. Die Bierflasche, die nicht gluck, gluck, gluck macht, sondern glück, glück, glück.11 Das Ästhetische, Qualitative und Gegenständliche herausheben. Die störenden »falschen« Geräusche in angenehme »gute« Geräusche wandeln. Das richtige AutotürKlappen, Motoren-Dröhnen, Verschluss-Ploppen und Keks-Krachen. Es geht dabei nicht unbedingt um die Vorspiegelung falscher Tatsachen. Anspruchsvolles Sounddesign ist mit einem Kostenaufwand verbunden, der bei »billigen« Produkten eher nicht investiert wird, und ein hochwertiger Sound ist nicht unbedingt passend. Ein günstiger Kleinwagen, der wie ein Porsche klingt, wäre ziemlich unglaubwürdig. Gutes Sounddesign unterstützt immer den Zweck eines Produktes, das Geräusch muss zur Funktion passen und eine sinnliche Erfahrung darstellen.12 10 A. Stockburger beschreibt in seinem Text sehr anschaulich die verschiedenen Typen von »Sound Objects« in Spielewelten, »The Game Enviroment From An Auditive Perspective«, ebd., 5ff. 11 Schramm 2007. 12 Ebd.

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Methodische Zugänge

Hinter dem Produkt steht die Marke. Auch sie repräsentiert eine bestimmte Identität. Audio-Branding 13 ist die akustische Gestaltung und Beschreibung einer solchen Identität im Rahmen einer Markenkommunikation. Dabei werden mit Hilfe einer akustischen Konzeption in einem strategischen Prozess klangliche, musikalische und stimmliche Kernelemente entwickelt. Diese bilden die Grundlage für eine kreative Umsetzung von verschiedenen Anwendungen. Ein Audio-Branding allerdings vollständig als funktionalen Klang zu definieren, wäre zu einfach und nicht korrekt. Da nicht nur das Akustische (das eben neben Klang auch Musik und Stimme sein kann), sondern auch das gesamte Konzept und die klanglichen Markenaspekte definiert werden, ist es weitaus mehr. Produktklänge können ebenso wie informelle Signalklänge in ihrer Gestaltung vom Audio-Branding beeinflusst und so Teil des Gesamtkonzeptes werden. Das prominenteste Klangelement ist vermutlich das akustische Logo. Losgelöst vom Produkt hat es eine ganz klare Aufgabe: Es symbolisiert akustisch die Marke, um sie wiedererkennbar und differenzierbar zu machen. Das Audio-Logo stellt das akustische Identifikationselement einer Marke dar [...]. Es sollte natürlich zur Marke passen, einprägsam, flexibel, prägnant und unverwechselbar sein.14 In einer kurzen Zeitspanne von ca. 2 bis 3 Sekunden kommunizieren sie zumeist in einer Mischung aus musikalischen und klanglichen Elementen emotionale Markenwerte und -botschaften. Philips hat [...] ein Audio-Logo entwickeln lassen, das mit dem neuen Markenversprechen ›sense and simplicity‹ in Einklang steht. Zwei helle, klare und dezent instrumentierte Töne stehen für Einfachheit, Unkompliziertheit, Fortschrittlichkeit und für Technik mit Sinn für das Wesentliche.15 Spur 3: Raum und Umgebung Klangräume beeinflussen Handlungen und Verhalten. Sie können Wohlgefühl auslösen, anregend wirken, die Orientierung unterstützen und uns in ganz andere Orte versetzen. Sie können aber auch lästig und sehr unangenehm werden, unsere Aufmerksamkeit und

13 In dem Zusammenhang werden u.a. auch die Begriffe Sound Branding, Sonic Branding oder Corporate Sound verwendet. 14 Bronner 2007, 84. 15 Ebd., 85.

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Leistungsfähigkeit stark mindern, Ängste auslösen und demoralisieren. Das kann den eigenen Körper ebenso betreffen wie geschlossene Räume (vom Auto bis zum Gebäude) und weitläufige offene Areale. Das Ohr ist ein wesentlicher Teil, der unser Raumgefühl und Raumbewusstsein prägt. Klänge bilden nicht nur zu Personen, Objekten, Filmen und virtuellen Welten eine rationale oder emotionale Beziehung, sondern auch zur Umgebung. Unangenehme Klangumgebungen in Büros und Klassenzimmern können das Arbeiten erschweren. Es ist laut, die Räume dröhnen und andere Personen sind schlecht zu verstehen. Man selbst muss brüllen, um sich zu verständigen, und kann sich nicht konzentrieren. Je unangenehmer die Klangumgebung empfunden wird, desto mehr werden Orte gemieden. Oder wir ziehen uns in andere akustische Kulissen mit Hilfe von MP3Playern zurück, werden dadurch aber auch häufig komplett von der Umwelt entkoppelt. Lärm-Empfinden ist individuell. Während die einen den Lärm als angenehm empfinden, versuchen andere gegen die Ursachen vorzugehen, sei es die Party des Nachbarn, die Lokalität gegenüber oder die Kirchenglocken am Sonntagmorgen.16 Manche dieser Maßnahmen erscheinen zuweilen überzogen und als ein Engagement an der falschen Stelle, weil nur noch Spitzen vermieden werden sollen, die aus einem fast schon normalen alltäglichen Lärmteppich herausstechen. Ein Lärmteppich, der nur noch unbewusst wahrgenommen wird, nervlich aber immer mehr belastet. Aber wie kann man Klangräume akustisch angenehmer gestalten? Lärmvermeidung klingt zwar einfach, ist aber nicht leicht umzusetzen, insbesondere dann, wenn Lärm sich aus vielen Komponenten nährt. Eine Ursache sind neben den Schallerzeugern oftmals die langen Nachhallzeiten, die durch schallreflektierende Materialien entstehen. Diese lassen sich durch Schalldämmer wie Teppiche und dicke Vorhänge einschränken, aber es werden nur hohe Frequenzanteile geschluckt. Die eigentlich störenden tiefen Frequenzen bleiben vorhanden. Eine weitere Möglichkeit bietet der Einsatz von Antischall, also die Auslöschung von bestimmten Frequenzen durch gegenphasige Frequenzen. Mit Antischall-Kopfhörern können störende Geräuschteppiche personenbezogen eliminiert werden. Angewendet wird das bei Berufsgruppen wie Piloten, die auf ihre akustische Wahrnehmung angewiesen, gleichzeitig aber hohem Lärm ausgesetzt sind. Dieses Prinzip wird auch auf Lärm erzeugende Objekte übertragen. Beispielsweise können ganze Gebäude »leiser gedreht« werden, indem man Klimaanlagen mit Antischall ausgerüstet.17 Der Nachteil von Antischall liegt darin, dass er nur dann funktioniert, wenn die Schallerzeuger sich nicht bewegen und es einen relativ kleinen geschlossen Raum gibt. In großen öffentlichen

16 Vgl. MieterMagazin 2002. 17 Rüsenberg 2007.

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Methodische Zugänge

Räumen oder Plätzen stellt sich der Klangraum vielschichtiger dar. Geräusche, Musik, Sprache, synthetische Klänge, aber auch Stille bilden hier gemeinsam eine wechselhafte, dynamische Soundscape. Wenn nun gezielt aus einem konzeptionellen Gestaltungsprozess hervorgehende Klänge einer definierten Soundscape hinzufügt werden, um so die Wahrnehmung zum Positiven hin zu verändern, kann durchaus von Funktionalität gesprochen werden – Funktionalität eben nicht nur im Sinne von Lärmvermeidung, sondern vielmehr auch im Sinne angenehmer Gestaltung der akustischen Atmosphäre. Eine klangliche Anpassung von unwirklichen Orten, die mehr verlassen als belebt sind. Die Analyse und Gestaltung von Klangräumen in offenen Arealen wie Hinterhöfen, Plätzen und Straßen können in Architektur, Stadtplanung und Quartiersmanagement eine wesentliche Komponente darstellen, um unangenehme Klangareale wieder dem Menschen zuzuführen oder gar nicht erst entstehen zu lassen.18 In Räumen und Arealen werden neben Objekten und Lautsprechern auch die Elemente, die den Raum umgeben, durchziehen und zusammenhalten zum maßgeblichen Klangerzeuger. Durch Reflexion verändern sie den Schall ständig und damit auch die akustische Umgebung. Darüber hinaus können bei Berührung neue Geräusche und Klänge erzeugt werden. So entstehen bedeutungsstarke und unverwechselbare Klangräume.19 Auch bei Schallabsorbern, also bei Material, das bestimmte Frequenzen filtert, könnte man von einer Art Klangerzeuger sprechen, da sie trotz des Entfernens von Klanganteilen ein »neues« akustisches Gebilde schaffen. Man kann Klangräume nach geographischen, kulturellen, sozialen und zeitlichen Aspekten unterscheiden. Sie spiegeln ihren Entstehungsort und können durch ihre Beschreibung im gewissen Maße reproduziert werden, auch wenn sie sich örtlich und zeitlich woanders befinden. Die Umgebungsempfindung wird damit gezielt verändert, um quasi mit dem Betreten eines Raumes in eine andere Welt zu gelangen. Das ist sinnvoll, um die Inhalte von Museen oder Ausstellungen verständlicher und emotionaler zu präsentieren. Im Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven ist ein Ausschnitt einer kompletten Kaianlage nachgebaut: An der Kaje, wie die Kaianlage in Bremerhaven genannt wird, erleben sie den emotionalsten, den beeindruckendsten Moment der Auswanderung: den Abschied von der Heimat. Reisende aus allen Epochen der Auswanderungsgeschichte über

18 Eine akustische Raumgestaltung muss nicht unbedingt bedeuten, dass Klangumgebungen »leiser« werden. Z.B. ist Lärm in Fußballstadien ein entscheidender Teil der akustischen Atmosphäre. 19 Vgl. Werner 2006, 62ff.

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Bremerhaven sind hier versammelt. [...] Im Hintergrund stapeln sich die Proviantkisten, welche die ›Lahn‹, ein Schnelldampfer des norddeutschen Lloyd, auf seiner ca. 8-tägigen Überfahrt zur Versorgung der Passagiere an Bord nehmen musste. Auch die in Originalgröße nachgebaute, schwankende Bordwand der ›Lahn‹ unterstreicht diesen Augenblick des Abschieds von der Heimat.20 Dieser allein schon visuell beeindruckende Raum erhält durch seine Klangatmosphäre, die in allen Bereichen unterschiedlich wahrgenommen werden kann, einen zusätzliches, nicht minder beeindruckendes Erlebnismoment, durch das das dargestellte Thema wesentlich intensiver dargestellt wird. Bemerkenswert ist, dass neben Originalgeräuschen wie Möwengeschrei, Wasserklatschen, Metallkreischen und Schiffshörnern auch abstrakte Soundeffekte sowie musikalische Elemente in der Klangatmosphäre enthalten sind, um die zeitlichen und emotionalen Aspekte des Ortes zu unterstreichen. Es ist ein wenig so, als befinde man sich als Zuschauer nicht vor der Leinwand, sondern mitten im Film.21 Das akustische Darstellen anderer Orte kann allerdings mitunter seltsame Blüten treiben: Schallplatten mit »Körpergeräuschen« zur Beruhigung für Babies, die sich mittels dieser Geräusche wie im Mutterleib fühlen sollen. Rock A Bye Baby. A Natural Way of Calming Babies and In Most Cases Soothes Them To Sleep. Actual recording of the Body-Beat sounds inside an expectant mother’s womb. The most unique scientific and effective baby pacifier in the world.22 Spur 4: Klangliche Repräsentation von unbekannten Informationen und Daten In »Spur 1« wird die klangliche Repräsentation von »bekannten« Informationen, die Vermittlung von Wissen beschrieben. Bei »unbekannten« Daten soll mittels einer Vertonung deren Bedeutungsgehalt ausgewertet werden. Der Unterschied liegt im Erkenntnisgewinn, Wissen kann entstehen. Resultate von Messungen werden zumeist in Form von Zahlen in einer rein syntaktischen Datenstruktur gespeichert. Es ist aber unklar, was sie beschreiben oder repräsentieren. Die Daten lassen sich auswerten, also in Wissen umsetzen, indem sie in verständliche Strukturen übersetzt werden, was zumeist visuell durch Diagramme oder Modelle geschieht. Das Ohr bietet eine zusätzliche Möglichkeit der Auswertung. Bei komplexen,

20 Deutsches Auswandererhaus: Online-Beschreibung, 2007. 21 Neben der »Kaje« gibt es noch weitere nachgestellte Orte mit speziellen Klangathmosphären, die Stationen der Auswanderung thematisieren. 22 »Rock A Bye Baby«: LP-Labeltext, 1975.

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Methodische Zugänge

unregelmäßigen oder gar chaotischen Datenstrukturen ist es dem Auge gegenüber im Vorteil. Das Ohr kann auch noch Klangereignisse mit sehr kurzen Intervallen differenziert wahrnehmen.23 Unser Hörsinn erkennt von allen Sinnesorganen am schnellsten zeitliche Muster und kann rhythmische Strukturen heraushören, wo für das Auge nur noch Chaos herrscht. Er kann sich zeitliche Motive merken und damit Veränderungen wahrnehmen. Auch ein wenig geschultes Ohr ist dadurch in der Lage, in einer gehörten Musik ›Fehler‹ sofort zu bemerken. Den gleichen Fehler in den gedruckten Notenköpfen einer Partitur mit dem Auge zu finden, ist ohne akustische Erfahrung praktisch unmöglich.24 Ein weiterer Vorteil ist der hohe Datendurchsatz. Datenmaterial von Stunden oder Tagen visuell aufbereitet zu überblicken, benötigt eine große Aufwendung an Papier und Zeit. Setzt man die Messdaten in Klänge um und komprimiert den Zeitrahmen auf wenige Minuten, könnten Auffälligkeiten trotzdem herausgehört und dann gezielt untersucht werden. So ist es möglich, die Vorgänge eines epileptischen Anfalls im Gehirn hörbar zu machen25 oder sich die Aufzeichnungen eines ganzen Tages von einer Autobahn-Radaranlage innerhalb von 24 Sekunden anzuhören.26 Neben der Medizin und Verkehrsforschung können diese funktionalen Klänge u.a. auch in der Seismologie (Auswertung von Erdbeben)27, Sportwissenschaft (Analyse von Bewegungsabläufen)28 oder Analysen von komplexen Systemen wie die Entwicklung von Populationen29 angewendet werden. Die klangliche Repräsentation von Daten mag recht abstrakt und stark wissenschaftlich anmuten, ist aber als eine konsequente Fortentwicklung dessen zu sehen, wie mittels Klang der Zustand von geschlossenen Systemen analysiert oder bei Objekten die qualitative Beschaffenheit festgestellt wird. Ärzte hören mit Stethoskopen unseren Körper ab, um Hinweise für eine Diagnose zu bekommen. Eisenbahner überprüfen die Räder der Waggons, indem sie mit einer Stange dagegen schlagen. Echte Seide lässt sich von falscher Seide anhand des Seidenschreis, eines sehr spezifischen knisternden Geräusches, unterscheiden.

23 Ca. 5 Millisekunden – zum Vergleich: das Auge benötigt 40 Millisekunden, um ein zeitliches Intervall zu erkennen. 24 Baier 2001, 165. 25 Schramm 2007. 26 Fischer 2006. 27 Vgl. Dombois 2007. 28 Vgl. Institut für Sportwissenschaft und Sport, Bonn, 2007. 29 Vgl. Vogt 2007.

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Seitenspur: Klang-Werkzeuge Klänge, die nicht im Sinne einer Kommunikation verwendet werden, sondern als Werkzeug – eine Art »Schraubenzieher« in Schallwellenform –, ermöglichen es beispielsweise, Daten zu erhalten, ein Objekt zu erfassen oder auf seinen Zustand einzuwirken. Stimmgabeln, die einen Ton zum Einstimmen von Instrumenten vorgeben. Pegel-Töne zum Einmessen von Geräten oder das S.O.N.A.R. 30 zur Bestimmung der Entfernung eines Objektes. Die Empfindung des Menschen spielt bei ihnen eine sehr untergeordnete Rolle und oftmals liegen sie auch außerhalb unserer Wahrnehmung im Infra-, Ultra- oder Hyperschallbereich. Diese »Klang-Werkzeuge« basieren auf rein technischen Gegebenheiten und bilden damit schon eine Sonderform. Dennoch beinhalten sie Funktionalität und sollen hier zumindest, wenn auch nur kurz, erwähnt werden. Zwischen den Spuren: Sonifikation In der theoretischen Beschäftigung mit Klang und Information wird oft der Begriff Sonifikation gebraucht – insbesondere, wenn es um »unbekannte« Datenstrukturen geht (s. »Spur 4«), was so doch etwas zu kurz gefasst ist. Sonifikation bezeichnet grundlegend den Einsatz nicht-sprachlicher Audiosignale zur Repräsentation von Daten oder Information; anders gesagt ist Sonifikation die Transformation von Datenstrukturen in durch das Gehör wahrnehmbare Strukturen mit dem Zweck der Interpretation von Daten bzw. Kommunikation von Information.31 Eine der bekanntesten Sonifikationen ist das »Knacken« des Geigerzählers. Die Bedeutung dessen wissen wir und können sie anhand der Klangstruktur interpretieren: langsames Knacken – wenig Radioaktivität, schnelles Knacken – viel Radioaktivität.32 Bei dem Begriff Sonifikation handelt sich um einen Sammelbegriff – unabhängig vom Bekanntheitsgrad. Er steht für unterschiedliche Methoden und Vorgehensweisen, Informationen und Daten in nicht-sprachliche Audiosignale umzusetzen. Zu diesen Methoden gehören Auditory Icons und Earcons genauso wie die Audification. Auditory Icons und Earcons sind akustische Zeichen, die eine Information symbolisieren. Der Unterschied liegt in der gestalterischen Umsetzung. Ein Auditory Icon ist so etwas wie eine akustische Metapher mit Wirklichkeitsbezug. Es wird ein Klangereignis verwendet, dass an einen

30 Sound Navigation And Ranging. 31 Dayé, de Campo, Egger de Campo 2006, 2. 32 Man verwendet bei Anwendungen wie dieser den Begriff »Auditory Displays«, vgl. ebd.

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Vorgang erinnert, der mit der inhaltlichen Bedeutung im kontextuellen Zusammenhang steht, z.B. das »Papier-Geräusch« beim Entleeren des »Papierkorbes« in PC-Betriebssystemen. Dagegen ist ein Earcon ein klanglich abstraktes Symbol, dessen kontextueller Bedeutungszusammenhang sich nicht sofort erschließt, sondern erst erlernt werden muss.33 Bei der Audification werden nicht hörbare Wellenformen wie die mechanischen Schwingungen eines Erdbebens in einen hörbaren Frequenzbereich verschoben.34 Die enthaltene Information ist unbekannt und soll mittels dieser Methode aufgezeigt werden. Man könnte also auch von einem akustischen Informationskonzept mittels einer systematischen Vertonung sprechen. Damit ist in erster Linie die rationale Ebene der Informationsvermittlung gemeint. Ein Zusammenspiel von Information/Daten, Maschine und Rezipient scheint die Grundvoraussetzung für eine Sonifikation zu sein.35 Die Vertonung affektiver Informationen wird nicht dazu gezählt, diese dienen eher als Gestaltungsparameter. Somit sind Sonifikationen im aktuellen Verständnis nicht vollständig mit funktionalen Klängen gleichzusetzen, sondern eher in die beschriebenen Teilbereiche »Spur 1« und »Spur 4« einzuordnen. Vermischung in der Wiedergabe Wie eingangs schon erwähnt, soll die Aufteilung in Anwendungsgebiete kein starres Raster darstellen. Es gibt viele Anwendungen, bei denen sich mindestens zwei der Bereiche überschneiden, ergänzen oder gemeinsam auftreten. Der »Start-Ton« von PC-Betriebssystemen ist solch ein Fall. Informell steht er dafür, dass das Betriebssystem startet (Apple MacOS) bzw. betriebsbereit ist (Microsoft Windows). Gleichzeitig repräsentiert er auch in seiner Gestaltung die Marke (Apple) oder das Produkt (Microsoft). Etwas komplexer ist beispielsweise eine elektrische Zahnbürste. Nach dem Einschalten vernehmen wir das Geräusch des Motors, der den Bürstenkopf rotieren lässt. Die Hersteller wären durchaus in der Lage, ihr Produkt so gestalten, dass dieses Geräusch kaum bis gar nicht wahrnehmbar wäre. Doch warum sollten sie? Schließlich lassen sich in diesem Geräusch sehr viele Informationen unterbringen: · Zuerst übermittelt das Geräusch natürlich den Betriebszustand –»an/aus«. Gut, dafür bedarf es nicht wirklich eines Geräusches. Den können wir ja schließlich auch sehen und fühlen. Trotzdem würde es seltsam anmuten, etwas Vibrierendes in der Hand zu halten, das nahezu geräuschlos ist.

33 Brewster 1994, 50ff. 34 Vgl. Dombois 2007. 35 Vgl. Hermann 2007.

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· Das Gerät wird durch einen Akku betrieben. Lässt seine Spannung nach, kann man das am Geräusch des Motors (er dreht sich langsamer) erkennen, lange bevor er gar nicht mehr funktioniert; so weiß man, dass der Akku neu aufgeladen werden muss. · Es gibt verschiedene Geschwindigkeiten, die wir anhand des Motorengeräusches unterscheiden können. Das ist sinnvoll, denn diese Geschwindigkeiten lassen sich nur durch mehrmaliges Drücken des An-/Aus-Knopfes einstellen. Eine optische Anzeige gibt es nicht, diese könnte man mit der Bürste im Mund ohnehin schlecht sehen. · Auf zwei weitere Signale wird sogar in der Bedienungsanleitung hingewiesen. Nach zwei Minuten Betrieb erfolgt eine Signalisierung, die durch dreimaliges kurzes Anhalten des Motors erzeugt wird. Das bedeutet, dass die empfohlene Zahnputzzeit abgelaufen ist. Man kann die Zahnbürste ausschalten. Putzzeitsignal: [...] Nach 2 Minuten – der empfohlenen Putzzeit – erfolgt das Putzzeitsignal durch einige kurze Unterbrechungen der Bürstenbewegung.36 · Wenn die Bürste zu fest aufgedrückt wird, was zum Schutz des Zahnfleisches vermieden werden sollte, verändert sich ebenfalls das Laufgeräusch. Andruckkontrolle: Wenn Sie die Bürste zu fest andrücken [...]. Das veränderte Laufgeräusch zeigt Ihnen, dass Sie den Druck vermindern sollten.37 Neben diesen eher rationalen Informationen beinhaltet das Betriebsgeräusch auch affektive Informationen. Denn es handelt sich um einen maschinellen Gebrauchsgegenstand, der in einem intimen und empfindlichen Bereich eingesetzt wird. Ein Feinwerkzeug also, von dem wir Sorgfalt, Präzision, Qualität und Feingefühl erwarten. Bei der 3D-Putzbewegung werden sanft pulsierende Vor- und Rückwärtsbewegungen mit ultraschnellen Seitwärtsbewegungen kombiniert.38 Klingt das dann wie eine Bohrmaschine oder ein grober Mixer, werden die Erwartungen sicher nicht erfüllt bzw. repräsentieren nicht die Ansprüche an eine hochwertige Marke.

36 Braun Bedienungsanleitung 2005. 37 Ebd. 38 Ebd., 1.

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3. Gestaltung im Kontext Acoustic communication attempts to understand the interlocking behaviour of sound, the listener and the environment as a system of relationships, not as isolated entities.39 Bei der Betrachtung der verschiedenen Anwendungen wird die Komplexität funktionaler Klänge mehr als deutlich. Die Vielschichtig- und Vielseitigkeit machen es erforderlich, eine konzeptionelle Strukturierung der Klanggestaltung voranzustellen. Funktionale Klänge sind nicht universell, sondern sehr spezifisch. Der Klang, seine Aufgabe und Anwendung, sein Erscheinungsbild, das Umfeld seines Auftretens sowie Rezipienten und Nutzer sind eng miteinander verwoben. Eine akustische Konzeption und die darauf beruhende Gestaltung sowie eine qualitative Bewertung der Klanganwendung setzt eine Auseinandersetzung mit dem im Folgenden beschriebenen Kontext voraus. a. Absicht Was ist der Zweck der Klanganwendung? Welches Ziel wird angestrebt? Was ist die Intention? Eine genaue Definierung des Zieles ist wichtig, damit während und nach dem Gestaltungsprozess ständig überprüft werden kann, ob das Ergebnis diese Vorgaben erfüllt. b. Wirkung Was löst der Klang bei Rezipienten aus? Wie reagieren sie auf den Klang? Ist er Teil einer Interaktion, die aktives Handeln auslöst oder unterstützt? Im Idealfall sind Absicht und Wirkung identisch. Ob das in jedem einzelnen Anwendungsfall möglich sein kann, ist insbesondere mit Ansteigen der Komplexität in Form und Inhalt nicht sicher. Anhand dieses einfachen Soll-Ist-Vergleiches ist Konzept und Ergebnis während und nach der Produktionsphase überprüfbar. c. System Wer sind die Hörerinnen und Hörer? Wie lässt sich ihre Situation und Umgebung beschreiben? Aus welchen Klangelementen setzt sich der Klangraum zusammen? Was oder wer sind die Klangerzeuger? Wie jemand ein Klangereignis empfindet und deutet, ist von der Konditionierung, dem

39 Truax 1985/2000.

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Erfahrungsschatz und Wissen abhängig, welche wiederum durch viele Aspekte wie Alter, Persönlichkeit, Bildung, Umfeld und Kultur beeinflusst werden. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass die derzeitigen psychoakustischen Parameter für klar umrissene Szenarien gut arbeiten, diese Ergebnisse aber immer im situativen Kontext betrachtet werden müssen – denn beim Menschen führt ein und dasselbe physikalische Schallereignis zu durchaus variablen Beurteilungen, die dem situativen Kontext unterliegen. Ein Fahrzeuggeräusch mag daher in einem Kontext ›kraftvoll‹ wirken, kann aber im nächsten bereits schon wieder als ›lästig‹ gelten.40 Umgebung und ihr Gefüge beinhalten viele Faktoren, die sowohl den Klang in seiner Gestalt und Qualität als auch den Menschen in seiner Wahrnehmung und Empfindung beeinflussen. Eine intensive Analyse des »Systems« erscheint mir mit als wichtigste Grundlage für eine akustische Gestaltung. Zur Veranschaulichung der Komplexität möchte ich beispielhaft die Klangatmosphäre eines Operationssaals im Krankenhaus beschreiben, die während einer Operation keineswegs leise ist: In diesem Raum arbeiten und sprechen mindestens vier Personen (Chirurg, Anästhesist, Assistent, Schwester). Patienten-Überwachungssysteme bilden akustisch den Zustand des Patienten ab, indem die Messwerte in Töne übersetzt werden (Sauerstoffgehalt, Herzrhythmus etc.). Weichen diese von Mittelwerten ab, werden Alarmsignale generiert. Eine größere Anzahl von Geräten wie Endoskope, Absauger, Wärmegebläse, Pumpen, automatische Spritzen und Schneidgeräte erzeugen neben ihren Betriebsgeräuschen zusätzlich Feedback-, Status- und Alarmsignale. Besteck, Behälter, Ständer und Rolltische sind aus Metall. Dazu addieren sich Rufdurchsagen, Telefonklingeln, Pieper, oftmals das Brummen einer Klimaanlage und manchmal Musik. Der Raum selbst besteht überwiegend aus Schall reflektierenden Materialien. Geflieste Wände, große Fensterscheiben und Türen aus Metall, die beim Öffnen und Schließen Geräusche erzeugen. Stehen sie offen, kommen noch Laute aus den angrenzenden Räumen dazu. d. Bedeutung Was soll kommuniziert werden? Wie komplex ist die Information? Lassen sich die Informationen kategorisieren oder in Gruppen zusammenfassen? Um klare Prioritäten festzulegen, auch um Missverständnisse zu vermeiden, sollte eine genaue inhaltliche Auseinandersetzung mit der Information erfolgen, denn die Un-

40 Hempel 2003.

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terschiede können manchmal fein sein, wie bei den Bedeutungen von »Alarm« und »Warnung«. Ein Alarm ist das generelle Verständigen von einer oder mehreren Personen bis hin zu Bevölkerungsgruppen (z.B. einer Stadt) bei einer drohenden oder bestehenden Gefahr. Sie müssen bestimmte Handlungen durchführen, um die Gefahr abzuwenden. Das bedeutet, ein Alarm wird ausgelöst, wenn ein bestimmtes Ereignis eintritt. Dieses verursacht einen Schaden, wenn nicht sofort eine Gegenmaßnahme ergriffen wird. Eine Warnung ist ein Hinweis oder Vorhersage auf eine mögliche Gefahr bzw. ein Schaden verursachendes Ereignis, das die gewarnte Person durch bestimmtes Handeln bzw. Unterlassen von Handeln noch abwenden kann. Das Ereignis ist im Gegensatz zum Alarm noch nicht unmittelbar eingetreten. Anders umschrieben: Bei einem Alarm »wird« das Ereignis Schaden anrichten und bei einer Warnung »könnte« das Ereignis Schaden anrichten, wenn nichts unternommen wird. Der Unterschied in der Aufforderung zum Handeln besteht darin, dass man bei einem Alarm aktiv handeln »muss« und bei einer Warnung präventiv »handeln« sollte. e. Akustik Wie gestaltet sich der eigentliche physikalische Klang (Schallereignis)? Wird der gewünschte Klang generiert oder von einem Medium wiedergegeben? Entsteht er erst im Zusammenspiel von mehreren Klängen oder durch Beeinflussung eines spezifischen Materials? Wie müsste er beschaffen sein, um sich von einer wie oben beschriebenen Geräuschkulisse eines Operationssaals abzuheben? f. Wahrnehmung Wie wird der Klang wahrgenommen (Hörereignis) bzw. ist er überhaupt wahrnehmbar? Kann er von anderen Klängen unterschieden werden? Kann bestimmt werden, aus welcher Richtung er kommt und von wo er stammt? Kann aufgrund des Charakters z.B. eine Dringlichkeit gedeutet werden? Hören wir noch einmal in den Operationssaal. Wie beschrieben, werden mehrere unterschiedliche Geräte während einer Operation eingesetzt. Um Verwirrung zu vermeiden, sollten Feedback-, Status- oder Alarmtöne der jeweiligen Geräte voneinander unterscheidbar sein, insbesondere von den permanenten Überwachungs-Signalen der Patientenmonitore. Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus den bereits erwähnten »hands-busy-eyes-busy«-Situationen. Von all dem, was ringsherum auf uns einwirkt, nehmen wir nur das bewusst wahr, was im Fokus unserer Aufmerksamkeit liegt. Es gelangen aber auch Umgebungssignale in das Bewusstsein, die sich nicht in diesem Fokus befinden. Nicht direkt, sondern verschlüsselt in Form von Gefühlen, die Zusammenfasssung und Bewertung einer

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Situation sind, deren Ursache unbekannt ist. Das Gehirn analysiert die Wahrnehmungen, und werden diese als relevant eingestuft, richten wir unwillkürlich unsere Aufmerksamkeit auf die Situation. Beeinflusst wird das durch die Konditionierung, den Zustand des Körpers und die Umgebung. g. Ästhetik Wie wird der Klang empfunden? Ist er »schön« oder »hässlich«, angenehm oder unangenehm? Wie unangenehm muss ein Alarmton empfunden werden, um ihn als solchen zu begreifen und so auf die Dringlichkeit der Situation aufmerksam zu werden und dementsprechend zu handeln? Inwieweit verbindet man das Symbolische mit dem Ästhetischen, um über die Sinnlichkeit die Bedeutung des Klanges zu erkennen? Klänge haben affektive Bedeutungen und lösen Emotionen aus. Eine Untersuchung des »Erlebens« kann von Nutzen sein, da dieses nicht nur das Verstehen, sondern auch das Handeln beeinflusst.

