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German Pages 312 Year 2014
Stephan Moebius (Hg.) Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies
Edition Kulturwissenschaft | Band 21
Stephan Moebius (Hg.)
Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies Eine Einführung
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Inhalt
Kulturforschungen der Gegenwart – die Studies. Einleitung | 7 Stephan Moebius
Cultural Studies | 13 Stephan Moebius
Media Studies | 34 Udo Göttlich
Gender Studies | 48 Paula-Irene Villa
Queer Studies | 63 Lutz Hieber
Postcolonial Studies | 88 Karen Struve
Governmentality Studies | 108 Lars Gertenbach
Disability Studies | 128 Werner Schneider/Anne Waldschmidt Surveillance Studies | 151 Leon Hempel
Visual Studies | 176 Sophia Prinz/Andreas Reckwitz
Space Studies | 196 Laura Kajetzke/Markus Schroer
Performative/Performance Studies | 216 Erika Fischer-Lichte
Sound Studies | 242 Holger Schulze
Cultural Memory Studies | 258 Astrid Erll
Science Studies | 282 Georg Kneer
Autorinnen und Autoren | 304
Kulturforschungen der Gegenwart – die Studies Einleitung Stephan Moebius
Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies stellt anhand von Einzelbeiträgen ausgewiesener Expertinnen und Experten aktuell diskutierte und in den Sozial- und Kulturwissenschaften sich ausbreitende Forschungsfelder der Kultursoziologie bzw. der Kulturwissenschaften vor. Unter den Kulturforschungen der Studies sind dabei jene Analysen und Untersuchungen zu verstehen, die in den letzten Jahren fächerübergreifend immer mehr an (auch institutioneller) Bedeutung gewonnen haben, wie beispielsweise die Governmentality Studies, die Queer Studies, Gender Studies, Space Studies, Science Studies, Visual Studies, Cultural Studies oder Postcolonial Studies. Die Studies sind Teil einer breiteren Entwicklung im kultursoziologischen und kulturwissenschaftlichen Feld, das in seinem gegenwärtigen Zustand insbesondere durch drei Merkmale gekennzeichnet ist:1 1. Ein großer Teil aktueller Kulturforschungen teilt eine mehr oder weniger sichtbare, aus der Kultursoziologie herrührende praxistheoretische Perspektive.2 Das Soziale wird nicht mehr von den Strukturen, dem bloß Diskursiven oder den Individuen gedacht, sondern von den diese beiden Pole vermittelnden sozialen Praktiken her.3 Aus dem Blickwinkel der Praxistheorien, wie sie etwa der Soziologe und Ethnologe Pierre Bourdieu entwickelt hat, entfalten übersubjektive Deutungsmuster, Sinnstrukturen, kollektive Wissensschemata und symbolische Machtverhältnisse ihre Wirkungen erst durch die sozialen Praktiken. Soziale Praktiken sind 1 | Um die Rahmung gegenwärtiger Kulturforschungen erkenntlich zu machen, greife ich in gekürzter Form auf meine Darstellung und Formulierungen aus Kultur. Themen der Soziologie (Reihe Einsichten), Bielefeld 2010 zurück. Der vorliegende Band schließt gleichsam an das Ende dieses Überblickswerks an. Zur Vorgeschichte der Studies, ihrer historischen Kontextualisierung und ihrer Einordnung im kulturtheoretischen bzw. -soziologischen Feld sei deshalb auch auf diese Monographie verwiesen. 2 | Zu den hier vorgestellten Grundelementen von Praxistheorien vgl. Reckwitz, Andreas, »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, Heft 4, 2003, S. 282-301. Im folgenden Abschnitt zur Praxistheorie wird inhaltlich Reckwitz’ Beitrag gefolgt. 3 | Hörning, Karl/Reuter, Julia (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004.
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aus dieser Sicht »sozial geregelte, eingeübte, typisierte sowie routinisierte Formen körperlicher Darstellungen«, 4 die »spezifische Formen des impliziten Wissens, des Know-how, des Interpretierens, der Motivation und der Emotion«5 beinhalten und in enger Verbindung mit Artefakten stehen. Die Akteure werden nicht als am Beginn einer Praxis stehend gedacht, sondern als Subjekt- bzw. Habitusformen, die sich vor dem Hintergrund kultureller Codes erst in historisch-kulturellen Praktiken und Diskursen konstituieren.6 Das den Praktiken intrinsische Moment der Körperlichkeit und Materialität verweist auf die Inkorporiertheit der kulturellen Codes, eine in der alltäglichen Praxis körperlich-habituelle Einverleibung und Materialisierung symbolischer Wissensbestände. Die Strukturierung gesellschaftlicher Wirklichkeit vollzieht sich den Praxistheorien zufolge durch gleichförmige, repetitive und routinisierte Handlungsmuster, durch die – in einer Art Wiederholungszwang – die Sinnstrukturen stabil bleiben und sich reproduzieren. Praktiken werden aus dieser Sicht auf implizite Weise weitgehend durch kulturelle Wissensordnungen, die als Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensschemata (»Habitus«) inkorporiert sind, reguliert.7 Dabei ist die Regulierung nicht von vornherein festgelegt und determiniert, sondern soziale Praktiken sind trotz ihrer Regulierung und Routinisiertheit auch gekennzeichnet von einer »Kreativität des Handelns«8, die im kulturtheoretischen Feld je nach Theoriekonzeption als schöpferischer Prozeß, als sozio-kulturelle Wandlungsprozesse initiierendes Ereignis oder, wie etwa bei den Cultural Studies, als unberechenbar-subversive Praxis konzipiert wird. Hierbei werden bei den aktuellen Kulturforschungen unterschiedliche Akzente gesetzt. Manche betonen die Annahme einer die Strukturen reproduzierenden Routinisiertheit repetitiver Verhaltenspraktiken, während andere – wie beispielsweise die durch Judith Butler geprägten Queer oder Gender Studies – die identischen Wiederholungspraktiken in Frage stellen und den ereignishaften und unberechenbaren Charakter sozialer Praktiken in den Mittelpunkt rücken.9 2. Die aktuellen Kulturtheorien und Kulturforschungen sind ferner durch eine sozial- und kulturkritische Sicht auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Prozesse geprägt. Gerade in der deutschsprachigen Rezeption ist die kritische Ausrichtung der aktuellen Kulturforschungen bislang zu wenig wahrgenommen worden. Die kultur- und sozialkritische Sichtweise kommt bei den gegenwärtigen Theorieund Forschungskonzeptionen auf ganz unterschiedliche Weise zum Ausdruck, so stehen beispielweise bei den Cultural, Postcolonial, Queer oder Governmentality Studies die Bildung kultureller Hegemonien und die damit verbundenen Prozesse sozialer Exklusion und Verwerfungen eines kulturell anderen im Vordergrund. Sie 4 | Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne bis zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 36. 5 | Reckwitz, Andreas, Subjekt. Themen der Soziologie (Reihe Einsichten), Bielefeld 2008, S. 135. 6 | Vgl. ebd. 7 | Vgl. Bourdieu, Pierre, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1979. 8 | Joas, Hans, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a.M. 1992. 9 | Vgl. Moebius, Stephan, »Handlung und Praxis. Konturen einer poststrukturalistischen Praxistheorie«, in: Ders./Andreas Reckwitz (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 58-74.
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teilen alle eine herrschaftskritische Hinterfragung der Versuche, kulturelle Eindeutigkeiten herzustellen und fragen sich mehr oder weniger explizit, welche Rolle die Kultur bei der Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen wie Sexismus oder Rassismus spielt.10 Einer der wichtigsten Repräsentanten der Cultural Studies in den USA, Lawrence Grossberg, schreibt etwa, die Cultural Studies seien mit der »Überzeugung verbunden, daß ein solches Wissen die Menschen in eine bessere Position versetzt, den konkreten Kontext und damit die Machtbeziehungen, in denen sie sich befinden, zu verändern«.11 3. Die Vielzahl der aktuell diskutierten Kulturtheorien und -forschungen ist gekennzeichnet durch eine Rehabilitierung der im Zuge des Cultural Turn sowie in der soziologischen Theoriebildung weitgehend vernachlässigten Aspekte von Materialität und Medialität; ebenfalls rückt die Bedeutung von Artefakten wieder in den Horizont. Sie teilen die Ansicht, daß kulturelle Praktiken stets eine Hybridisierung aus materiellen Objekt-, Wissens-, Körper- und Artefaktarrangements sind. Kulturelle Praktiken weisen laut dieser Definition nicht nur eine mentale oder sinnhafte Dimension auf, sondern sie beinhalten auch eine (kulturell-vermittelte) körperliche Seite des Handelns. Sie sind eingebettet in materielle Settings12 , sich zu »Dispositiven« (Foucault) verdichtende räumliche Strukturen (Schule, Gefängnis etc.), massenmediale Technologien und Artefakt-Netzwerke. Aus dieser Sicht, die insbesondere durch die Visual, Space und Science Studies verstärkt wird, ist soziale Praxis aufs engste mit materialen und medialen Artefakten sowie mit natürlichen und technischen »Dingen« bzw. »nicht-menschlichen Aktanten« (Latour) verknüpft. Die strikte Trennung zwischen Materiellem und Kulturellem wird gegenwärtig ebenso dekonstruiert wie die binären Trennungen zwischen Körper/ Geist, Materie/Diskurs, Struktur/Kultur, Akteur/Ding. Im gleichen Zug werden diese Dichotomien als typisch moderne Konstruktionen entlarvt. 13 Steht von den genannten drei Aspekten bei einigen der aktuellen Kulturtheorien oftmals nur einer im Vordergrund, so konvergieren Praxistheorie, Sozialkritik und Rehabilitierung des Materiell-Körperlichen auf ganz besondere und spezifische Weise in den hier vorgestellten Kulturforschungen der Gegenwart, den Studies. Dabei ist darüber hinaus zu beobachten, daß die meisten Studies mehr oder weniger explizit an poststrukturalistische Theorien, insbesondere an Michel Foucault, anknüpfen, so daß man vielleicht zu Recht sagen könnte, sie stellen eine Art
10 | Winter, Rainer, Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht, Weilerswist 2001, S. 76. 11 | Grossberg, Lawrence, »Was sind Cultural Studies?«, in: Karl H. Hörning/Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt a.M. 1999, S. 43-83, hier S. 55. 12 | Vgl. Hahn, Hans Peter, Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2005. 13 | Vgl. Latour, Bruno, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M. 1995. Ähnliche Perspektiven fanden sich bereits bei dem wahrscheinlich ersten sozial- und kulturwissenschaftlichen Kolleg, dem Collège de Sociologie. Siehe dazu nun Hollier, Denis, Collège de Sociologie (1937-1939), Berlin 2012 sowie Moebius, Stephan, Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (19371939), Konstanz 2006.