4. Ausklang Die Anwendung bestimmt den Kontext und die hier beschriebenen Kriterien sind je nach Anwendungsbereich unterschiedlich stark ausgeprägt. Funktionale Klänge können aber auch durch gesellschaftliche und technische Veränderungen im Laufe der Zeit, falls sie nicht ganz verschwinden, einem Bedeutungswandel unterliegen. Während die Grundgestalt erhalten bleibt, verändert sich die Bedeutung, sie wird transcodiert. 41 Der in der Telegraphie verwendete Morsecode ermöglicht es, den codierten Text durch Hören direkt zu übersetzen. Was zunächst von einigen Wenigen aus Gründen der Praktikabilität genutzt wurde, ist schnell Standard und zu einer Voraussetzung für die »Telegraphisten« geworden, die sich vor einer Anstellung einem Geschwindigkeitstest unterziehen mussten. Die Schnellsten schafften über fünfzig Worte in der Minute.42 Im Zuge der Weiterentwicklung der Telekommunikation verlor die Anwendung des Morsecode immer mehr an Bedeutung, bis er schließlich ganz verschwand. Die »Kurz-Lang-Signale« werden jedoch noch immer mit veränderter Bedeutung verwendet, vorwiegend in

41 Transcodierung ist ein Begriff aus der Videotechnik und bezeichnet die Umwandlung von einem Format in ein anderes nach Möglichkeit ohne Qualitätsverlust. In genannten Zusammenhang soll der Übergang von der ursprünglichen zur aktuellen Funktionsbedeutung umschrieben werden. 42 Sterne 2003, 147ff.

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visuellen Medien, z.B. als Metapher für an sich lautlose Übertragungstechniken oder Nachrichtenkommunikation. Die Betrachtung der verschiedenen Anwendungsfelder und des Gestaltungskontextes machen vor allem deutlich, dass die Gestaltung von funktionalen Klängen nicht eine einzelne Disziplin ist, sondern sich aus vielen Feldern zusammensetzt. Die Einzelbetrachtung von gängigen und speziellen Anwendungen ist dabei genauso wichtig wie das Einbeziehen von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen. Das Entdecken und einheitliche Bezeichnen von Überschneidungen und Mustern könnte helfen, Verständigungsprobleme zu verringern und das Gespräch zwischen Forschern, Entwicklern und Gestaltern zu fördern. Denn eines eint mit Sicherheit alle: das Grundbedürfnis, bei der Suche nach einem zielgerichteten Klang oder einer Klangkulisse eine positive Gestaltung des Auditiven zu finden, weit entfernt von unmotivierten Tönen und Lärm. »And get the machine that goes ›Ping‹!«43

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Daten hören Sonifikation zur explorativen Datenanalyse Thomas Hermann

»Klänge sind allgegenwärtig und informativ, unser Gehör verarbeitet sie mühelos. Es ist Zeit, diese brachliegende Ressource zum Verstehen komplexer Daten zu nutzen«

Stellen Sie sich einen großen Datensatz vor, zum Beispiel die Daten einer Volkszählung oder Börsendaten. Was hören Sie? Diese Frage ist ungewöhnlich. Offenbar ist der Zugang zu Daten über das Hören für uns noch nicht alltäglich. Dieser Aufsatz horcht den Ursachen hierfür nach; er begründet, warum eine Verwendung unseres Hörsinns zur Untersuchung komplexer Daten ausgesprochen sinnvoll ist; er beschreibt verschiedene Methoden, wie Daten klanglich dargestellt werden können; und er zeigt, wie wir sogar mit Daten interagieren können, um sie zum Klingen zu bringen.

1. Warum Daten hören? Wir sind alltäglich eingebettet in einen Ozean von Klängen und Geräuschen. Wenn wir gehen, erhalten wir mit jedem Schritt reichhaltige Informationen: Wir hören z.B. die Beschaffenheit des Bodens, aber auch die Größe und materielle Beschaffenheit des umgebenden Raums. Jede Interaktion mit Objekten, zum Beispiel das Abstellen einer Tasse auf dem Tisch, erzeugt ein differenziertes und informatives Geräusch. Hinzu kommt die Vielzahl von akustischen Ereignissen in unserer Umgebung, die uns nicht nur eine größere Präsenz in der Situation geben, sondern auch eine wichtige Rolle bei der Lenkung unserer Aufmerksamkeit spielen. Jenseits von Alltagsgeräuschen physikalischer Objekte spielen akustische Signale, in Form von Alarmen, Sprache und Musik, eine besondere

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kommunikative und sogar soziale Rolle für uns Menschen. Diese scheinbar trivialen Beispiele sind hier angeführt, um darauf aufmerksam zu machen, wie allgegenwärtig Klänge sind und wie nützlich das Hören für uns in der Welt tagtäglich ist. Da es für uns so mühelos ist, sind wir uns dessen kaum bewusst. Angesichts der Klangvielfalt in unserer Welt ist es fast bizarr, wie geräuschlos ein typischer Arbeitsplatz eines Datenanalysten ist: Das einzige Geräusch ist hier das Flirren des Computer-Monitors, und vielleicht das mechanische Klicken der Computer-Maus. Dabei bleibt natürlich das ganze Potenzial des Hörens ungenutzt. Eine Facette dieses Potenzials ist die Fähigkeit, im Klangstrom Muster zu identifizieren und wiederzuentdecken. So kann ein Arzt zum Beispiel mit dem Stethoskop eine Diagnose erhärten, oder ein KfzMechaniker beim Hören eines Motorgeräusches schnell und recht mühelos einschätzen, wo das Problem liegt. Diese Fähigkeit ist nicht nur sehr adaptiv – Menschen können neue Klänge verstehen lernen – sondern auch robust gegenüber Störgeräuschen: der Cocktail-Party-Effekt bezeichnet die Fähigkeit des Menschen, sein Gegenüber trotz lauter Störgeräusche zuverlässig zu vernehmen. Das Gehör interpretiert darüber hinaus gleichzeitig und parallel unterschiedliche Ebenen – so kann in einem Sprachsignal gleichzeitig der Sprecher, sein Geschlecht, der Wortsinn, der Gemütszustand und sogar Heiserkeit oder andere Erkrankungen erkannt werden. Eine besondere Stärke unseres Gehörs ist die Interpretation von Rhythmen, die aufgrund der hohen Zeitauflösung des Gehörs bis hin zu wenigen Mikrosekunden über eine große Zeitskala differenziert werden können: Periodische Phänomene im Frequenzbereich von 1-20 Hz werden als rhythmische Ereignisse wahrgenommen, im Frequenzbereich von 50-18000 Hz hören wir sie als Tonhöhe. Noch hochfrequentere Muster können wir als Phasenverschiebungen zwischen linkem und rechtem Ohr über eine Veränderung des Hörorts wahrnehmen. Wir nehmen nicht nur das Muster an sich war, sondern wir sind auch sehr sensitiv für Änderungen mit der Zeit. Dadurch eignet sich das Hören besonders für Aufgaben der Prozessüberwachung oder für die Analyse von zeitvarianten Daten. Die Habituation ist eine weitere Fähigkeit unseres Gehörs: wir gewöhnen uns leicht an gleichbeibende Geräusche, wie zum Beispiel an das Motorgeräusch unseres Autos oder an das Brummen des Kühlschranks. Dennoch bleibt das Gehör sensitiv für sogar subtilste Änderungen, welche dann die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Die erstaunlichste Fähigkeit des Gehörs ist jedoch die der automatischen Konstitution auditiver Gestalten: das Gehör zerlegt den Klangstrom automatisch und mühelos in akustische Signaturen, die zu Klassen gruppiert werden. So können wir zum Beispiel den Unterschied eines Pkw und Lkw anhand des Klangs schnell unterscheiden lernen. Ebenso ist zu erwarten, dass Hörer mit etwas Übung – eine sinnvolle Verklanglichung der Daten vorausgesetzt – auch unterschiedliche Gruppen in komplexen Daten identifizieren lernen können, z.B. um eine medizinische Diagnose zu unterstützen.

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Diese wenigen Beispiele lassen bereits erahnen, dass reichhaltige Möglichkeiten und Schätze im Hören auf Daten verborgen liegen, welche nun durch Sonifikation gehoben werden sollen.

2. Sonifikation Sonifikation ist die nichtsprachliche Darstellung von Daten mittels Klang und Geräuschen1. Diese recht alte Definition betont die Einbeziehung von Daten und grenzt Sonifikation von sprachlichen Darstellungen ab, ist aber relativ ungenau. Die folgende Definition des Autors versucht eine genauere Begriffsklärung. Definition von Sonifikation 2: Jede Technik, welche Daten als Eingabe erhält und im Ergebnis einen Klang liefert, kann genau dann Sonifikation genannt werden, wenn folgende Bedingungen zutreffen: · Der Klang korrespondiert mit Eigenschaften der Daten. · Die Transformation ist vollständig systematisch. Das bedeutet, dass es eine exakte Definition gibt, wie die Daten (und optionale Interaktionen) zu Klängen führen. · Die Ausführung (Klangerzeugung) ist reproduzierbar: mit gleichen Daten und gleichen Interaktionen müssen strukturell gleiche Klänge entstehen. · Das System kann mit unterschiedlichen Daten, aber auch wiederholt mit den gleichen Daten benutzt werden. Diese Definition ist zunächst abstrakt, der folgende Überblick über Sonifikationstechniken gibt dann Beispiele für konkrete Verfahren. Sonifikation wird hier als eine akkurate wissenschaftliche Methode eingeführt, welche reproduzierbare Ergebnisse liefert und damit erlaubt, über das Hören systematische Rückschlüsse auf die Daten zu ziehen. Sicherlich können Sonifikationen fehlinterpretiert werden, genauso wie es auch im Sehen optische Täuschungen gibt und damit Fehlinterpretationen von Visualisierungen möglich sind. Sonifikation ist laut der obigen Definition die Kernkomponente auditiver Displays, die ein Audiosignal unter Nutzung der Daten erzeugen. Auditive Displays umfassen darüber hinaus noch konkrete Geräte zur Schallwandlung (z.B. Soundkarten, Kopfhörer oder

1 Vgl. Kramer 1994b. 2 Vgl. Hermann 2008.

Daten hören · Thomas Hermann

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Lautsprecher), aber auch den gesamten Nutzungskontext einschließlich der Eingabegeräte (Interfaces), mit denen der Nutzer zum Beispiel die Sonifikation kontrolliert. Bei der Sonifikation steht also im Vordergrund, über das Hören etwas über die Daten zu lernen, ein besseres Verständnis der Daten zu gewinnen. Für die wissenschaftliche Anwendung ist dabei besonders das Vermögen des Klangs zentral, Erkenntnisse über die zugrunde liegenden Daten zu befördern. Ein weiterer Aspekt ist: Angenehme und wohlklingende Klänge sind besonders attraktiv für den Hörer. Diese unterschiedlichen Design-Aspekte von Informations- bzw. Nützlichkeitsmaximierung und Ästhetikoptimierung gilt es auszuschöpfen, um Sonifikationen z.B. bei gleicher Darstellungstreue in ihrer Hör- oder Nutzungsergonomie zu verbessern. Für wissenschaftliche Anwendungen spielt in der Regel die Funktion gegenüber der Ästhetik die größere Rolle.

3. Anwendungsgebiete und Aufgabentypen Wofür eignet sich Sonifikation überhaupt? Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Anwendungsfelder, die sich z.B. nach ihren Aufgabentypen einteilen lassen. Im Folgenden werden in den jeweiligen Kategorien exemplarisch einige Anwendungen erwähnt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Prozessüberwachung Das Überwachen fortlaufender Prozesse ist eine häufige Aufgabe, man denke an Patienten-Monitoring in Intensivstationen oder im OP, an Börsenhändler, die die Entwicklung vieler Finanzinstrumente ›im Blick‹ behalten müssen, oder an industrielle Produktionsanlagen, in denen Fehlerzustände eine schnelle Reaktion erfordern. Während ein permanentes visuelles Überwachen anstrengend ist und die gesamte Aufmerksamkeit eines Operators bindet, lässt die Verwendung von Sonifikation den Visus komplett frei. Gaver et al. haben am Beispiel einer simulierten Cola-Fabrik zeigen können, dass Versuchspersonen auf eintretende Fehlerzustände bei auditiver Feststellung besser reagieren und mehr Spaß an der Arbeit haben3. In einigen Bereichen, z.B. im OP, haben sich Sonifikationen längst etabliert: So ist der Pulsoxymeter4 ein Gerät, welches den Sauerstoffgehalt des Blutes misst. Das klangliche Monitoring im Pulsrhythmus ist ein essenzielles Interface im OP bei jeder Operation. In der Regel werden in Prozess-Sonifikationen Daten in

3 Vgl. Gaver, Smith, O’Shea 1991. 4 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Pulsoxymeter, 12/2007.

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Echtzeit verarbeitet und in eine Klangtextur überführt. Dies kann natürlich so gestaltet werden, dass der Klang angenehm und für längere Zeit erträglich ist, wie zum Beispiel das Plätschern eines Springbrunnens. Datenanalyse und -exploration Das Entdecken von Mustern und Strukturen in zumeist hochdimensionalen Daten ist Gegenstand des sog. Dataminings. Anwendungen reichen von geschäftlichen Zielen (z.B. der Optimierung von Marketing-Gruppen eines Versandhauses) bis zu wissenschaftlichen Problemen wie dem Suchen nach Mustern in EEG-Daten, die einem epileptischen Anfall systematisch vorausgehen. Man sucht also allgemein nach Unregelmäßigkeiten, Auffälligkeiten, welche hypothesengenerierenden Charakter besitzen. Zur Mustererkennung und Datenexploration werden oft Techniken der wissenschaftlichen Visualisierung von Daten verwendet, weil das Auge äußerst geeignet ist, Muster in Darstellungen zu identifizieren. Allerdings lassen sich manche Strukuren besser auditiv erkennen, wie zum Beispiel die oben erwähnten rhythmischen Strukturen. Somit kann Sonifikation unser herkömmliches visuelles Datamining komplementär ergänzen. Fast immer sind wir in der Lage, einmal Entdecktes danach auch visuell darstellen zu können, und sogar so, dass man die entdeckte Struktur besser sieht als hört. Dies spricht jedoch keinesfalls gegen die Sonifikation – da es ja hier darauf ankommt, Muster in den Daten zunächst überhaupt zu entdecken. Es wäre also unklug, die reichhaltigen Möglichkeiten des Hörens ungenutzt zu lassen. Die Untersuchung chaotischer Systeme5, die Klassifikation von Ereignissen in seismographischen Messdaten6 und die Charakterisierung von EEG-Messdaten7 sind einige konkrete Bereiche, in denen die Sonifikation schon erfolgreich angewendet wurde. Desweiteren werden Methoden entwickelt, die ganz unabhängig von der Datendomäne sind und stattdessen in Bezug auf eine bestimme Strukturierung der Daten Informationen geben. Zum Beispiel ist die »Sonifikation wachsender Neuronengase«8 ein Ansatz, um Eigenschaften der sogenannten intrinsischen Datendimensionalität akustisch erfahrbar zu machen: Dies ist eine wichtige Größe, die über die Komplexität der Daten Auskunft gibt und hilfreich für die Modellbildung ist. Derartige Verfahren lassen sich allgemein auf hochdimensionalen Daten anwenden, die sich in einen euklidischen Vektorraum einbetten lassen.

5 Vgl. Mayer-Kress, Bargar, Choi 1994. 6 Vgl. Dombois 2001. 7 Vgl. Hermann, Baier, Stephani, Ritter 2006; vgl. Baier, Hermann, Stephani 2007. 8 Vgl. Hermann, Ritter 2004a.

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Alarme: Lenkung des Aufmerksamkeitsfokus Die häufigste und oft auch einfachste Art der Sonifikation besteht in akustischen Signalen, die unter bestimmten Bedingungen abgespielt werden, sog. Alarmen oder akustischen Ereignismarken. Alltagsbeispiele sind Weckersignale, Sirenen, MikrowellengerätTimer, aber auch die Klingeltöne eines Mobiltelefons. Die Informationsvermittlung ist oft recht elementar, aber anruferspezifische Klingeltöne zeigen schon, dass auch mehr Informationen über den Klang vermittelt werden können als die schiere Mitteilung eines Ereignisses. In Forschungen zu Alarmsignalen zeigen Guillaume et al., wie die wahrgenommene Dringlichkeit von der Klangstruktur abhängt und dass, über das Eintreffen des Ereignisses hinaus, der Klang die Aufmerksamkeit des Hörers auch räumlich auf sich zieht.9 Nachrichten-Vermittlung Eine interessante Anwendung von Sonifikation ist die Verwendung als Kommunikationskanal: Im Radio lassen sich schlichtweg keine Grafiken zeigen – will man also einen Datenverlauf, wie etwa einen Börsentrend oder eine Wetterentwicklung, kommunizieren, muss man die Daten entweder vorlesen, was für den Hörer meist schlecht verarbeitbar ist, oder sie in einer Sonifikation darstellen. Im Rahmen eines Pilotprojekts haben wir an der Universität Bielefeld die Sendung der sonifizierten Wettervorhersage für die kommenden 24 Stunden (»Wettervorhörsage«) im täglichen Programm des Radiosenders Hertz 87.9 übertragen und damit das Potenzial von Sonifikation für das Radio demonstriert10: Für den Hörer ist das sonifizierte Wetter in zwölf Sekunden verstehbar und eindrücklicher als die längere sprachliche Fassung. Navigation in und schnelle Zusammenfassung von Daten In vielen Fällen ist es nötig, sich einen schnellen Überblick über große Datenmengen zu verschaffen: Wie haben sich die Börsenkurse über Nacht entwickelt? Waren Auffälligkeiten in den Langzeit-EKG-Daten der Patientengruppe in den letzten 24 Stunden? Wo in einer langen Serie von protokollierten Therapiegesprächen war der Moment, wo Therapeut und Patient länger schwiegen?11 Für Aufgaben dieser Art bietet sich Sonifikation an, da hiermit viele Daten komprimiert in den Klangstrom eingewoben werden können. Gerade in zeitlich sortierten Daten kann man durch Kompression einen schnellen ›Überblick‹ durch Hören erlangen, wie die Audifikationen von seismographischen

9 Vgl. Guillaume, Pellieux, Chastres, Drake 2003. 10 Vgl. Hermann, Drees, Ritter 2003. 11 Vgl. Hermann 2002.

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Daten zeigen.12 Sonifikation ist aber einfach auch eine interessante Ergänzung visueller Displays, wenn der Nutzer bei der Navigation in Daten ergänzend auch hört, welche »so-schnell-nicht-sichtbaren« Daten gerade am Fenster vorbeiziehen. Koordination von Handlungen Menschen können sehr komplexe und koordinierte Körperbewegungen ausführen, wie sich an vielen Bewegungsabläufen im Sport (Aufschlag im Tennis, Jonglieren, TaiChi) zeigt, oder wenn ein Arzt endoskopisch Instrumente kontrolliert. Das Erlernen derartiger Bewegungsabläufe erfordert häufig langes Üben. Abweichungen von einer Ideal- oder Sollbewegung sind ja nicht direkt zugänglich, und Betrachten derartiger über Sensoren erhebbarer Informationen am Bildschirm kommt nicht in Frage, da die visuelle Wahrnehmung meist anderweitig schon gebunden ist. Sonifikation bietet sich hier also als ideales Trainingsinstrument an, etwa, um die Sonifikation der eigenen Bewegung nach und nach einer Idealsonifikation anzunähern. Ein weiteres Beispiel ist die Führung eines Skalpells nach einer vorgeplanten Bahn: Während der Arzt nicht gleichzeitig die Abweichungen am Bildschirm betrachten und sich auf das Operationsgebiet konzentrieren kann, kann eine kontinuierliche Sonifikation der Orts- und Winkelabweichung des Skalpells von seiner Solltrajektorie die Ausführung der Bewegung insgesamt erleichtern. Sonifikationsbasierte Spiele Sonifikation erlaubt neuartige PC- und Bewegungsspiele, die insbesondere auch Sehgeschädigten eine Teilhabe an Spiel und Sport ermöglichen. Über Sonifikation können alle spielrelevanten Informationen klanglich dargestellt werden; man kann die Spiele komplett ohne visuelles Display spielen und nach gewisser Erlernphase auch beherrschen. Beispiel für ein beliebtes PC-Spiel ist SuperTennis.13 Als Beispiel für Bewegungsspiele sei Blindminton, eine Art auditives Badminton genannt, welches wir auf der Basis des AcouMotion-Systems entwickelt haben14: Im Blindminton existiert der Ball nur virtuell, der Spieler hält einen mit Sensorik ausgestatteten Schläger in der Hand, über den seine Aktionen erfasst werden. Der virtuelle Ball fliegt also im Realraum des Spielers, wird aber nur über seine klangliche Darstellung als Sonifikation erfahrbar. Derartige Spiele besitzen nicht nur eine sozial integrative Funktion (Einbindung Behinderter), sie ermöglichen dar-

12 Vgl. Dombois 2001. 13 Vgl. http://www.audiogames.com, 12/2007. 14 Vgl. Hermann, Höner, Ritter 2006.

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über hinaus perspektivisch die Sinnesschulung, z.B. als Testinstrument im Sportunterricht, oder können sogar für physiotherapeutische Zwecke genutzt werden.15 Sensorische Augmentierung Sonifikation besitzt das Potenzial, Sinneswahrnehmungen anderer Modalitäten akustisch zu ersetzen. Ein Beispiel sind Sonifikationsbrillen für Blinde wie das vOICe System16, welches mit einer Kamera ausgestattet ist und das registrierte Kamerabild sonifiziert. Investiert man etwas Zeit und Energie in das Erlernen dieser »Tonsprache für Bilder«, so kann man über das Hören die visuelle Welt sinnvoll interpretieren. Prinzipiell kann man dieses für alle Sinnesmodalitäten durchführen, sei es die Temperaturwarnung oder die über Kraftsensoren gemessene Andruckkraft eines ferngesteuerten Roboterarms oder einer Armprothese. Die meisten Möglichkeiten derartiger cross-modaler Schnittstellen sind noch nicht annähernd ausgeschöpft. Nach diesem kurzen Überblick über Anwendungsfelder werden im Folgenden verschiedene Techniken zur Erzeugung datengetriebener Klänge vorgestellt.

4. Sonifikationstechniken Ein kurzer Überblick soll nun zeigen, wie Daten sinnvoll verklanglicht, d.h. sonifiziert werden können. Der Überblick steigt nicht in algorithmische, mathematische Details ein, sondern versucht einen qualitativen Eindruck zu vermitteln, der durch gelegentlich eingestreute technische Hinweise vertieft wird, die aber im Bedarfsfalle problemlos übersprungen werden können. Die Techniken werden in der Progression von einfachen ereignisorientierten Sonifikationsarten bis zur modellbasierten Sonifikation gestaffelt. Aus Platzgründen wird hier auf konkrete Klangbeispiele verzichtet – viele Sonifikationsbeispiele des Autors sind jedoch online verfügbar unter http://sonification.de/publications. Earcons und Auditive Icons Earcons stellen die wohl älteste und elementarste Form der Sonifikation dar. Hierbei wird ein klangliches, oft musikalisches Motiv zur Darstellung von Ereignissen benutzt.17

15 Vgl. ebd. 16 Vgl. http://www.seeingwithsound.com, 12/2007. 17 Vgl. Brewster, Wright, Edwards 1994.

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Der Morse-Code ist ein Beispiel für Earcons: Jeder Buchstabe hat ein bestimmtes rhythmisches Muster. Earcons können aber nicht nur Rhythmus, sondern auch Melodie und Klangfarbe nutzen. Damit sind vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten gegeben, vorausgesetzt, der Nutzer hat die Zuordnung des Klangs zur Bedeutung erlernt. Eben dies ist der Schwachpunkt von Earcons, der ihre Nutzung auf wenige Nutzungsfelder begrenzt. Viele Alarme, von der Sirene bis zum Wecker, der Türklingel oder dem Telefon sind eigentlich Earcons, deren Muster uns allerdings so vertraut sind, dass wir die Bedeutung schon intuitiv verstehen. Auditive Icons dienen demselben Zweck, der Mitteilung einer Nachricht, jedoch benutzen sie Klänge, aus denen sich auf das Bezeichnete schließen lässt. Wird dem Piloten z.B. im Cockpit ein Schlürfgeräusch zur Darstellung des Signals »Treibstoffknappheit« eingespielt, so bietet der Klang intrinsisch eine Verstehhilfe. In ähnlicher Weise werden auch auf dem Computer-Desktop Auditive Icons eingesetzt, z.B. das Geräusch vom Zerknüllen eines Papiers beim Löschen einer Datei. Technisch bestehen beide Techniken lediglich im Abspielen eines geeigneten Klangs je nach Art des darzustellenden Signals. Audifikation Audifikation ist die Sonifikationstechnik, die die Daten auf einem sehr direkten Weg in Klang überführt: Jeder Datenwert bestimmt sozusagen direkt die Auslenkung der Lautsprechermembran.18 Ähnlich wie ein Grammophon Vertiefungen und Hügel der Schallplattenrille direkt in Schalldruck umsetzt, werden hier Muster von großen und kleinen Datenwerten direkt in Schall umgesetzt. Man braucht dafür natürlich Daten, die diesbezüglich sinnvolle Muster aufweisen. Zudem werden viele Daten benötigt: für hörbaren Schall müssen mindestens 100, besser 1000 bis 10000 Datenwerte pro Sekunde audifiziert werden. Die Direktheit der Übersetzung macht Audifikation besonders interessant und interpretierbar. Leider ist Audifikation nur in eingeschränkten Datendomänen (wie z.B. der Seismographie) sinnvoll; wenn keine sinnvolle Anordnung der Daten existiert, wie z.B. bei Daten einer Volkszählung, kommt Audifikation nicht in Frage. Technisch werden die Daten stets numerisch kodiert, und die Audifikation erzeugt eine Signalfunktion aus Interpolation zwischen den Datenwerten, aufgetragen über dem Zeitordnungsindex. Die Entkopplung erlaubt das Abspielen mit unterschiedlicher Kompression und damit die Verschiebung z.B. von unhörbar tiefen Frequenzen von Seismographen in den menschlich hörbaren Bereich von 50-18000 Hz.

18 Vgl. Kramer 1994a.

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Parameter-Mapping-Sonifikation Parameter-Mapping bedeutet die Abbildung von Datenwerten auf die akustischen Parameter eines Klangs, wie z.B. die Lautstärke, Tonhöhe, Anschwingzeit, Klangfarbe, Schärfe oder Vibratofrequenz. Ein Datenwert kontrolliert also hier unmittelbar eine hörbare Eigenschaft eines Klangs. Auf diese Weise wird ein einzelner Datenvektor zu einem Einzelklang, der die mit dem Datenvektor korrespondierenden klanglichen Attributwerte einnimmt. In der Regel sonifiziert man einen ganzen Datensatz, also eine Liste von Datenvektoren. Als Beispiel stelle man sich einen Datensatz über Mobiltelefone vor, wo ein Mobiltelefon durch viele Merkmale (Größe, Speicher, Preis, etc.) als Datenvektor charakterisiert ist und jedes Gerät einen Datenvektor liefert. Die Sonifikation ist dann das Ergebnis der Überlagerung aller Einzelklänge. Dies kann durchaus zeitlich geordnet sein, wenn zum Beispiel der Preis (von 100 bis 500 EUR) auf den Zeitpunkt des zugehörigen Klangs (von 0 bis 10 Sekunden) »ge-map-t« wird. Durch eine solche Sonifikation lassen sich hochdimensionale Zusammenhänge erkennen. Parameter-Mapping-Sonifikationen sind die am häufigsten verwendeten Sonifikationen, eine Darstellung ihrer Spielarten (kontinuierlich, diskret, event-basiert) würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Für die Datenanalyse ist das Problem, dass jede dieser Sonifikationen eine Einzelanfertigung ist und daher das Mapping immer benötigt wird, um den Rückschluss vom Klang auf die Daten zu erzielen. Dadurch wird das Erlernen der ›Sprache der Sonifikation‹ erschwert. Technisch ist Parameter-Mapping-Sonifikation ein Algorithmus, der die Datenvektoren durch Anwenden geeignet parametrisierter Mapping-Funktionen in Eingabevektoren für eine Klangerzeugung überführt. Die Klangerzeugung liefert je nach Parameter Signalanteile, deren Überlagerung die Gesamtsonifikation darstellt. Modellbasierte Sonifikation Modellbasierte Sonifikation geht einen gänzlich anderen Weg zur Definition des Klangs: Aus dem gesamten Datensatz wird ein dynamisches Modell konstruiert.19 Dazu gehören bewegliche Elemente und Bewegungsgesetze, die definieren, unter welchen Umständen sich welche Bewegung einstellt. Als Beispiel stelle man sich vor, jeder Datenvektor wird zu einer Kugel, welche an einer Feder befestigt im Raum schwebt. Die Bewegungsgesetze wären hier im Beispiel die aus der Physik bekannten Federgesetze. Es gibt nun ferner eine Verknüpfung, wie das Verhalten des Systems zu Klang führt. Im Beispiel könnten die Auslenkungen der Massen um ihre Ruhelage direkt als Schalldruck verwendet werden.

19 Vgl. Hermann 2002.

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Im Gegensatz zu allen anderen Sonifikationsarten oben ist ein derartiges Sonifikationsmodell lautlos und klanglos, bis ein Nutzer damit interagiert, es zum Beispiel schüttelt oder anschlägt. Dies bringt das Modell aus dem Gleichgewicht und es ergibt sich ein hörbares Verhalten, bis die Energie beispielsweise durch Reibungskräfte wieder erschöpft ist. Dieses auf den ersten Blick kompliziert anmutende Vorgehen hat große Vorteile: Erstens ergibt sich Klang nur als Antwort auf Interaktion, dies führt zu eher ergonomischen Schnittstellen, die keine Klänge machen, wenn man es nicht erwartet. Zweitens erlaubt ein Sonifikationsmodell die Darstellung beliebiger Daten (auch beliebiger Datendimension) mit ein- und demselben Ansatz. Der Hörer kann also strukturselektives Hören erlernen und mit einem Datensatz erworbene Interpretationsfähigkeiten auf andere Datensätze übertragen. Drittens lassen sich derartige Sonifikationsmodelle je nach Aufgabe konstruieren, um z.B. die Clusterung von Daten20 oder die Mischung von Klassen zu hören – so entstehen hochspezifische Werkzeuge, die man bedarfsgerecht anwenden kann (so wie man im Handwerk ja auch bedarfsgerecht Hammer, Säge oder Schraubenzieher wählt). Viertens besitzen Sonifikationsmodelle oft wesentlich weniger Parameter als Parameter-Mapping-Sonifikationen, und diese haben zudem eine plausible Interpretation in Bezug auf das Modell. Im Beispiel oben könnten das die Masse, die Federstärke oder die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Druckwelle beim punktuellen Anschlagen des Datensatzes im Raum sein. Es ist unmittelbar klar, wie sich ein Parameter auswirkt. Als weiterer Vorteil kommt – zumindest bei physikalisch motivierten Modellen – hinzu, dass wir Menschen tiefverankerte und evolutionär optimierte Interpretationsschlüssel nutzen können, um den Klang zu verstehen. Stärkere Interaktionen führen meist zu lauteren Klängen, und derartige Zusammenhänge gelten durch das Modell ›natürlich‹ auch bei modellbasierter Sonifikation. Schließlich erlauben Sonifikationsmodelle noch die natürliche Anbindung der reichhaltigen Manipulationsfähigkeiten unserer Hände (Beispiele für derartige Interfaces siehe unten). Als Nachteil wäre lediglich die höhere Komplexität und Abstraktheit des Ansatzes zu nennen. Gerade diese ist aber gut in Kauf zu nehmen, da das Ziel ja ist, im Kontext der explorativen Datenanalyse komplexe Strukturen in hochdimensionalen Daten zu verstehen. Das oben beispielhaft skizzierte Sonifikationsmodell mit über Federn befestigten Massepunkten wird als Datensonogramm21 bezeichnet und stellt eins von vielen sehr unterschiedlichen Sonifikationsmodellen dar, mit welchen man Daten interaktiv explo-

20 Vgl. Hermann, Ritter 1999. 21 Vgl. ebd.

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rieren kann. Insbesondere lassen sich hier interaktiv die Grenzen zwischen Klassen bei Datensätzen aus Klassifikationsproblemen bewerten. Andere Sonifikationsmodelle, wie die Sonifikation wachsender Neuronengase, geben einen Einblick in die intrinsische Dimension von Datenverteilungen oder in die Clusterungsstruktur (Partikeltrajektorien im Datenpotenzial). Beispiele und Details zu Sonifikationsmodellen finden sich in Hermann (2002), Hermann und Ritter (2004) und Hermann und Ritter (2005). Technisch werden Sonifikationsmodelle als Simulation dynamischer Systeme implementiert. Eine Setup-Funktion erzeugt dabei datengetrieben dynamische Elemente der Modellwelt. In der Regel wird das Sonifikationsmodell im Gleichgewichtszustand aufgesetzt, so dass es ohne weitere Interaktion in Ruhe ist.