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(vielfach gegenüber dem Poststrukturalismus eingeklagte) 14 Operationalisierung und empirische Fruchtbarmachung poststrukturalistischer Theoriekonzepte dar. Wirft man nun einen näheren Blick auf die Studies, dann fällt einem die immer weiter zunehmende Ausdifferenzierung auf, mit der man (auch dieser Band nicht) kaum mehr Schritt halten kann. Dieser Prozeß drückt sich in der Entstehung, Institutionalisierung, manchmal auch nur Proklamierung immer neuer Studies aus. Der vorliegende Band greift aus der Menge gegenwärtig auszumachender Studies diejenigen aus, die – wie etwa die Cultural Studies – am Beginn der Bildung dieser Art von Kulturanalysen standen, diejenigen, die diese Ausdifferenzierung wesentlich vorangetrieben haben (etwa die Gender, Queer, Postcolonial Studies), und diejenigen, die derzeit am häufigsten im akademischen Feld diskutiert werden oder Anwendung finden (Visual, Media, Scvience, Disability, Memory, Sound, Performative oder Space Studies zum Beispiel). Daß dabei einige Studies, die es verdient hätten, in den Band aufgenommen zu werden, keine Berücksichtigung finden, liegt dabei nicht an schlechtem Willen, diese nicht diskutieren zu wollen, sondern zuweilen schlicht an der Dynamik des Feldes, die gelegentlich schneller voranschreitet, als ihr nachzukommen ist. Doris Bachmann-Medick beschreibt diese Ausdifferenzierung als ein dynamisches Spannungsfeld unterschiedlicher und wechselnder Cultural Turns:15 Quer durch die Disziplinen lassen sich ihrer Ansicht nach ein Interpretative Turn, Performative Turn, Literary Turn, Postcolonial Turn, Translational Turn, Spatial Turn sowie ein Iconic Turn beobachten. Wie bestimmt sie dabei den Begriff des Turn? »Von einem turn kann man erst sprechen, wenn der neue Forschungsfokus von der Gegenstandsebene neuartiger Untersuchungsfelder auf die Ebene von Analysekategorien und Konzepten ›umschlägt‹, wenn er also nicht mehr nur neue Erkenntnisobjekte ausweist, sondern selbst zum Erkenntnismittel und -medium wird.«16 Es stellt sich allerdings die Frage, ob der Begriff des Turn zur Bezeichnung dieser ausdifferenzierten Felder und methodischen Untersuchungseinstellungen hier angemessen ist. Denn die Rede von einem Iconic oder Postcolonial Turn erweckt den Anschein, daß das gesamte kultur- und sozialwissenschaftliche Feld von diesem Turn berührt, durchdrungen und grundlegend verändert wird. Dies trifft sicherlich im Falle des Linguistic Turn zu, aber im Falle der postkolonialen Theorien oder der Bildwissenschaften, also des Postcolonial oder Iconic Turn, zum Beispiel nicht. Denn gerade die postkolonialen Theorien, aber auch die anderen Studies, basieren methodisch auf dem vom Linguistic Turn bzw. der Sprachanalyse ausgehenden, eine umfassende Perspektivierung erlaubenden Untersuchungsinstrumentarium des methodologischen Relationismus. Durch diesen wurde es erlaubt, Praktiken, Wissensordnungen und Artefaktarrangements kulturell im Sinne differentieller Relationen zu denken, seien es Identitäten und ihre Abgrenzung zu einem Außen, sei es ein relationaler Raum- und Machtbegriff, die Hybridität der Kulturen oder 14 | Vgl. Ploder, Andrea, »Rezension zu Stephan Moebius & Andreas Reckwitz (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008«, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 1/2012 (i.E.). 15 | Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006. Der folgende Abschnitt geht zurück auf Moebius, Kultur, a.a.O., S. 162ff. 16 | Bachmann-Medick, Cultural Turns, a.a.O., S. 26.
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die netzwerkartigen Beziehungen zwischen Dingen und Menschen. Kurzum: Es geht um einen methodologischen Ausgangspunkt, der die Basis für die Forschung der meisten Studies liefert. Insofern ist der Ausdruck Turn im Falle des Linguistic Turn auch adäquat, da die hauptsächliche methodologische Grundlage der unterschiedlichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen der Gegenwart ein Denken in differentiellen Relationen ist. Der vorliegende Band hebt sich dagegen insofern von der Perspektive ab, die Kulturwissenschaften als ein Feld grundlegender Turns zu beschreiben, als daß er nicht von einer Vielzahl radikaler »Wenden« in den Kulturwissenschaften ausgeht. Zur Beschreibung der gegenwärtigen Ausdifferenzierung der Forschungen und Neuorientierungen im kulturtheoretischen Feld scheint es deswegen passender, den Begriff des Turn fallenzulassen und stattdessen die Etablierung der neuartigen Forschungsrichtungen mit dem Begriff der Studies zu bezeichnen (wie dies in der Selbstbeschreibung der neueren Forschungsrichtungen im übrigen ja auch getan wird). Nichtsdestotrotz hat Bachmann-Medick in ihrer Beobachtung dahingehend vollkommen Recht: Nicht allein neue Untersuchungsfelder oder -objekte sind für das aktuelle Feld der Kulturforschungen charakteristisch, es verändern sich (im Zuge der Etablierung der Studies) auch die Analysekategorien und Erkenntnismittel, wenn auch nicht auf so radikale, paradigmatische Weise, wie das der Begriff des Turn impliziert. Die Veränderung zeigt sich nach Bachmann-Medick insbesondere an der Transformation des Untersuchungsgegenstandes in eine allgemeine Analysekategorie.17 Nehmen wir beispielsweise die Queer Studies: Diese richten ihr Augenmerk nicht bloß auf sexuelle Praktiken, Subjektivierungsweisen und Vorstellungen jenseits der Heterosexualität. Stattdessen geht es um ein Analyseinstrumentarium, das die Rolle von Sexualität und Geschlecht in allen gesellschaftlichen Bereichen, Vorstellungen und Praktiken untersucht. Auch die poststrukturalistisch orientierten Space Studies analysieren »Raum« weniger als einen spezifischen Gegenstand oder Ort, sondern fassen kulturelle und historische Praktiken allgemein als verräumlicht und verräumlichend auf. Blickt man in die Zukunft, so wird die Ausdifferenzierung des Feldes in den nächsten Jahren sicherlich noch weiter voranschreiten. Allerdings machen sich in den unterschiedlichen Fachdisziplinen bereits kritische Stimmen bemerkbar, die – teilweise zu Recht – einfordern, angesichts der interdisziplinär aufgestellten und sich ausbreitenden Studies die genuinen Leistungen, Aufgaben und Möglichkeiten der Disziplinen nicht aus den Augen zu verlieren, aus denen sich die Studies im wesentlichen speisen bzw. entwickelt haben.18 In der Soziologie etwa wird angemahnt, angesichts der Studies wieder eine eigene Identität kenntlich zu machen.19 Ohne die enormen Verdienste der Studies – etwa ehemalige Randthemen wie Sexualität, sinnliche Wahrnehmung, Verräumlichung oder kulturelle Hybridität überhaupt erst wieder im sozial- und kulturwissenschaftlichen Feld zu einem (fächerübergreifend relevanten) Thema gemacht zu haben – in Abrede stellen zu 17 | Vgl. ebd. 18 | Vgl. zur Prägung der Studies durch die Klassiker der Soziologie und Ethnologie Moebius, Kultur, a.a.O. 19 | Vgl. Moebius, Stephan, »Kultursoziologie heute: Entwicklungen und Herausforderungen«, in: Sozialwissenschaften und Berufspraxis, Jg. 32, Heft 1, 2009, S. 5-14.
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wollen, wird von den einzelnen Fachdisziplinen derzeit das Problem in einer eigenständigen Profilbildung gesehen, die es ermöglicht, sich intellektuell und institutionell gegenüber den Studies zu behaupten. Im Falle der Soziologie20 könnte dies darin bestehen, Gesellschaft wieder als ein zusammenhängendes Ganzes zu begreifen und die Analyseobjekte der Studies als spezifische und wichtige Analysen von Teilaspekten der gesamten, sich nicht auf Kultur reduzierenden Gesellschaft zu betrachten. Inwieweit diese Vorstellung trägt, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Die angesprochene Dynamik des Feldes der Studies machte es insgesamt nicht einfach, den Band zu erstellen und unter den Studies auszuwählen. Daß er nun in der vorliegenden Fassung gelesen werden kann, ist in erster Linie der Geduld und der Kompetenz der Autorinnen und Autoren zu verdanken. Ebenso gilt mein herzlicher Dank Elisabeth Schober vom Institut für Soziologie der Karl-FranzensUniversität Graz, die bei der Manuskripterstellung eine große Hilfe darstellte. Ein weiterer Dank gilt Ulla Kriebernegg, Gerald Lamprecht, Roberta Maierhofer und Barbara Ratzenböck, mit denen ich im Rahmen des universitären Forschungsschwerpunkts Kultur- und Deutungsgeschichte Europas der Universität Graz mein Interesse an den Studies teilen und in Diskussionen vertiefen darf.
20 | Ich führe hier lediglich die Soziologie an, bei der ich als Soziologe meine, es am besten abschätzen zu können.
Cultural Studies Stephan Moebius
1. THEORIEGESCHICHTE UND - KONZEP TIONEN DER C ULTUR AL S TUDIES Die Entstehung der Cultural Studies hängt eng zusammen mit dem Aufkommen der New Left, der britischen Tradition der Kulturkritik und der gesellschaftlichen Umstrukturierungsprozesse in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg, die man stichwortartig mit »Verbürgerlichung der Arbeiterklasse«, »Niedergang des Empire« oder »Multikulturalisierung« umreißen kann. Die Gründerfiguren der Cultural Studies, Richard Hoggart und Raymond Williams, sind Literaturwissenschaftler in der kulturkritischen Tradition von Matthew Arnold, T.S. Elliot und Frank R. Leavis. Beide stammen aus dem Arbeitermilieu und sind in der politischen und kulturkritischen Bewegung der New Left verankert.1 Besonderes Kennzeichen der Ende der 1950er Jahre entstandenen New Left ist, daß sie in ihrer Sicht auf Gesellschaft nicht von einem ökonomischen Reduktionismus ausgeht, demzufolge die Kultur (der Überbau) ein bloßes Resultat der ökonomischen Produktionsverhältnisse sei. Kultur wird stattdessen als eigenständiger Bereich des Sozialen und – was zu Beginn der Cultural Studies insbesondere im soziologischen Feld in Großbritannien eine absolute Ausnahme darstellte – wissenschaftlich als eigenständiger Forschungsbereich angesehen. Aus der politischen Perspektive der Cultural 1 | Vgl. Winter, Rainer, »Die Zentralität von Kultur. Zum Verhältnis von Kultursoziologie und Cultural Studies«, in: Karl H. Hörning/Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt a.M. 1999, S. 146-195 sowie Hall, Stuart, »Die zwei Paradigmen der Cultural Studies«, in: Hörning/Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen, a.a.O., S. 13-42 und Göttlich, Udo, Kritik der Medien. Reflexionsstufen kritisch-materialistischer Medientheorien, Opladen 1996, S. 175ff. Zu den Cultural Studies allgemein siehe auch Winter, Rainer, Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht, Weilerswist 2001; Friese, Heidrun, »Cultural Studies – Forschungsfelder und Begriffe«, in: Friedrich Jäger/Jürgen Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 2: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart 2004, S. 467-485, Lutter, Christina/Reisenleitner, Markus (Hg.), Cultural Studies. Eine Einführung, Wien 2005 sowie Marchart, Oliver, Cultural Studies, Konstanz 2008. Bei der folgenden Darstellung greife ich unter anderem sowohl auf diese Texte als auch auf Abschnitte aus meinem Buch Kultur, Bielefeld 2009 zurück. Für hilfreiche Hinweise zum Text danke ich herzlich Rainer Winter, Udo Göttlich und Oliver Marchart.