5. Interaktive Sonifikation Das Teilgebiet der Interaktiven Sonifikation22 legt einen besonderen Fokus auf die Art und Weise, in der die Interaktionsschleife zwischen dem Menschen und der Sonifikation geschlossen wird. In den letzten Jahren hat sich dieser Aspekt als viel versprechende Optimierungsrichtung herausgestellt. Warum ist Interaktion so wichtig? Ein Beispiel aus dem Bereich der visuellen Wahrnehmung diene zur Motivation: Wenn wir ein beliebiges Objekt, zum Beispiel eine Tasse, das erste Mal und nur aus einer Perspektive – also mit einem Auge – sehen, so können wir ihre dreidimensionale Struktur nicht erkennen, da wir lediglich ein 2D-Bild der Tasse auf der Netzhaut aufnehmen. Erst das Hinzunehmen unterschiedlicher »Perspektiven«, wie es natürlicherweise durch das stereoskopische Sehen geschieht, erlaubt uns, auch die 3D-Struktur der Tasse und damit das Objekt als Ganzes zu verstehen. Immer noch ist das Verstehen limitiert, und erst durch das Hinzunehmen weiterer »Perspektiven«, die wir zum Beispiel dadurch erzeugen können, dass wir die Tasse in die Hand nehmen und drehen oder dass wir unseren Kopf bewegen, erschließen sich alle Eigenschaften eines Objekts. Das Beispiel ist trivial, zeigt aber, wie eng Verstehen und Interagieren gekoppelt sind: durch Aktions-Perzeptions-Schleifen, die uns eine aktive Generierung von Perspektiven erlauben. Im ähnlichen Sinne liefert eine Sonifikation von Daten ebenfalls nur eine »Perspektive« (oder Auditekt, um dem visuellen Wort ein akustisches gegenüberzustellen) und es entsteht sofort die Frage, wie wir im Auditiven – in Analogie zur visuellen Wahrnehmung

22 Hermann, Hunt 2004; vgl. http://www.interactive-sonification.org, 12/2007.

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– Auditekte einnehmen können. Die Antwort liegt in der unmittelbaren Interaktion, wie sie uns aus Alltagsgegenständen vertraut ist: Wenn wir zum Beispiel durch Hören versuchen, auf die Inhalte eines verpackten Geschenks zu schließen, oder den Füllstand einer undurchsichtigen Packung bewerten, so erzeugen wir mit jeder physikalischen Objektinteraktion eine neue akustische Antwort, die uns Teilaspekte der gesuchten Information liefert. Interaktion ist der Schlüssel zum Sammeln sich ergänzender Teilbilder des Ganzen, die im Gehirn dann zu einer Gesamtinterpretation zusammengesetzt werden. Es ist zu vermuten, dass sich unsere auditive Wahrnehmung genau an diesen Charakteristika auditiv-geschlossener Interaktionsschleifen evolutionär optimiert hat. In den oben vorgestellten Sonifikationstechniken finden wir zunächst nur geringe Möglichkeiten der Interaktion: Bei passiven Informationssystemen wie Prozessüberwachungs-Sonifikationen oder Alarmen ist der Benutzer gänzlich getrennt von der Sonifikation und ohnehin eher ein passiver Hörer. Interaktion spielt vor allem bei Anwendungen der Exploration oder Analyse von Daten eine Rolle. In Audifikationen beschränkt sich die Interaktion zunächst auf das Starten der Sonifikation, indem, ähnlich wie beim Starten eines CD-Spielers, der Klang abgespielt wird, ohne dass weitere Eingriffsmöglichkeiten bestehen. In dieser Weise wurden und werden viele Audifikation tatsächlich genutzt. Gelegentlich sind die Audifikationen so kurz, dass das Starten durchaus einer Anschlagsinteraktion ähnelt: wenn man z.B. auf einer 2D-Fläche aufgenommene Seismogramme dadurch exploriert, dass man auf unterschiedliche Koordinaten einer Karte klickt und die an dem Punkt aufgenommenen Daten als Audifikation abgespielt bekommt.23 Die Interaktionsqualität lässt sich weiter erhöhen: indem man z.B. dem Nutzer die Möglichkeit gibt, unmittelbar in den Daten zu navigieren – ähnlich wie das Scratching von Schallplatten im DJ-Bereich; oder indem man unmittelbare Kontrolle über die Kompressionsrate gibt, während man die Audifikation in einer Endlosschleife abspielt. Noch weiter gehen gestische Interaktionen, mit denen verschiedene Parameter durch zweiarmige Gesten gleichzeitig kontrolliert werden können.24 Ähnliche Verbesserungen der Interaktionsdirektheit sind auch bei Parameter-MappingSonifikationen möglich. Eine interessante Möglichkeit ist hier, die Abbildungsparameter interaktiv zu verändern, während die Daten sonifiziert werden: Gewisse Strukturen, wie Clusterungen der Daten, können so besser gehört werden. Ähnliches Parameter-Tuning ist bei Visualisierungen üblich, wenn zum Beispiel die Achsenverhältnisse eingestellt werden oder Merkmale der Daten für die Achsen ausgewählt werden. Generell hilft hier

23 Siehe z.B. Klangbeispiele auf http://www.auditory-seismology.org, 12/2007. 24 Vgl. Hermann, Paschalidou, Beckmann, Ritter 2006.

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eine möglichst unmittelbare Systemantwort, um den Nutzer in seiner Suche nicht zu sehr zu unterbrechen. Die vom Autor eingeführte Sonifikationstechnik der modellbasierten Sonifikation25 wurde gezielt geschaffen, um Explorationsmuster, die der Exploration von Objekten in der realen Welt strukturell ähneln, auch für die Untersuchung abstrakter Datenwelten nutzbar zu machen. Interaktion ist bereits essenzielles Element, um die oben eingeführten Auditekte (Hör-Perspektiven) als Ergebnis der Interaktion zu erhalten. Sonifikationsmodelle erlauben, bei entsprechender Architektur und Bereitstellung der entsprechen Schnittstellen, das Einbringen unserer menschlichen Interaktionsfähigkeiten in den Explorationsprozess. Im Folgenden werden einige der neuen Schnittstellengeräte vorgestellt, die wir in den letzten Jahren entwickelt haben, um derartige Interaktionen zu ermöglichen. Unser audiohaptischer Ball (Abb. 1) ist eine handgroße Interface-Kugel, welche Kraftsensoren und Beschleunigungssensorik enthält. Der Nutzer kann einen Datensatz (bzw. ein mittels des Datensatzes definiertes Sonifikationsmodell) in den audiohaptischen Ball transferieren und in der Folge alle Interaktionen mit dem Ball so direkt wie möglich zu Interaktionen mit dem Sonifikationsmodell und damit zu Anregungen der dynamischen Elemente nutzen: Schütteln in verschiedene Richtungen, Anschlagen an verschiedenen Orten, Quetschen des Balls oder einfaches Neigen des Balls in unterschiedliche Richtungen. In der Reaktion wird sich ein Klang ergeben, der in Echtzeit die Explorationsantwort darstellt. Auf diese Weise ist die akustische Interaktionsschleife auf sehr unmittelbare Weise geschlossen.

Abb. 1: Der audiohaptische Ball als neuartiges Interface zur Interaktion mit Sonifikationsmodellen (schütteln, anschlagen, quetschen etc.).

25 Hermann 2002.

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Ein weiteres neuartiges Interface ist das Malleable Interface, also eine elastische, verformbare Schnittstelle (s. Abb. 2)26: Eine im Kreisrahmen eingespannte Gummihaut erlaubt Deformationsinteraktionen, welche wiederum zur Anregung von Sonifikationsmodellen genutzt werden können. Derartige kontinuierliche Schnittstellen fehlen fast vollständig in der üblichen maus- und tastaturbasierten Steuerung von Computern.

Abb. 2: Das Malleable Interface – eine Interaktionsschnittstelle, welche kontinuierliche Deformationen zur Anregung von Sonifikationsmodellen erschließt.

Selbstverständlich lassen sich auch existierende Schnittstellen für modellbasierte Interaktionen nutzen: Wir haben zum Beispiel ein Graphic-Tablet27 genutzt, um Daten ortsselektiv anzuschlagen bzw. um das Sonifikationsmodell lokal zu erhitzen und damit Interaktionen benachbarter Datenpunkte zu induzieren.28 Das Potenzial in Bezug auf dynamische Interaktionsschnittstellen ist noch bei Weitem nicht ausgeschöpft: Eine Vielzahl von Sonifikationsmodellen sollte für die unterschiedlichsten Anwendungszwecke vorgeschlagen, implementiert, optimiert und an Daten getestet werden. Ihre Nützlichkeit sollte weiterhin in psychophysikalischen Experimenten untersucht werden, so dass sich einige Interaktionswerkzeuge als am besten geeignet bewähren. Erst dann wird Datenanalysten ein praktischer »Werkzeugkasten« mit hochoptimierten Hörwerkzeugen zur Verfügung stehen, ähnlich wie Handwerker auf ihren bewährten Werkzeugkasten zurückgreifen können.

26 Vgl. Milczynski, Hermann, Bovermann, Ritter 2006. 27 Eingabegerät zur Nutzung eines Stiftes als Mausersatz. 28 Vgl. Bovermann, Hermann, Ritter 2005.

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6. Multimodale Datenexploration Modellbasierte Sonifikation hat sich bereits als vorteilhafter Ansatz erwiesen, um unsere menschlichen Interaktionsfähigkeiten für die Exploration hochdimensionaler Daten nutzbar zu machen. Das Grundprinzip ist, interaktionsfähige Modelle so aus Daten zu parametrisieren, dass erst die Interaktion zu Reaktionen führt, über welche sich die Eigenschaften der Daten verstehen lassen. Dieses Prinzip trägt weit über die rein auditive Darstellung hinaus: Hier sei der in Hermann und Ritter29 vorgestellte Vorschlag ausgeführt, nicht nur akustische Antworten, sondern auch Antworten in anderen Modalitäten, z.B. visuelle und taktile Rückmeldungen modellbasiert zu vermitteln. Dies ist grundsätzlich eine Erweiterung der modellbasierten Sonifikation, die nun als zentrale Komponente die Simulation des Modells in den Vordergrund stellt und verschiedene Displaymodule (auditiv, visuell etc.) versorgt, die dann die Verbindung zum Nutzer herstellen. Als Beispiel stelle man sich vor, dass die in den haptischen Ball transferierten Daten (als Masse-Feder-Systeme, wie zuvor beschrieben) beim Schütteln des Balls nicht nur akustisch wahrnehmbar sind, sondern zudem jede Interaktion über ein taktiles Feedback erfahrbar wird. Oder: Beim Anschlagen eines Datensonogramms mittels eines Maus-Klicks in der 2D-Datenvisualisierung kann man sich vorstellen, dass die Schwingungen der Datenpunkte nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen sind. Gerade diese synchrone Verbindung beider Medien über das Modell ergibt einen Mehrwert, da sie erlaubt, auditiv wahrgenommene, eher qualitative Informationen mit konkreten visuell wahrgenommen Aktionsorten zu verbinden. Ein sehr geeignetes Forschungsfeld für derartige modellbasierte multimodale Explorationen ist das Tangible Computing, also die Anknüpfung von digitalen Datenrepräsentationen an physikalische Objekte. Bisher wurden in diesem Gebiet digitale Informationen vornehmlich visuell auf die Objekte augmentiert, doch eine Verwendung von Objektmanipulationen für Sonifikationsanwendungen, insbesondere die modellbasierte Sonifikation, liegt nahe und ist gegenwärtig Gegenstand unserer Forschung. Der in Abb. 3 gezeigte Tangible Desk (tDesk) erlaubt bereits derartige Sonifikationsanwendungen.30

29 Hermann, Ritter 2005. 30 Vgl. Bovermann, Hermann, Ritter 2006.

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Abb. 3: Der Tangible Desk – ein mit Kameras, Projektor und weiteren Sensoren ausgestatteter Glastisch, der erlaubt, Objekt-Interaktionen mit Sonifikationen zu verbinden.

Die Verallgemeinerungsrichtung führt also hin zu Interaktionsformen mit Datensätzen, die möglichst nahe an den aktorischen und sensorischen Möglichkeiten sind, die wir Menschen – evolutionär und durch unsere Alltagserfahrungen hochoptimiert – haben. Diese Interaktionen sind unmittelbar, physisch vermittelt, modellbasiert (das Modell ist hier die Physik), multimodal und reichhaltig in Bezug auf die Zahl der Interaktionsfreiheitsgrade. Wir glauben, dass eine an diesen menschlichen Ressourcen orientierte Gestaltung von Explorationswerkzeugen und explorativen Interaktionen dem Menschen entgegenkommt, die Performanz der Explorationsarbeit verbessert und insgesamt auch als angenehmer erlebt wird.

7. Zusammenfassung In diesem Beitrag wurde ein kompakter Überblick über das recht junge Gebiet der Sonifikation gegeben und die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten dieser Technik aufgezeigt: Sie reichen von der Prozessüberwachung über die Koordination von Handlungen bis zur Datenexploration. Sonifikation liefert insbesondere neue Möglichkeiten, hochdimensionale Daten über das Hören zu verstehen und in den Daten verborgene Strukturen zu entdecken (Datamining). Klänge besitzen vielfältige Variationsmöglichkeiten (Lautstärke, Hüllkurve, Tonhöhe, Dauer, Rauhigkeit, Schärfe, Klangfarbe etc.), über die sich viele Datendimensionen gleichzeitig kommunizieren lassen. Neben dieser als Parameter-Mapping-Sonifikation bekannten Sonifikationstechnik wurden Earcons, Auditive

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Icons und Audifikation kurz vorgestellt. Der recht junge und grundsätzlich neue Ansatz der modellbasierten Sonifikation (MBS) wurde im Anschluss eingeführt und in Bezug auf Datenexplorationsanwendungen diskutiert: MBS erlaubt generische Schnittstellen, d.h. Daten aus beliebigen Quellen sind mit einem Modell untersuchbar. Diese Allgemeinheit erzeugt erstens eine bessere Lernbarkeit: Bereits entwickelte Hör-Erfahrung kann weitergenutzt werden. Sie erzeugt zweitens die Chance einer strukturorientierten Optimierung: Ein Modell kann dediziert geschaffen werden, um eine Struktur in den Daten (z.B. ihre Clusterung, lineare Abhängigkeiten oder ihre intrinsische Dimensionalität) zu erfahren. So entstehen hochspezifische Hörwerkzeuge, quasi »neuartige Stethoskope« für komplexe Datensätze. Schließlich wurde die aktuelle Entwicklung in Richtung der Interaktiven Sonifikation vorgestellt, die das Ziel hat, Sonifikationstechniken interaktiver zu gestalten und damit den Nutzern ihre Arbeit mit hochkomplexen Daten zu erleichtern. Da MBS bereits prinzipbedingt auf der Interaktion des menschlichen Nutzers mit dem System basiert, steht hier besonders die Entwicklung neuartiger Interfaces im Vordergrund. Eine noch weitestgehend unerforschte Ausgestaltungslinie bildet die Verallgemeinerung von modellbasierter Sonifikation zur modellbasierten multimodalen Exploration: Unsere Forschungsarbeiten gehen in diese Richtung, getragen von der Vision, dass die Überbrückung der Kluft zwischen hochdimensionalen, abstrakten Datenräumen und unseren vertrauten Wahrnehmungsräumen genau dann erfolgreich gelingt, wenn wir die Mechanismen der Kopplung zwischen Interaktionen und informativen Reaktionen besser verstehen und erfolgreich auf die explorative Datenanalyse übertragen.

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Daten hören · Thomas Hermann

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Methodische Zugänge

Desiderate der Praxis

die zukunft des klangs in der gesellschaft? Sam Auinger

ägypten, 1. dezember 2007, 10 uhr 30 abends, abfahrt in sharm el sheikh, vor uns liegt eine busfahrt über dahab zum mitten im sinai-gebirge gelegenen katharinen kloster. die gebuchte ein-tages-reise verspricht sonnenaufgang am berg moses in 2300 meter höhe und einen besuch des seit seiner gründung im 6. jahrhundert fortwährend aktiven katharinen klosters, einer ikone der christlichen, jüdischen und moslimischen kultur. unser bus quält sich durch das sinai-gebirge. dreieinhalb stunden dröhnen, rütteln und brummen. manchmal kurz unterbrochen von einer kleinen abfahrt im leerlauf. um 1 uhr nachts erreichen wir einen staubigen parkplatz mit einer unzahl anderer busse. chaos bei der ankunft, einparkende und reversierende busse, sicherheitskontrollen, beduinenhändler und toilettenkampf...

bei einer längeren busfahrt sind wir für stunden vom motorklang vollständig umhüllt und absorbiert. wenn wir anhalten und aussteigen, sind wir zu benommen, um gleich den uns umgebenden klangraum hören zu können. nach der ankunft hören wir nur starke und direkte klangquellen...

vom busparkplatz weg ein 700 meter langer anmarsch zum kloster. allgemeines treffen am vorplatz, hier beginnt der anstieg zum berg moses.

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Abb. 1: Sinai Gebirge (Berg Moses), Ägypten

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Desiderate der Praxis

jede busreisegruppe, es sind ca. 20, wird angewiesen, zusammenzubleiben, ein rufcode wird vereinbart, unser ist ali baba, und jeder einzelne bekommt eine taschenlampe. der aufstieg beginnt. das chaos des parkplatzes setzt sich beim aufbruch fort – und doch ist alles anders. keine lautsprechermusik und kein motorenlärm und eine umgebung, die nichts direkt reflektiert, jeder ruf und alles gequatsche bleibt klein und verliert schon nach ein paar metern distanz seine aufgeregtheit. mein begleiter und ich sind anfangs nur damit beschäftigt, dem hektischen rumleuchten der anderen zu entkommen. es ist halbmond, eine sternenklare nacht und das mondlicht produziert gute sicht und messerscharfe schatten in dieser unglaublich zerklüfteten gebirgssteinwüste. wir stecken die lampen in unsere taschen. um den lichtern zu entkommen, gehen wir an die spitze der prozession und so weit wir können voraus. der pfad, der sich in serpentinen den berg hinaufzieht, ist ein kamelpfad und alle 100 bis 200 meter liegen kamele am weg und eine stimme ruft leise »kamel, kamel...« nach ca. einer stunde wanderung beginnt dieser einzigartige gebirgsraum auf uns zu wirken. der anstieg ist anstrengend, es sind 1200 höhenmeter zu überwinden. jeder kleine stein, den ich lostrete, mein manchmal rasselnder und pfeifender atem und das entfernte rufen der gruppen ist klar zu hören.

die klingende gestalt des physischen raums erkennen wir unterbewusst durch räumliche artikulation, hervorgerufen durch resonanzen und reflexionen seiner raumobjekte im auftreten der stationären und mobilen klangereignisse.

für augen und ohren ist diese besondere landschaft ein kleines fest. keine motoren und strom-klänge, kein donnern von flugzeugen in der luft, eine raumarchitektur, die alles diffus macht, keinen klang projiziert oder spiegelt, hier gibt es keine gebirgsechos, wie wir sie von unseren alpen kennen, kein elektrisches licht, das den raum großflächig ausleuchtet, ... mein kopf wird trotz der anstrengung nach ein paar stunden immer leichter.

die atmosphäre eines ortes erleben wir prägend über den hörsinn.

die zukunft des klangs in der gesellschaft? · Sam Auinger

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um 8 uhr morgens erreichen wir als zwei der ersten wieder das kloster und finden uns am vorplatz ein. bei tee und kaffee warten wir im freien auf die erlaubnis, das kloster von innen zu erleben. der vorplatz füllt sich mehr und mehr, es treffen immer mehr menschen ein, nach mehrstündiger busfahrt gerade angekommen und nur hier, um kurz das kloster zu besichtigen. um 9 uhr dürfen wir alle das kloster durch eine kleine pforte betreten und die 1400 jahre alte kirche, den mosesbrunnen und zwei, drei gassen der dorfähnlichen klosteranlage besuchen. auf schier magische weise ist für uns leicht zu erkennen, wer schon seit stunden hier ist und wer gerade für den klosterbesuch angekommen ist. das verhalten der beiden gruppen ist sehr verschieden: die einen bewegen sich etwas müde und ruhig durch den raum, immer wieder zum kleinen verweilen angeregt, während die anderen versuchen, aufgeregt und rastlos sich zu orientieren.

Unsere Ohren und unser Gleichgewichtsorgan schweben im Raum und verbinden uns so mit unserer Umgebung. Fahren wir schnell oder fliegen wir gar, brauchen wir Zeit, um wieder Bodenkontakt zu bekommen. Wenn wir also eben gelandet sind, hören wir zunächst nur starke und direkte Schallquellen. Einen kleinen Brunnen werden wir mit größter Wahrscheinlichkeit überhören und an ihm vorbeigehen, ohne ihn zu bemerken. Wir übersehen ihn aber auch. Noch Stunden nach einer längeren Fahrt sind wir in einer Raumkapsel aus nachklingenden Körpervibrationen. Wie nach einem Gewitter, das eben über die Stadt gezogen ist, öffnet sich der Hörraum langsam und allmählich Schicht um Schicht. Andres Bosshard: »Die urbane Hörsphäre entdecken«, in: Stadtklang Zürich.

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Desiderate der Praxis

seoul, 14. dezember 2007, bin seit 6 tagen, gemeinsam mit bruce odland, aus anlass eines workshops zum thema ›hearing perspective‹ in der stadt. seoul ist eine der großen metropolen unseres planeten (ca. 11 millionen einwohner). was hier wirklich anders ist als in berlin und new york: keine flugzeug- und hubschrauber-sounds – aus welchen gründen auch immer, es lässt dieser pulsierenden stadt eine unzahl von ruhe- und rückzugszonen. wir finden hier wie in allen anderen großen städten die gleiche corporate architecture aus glas, stahl und beton – meist cubisch geformt mit glatten fassaden entlang der städtischen verkehrsadern, die wie überall den verkehrslärm direkt reflektieren und ihn damit für den fußgeher dazwischen nur verstärken.

Abb. 2: Palast Eoul Sungil, Korea

wir finden aber auch vereinzelte palast- und tempelanlagen wie den changdeokgung palace, dessen großes eingangstor vor einer stark befahrenen straße liegt und dessen architektur, wie bruce so schön sagt, eine »noise eating architecure« ist, eine architektur, die den straßenlärm im vergleich zur corporate architecture regelrecht schluckt. das warten auf einlass davor gestaltet sich ungleich angenehmer und stressfreier als das warten auf den bus vor dem daneben gelegenen hundai-building.

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unser hören hat, vereinfacht dargestellt, drei kompetenzen: a) sprach-, b) musik- und c) raum-kompetenz ... unser raumsinn

a, b: verwenden wir sehr bewusst. c: es ist den meisten von uns gar nicht klar, dass dieser sinn existiert.

a, b: hat in vielen situationen eine richtung und bietet einen punkt, auf den man sich konzentriert. wir hören hin – wir hören zu – dies lässt sich mit unserem visuellen verständnis der welt gut vereinen. wir ziehen auch hier viele falsche schlüsse, aber unsere denkmodelle funktionieren. c: die hörkompetenz raumsinn stellt uns vor große probleme. erstens sind die informationen, die unser körper und unser ohr in form von schwingungen und vibrationen aufnimmt, so zahlreich, dass dieser sinn gezwungenermaßen im unterbewussten agiert. zweitens beginnen hier die physikalischen und psychoakustischen phänomene unglaublich komplex zu werden und sind daher schwer zu verstehen.

allen fruchtbaren versuchen, sich dem raumsinn zu nähern, liegt zeit – im sinne von dauer – zugrunde. um räume im klanglichen verstehen zu lernen, braucht man zeit. zeit, sich ihnen auszusetzen. »you cannot hear faster«. ein geschultes ohr und ein hörendes denken kann sicher tiefer in einen raum eindringen, aber nicht schneller.

die klänge werden täglich mobiler und mehr. immer mehr klang von transportsystemen, immer mehr media sounds und immer mehr stehende wellen (ventilationen, heizungen und kühlungen, sonstige strom-klänge) durchdringen den raum. der zusammenhang von stationären, mobilen klangerzeugern und raumgestaltung (= architektur = soundbox) und die individuelle position darin wird nur durch aktives sein im raum klar. es gilt nicht nach formeln für urbane klanggestaltung, sondern nach algorithmen für eine mögliche vorgehensweise zu suchen. ein erster und grundsätzlicher operator dafür scheint zu sein, zeit im konkret zu gestaltenden raum zu verbringen

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Desiderate der Praxis

Die Zukunft ihr Klang im Radio Johannes Wilms

»Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen. [...] Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern.«1

1. Schall und Raum Barocke Musikautomaten und Elektrizität. Detroit und die mechanische Reproduktion. Eine Selbstspielapparatur ohne automatische Nuancierung. 1895 baut Edwin Scott Votey in Detroit das erste Pianola 2. Ebendort, in Detroit, Michigan, nur ein knappes Jahrhundert später und am Rand einer weiteren technologischen Revolution, hören hier die Kinder und Enkel jener Stahl- und Elektroindustrie, die Stadt und Staat groß werden und zerfallen ließ – Schallplatten einer Gruppe deutscher Komponisten, die sich Kraftwerk nennen, sagen: weird, gehen zu einem älteren, ebenfalls bald arbeitlosen Produzenten von dub-plates, Ron Murphy, und fragen, ob da nicht noch mehr drin ist an Dynamik, der sagt, sinngemäß: »Cutting Records is just like a live TV or live radio: You do it then«, probierts aus – und inzwischen ist dann die Loveparade auch schon wieder Geschichte.3

1 Freud 1930, 450f. 2 Vgl. Artikel »Pianola«, Wikipedia 2008. 3 Morales 2007.

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Radiomachen heute ist – wie Vinyl in den 80ern. Neue Materialien, veränderte Resonanzen. Künstliche Farben, synthetische Stoffe. Die Baustoffe des 20. Jahrhunderts haben so wenig mit den Baustoffen des 18. Jahrhunderts zu tun, wie die Baustoffe des 18. Jahrhunderts mit denen des alten Ägypten. Und weder im alten Griechisch, noch im Lateinischen noch im Arabischen gibt es eine Bezeichnung für unbestimmte Geräusche.4 Auch bei Marcus Vitruvius Pollio, also bei der einzigen aus der Antike tradierten Abhandlung über Architektur, die aus dem ersten Jahrhundert vor unserer Zeit datiert – bei Vitruv kommen die Begriffsfelder zu Klang, Schall, oder Ton kaum vor.5 Auch in den philosophischen Diskussionen des Mittelalters werden nicht artikulierte, natürliche Geräusche und Klänge nur selten erwähnt.6 Nach Makowski bestimmt in der Neuzeit die Suche nach der »akustischen Kurve« den Theaterbau in Italien. Marinis Teatro della Scala (1774) komme mit seiner elliptischen

4 Vgl. Burnett 1991, 48. 5 Siehe Vitruv, n. Gizewski (2002): »Von der Musik muß er [der Architekt, J.W.] etwas verstehen, damit er [...] die Spannung bei Ballisten, Katapulten und Skorpionen richtig herstellen kann. An den Hauptbalken sind nämlich rechts und links Bohrungen in den Rahmen der Spannsehnenbündel, durch die mit Haspeln und Hebeln aus Därmen geflochtene Seile gespannt werden, die erst verkeilt und angebunden werden, wenn sie bestimmte, gleichmäßige Töne an das Ohr des Erbauers dringen lassen. [...] Wenn sie nicht den gleichen Ton geben, werden sie keine gerade Flugbahn des Geschosses zulassen.« Nach Vitruv werde des Weiteren niemand ohne musikalische Überlegungen in der Lage sein, etwa hydraulische Orgeln zu bauen. »Hydraulicas quoque machinas et cetera, quae sunt similia his organis, sine musicis rationibus efficere nemo potent«, nach: ebd. Nicht nur sind die Bücher über die Architektur dem Kaiser Augustus gewidmet – ihre Zielstellung ist, der Architektur zum Rang der anderen freien Künste zu verhelfen. Daher betont Vitruv immer wieder, wieviel ein Baumeister wissen müsse, daher die beständigen Anleihen solcher Epistemata bei den anderen freien Künsten. – Inwieweit Wasserorgeln und andere antike Musikautomaten zum Repertoire der Herrscherikone gehörten, siehe: Hammerstein 1986. – Im fünften Buch de re architectura, das vor allem öffentliche Plätze verhandelt, soll auf dem Forum ein locus surdus, ein tauber Ort, vermieden werden: »[...] ne sit locus surdus, sed ut in eo vox quam clarissime vagari possit« (vgl. Vitruv, n. Brenders (o.J.)) – »[...] dass da kein tauber Ort sein soll, damit darin die Stimme sich aufs Klarste ausbreiten kann« (Übersetzung: J.W.). Das Forum in der Kaiserzeit – de facto ein locus absurdus. 6 »The pitchless sounds of nature – such as the splashing of water, the creaking of doors and the crackle of flames – are rarely mentioned in philosophical discussions on sound.« Burnett 1991, 49.

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Desiderate der Praxis

Grundform dieser ›Kurve‹ am nächsten.7 Barocke Oper und bürgerliche Öffentlichkeit: die akustische Kurve der Scala und die Keilform bei Semper. Schinkel als einer der Letzten, die mit den Stoffen und Verfahren der Alten praktisch vertraut waren.8 Paris, Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, I. Das Institut des jeunes aveugles, vormals l‘Institution Royale des Jeunes Aveugles, also die erste Blindenschule um 1830; Louis Braille entwickelt den ersten digitalen Code. Eine 6-Bit-Blindenschrift, die zugleich Notenschrift ist. Mendelssohn-Bartholdy, der Komponist, und Braille, der Organist. Morse, der Maler. Impulse.9 Kurz und Lang. Drahtlose Telegrafie, die während des Weltkriegs zum Radio werden wird. Die ungeheure Warensammlung, von der Marx bereits 1867 sprechen kann, ist an den Künsten alles andere als spurlos vorüber gegangen. Stahlrahmen, die den Klavierbau revolutionieren, gesteigerte Dynamiken, immer größere Säle und immer größere Orchester, Caruso und das Grammophon – der erste Tenor, den wir nicht mehr nur vom Hörensagen kennen. Die beginnende Serialisierung der Architektur in den Städten, enthemmtes Ornament, Kitsch und Kasernen. Auch die Brüche, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts in der Geschichte der Malerei abzeichnen, sind zunächst formaler, technischer Natur. Über Nacht räumen künstlich erzeugte Pigmente, Ölfarbe in der Tube und ab Werk grundierte Leinwand jahrhundertealte Lasurtechniken aus dem Weg. So massenhaft die Ware, so selten das Genie. Die Entstehung des Pleine Air. Cezanne und Le Mont Sainte-Victoire. Impressionismus. Die künstlerische Produktion ein lichter Schatten der großen Industrie. Paris, Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, II. Ein Café-Konzert im Les Ambassadeurs, Ambiente im Quadrat und Louis Seize; drei Künstler, die, als es noch keine Coca Cola gibt, Zuckerwasser trinken und sich weigern, die Rechnung zu begleichen, denn schließlich zahle niemand dafür, dass hier ihre Musik gespielt werde, und die Gründung der SACEM drei Jahre später, 1850. Das geistige Eigentum in der Musik. The Modern Prometheus, I. Maschinen, die nach Göttern heißen und die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. Ein deutscher Griechischprofessor beschwört in Basel genau die Kulträume, derer sich, im 20. Jahrhundert, medial, die Kulturindustrie bemächtigen wird. Die Reflexionen des Chors und der Orchestra. Das Festspielhaus von

7 »Dieses, damals größte Theater Europas bildete den Typus des italienischen Theaters und maßgebende Grundlage der Theaterbauten für lange Zeit.« Makowski 1937, 19. 8 Ebd. 9 Siehe dazu Kittler: »Was demnächst im Monopol der Bits und Glasfaserkabel enden wird, begann mit dem Monopol der Schrift.« Kittler 1986, 12.