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Studies müssen gesellschaftliche Veränderungen nicht nur bei dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, sondern auch bei den symbolischen Herrschaftsverhältnissen ansetzen. Dies wird auch in den Gründungstexten der Cultural Studies deutlich: Hoggarts The Uses of Literacy (1957), Williams’ Culture and Society 17801850 (1958) und The Long Revolution (1961) sowie The Making of the English WorkingClass des Historikers Edward P. Thompson.2 Die kulturtheoretische Zielrichtung dieser Studien wird besonders bei Williams’ Culture and Society sichtbar: Es geht darum, den Kulturbegriff sowohl von der Annahme, Kultur sei bloßer Überbau, als auch von seiner elitären und antidemokratischen Verwendung im Sinne von »Hochkultur« zu befreien. Aus dieser die Gesellschaftsanalyse mit Kulturanalyse vereinigenden Perspektive entwickelt Williams einen holistischen Kulturbegriff, wobei Kultur im Sinne einer in gesellschaftliche Prozesse eingebettete ganze Lebensweise (»a whole way of life«) begriffen und im Alltag als common culture verankert wird.3 Kultur ist allen sozialen Praktiken, einschließlich der Erfahrungen und »Körpertechniken« (Marcel Mauss), inhärent und somit gesellschaftlich umfassend. Artefakte, Theater, Malerei oder klassische Musik sind aus dieser Sicht nur spezielle Ausgestaltungen allgemeiner gesellschaftlicher Kulturprozesse. Insofern gilt es für die Cultural Studies den Blick von der sogenannten Hochkultur auf die gelebte Kultur von Gruppen sowie auf die Pop- bzw. »Massenkultur« zu richten. Dabei geht es weniger um ein Zelebrieren der Pop- und Alltagskultur als darum, die auf dem Feld des Populären und Alltäglichen verankerten Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie Identitätskonstruktionen zu analysieren, um die dort angelegten Potentiale politischer Kämpfe und Veränderungen auszuloten. Die Cultural Studies verstehen sich selbst als eine Art politisches Theorieprojekt, das sich vornehmlich einer Kritik und Analyse der symbolischen Machtverhältnisse widmet. »Cultural Studies«, schreibt Lawrence Grossberg, einer der wichtigsten Vertreter dieser Fachrichtung in den USA, »bestehen immer und ausschließlich in kontextuell spezifischen theoretischen und institutionellen Formationen. Solche Formationen sind immer die Reaktion auf ein bestimmtes politisches Projekt, das auf den verfügbaren theoretischen und historischen Ressourcen beruht […]. Damit ist die Überzeugung verbunden, daß ein solches Wissen die Menschen in eine bessere Position versetzt, den konkreten Kontext und damit die Machtbeziehungen, in denen sie sich befinden, zu verändern. Folglich sind ihre Projekte immer politisch, immer parteiisch, aber ihre Politik ist immer kontextuell definiert.« 4
2 | Vgl. Winter, »Die Zentralität von Kultur«, a.a.O. sowie Winter, Kunst des Eigensinns, a.a.O., S. 23-66. 3 | Vgl. Williams, Raymond, Culture and Society 1780-1850, London 1958. Zu Williams Begriff der common culture siehe die instruktive Analyse von Göttlich, Kritik der Medien, a.a.O., S. 186ff. 4 | Grossberg, Lawrence, What’s going on? Cultural Studies und Populärkultur, Wien 2000, S. 262; siehe den nahezu identischen Text: Ders., »Was sind Cultural Studies?«, in: Karl H. Hörning/Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen, a.a.O., S. 43-83, hier S. 55.
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Obgleich sich die Cultural Studies eher als eine diskursive Formation im Foucaultschen Sinne verstehen5, also weder einen »simplen Ursprung« haben noch eine lineare Entwicklung vorweisen können, kann man nach Rainer Winter die institutionelle und theoretische Formierung der Cultural Studies bis in die Mitte der 1970er Jahre systematisch in drei Phasen unterteilen:6 1964 kommt es mit der durch Richard Hoggart forcierten Gründung des Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) zur Institutionalisierung der Cultural Studies. In der Anfangszeit des CCCS konzentriert man sich auf Forschungen von Texten der Populärkultur mit Methoden der Literaturkritik. Bald zeigt sich jedoch, daß man die gesellschaftlichen Vermittlungsprozesse damit nicht hinreichend in den Griff bekommt und die Textanalysen mit Untersuchungen über die sozialen Kontexte der Produktions- und Rezeptionsprozesse sowie mit Methoden der teilnehmenden Beobachtung und des Interviews einhergehen müssen. Folgerichtig intensivieren die Forscher unter Stuart Hall, der von 1968 bis 1979 die Leitung des CCCS übernimmt7, ihre Beschäftigung mit der Soziologie. Diese zweite Phase ist durch eine verstärkte Theoriearbeit geprägt. Man versucht sich von dem damals das soziologische Feld beherrschenden Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons abzuwenden. Dessen ahistorische und statische Kulturkonzeption, die hauptsächlich auf die Integrationskraft kultureller Werte und Normen in das soziale System abzielt, sei nicht nur eindimensional, sondern auch zu harmonisch und blind für gesellschaftliche Antagonismen, Widersprüche und Konflikte. Auf der Suche nach Alternativen gelangt man zur Kultursoziologie von Max Weber, Georg Simmel und der Durkheim-Schule. Aber auch die Chicago School, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg ethnographische Feldforschungsmethoden verwendete, sowie interpretativ-phänomenologische Kulturtheorien, wie etwa jene von Clifford Geertz, finden nun reges Interesse am CCCS. 8 Zunehmend gerät auch die Frage nach der Ideologie ins Visier der Forschung. Es ist die Zeit, in der »die Vertreter der Cultural Studies eine ihrer hervorstechendsten Eigenschaften [entwickeln], die bis heute ihre Arbeit bestimmt, nämlich die Fähigkeit, sich intensiv und kritisch mit Theorien auseinanderzusetzen, sich an ihnen abzuarbeiten und auf dieser Basis eine eigene Position zu entwickeln«.9 Die dritte Phase schließlich, die vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, insbesondere der Studierenden- und Counter Culture-Bewegungen, geprägt ist, ist durch die Rezeption des westlichen Marxismus und des Strukturalismus geformt. Nach der intensiven Beschäftigung mit den Klassikern der Kultursoziologie ist man zu dem Schluß gekommen, daß diese »die Rolle der Kultur bei der Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen (zum Beispiel Rassismus, Sexismus) sowie die Bedeutung und Funktion von Ideologien und symbolischen Auseinanderset5 | Vgl. Hall, Stuart, »Das theoretische Vermächtnis der Cultural Studies«, in: Ders., Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften Band 3, Hamburg 2000, S. 34-51, hier S. 35. 6 | Vgl. Winter, Kunst des Eigensinns, a.a.O., S. 67ff. 7 | Hall ist die zentrale Figur für die »Erfindung« der Cultural Studies; vgl. dazu Winter, Rainer, »Stuart Hall: Die Erfindung der Cultural Studies«, in: Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, S. 381-393. 8 | Vgl. Hall, Stuart/Jefferson, Tony (Hg.), Resistance through Rituals, London 1976. 9 | Winter, Kunst des Eigensinns, a.a.O., S. 76.
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zungen unterbelichteten«. 10 Ausgerüstet mit den Theorien Michel Foucaults, Roland Barthes’, Louis Althussers, der Frankfurter Schule, Lucien Goldmanns, Georg Lukács’ und Antonio Gramscis konzentriert man sich jetzt auf Forschungen über Kulturtheorie, Hegemonie, Medien und Subkulturen (jugendliche Arbeitersubkulturen, Hippies, Motorradgangs etc.) und die Ausarbeitung des politischen Projekts einer radikalen Demokratisierung. 11 Von nun an stehen sich zwei Paradigmen der Cultural Studies gegenüber, zwischen denen eine Vermittlung herzustellen gesucht wurde:12 der Kulturalismus von Williams und der Strukturalismus. Von einer bereits in der Durkheim-Schule angelegten, durch die Rezeption von Claude Lévi-Strauss dann mentalistisch zugespitzen Form des Strukturalismus 13 gehen die Cultural Studies zur marxistischen Variante des Strukturalismus von Louis Althusser über. Dieser liest Das Kapital von Marx so, als ob die Produktionsverhältnisse wie eine Sprache strukturiert seien, also durch Differenzbeziehungen. Noch wichtiger ist jedoch für die Cultural Studies Althussers Annahme eines relativ autonomen Felds der (kulturellen) Ideologie (Vorstellungen, Denk-, Wahrnehmungsschemata, Bilder, Gewohnheiten und alltägliche Verhaltensmuster etc.). Worin zeigt sich der Unterschied zwischen Kulturalismus und Strukturalismus? Rainer Winter bringt die Differenz folgendermaßen auf den Punkt: Gehen die Kulturalisten zwar mit dem Strukturalismus davon aus, »dass Bewusstsein und Kultur kollektiv zu begreifen sind, [gehen sie] aber nicht so weit, dass die Subjekte durch die Kategorien, mit denen sie denken, eher artikuliert werden, als sie diese artikulieren«. 14 Die Cultural Studies bleiben hier jedoch nicht stehen. Vielmehr gelingt ihnen in der Folgezeit die in Theoriediskussionen oftmals für unmöglich gehaltene Verbindung zwischen Poststrukturalismus und der Frage der Kreativität des Handelns.15 In ihren Forschungen über Jugend-Subkulturen zeigen die Cultural Studies beispielsweise, daß diese zwar ideologische, ihre prekäre Klassenlage imaginär und symbolisch verarbeitende Gruppierungen sind, aber sie trotz dieser subjektivierenden Prägung dennoch ihre Klassenlage in der symbolischen Praxis nicht einfach abbilden, sondern auf diese kollektiv reagieren, und zwar mit Eigensinn, auf widerständige und kreative Weise. Aus dieser Perspektive sind Subjekte zwar durch ihre Position innerhalb der Klassengesellschaft positioniert und konstituiert, aber nicht völlig determiniert 16 – eine Perspektive, die insbesondere für die ab Mitte der
10 | Ebd., S. 82. 11 | Vgl. Marchart, Cultural Studies, a.a.O., S. 33. 12 | Vgl. Hall, »Die zwei Paradigmen der Cultural Studies«, a.a.O. 13 | Ebd., S. 28. 14 | Winter, »Die Zentralität von Kultur«, a.a.O., S. 173. Zu Differenzen und Gemeinsamkeiten der beiden Richtungen siehe auch Hall, »Die zwei Paradigmen der Cultural Studies«, a.a.O. S. 30. 15 | Vgl. auch Moebius, Stephan, »Handlung und Praxis. Konturen einer poststrukturalistischen Praxistheorie, in: Ders./Andreas Reckwitz (Hg), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 58-74. 16 | Vgl. Winter, »Stuart Hall«, a.a.O., S. 388.
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1970er Jahre ansetzende poststrukturalistische Phase der Cultural Studies immer zentraler wird.17 Für die stark vom Poststrukturalismus geprägte Phase der Cultural Studies18 ist neben Michel Foucault und der Psychoanalyse Jacques Lacans insbesondere die Rezeption der Derridaschen Dekonstruktion sowie der Hegemonie- und Ideologietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe zentral.19 Wie bereits angedeutet, fassen die Cultural Studies Gesellschaft und Kultur als gleich ursprünglich auf. Kultur ist hierbei die symbolisch-praktische Ordnung des Sozialen, das permanent in Praktiken des »doing culture« (re-)produzierbare und transformierbare Material, mit dem die Menschen ihren (materiellen und sozialen) Erfahrungen Ausdruck verleihen, Sinn und Bedeutung geben und das wiederum neue Erfahrungen möglich machen kann. In der poststrukturalistischen Phase der Cultural Studies rückt nun der Ideologiebegriff stärker in den Mittelpunkt der Betrachtung. Er wird als ein Bindeglied zwischen Gesellschaft und Kultur aufgefasst, wobei die Sozialstruktur der Gesellschaft nicht zum notwendig determinierenden Faktor der Ideologie avanciert. Stattdessen wird mit der poststrukturalistischen Gesellschaftstheorie von Laclau und Mouffe von der Geschichtlichkeit und einer Vielzahl miteinander konkurrierender und widerstreitender Ideologien ausgegangen. Denn es existieren vielfältige Möglichkeiten, wie Erfahrungen, Identitäten, Interessen und Bedeutungen in eine »Logik der Äquivalenz« (Laclau/Mouffe), das heißt in eine bedeutungsgenerierende Beziehung gesetzt und artikuliert werden können. 20 Charakteristisch für die Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe21 sind folgende Annahmen:22 Erstens verweist Macht immer auf eine Gegenmacht. Zweitens versuchen hegemoniale Projekte nicht nur einen Sinn festzustellen und eine symbolische Ordnung zu konstituieren, sondern diese auch als einzig mögliche zu universalisieren. Unter einem hegemonialen Projekt versteht Laclau dabei ein komplexes diskursiv-materielles Beziehungsgeflecht, dem es gelingt, seine partikularen Denkweisen, Vorstellungs- und Verhaltensschemata sowie Identitätspositionen als allgemein und alternativlos zu instituieren – ein Beispiel eines solchen hegemonialen Projekts, auf das später zurückgekommen wird, wäre der »Thatcherismus«. Den Universalisierungseffekt, den partikulare Diskur17 | Die poststrukturalistische Phase teilen dabei die Cultural Studies mit anderen seitdem entstandenen Studies. 18 | Vgl. zur Phase der Cultural Studies ab den 1990ern auch Grossberg et al. (Hg), Cultural Studies, London/New York 1992. Zum Folgenden greife ich auch auf die Darstellung von Winter, »Die Zentralität von Kultur«, a.a.O., S. 180ff. zurück. 19 | Vgl. Winter, Kunst des Eigensinns, a.a.O., S. 164. 20 | Zur Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe sowie Derridas Dekonstruktion siehe ausführlich Moebius, Stephan, Die soziale Konstituierung des Anderen. Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Lévinas und Derrida, Frankfurt a.M./New York 2003, S. 156ff. 21 | Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991. 22 | Laclau, »Identity and Hegemony«, a.a.O., S. 54ff. Vgl. zum Folgenden auch Hetzel, Andreas, »Demokratie ohne Grund. Ernesto Laclaus Transformation der Politischen Theorie«, in: Oliver Flügel et al. (Hg.), Die Rückkehr des Politischen. Demokratietheorien heute, Darmstadt 2004, S. 185-210, hier S. 193f.
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se bewirken können, erreichen sie nicht allein mit Zwang, sondern auf – im Foucaultschen Sinne – »produktive«, das heißt hier: identifikatorische Weise, so daß bestimmte Identitäten, gesellschaftliche Leitvorstellungen, kulturelle Sinnmuster oder gesamtgesellschaftliche Projekte wie beispielsweise die »Zweigeschlechtlichkeit«, der »flexible und selbstverantwortliche Mensch« oder die »bürgerliche Kultur« als erstrebenswert gelten und man ihnen – mithin leidenschaftlich – verhaftet bleibt. Drittens versuchen hegemoniale Formationen, ihre partikularen Diskurse in einer Letztbegründung zu fundieren, um einen vollständigen Universalisierungseffekt zu erzielen. Diese Fundierung erfolgt nach Laclau mit Hilfe der Produktion »leerer Signifikanten«, das heißt inhaltlich unterbestimmter und höchst bedeutungsoffener Begriffe wie »Freiheit«, »Demokratie«, »Nation«, »Kultur« etc., die – pars pro toto – als Knotenpunkte des hegemonialen Projekts dienen und deren inhaltliche Füllung die Hauptaufgabe der hegemonialen Formationen ist. Zentral für die Stabilisierung des hegemonialen Projekts und seiner diskursiven Knotenpunkte ist viertens die Abgrenzung zu einem Außen, das seinerseits wiederum für die Identität des hegemonialen Diskurses konstitutiv ist. Dieses Außen ist nicht nur differenztheoretisch ein »konstitutives« Außen, Laclau versteht es darüber hinaus in einem politischen und machttheoretischen Sinne als ein antagonistisches und verworfenes Außen:23 Wird die hegemoniale Formation in ihrem Inneren durch eine Logik der Äquivalenz ihrer diskursiven Elemente zusammengehalten, in der die einer Logik der Differenz folgenden unterschiedlichen Elemente eines Diskurses durch eine im Knotenpunkt verdichtete und vereinheitlichte Identität überformt werden (zum Beispiel durch die imaginäre Einheit einer unterschiedliche Nationen und Kulturen umfassenden »bürgerlich-westlichen Zivilisation«), kann diese Identifizierung nur durch eine Abgrenzung von etwas radikal anderem vollständig gelingen (zum Beispiel von »den Wilden«). So sind die hegemonialen Formationen konstitutiv auf dieses antagonistische und verworfene andere angewiesen, um sich zu formieren, konsolidieren und ihre Äquivalenz zusammenzuhalten. Jeder Versuch einer hegemonialen Formation, sich durch die Verwerfung eines anderen zu stabilisieren und Universalität zu beanspruchen, wird durch das vom hegemonialen Diskurs präsentgehaltene andere desavouiert, heimgesucht und auf diese Weise die Partikularität des angeblich Universellen offenbart: Denn einerseits ist der andere die Bedingung der Möglichkeit, das hegemoniale Projekt als Einheit zu konstituieren, und andererseits die Bedingung der Unmöglichkeit, es als universell und alternativlos auszugeben. Wird dieses Scheitern einer endgültigen imaginären Bedeutungsfixierung von Identitäten, Subjektpositionen und symbolischen Ordnungen (beispielsweise durch dekonstruktive Praktiken oder das »falsche Zitieren« dieser Identitäten) sichtbar gemacht, ist nach Laclau ein Raum der Unentscheidbarkeit und der Antagonismen eröffnet, der für ihn mit dem Politischen zusammenfällt. Das Politische wird von ihm als der Moment des Antagonismus begriffen, an dem die Unentscheidbarkeit von Alternativen und ihre Auflösung durch Machtbeziehungen erkennbar wird.24 23 | Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, a.a.O., S. 176ff. 24 | Laclau, Ernesto, New Reflections on the Revolution of our Time, London 1990, S. 35. Vgl. Moebius, Die soziale Konstituierung des Anderen, a.a.O., S. 191ff. »Politik« ist aus dieser Perspektive die spezifische Strukturierung hegemonialer Verhältnisse, eine Entscheidung in
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Ein zentrales Merkmal der gegenwärtigen Cultural Studies ist nun neben der Rezeption der Hegemonietheorie die auf Laclau und Mouffe zurückgehende Annahme, daß die gesellschaftlichen Antagonismen über Klassenwidersprüche hinausgehen. Die Cultural Studies heben stattdessen die relative Autonomie beispielsweise sexistischer oder rassistischer Unterdrückung hervor – Antagonismen, die ihrer Meinung nach nicht auf einen Klassenwiderspruch reduziert werden können. Insgesamt vertreten sie die Ansicht, daß die gesellschaftlichen Antagonismen heutzutage vermehrt auf einer breiteren Ebene zwischen den (kulturell) Herrschenden und den Beherrschten zu suchen sind – oder in den Worten von Stuart Hall (1981: 238): zwischen einem »power-bloc« und »the people«. Die Beherrschten sind aber keine unbewegliche, ohnmächtige Masse, sondern besitzen ihrerseits Handlungskraft und Widerstandspotential. Bemerkenswert ist, daß Vertreter der Cultural Studies wie Stuart Hall und John Fiske dieses Widerstandspotential analog zu anderen poststrukturalistischen Kulturtheorien (Michel Foucault, Judith Butler) nicht in einem für sie inexistenten Bereich außerhalb der Machtbeziehungen und gesellschaftlichen Kämpfe verorten – Grossberg betont: »Für Cultural Studies ist Macht von allem Anfang an vorhanden.«25 –, sondern als ein kreatives Potential der Gegenmacht der marginalisierten und unterdrückten Subjekte innerhalb der Machtbeziehungen. Deutlich wird dies beispielsweise in der Argumentation von John Fiske: Ihm zufolge trachtet die herrschende Ideologie danach, ihre Bedeutungs- sowie Wertsysteme zu verfestigen und zu universalisieren – Fiske spricht von einer »homogenisierenden«, alles zu einem »scheinbaren Konsens verformenden Macht«. Das soziale Paradox unserer Epoche sei es, daß das »System des Spätkapitalismus, obwohl es zutiefst von Ungerechtigkeiten und Interessenskonflikten zerrissen ist, dennoch so reibungslos arbeitet und jene antagonistischen Krisen vermeidet, die eine Revolution verursachen könnten«.26 Angelehnt an den poststrukturalistischen Ansatz von Derrida, geht er davon aus, daß Ideologien bzw. allgemeiner: Sinnsysteme jedoch niemals endgültig verfestigt und fixiert werden können. Deutlich wird die Unmöglichkeit der Sinnfestlegung beispielsweise in der Kulturindustrie: Der Grund für eine permanente Über-Produktion kulturindustrieller Güter sei in der Unmöglichkeit zu suchen, den Sinn der kulturellen Güter endgültig zu bestimmen. 27 Fiske dekonstruiert auf diese Weise Produkte der populären Kultur und zeigt so »die Inkonsistenzen, die Unabgeschlossenheit, die widersprüchliche Struktur oder die Polyphonie medialer Texte auf, arbeitet heraus, wie eng populäre Texte auf die geder Unentscheidbarkeit: Laclau, Ernesto, »Dekonstruktion, Pragmatismus, Hegemonie«, in: Mouffe, Chantal (Hg.), Dekonstruktion und Pragmatismus. Demokratie, Wahrheit und Vernunft, Wien 1999, S. 111-153. 25 | Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 270; vgl. Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O. S. 66. 26 | Fiske, John, Die Fabrikation des Populären. Der John-Fiske-Reader, hg. v. Rainer Winter und Lothar Mikos, Bielefeld 2001, S. 153f. Ein homogenisierender Faktor ist zum Beispiel die ideologische »Anrufung« eines vereinheitlichenden »Wir«, wie es Fiske in Die Fabrikation des Populären, a.a.O., S. 23f. anhand eines Fernsehberichts über einen Eisenbahnstreik beschreibt, der ein nationales »Wir« entwirft und dieses den streikenden Arbeitern entgegenstellt. 27 | Vgl. Fiske, Die Fabrikation des Populären, a.a.O., S. 118.