Die Zukunft ihr Klang im Radio · Johannes Wilms

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Bayreuth und dessen Nachhall10, der die Echoräume des Radios11 und die Echoeffekte der elektronischen Zeit vorwegnimmt. Gespiegelte Räume akustisch: Echo. Reflexion. Der erste Phonograph und das Kaiserliche Patentamt.12 Der feudale Titel, das Monopol auf Zeit und die Marke. Die Reparationen, die Frankreich ab 1871 an das Deutsche Reich zahlt, die Bauspekulationen der Gründerzeit und Rabitz: Riet, Holz, Gips – eine inzwischen in die Jahre gekommene Industrie-Putztechnik, die 1874 in Deutschland zum Patent zugelassen wurde. Das Material ist relativ leicht, schwingt und erlaubt ein erstaunlich plastisches Bauen. Tatsächlich sind die so be- wie gerühmten Decken von Scharouns Berliner Philharmonie in Rabitz gefertigt.13 Dichte und Schallwiderstand. Der Löwe im Berliner Zoo brüllt nur ein Phon leiser als ein Motorrad ohne Schalldämpfer laut ist. Eine Lärmmessung im Berlin der 30er Jahre liest sich wie eine zivilisatorische Zeitspur: 44 Phon: Zerreißen von Papier, 51 Phon: offener Wasserhahn, 59 Phon: Unterhaltungssprache, 64 Phon: Fuhrwerk und Personenkraftwagen, 68 Phon: Straßenbahn, 72 Phon: Ballhupe, 75 Phon: Motorrad mit Schalldämpfer A, 80 Phon: Untergrundbahn, 89 Phon: Motorrad mit Schalldämpfer B, 92 Phon: elektrische Hupe, 101 Phon: Löwengebrüll, 102 Phon: Motorrad ohne Schalldämpfer.14

10 Cappai (zit. n. Makowski 1937, 40ff.) gibt für Bayreuth mit 2,25 Sekunden Nachhallzeit bei voller Besetzung die längste Nachhallzeit großer Opernhäuser an (leer: exorbitante 7,4 Sekunden). Das Royal-Opera-House, Covent Garden, liegt bei nur 1,4 Sekunden, das Shakespeare Memorial Theater bei 1,5 Sekunden – Altes Gewandhaus, Leipzig: 1,2 Sekunden, Neues Gewandhaus Leipzig 2,0. 11 Makowski (Makowski 1937, 53) weist darauf hin, dass »Echoräume [...] nicht zur unmittelbaren Benutzung durch die Spieler gedacht [sind], vielmehr sind elektrische Schaltungen vorgesehen, welche die Benutzung der Echoräume in Verbindung mit jedem beliebigen, z.B. auch dem schalltoten Raum möglich machen.« Die Beschreibung setzt sich ausführlicher fort. 12 Wie auch in der Photographie (Daguerre vs. Talbot) und beim Radio (Marconi vs. Tesla) werden für die reine Form sinnlicher Anschauung, das Medium Raum, billige, industriell fabrizierte Trennwände parallel in Europa und in den USA erfunden. Das Patent für jenes Verfahren, das wir als Rigips kennen, erging 1894 in den USA und 1938 in Europa, wo die Rigaer Gipswerke den Markennamen Rigips gaben – Trockenbau, der nicht trocken klingt. 13 Vgl. SPR-Bau 2007. 14 Vgl. die Tabelle »Zusammenstellung von Lautstärkemessungen in Berlin«, in: Fachausschuss für Lärmminderung beim Verein deutscher Ingenieure 1934, 17.

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Desiderate der Praxis

2. Rosa Elefanten, Aspirin und die Stimme im Radio15 Mit dem Radio wandert der klingende, tönende Raum in die Apparatur. Ähnlich der Wachswalze und der Schallplatte geht er über in ein technisch vermitteltes, mediales Dispositiv. Der Schallraum der Agora, des Forums, der Basilika, der Kirche, der Kashba, der Märkte und Festsäle zerfällt mit der zunächst analogen Modulation des Radios in die drei klassischen Momente der Kommunikation: Senden – Übertragen – Empfangen. D.h. die Quelle (der Senderaum), die Übertragung (der Transmissionsraum) und der Empfang (der Hörraum). Mit jedem Lautsprecher vervielfacht sich nun die Schallquelle. Sie reproduziert sich – ohne identisch zu erscheinen, denn mit jedem Lautsprecher, der ein gesendetes Signal empfängt, ergibt sich ein verändertes Schallbild. Die Klangquelle ist nicht mehr – wie der Vogel im Baum, wie die Stimmen der Nachbarn, wie das vorbeitrabende Pferd, wie die lärmende Maschine, wie das Feuer im Ofen oder das dröhnende Automobil – absolut gegeben. War das Geräusch, wie der Geruch, bislang stets an einen Ort gebunden, so wird es mit dem Radio translocal. 16 Radioräume I. Das Serial eines Bauchredners im Radio; Charly McCarthy, eine sprechende Holzpuppe, die von Edgar Bergen animiert wurde, und von 1937 bis 1956 (sic!) in einer der populärsten Radiosendungen in den USA auftrat. Die Comedy-Show aus der Hoch-Zeit der radiodays kam sonntags zur Prime Time, am Abend. Anders als in den Sitcoms des TV-Zeitalters wurde das Lachen des Publikums aber nicht eingespielt, vielmehr fand die Show live im Senderaum und vor einem Publikum statt, das mit seinem Lachen dem Publikum im Hörraum »daheim« stets aufs Neue die Echtheit des Illusionsraumes bestätigte. Zudem war mit W.C. Fields regelmäßig einer der großen, nahezu ikonischen Bühnen- und Filmkomiker der Zeit in der CharlyMcCarthy-Show zu Gast. Seine Präsenz war wie die eines Paten für das komische Geschehen. Am 30. Oktober 1938, an Halloween, lief die Show parallel zu einem Hörspiel von Orson Wells: The War of the Worlds, ein Hörspiel, dessen Dramatik an die Radioberichte des Hindenburg-Desasters erinnern sollte. Als Zehntausende Hörer/ innen in einer Werbepause von der sprechenden Puppe auf eine simulierte Nachrich-

15 »Pink elephants take Aspirin to get rid of W.C. Fields.« – Charly McCarthy in einer frühen Show zum Alkoholiker William Claude Dukenfield, der, nüchtern, als W.C. Fields den Alkoholiker spielt. 16 Radio als grenzüberschreitendes Medium ist seit den 20er Jahren topisch; translocal jedoch scheint ein Begriff jüngeren Datums zu sein. Bei Tetsuo Kogawa, dem Micro-Radio-Pionier, wird jedes lokale Medium mit dem Satelliten- und Internetzeitalter translocal: »In the age of satellite and internet, every local medium has to be potentially global. That is why it is called ›translocal‹«, siehe Kogawa 2007. – Dabei haftet bereits dem Medium selbst eben jenes Moment der Translocalität an.

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tensendung umschalten, hören sie von Marsmenschen, die gerade Hitzestrahlen auf ihre menschlichen Gegner richten. Die Massenpanik, die an diesem Abend entstand, gehört noch in jede Radiogeschichte. Die sozialen und ästhetischen Räume dieser Illusionen, im und vor dem Radio, on air und in der Phantasie schwanden mit den Imaginationen des Fernsehens. Radioräume II. Digitalisierung17 des Rundfunk meint zumeist das Übertragungssignal; dabei betrifft sie zunächst die Signalkette18, d.h. den Verlauf, die Stadien, die ein am Ende akustisches Signal genommen haben wird. Wobei der Klang, der bei den Hörern/ Hörerinnen ankommt, im Moment seiner Erzeugung selbst nicht Klang gewesen sein muss – wie in den Radiostudios der Radio Days – vielmehr reicht der Impuls der aus den Geräten kommt, es reicht, was auch am Anfang der drahtlosen Telegraphie stand: Strom. »Seit Null und Eins ist der Inhalt vom physikalischen Medium gelöst«, wie ein Hacker zum »Kampf um die Privatkopie« schrieb.19 Es bleiben beliebige Datenträger und präzise Algorithmen, die definieren, in welcher Weise Content gespeichert und wiedergegeben kann. Determiniertheit, Finalität und Terminierung. Also: die Digitalisierung von Radio folgt auf die Trennung vom Raum, auf die Trennung von der Apparatur.

3. Rossignol robotique New York, 1939. Die Weltausstellung mit dem Thema: Building the World of tomorrow. General Motors und Futurama. Die Bell Labs präsentieren den Voder. Ein goldbronzener Humanoid mit Blinklichtern im Rumpf und dort, wo wir bei Menschen den Mund erwarten, steht: »Rede und Antwort«. Er wiederholt die Sätze: Good Evening, Radio Audience und Good Afternoon, Radio Audience. Der Entwickler heißt tatsäch-

17 Vgl. Hagen 2005, 230ff., ders. 1994, sowie Artikel »Edgar Bergen«, Wikipedia 2008, Artikel »The Chase and Sanborn Hour«, Wikipedia 2008, und Artikel »The War of the Worlds (radio)«, Wikipedia 2007. 18 Zum Kernsatz an Metadaten, den die European Broadcasting Union (EBU) für Radio-Archive herausgegeben hat, gehört auch die Verfeinerung des Elementes »Date« durch die Angabe »Digitized«. Damit wird nicht nur die physikalische Transformation eines beliebigen Inhaltes festgehalten, sondern auch, im Verbund mit anderen Elementen der Core Data (des Kernsatzes), der digitale Geburtsschein als Träger geistigen Eigentums erbracht. Siehe dazu: EBU 2001. 19 wetterfrosch 2004, 30-32.

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Desiderate der Praxis

lich Homer Dudley. Die Trennung der Stimme von ihrem Träger in der textgesteuerten Sprachsynthese (Text to Speech, TTS).20 Lag, den linguistischen Schulen der Zeit folgend, wie beim Voder der Schwerpunkt der Sprachsynthese anfänglich in der künstlichen Erzeugung kleinster Lauteinheiten (Phoneme), ging die Entwicklung allmählich dazu über, Phoneme, Silben und kurze Sätze natürlicher Sprecher/innen maschinell zu verarbeiten.21 Natürlich zu klingen als Zweck des l‘homme machine sonore. Bürgte das Mikrophon, wie das Diapositiv in der Photographie, für eine Authentizität der Übertragung, erscheint TTS wie ein unendlich variierbares Musterbuch, als Synthese elastischer Module und Pattern. Solange künstliche Stimmen funktional bestimmt sind, müssen sie nur verständlich sein. Dann dürfen Roboter wie Roboter klingen. Ob als Screenreader für Sehbehinderte und Blinde oder bei »der Telefonansage, bei Durchsagen auf dem Bahnsteig, in elektronischen Spielzeugen oder als Stimme des Navigationssystems im Auto, das die Fahrtrichtung vorgibt«.22 Im Radio aber dienen TTS bislang fast nur der akustischen Illustration von Künstlichkeit. Sie bestätigen ex negativo, was für Wolfgang Hagen »den Kern des pathetischen Aktes namens Radiohören« ausmacht, nämlich das nicht-identifikatorische »Stimmbegehren«, das »ebenso stumm wie letztlich unstillbar« sei.23 Doch schon jetzt sind einige TTS so weit, dass sie für kurze Zeit das Ohr darüber täuschen können, wer spricht. – His Masters Voice und der kleine Hund, der in den Schalltrichter eines Grammphons schaut und sich wundert, wer wohl den Apparat eingeschaltet haben

20 Heutige Hersteller kommerzieller, nicht quelloffener TTS-Software sind u.a. cepstral.com, readspeaker. com, AT&T Labs; siehe hier das mehrsprachige »Text-To-Speech (TTS) – Our Demo Speaks Your Text«, 2007, und speechconcept.com, um nur einige zu nennen; für freie Software siehe die Online-Dokumentation »Speech at CMU« der Open Source Software der Carnegie Mellon University, CMU 2007; die CMU ist auch am mbrola-Projekt beteiligt: The MBROLA Project – Towards a Freely Available Multilingual Speech Synthesizer, CMU u.a. 2007. Zwei weitere freie Software-Projekte sind das in JAVA geschriebene freetts, 2008, und das für MS Windows geschriebene text2speech, 2008; für Phonetik aller Art mag das plattformunabhängige praat anbefohlen sein: praat, 2008. Jenseits von MBROLA steht eine gute, d.h. auch für Sehbehinderte angenehme Software für Gnu/Linux noch aus ... 21 »Ein TTS-System besteht grundsätzlich aus vier Modulen: Symbolverarbeitung, Verkettung, akustische Synthese sowie die Prosodiesteuerung, welche parallel arbeitet und die anderen Module mit Zusatzinformationen versorgt.« MiLCA: Sprachausgabe – Vorleseautomat und inhaltsgesteuerte Sprachsynthese, 2007; für einen historischen Abriss der Sprachsynthese und Klangbeispiele siehe MiLCA: Parametrische Synthese; historischer Überblick, 2007. 22 FKT 2007, der WDR sendet auf Mittelwelle sogar TTS-basierte Verkehrsnachrichten. 23 Hagen 2006, 118.

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mag. – Jedenfalls, verwechselbar zu sein, der Alptraum jeder identitären Sicht auf die Welt, erscheint miteins erstrebenswert. Weitere Jahrzehnte der Entwicklung, und TTS wird in einem solchen Grad natürlich geworden sein, dass es als Teil zukünftiger Mood-Managements 24 auch in der Radio Automation eingesetzt werden kann. Vielleicht werden dann, dereinst, »an den Endgeräten«, die Hörenden unter ihren Lieblingsstimmungen, -timbres und -prosodien wählen können, und ein neuer Charly McCarthy wird entstehen, nicht aus Holz – als Programm.

4. TTS und Radio-Kunst – eine Skizze en passant The Infinite Talk von Bruszewski/Kahlen übertrug von 1988 bis 1993 aus der Ruine der Künste Berlin auf UKW 94,7 MHz das »unendliche Gespräch« zweier Computerstimmen. Es bestand aus insgesamt 200 Sätzen, die je zur Hälfte den beiden Stimmen zugeordnet waren und, randomgeneriert, einen dialogischen Strom entfalteten. TTS-Technologie kam aber nur darum zum Einsatz, weil die Rechnerleistung seinerzeit für das Abspielen von Audiodateien nicht ausreichte, wie Bruszweski anlässlich seines Vortrag beim Symposium Talking Back to Radio (Wroclaw, Herbst 2005) dem Autor mitteilte. Im Rahmen von Radio Copernicus hatte der Infinite Talk eine kurzzeitige Wiederauferstehung in der Galeria Sztuki Współczesnej (Wrocław).25 Aus ungefähr derselben Zeit (1990-1992) stammt die Arbeit Talking Machine des Briten Martin Riches. Sie besteht aus 32 hölzernen Luftkanälen, die, wie Hybride aus Orgelpfeifen und menschlichen Rachen, verschiedene Laute der englischen Sprache nachbilden.26 2003 luden Thomax Kaulmann und Herbert Meyer Hörer/innen des temporären juniradio in den Chat. Zu lizenzfreien Ambientklängen wurden die jeweiligen Postings mit-

24 Eine extreme Form des Mood-Management wurde 2007 von Emmanuel Madan und Anna Friz im Rahmen des Festivals »radiovisionen – 250 jahre radio« vorgestellt. Beim empathic radio werden auf dem vormaligen UKW-Band Ströme gesendet, die bei den Empfängern/Empfängerinnen unmittelbare Emotionen in den entsprechenden Gehirnarealen auslösen. Die Probanden dieser fast realen Science Fiction nahmen keinen Klang mehr wahr, der Klang war im Kopf. Vgl. Friz, Madan 2007. 25 Vgl. »Talking Back to Radio, Art Programme« 2007. 26 Vgl. Langebartels 2000. Im Rahmen der Reihe werkstatt_klangapparate wurde Riches mechanischpneumatische Apparatur 2006 bei tesla berlin von Roland Pfrengle und Steve Roden als musikalisches Instrument genutzt. Siehe tesla berlin e.V. 2008.

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Desiderate der Praxis

hilfe des TTS-Programms mbrola in die Sendung Radiostadt Berlin Bootlab Metaradio eingespeist.27 Auch das öd-schöne Spamradio, bei dem seit 2002 Maschinenstimmen gnadenlos das vorlesen, was im Alltag 90 Prozent aller Mailserver auslastet, war im juniradio mit einem Best-Of vertreten.28 Ein Jahr später stellten Sasker Scheerder und Olaf Matthes passwort fm ins Netz. »Eine Art Service«, bei dem eine TTS-Software mit einer Zeitmarke versandte Passwörter im webstream und auf Mini-FM sendete. Eine Paradoxalität, die an Doppel-, Triple- oder Quarto-Agenten vor Kurzwellensender erinnert. Damals, in Schwarz-Weiß, mit harten Schatten.29 Der Medienfluss ist eine Arbeit der eculturefactory des Fraunhofer Instituts; gezeigt werden »Schlagworte, Autoren und Titel der archivierten Dokumente. Dieser textbasierte Zugang wird ergänzt durch einen visuellen Zugang aus Bildern, welche die Archivdokumente repräsentieren. Über ein integriertes Text-to-Speech-Modul werden die Begriffe durch Computerstimmen ausgesprochen.«30 Bereits im Jahr 2001 hatten Graham Harwood und Matthew Fuller eine Applikation gebaut, die von Mobiltelefonen versandte Textnachrichten über einen Webserver auf Mini-FM-Sender schickte.31 Im Second Life, das – analog zum aktuellen Tauschwert des Lindendollars – 285th-life heißen sollte, lassen Laksmi Giha (Haike Rausch) und Myth Guyot (Torsten Grosch) im Rahmen einer Second Art Platons Höhlengleichnis in einer TTS-Version erklingen. Aber auch in der First Art benutzen bildende Künstler Text to Speech – zumeist gerade wegen der roboterhaften Stimmen, die im First Life gerade gern vermieden werden.32 So ist offenbar Pavel Büchler vor allem an der Mechanizität von TTS interessiert. Absentmindedwindowgazing ist eine Arbeit zu Ver- und Entfremdung, die mit Kafkas Schloss und Marconi-Klangapparaturen zu Werke geht und 2006 in der Kunsthalle Bern gezeigt wurde.33 Ebenfalls 2006 verwandte radioeinszueins linguatec-Software für Programm-Moderationen, um eine vergleichsweise neutrale Plattform herzustellen.34

27 Vgl. Juniradio-Programm vom 13.06.2003. 28 Vgl. das »spamradio«, das seit 2002 unter der URL http://www.spamradio.org i.d.R. einen webstream sendet. 29 Vgl. garage 2004. 30 MARS Exploratory Media Lab 2008. 31 Vgl. Dekker 2007; siehe auch »TextFM« 2008. 32 Vgl. Second Art 2007. 33 Vgl. Büchler 2008. 34 Die Anmoderationen einiger noch online stehender Sendungen von radioeinszueins sind mit Linguatec realisiert, vgl. radio 1:1, 2008. Siehe auch Kaulmann 2006, 172.

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Desiderate der Praxis

Klangumwelten Auditive Architektur als Artistic Research Alex Arteaga und Thomas Kusitzky

Ein Flugzeug rückt in den Vordergrund und umhüllt die wenigen Kinderstimmen, die kurzen, schnellen, männlichen Schritte auf einer harten Oberfläche, die, ohne eine Gehstrecke erkennen zu lassen, wieder verschwinden, sowie die sowohl in ihrer Frequenz als auch räumlich hohen, impulsartigen, in kleinen Serien gruppierten Vogelklänge. Während die Stimme eines Jungen das Verhältnis Vordergrund-Hintergrund wieder umkehrt – er ist links, wenige Meter von mir entfernt, ungefähr sieben Jahre alt, spielt und macht die ostasiatische Stimme eines Kung-Fu-Kämpfers nach – und kurze, schlagartige, für mich unbekannte, bedeutungslose, mit Fragmenten eines unverständlichen Gesprächs durchmischte Klänge diskret auftauchen, erscheint irgendwo rechts, in einer unbestimmbaren Entfernung ein neuer Klang. Die enge Frequenzbreite verleiht diesem Klang einen Toncharakter, der bei ungefähr 1.500 Hz liegen dürfte. Eine dünne, unterbrochene helle Linie unter der grauen Masse des donnernden Flugzeuges. Beide Klänge erzeugen zwei verschiedene Räume. Der des Flugzeugklangs ist in der Höhe vor mir, breit, wie eine große, massive und extrem unregelmäßige Wolke. Der andere Klang – er ist sicherlich mechanischen Ursprungs ... ein Zug? Seine leicht pulsierende Textur lässt die diffuse Assoziation zu einem ICE wachsen – erzeugt einen klar begrenzten, dünnen Raum, der nicht umhüllend wirkt und von mir getrennt ist. Erst als dieser Klang ganz links angelangt ist, weitet er sich, wird trüber. 1

1 Die drei kursiven Textteile beschreiben die Klangumwelt beim Hören der ersten 70 Sekunden einer Klangaufnahme am 3.2.2008, die im Rahmen des Projektes »Auditive Langzeitbeobachtung Schlieren« in dieser Stadt am 17.9.2007 realisiert wurde.

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Auditive Architektur 2 ist ein neues Fachgebiet der Architektur. Nach der gängigen Phasenteilung architektonischen Gestaltens ist die Auditive Architektur zum Entwurfprozess zu zählen. Sie unterscheidet sich damit von der Bau- und Raumakustik, die der Baukonstruktion zugeordnet sind. Auditive Architektur befasst sich mit der Wahrnehmung und Gestaltung architektonischer Klangumwelten.3 Eine architektonische Klangumwelt wird dabei als eine Situation in ihrer Ganzheit definiert, welche sich durch die Wahrnehmung als Klang im Bewusstsein der Hörenden manifestiert. Als solche ist die Klangumwelt unumgänglich konstitutiver Bestandteil erfahrener Architektur. Die Verwendung des Adjektivs »auditiv« anstatt »akustisch« für die Charakterisierung der im Zuge der Entwicklung einer Auditiven Architektur implizierten Erweiterung des Architekturbegriffs, und somit des architektonischen Konzeptions- und Entwurfsprozesses, weist auf eine grundsätzliche erkenntnistheoretische Positionierung hin. Eine solche unumgängliche Positionierung ergibt sich aus der Notwendigkeit, den Gegenstand der Gestaltung einerseits und das Verhältnis zwischen diesem und dem Gestalter andererseits zu bestimmen. Was wird gestaltet, wenn die architektonische Klangumwelt gestaltet wird? Ist diese Umwelt etwas, das es an sich gibt, d.h. das unabhängig vom Hörenden existiert, oder hängt sie mit ihm und mit seinem Hören zusammen? Und wenn Klangumwelt und Hörender zusammenhängen, wie ist ihr Verhältnis zueinander? Von den Antworten zu diesen Fragen hängt primär ab, ob eine Erforschung der Auditiven Architektur in der Lage ist, zu einer wirklichen, erweiternden und zugleich intensivierenden Transformation der architektonischen Praxis beizutragen.

2 Der Begriff Auditive Architektur wurde innerhalb der gleichnamigen Forschungsgruppe der Universität der Künste Berlin geprägt und wird konzeptionell und praktisch anhand der Projekte, die in diesem Rahmen seit 2006 realisiert werden, entwickelt. 3 In diesem Text gehen wir von einer kategorischen Unterscheidung zwischen Klangumwelten und Schallumgebungen aus. Diese Differenzierung ergibt sich aus der im Folgenden erläuterten kognitionstheoretischen Positionierung und erweitert im architektonischen Bereich die gängige Unterscheidung zwischen Klang – als perzeptivem Phänomen – und Schall – als objektiv messbarem Ergebnis eines Schwingungsvorgangs. Dementsprechend wird »Umwelt« – als geistig geformte Gestalt – der »Umgebung« – dem Gegebenen – gegenübergestellt.

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Desiderate der Praxis

1. Wahrnehmen verstehen Die räumliche Entwicklung beider Klänge – der des Flugzeugs ist mittlerweile auf meiner rechten Seite – sowie die progressive Minderung ihres Volumens lässt einen neuen Raum zwischen ihnen, gegenüber von mir, entstehen. Er wird von wenigen vorbeifahrenden Autos geformt, liegt in einer mittleren Entfernung, und seine leichte Zeitdichte wirkt in seiner vertrauten Unregelmäßigkeit beruhigend. Sein produktiver Kern, die Klangquelle, ist nicht in meiner unmittelbaren Nähe, aber wäre in weniger als einer Minute bei langsamem Gehtempo erreichbar. Die Raumgröße bildet einen Mittelwert zwischen den beiden vorherigen Klangräumen und ihre Form ist eher sphärisch, übersichtlich. Und wieder das Gefühl, getrennt von diesem Klangraum zu sein. Wahrnehmung als Hervorbringung von Welten Eine erkenntnistheoretische Positionierung, d.h. die Entscheidung über die kognitive Perspektive, welche die Forschung grundsätzlich bedingt, erfolgt in zwei Phasen. Die erste Phase besteht in der Beantwortung der »prinzipiell unentscheidbaren Frage der Wahrnehmung«, wie sie Heinz von Foerster formulierte: »Bin ich vom Universum getrennt (das heißt, ich sehe wie durch ein Guckloch auf das vor mir sich entfaltende Universum), oder bin ich ein Teil des Universums? (das heißt, wenn immer ich vom Universum spreche, spreche ich auch von mir)«.4 Wenn wir uns für die zweite Option entscheiden, entscheiden wir uns gegen das Kognitionskonzept, welches das Wahrnehmen als Abbildung einer, vom Abbild sowie vom Prozess des Abbildens, unabhängig existierenden Realität beschreibt. Daraus folgt, dass die zweite Phase der erkenntnistheoretischen Positionierung darin bestehen muss, eine zum Abbilden alternative Operation der Wahrnehmungsprozesse zu charakterisieren. Diese Charakterisierung zwingt zur Stellungnahme bezüglich dreier Hauptbegriffe westlichen Denkens: Realität, Subjekt und Objekt. In Abgrenzung zu den zwei Hauptpositionen abendländischer Philosophie5 – Realismus und Konstruktivismus – wollen wir einen »mittleren Weg«6 gehen. Dieser kann durch die folgende Bestimmung von Kognition zusammenfassend charakterisiert werden: »Das,

4 Von Foerster 1990, 436. 5 In der Regel wird Skeptizismus als dritte Option nicht berücksichtig, da er eine negative Stellung gegenüber der Möglichkeit, überhaupt zu irgendeiner Erkenntnis zu kommen, vertritt. 6 Einer der grundlegenden Texte im Bereich Embodied Cognition (The Embodied Mind, von Varela, Thompson und Rosch) wurde ins Deutsche als »Der Mittlere Weg der Erkenntnis« übersetzt. Varela selbst bezeichnete seine Position als »mittleren Weg«. Siehe dazu: Pörksen 2002, 118.

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was man wahrnimmt, erscheint untrennbar mit den Handlungen und der Lebensweise eines Organismus verknüpft: Kognition ist […] das Hervorbringen einer Welt, sie ist verkörpertes Handeln.«7 Als Ergänzung dazu: »Die Bedeutung von etwas begreift man nun nicht mehr als das Ergebnis einer Korrespondenz von einem Objekt und einem Symbol, sondern sie lässt sich als die Entstehung von stabilen Eindrücken und Mustern – Invarianten – verstehen. Diese bilden sich im Laufe der Zeit heraus.«8 Dementsprechend operieren wir mit einem Kognitionskonzept, das die Realität – die Wirklichkeit, da sie nicht als existierend an sich verstanden wird – als dynamische und emergierende Abfolge »stabiler Qualitäten«9 beschreibt. Wahrnehmung, das Konstitutive der für den Wahrnehmenden operativen Wirklichkeit, wird kontinuierlich im Rahmen der gegenseitigen Hervorbringung zwischen Wahrnehmendem und seinem Umfeld vollzogen. Ein neuer Klang erscheint rechts, und seine zunehmende Präsenz füllt die ganze Klangumwelt. Er schafft alle anderen Klänge ab, die gerade erschienenen Autoklänge und die erneuten Vogelklänge. Seine zunehmende Nähe wirkt leicht bedrohlich und die gesamte Klangumwelt verengt sich. Der Autoklang kommt schnell heran und erreicht, sich leicht verlangsamend, meine Position weniger als einen Meter von mir entfernt. In diesem Moment fährt das Auto auf drei auf dem Asphalt zur Fahrtrichtung quer befestigte Elemente und erzeugt erneut eine mir vertraute Klangserie, die aus drei Gruppen von zwei Tönen in mitteltiefem Frequenzregister besteht, wobei der erste Ton leicht höher als der zweite ist: ta-kum! ta-kum! ... ta-kum!. Der Autoklang bewegt sich weiter nach links und nach einer kurzen Zäsur – es wird in einen neuen Gang geschaltet – entfernt er sich definitiv von mir. Das etwas bedrückende Gefühl nimmt damit ab, die Klangumwelt gewinnt an Tiefe und der nächste Klang, der in den Vordergrund tritt – ein etwas älteres, leichteres und schlechteres Fahrzeug – entwickelt sich räumlich derselben Strecke folgend. Dieser neue Klang ist zwar auch der Klang eines Fahrzeugs, aber unterscheidet sich extrem zum Vorherigen: weniger rund, gefüllt von scharfen, schnell schwingenden und sich zeitlich parallel entwickelnden Teiltönen, die viel weniger im tiefen Bereich präsent sind. Er entwickelt sich räumlich nicht so fließend, wie es bei dem ersten an mir vorbeigefahrenen Auto der Fall war. Im Unterschied zu diesem verlangsamt das zweite Fahrzeug seine

7 Francisco J. Varela in Pörksen 2002, 114f. 8 Ebd., 116. 9 Ebd., 117.

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Fahrgeschwindigkeit nicht. Eine neue Serie perkussiver Doppelklänge entsteht. Die Klänge sind diesmal höher, differenzierter, und der Zeitabstand zwischen beiden Gruppen ist kürzer. Der Autoklang bewegt sich diesmal ohne Zäsur weiter nach links und verschwindet. Diese beiden Klänge haben die Klangumwelt für wenige Sekunden absolut dominiert. Die Klangumwelt hatte in diesem Zeitintervall keinen Raumcharakter: sie war nur durch Objekte bestimmt. Der ganze kognitive Prozess wird als mehrschichtige, autopoietische Dynamik verstanden, in der die klassischen Kategorien von Objekt und Subjekt nicht mehr ontologisch zu fassen sind, sondern ausschließlich als Voraussetzungen, als strukturell gleichwertige und in ihrer Funktion voneinander abhängige Akteure. Das Funktionale – die Frage: »wie funktioniert es« – substituiert in diesem Zusammenhang das Existentielle – die Frage: »was ist es«. Das, was sowohl in realistischen als auch in konstruktivistischen Paradigmen Subjekt genannt wurde, erzeugt das Objekt, im gleichen Maße wie dieses das Erstere hervorbringt. Aus diesem autopoietischen Kreis entsteht Wirklichkeit als Hervorbringung in Hervorbringung, als stabiler und zugleich – »dennoch« sollte man stattdessen im ontologischen Kontext schreiben – sich immer verändernder Ausdruck dieses relationalen Vollzuges. Die Relation, die Interaktion, das dynamische und nichtsubstantielle Dazwischen wird die neue entscheidende Kategorie. Das Wahrnehmen, als das Sinnliche des hier kurz skizzierten kognitiven Prozesses der Hervorbringung von Welten, des Emergierens relationaler Wirklichkeit, so wie die »stabilen Qualitäten«, die situativ aktualisierten Möglichkeiten, die diese Wirklichkeit konstituieren, bilden zugleich – notwendigerweise zugleich, da sie voneinander untrennbar sind – den Gegenstand dieser Forschung. Was hat uns zu dieser Position geführt? Ein Grund ist rein pragmatischer Art und ergibt sich aus dem oben beschriebenen Kognitionsbegriff: im Kontext dieses Kognitionsbegriffs wird die Anzahl der Gestaltungsmöglichkeiten größer, da Gestaltung nicht erst in der Produktion anfängt, sondern bereits im Wahrnehmen.10 Das Konzept des Wahrnehmens als ein in der Relation zwischen Individuum und Umwelt stattfindender autopoietischer Prozess darf nicht im Sinne der Passivität des beteiligten Individuums verstanden werden. Im Gegenteil ist von der aktiven Teilnahme des Wahrnehmenden am Wahrnehmungsprozess auszugehen. Wahrnehmen ist für den Wahrnehmenden eine

10 Diese Entscheidungsstrategie – dem Foersterschen kategorischen Imperativ entsprechend: »Handelt stets so, dass die Anzahl von Möglichkeiten wächst« – bildet einen der weniger gangbaren Wege, wenn der Bezug auf eine ontologisch gegründete Wahrheit nicht (mehr) möglich ist.