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sellschaftliche Wirklichkeit bezogen sind und soziale Differenzen artikulieren«. 28 Populäre oder »Massenkultur« ist aus diesem Blickwinkel – mit den Worten von Michael Makropoulos gesagt – »Kontingenzkultur«, eine »Kultur, die Kontingenz nicht nur in erster Linie als Unsicherheit problematisiert […], sondern als Möglichkeitsoffenheit positiviert und damit als Gewinn menschlicher Freiheit bewertet«. 29 Die Derridasche Erkenntnis einer Unabschließbarkeit von Bedeutungen verknüpft Fiske in einem zweiten Schritt mit Foucaults Analytik der Macht und des Widerstands.30 Macht ist aus dieser Perspektive immer ein Kräfteverhältnis, in dem die Beherrschten ebenfalls über Widerstandskräfte verfügen. Wo setzen diese jedoch an? Fiske verortet diese Widerstandskraft im kreativen Potential der »Leute« (»the people«), die bestehenden dominanten Ideologien, Sinnsysteme und Machtstrukturen vom Rand her, das heißt von ihrem kulturellen Ort der populären Kultur her, zu transformieren. Die kreative Bekämpfung der herrschenden Ideologie ist deswegen möglich, weil die dominante Kultur keine absolute Kontrolle über die »Polysemie«, das heißt das vielfältige Bedeutungspotential der ideologischen Apparate und kulturellen Güter hat.31 Fiske versteht seine Medienanalysen und Arbeiten zum Populären explizit als Werkzeuge der Transformation und der Selbstermächtigung der Gegen-Macht. Das kreative Potential ist den Akteuren hierbei nicht unbedingt bewusst.32 In expliziter Anlehnung an Michel de Certeau und an die Begrifflichkeit Pierre Bourdieus situiert Fiske das kreative Potential vielmehr in den alltäglichen Routinen und Gewohnheiten des praktischen Bewusstseins bzw. des Habitus und spricht deshalb von einer »populären Kreativität«:33 »Populäre Kreativität ist auf eine konkrete Weise kontextuell. Sie existiert nicht als abstrakte Fähigkeit, so wie sich der bourgeoise Habitus künstlerische Kreativität vorstellt; sie ist vielmehr eine Kreativität der Praxis, eine Bricolage. Eine Kreativität, die Objekte wie Steppdecken, Tagebücher oder Arrangements von Einrichtungsgegenständen produziert, aber auch im selben Maße in den Praktiken des Alltags produktiv ist, und zwar in den Arten des Wohnens, Gehens oder Auskommens.«34 Auf innovative Weise vermischen sich in der aktuellen Phase der Cultural Studies Poststrukturalismus, Bourdieusche Praxistheorie und Kreativitätstheorien. Charakteristisch ist darüber hinaus die Verlagerung der Forschungsthemen: Die Studien zur jugendlichen Subkultur werden zunehmend von Untersuchungen zum Populären, alltäglichen Praktiken, den Medien, zu Geschlecht, Sexualität,
28 | Winter, »Die Zentralität von Kultur«, a.a.O., S. 184. 29 | Makropoulos, Michael, Theorie der Massenkultur, München 2008, S. 10. 30 | Vgl. Fiske, Die Fabrikation des Populären, a.a.O., S. 119. 31 | Hier schließt Fiske an das von Stuart Hall entwickelte »Encoding/Decoding-Modell« an, das zwischen drei Lesarten oder Rezeptionsweisen von medialen »Texten« unterscheidet: a) eines »preferred reading«, das innerhalb der vorgegebenen, dominanten Codes verbleibt, b) das »negotiated reading«, eine Mischung aus dominanter und oppositioneller Lesart und c) das »oppositional reading«, das den »Text« subversiv dekodiert. Siehe Hall, Stuart, Encoding/Decoding«, in: Ders. et al. (Hg.), Culture, Media, Language, London 1980, S. 128-138. 32 | Vgl. Joas, Hans, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a.M. 1992. 33 | Vgl. Fiske, Die Fabrikation des Populären, a.a.O., S. 139ff. 34 | Fiske, Die Fabrikation des Populären, a.a.O., S. 148.
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ethnischer Zugehörigkeit, kulturellen Identitäten und historisch-spezifischen Rassismen abgelöst.35 Spätestens ab diesem Zeitpunkt wird deutlich, daß sich »die Cultural Studies nicht so sehr über einen bestimmten Gegenstandsbereich (wie zum Beispiel Alltagskultur oder Medienkultur oder Massenkultur) bestimmen, sondern über ihre politische Perspektive. Durch das Prisma der Cultural Studies betrachtet, stellt sich Kultur als ein Feld von Machtbeziehungen dar, auf dem soziale Identitäten wie Klasse, ›Rasse‹, Geschlecht oder sexuelle Orientierungen konfliktorisch artikuliert und zu breiteren hegemonialen Mustern verknüpft werden.« 36
Insbesondere Stuart Hall widmet sich der Frage nach dem Zusammenhang zwischen (Re-)Produktion von Identitäten und Machtverhältnissen. Ausgehend von Laclau und Mouffes Hegemonietheorie und Derridas Praxis der Dekonstruktion zeigt er den kontingenten und umkämpften Charakter von kulturellen Identitäten auf.37 Dabei versucht er, die poststrukturalistischen Theorien mit materialistischen Analyseperspektiven zu verbinden.38 Die Dekonstruktion von Identitäten bedeutet aus dieser Perspektive nicht, die Konstruktion kollektiver Identitäten als Mittel der politischen Auseinandersetzung aufzugeben. Dies wäre schon deswegen utopisch, weil Identitäten niemals das Resultat beliebiger Wahl, sondern durch vorgefundene Machtbeziehungen und Strukturen artikulierte und verknotete Subjektformationen sind. Sie haben spezifische kulturelle, soziopolitische und historische Konstitutionsbedingungen. Politisch gesehen ist es deshalb nicht unerheblich, wie die Formationen gedacht werden: Weil man Hall zufolge Identitäten nicht aufgeben kann, muß man für eine emanzipatorische Politik ein anderes Konzept von Identitätspolitik entwickeln. Anstatt weiterhin den Ausschluß der anderen mittels einer Identitätspolitik (ersten Grades) voranzutreiben, sollte es nach Stuart Hall darum gehen, die Produktivität interner Differenzen und die Heimsuchung des anderen – »den anderen in mir« – in den Identitäten zu betonen. »Dies ist eine Politik, die darin besteht, Identität in der Differenz zu leben – eine Politik, die anerkennt, daß wir alle aus vielen sozialen Identitäten, nicht aus einer einzigen, zusammengesetzt sind. Daß wir alle durch verschiedene Kategorien, durch verschiedene Antagonismen komplex konstruiert sind, und daß diese uns einen gesellschaftlichen Platz in vielen Positionen der Marginalität und Unterordnung zuweisen können, ohne daß sie genau in derselben Weise auf uns einwirken. Dies bedeutet anzuerkennen, daß jede Gegen-Politik des 35 | Vgl. Hall, Stuart, Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften Band 2, Hamburg 1994 sowie Hall, Stuart, Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften Band 4, Hamburg 2004. 36 | Marchart, Cultural Studies, a.a.O., S. 16. 37 | Vgl. Hall, Rassismus und kulturelle Identität, a.a.O., S. 26ff. sowie Moebius, Stephan, Simmel lesen. Moderne, dekonstruktive und postmoderne Lektüren der Soziologie von Georg Simmel, Stuttgart 1992, S. 91ff. 38 | Vgl. Göttlich, Udo, »Zur Epistemologie der Cultural Studies in kulturwissenschaftlicher Absicht: Cultural Studies zwischen kritischer Sozialforschung und Kulturwissenschaft«, in: Ders. et al. (Hg.), Die Werkzeugkiste der Cultural Studies. Perspektiven, Anschlüsse und Interventionen, Bielefeld 2001, S. 15-42, hier S. 31.
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S TEPHAN M OEBIUS Lokalen, die versucht, Menschen gerade aufgrund der Verschiedenheit der Identifikationen zu mobilisieren, ein positional geführter Kampf sein muß. Es ist der Beginn eines Antirassismus, Antisexismus, Antiklassismus im Sinne eines Kriegs um Stellungen, so wie Gramsci den ›Stellungskrieg‹ verstand.« 39
Die skizzierten Theorieentwicklungen lassen sich nicht auf das Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) eingrenzen; schon früh beginnt sich das Theorieprojekt international auszubreiten. Ein Grund ist beispielsweise auch institutioneller Natur. Die institutionelle Stellung des CCCS an der Universität Birmingham war von Anfang an prekär gewesen. 40 Als »rote Zelle« verschrien, ist es der Universität lästig. 1979 geht Hall an die Open University, andere Mitarbeiter des Centre an die »New Universities« wie East London, Wolverhampton, Coventry, Manchester Metropolitan, Nottingham Trent oder ins Ausland. 41 Mit den an der Open University »entwickelten Kursen und darauf auf bauenden Büchern gelang es ihm [Hall, S.M.], großen Einfluß auf die Lehrpläne in Großbritannien zu gewinnen«, 42 so daß sich die Forschungsgebiete der Cultural Studies in nahezu jeder soziologischen Ausbildung in Großbritannien finden lassen. Im Juli 2002 wird das CCCS geschlossen. Aufgrund der Emigration vieler Schüler nach Australien oder den USA haben sich die Cultural Studies zuvor aber schon längst als eine kritische Form der Kulturanalyse global etabliert. Der Prozeß der Internationalisierung wird begleitet durch die seit Mitte der 1990er Jahre regelmäßig stattfindenden International Crossroads in Cultural Studies Conferences und die Gründung einer International Association of Cultural Studies. 43 »Gleichwohl bleibt das CCCS auch nach seiner umstrittenen Schließung im Jahr 2002 durch den Umstand, dass an ihm viele der heute bekanntesten Vertreterinnen und Vertreter der Cultural Studies arbeiteten – u.a. Hall, Angela McRobbie oder David Morley – im Selbstverständnis der Cultural Studies zentral […].«44 Trotz der mittlerweile weltweiten Verbreitung der Cultural Studies und ihres »multiplen Charakters« 45 gibt es einige Gemeinsamkeiten, sei es die politische und sozialkritische Perspektive oder der damit zusammenhängende Kulturbegriff. Den Kulturbegriff kann man mit Oliver Marchart folgendermaßen definieren: Da in den gegenwärtigen Cultural Studies eine Analyse und Kritik der Macht im Zentrum steht, also weniger eine kulturwissenschaftliche als vielmehr eine gesell39 | Hall, Rassismus und kulturelle Identität, a.a.O., S. 84. 40 | Vgl. Webster, Frank, »Cultural Studies und Soziologie vor und nach der Auflösung der Schule von Birmingham«, in: Karin Harrasser et al. (Hg.), Die Politik der Cultural Studies. Cultural Studies der Politik, Wien 2007, S. 67-87, hier S. 74ff. 41 | Webster, a.a.O., S. 79. Zu Stuart Hall siehe auch ausführlich Winter, Rainer, Zur Aktualität von Stuart Hall, Reihe Aktuelle und klassische Sozial- und Kulturwissenschaftler, hg. von Stephan Moebius, Wiesbaden 2012. 42 | Vgl. Winter, Rainer, »Cultural Studies«, in: Georg Kneer/Markus Schroer (Hg.), Handbuch Soziologische Theorien, Wiesbaden 2009, S. 67-85, hier S. 70. 43 | Vgl. Winter, Rainer, »Cultural Studies«, a.a.O., S. 67. 44 | Hepp, Andreas et al., »Einleitung«, in: Dies., Schlüsselwerke der Cultural Studies, Wiesbaden 2009, S. 7-17, hier S. 8. 45 | Hepp et al., »Einleitung«, a.a.O., S. 8.