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»verkörperte und in der Umwelt situierte«11, kreative Aktion. »Perceiving is a way of acting«. Präziser ausgedrückt: »we enact our perceptual experience; we act it out«.12 Und diese Aktion ist bereits als Gestaltung der Umwelt zu verstehen: als konstituierende Umweltgestaltung, d.h. als der möglichen physikalischen Veränderung der Umgebung zugrunde liegende Gestaltung.13 Methoden des Gestaltens durch das Wahrnehmen: Interviews, Hörbögen, Wahrnehmungsperspektiven Ein weiterer, praktischer Grund, um mit diesem Wahrnehmungskonzept zu agieren, ist die Bestätigung im Kontext konkreter Forschungsprojekte. Dies lässt sich am besten mit einem Beispiel darlegen.14 Eine Gruppe von Menschen, die in Berlin leben, plant ein Bauprojekt: Sie wollen ihre neuen Wohnhäuser in der Nähe eines Landschaftsparks am Rande der Stadt bauen. Als wir sie zum ersten Mal interviewten, war eines der grundlegenden, unumstrittenen Elemente der gewünschten Klangumwelt ihres neuen Zuhauses: die Stille. In den folgenden Interviews haben wir versucht herauszufinden, was sie mit Stille meinten. Wir luden sie dazu ein, auf ihr aktuelles Umfeld – nach unseren präzisen Anweisungen – zu hören, um die »Nicht-Stille«, die sie gerne in ihrem neuen Wohnumfeld durch »Stille« ersetzen wollten, bewusst zu erfahren. Dieser Erfahrungsprozess des Zuhörens, als bewusster Eintritt in eine Klangumwelt15 – im Laufe dessen sich ihr Konzept von Stille als eine extrem idealisierte und kaum erfahrene Vorstellung erwies –, war ein Prozess transformativer Gestaltung. Durch eine Erweiterung ihres Bewusstseins der eigenen Klangumwelt wurde diese auf zwei Ebenen verändert, gestaltet: auf Ebene ihrer Gegenwart und auf Ebene ihrer Zukunft. Ihre gegenwärtige Klangumwelt wurde eine Umwelt, geprägt

11 Im englischen Original »embodied and environmentally situated« – Alva Noë über das Konzept von »enaction« bei Varela, Thompson und Rosch, vgl. Noë 2004, 233. 12 Alva Noë über seine eigene Deutung des Konzeptes von »enaction«, vgl. ebd., 1 13 Dieser Logik entsprechend ist die Argumentation von Francesco Careri über das Gehen als erste Form der Architektur zu verstehen. Obwohl die Gehenden keine materielle Veränderung ihrer Umwelt durch das Gehen verursachen, verwandeln sie mittels ihrer körperlich-kognitiven, symbolisierenden Aktion die Natur in Landschaft, siehe dazu Careri 2002. 14 Das folgende Beispiel entstammt dem Projekt »Akustische Gestaltung Johannisthal«. Für eine Beschreibung des gesamten Projekts siehe Arteaga, Kusitzky, Gehr 2007, 22-24. 15 Mit der Verwendung dieses Ausdrucks weisen wir auf den Vortrag von Joseph Beuys »Eintritt in ein Lebewesen« (Kassel, 6.8.1977, vgl. Beuys 2004) hin, in dem er seine erkenntnistheoretische Position darstellt. Diese ist unserer verwandt.

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durch eine gewisse, sicherheitsstiftende ... Stille (!), die Präsenz spielender Kinder im Hof, das Treppenhaus rauf- und runtergehende und sich unterhaltende Nachbarn und gar regelmäßig fahrende Straßenbahnen. Ihre zukünftige Klangumwelt wurde hingegen eine, in der diese neu entdeckte bzw. kognitiv gestaltete Stille – die nicht mehr die idealisierte Absenz von Klang war – dadurch erweitert wurde, dass bekannte – besser: mit der Zeit kennenzulernende – Vögel und Schafe die fortwährend vorbeifahrenden anonymen Fahrzeuge ersetzten. Aktives Zuhören, d.h. bewusste Ausübung des Wahrnehmens, gestaltete die Wirklichkeit mit, die dem »produzierenden Gestalten« vorausgehen sollte. Wahrnehmung war das notwendige Entwerfen vor dem Entwerfen.

Diese Fallbeschreibung zeigt eine Methode, mit der eine Klangumwelt erforscht werden kann und zugleich durch bewusstes Wahrnehmen gestaltet wird: das Interview. Diese Methode wird in der Auditiven Architektur nicht nur dazu verwendet, Informationen über die Klangumwelt durch die interviewte Person zu gewinnen, sondern vor allem, um die Personen selbst in den Gestaltungsprozess mit einzubeziehen. Dem oben beschriebenen Wahrnehmungskonzept entsprechend, nimmt der Interviewer nicht die Position eines distanzierten Forschers ein, sondern versucht Einsicht in die Einsicht des Interviewten zu gewinnen, um ihm einen Rahmen für die Erweiterung und Vertiefung seiner Wahrnehmung zu geben. Diese Interviewsituation bildet folglich ein Moment des

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Miteinander-Eindringens in die Klangumwelt. Besonders wenn das Interview nicht vor Ort stattfindet, ist es wichtig, eine Vielzahl von Interviews zu führen, damit alle Beteiligten die unmittelbare Erfahrung der erforschten Klangumwelt der Erfahrung in der Interviewsituation gegenüberstellen können. [...] Die Autos, der Fluglärm oder die Güterzüge, eins hört man immer und sie sind auch fast äquivalent. Es sind richtige Teppiche, die alles zudecken, was die positiven Klanggefühle auslösen oder überhaupt wahrnehmen lassen könnte. [...] Wenn ich durch diesen Flug- oder Güterzuglärm dann wieder die Kirchenglocken höre, irritiert mich das eher. Dann denke ich: »Ach, diese falsche Dörflichkeit!« Es stimmt also nicht überein. Es ist [...] eine Überlagerung von Dorf und totaler Mobilität, die für mich eine solche Falschheit im Klangbild ergibt. Aber es ist nicht so, dass Sie den Klang der Kirchenglocken generell nicht mögen? Nein! Die Divergenz. Bei uns in Zürich-Hottingen gibt es einen Park, den Kluspark bei einem alten Kurhaus, heute ist es ein Altersheim. Dieses ist auf drei Seiten umschlossen und da gibt es auch eine Glocke. Dort ist es innen total ruhig und total schön. Es ist eine Welt für sich, eine Insel, auch klanglich. [...] 16 Eine weitere Methode für die Erforschung von Klangumwelten besteht darin, erstens Vorgehensweisen ausfindig zu machen, welche es ermöglichen, sich die unmittelbare Wahrnehmung bewusst zu machen, und zweitens Strategien zu entwickeln, diese sprachlich zu erfassen. Die erste Aufgabe lässt sich ausschließlich durch die Anwendung von »first person strategies« erfüllen, d.h. durch ein situatives Bewusstwerden im Hier und Jetzt über die eigene sinnliche Wirklichkeitshervorbringung. Diese Vorgehensweise kann durch die Apriori-Festlegung von Wahrnehmungsperspektiven unterstützt werden, da jede Wahrnehmung, wie am Beispiel des Sehens – und noch klarer des Photographierens – einfach festzustellen ist, einen Wahrnehmungsgegenstand und eine Wahrnehmungsperspektive voraussetzt. Ausgangspunkt dieser Bestimmung von Wahrnehmungsperspektiven sind zwei von der Entwicklungspsychologie beschriebene Organisations- bzw. Bewusstseinsmodi: der Aktionsmodus und der Rezeptionsmodus.17

16 Dieser und der nächste kursiv gedruckte Teil entstammen einem Interview, das im Rahmen des bereits erwähnten Projektes »Auditive Langzeitbeobachtung Schlieren« von der Forschungsgruppe Auditive Architektur mit einer in Schlieren arbeitenden Person geführt wurde. 17 Vgl. Deikman 1973.

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Während der Aktionsmodus als »verbal, analytical, sequential, and logical« charakterisiert wird, ist der Rezeptionsmodus »nonverbal, holistic, nonlinear and intuitive«.18 Die Wahl eines dieser Modi für die Ausübung bewussten Wahrnehmens bedeutet eine weitere Positionierung, welche die Basis für weitere, restriktivere Stellungen – die Wahrnehmungsperspektiven – bildet. Wenn man den Aktionsmodus wählt, kann man z.B. die Aufmerksamkeit beim Hören auf die Unterscheidung physikalischer Parameter oder auf die Identifizierung der Klangquellen fokussieren. Wenn man zum Rezeptionsmodus umschaltet, kann man z.B. die emotionale Reaktion auf die erforschte Klangumwelt besonders beachten. Die zweite Aufgabe in diesem Bereich, die Verbalisierung des Wahrgenommenen, basiert selbstverständlich auf der ersten und zielt darauf ab, Begriffe und begriffliche Konstruktionen zu finden und/oder zu kreieren, die erstens als angemessene, stimmige Ausdrücke des Wahrgenommenen seitens des Wahrnehmenden befunden werden und zweitens als Grundlage sprachlicher Kommunikation dienen können. Diese Verbalisierung bildet den Ausgangspunkt für reflexive Forschung, da Reflexion nur auf begrifflicher Basis erfolgen kann. Zwei Präzisierungen bezüglich des Verhältnisses zwischen bewusstem Wahrnehmen und Verbalisieren sind für die Charakterisierung dieser Forschungsrichtung wichtig. Die erste bezieht sich auf die kognitive Bewertung beider Verfahren. Wir betrachten die noch nicht verbalisierte, aber im Bewusstsein durch Wahrnehmen entstandene Klangumwelt als Erkenntnis, d.h. sie erreicht diese Kategorie nicht erst durch ihre sprachliche Erfassung, sondern durch ihre konstitutive Präsenz im Bewusstsein. Die zweite Präzisierung entspricht dem enthierarchisierenden Charakter der ersten und bezieht sich auf das Ineinanderfließen beider Verfahren. Wie das Wahrgenommene unausweichliche Basis für die Verbalisierung ist, konditionieren und intensivieren die gefundenen – sogar erfundenen – Begriffe den Wahrnehmungsprozess, indem sie z.B. zur genaueren und inspirierenderen Formulierung der Wahrnehmungsperspektiven beitragen oder zur Erarbeitung von »Hörbögen« – für das Zuhören konzipierte Fragebögen – führen, die als Hilfsmittel für die Feldforschung dienen. Klingt Schlieren für Sie lebendig? Nein, zu wenig. Es sind Maschinen, also die Mobilität, die klingt. Und die menschliche Lebendigkeit, die Lebendigkeit des Wassers oder des Grünraums wird permanent zugedeckt von Mobilitätslärm.

18 Bortoft 1996, 25.

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Klingt die Stadt Schlieren in Ihrer Wahrnehmung urban? Ich würde sagen, nein, sie klingt Agglo.19 Weil sich alles an der Mobilität orientiert, klingt es auch so. Urbanität wäre für mich – ich habe es auch für meinen Wohnstandort in Zürich so gewählt – ein Ort, an dem es eine Ausgewogenheit gibt, wo menschliche Geräusche, Natur- und Mobilitätsgeräusche nebeneinander existieren, wo man je nach Insel, in der man sich befindet, das eine oder das andere hören kann. Die hier skizzierten methodischen Ansätze – Interview, bewusstes Wahrnehmen und Verbalisierung – bilden die Grundlage eines Prozesses kollektiven Forschens, in dem auditive Architekten nicht die Rolle der »participant observators« einnehmen, sondern die der Teilnehmer an einer »co-operative inquiry«.20 Dementsprechend besteht das zentrale Element der Forschung darin, Rahmenbedingungen zu konzipieren und zur Verfügung zu stellen, die den Zugang zur wahrgenommenen Klangumwelt ermöglichen bzw. vereinfachen. Interviews, Hörbögen und die Formulierung von Wahrnehmungsperspektiven sind funktional identisch: sie bilden Rahmenbedingungen der Wahrnehmung. Das Wahrnehmen mit elektroakustischen Medien erforschen: Vermessung, Aufnahme-Wiedergabe, Simulation Der Einsatz elektroakustischer Technologie bei Forschungsprojekten der Auditiven Architektur erweitert die Konzeptions- und Realisierungsmöglichkeiten der genannten Rahmenbedingungen der Wahrnehmung. Die elektroakustischen Medien können hierbei in drei Bereichen verwendet werden: Vermessung, Aufnahme-Wiedergabe und Simulation. Bei der unmittelbaren Erforschung einer Schallumgebung werden ihre physikalischen Parameter vermessen. Diese objektiven Daten, wie aus der bisher skizzierten Forschungsmethodik einfach abzuleiten ist, nehmen keine besonders relevante Stellung im Rahmen dieser Arbeitmethodik ein. Sie können in der Beschreibung einer Klangumwelt als zusätzliche Daten angeführt werden, welche die Vergleichbarkeit mit bestimmten Standards, wie z.B. Lärmpegel, ermöglichen. Zudem können sie dazu dienen, grundlegende Aspekte des Wahrnehmens im Generationsprozess von verschiedenen Klangum-

19 Agglo ist die Abkürzung für Agglomeration. In der Schweiz werden zusammenhängende Gebiete mehrerer Gemeinden als Agglomeration bezeichnet, sofern sie bestimmte vom Bundesamt für Statistik definierte Kriterien erfüllen. Ein Hauptkriterium ist dabei, dass mindestens ein Sechstel ihrer Erwerbstätigen in der Kernzone (in diesem Fall Zürich) arbeiten. 20 Vgl. u.a. Heron 1996.

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welten zu identifizieren, welche die Ursache von Unterschieden zwischen diesen und der vermessenen Schallumgebung sein können. Die Ergebnisse solcher Messungen können außerdem als Referenz für die angemessene Wiedergabe von Aufnahmen architektonischer Schallumgebungen oder für die Produktion von Simulationen benutzt werden. Die technischen Aufnahmen einer architektonischen Schallumgebung und ihre Wiedergabe unter kontrollierten Bedingungen – z.B. durch verschiedene Lautsprechersysteme im Studio oder durch Kopfhörer in einem Raum, der in einem gewählten Verhältnis zum Aufnahmeraum steht, z.B. mit visuellem, aber ohne direkten auditiven Kontakt – werden als Operation der Dekontextualisierung eingesetzt. Diese Verfahren zielen auf eine Subtraktion bzw. Annullierung anderer sinnlicher Komponenten der Situation, in der sich die Klangumwelt entfaltet, und nicht auf ihre Abbildung ab. Dadurch wird eine Fokussierung auf bestimmte Aspekte des aufgenommenen Schalls ermöglicht, die sich dem unmittelbaren Hören gegebenenfalls entziehen könnten. Das Wahrnehmen einer Wiedergabe darf aber auf keinen Fall dem Wahrnehmen der aufgenommenen Schallumgebung selbst gleichgesetzt werden. Wiedergabe ist immer Simulation und muss als solche behandelt werden. Eine Simulation kann auch mit anderen Mitteln erzeugt werden, z.B. durch digitale Synthese – Auralisation – oder durch Komposition einzelner Klangelemente. Diese Art Simulationen können, gleichermaßen wie das Verfahren Aufnahme-Wiedergabe, als Hilfsmittel in der Interviewführung Verwendung finden. Die Erinnerungen an und die Vorstellungen von einer Klangumwelt werden so durch Einsatz einer Simulation hinterfragt. Die unmittelbare Auseinandersetzung mit künstlich erzeugten Schallumgebungen kann dem Interviewten zu einer Verfeinerung seiner Klangbeschreibung verhelfen. Dieses Verfahren bildet zugleich eine nützliche Basis für die im folgenden Teil des Textes beschriebenen Modalitäten der »produktiven Gestaltung«.

2. Klangumwelten gestalten Auf dem vorangegangenen Wahrnehmungsansatz aufbauend, wenden wir uns nun dem Gestaltungsziel sowie den Strategien und Methoden für die »produktive Gestaltung« von Klangumwelten zu. Gestaltungsziel Jedem architektonischen Vorhaben liegt ein Bauprogramm zugrunde, welches die Anforderungen formuliert, denen das geplante Objekt gerecht werden soll. Neben konkreten Vorgaben, wie z.B. dass das Becken eines Freibads gleichzeitig 50 Schwimmer aufnehmen können muss oder dass das Restaurant eines neuen Hotels eine Küche bestimmter

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Größe haben soll, kann das Bauprogramm auch weitergehende, weniger fassbare Qualitäten beschreiben. Ein Beispiel hierfür wäre das »würdevoll« aussehende Portal eines Repräsentationsbaus oder die »leicht« wirkende Brücke, wie sie in der Diskussion um das Dresdner Elbtal gefordert wurde.21 Zu Beginn des Entwurfsprozesses muss aus der Gesamtheit dieser Anforderungen eine räumliche Ganzheit konzipiert werden. Allerdings ist nur ein Entwurfsprozess, der von einem Konzept der zu gestaltenden architektonischen Umwelt als einer multisensorischen, synästhetischen Situation ausgeht, in der Lage, diese Aufgabe erfolgreich zu erfüllen, d.h. eine Architektur zu produzieren, die in ihrer sinnlichen Erfahrung die Qualitäten erkennen lässt, die angestrebt wurden. Daraus folgt, dass in der Konzeption wie auch in der Umsetzung die Architektur unbedingt auch als Klangumwelt gedacht werden muss.

21 In dieser Diskussion geht es um die mögliche Zerstörung einer von der UNESCO als Welterbestätte eingestuften Kulturlandschaft durch den Bau der Waldschlösschenbrücke über das Dresdner Elbtal. Nähere Informationen zur Kritik am Bau der geplanten Brücke sind auf folgender Website zu finden: »Die Waldschlößchenbrücke im Welterbe Dresdner Elbtal – Informationen der Kritiker des Verkehrszuges«, Koalition gegen die Waldschlößchenbrücke, http://www.waldschloesschenbruecke.de, 27.2.2008.

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Dieser Ansatz ist leider in der derzeitigen architektonischen Praxis selten festzustellen. Die Beschäftigung mit Klang beschränkt sich in der Regel auf die klassischen Aufgaben der Bau- und Raumakustik, d.h. auf die Festlegung der primären, physikalisch messbaren Raumqualitäten, ohne die Klangwahrnehmung, wie sie in diesem Text beschrieben wird, zu berücksichtigen. Denn in Bezug auf das Hören ist man in der Architektur üblicherweise der Auffassung, das zu gestaltende Objekt sei der Schall, weshalb dessen physikalische Erzeugung und Ausbreitung im Vordergrund der gestalterischen Maßnahmen steht. Demgegenüber geht die Auditive Architektur davon aus, dass der Gestaltungsgegenstand die Klangumwelt sein muss. Die Klangumwelt entsteht im Wahrnehmungsprozess und wird durch den Wahrnehmenden und durch die Schallumgebung in der er sich befindet, bedingt. Wie bereits beschrieben wurde, nimmt der Wahrnehmende aktiv an diesem Prozess teil und gestaltet somit das Wahrgenommene – die Klangumwelt – mit. Diesem kognitiven Konzept folgend ist eine dritte Person, die Einfluss auf die Klangumwelt nehmen will – z.B. der auditive Architekt – zwar auch Gestalter, sie kann jedoch lediglich auf die Bedingungen für die Entstehung der Klangumwelt einwirken. Es ist also ein »indirektes Gestalten«, ein Gestalten der Rahmenbedingungen der Wahrnehmung. Hervorzuheben ist die diesbezügliche Einzigartigkeit jedes architektonischen Projektes. Sowohl die Wahrnehmenden als auch die Schallumgebung sind für jedes Projekt neu festzustellen. Zudem ist die Klangumwelt aufgrund der dynamischen Wechselwirkung zwischen diesen beiden Komponenten ständig im Wandel. Diese Aspekte – also die Originalität der Wahrnehmenden und der Schallumgebung sowie deren dynamische Beziehung zueinander – erfordern, dass die Maßnahmen und Mittel zur Gestaltung der Rahmenbedingungen der Wahrnehmung für das jeweilige Projekt spezifisch gewählt werden müssen. Hier zeigt sich erneut der Gegensatz zur Bau- und Raumakustik, in der die Gestaltung meist durch die Anwendung standardisierter Verfahren erfolgt. Gestaltungsmaßnahmen – Gestaltungsmittel Zwei Gruppen von Maßnahmen können hinsichtlich ihrer Eigenschaften in der Auditiven Architektur unterschieden und einige Besonderheiten damit verbundener Gestaltungsmittel22 umrissen werden. Die Unterscheidung wird zwischen jenen Maßnahmen getroffen, welche die Schallerzeugung und -ausbreitung betreffen, und denen, die direkten Einfluss auf die wahrnehmende Person nehmen. Zu der erstgenannten Gruppe zählen zunächst die Maßnahmen, welche die Schall-

22 Als Gestaltungsmaßnahme verstehen wir die abstrakt formulierten Gestaltungselemente einer Schallumgebung oder Klangumwelt. Das Gestaltungsmittel bezeichnet die konkrete Umsetzung der Maßnahme. Eine Gestaltungsmaßnahme kann durch unterschiedliche Mittel umgesetzt werden.

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schwingungen durch die Beschaffenheit von Objekten formen. Ein Beispiel für eine sehr gängige Gestaltungsmaßnahme dieser Art ist die Reduzierung der Nachhallzeit in Räumen. Das kann auf unterschiedliche Weise erreicht werden, in den meisten Fällen kommen jedoch frequenzabhängige Schallabsorber an Decken und Wänden als Gestaltungsmittel zum Einsatz. Grundsätzlich stehen dem auditiven Architekten aber zwei Typen von Gestaltungsmitteln für die Umsetzung dieser die Beschaffenheit von Objekten formenden Maßnahmen zur Verfügung: die Schall erzeugenden Maßnahmen, also alle Mittel, die eine akustisch nicht wirksame Energieform in Schallenergie umwandeln, und die Schall modifizierenden Maßnahmen, z.B. durch Reflexion, Absorption oder auch Transmission. Die Frequenzabhängigkeit spielt dabei eine wesentliche Rolle. Eine weitere Maßnahme, die zu der ersten Gruppe zählt, ist die Ergänzung einer Schallumgebung durch zusätzliche Schallereignisse, beispielsweise durch das Wasserplätschern beim Aufstellen eines Brunnens. Gestaltungsmittel können hierbei die Konstruktion des Brunnens sein, seine räumliche Dimensionierung oder auch die Menge des durchfließenden Wassers. Diese genannten Gestaltungsmaßnahmen und -mittel werden auch in der klassischen Bau- und Raumakustik verwendet, wenngleich die Zielsetzung der Auditiven Architektur – wie bereits beschrieben – eine andere ist. Während die Bau- und Raumakustik konkrete Problemstellungen in Hinsicht auf standardisierte Ziele bearbeitet, indem sie ein störendes Geräusch eliminiert oder die Akustik eines Konferenzraums optimiert, bildet die Gesamtheit der Maßnahmen und Mittel der auditiven Architekten den Entwurf für eine zu kreierende Klangumwelt, also für die Rahmenbedingungen der Wahrnehmung. Eine Maßnahme, die in die erste Gruppe fällt, verdeutlicht den Unterschied: die Einflussnahme auf das klangliche Verhalten der in der architektonischen Umgebung Anwesenden. Durch kulturelle Gepflogenheiten wird beispielsweise erreicht, dass in Bibliotheken eine andächtige Ruhe herrscht, laute Geräusche möglichst vermieden werden und die Besucher sich nur mit gedämpfter Stimme unterhalten. Solche kulturellen Konditionierungen gehören zur Gesamtheit der Maßnahmen und Mittel, die dem auditiven Architekten zur Verfügung stehen, um Einfluss auf die Form des Auftretens der Schallereignisse zu nehmen. Das genannte Beispiel demonstriert außerdem, dass es zur Vermeidung von Schallereignissen nicht zwangsläufig einer Schallschutzwand oder ähnlichem bedarf. Hinzu kommt ein weiteres Merkmal, das einige Aspekte von Schallumgebungen kennzeichnet: sie haben – wie z.B. das gespannte Schweigen der Besucher eines symphonischen Konzertes unmittelbar vor dem Beginn der Aufführung zeigt – einen stark temporären Charakter. Diese Eigenschaft muss von auditiven Architekten mit berücksichtigt werden, ist aber auch gezielt als zusätzliches Gestaltungsmittel einsetzbar. Hierzu ein Beispiel aus der Projektarbeit der Forschungsgruppe Auditive Architektur der Universität der Künste Berlin.23

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Der Entwurf für die Gestaltung der Klangumwelt der aus einem Raum bestehenden UdK-Cafeteria sieht eine Unterteilung in mehrere Zonen vor. Damit soll auf die heterogene und stark tageszeitlich geprägte Nutzung der Cafeteria eingegangen werden. Kern des Entwurfs ist die Übersetzung des zeitlichen Verlaufs ins Räumliche. So ist für die jeweilige Nutzung der Cafeteria und die damit verbundenen Klänge je ein Bereich vorgesehen, der dafür akustisch speziell gestaltet ist und die Klänge entsprechend dimensioniert. Auf diese Weise ergeben sich im Laufe des Tages immer neue klanglichräumliche Konstellationen in der architektonischen Umwelt der Cafeteria.

Die Maßnahmen der – oben genannten – zweiten Gruppe agieren mit dem Wahrnehmen der Hörenden selbst. Sie können unterschiedlicher Art sein, beeinflussen jedoch niemals den Schall an sich, sondern ausschließlich das Wahrnehmen. Sie sind als Angebot der Gestalter zu verstehen und nicht als Versuch der Manipulation. Einige Gestaltungsmittel zur Umsetzung der Maßnahmen dieser Gruppe – das Interview, die Hörbögen und Wahrnehmungsperspektiven – wurden bereits in den Textabschnitten über das Wahrnehmen

23 Der Entwurf für die Gestaltung der Klangumwelt der Cafeteria im UdK-Gebäude in der Straße des 17. Juni in Berlin wurde 2007 im Zuge ihrer kompletten Neuplanung angefertigt.

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aufgeführt. Im Folgenden sollen nun einzelne Gestaltungsmaßnahmen skizziert werden, die durch das Anwenden dieser sowie weiterer Mittel umgesetzt werden können. Eine erste Maßnahme der zweiten Gruppe besteht darin, das Wahrnehmen auf bestimmte Aspekte der Klangumwelt zu bündeln. Ein konkretes Beispiel zur Umsetzung dieser Maßnahme wäre eine Bank als Gestaltungsmittel, die an einer klanglich interessanten Stelle der architektonischen Umgebung platziert wäre. Durch die Möglichkeit des Sitzens und Verweilens bietet der Gestalter dem Hörenden die Gelegenheit, den Klang dieser Stelle gezielt und durch längeren Aufenthalt – das könnte mit einer besonders bequemen Bank erreicht werden – auch detailliert zu erfahren. Auch Aufforderungen zum Hinhören – z.B. mittels des Interviews – ermöglichen es dem Hörenden, bestimmter Aspekte der Klangumwelt gewahr zu werden. Auch dieser Text kann dazu beitragen, Aspekte einer Klangumwelt in den Vordergrund zu rücken: indem wir beispielsweise Sie, verehrter Leser, bitten, sich auf all die Klänge der architektonischen Umwelt, in der sie sich gerade befinden, zu konzentrieren, die technischen Ursprungs sind. Eine weitere Gestaltungsmaßnahme ist das Ausblenden einzelner Elemente der Klangumwelt. Um das zu erreichen, kann der Gestalter beispielsweise die Konzentration des Hörenden auf andere Segmente der Klangumwelt lenken. Durch diese Verlagerung der Aufmerksamkeit kann es gelingen, die besagten Elemente in den Hintergrund zu drängen oder sogar auszublenden. Einige Gestaltungsmaßnahmen der zweiten Gruppe agieren mit der Zu- und Einordnung von Aspekten der Klangumwelt, also damit, wie der Wahrnehmende sie deutet und somit neu gestaltet. Z.B. kann ein dem Hörer bekannter Klang in einem unüblichen Zusammenhang von ihm auf neue Weise interpretiert und bewertet werden. Eine solche Neuinterpretation kann im Kontext zweier unterschiedlicher Situationen stattfinden. Zum einen kann ein Aspekt der Klangumwelt durch die Gestaltung des architektonischen Umfeldes »inszeniert« werden, d.h., ein vielleicht unangenehmes Rauschen einer Lüftung könnte mittels entsprechender Visualisierung als Symbol für Frischluft interpretiert werden. Zum anderen kann ein klangliches Element, das zu einer bestehenden Schallumgebung hinzugefügt wird, aber unüblich für das Umfeld ist, durch dieses anders gedeutet werden, als es im gewohnten Kontext geschähe. Eine zusätzliche Maßnahme besteht darin, dem Wahrnehmenden offene Deutungsmöglichkeiten für bis dahin ungehörte Aspekte der Klangumwelt zu bieten, indem das Umfeld so gestaltet wird, dass die Klangquelle unentdeckt oder unerkannt bleibt. Die Aufzählung der verschiedenen Maßnahmen und Mittel kann einen Eindruck davon gegeben, wie vielschichtig der auditive Architekt gestalterisch auf die Klangumwelt einwirken kann – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Alle Maßnahmen und Mittel, die vom auditiven Architekten für ein Projekt gewählt und entwickelt werden, fließen strukturell gegliedert in den architektonischen Ausführungs-

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plan ein und sind immer in ein Gesamtkonzept eingebettet, das die architektonische Umgebung als multisensorische, synästhetische Situation voraussetzt.

Dem kollektiven Charakter dieser Forschung entsprechend werden die Entscheidungen über Maßnahmen und Mittel für jedes Projekt nicht nur von den auditiven Architekten getroffen, sondern in einem Austauschprozess aller Beteiligten. In den beiden miteinander strukturell und inhaltlich verbundenen Bereichen der Auditiven Architektur – Forschung und Gestaltung – sind Identifizierung, Konzeption und praktische Entwicklung integrativer Forschungs- und Gestaltungsprozesse keine sekundäre, dem erwähnten Ziel untergeordnete Aufgabe, sondern ein weiterer, notwendiger Forschungs- und Gestaltungsgegenstand. Diese ethische Stellungnahme ist nicht die Antwort auf eine »prinzipiell unentscheidbare Frage«, d.h. ist nicht eine Entscheidung metaphysischer Art.24 Sie ergibt sich aus der eingangs vorgenommenen kognitionstheoretischen Positionierung25, konkreter: aus dem Versuch, kohärent mit der Definition der Klangumwelt als ein durch das Wahrnehmen des einzelnen Individuums entstehendes Phänomen zu handeln. Die

24 Von Foerster 1990. 25 Bezüglich dieser Art von kausalem Verhältnis zwischen Kognition und Ethik siehe Varela 1994.

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auditiven Architekten, als eine Art von Forschern und Gestaltern »zweiter Ordnung«, sind deshalb nicht in der Lage, autark – d.h. ohne aktive Teilnahme der anderen an jedem Projekt beteiligten Wahrnehmenden – zu Forschungsergebnissen zu kommen oder einen Gestaltungsentwurf zu diktieren.

3. Artistic Research Diese Art des Forschens durch Gestaltung und eines Gestaltens durch Forschung, wie es in der Auditiven Architektur betrieben wird, stellt ein Beispiel des »artistic research«26 dar und trägt damit zur Bestimmung dieser Forschungsmodalität bei. Dies bedeutet dreierlei: Erstens sind Projekte der Auditiven Architektur eindeutig kognitionsorientiert. Die Untersuchung des für jedes Projekt klar eingegrenzten Forschungsgegenstandes zielt auf seine komplexe, originale und operative Deutung ab. Sie ermöglicht den Forschenden sowie denjenigen, die – wie oben erklärt – in unmittelbaren Kontakt zum Forschungsgegenstand stehen, seine vielschichtige Erfassung. Zweitens: die Wahrnehmung – unumgänglicher Bestandteil jeglicher künstlerischen Tätigkeiten – steht im Mittelpunkt der Forschung. Das Wahrnehmen, so wie es dieser Text konzeptuell umreißt, bildet den Verknüpfungsraum zwischen Kognition und Praxis, da es »intrinsically active« und »intrinsically thoughtful«27 ist. Die Forschung – dies ist der dritte Aspekt – erfolgt in der Praxis, sie ist »practice based«. Erkenntnisse, die aus der Forschung gewonnen werden, ergeben sich zuerst praxisimmanent, d.h. in der Gestaltung der Rahmenbedingungen bewussten Wahrnehmens und in der Ausübung dieser als Forschungsmethode. Die Gleichwertigkeit dieser zwei Tätigkeiten bezüglich der Wissensgewinnung impliziert eine Umdeutung des Theoriebegriffs, die unverzichtbarer Moment der artistic research ist. Theorie bildet sich in der Praxis, besser: Theorie wird praktiziert. Sie ist – ihrer ursprünglichen Bedeutung entsprechend – Akt bewussten Beobachtens. Alle Fotografien dieses Textes entstammen dem Forschungsprojekt »Fotografische Langzeitbeobachtung Schlieren« der Zürcher Hochschule der Künste.