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schaftliche Machtanalyse anhand popularkultureller Phänomene und Identitäten, muß unter »Kultur« folglich jener »Ort« des Sozialen »verstanden werden, an dem Machtverhältnisse verhandelt werden, an dem um die Definition und Redefinition von Unterordnung und Unterdrückung gekämpft wird, an dem soziale Ausschlüsse produziert und legitimiert werden, an dem aber auch sozialer Einschluss reklamiert werden kann«. 46 Marchart kommt dadurch zu dem Schluß, daß im Zentrum der Analysen der Cultural Studies drei miteinander verwobene Bereiche stehen: Kultur, Macht und Identität. Eine Cultural-Studies-Analyse hat diese drei Bereiche zu berücksichtigen. Wie aber könnte eine solche Analyse genauer aussehen? Diese Frage soll im folgenden Abschnitt behandelt werden.
2. M E THODOLOGIE DER C ULTUR AL S TUDIES Obgleich die Soziologie ein zentraler Bezugspunkt der Cultural Studies sind – Hall wird Mitte der 1990er Jahre zum Präsidenten der britischen Gesellschaft für Soziologie gewählt –, sind sie ein transdisziplinäres Feld. Wie erwähnt, spricht Hall auch von einer »diskursiven Formation«, in der bestimmte Methoden, Disziplinen und Forschungsgebiete konvergieren. Eine exemplarische Darstellung der unterschiedlichen Forschungen und Themengebiete der Cultural Studies, die von den generellen Fragen der Handlungsfähigkeit, Macht und Identitäten bis hin zu den Analysen der Medien, der Populärkultur, der Kommunikation, der Stile, der Subkulturen etc. reichen, kann deswegen nicht geleistet werden;47 auch keine ausführliche Darstellung der Methoden, die sowohl Methoden der qualitativen Sozialforschung wie Ethnographie, Interviews oder Gruppendiskussionen als auch auf Foucault und Laclau zurückgehende diskursanalytische Verfahren umfaßt. Aber es lassen sich dennoch zentrale Eckpunkte bzw. Grundpositionen, die sich als wesentlich für die Forschungspraxis herauskristallisiert haben, in knapper Form darstellen. Lawrence Grossberg bestimmt die Eigenschaften, die seiner Ansicht nach für die Praxis der Cultural Studies konstitutiv sind, folgendermaßen: »Disziplin, radikale Kontextualität (mit drei logischen Folgeerscheinungen – sie ist antireduktionistisch; ihre Objekte sind diskursive Allianzen, ihre Methode ist die Artikulation), Theorie, Politik, Interdisziplinarität und Selbstreflexion (hinsichtlich ihres theoretischen, politischen, kulturellen und institutionellen Orts).«48 Was heißt das genau?49 »Disziplin« bedeutet das für eine Wissenschaft und Fachdisziplin selbstverständliche Bestreben, die Tugenden und Regeln wissenschaftlicher und intellek46 | Marchart, Cultural Studies, a.a.O., S. 252. 47 | Zu den medienwissenschaftlichen Schlüsselwerken vgl. Hepp et al., Schlüsselwerke der Cultural Studies, a.a.O. 48 | Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 263; vgl. auch Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 56. 49 | Vgl. dazu Grossberg, Lawrence, What’s going on? Cultural Studies und Populärkultur, Wien 2000, S. 253ff.; Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 57ff.; Hepp et al., »Einleitung«, a.a.O., S. 8ff. sowie die konzise Darstellung in Marchart, Cultural Studies, a.a.O., S. 36ff., auf die ich mich im Folgenden neben den Grossbergtexten hauptsächlich beziehe.
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tueller Arbeit strengstmöglich einzuhalten. Damit ist aus Sicht von Grossberg gemeint, »die Anerkennung der Tatsache, daß sie [die Cultural Studies, S.M.] die Notwendigkeit von rigoroser Ausbildung, intellektuellem Argumentieren und Analysieren, von empirischer Forschung (die auf rigorosen Methoden aufgebaut ist) nicht leugnen«.50 Die Einhaltung wissenschaftlicher Standards, wie etwa die Gewährleistung einer intersubjektiven Überprüf barkeit der Datengewinnung, geht einher mit der an Foucault geschulten Erkenntnis, daß Wissensprozesse stets mit Machtverhältnissen zu tun haben. Die Einsicht in die Verschränkung von Wissensproduktion mit Macht führt jedoch für die Cultural Studies nicht in die Sackgasse eines wissenschaftlichen Relativismus, sondern stattdessen weigern sie sich – darin ganz ähnlich Pierre Bourdieu –, »die Suche nach einer ›objektiven Wahrheit‹ (niemals jedoch als Totalanspruch) oder den Anspruch auf die Autorität des Wissens aufzugeben«.51 Dabei geht es nach einer Formulierung Gramscis immer darum, mehr zu wissen als die »andere Seite«. »Radikale Kontextualität« verweist darauf, daß die Cultural Studies dem Kontext kultureller Praktiken besondere Aufmerksamkeit schenken. »Es ist eine Frage des Kontextes« ist häufig eine beliebte Erklärungsfloskel, gerade wenn der Kontext aber außen vor gelassen wird. Aber im Fall der Cultural Studies wird damit insofern ernst gemacht, als es genau die Kontexte, in Form hegemonialer Formationen, sind, die »den eigentlichen Untersuchungsgegenstand darstellen, da kulturelle Praktiken oder Artefakte, so isoliert sie vorderhand erscheinen mögen, ihre Effektivität nur innerhalb solcher Kontexte wahren können. So können etwa patriarchale oder rassistische Praktiken nur im Schutz breiterer patriarchaler und/oder rassistischer hegemonialer Formationen und Institutionen gedeihen – und tragen wiederum ihrerseits zur Perpetuierung dieser Formationen und Institutionen bei.« 52
Grossberg bezeichnet die Cultural Studies deshalb auch als »Disziplin der Kontextualität«.53 In seinen Augen ist der Kontext nicht nur lediglich eine Art Hintergrund des zu Analysierenden, sondern dessen Bedingung der Möglichkeit.54 »Sogar die Beziehungen zwischen Kultur und Gesellschaft selbst sind kontextuell spezifisch«, meint Grossberg, wobei er bedauerlicherweise nicht näher auf den Gesellschaftsbegriff eingeht. Das wäre insofern aber wichtig, als gerade den Cultural Studies in der Regel vorgeworfen wird, den Gesellschaftsbegriff zugunsten einer rein kulturellen Betrachtung aller sozialen Phänomene zu verabschieden.
50 | Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 263; Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 57. 51 | Grossberg, »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 57. 52 | Marchart, Cultural Studies, a.a.O., S. 39. 53 | Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 264; vgl. Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 58. 54 | Vgl. Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 265; vgl. Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 59.
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Zurück zur Kontextualität: Diese hat drei zentrale Folgen.55 Erstens führt sie zu einer antireduktionistischen Sichtweise auf kulturelle Praktiken. So sind diese nicht nur Orte vielfältiger Überschneidungen und Überdeterminierungen. Sie lassen sich auch nicht gänzlich nur auf eine Dimension zurückführen. Im folgenden Zitat wird deutlich, daß dies auch eine gewisse Verabschiedung vom Kulturalismus bedeutet, in dessen Ecke die Cultural Studies vielfach gestellt wurden: »Auch weigern sich Cultural Studies, die Realität auf Kultur, oder auf eine einzige Dimension oder Domäne der Existenz zu reduzieren. Biologie, Ökonomie, staatliche Politik, soziale und geschlechtliche Beziehungen, Kultur – all dies sind Momente der menschlichen Realität. Wenn man auch Cultural Studies als eine Version der ›sozialen Konstruktion der Realität‹ sehen kann, so heißt das für sie nicht, daß Realität ausschließlich durch unsere sozialen und kulturellen Praktiken konstruiert wird. Denn es gibt materielle Realitäten, die auf verschiedene Art umkämpft sind, die artikuliert werden und reale, messbare Wirkungen haben. […] Sie [Cultural Studies, S.M.] gehen davon aus, daß die Kultur nur in ihrer Beziehung zu allem, was nicht Kultur ist, verstanden werden kann. In diesem Sinne sind Cultural Studies immer materialistisch.« 56
Zweitens bedeutet »Radikale Kontextualität« für Grossberg, »diskursive Allianzen« zu untersuchen. Da nach Foucault Diskurse mit Machtprozessen einhergehen, ist es Aufgabe, die spezifischen Machtverhältnisse dieser diskursiven Allianzen in den Blick zu nehmen. So können die Geschlechterbeziehungen beispielsweise als diskursive Allianz betrachtet werden, in der ganz unterschiedliche andere Faktoren mit hineinspielen, etwa Klassenbeziehungen. Allerdings warnt Grossberg davor, diese anderen Faktoren dann wiederum als letztendliche Erklärung des zu untersuchenden Phänomens heranzuziehen, also im Falle von Geschlechterbeziehungen diese etwa mit den Klassenbeziehungen zu erklären.57 Was bedeutet nun aber »Allianzen«? Nach Grossberg befassen sich die Cultural Studies »mit der Rolle kultureller Praktiken bei der Konstruktion der Kontexte menschlichen Lebens als Machtmilieus«.58 Die Praktiken sind dabei immer in Beziehungsgeflechte (Allianzen) eingebettet, die nicht notwendigerweise nur symbolisch oder diskursiv sein müssen. Allianz ist ein soziales Totalphänomen und meint eine »gewisse Anzahl von Praktiken, die über einen begrenzten sozialen Raum verteilt sind. […] Eine Allianz ist ein Ereignis, das man vielleicht mit dem totalen sozialen Phänomen von Mauss vergleichen kann, welches […] ein Schnitt- und Verhandlungspunkt von radikal ver-
55 | Vgl. zum Folgenden Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 266ff.; vgl. Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 61ff. 56 | Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 266; vgl. Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 61. 57 | Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 266; vgl. Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 62. 58 | Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 267; vgl. Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 62.