26 Es gibt keine gängige deutsche Bezeichnung für diese Forschungsmodalität. Der englische Begriff wird gegenwärtig im Rahmen von internationalen Forschungsprojekten (»Sensuous Knowledge«, Kunsthøgskolen i Bergen, www.khib.no/khib/ku_fou/konferanser_seminarer/sensuous_knowledge, 27.2.2008) bestimmt. Siehe dazu: Hannula, Kiljunen 2002. 27 Noë 2004, 3

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4. Quellen Arteaga, Alex, Kusitzky, Thomas, Gehr, Christoph (2007): Auditive Architektur, in: Dérive. Zeitschrift für Stadtforschung, H. 27, 22-24. Beuys, Joseph (2004): Eintritt in ein Lebewesen, Wangen/Allgäu. Bortoft, Henri (1996): The Wholeness of Nature. Goethe’s way of Science, Edinburgh. Careri, Francesco (2002): Walkscapes. Walking as an aesthetic practice, Barcelona. Deikman, Arthur J. (1973): Bimodal Consciousness, in: Ornstein E. Robert (Hg.), The Nature of Human Consciousness, San Francisco. Die Waldschlößchenbrücke im Welterbe Dresdner Elbtal – Informationen der Kritiker des Verkehrszuges (2008), in: http://www.waldschloesschenbruecke.de/, 27.2.2008. Foerster, Heinz von (1990): Wahrnehmen wahrnehmen, in: Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Stefan Richter (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig, 434-443. Fotografische Langzeitbeobachtung Schlieren 2005-2020 (2008), in: http://beobachtung-schlieren.ch/, 27.2.2008. Hannula, Mika, Kiljunen, Satu (2002): Artistic Research, Helsinki. Heron, John (1996): Co-operative Inquiry: Research into the Human Condition, London. Maturana, Humberto R., Varela, Francisco J. (1980): Autopieses an Cognition. The Realization of the Living, Boston. Noë, Alva (2004): Action in Perception, Cambridge, MA. Pörksen, Bernhard (2002): Gewissheit der Ungewissheit. Gespräche zum Konstruktivismus, Heidelberg. Sensuous Knowledge (2008), in: http://www.khib.no/khib/ku_fou/konferanser_seminarer/sensuous_knowledge/, 27.2.2008. Thompson, Evan: Mind in Live (2007): Biology, Phenomenology and the Science of Mind, Cambridge, MA. Varela, Francisco J., Thompson, Evan, Rosh, Eleanor (1991): The Embodied Mind: Cognitive science and human experience, Cambridge, MA. Varela, Francisco J. (1994): Ethisches Können, Frankfurt a. M.

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Am Umschlagplatz Klang Anmerkungen zum Experimentellen in der Musik Daniel Ott

Vor etwa zwanzig Jahren kam ich zum ersten Mal mit einem offensiven Gebrauch des Begriffs »Experimentelle Musik« in Berührung – durch Josef Anton Riedl. Auf seine liebevoll insistierende und in unregelmäßigen Abständen gestellte Frage: »Hast du was Neues, hast du was Außergewöhnliches gesehen oder gehört?«, und meine oft vagen, manchmal konkreten Antworten folgte ein knappes: »Das ist nicht experimentell genug«, oder: »Das gab’s schon in den 50er Jahren« – manchmal aber auch: »Das klingt sehr gut, sehr experimentell … mach’s besser!« Seither ist für mich der Ausdruck »Experiment« im Zusammenhang mit Klang untrennbar mit dem Komponisten und Veranstalter Josef Anton Riedl verbunden. In seiner kompositorischen Arbeit experimentiert er seit 1950 mit den unterschiedlichsten Medien und Materialien (Lautgedichte, Musique concrète, Klang / Licht / Duft, Glas, Papier, Projektionen, Zeichnen / Klatschen, elektroakustische Musik, Film, Schlagzeug, Optische Lautgedichte etc.) und setzt diese immer wieder neu miteinander in Beziehung. Diesen Ansatz verfolgt er auch als Veranstalter: Seit mehr als vierzig Jahren organisiert er in München die »Klang-Aktionen« mit experimenteller Musik (u.a. Neue Musik in der Schule, außereuropäische Musik, sichtbare Musik, elektroakustische Musik, Musik für neu entwickelte Instrumente etc.). Unbestechlich und mit sicherem Gespür findet er Unkonventionelles, Niegehörtes – das Experimentelle als Auswahlkriterium führt immer wieder zu überraschenden Programmkombinationen. Durch den parallelen Aufbau verschiedener Programmblöcke und den kunstvollen Einsatz von Licht gelingen manchmal fließende, manchmal nahtlose Übergänge zwischen den unterschiedlichsten Musikkonzeptionen und erinnern oft mehr an eine filmische Atmosphäre als an ein Konzert. Durch die gewonnene Nahtlosigkeit werden die einzelnen Programmteile in neuen Zusammenhängen gehört und sind ihrerseits in der Lage, Beziehungen über ihre abgeschlossenen Werkgrenzen hinaus aufnehmen zu können.

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Impulse, die Grenzen des überlieferten Werkbegriffs zu erweitern, entdeckte ich wenig später auch in der Arbeit von Dieter Schnebel: In den Maulwerken (1968-1974) beispielsweise ist das Einüben musikalischer Vorgänge, das Experimentieren mit Artikulationsorganen, bereits Teil des »Werks«, bzw. die gemeinsamen Produktionsprozesse in verschiedenen (Proben-)Stadien werden in dieses integriert. Durch unterschiedliche Haltungen zum musikalischen Material – in Maulwerke und in Körpersprache (1979-1980 ) sind es die Freud’schen Kategorien »Ich«, »Es«, »Über-Ich« – werden völlig unterschiedliche Aspekte dieses Materials hervorgekehrt, und der Werkcharakter des Resultats bzw. des Zwischenstadiums kann sich dadurch radikal verändern: impulsiv-improvisatorisch (Es), diszipliniert-einstudiert (Über-Ich) oder selbstbestimmt (Ich). Das Experimentelle ist nicht nur ein entscheidender Aspekt von Dieter Schnebels Arbeit als Komponist, sondern auch seines jahrzehntelangen unermüdlichen Engagements als Vermittler. Im Zentrum seiner verschiedensten pädagogischen Tätigkeiten steht dabei die Geschichte der experimentellen und konzeptuellen Musik seit ca. 1940: John Cage und sein Bezugnehmen auf Marcel Duchamp, Erik Satie, Henry David Thoreau und James Joyce, grafische Partituren u.a. von Earle Brown und den Komponisten der New York School, Fluxus (George Maciunas, George Brecht, Alison Knowles, Emmett Williams etc.), Terry Riley, La Monte Young, Konzeptionen, die um 1968 herum für das Londoner Scratch Orchestra entstanden sind (z.B. aus der Anthology for Scratch Orchestra oder aus den Nature Study Notes), oder der Ansatz von Cornelius Cardew, Christian Wolff und Frederic Rzewski, aus der genauen Beobachtung sozialer und politischer Vorgänge musikalische Spielregeln/Aktivitäten zu generieren etc. Angeregt durch Dieter Schnebel und Josef Anton Riedl wurde das Experimentelle für mich ein entscheidender Faktor für mein eigenes Musikverständnis – sowohl als nicht mehr wegzudenkender Anspruch ans eigene Komponieren, als auch als Möglichkeit, Musikgeschichte unter diesem Aspekt neu zu sehen. Notierte Musik – im überlieferten Sinn – setzt die Parameter Tonhöhe, Klangfarbe, Dynamik und Dauer immer wieder neu zueinander in Beziehung. Diese Beziehungen können eher vorhersehbar oder aber überraschend, unerwartet, experimentell angelegt sein – und können damit im Idealfall neue Fragen aufwerfen, können bisher Gehörtes nachhaltig in Frage stellen. Zum Beispiel führt Franz Schubert 1828 im Trio-Teil des dritten Satzes seiner letzten Klaviersonate (D 960) ein zweitaktiges Lautstärkenmodell ein: Durch den fzp-Akzent im Bass wird die Synkopierung der Piano-»Melodie« erst erkennbar. Nach der dreifachen wörtlichen Wiederholung des Lautstärkenmodells (p/fzp) ändert sich dieses überraschend bei der vierten Wiederholung im 7. Takt: Das plötzliche pp unterstreicht den Tonartenwechsel (Terzverwandtschaft, Paralleltonart). An der entsprechenden Stelle in der »Reprise« (Takt 26/27) schlägt die Lautstärke ins Gegenteil um: die »Melodie«

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bleibt zwar diesmal im piano, aber der einzige Fortissimo-ffz-Akzent im Stück sprengt den bisherigen Lautstärke-Rahmen schockartig und leitet damit harmonisch die »endgültige« Rückkehr in die Haupttonart ein.

Notenbeispiel 1: Franz Schubert, Trio aus dem 3. Satz der Klaviersonate B-Dur (D 960)

Morton Feldmans 2. Streichquartett (1983) beginnt als Lautstärken-Komposition mit den vier »polyphon« geführten Lautstärken ppp, mp, mfp, f. In den ersten 36 Takten bleiben Tonhöhen und Dauern in jedem Takt identisch (in weiteren 21 Takten wird mit Weglassungen desselben Grundmaterials gearbeitet), variiert werden nur die Lautstärken. In Takt 1 und 8 werden jeweils alle vier Lautstärken übereinander geschichtet – in den Takten 2 bis 7 jeweils nur drei (ppp wird »verdoppelt«): Takt 1 2 3 4 5 6 7 8 Vl 1 mp mfp ppp f ppp mp f mfp Vl 2 mfp mp f ppp mp ppp mfp f Va f ppp mp mfp f mfp ppp mp Vc ppp ppp ppp ppp ppp ppp ppp ppp

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Notenbeispiel 2: Morton Feldmann, Sting Quartett II, Seite 1

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In diesen ersten acht Takten gibt es in den Stimmen von Violine 1, Violine 2 und Viola keine Wiederholung derselben Lautstärke. Violine 1 variiert ihr Modell der ersten vier Takte mp – mfp, ppp – f (1 – 2, 3 – 4) in den folgenden vier Takten zu ppp – mp, f – mfp (3 – 1, 4 – 2). Violine 2 spielt dieselben Lautstärken-Zweiergruppen wie Violine 1, doch die beiden Lautstärken jeweils in umgekehrter Reihenfolge. Die Viola übernimmt unveränderte Lautstärken-Zweiergruppen von den Violinen 1 und 2: 2. Gr. V2 / 1. Gr. V1 / 4. Gr. V1 / 3. Gr. V1. Dies führt zu minimalen Veränderungen im Klangbild. Die Lautstärken-Gesamtsumme bleibt nahezu unverändert – und das Klangresultat erhält durch die Schwierigkeit, dieses durchhörbar transparent zu realisieren, ein utopisches Moment. Übrigens verschwindet dieses Element – nachdem der Anfang der Partitur von häufigen und differenzierten Lautstärkewechseln geprägt ist – nach knapp zwei Dritteln der Komposition (von immerhin ca. vier Stunden Aufführungsdauer) vollständig aus der Partitur: Die letzte Lautstärkenangabe (ppppp) findet sich 1303 Takte vor Schluss, das letzte Decrescendo-Zeichen 1087 Takte vor dem Ende der Komposition. Kunst hat immer mit Freiheit zu tun. Vielleicht haben experimentierfreudige Momente in der Musikgeschichte mit dem Verschwinden oder mit dem Infragestellen von Hierarchien zu tun? Wenn sich Hierarchien in einem Aspekt von Musik auflösten, z.B. in Bezug auf Tonhöhen (Überwinden der Tonalität, Entwickeln neuer Tonsysteme durch Mikrointervalle etc.), auf Tondauern (z.B. Verschwinden von Periodizität) – oder wenn durch Erfindungen in einem Bereich (z.B. neue Klangfarben durch die Entwicklung neuer Instrumente oder durch die Einführung elektronischer Klänge) das Gleichgewicht zwischen den musikalischen Parametern neu definiert werden musste. Die Beziehungen zwischen allen Aspekten von Musik können heute immer wieder neu erfunden werden: Neben den vier Grundkategorien Tonhöhe, Dauer, Klangfarbe, Dynamik spielte schon früh in der Musikgeschichte das Verhältnis zum Raum und zur Architektur eine wichtige Rolle. Ein erweiterter Musikbegriff umfasst spätestens seit John Cage alles, was klingt (Geräusche, Klänge, Stille) – seit Mauricio Kagel und Dieter Schnebel auch alles, was nicht klingt, sich höchstens bewegt oder auch nur sichtbar ist (»visible music«) – und seit R. Murray Schafer auch alles, was mit dem Geruchs-, Tast-, Geschmacks- und Gleichgewichtssinn erfahrbar ist – und darin eingeschlossen das Verhältnis von Musik z.B. zu Licht, zu Landschaft, zum sozialen Umfeld, zum mittlerweile in Bewegung geratenen Rollenverständnis zwischen Interpret, Komponist, Dirigent etc.

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Notenbeispiel 3: Daniel Ott, 17-Tonreihe mit Stichworten zum letzten Teil über Hafenbecken I & II

Eigene Arbeiten In der eigenen Arbeit als Komponist versuche ich, diese Aspekte im Auge zu behalten und sowohl das Verhältnis zwischen den einzelnen Kategorien immer wieder neu zu hinterfragen als auch mich durch ein gewisses Eigenleben zusätzlicher »fremder« Elemente überraschen und neu herausfordern zu lassen. Neben den kollektiven Arbeiten Südliche Autobahn (Musiktheatralische Aktionen nach Motiven von Julio Cortázar für Autobahnraststätten an der südlichen Peripherie von Berlin, 2007) und Nachtschicht (gemeinsame Klangaktion von 15 Komponist/innen für bewegliche Instrumentalist/in-

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nen, Klang- und Lichtquellen für eine lange Nacht von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang, Rümlingen 2007) hat mich in letzter Zeit vor allem die Orchesterkomposition Hafenbecken I & II beschäftigt. Hafenbecken I & II: Umschlagplatz Klang entstand 2005/2006 gemeinsam mit dem Regisseur Enrico Stolzenburg, der Kostümbildnerin Angela Zimmermann und dem Lichtdesigner Michael Gööck für den Rheinhafen in Basel und 68 Musiker/innen des selbstverwalteten Orchesters basel sinfonietta. Es ging also von Anfang an um einen konkreten Ort und um konkrete Personen: Der Industriehafen Basel-Kleinhüningen mit den Hafenbecken I und II entstand 1920-1922 direkt an der Schweizer Landesgrenze zu Frankreich und Deutschland und wurde rasch zum wichtigsten Warenumschlagplatz der Region. Prägende Ereignisse für den Ort waren 1933 bis 1945 seine Funktion als Fluchtweg an der Grenze zum faschistischen Deutschland sowie die Rhein-Katastrophe am 1. November 1986, in deren Folge auch alle Hafengewässer in Basel biologisch tot waren. Die erste Frage, die wir uns stellten, war: Wie klingt der Ort »von selbst«, ohne zusätzliche Klänge? Bei der ersten Begehung fielen uns die intensiven Gerüche am Hafen auf und wir hörten Wassergeräusche, Möwengeschrei, Schiffshupen, Metall- und Schweißgeräusche, Geräusche von Eisenbahn, Kran, Schiffen und den Warenumschlag von großen Metallcontainern – ein differenziertes akustisches Environment mit Klängen aus allen Himmelsrichtungen, das großen Schwankungen unterlag – je nach Tageszeit und Lichtverhältnissen. Wie könnten zusätzliche Instrumentalklänge mit den Geräuschen vor Ort in Verbindung treten, ohne die vorhandene Klangcharakteristik des Orts zu zerstören? In verschiedenen Klangversuchen, die dreieinhalb Jahre vor der ersten Aufführung begannen, näherten wir uns der Musik improvisatorisch. Viele Ideen entstanden gemeinsam mit den beteiligten Orchestermusikern. Beispielsweise entdeckten wir unzählige gut klingende Klangobjekte am Hafen: Eisenbahnschienen, Weichen, Brückengeländer, Metalltreppen, gigantische Abfüllrohre und Metalltrichter, aus denen ein Schlagzeuger unterschiedliche Tonhöhen wie auf einer Steeldrum hervorlocken konnte. Beim akustischen Ausloten des Geländes entdeckten wir Spielpositionen, von denen aus Klänge über riesige Distanzen hörbar gemacht werden konnten: Bei Klangproben auf den Dächern von ca. 2 Kilometer auseinander liegenden Silotürmen etwa experimentierten Blechbläser mit vereinzelten Klangpartikeln – durch zufällig vorbeikommende, fasziniert stehenbleibende Hafenspaziergänger wurden wir auf Hörpositionen im dazwischen liegenden Eisenbahngelände aufmerksam, wo sich diese fragmentierten Klänge zu Akkorden verdichteten. Und auf der Suche nach einem geeigneten Spielort für flirrende Streicherklänge, die anfänglich im Freien kaum zu hören waren, stießen wir auf eine akustisch günstige Situation direkt am Wasser, wo die Quai-Mauer im Rücken der Spieler und die schallreflektierende

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Daniel Ott, Hafenbecken I & II, Rheinhafen Basel 2005/06

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Wasseroberfläche des Verbindungskanals zwischen Hafenbecken I und Hafenbecken II den Flirrklang geradezu zu verstärken schienen. Schließlich überraschte uns die gute Hörbarkeit von Holzbläser-Klängen, die am gegenüberliegenden französischen Rheinufer gespielt wurden, so dass wir beschlossen, Melodietöne zwischen Interpreten an weit auseinander liegenden Uferpositionen aufzuteilen und die Schallgeschwindigkeit bei der akustischen Rhein-Überquerung darüber entscheiden zu lassen, wie die Melodiebestandteile zeitlich und rhythmisch aufeinander folgten. Ausgehend von den Erfahrungen dieser Klangversuche erfanden wir einen Ablauf für den Abend, welcher der Dramaturgie des Orts folgte und nach parallelen Aktionen in verschiedenen Teilen des Hafengeländes im großen, überdachten Umschlaghof endete, da, wo auch alle hier »umzuschlagenden« Waren normalerweise landeten. Und für den zeitlichen Ablauf wählten wir jeweils ca. anderthalb Stunden vor und nach Sonnenuntergang. Teil 1 dauerte von ca. 18.45 (individueller Einlass) bis 20.15 Uhr, umfasste 17 Teile – aufgeteilt auf 17 »Klang-Stationen« im ganzen Hafengelände – und hatte stark installativen Charakter: Die Zuschauer bewegten sich frei zwischen den Klanglandschaften, die sich akustisch teilweise überlagerten: Musikalisch lag diesem Teil eine 17-Tonreihe (mit Vierteltönen) zugrunde, die in verschiedenen Ausprägungen auftauchte – alles begann mit dem Ton Es (aus Wagners Rheingold und Schumanns Rheinischer Sinfonie). Elemente waren – neben der von Abend zu Abend starken Schwankungen unterworfenen »natürlichen« akustischen Umgebung des Hafens – eine Klangschleuse auf einem Metallsteg hoch über den Köpfen der Zuschauer, periodisch wiederkehrende Trompetensignale (mit musikalischen Hinweisen auf den Hafen als Fluchtort), Schlagzeuger auf Abfüllanlagen, E-Gitarristen im fahrenden Eisenbahnwaggon, ein Streichsextett mit filigranen »romantischen« Klängen in der Unterführung, Posaunisten auf Baukränen, fußbadende Tubisten, sechs Kontrabassisten im Boot, eine Schwäne fütternde Cellistin, im Schrebergarten ein Piccolospieler, der sich heroisch mit Basler Fasnachtsmärschen abmühte, Es-Klarinetten- und Saxofon-Fernwehklänge, die in Richtung Holland geschickt wurden, und zwei Akkordeons an der Grenze zu Frankreich etc. Einige der 68 Musiker hatten eigene Texte beigesteuert, Gedankensplitter im Zusammenhang mit der Hafenthematik. Diese wurden in die Komposition einbezogen, wurden fast unhörbar geflüstert oder standen als »rhythmische Zellen« hinter der Musik und brachten die Töne »zum Sprechen«. Teil 2 dauerte von 20.15 bis 21 Uhr – der Sonnenuntergang veränderte die Atmosphäre im Hafen schlagartig: Die 17 individuellen musikalischen Episoden und Geschichten wurden abgelöst durch gemeinsame Klangsignale und 68 sehr leise Akkorde, Zusammenklänge mit minimalen Unterschieden, welche den Hafen in der fortschreitenden Dämmerung musikalisch »einfärbten«. Das Publikum wurde mit den Klängen über eine

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Desiderate der Praxis

Rampe gelockt – mit Blickrichtung nach Westen über den Rhein zum rasch seine Farbe verändernden Abendhimmel. Die meisten »natürlichen« Hafengeräusche verstummten nach Sonnenuntergang und beeinflussten damit auch die Lautstärken unserer zusätzlichen hinzugefügten Klänge. Der Weg führte durch die »Kornkammer«, Abfüllstation für Getreide aus Brasilien auf dem Weg in die Innerschweiz, in gewisser Weise das »Herz« des Hafens, das wir mit extrem leisem akustischem Flirren füllten. Ein Containerkran mit Klang- und Lichtquellen wies den Weg in die große Frachthalle. Teil 3 dauerte von 21 bis 21.40 Uhr – die bisher natürlichen Lichtveränderungen wurden in der Halle durch eine künstliche Lichtdramaturgie abgelöst. In Teil 1 und 2 hatte sich das Orchester selbst reguliert; Teil 3 nun wurde dirigiert. Das musikalische Material von Teil 1 und 2 wurde hier aufgegriffen und in einem einzigen Klangstrom zusammengefasst: Aus leisen Rheinkiesel-Geräuschen entwickelte sich in wenigen Etappen eine laute Klangwellen-Bewegung aus Tutti-Clustern, welche die ganze Halle überflutete. Die Musiker strömten zu Beginn von Teil 3 in die Halle, verteilten sich auf Spielpositionen in unterschiedlichen Etagen um die Zuschauer herum und verließen zum Schluss die Halle in Gegenrichtung. Sie führten damit die begonnene Bewegung weiter, der Klangstrom verlor sich in der Ferne und spannte damit einen Bogen zum offenen Beginn des Abends. Zuerst erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 1, 2008 – mit freundlicher Genehmigung von Schott Music, Mainz 2008, www.musikderzeit.de.

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Plädoyer für multisensorische Markenmodelle Akustische Markenkommunikation Carl-Frank Westermann

1.

Markenmodelle und -theorien: Eine kritische Bestandsaufnahme

Wer kennt sie nicht, die Flut an theoretischen Abhandlungen zum methodischen Vorgehen bei der Markenentwicklung? Das Feld der Kommunikations-Profis, der Markenberater und -gestalter, bildet sich jeden Tag aufs Neue eine Meinung und ist gut beraten, Modelle zur Entwicklung von Marken als stetig weiterentwickelbare in das eigene Markenwissen aufzunehmen. Markenmodelle sind dynamische Geschehen; sie werden nicht für die Ewigkeit entwickelt. Und doch können wir von so etwas wie der »DNA einer Marke« sprechen. Die DNA einer Marke beschreibt ihren spezifischen Markenkern und weitere die Marke charakterisierende Werte. Die DNA einer Marke in Beziehung zur ihrer Umgebung ergibt ein höchst komplexes Gebilde von Einflussfaktoren, die miteinander variabel vernetzt das Lebensgebilde und den Lebensraum der Marke abbilden helfen. Einflussfaktoren aus der für die Marke relevanten Umgebung (hier als Lebensraum der Marke bezeichnet) können der Wettbewerb, Trends der sie berührenden Branchen, die Wirtschaftslage schlechthin und weitere externe Faktoren sein. Dabei ist es Sinn und Zweck von Marken und somit gleichermaßen Anspruch der oben erwähnten Modell-Vielfalt, insbesondere denjenigen zu entsprechen, auf die sie abzielen: der so heiß umworbenen Zielgruppe. Markenmodelle wollen Wirklichkeit modellhaft abbilden und dabei Spielregeln ihrer Entwicklungsphasen transparent und anwendbar machen. Dabei liefern die Modelle, betrachtet man einzig den Teil der Persönlichkeitsbeschreibung und -entwicklung einer Marke, zumeist vernünftige Ansätze, nicht zuletzt, weil die Tatsache, sich der relevanten Einflussfaktoren bewusst zu werden, bereits eine wichtige Voraussetzung für den daraus resultierenden Umgang mit Marken ist.

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Schwierig wird es jedoch, wenn Modelle den Anspruch erheben, der Komplexität der Wahrnehmung von Marken gerecht zu werden. Hier zeichnen sich zwei Wege ab: Entweder ist das Markenmodell derart niederkomplex gedacht, dass es dem – wie zu zeigen sein wird: notwendigen – Anspruch der multisensorischen Wahrnehmung nicht genügt, oder es ist bemüht, den komplexen Erfordernissen alle Sinne betreffender Markenwahrnehmung gerecht zu werden, indem es Sinne gewichtet, folglich Prioritäten der Sinne benennt. – Bei aller kritischen Distanz zur fehlenden Komplexitäts-Substanz vieler Markenmodelle bleibt jedoch festzustellen, dass jedes Modell, welches sich der strategischen Umsetzung von Markenentwicklung widmet, seine Berechtigung hat, und sei es, wie erwähnt, nur vor einem monosensuellen Hintergrund. Es liefert die nötigen Grundlagen, um nachhaltig die strategische Umsetzung der Markengestaltung in den Feldern der Kommunikation, der Corporate Communication, und des visuellen Designs, des Corporate Design, zu ermöglichen. Mit strategischer Umsetzung ist dabei die Tatsache gemeint, dass sich Umsetzungsprozesse im Wesentlichen auf die Markenwerte berufen und diesen daraufhin ein visuelles Profil verleihen. »Monosensuelle« Modelle Wenn Markenmodelle sich erlauben, von der Marke als Persönlichkeit zu sprechen, ist indes die nahezu ausschließliche Konzentration auf das Visuelle problematisch. Es kommt das Riechen, Schmecken, Fühlen und vor allem das Hören von Marken in der Betrachtung bis dato zu kurz. Verwunderlich ist insbesondere, dass Markenmodelle dem auditiven Profil – dem Gesprochenen, dem Geräuschhaften und als eine weitere Facette dem Musikalischen als den akustischen Ausprägungen dieser Markenpersönlichkeit – so wenig und vor allem so wenig bewusste Aufmerksamkeit schenken. Dabei ist das Auditive neben seiner zentralen Bedeutung in ausschließlich auditiven Medien wie Radio oder Telefonschleifen bis hin zum beliebt gewordenen Hörbuch ebenso in Kombination von Bild und Ton kein neuer Inszenierungspartner. Ganz im Gegenteil. Wer von uns weiß nicht die Musik seines Lieblingsfilms zu benennen oder zumindest noch im Ohr zu haben? Oder typische Geräusche mit typischen Filmszenen in Erinnerung zu bringen? Mal sind es Kinderlieder, die Entwicklungsphasen der Kindheit beeinflusst oder wenigstens Kindern in den Schlaf verholfen haben. Mal sind es die Songs, die Sounds jener Zeit, die ans erste Verliebtsein oder an schmerzliche Begebenheiten erinnern, und das für ein Leben lang. Jeder Mensch ist in der Lage, für ihn wichtige, weil lebensprägende Geräusche, Töne, Musiken, Stimmen und diese prägende Sounds zu erinnern und gleich einem persönlichen Klangtagebuch für immer und ewig festzuhalten. – Und all diesen eingebrannten wie erinnerungsträchtigen Klangereignissen und Klangreminiszenzen will sich die Markenentwicklung verschließen? Unerhört! – bleibt da nur festzustellen.

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Desiderate der Praxis

2. Ein reiches Modell: Multisensorisches Erleben Die stiefmütterliche Behandlung des Auditiven im Rahmen strategischer Markenführung geschieht nicht absichtlich. Sie hat ihre Ursachen vielmehr in einer generellen Prioritätensetzung hinsichtlich der Sinne – insbesondere der Sinne Sehen und Hören: Da das Auditive im Alltag – im Vergleich zum Visuellen – eine eher unbewusste Rolle spielt, sind Wertschätzung und reale Wahrnehmungsbedeutung von auditiver und visueller Wahrnehmungsdimension einander geradezu diametral entgegengesetzt. Klang, Musik, Stimme, Geräuschhaftes mögen bislang – aufgrund dieser Prioritätensetzung – als Markeninstrument kaum eine Rolle gespielt haben. Und doch sind sie eigentlich nichts Neues im Vielklang der Markeninszenierung. Allerdings: Wenn auditive Anwendungen wie ein TV-Spot, ein Messefilm, eine Tonsequenz für eine Internetplatzierung etc. ins Spiel kommen, ist die Markenführung meist schon abgeschlossen – und zwar ohne Berücksichtigung des Auditiven, d.h. ohne konzeptionelle Vorgaben zum Thema Klang, Stimmen, Musik etc. Eine Markenführung hat in der Regel ein Markenstrategiepapier als Ergebnis, das alle Werte und Haltungen zur Marke definiert, regelt und dabei gleichzeitig als Briefing zur Umsetzung bekannter Corporate-Brand/IdentityInstrumente dient. Dieses Umsetzungs-Briefing umfasst jedoch nur in den seltensten Fällen Vorgaben und Empfehlungen zur akustischen Markenkommunikation. Dies ist um so verwunderlicher, als wahrnehmungs-physiologische Erkenntnisse zum Hören sogar Vorteile des Auditiven gegenüber dem Visuellen nachweisen. Hören funktioniert über das direkte Eindringen von Schallwellen in das Stammhirn, bietet schnellere Aufnahmekapazität sowie eine im Alltag ständig unbewusst verwendete lebensbestimmende Orientierungsfunktion und ist – im Gegensatz zum Wegschauen – nicht einfach durch Weghören »abstellbar«. Dazu kommt, dass auditive Markengestaltung sich in solitären Anwendungen wie zeitlich begrenzten Kampagnen, Aktionen, Produkten etc. prominent und handwerklich professionell produziert sehr wohl hörbar macht. Dennoch ist sie weit entfernt davon, Kontinuität und Konsistenz in der Wahrnehmung der Zielgruppen herzustellen, obwohl Budget für das Auditive zur Verfügung steht, und das in erheblichem Maße. Auditive Elemente werden immer wieder aufs Neue und in der Regel immer wieder anders, weil – scheinbar – neu gestaltet. Hier stellt sich für die Marke und die für sie Verantwortlichen die Frage nach Effizienz und anhaltender Substanz bisheriger auditiver Produktionskosten. Die Vorstellungskraft des Menschen ist nicht auf separat fokussierte Sinneswahrnehmung ausgerichtet. Sie agiert hochkomplex und meist multisensorisch. Ein Bild löst beim Betrachter unweigerlich eine individuell geprägte klangliche Vorstellung aus. Ein Klangereignis wiederum löst beim Zuhörer – frei- wie unfreiwillig – Bildhaftes aus: Sehklänge und Hörbilder, zwei Sinne fokussiert auf ein Erlebnis, ausgelöst durch die

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Vorstellungskraft des Menschen. In welcher Intensität diese Vorstellungskraft durch die Beschaffenheit der Bild- und Klangwelten einer Marke entfacht wird, ist Aufgabe einer innovativen, weil multisensorischen, Markengestaltung. So werden durch einen Objektreiz, z.B. den einer Markenwahrnehmung, meist nicht nur Hören oder Sehen, sondern alle Sinne angesprochen und angeregt. Eine an diesen Erkenntnissen orientierte Markenentwicklung wird entsprechend von einem ganzheitlichen Markenerlebnis ausgehen und versuchen, dieses Erlebnis vielsinnig zu gestalten. Dabei verdient das Zusammenspiel von Markeninstrumenten – etwa Bild und Ton, Form und Licht – paarweise wie übergreifend genauso Beachtung wie das Wissen, dass jedes Markeninstrument für sich andere Sinne auszulösen und anzuregen hilft. Dabei stehen die verschiedenen Sinne bei der Entwicklung relevanter Markeninstrumente nicht in Konkurrenz zueinander. Ganz im Gegenteil: Bildwelten und Klangwelten, die jeweils in sich und im Einklang miteinander die Werte einer Marke repräsentieren, sind die Garanten für das Erleben von Marken. Die Existenz beider Welten hilft bei der Wahrnehmung nur eines Instrumentes, das jeweilig andere als Pendant zu lernen und zu erinnern. Das Gesehene wird klanglich, das Gehörte bildlich mit Werten der Marke besetzt.