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S TEPHAN M OEBIUS schiedenen Arten von Determinationen ist, von zeitlichen und räumlichen, semiotischen und materiellen Vektoren.« 59
Die Cultural Studies wollen diese Beziehungen aufzeigen. Dies führt zu einem weiteren Unterpunkt des »radikalen Kontextualismus«, der Artikulation. Die Artikulation meint die Herstellung einer Beziehung von verschiedenen Elementen, einer Beziehung dort, wo es zuvor keine notwendige Beziehung gab, »oder häufiger noch, das Herstellen einer neuen aus einer anderen Beziehung«. 60 Stellt man sich beispielsweise die Frage, wie es dazu kam, daß die Arbeiter in den USA Reagan und im britischen Königreich Thatcher gewählt haben, dann kann man das, wie wir weiter unten sehen werden, damit erklären, daß alte Artikulationen aufgebrochen und neue Artikulationen geschaffen wurden, so daß die Arbeiter ihre Interessen nicht mehr allein in der Labour Party oder bei den Demokraten vertreten sahen. Artikulation, ein zentraler Begriff der Theoriekonzeption von Laclau und Mouffe,61 meint eine partielle Fixierung von Bedeutungen, die nicht getrennt von hegemonialen Praktiken betrachtet werden darf, beispielsweise die nicht notwendige diskursive Verbindung von »Demokratie« und »Leistungsprinzip«. In einer anderen artikulatorischen Praxis wäre vielleicht eine andere Beziehung bzw. artikulatorische Praxis denkbar, etwa »Demokratie« mit dem Abbau sozialer Ungleichheit zu verbinden. Wie man an dem Beispiel sieht, hängt die Durchsetzung der Artikulation vom Kontext der gesellschaftlichen (Macht- und Herrschafts-)Verhältnisse ab. Zusammenfassend beschreibt Grossberg den radikalen Kontextualismus und das Ziel der Cultural Studies folgendermaßen: »Wenn man einen Kontext als die Beziehungen versteht, die durch das Wirksamwerden von Macht im Interesse bestimmter Machtpositionen entstanden sind, dann umfasst der Kampf zur Veränderung des Kontexts auch das Bemühen, diese Beziehungen zu verstehen, jene Beziehungen aufzuspüren, die disartikuliert sein können und darum zu kämpfen, sie zu reartikulieren.« 62
Neben der Disziplin und der radikalen Kontextualität ist die Theorie ein weiterer methodologischer Eckpunkt der Cultural Studies. Die Theorie sei für das Verständnis des Kontextes notwendig, weil der Kontext nicht auf einem direkten, empirischen Weg verfügbar sei, so Grossberg.63 Obgleich der Kontext nicht auf theoretische oder kulturelle Konstruktionen reduzierbar sei, sei er auch keine bloße Gegebenheit, die unabhängig von Theorien oder kulturellen Praktiken sei; der 59 | Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 268; vgl. Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 63. Zu Mauss’ Vorreiterrolle der Kulturwissenschaften siehe Moebius,Stephan, Marcel Mauss, Konstanz 2006 sowie Moebius, Stephan, Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie, Konstanz 2006. 60 | Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 270; vgl. Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 65. 61 | Vgl. dazu Moebius, Stephan, Die soziale Konstituierung des Anderen, a.a.O., S. 168ff. 62 | Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 272; vgl. Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 68. 63 | Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 272; vgl. Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 69.
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Kontext spricht nicht für sich selbst. Insofern gelte es, jeweils nach den geeigneten Theorien zu suchen, die für die Fragestellungen an den Kontext die passenden Antworten geben können. Kontext und Theorie konstituieren sich in den Augen von Grossberg wechselseitig, weshalb eine Theorie auch nicht einfach ohne eingehende Prüfung auf einen anderen Kontext angewendet werden könne. »Wenn irgendeine Theorie schon im vorhinein die Antworten gibt, weil diese Theorie immer und auf jeden Kontext angewendet wird, glaube ich nicht, daß in diesem Falle Cultural Studies betrieben werden.«64 Deshalb sind Cultural Studies weder bloß Kommunikationstheorie, Subkultur-Theorie oder Hegemonietheorie. Stattdessen verwenden sie Theorien je nach Problemsituation; sie reartikulieren und verknüpfen Theorien – wie beispielsweise Bourdieus Praxeologie mit Derridas Dekonstruktion –, um damit Antworten auf spezifische, gesellschaftliche und kulturelle Fragen zu finden. Das alles dient in erster Linie der Produktion von Wissen, »welches helfen soll zu verstehen, daß man die Welt verändern kann, und das Hinweise darauf gibt, wie sie zu verändern ist«.65 Theorie wird damit zu einem Vehikel der Politik, ein weiterer methodologischer Schwerpunkt der Cultural Studies. Die politische Perspektive der Cultural Studies ergibt sich aus der Auffassung, daß »die Welt als Ort von Konflikten« und Kräfteverhältnissen wahrgenommen wird.66 Mit Politik sind aber nicht nur die Disziplin, der radikale Kontextualismus und die Reartikulation von Theorie eng verknüpft, auch die anderen Schwerpunkte der Methodologie der Cultural Studies, die Interdisziplinarität und die Selbstreflexivität, sind mit dem Politischen eng verbunden.67 So ergibt sich die Forderung der Interdisziplinarität zunächst aus einer Strategie der Wissensaneignung, um bestmögliche, das heißt insbesondere auch politisch relevante Kenntnisse mit Blick auf das jeweilige Untersuchungsfeld zu gewinnen.68 »Jemand, der Cultural Studies betreibt, kann seine disziplinären Kompetenzen nicht zur Rechtfertigung einer Begrenzung der Fragen, mit denen er oder sie sich befassen möchte, heranziehen, sondern nur zur Rechtfertigung dessen, wo er ansetzen kann.«69 Konsequente »Selbstreflexivität« will dabei die Cultural Studies davor bewahren, sich selbst – etwa als Beobachter zweiter Ordnung – aus dem Feld des Politischen, des Kontextes, der Machtbeziehungen etc. herauszunehmen. Denn der Forscher ist nach Grossberg in die Praktiken, Kontexte, Diskurse und Allianzen, die er erforscht, verwoben – und dies nicht nur im Fall der Ethnographie. Er oder sie hat sich darum unbedingt nach dem eigenen Verhältnis zum Kontext zu fragen. Marchart bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: »Das von den Cultural 64 | Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 273; vgl. Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 69. 65 | Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 275; vgl. Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 72. 66 | Vgl. Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 277; vgl. Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 74. 67 | Folgt man der instruktiven Interpretation von Oliver Marchart, liegt der Aspekt der Politik allen methodologischen Dimensionen der Cultural Studies »leitmotivisch« zugrunde. Vgl. Marchart, Cultural Studies, a.a.O., S. 42. 68 | Ebd., S. 42. 69 | Grossberg, »What’s going on«, a.a.O., S. 278; vgl. Ders., »Was sind Cultural Studies«, a.a.O., S. 75.
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Studies produzierte Wissen bleibt notwendigerweise in breitere gesellschaftliche Kräfteverhältnisse eingespannt. Das bedeutet, dass jedes Verhältnis zwischen Untersuchungsperspektive und zu untersuchendem Kontext selbst bereits durch Machtverhältnisse strukturiert ist.«70
3. E IN B EISPIEL EINER C ULTUR AL-S TUDIES -A NALYSE : D ER THATCHERISMUS Als Beispiel der Forschungen der Cultural Studies soll eine Studie von Stuart Hall im Mittelpunkt der weiteren Betrachtung stehen, die auch deshalb exemplarisch ausgewählt wird, weil sie der oftmals im deutschsprachigen Raum anzutreffenden Verknappung der Cultural Studies auf Fragen der medialen Praktiken bzw. der Medien- und Kommunikationsforschung entgegenläuft und stattdessen vielmehr die zentrale Bedeutung der Hegemonieforschung für die Cultural Studies hervorhebt: Halls Forschungen über die Ideologie der Neuen Rechten und die Hegemonie des »Thatcherismus«.71 Halls Leitfragen lauten: Wie kam es zum Aufstieg der Macht der Neuen Rechten und wie konnte sie sich ihre Hegemonie und die Zustimmung der Massen sichern? Hatte sich die Rechte Stuart Hall zufolge nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Sozialstaat und eine keynesianische Wirtschaftspolitik eingelassen, um die Konflikte zwischen Kapital und Arbeit möglichst gering zu halten, akzeptierte die Linke im wesentlichen den Kapitalismus und die Anbindung an den Westen. Das heißt, die politische Situation war durch einen »grundlegenden Konsens« zwischen den zentralen politischen Kräften geprägt.72 Unter dem Druck der ökonomischen Rezession konnte dieser Kompromiß jedoch nicht länger aufrecht erhalten werden, und die inneren Widersprüche dieses Konsenses traten deutlich zutage – zunächst »in den sozialen und politischen Umwälzungen der 60er Jahre, dann in den gegenkulturellen Bewegungen im Gefolge des Vietnamkrieges und schließlich (während der konservativen Zwischenregierung von Edward Heath) in den Arbeitskonflikten und der Militanz der frühen 70er Jahre«.73 Die Gesellschaft war in einem anomischen Zustand, einer Krise, die den Nährboden für eine neue hegemoniale Formation abgab. Die Neue Rechte begann nun, unterschiedliche diskursive Elemente neu zu artikulieren. So blieb die Ideologie des freien Marktes nicht mehr nur ein traditionelles Element der (ohnehin kaum sichtbaren) Liberalen, sondern wurde nun von den Konservativen aufgegriffen und mit einer »Ethik des Besitzindividualismus und des harten Konkurrenzkampfes« verknüpft. Dies allein hätte aber der Neuen Rechten noch nicht zu ihrer Macht und Stärke ver70 | Marchart, Cultural Studies, a.a.O., S. 41. 71 | Vgl. Hall, Stuart, The Hard Road to Renewal. Thatcherism and the Crisis of the Left, London/New York 1988; Ders., »Der Thatcherismus und die Theoretiker«, in: Ders., Ideologie, Kultur, Rassismus. Ausgewählte Schriften 1, Hamburg 1989, S. 172-206. Vgl. zum Folgenden als meine Hintergrundfolie auch die Ausführungen in Marchart, Cultural Studies, a.a.O., S. 239ff. 72 | Vgl. Hall, »Der Thatcherismus und die Theoretiker«, a.a.O., S. 173. 73 | Ebd., S. 175.