3. Ein Anfang in der Praxis: Akustische Markenkommunikation Bevor aus dem Nichts ein multisensorisches Markenkommunikations-Modell wie Phönix aus der Asche entspringt und in jedem Fall auch erklingt, untersuchen wir im Folgenden beispielhaft den Ansatz, mehr akustische Kommunikation zu wagen. Wir betrachten dafür ausschließlich die pure akustische Kommunikation als Einflussfaktor der Markenpersönlichkeit und -gestaltung. Wir konzentrieren uns auf alles, was die Marke im Bereich des Hörens tangiert, sie auditiv beschreibt, charakterisiert, ausstattet und handlungsfähig macht. Dies bedeutet vor allem: Die singuläre Betrachtung einer auditiven Markenführung steht nicht wirklich in Konkurrenz zur Wertschätzung aller übrigen Sinne. Die Wirkung eines Sinnes hat immer eine – und wenn noch so kleine (oder besonders große) – Auswirkung auf das Anreizen der anderen Sinne. In unserem Zusammenhang gebührt insbesondere dem Auditiven im innersinnlichen Ranking eine gesteigerte Aufmerksamkeit. Zu fragen ist, was das Auditive zu bewirken und zu leisten im Stande ist. Singuläre Betrachtung bedeutet insofern, die besondere Wirkung von Auditivem herauszufinden und in ihrem Nutzen für eine gesteigerte Markenprofilierung zu prüfen.

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Desiderate der Praxis

Sound-Branding Das Auditive ist unstrittig ein permanenter Bestandteil unseres Lebens, der uns in jeder Sekunde Orientierung, Gleichgewicht und Ordnung (Halt) gibt. Als Beleg dafür ist anzuführen, dass Weghören weitaus aufwendiger ist als Wegschauen. Vom vierten Monat unseres embryonalen Zustands an prägt uns das Vermögen auditiver Wahrnehmung – ein Leben lang. Was wir gelernt haben zu hören (und was nicht), macht einen wichtigen Teil unseres Lebens aus: Sound gibt Stimmen, Geräuschen, Klängen und auch Musik Einzigartigkeit. Sound-Branding verhilft einer Marke zur akustischen Einzigartigkeit. Daher ist Sound ein wichtiger Parameter, welcher der Marke eine unverwechselbare Klangfarbe geben kann. Bei der Entwicklung des Klanges einer Marke, dem Corporate Sound, ist der Versuchung zu widerstehen, einen aus vorwiegend geschmäcklerischen Gründen angenehmen oder attraktiv klingenden Klang zu »nehmen«. Empfohlen wird außerdem, vorab über Klangentsprechungen von Markenwerten eine Basis für eine ernstzunehmende Klangidentität der Corporate-Sound-Ergebnisse aufzubereiten. Sound-Design Aufgabe des Sound-Designs ist es, ausgehend von diesen fundamentalen Klangentsprechungen die Marke charakterisierende Klangschöpfungen zu entwickeln, die sich aus den Besonderheiten der Markenwerte in Bezug auf Markenkommunikation, -historie und -vision ergeben. Die finalen Klangergebnisse zur Markenprofilierung müssen eine möglichst wahrhaftige Geschichte hinsichtlich ihrer Abstammung vorweisen. Dies sichert ihre nachvollziehbare, nicht einzig geschmäcklerisch geprägte Einzigartigkeit und damit lang anhaltende klangliche Substanz (Marken-Klang-Konnotation) von Corporate Sound als Teil des Zusammenspiels aller multisensorischen Faktoren einer integrierten Markenkommunikation. Der Klang der Marke benötigt die ihm zugrunde gelegte Geschichte, die so substanziell sein muss, dass man sie gern und mit Stolz erzählt und dass sie gern gehört, verstanden und begeistert aufgenommen wird. Da Klänge, Geräusche, Stimmen, Musik und der sie bestimmende Sound beim Rezipienten an sich auf einer unendlichen Anzahl von gelernten, bewusst wie zumeist unterbewusst gespeicherten Klangerfahrungen beruhen, macht es Sinn, einem Klang der Marke abzuverlangen, dass dieser im ersten methodischen Vorgehen auf den bereits erwähnten Kontext-Klängen (Klangentsprechungen der Markenwerte) aufbaut. Konkret: Am Anfang steht die Prüfung und Selektierung der dem Markenwert affinen Klangentsprechungen. Hat man diese herausgefunden, können markenspezifische Einflussfaktoren wie Historie, Leitbilder, Leistungs- und Produktbesonderheiten, kulturelle Vernetzungen etc. dem Klang der Marke zu einem spezifischen Corporate Sound verhelfen. Der zuletzt genannte Schritt wird vom Sound Design bestimmt. Alle methodischen Schritte zur Entwicklung von Corporate Sound basieren

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selbstverständlich auf einer akustischen Konzeption, die wiederum Briefing-Grundlage für alle konkreten Klangumsetzungen ist. Der Stand der Dinge Beispiele für strategische audiovisuelle Markenkommunikation finden sich bei nur wenigen Unternehmen. Dabei stechen insbesondere audiovisuelle Logos wie die von T-Com, Intel, Audi, McDonalds u.a.m. ins Auge (und Ohr). Hier ist Klang in Form von Musik, Geräuschen, Stimmen von jeher Bestandteil der Markenkommunikation – jedoch ohne eine über die Zwei-Sekunden-Länge eines Logos hinausgehende Klangwelt, die der vorhandenen Bildwelt entspräche. Dies sollte im Sinne und im Auftrag einer kontinuierlich und konsistent geführten Corporate Choreography angestrebt werden. Bis dato ist festzustellen: Der Ton läuft hinterher, wenn er überhaupt eine Rolle spielt. Wenn dem Klang der Marke Aufmerksamkeit geschenkt wird, dann zumeist als Add-on, als Aufgabe auf den letzten Drücker für Musiker und Tonmeister, die ohne Briefing zum Markenbezug nur geschmäcklerische, nicht aber markenförderliche Ergebnisse hervorbringen können. Die Aufgabenfelder der Markenentwicklung Der Wertschöpfungsprozess einer Marke setzt eine langfristig ausgerichtete Kommunikationsstrategie zur Entwicklung sowie Entfaltung einer unverwechselbaren Markenpersönlichkeit voraus. Markenentwicklung sollte alle Persönlichkeitsmerkmale einer Marke berücksichtigen und diese auf die spezifischen Belange einer Marke sinnvoll gewichten. Ziel ist, bei den gewünschten Zielgruppen eine möglichst umfassende Resonanz in allen Wahrnehmungskanälen zu erzielen. Derzeit lassen sich zwei Aufgabenfelder der Markenentwicklung unterscheiden. Erstens das Feld der Marken-Hausaufgaben wie Strategie, Kommunikation und visuelles Erscheinungsbild zu entwickeln, zu pflegen und lebendig zu halten. Zweitens das Feld der Marken-Innovation, in dem es darum geht, multisensorische Wahrnehmung, neue Wahrnehmungskanäle etc. rechtzeitig in die Markenentwicklung zu integrieren. Dabei ist permanent zu prüfen, welche Felder der Marken-Innovation der jeweiligen Marke besonders entsprechen und zur Alleinstellung der Marke beitragen können. Die Frage der Wirtschaftlichkeit Wiewohl immer noch abseits behandelt, erfährt das Thema akustische Markenkommunikation derzeit gesteigerte Aufmerksamkeit. Dabei wollen Markenverantwortliche, wenn sie sich diesem Thema nähern, zuallererst die wirtschaftliche Sinnfrage dieses neuen Markeninstrumentes geklärt haben. Eine natürlich nicht unberechtigte Frage – die allerdings dem Corporate Design gegenüber seitens der Markenverantwortlichen schon längst nicht

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mehr gestellt wird. Und dies, obwohl weder im akustischen noch im visuellen Markenkommunikations-Design Studien derzeit valide nachweisen, dass ein auf die Marke eingezahlter Euro für Corporate Design oder Corporate Sound sich nach der Implementierung – in welcher Relation auch immer – positiv auszahlt. Vielmehr kann diese – auf hochkomplexe Wirkungsfaktoren der Markenwahrnehmung ausgerichtete – Fragestellung selbst mit profundesten Marktforschungsmethoden nicht punktgenau beantwortet werden. Doch lassen wirtschaftliche Kennzahlen eindeutig darauf schließen: Zuwachs kann auch bedeuten, dass die vorab geleisteten »kommunikativen multisensorischen Einzahlungen« auf die Marke (Strategieschärfe, Corporate Communication, Design, Sound etc.) sich bezahlt machen. Da Markenentwicklungsprozesse per se langfristig sind, sollten sich Markenverantwortliche im Vorfeld vor allem auf ihre professionelle Eigensicht, ihr Selbstverständnis wie auch ihr Selbstvertrauen bei Wert- und Nichtwertschätzung von MarkenentwicklungsInvestitionen verlassen. Dann gehören sie im Nachhinein möglicherweise zu jenen, die auf eine Markenwertigkeitssteigerung verweisen können, die in erster Linie einer antizyklischen und dabei innovativen Markenführungs-Haltung zu verdanken ist.

4. Das Markenerlebnis Wie lässt sich das bisher Gesagte auf Modelle der Markenwahrnehmung anwenden? Sofern eine Marke nicht mehr einzig auf ihr visuelles Erscheinungsbild Antworten geben kann, sondern auch den Klang der Marke als ein strategisches Marken-Kommunikationsinstrument begreift, öffnet sich ein weitaus größeres Inszenierungspotenzial für alle denkbaren Anwendungen von zumindest Bild und Ton, aber auch Gestalt und Ton, Geruch und Ton sowie haptischem Erleben und Ton. Bereits die Synergien von Bild und Ton steigern die Intensität der Markenwahrnehmung. Wenn Bild im Bewusstsein von Klang und Klang im Bewusstsein von Bild entwickelt, konzipiert und auch umgesetzt werden, kommt dies dem Anspruch einer multisensorischen Markengestaltung entgegen. Bereits die zeitgleiche Vernetzung des auditiven und des visuellen Gestaltungsprozesses bildet die Grundlage, weiteren Sinnesreizen markenrelevante Orientierung zu geben. So kann eine audiovisuelle Filmgestaltung, die dem Anspruch unterliegt, mit den ihr zur Verfügung stehenden Inszenierungsmitteln einen ganz bestimmten Inhalt vermitteln zu wollen, ebenso punktgenau Reizauslöser auch für Sinneswahrnehmungen wie Riechen, Schmecken und Fühlen sein, also dem realen Vorgang von multisensorischer Wahrnehmung (Gefühlseindrücken gleich) annähernd »stimmig« entsprechen. Einer Marke klangliche Identität zu geben, bedeutet ein Noch-Mehr an Orientierung, Wiedererkennung und Unverwechselbarkeit der Marke im sie umgebenden Wettbe-

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werb. Dabei ist Klang der vernachlässigte Faktor gegenüber der Bedeutung, welche der visuellen Gestaltungsvielfalt beigemessen wird. Corporate Sound bietet insofern ein echtes Innovationspotenzial innerhalb der Markenführung. Wer sich dieses neuen Markeninstrumentes annimmt, darf sich als Pionier der Markenkommunikation begreifen, verbunden mit der Haltung, diese neue Inszenierungsmöglichkeit mit Mut zum Risiko anzugehen. Wer nicht wagt, der nicht (dezidiert) klingt, vielleicht ein schlichtes und dennoch gehörtes Motto für die Zukunft. Die Ressourcen einer Marke liegen in einem ganzheitlichen multisensorischen Erleben. Dabei werden unsere Sinne nicht additiv wahrgenommen, sondern ergeben in einem synergetisch vernetzten und damit mannigfaltigen Wahrnehmungs-Portfolio die eigentliche Attraktivität oder Nicht-Attraktivität des Erlebens einer Marke. Würde zum Erleben einer Marke dazugehören, den Rezipienten auf Schritt und Tritt mit der Existenz derselben zu verfolgen, würde es sich im wahrsten Sinn des Wortes um Markenpenetration handeln. Zu einem Markenerlebnis gehört vielmehr auch das Nichterleben, die gewollte Ruhe, die wir allen Sinnen des – wie auch immer demoskopisch, soziologisch und psychologisch erfassten – Rezipienten gönnen sollten. Auch hier würde beispielhaft für eine strategisch ausgerichtete akustische Markenkommunikation das Ziel gelten, alle denkbaren Ruhezonen mit akustischer Ruhe zu besetzen. Hier liegt die dramaturgische Entscheidung je nach Anwendungsanforderung bei Ausprägungen wie: kein, wenig, leiser oder lauter Sound. Die Marke würde sich ebenso verhalten wie ein Mensch, der sich, wenn er sich in einem Raum mit mehreren Menschen befindet, nicht stereotyp zu Wort meldet, sondern dies möglicherweise in den oben beschriebenen Abstufungen vornimmt. Dass wiederum gerade an Orten, an denen Menschenansammlungen vorzufinden sind, häufig Klangquellen wie Handy-Klingeltöne, Musikbeschallungen, Durchsagen, Straßenlärm etc. die Lebensqualität mindern, ist Argument und Chance für die akustische Markeninszenierung zugleich. Die Herausforderung liegt darin, ebendiesen Markenklangumgebungen mit eigenen, die Rezipienten überzeugenden Lösungen zu begegnen. So wäre beispielsweise ein Klingelton, der als Anrufton vorwiegend eine Signalfunktion zu erfüllen hat, von vornherein als solcher zu konzipieren und nicht in Gestalt einer »Klangsymphonie«, die dem eigentlichen Funktionszweck – Signal zu sein – widerspricht. Multisensorische Markenkommunikation benötigt Ausbildung Einer der Gründe dafür, dass so viele Berührungsängste gegenüber der akustischen Markenkommunikation existieren, dürfte in mangelnder Klangbildung liegen – darin, dass akustische Konzeption und Gestaltung im Bildungsangebot wenig verbreitet ist. Dabei sind Kompetenzen wie etwa die eines Musikers, Klanggestalters oder Tontechnikers bestmögliche Voraussetzung für die Grundlagen zur Berufsausbildung Klanggestal-

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tung oder Klangberatung. Die fehlende Ausbildung im Umgang mit der Gestaltung von klanglicher Umgebung, im Umfeld der Berufsfelder von Architektur, Messe, Neue Medien, Film, Radio, Fernsehen, Theater, Oper, Kommunikation u.Ä. ist ein Grund, warum so wenig Professionalität im Umgang mit Klanggestaltung vorhanden ist. Die Kompetenzen zur Umsetzung sind zwar in den Einzelprofilen wie Regisseur, Musiker oder Tontechniker gegeben. Doch wo existiert die übergreifende und in den Workflow eingreifende Kompetenz des Klangberaters und -gestalters? In den letzten zwei Jahren nun setzen Marken wie etwa Mercedes, Audi, BMW, Coca Cola, O2, aber auch Lufthansa auf die Entwicklung und Umsetzung eines ganzheitlichen Markenerlebnisses. Dabei stehen nicht die so genannten Kernleistungen ihrer Marke, sondern vielmehr der Zusammenhang, in welchem die Marke erlebt und wahrgenommen wird, im Vordergrund. Die Marke möchte damit einen Erlebnisraum schaffen, welcher möglichst alle Sinne derjenigen, die ihr begegnen, erreichen will. Es reicht nicht mehr, den Schwerpunkt auf die Gestaltung einzelner Sinne wie Sehen oder Hören zu legen. Ein Erlebnis, das charakteristisch sein kann für eine Marke, wirkt nur als Gesamtinszenierung innerhalb einer strategisch entwickelten Markenidee. Dieses Ziel wird neuerdings mit dem Begriff »Brand Entertainment« benannt; Berufsbilder eines Markenregisseurs oder eines -dramaturgen bilden sich heraus. Eine Marke zu inszenieren verlangt Fähigkeiten, durch alle Sinne hindurch, mithilfe aller Medien, die ein Markenerlebnis bewirken, diese nicht summarisch, sondern verknüpft ins Spiel zu bringen: Sprache, Habitus, visuelle und akustische Identität, Formensprache, schließlich Haptik, Taktilität und auch den Geruch. Wenn das Ganze tatsächlich – nicht nur als Plattitüde und Lippenbekenntnis – mehr als die Summe seiner Teile sein soll, ist die Gestaltung einer Marke auf eine vielsinnige Inszenierung mit Gespür angewiesen. Ausblick Markenverantwortlichkeit wird in Zukunft nicht nur bedeuten, sich der multisensorischen Möglichkeiten auf dem Wege der Markenentwicklung bewusst zu sein. Gefordert ist vor allem die Fähigkeit, multisensorisch zu denken, zu urteilen und zu handeln. Dabei beginnt die multisensorische Markenkommunikation nicht bei Null. Entsprechend geht es insbesondere auch darum, zu erkennen, in welchem Feld der multisensorischen Markenkommunikation Defizite vorliegen und wo bzw. wie Qualifikationen dazu gewonnen werden können. Derzeit dürfte noch von großen Differenzen zwischen der Qualität eines Corporate-Design- und der Qualität eines eventuellen Corporate-Sound-Briefings auszugehen sein. Innovative Markenführung braucht als Markenverantwortliche vor allem Implementierungs-Profis – im Interesse eines Umsetzungsnutzens für die Marke. Und sie bedarf der – bereits angelaufenen – Bewusstwerdungsprozesse akustischer Markenkommuni-

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kation und -relevanz, verankert in Forschung und Lehre sowie praxisorientierten Studienangeboten. Akustische Markenkommunikation wird sich dann erweisen als ein Multiplikator aller übrigen Sinnesreize, die unweigerlich ihrerseits von einer gesteigerten Wertschätzung der auditiven Wahrnehmung profitieren.

5. Quellen Barthes, Roland (1981): Das Reich der Zeichen, Frankfurt a.M. Bonz, Jochen (Hg.) (2001): Sound Signatures, Frankfurt a.M. Fischer, Volker, Hamilton, Anne (1999): Theorie der Gestaltung, Frankfurt a.M. Flusser, Vilem (1965): Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen. Herzogenrath, Wulf, Kreul, Andreas (Hg.) (2002): Klänge des inneren Auges, München. Hirsch, Wilbert, Schneider, Michael (2000): Markenästhetik und Acoustic Branding, in: Buck, Alex, Herrmann, Christoph, Kurzhals, Frank G. (Hg.), Markenästhetik 2000, Frankfurt a.M., 36-51. Jackson, Daniel M. (2003): Sonic Branding – An Introduction, Hampshire. Jung, Carl Gustav (1980): Der Mensch und seine Symbole, Olten. Lehmann, Mark (2008): Voice Branding – Die Stimme in der Markenkommunikation, München. LePla, Joseph F., Parker, Lynn M. (1999): Integrated Branding – Becoming Brand-Driven Through Companywide Action, London. Lindstrom, Martin (2005): Brand Sense: Build Powerful Brands Through Touch, Taste, Smell, Sight and Sound, New York. Maur, Karin von (Hg.) (1996): Vom Klang der Bilder – Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Stuttgart. Pierce, John R. (1992): Klang. Musik mit Ohren der Physik, Heidelberg. Rösing, Helmut, Bruhn, Herbert (1973): Geschichte der Musikpsychologie, in: Bruhn, Herbert, Oerter, Rolf, Rösing, Helmut (Hg.), Musikpsychologie – ein Handbuch, Hamburg, 21-39. Schulze, Holger (2000): Das aleatorische Spiel, München. Seel, Martin (2003): Ästhetik des Erscheinens, München, Wien. Toop, David (1997): Ocean of Sound, London. Truax, Barry (2000): Acoustic Communication: Second Edition, London Wagner, Christoph (2004): Auge und Ohr/Ear and Eye, Mainz. Zender, Hans (1972): Happy New Ears, Freiburg i.Br.

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Desiderate der Praxis

Für eine Kunst als Forschung oder: Resonanzböden 1-8 Florian Dombois

1. Einstieg am konkreten Fall: Resonanzböden 1-8 ist ein interaktives Kunstwerk, das ich 2006 für die Ausstellung Pre-emptive in der Kunsthalle Bern entwickelt habe.1 Es besteht aus einem Kubus mit einem eingelassenen Touch-Screen und zwei seitlichen Lautsprechern (vgl. Abb. 1). Auf dem Monitor sieht man den Grundriss der Kunsthalle Bern und zwei Menüpunkte: »up« bzw. »down« und »info«. Drückt man auf dem Plan in eine der Grundflächen, so ertönt ein Sound, der je nach Saal variiert. Die Sounds beruhen auf Messungen, die ich mit zwei Geotechnikern am 2. Juli 2006 in der Kunsthalle unternahm.2 Der Reihe nach ließ ich in jedem Raum ein Schwingungmessgerät aufstellen und sprang dann jeweils von einem dreistufigen Tritt auf den Boden.

1 Teilnehmende Künstler: Christoph Büchel & Giovanni Carmine (CH), Florian Dombois (CH), Zhang Enli (CN), Kris Fierens (B), Aneta Grzeszykowska (P), Marine Hugonnier (F), Rafael Lozano-Hemmer (MEX), Camille Norment (USA), Serkan Özkaya (TR) und Vanessa Van Obberghen (B). Kurator: Philippe Pirotte. Dauer: 18.8.-8.10.2006. Aus dem Ankündigungstext: »The notion of ›pre-emptive action‹ stems from an overpowering sense of fear. Pre-emptive means ›designed or having the power to deter or prevent an anticipated situation or occurrence‹.« Und etwas weiter: »This exhibition intends to invoke a situation that ›pre-empts‹ the realization and possibility of control. Creating a place suffused with possibilities, this show will be a reflection on the non-effectuation of history, an exploration of the specificity and the irrevocability of the event. It is an exhibition concerned with things that cannot be technocratically mastered, about flightlines and the difficult understanding of freedom versus continuous control.« 2 Dank an Martin Stolz und seinen Vater für die speditive Zusammenarbeit.

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Durch den Sprung oszillierte der Fußboden in seinen jeweiligen Eigenschwingungsmoden. Vergleichbar dem Anschlagen einer Glocke oder dem Fell einer Trommel war die Impulsantwort dabei charakteristisch für das Objekt. Form, Material und Bauart des Fußbodens bestimmten das jeweilige Wellenmuster, unabhängig von der Art der Anregung. Messungen mit verschiedenen Schuhen bestätigten dies: Es machte keinen qualitativen Unterschied, ob man die Böden mit Gummi, Holz oder Leder anregte (vgl. Abb. 2-7). Die gemessenen Frequenzen reichten bis in den Infrasound, und ich wendete schließlich eine Sonifikationstechnik an, um sie hörbar werden zu lassen: die Samplerate der Messung von 800 Hz erhöhte ich für die Wiedergabe auf 8000 Hz, was einer Beschleunigung der Abspielgeschwindigkeit um den Faktor 10 entspricht. Die so audifizierten Daten3 ließ ich in einer Flash-Animation den einzelnen Sälen im Grundriss hinterlegen, so dass die Besucher der Ausstellung wie auf einem Drum-Pad die unterschiedlichen Räume anhören konnten.

Abb. 1: Resonanzböden 1-8, Aufsicht.

3 Der Begriff der »Audifikation« wurde erstmals in Kramer 1994 definiert. Die beste Übersicht zu den unterschiedlichen Sonifikationstechniken gibt immer noch Hermann 2002.

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Desiderate der Praxis

Abb. 2

Abb. 3

Abb. 4

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Abb. 6

Abb. 7

Abb. 2-7: Vermessung der Fußböden der Kunsthalle Bern am 2.7.2006.

Für eine Kunst als Forschung · Florian Dombois

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2. Mein künstlerischer Antrieb für die Entwicklung der Resonanzböden 1-8 war der Gedanke, ein Gebäude als überdimensionales Instrument zu imaginieren, durch das man hindurchlaufen kann. Ich hatte Fragen wie: Lässt sich Architektur im wahrsten Sinne des Wortes »bespielen«? Was sind die Klangbestandteile eines Hauses? Was wären die schwingenden Flächen, was die »Stege«? Welche »Saiten« zupft, welches »Fell« schlägt man beim Begehen eines Gebäudes? Wie würde das klingen? Wie unterscheiden sich die einzelnen Säle klanglich – nicht bloß im akustischen Bereich, sondern im Infrasound?4 Und allgemeiner gefragt: Warum sich das Museum immer als Gefäß vorstellen? Resonanzböden 1-8 ist nicht nur ein Kunstgegenstand vor Ort, sondern auch Index für diesen Ort. Das Objekt weist über sich hinaus und behandelt die Kunsthalle Bern selbst als Klangskulptur. Sprich, in der Ausstellung fungierte der interaktive Touch-Screen auch als eine Legende, die in den Raum eingebracht wurde, um diesen zu deuten und damit das Gebäude einer neuen Lesart zu erschließen. Die Geste des Fingers auf der Karte, das Tippen auf den Screen entspricht dem verkleinerten Sprung, mein Sprung der verkleinerten Geste eines Griffs am Instrument. Resonanzböden 1-8 ist nicht auf eine Dimension festgelegt, sondern führt im Visuellen wie im Akustischen mehrere Maßstäbe ein. Die Arbeit versucht zu »zoomen«, vom Tele zum Fischauge, von 33 zu 45 zu 78 rpm und zurück.

Abb. 8: Der Aaresaal der Kunsthalle Bern während der Ausstellung Pre-Emptive.

4 Ich hatte in Pre-emptive u.a. noch die Arbeit Enter, die denselben Ansatz verfolgte: Hierfür hatte ich die Kunsthalle mit einem Hammer außen angeschlagen und innen die Resonanz des gesamten Gebäudes gemessen. Den Klang ließ ich auf eine Dub-plate, einen Schallplatten-Rohling schneiden.

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Desiderate der Praxis

Resonanzböden 1-8 stand im sogenannten Aaresaal (Saal 3)5 im nordöstlichen Winkel der Kunsthalle und war entlang des Gebäudegrundrisses ausgerichtet, also eingenordet. Damit stimmte ein Punkt auf dem Plan mit dem realen Ort überein6, und man konnte sich direkt orientieren und anschließend vergewissern: Wie klingt Saal 3, Saal 5 oder Saal 7? Und wie schwingt der Boden, wenn man selbst durch den entsprechenden Raum geht? Überraschenderweise war das unterschiedliche Schwingungsverhalten der verschiedenen Fußböden nicht nur messbar, sondern auch beim normalen Gehen spürbar, war man erst einmal dafür sensibilisiert. Auf der »Infoseite« von Resonanzböden 1-8 kann man sich drei Filmausschnitte der eigentlichen Messung anschauen. Dort sieht man, wie die beiden Geotechniker und ich inmitten der Vorgänger-Ausstellung von Yutaka Sone springen und messen. Bei sommerlicher Hitze von 30 Grad mit zwei kittelreinen Technikern, ein Lärmen ohne Ton, ein Springen à la Acconci.7

3. Auch gibt es für Resonanzböden 1-8 eine streng naturwissenschaftliche Lesart.8 Alle Klänge und Grafiken in der Arbeit genügen den Kriterien der Wissenschaftlichkeit – das war mir wichtig. Die Daten sind jeweils eineindeutig rückführbar, und wir haben auch nicht nur einmal gemessen, sondern Reihen durchgeführt. Die audifizierten Daten sind insofern repräsentativ und könnten von jedem anderen Team wiedererstellt werden. Die »Infoseite« liefert dazu die nötigen Angaben (vgl. Abb.9). Dass die Audifikation bei Gebäudemessungen bisher noch nicht eingesetzt wird, bedeutet nicht deren Unwissenschaftlichkeit. Im Gegenteil, die Sonifikation ist analog zur Visualisierung ein wissenschaftliches Verfahren, das den Prozess des »making

5 In unmittelbarer Nachbarschaft hingen in der Ausstellung zwei Gemälde von Zhang Enli. Das eine Bild zeigte eine große Steckdose, das andere ein chinesisches Pissoir. Vgl. Abb. 8. 6 Mathematisch nennt man dieses Phänomen, dass eine Landkarte an einer Stelle mit dem Gelände übereinstimmt, den »Banachschen Fixpunktssatz«. Vgl. auch meine Arbeit What are the places of danger? in derselben Ausstellung und deren Beschreibung in Dombois 2008. 7 Vgl. Jumps von Vito Acconci, 1969. 8 Zur Eröffnung von Pre-emptive erschienen nicht nur das Kunstpublikum, sondern auch eine ganze Reihe von Geotechnikern. Zudem publizierte der bauingenieur einen Artikel über die Ausstellung. Vgl. Stolz 2006.

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sense of data«, also die Perzeptionalisierung von Daten erlaubt. Sie ermöglicht keine mathematischen Beweise, sondern beschert im Idealfall eine akustische Evidenz, wie man sie vergleichbar aus dem Visuellen kennt: Man denke beispielsweise an die Ermittlung geologischer Schichtgrenzen aus seismischen Profilen in der Geophysik. Auch in den Nanowissenschaften wird vielfach mit Bildern argumentiert, obwohl die sichtbaren Strukturen oft nicht in Formeln erfasst und mathematisch bewiesen werden können.

Abb. 9: Resonanzböden 1-8, Infoseite (Foto des Displays, Ausschnitt).

Mit Resonanzböden 1-8 wird also nicht nur eine akustische Erfahrung, sondern auch ein neues Metaphernfeld in die Bauforschung eingeführt. Mit der Beschreibung in musikalischen und akustischen Begriffen werden Assoziationen und die Modellbildung in eine effektiv andere Richtung gelenkt, als wenn man sich auf eine rein visuelle Anschaulichkeit und Begrifflichkeit verließe. Gleichwohl, auch das akustische Verfahren lässt sich technisch-wirtschaftlich interpretieren, und der künstlerische Ansatz weckte sogar die Neugier einer Messgerätefirma in der Schweiz, die mit dem Verfahren der Audifikation ihr Verkaufsangebot erweitern will.

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Desiderate der Praxis

... Die Rückführung künstlerischer Arbeit in die Verwertungslogik der Technik wäre mit Resonanzböden 1-8 denkbar – ist aber nur ein möglicher, nämlich ein utilitaristischer Blick auf die Forschung. Auch umgekehrt ist die Überführung des wissenschaftlichen Knowhow in den Einzugsbereich der Künste vorstellbar. Beides interessiert mich nicht, also weder die Indienstnahme der Künste durch Wissenschaftler, noch die der Wissenschaften durch Künstler – abgesehen davon, dass dieser direkte Austausch meist illustrativ bleibt –, sondern ich strebe in und mit meinen künstlerischen Arbeiten so etwas wie ein neues Genre der Forschung an, das sich außerhalb bisheriger wissenschaftlicher und künstlerischer Normierungen zu positionieren versucht. Dem liegt folgende Überlegung zugrunde: Für mich ist die Problematik einer inhaltlichen Formulierung nicht von Fragen der ästhetischen Wirkung entkoppelbar, ja, eine formunabhängige Erkenntnis scheint mir auch in den Wissenschaften nicht denkbar. Ich suche darum nach einer Art der Forschung, in der die Darstellungsform von Anfang an mitgedacht, bespielt und gestaltet wird.9 Ich nenne dieses Vorgehen »Kunst als Forschung« und stelle diese »Forschung« explizit von den wissenschaftlichen Formatvorgaben frei, wie sie beispielsweise im »scientific paper« sichtbar werden.10 Die Grundfrage (und -hoffnung) ist dabei: Gibt es lediglich ein Denken in der wissenschaftlichen Sprache oder ist nicht auch ein Denken in anderen Darstellungsformen, gar jenseits der Sprache möglich? Betrachtet man Resonanzböden 1-8 unter diesem Blickwinkel einer »Kunst als Forschung«, so lassen sich meines Erachtens zunächst folgende Aspekte benennen: Meine Arbeit resultiert aus einem Erkenntnisinteresse an der Kunsthalle Bern. Das Forschungsergebnis dieser Untersuchung ist ein Klangobjekt, nicht ein wissenschaftlicher Artikel. Dabei wurde die Darstellungsform und der Einsatz der Mittel auf das Thema und das Erkenntnisinteresse hin abgestimmt. Im Kontext der Ausstellung Pre-emptive, die unterschiedliche künstlerische Positionen zu Fragen der Gefahr und Furcht versammelte,11 ergab sich für Resonanzböden 1-8 ein thematisches Umfeld, mit dem die Arbeit interferierte. Es gab andere Künstler, die zu meinem Statement Stellung nahmen, aber auch ein Publikum, das Zugang zu den »Forschungsergebnissen« erhielt.

9 Vgl. dazu auch Dombois 2006a. 10 Ich unterscheide also explizit zwischen »Forschung« und »Wissenschaft« und denke, dass Erstere auch außerhalb des Geltungsbereichs der Letzteren möglich und nötig ist. 11 Vgl. Fußnote 1.

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Der naturwissenschaftlichen Forschung unterstellt man landläufig, dass sie eindeutige Antworten gäbe und dass diese Ergebnisse einen »Fortschritt« bedeuteten. Spätestens aber seit den Arbeiten von Ludwig Fleck12 und Thomas Kuhn13 kann man die lineare Progression der naturwissenschaftlichen Erkenntnis nicht mehr behaupten. Es gilt höchstens noch eine abgeschwächte Form, in der man eine Dialektik von eindeutigem Ergebnis und daraus resultierenden Fragen anstrebt und fordert, dass eine Innovation auf einem »State of the Art« zu entwickeln sei. Dieser Anspruch an die wissenschaftliche Forschung ist meines Erachtens auch auf eine »Kunst als Forschung« übertragbar: Ich stelle zur Disposition, dass Resonanzböden 1-8 etwas »Neues«, also kein Plagiat darstellt und dass die Arbeit in ihrer abgeschlossenen Form eindeutig ist, auch wenn das Ergebnis seinerseits neue Fragen aufwirft. Der vorliegende Aufsatz wird im Teil III, Desiderate, des Buchs Sound Studies publiziert. Ich möchte deshalb auch über das konkrete Beispiel hinaus jene Fragen benennen, die mir dringlich erscheinen, wenn man Geräusche und Klänge – außerhalb der Musik und kompositorischer Verfahren – nicht nur als Untersuchungsobjekt der herkömmlichen wissenschaftlichen Forschung, sondern als eigenständiges Medium der Forschung selbst postulieren möchte; sprich, wenn man nicht mehr nur Forschungsergebnisse über Klänge, sondern auch durch Klänge formulieren können will: Ich sehe ein erstes, grundsätzliches Desiderat in der Präzisierung dessen, was eine solche, sich in verschiedenen Medien formulierende »Kunst als Forschung« sein kann und sein soll. Es ist niemandem geholfen, wenn man alle Kunst als Wissensproduktion tituliert und jede kleine Recherche zur Forschung erklärt. Zum Beispiel: Was macht Resonanzböden 1-8 zu einem Forschungsergebnis? Wie wichtig ist der wissenschaftliche Aspekt? Oder muss man nicht auch explizit unwissenschaftliche Formen der Erkenntnis in den Künsten fordern? 2006 habe ich versucht, einen Schritt in Richtung einer pragmatischen Konkretisierung zu machen. Dabei habe ich die vorangegangenen Überlegungen zu meiner eigenen Forschung als Paragraphen formuliert: § 1 Eine »Kunst als Forschung« setzt ein Erkenntnisinteresse voraus! § 2 Das Erkenntnisinteresse wird offengelegt! § 3 Das Wissen formuliert sich in den jeweiligen künstlerischen Darstellungsformen!

12 Vgl. insbes. Fleck 2002. 13 Vgl. insbes. Kuhn 1976.

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§ 4 Quer zur Organisation nach Darstellungsformen tritt die Gruppierung nach Themen! § 5 Forschung ist eine Unternehmung von vielen! § 6 Die Evaluation von Forschungsergebnissen geschieht durch Fachleute! § 7 Die Forschungsergebnisse werden der Allgemeinheit durch Veröffentlichung zugänglich gemacht! § 8 Für die Verhandlung der Forschungsergebnisse besteht eine Einigung über die Qualitätskriterien! § 9 Eine Kunst als Forschung berücksichtigt den »State of the Art«! § 10 Eine Kunst als Forschung spielt der wissenschaftlichen Forschung ihre Antworten als Fragen zurück!14 Es ist klar, dass dieser Kanon nur der Auftakt für eine Präzisierung sein kann. Die künstlerische Forschung ist ein offenes Projekt, das erst noch entwickelt werden muss.15 Ein zweites Desiderat sehe ich in der Weiterentwicklung und Profilierung der Sonifikation. Die Einführung des Klangs als gleichberechtigte Darstellungsform hinterfragt unsere visuell geprägten Vorstellungen von Erkenntnis bzw. bringt die Medienfrage überhaupt ins Bewusstsein. Man muss sich neuerdings entscheiden, ob ein Datensatz visuell oder akustisch dargestellt werden soll, und damit ist die Formfrage auf dem Tisch. Ein drittes Desiderat sehe ich in der Entwicklung des forschenden Hörens selber. Das Vertrauen in das Lesen wissenschaftlicher Grafiken beruht auf jahrelangem Training, das schon frühzeitig in der Ausbildung beginnt. Die Einführung der Sonifikation erfordert neu ein weiteres Training, und zwar im Akustischen. Der sprachliche Begriffskanon zur Beschreibung von Klängen muss entwickelt und präzisiert werden. Die bisherige Wissenschaftsausbildung bietet dieses Know-how nicht, sie steht noch zu stark unter dem vielbeschworenen »Visualprimat«. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass sich über kurz oder lang ein epistemologisches Hören ausbilden kann. Computer und Internet erlauben eine Publikation und Distribution von Klängen in großen Maßstab und schaffen

14 Aus Dombois 2006b; vgl. auch die Reaktion in Dombois, Ursprung 2006. 15 Hieran ist nicht nur die Schweiz, sondern sind zahlreiche andere Länder insbes. im Kontext künstlerischer Promotionen beteiligt. Aus der aktuellen Diskussion sind z.B. folgende Buchtitel zu nennen: Balkema 2004, McNiff 2004, Sullivan 2005, Macleod 2006 oder Barrett 2007. Allerdings befriedigen mich diese Untersuchungen meist nur teilweise, da sie den Aspekt der Darstellungsform, der mir zentral scheint, zu wenig behandeln. Ich persönlich profitiere daher immer noch stark von älteren Arbeiten wie Cassirer 1923-1931, Goodman 1969 und Picht 1990.

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damit erstmals in der Geschichte die Voraussetzung für eine gemeinsame Hörerfahrung und -schulung, so wie es die Drucktechniken im Visuellen schon lange leisten. Welches Hören brauchen wir also wann, wo und wie?

4. Quellen Balkema, Annett W., Slager, Henk (Hg.) (2004): Artistic Research, Amsterdam. Barrett, Estelle, Bolt, Barbara (Hg.) (2007): Practice as Research, London. Cassirer, Ernst (1923-1931): Philosophie der symbolischen Formen (3 Bde. u. Index), Berlin. Dombois, Florian (2006a): Reflektierte Phantasie. Vom Erfinden und Erkennen, insbesondere in der Seismologie, in: Paragrana, Beih. 2, 101-111. Dombois, Florian (2006b): Kunst als Forschung. Ein Versuch, sich selbst eine Anleitung zu entwerfen, in: HKB/HEAB 2006, hg. v. Hochschule der Künste Bern, 21-29. Dombois, Florian (2008): What are the places of danger?, in: Trajekte, H. 16, 46-51. Dombois, Florian, Ursprung, Philip (2006): Kunst und Forschung. Ein Kriterienkatalog und eine Replik dazu, in: Kunst-Bulletin, H. 4, 30-35. Fleck, Ludwik (2002): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt a.M. (Erstersch. 1935). Goodman, Nelson (1969): Languages of Art: an approach to a theory of symbols, London. Hermann, Thomas (2002): Sonification for Exploratory Data Analysis, Diss. Universität Bielefeld. Kramer, Gregory (1994): Auditory Display: Sonification, Audification and Auditory Interfaces, Reading, MA. Kuhn, Thomas (1976): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. (Erstersch. 1962). Macleod, Katy (2006): Thinking through art, London. McNiff, Shaun (2004): Art-Based Research, London. Picht, Georg (1990): Kunst und Mythos, 3. Aufl., Stuttgart. Stolz, Martin, Graber, Claudia (2006): Wenn Wände klingen, in: der bauingenieur, H. 9, 50-52. Sullivan, Graeme (2005): Art practice as research. Thousand Oaks, CA.

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Autoren

Alex Arteaga *1969, Klangkünstler, Musiker. Zusammen mit Thomas Kusitzky leitet er die 2006 gegründete Forschungsgruppe Auditive Architektur. Zurzeit promoviert er am Institut für Philosophie der Humboldt Universität zu Berlin über das Verhältnis zwischen ästhetischer Praxis, nachhaltiger Lebensführung und Kognition (Stipendium der Heinrich Böll Stiftung). Alex Arteaga studierte Klavier, Musiktheorie, Komposition, Elektroakustische Musik und Architektur in Barcelona und Berlin. Seine künstlerische Produktion entwickelt sich von der Komposition instrumentaler und elektronischer Stücke über die Realisation von raumbezogenen Klanginstallationen hin zur konzeptuellen und praktischen Gestaltung ästhetisch-gesellschaftlicher Prozesse. Seit 1998 ist er Lehrbeauftragter für Klangkunst und seit 2006 Leitungsassistent von Prof. Martin Supper im UNI.K - UdK – Studio für Klangkunst und Klangforschung. Seit 2003 ist er Dozent für Klang und Dokumentarfilm in der ESCAC (Hochschule für Film und Audiovisuelles, Katalonien) und seit 2007 Beiratsmitglied der Social Sculpture Research Unit an der Oxford Brookes University. Alex Arteaga lebt und arbeitet in Berlin und Barcelona. Sam Auinger *1956, Komponist. Seit den frühen 1980ern beschäftigt er sich intensiv mit Fragen der Komposition, der Computermusik, des Sounddesigns und der Psychoakustik. 1989 gründete er gemeinsam mit Bruce Odland O+A. Unter dem zentralen Thema Hearing Perspective entstanden Projekte, wie Garten der Zeiträume (Ars Electronica 90, Linz), Sounddesign für Peter Sellers und Die Perser (Premiere: Salzburger Festspiele, 93), Balance (Sonambiente, Berlin 96), Box 30/70 (Start 2000 Siemens Stadt, Berlin), Blue Moon (New Sounds New York, NYC 2004). Mit dem Wiener Komponisten und Musiker Rupert Huber gründet er 1997 die Medienband berliner theorie. Nach mehreren Projekten mit Dietmar Offenhuber und Hannes Strobl entstand Ende 2005 die Künstlergruppe stadtmusik. Sam Auinger erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, wie den Kulturpreis der Stadt Linz, DAAD Stipendium/Berlin und den SKE Publicity Preis 2007. Sam Auinger lebt und arbeitet in Berlin.

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Roger Behrens *1967, Studium der Philosophie und Sozialwissenschaft in Hamburg, Berkeley und Maastricht, Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten (u.a. Leuphana Universität Lüneburg, Universität Hamburg); Arbeitsschwerpunkte: Neuzeitliche Philosophie, kritische Theorie der Gesellschaft, Kultur- und Kunsttheorie, Ästhetik. Lebt und arbeitet in Hamburg und Belo Horizonte (Brasilien). Veröffentlichungen (Auswahl): Kulturindustrie. Bielefeld 2004; Die Diktatur der Angepassten, Texte zur kritischen Theorie der Popkultur, Bielefeld 2003; Im Erscheinen: Cultural Studies, Hamburg 2008; Weitermachen. Achtundsechzig und der Kommunismus, Münster 2008. Prof. Diedrich Diederichsen *1957, Kulturwissenschaftler, Journalist und Professor an der Akademie der Bildenden Künste Wien. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Linguistik von 1979 bis 1983 war er Redakteur der Musikzeitschrift Sounds und von 1985 bis 2000 Redakteur und Herausgeber der Popkultur-Zeitschrift Spex. In den 1980ern schrieb er regelmäßig Beiträge für Spiegel und konkret, seitdem vor allem für die taz, Zeit, Jungle World, Texte zur Kunst und Theater heute. Seit 1992 ist er Hochschullehrer in unterschiedlichen Disziplinen in Deutschland, Österreich und den USA und war von 1998 bis 2006 Professor an der Merz Akademie in Stuttgart. Er lebt und arbeitet in Wien und Berlin. Veröffentlichungen (Auswahl): Eigenblutdoping – Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation, Köln 2008; Argument Son – De Britney Spears a Lachenmann, Dijon 2007; Lautsprecherei, (Hg.) Stuttgart 2007; Golden Years – Dokumente und Materialien zu queerer Avantgarde und Subkultur 1959-1974, (Hg. mit Christine Frisinghelli, Matthias Haase, Christoph Gurk, Juliane Rebentisch, Martin Saar und Ruth Sonderegger), Graz 2006; Personas en loop, Buenos Aires 2005. Prof. Dr. Florian Dombois *1966, beschäftigt sich als Künstler mit Erdbeben und naturwissenschaftlichen Phänomenen in unterschiedlichen Darstellungs- und Publikationsformaten. Er hatte Einzelund Gruppenausstellungen u.a. in der Kunsthalle Bern, Galerie Rachel Haferkamp Köln, Akademie der Künste Berlin, VolkSystem Toulouse. Er studierte Geophysik und Philosophie in Berlin, Kiel und Hawaii. Danach folgte eine Promotion bei Hartmut Böhme zur Frage Was ist ein Erdbeben?. Heute ist er Professor an der Hochschule der Künste Bern und leitet dort das Institut für Transdisziplinarität (Y). Er lebt in Köln und Bern.

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Prof. Dr. Wolfgang Ernst *1959, Studium von Geschichte, Archäologie und Latein an Universitäten in Köln, London und Bochum; promovierte mit einem museumshistorischen Thema. Habilitation über deutsche Gedächtnisagenturen im 19. und 20. Jahrhundert. Nach wissenschaftlicher Mitarbeit an der Kunsthochschule für Medien (Köln) und diversen medienwissenschaftlichen Vertretungsprofessuren (Weimar, Bochum, Paderborn, Berlin) ist er derzeit Professor für Medientheorien am Seminar für Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Aktueller Forschungsschwerpunkt: Zeit als kritischer Parameter elektronischer Medien. Veröffentlichungen (Auswahl): M.edium F.oucault. Weimarer Vorlesungen über Archive, Archäologie, Monumente und Medien, Weimar 2000; Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002; Sammeln – Speichern – Er/zählen. Infrastrukturelle Konfigurationen des deutschen Gedächtnisses, München 2003; Das Gesetz des Gedächtnisses. Medien und Archive am Ende (des 20. Jahrhunderts), Berlin 2007. Prof. Dr. Golo Föllmer *1964, Seit 2007 Juniorprofessor für Interkulturelle Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Audiokultur an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Nach seiner Ausbildung zum Klavierbauer und seinen Studien der Musik- und Kommunikationswissenschaft an der Technische Universität Berlin sowie der Broadcast Communication Arts an der San Francisco State University promovierte er 2002 zum Thema Netzmusik. Mitwirkung bei der Gesamtüberarbeitung des Brockhaus-Riemann-Musiklexikons. Neben seinen Texten zu Klangkunst, zeitgenössischer Musik und akustischen Medien entstanden Radio- und Tonbandstücke sowie Klanginstallationen- und -objekte. Kuratorische Mitarbeit u.a. bei sonambiente (Akademie der Künste Berlin, 1996), net_condition (ZKM Karlsruhe 1999), Networkshop (Dresden/Berlin 2001), sonambiente (Berliner Festspiele, Berlin 2006) und radioREVOLTEN (Radio Corax, Halle 2006). Golo Föllmer lebt in Berlin und arbeitet in Halle. Andreas Hagelüken *1963, Radiomacher und Funkautor, studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in Bonn und Freiburg. Beginnt seine Radioarbeit 1994 beim SFB, 199698 Kulturjournalismus für Magazinsendungen im DLF und SDR, produziert Filmton und Theatersoundtracks. 2000-2003 Klangkunst-Magazins Sound Rules (25 Ausgaben) für die Hörspielabteilung des SFB. 2000 konzipiert er das freie Tonarchiv www.hoerspielbox. de für die Akademie der Künste, Berlin und den SFB. Schreibt und produziert Künstlerportraits, Feature, experimentelle Hörspiele und zahlreiche Sendungen zur Radiokunst für die ARD und das Deutschlandradio, bis 2006 war er freier, programmgestaltender Mitarbeiter für den Sendeplatz Musik der Gegenwart/Internationale Radiokunst beim

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rbb-kulturradio und kuratierte bis 2005 die rbb-klanggalerie. Seit Januar 2004 Anthologiereihe: Neue Radiokunst International für den SWR 2 Klangraum – Ars Acustica. 2005-2007 Dramaturgie und Co-Produktion des Audioweg Gusen (von Christoph Mayer Chm) bei Linz (A); 2005 – 2007 Radio-Kunst bei radiotesla, Berlin; seit 2008 im ausland, Berlin. Andreas Hagelüken lebt in Berlin und Freiburg. Dr. Thomas Hermann *1970, Studium der Physik an der Universität Bielefeld, Promotion in Informatik an der AG Neuroinformatik der Universität Bielefeld mit dem Thema »Sonification for Exploratory Data Analysis«, Forschungsaufenthalte in den Bell Labs (NJ, USA, 2000), GIST (Glasgow University, U.K., 2004), McGill University (Montreal, Kanada, 2008); Deutscher Delegierter der COST Action 287 (Gesture Controlled Audio Systems, bis 2007), seit 2003 Vorstandsmitglied der ICAD (International Community for Auditory Display), Initiator und Organisator der ISon Workshops (International Workshop on Interactive Sonification, mit Andy Hunt), zweiter Vorsitzender und Deutscher Delegierter der COST Action IC0601 Sonic Interaction Design (SID). Seit 2008 leitet Thomas Hermann die unabhängige Forschungsgruppe Ambient Intelligence im Exzellenzcluster »Cognitive Interaction Technology« (CITEC) an der Universität Bielefeld. Seine Schwerpunktthemen sind Sonifikation, multimodale Mensch-Maschine Interaktion, kognitive Interaktionstechnologien, Datamining, Tangible Computing und Augmented Reality. Thomas Hermann lebt und arbeitet in Bielefeld. Thomas Kusitzky *1975, Klangkünstler, freier Musiker in den Bereichen Elektro-Akustik und Computermusik. Zusammen mit Alex Arteaga leitet er die 2006 gegründete Forschungsgruppe Auditive Architektur, die als Forschungsschwerpunkt in die Universität der Künste Berlin eingegliedert wurde (2007 zweiter Platz beim Deutschen Bauforschungs-Nachwuchspreis). Thomas Kusitzky studierte Musik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler und war Teilnehmer am Modellversuch für den Masterstudiengang Sound Studies an der Universität der Künste Berlin. Arbeiten von Thomas Kusitzky waren unter anderem beim Erlanger Hörkunstfestival 2006, beim International Computer Music Congress (ICMC) 2005 in Barcelona und beim Media Space Festival 2004 in Stuttgart zu hören. Thomas Kusitzky lebt und arbeitet in Berlin. Prof. Daniel Ott *1960, Klavierdiplom 1980. Unterrichtstätigkeit und Zusammenarbeit mit freien Theatergruppen in den Regionen Basel und Graubünden. 1983-85 Theaterstudien in Paris

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und London, 1985-90 Kompositionsstudium bei Nicolaus A. Huber an der FolkwangHochschule Essen, sowie bei Klaus Huber an der Musikhochschule Freiburg im Breisgau. 1990 Gründung des Festivals neue musik rümlingen, Tätigkeit als Pianist, Darsteller und Komponist mit Arbeitsschwerpunkt Neues MusikTheater und Landschaftskomposition. Seit 1995 Lehrbeauftragter und seit 2005 Professor für Komposition und Experimentelles Musiktheater an der Universität der Künste Berlin. 2007 und 2008 ist Daniel Ott Gastprofessor an der Hochschule für Künste Bern. Daniel Ott lebt und arbeitet in Bern. Jens Gerrit Papenburg *1976, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Theorie und Geschichte der populären Musik bei Prof. Peter Wicke an der Humboldt-Universität zu Berlin seit 2006. Geschäftsführender Redakteur der Online-Plattform PopScriptum Beiträge zur populären Musik. Papenburg studierte Musikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Populäre Musik seit 1950, Geschichte des Hörens, akustische Medien der Musik, Deleuze und Musik. Veröffentlichungen (Auswahl): Der Synthesizer als Apriori. Körper und Maschinen in der Popmusik, in: Wulf, Christoph et al. (Hg.), Paragrana, Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie (14, 2), Berlin 2005; Hörgeräte. Zur Psychomathematik des akroamatischen Leibniz, in: Ernst, Wolfgang et al. (Hg.): Zeitkritische Medienprozesse, Berlin 2007. Prof. Dr. Holger Schulze *1970, Leiter des Studienganges Sound Studies – Akustische Kommunikation und Gastprofessor für Klanganthropologie und Klangökologie an der Universität der Künste Berlin. Seit 2000 maßgebliche Mitentwicklung des Studienganges Sound Studies. Studium der Komparatistik, Theater- und Medienwissenschaft und Philosophie in Erlangen von 1990-98. Seit 1995 Arbeit an der Theorie der Werkgenese in drei Bänden: Das aleatorische Spiel (2000) – Heuristik (2005) – Intimität und Medialität (2007). 2002/2003 Geschäftsführer der berliner gesellschaft für neue musik und seit 2003 Mitglied der Gesellschaft für Historische Anthropologie. 2007 habilitierte er mit der Lehrbefähigung im Fach Kulturwissenschaft (insbesondere Sound Studies) an der Universität der Künste Berlin. Künstlerische Projektbegleitungen, Erzählungen, Vorträge und Moderationen. Gutachter für digital sparks, den Deutschen Hörbuchpreis sowie Betreuer zahlreicher Magister- und Diplomarbeiten, Masterthesis und Promotionen. Holger Schulze lebt und arbeitet in Berlin. Veröffentlichungen (Auswahl): Das aleatorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nicht-intentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert, München 2000; Heuristik. Theorie der intentionalen Werkgenese, Bielefeld 2005; mit hyper[realitäten]büro: Theorie Erzählungen. Persönliches Sprechen vom eigenen Denken, Wien 2005; mit Christoph Wulf:

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Klanganthropologie. Performativität – Imagination – Narration, Berlin 2007; Intimität und Medialität. Tektonik der Medien, Habilitation Berlin 2007. Georg Spehr *1967, Kommunikationstechniker und Multimedia-Designer mit Spezialisierung auf Akustische Gestaltung. 1989-98 als Studiotechniker für professionelle Audiotechnik bei Studer Deutschland tätig. 1999-2002 als Multimedia Designer bei Agenturen im Crossmedia- und Internetbereich. Seit 2002 Freiberufler für akustische Gestaltung und Multimedia Design, u. a. bei MetaDesign mit Kunden wie Lufthansa, Allianz und Siemens. 2003 bis 2005 Lehrauftrag an der Fachhochschule Potsdam im Fachbereich Interfacedesign. Seit 2006 freier Dozent für Sound Studies an der Universität der Künste Berlin im Fachbereich Akustische Konzeption mit dem Schwerpunkten Audio-Branding und Funktionale Klänge. Vorträge in den Bereichen: Audio-Branding, Sound & Internet, akustische Gestaltung, funktionale Klänge. Organisation des Symposions Akustische Konzeption – Funktionale Klänge, 2007 an der Universität der Künste Berlin. Veröffentlichung (Auswahl): Audio-Branding – Alles neu?, in: Kai Bronner und Rainer Hirt (Hg.): Audio-Branding – Entwicklung, Anwendung, Wirkung akustischer Identitäten in Werbung, Medien und Gesellschaft, München 2007. Prof. Dr. Martin Supper *1947, Professor für Elektroakustische Musik und Klangkunst an der Universität der Künste Berlin. Studium der Informatik, Linguistik und Musikwissenschaft an der Technischen Universität Berlin, Diplom in Informatik, Promotion in Musikwissenschaft. Zwei Jahre Stipendiat bei Gottfried Michael Koenig am Instituut voor Sonologie, Utrecht. Seit 1985 Leiter des UNI.K - UdK | Studio für Klangkunst und Klangforschung an der Universität der Künste Berlin. Kompositionen und Klanginstallationen (u.a. DH2 für Weltmusiktage Oslo 1990 und fragment für das Colloquium on Musical Informatics Florenz 2003). Buch- und Aufsatzveröffentlichungen im In- und Ausland; Programmentwurf und Leitung internationaler Festivals. Martin Supper lebt und arbeitet in Berlin. Prof. Dr. Elena Ungeheuer * 1962, Professorin für Systematische Musikwissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Die Systematische Musikwissenschaft weist eine breite Tradition vernetzender und anwendungsorientierter Forschung auf mit Themen wie Musik und Gesellschaft, Musik und Kultur, Musik und Individuum, Musik und andere Künste, Musikpsychologie, Musiksoziologie und vor allem Musik und Medien, wobei musikästhetische Ansätze sich mit analytischen und empirischen Methoden, philosophischen Überlegungen, philologischen und kognitionstheoretischen Untersuchungen verbinden. Folgende medienäs-

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thetische Schwerpunkte prägen Lehre, Forschung, Projekte und Publikationen von Elena Ungeheuer: Multimedia und Intermedialität, Musik und Klang, Musik, Medien und Technik, Universaltheorie der Künste, Pragmatische Medienphilosophie, Medialität und Aisthesis, Theorien der Vermittlung, Interaktivität, elektroakustische Musik. Elena Ungeheuer lebt und arbeitet in Berlin. Veröffentlichungen (Auswahl): Das Sonische – Musik oder Klang? (2008), in: Forschungszentrum Populäre Musik der Humboldt-Universität zu Berlin (Hg.), PopScriptum 10. Das Sonische – Sounds zwischen Akustik und Ästhetik, 2003; Elektroakustische Musik (Hg.), Handbuch zur Musik des 20. Jahrhunderts 5, Laaber 2002; Wie die elektronische Musik ›erfunden‹ wurde ... Quellenstudie zu Werner Meyer-Epplers Entwurf zwischen 1949 und 1953, Mainz 1992. Prof. Carl-Frank Westermann *1950, Gastprofessor für Akustische Konzeption an der Universität der Künste Berlin für den Studiengang Sound Studies – Akustische Kommunikation. Seit 2000 maßgeblich verantwortlich für die Entwicklung und Konzeption des Studiengangs. Darüber hinaus ist Westermann bei MetaDesign Berlin als Creative Director für die Entwicklung und Leitung des Bereichs Sound Branding verantwortlich und betreut Kunden wie u.a. Allianz, Lufthansa, Siemens, DHL, eBay, Audi, Volkswagen und für das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven die Sound-Konzeption (European Museum Award 2007). Westermann ist Diplom-Kaufmann und studierte Organisationspsychologie und Musik. Mit den Schwerpunkten »ganzheitliche Inszenierung der Marke und multisensorische Markenkommunikation« war Westermann Mitglied der Ramses Jury und referierte als Keynotespeaker auf Veranstaltungen wie Medianet, TYPO Berlin, dem Generalkonsulat in Shanghai und den VoiceDays in Bonn. Er lebt und arbeitet in Berlin. Johannes Wilms M.A. *1965, freier Publizist, klassisch-philologische Ausbildung: Studium der Soziologie, Niederlandistik, Philosophie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaft an der FU Berlin und am D.A.M.S., Bologna; literarische und außerliterarische Arbeiten, Kurzfilme, Klanginstallationen, graphische und photographische Arbeiten, Iconalyse; massgebliche Beteiligung an den Berliner Freien Radioprojekten juniradio, radioriff und reboot.fm; (Co-) Kurator der Festivals radioREVOLTEN (Halle/Saale 2006) und Radiovisionen (Berlin 2007) sowie des Programmteils: radiotesla – grenzen bei tesla-berlin. Johannes Wilms lebt und arbeitet in Berlin.

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Abbildungsverzeichnis

Martin Supper

20 Abb. 1: Firmensignet von Gramophone Record: Ein Engel »schreibt« die Rillen der Schallplatte. Foto: Gramophone Co, Ltd, Hayes. Middlesex, England. Quelle: www.wikimedia.org 21 Abb. 2: Firmensignet von Gramophone Co, Ltd, Hayes. Middlesex, England: The Master’s Voice. Der Hund Nipper hört die Stimme seines Herrn. Foto: Gramophone Co, Ltd, Hayes. Middlesex, England. Quelle: http://organismo.art.br/blog/wp-images/collect1.jpg 23 Abb. 3: Christian Marclay: Installation at gelbe Musik, Berlin 1988 Foto: Werner Zellien. 25 Abb. 4: François Bayle (von hinten) sitzt an der Steuerung des Lautsprecherkonzertes Acousmonium, das er 1974 entworfen hat. Maison de Radio France, Paris 1980. Foto: GRM Paris. Quelle: www.textura.org/imagesgraphics/henke/bayle.jpg

Thomas Hermann 222 Abb. 1: Der audiohaptische Ball als neuartiges Interface zur Interaktion mit Sonifikationsmodellen (schütteln, anschlagen, quetschen etc.). Foto: Thomas Hermann, Universität Bielefeld. 223 Abb. 2: Das Malleable Interface – eine Interaktionsschnittstelle, welche kontinuierliche Deformationen zur Anregung von Sonifikationsmodellen erschließt. Foto: Till Bovermann, Universität Bielefeld.

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225 Abb. 3: Der Tangible Desk – ein mit Kameras, Projektor und weiteren Sensoren ausgestatteter Glastisch, der erlaubt, Objekt-Interaktionen mit Sonifikationen zu verbinden Foto: Till Bovermann, Universität Bielefeld

Sam Auinger

232 Abb. 1: Sinai Gebirge (Berg Moses), Ägypten Foto: Sam Auinger. 235 Abb. 2: Palast Eoul Sungil, Korea Foto: Kang Sung-Eun.

Alex Arteaga 255 Abb. 1 Thomas Kusitzky 260 Abb. 2 263 Abb. 3 265 Abb. 4 Abb. 1-4 : Schlieren, Forschungsprojekt Fotografische Langzeitbeobachtung Schlieren 2005-2020 (2008), Zürcher Hochschule der Künste. Fotos: Ulrich Görlich, Meret Wandeler, Zürcher Hochschule der Künste.

Daniel Ott

271 Notenbeispiel 1: Franz Schubert, Trio aus dem 3. Satz der Klaviersonate B-Dur (D 960). 272 Notenbeispiel 2: Morton Feldmann, Sting Quartett II, Seite 1, Universal Edition (London) Ltd., 1983. 274 Notenbeispiel 1: Daniel Ott, 17-Tonreihe mit Stichworten zum letzten Teil über Hafenbecken I & II. 276-277 Abb.1-4: Daniel Ott, Hafenbecken I & II, Rheinhafen Basel 2005/06. Fotos: Reinhard Manz.

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Florian Dombois

292 Abb. 1: Resonanzböden 1-8, Aufsicht Foto: Dominique Uldry, Bern. 293 Abb. 2-7: Vermessung der Fußböden der Kunsthalle Bern am 2.7.2006 Foto: Florian Dombois. 294 Abb. 8: Der Aaresaal der Kunsthalle Bern während der Ausstellung Pre-Emptive Foto: Florian Dombois. 296 Abb. 9: Resonanzböden 1-8, Infoseite (Foto des Displays, Ausschnitt) Foto: Florian Dombois.

Umschlag

An der Ostbahn, 2008 Foto: Christina Giakoumelou.

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Texte zur populären Musik Andreas Gebesmair Die Fabrikation globaler Vielfalt Struktur und Logik der transnationalen Popmusikindustrie

Thomas Phleps, Ralf von Appen (Hg.) Pop Sounds Klangtexturen in der Pop- und Rockmusik. Basics – Stories – Tracks

Januar 2008, 368 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-850-6

2003, 234 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-150-7

Ralf von Appen Der Wert der Musik Zur Ästhetik des Populären 2007, 344 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-734-9

Michael Fuhr Populäre Musik und Ästhetik Die historisch-philosophische Rekonstruktion einer Geringschätzung 2007, 154 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN: 978-3-89942-675-5

Helmut Rösing Das klingt so schön hässlich Gedanken zum Bezugssystem Musik (herausgegeben von Alenka Barber-Kersovan, Kai Lothwesen und Thomas Phleps) 2005, 232 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-257-3

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Beiträge zur Popularmusikforschung Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) No Time for Losers Charts, Listen und andere Kanonisierungen in der populären Musik September 2008, 178 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN: 978-3-89942-983-1

Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Sound and the City Populäre Musik im urbanen Kontext 2007, 166 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-796-7

Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Cut and paste Schnittmuster populärer Musik der Gegenwart 2006, 156 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-569-7

Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Keiner wird gewinnen Populäre Musik im Wettbewerb 2005, 214 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-406-5

Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) 9/11 – The world’s all out of tune Populäre Musik nach dem 11. September 2001 2004, 212 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-256-6

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de