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holfen. Dazu bedurfte es unter anderem weiterer Artikulationen und diskursiver Verbindungen: Die Elemente der Ideologie des freien Marktes »verbanden sich mit der traditionsbewußteren, paternalistischen, organischen Fraktion der Tories und bildeten die höchst widersprüchliche Formation, die den modernen Konservativismus kennzeichnet«.74 Im Vergleich zu früheren Versionen des Konservatismus war dies eine vollkommen neuartige Kombination von unterschiedlichen Elementen des Konservatismus. Und es war insbesondere Margret Thatcher, der es innerhalb der Tories »am besten gelang, das Hohelied des Monetarismus und das Evangelium des freien Marktes in das schlichte Vokabular eines steuerzahlenden Tory-Haushaltsvorstandes zu übersetzen«.75 Ein vorrangiges Ziel des neoliberalen Programms von Thatcher war der Abbau des Sozialstaats. Mit Hilfe neoliberaler think tanks wie etwa dem Centre for Policy Studies und der Massenpresse gelang es, einen neuen ökonomischen common sense durchzusetzen, dessen Credo Privatisierung, Deregulierung und Prekarisierung der Arbeit lautete.76 Damit eng verbunden waren das Aufbrechen der Macht der Arbeiterschaft und die Stärkung des Kapitals. »Das wurde nicht auf bloß ›ökonomistischer‹ Ebene erreicht. Das Ziel bestand darin, das gesellschaftliche Leben insgesamt neu zu ordnen durch eine Rückkehr zu den ›alten Werten‹ – den Philosophien von Tradition, Englischtum, Respektabilität, Patriarchalismus, Familie und Nation. Das eigentlich Neue am Thatcherismus war vor allem die Art und Weise, wie er die neuen Lehren des freien Marktes mit einigen traditionellen Schwerpunkten des organischen Toryismus verband.«77
Die Neuartikulation von ehemals nicht zwingend miteinander verbundenen Diskursen erklärt aber noch nicht allein die Wahlerfolge des Thatcherismus. Die Frage ist deshalb: Wie bringt es eine bestimmte Macht- bzw. Hegemonieformation fertig, daß sie vor allem jene Bereiche der Gesellschaft an sich bindet, deren Interessen zu vertreten diese Machtformation niemals im Sinne hatte – ja vielleicht sogar völlig konträr zu diesen gesellschaftlichen Gruppen steht? Halls Erklärung rückt hier in die Nähe des Konzepts der produktiven Macht von Foucault und desjenigen der Symbolischen Gewalt von Bourdieu78, wenn er schreibt: »Die ›herrschenden‹ Ideen oder Weltanschauungen bestimmen nicht unmittelbar den geistigen Gehalt der Illusionen, die wahrscheinlich in den Köpfen der beherrschten Klassen stecken. Aber der Kreis herrschender Ideen häuft tatsächlich genügend symbolische Macht an, um die Welt für andere zu konzipieren und zu klassifizieren. […] Die ›herrschenden‹ Ideen bestimmen den Horizont dessen, was als selbstverständlich hingenommen wird: Für jeden 74 | Ebd., S. 175f. 75 | Ebd., S. 176. 76 | Dixon, Keith, Die Evangelisten des Marktes. Die britischen Intellektuellen und der Thatcherismus, Konstanz 2000. 77 | Hall, »Der Thatcherismus und die Theoretiker«, a.a.O., S. 178f. 78 | Vgl. zur Verbindung zwischen Bourdieus Konzept der Symbolischen Gewalt und neueren Machtkonzeptionen das Themenschwerpunktheft Symbolische Gewalt der Österreichischen Zeitschift für Soziologie, hg. von Stephan Moebius und Angelika Wetterer, Dezember 2011.
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S TEPHAN M OEBIUS denkbaren Zweck halten sie eine Erklärung bereit, was die Welt ist und wie sie funktioniert. Sie können andere Vorstellungen von der sozialen Welt dominieren, indem sie die Grenzen dessen, was als rational, vernünftig, glaubhaft, realistisch sag- und denkbar gilt festlegen – innerhalb des uns zur Verfügung stehenden Vokabulars für Motive und Handlungen.«79
Die Frage, wie es dem Thatcherismus gelang, populär zu werden, beantwortet Hall darüber hinaus mit seinem Konzept des autoritären Populismus.80 Kennzeichen für den Populismus ist es, wie Hall im Anschluß an Ernesto Laclaus Theorie des Populismus81 festhält, ein politisches populares Subjekt und einen »Machtblock« zu konstruieren und diese beiden Positionen in ein antagonistisches Verhältnis zu setzen. Beim autoritären Populismus werden jedoch die popularen Klassen nicht gegen den Machtblock, sondern mit dem Machtblock artikuliert. »When, in a crisis, the traditional alignments are disrupted, it is possible, on the very ground of this break, to construct people into a populist political subject: with, not against, the power bloc; in alliance with new political forces in a great national crusade to ›make Britain »Great« once more‹.«82 Im Gegensatz zu einem antagonistischen Verhältnis zwischen dem Volk und den Mächtigen kommt es hier zu einer »popularen Einheit des gesamten ›Volkes‹ – natürlich unter Ausschluss ›der Bürokratie‹, aller ›Sozialschmarotzer‹ und nicht zuletzt der als sozialistisch diffamierten Labour-Politik«. 83 Labour wurde schließlich selbst als Teil des Machtblocks dargestellt, der mit Hilfe uneffizienter Staatsbürokratie den »kleinen Mann« unterdrücke. Die wahre Beschützerin des Volkes dagegen sei Thatcher und ihre Regierungsprogramme.84 Diskurs- und hegemonietheoretisch ausgedrückt, wurde eine Äquivalenzkette zwischen zuvor nicht zusammenhängenden diskursiven Elementen des Traditionalismus, Nation, Familie, Pflicht, Patriarchat und neoliberalen Elementen wie Eigeninteresse, Anti-Etatismus und Konkurrenzindividualismus geschaffen und diese Elemente zu einer neuen Diskursformation artikuliert. Die kohärente Artikulation und Stabilität einer Diskursformation kann aber nur gelingen, wenn ein negativer Pol, ein »konstitutives Außen« (Laclau) gebildet wird, das in einem antagonistischen Verhältnis zur Äquivalenzkette gesetzt wird, 85 in diesem Fall unter anderem alle mit Labour in Verbindung gebrachten Elemente. Dies änderte sich im übrigen auch nicht unter der Regierung von Tony Blair, der sich bei der radikalen Durchsetzung der Marktprinzipien und bei seiner Kritik am Keynesianismus oder in der allgemeinen Sichtweise einer »ohne staatliche oder gewerkschaftliche Behinderungen funktionierenden Marktwirtschaft« unter dem rhetorischen, ge-
79 | Hall, »Der Thatcherismus und die Theoretiker«, a.a.O., S. 187. 80 | Vgl. Hall, The Hard Road to Renewal, a.a.O., S. 49, 138ff. 81 | Siehe u.a. Laclau, Ernesto, Politics and Ideology in Marxist Theory, London 1977. 82 | Hall, The Hard Road to Renewal, a.a.O., S. 49. 83 | Marchart, Cultural Studies, a.a.O., S. 241. 84 | Hall, The Hard Road to Renewal, a.a.O., S. 142. Eine etwas andere Art des autoritären Populismus sahen wir in Italien, wo es Silvio Berlusconi gelang, sich mit Hilfe der (bzw. seiner) Medien als Vertreter des Volkes gegen einen Machtblock »linker Juristen und anderer Kommunisten« zu stilisieren. 85 | Vgl. dazu ausführlich Moebius, Die soziale Konstituierung des Anderen, a.a.O., S. 156ff.
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sellschaftlichen Konsens versprechenden Deckmantel eines sogenannten »dritten Wegs« (Giddens) als »würdiger Erbe« des Thatcherismus entpuppte. 86 Betrifft das bisher Gesagte vor allem die Ebene der Diskurse, so hat die Neuartikulation der Neuen Rechten auch Effekte auf der Ebene der Subjekte und ihrer Praktiken. In den Augen von Hall zielten die Diskurse der Neuen Rechten gerade auf eine Produktion neuer Subjektpositionen und auf eine Transformation von Subjektivität. 87 Dem Thatcherismus sei es gelungen, neue Identifikationsmöglichkeiten und »neue Subjektpositionen zu schaffen, aus deren Sicht seine Diskurse über die Welt einen Sinn ergeben[…]«. 88 Solche Subjektpositionen sind zum Beispiel der »selbstsichere, wirtschaftlich unabhängige Steuerzahler«, der »besitzende Privatmann«, »der aufrichtige Patriot« oder der Begriff eines »freien« Subjekts, 89 wobei »Freiheit« innerhalb dieser diskursiven Äquivalenzkette meint, von etwaigen Forderungen des Staates oder moralischen Verpflichtungen gegenüber dem Gemeinwesen frei zu sein. Insgesamt ist nach Hall immer wieder vor Augen zu führen, daß es sich bei dieser Art von Analysen im Sinne der Cultural Studies um Analysen hegemonialer Formationen handelt. »Hegemonie eröffnet Wege, das Emporkommen des Thatcherismus in Begriffen eines Kampfes um die Vorherrschaft über eine gesamte gesellschaftliche Formation zu denken, als Kampf um ›Führungs‹positionen in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens gleichzeitig […].« 90
4. W IRKUNGEN UND K RITIK Auch die neueren Perspektiven der Cultural Studies sind nicht ohne Kritik geblieben.91 So wirft man insbesondere John Fiske vor, die (auch in der Mediennutzung auffindbaren) Alltagsroutinen zu vernachlässigen und im Gegenzug das Populäre sowie das Widerstandspotential des Publikums zu romantisieren. Gerade am Beispiel von Fiskes Rezeptionsforschungen zeige sich die begriffliche Undifferenziertheit und handlungstheoretisch unreflektierte Benutzung des Kreativitäts- und Aktivitätsbegriffs, so die Kritik des zum deutschsprachigen Feld der Cultural Studies zählenden Kultursoziologen Udo Göttlich.92 Göttlich macht darum völlig zu Recht auf die dringende Notwendigkeit aufmerksam, die Zuschauer- und (gesellschaftstheoretischen) Transformationsanalysen der Cultural Studies mit dem handlungsund erfahrungsorientierten Konzept der »Kreativität des Handelns« von Hans Joas,
86 | Dixon, Keith, Ein würdiger Erbe. Anthony Blair und der Thatcherismus, Konstanz 2000. 87 | Hall, »Der Thatcherismus und die Theoretiker«, a.a.O., S. 193. 88 | Ebd., S. 193. 89 | Ebd., S. 194. 90 | Ebd., S. 200. 91 | Zur Diskussion über die »Herausforderung der Cultural Studies« siehe auch Albrecht, Clemens et al. (Hg.), Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung der Cultural Studies, Köln 2002. 92 | Göttlich, Udo, Zur Kreativität des Handelns in der Medienaneignung. Zur handlungstheoretischen Kritik der Wirkungs- und Rezeptionsforschung, Konstanz 2006, S. 87ff.
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das den kreativen Charakter sämtlicher sozialer Praktiken hervorhebt, soziologisch und handlungstheoretisch konsequent zu untermauern.93 Ein weiterer, ebenfalls den Cultural Studies zuzurechnender Kritiker, Oliver Marchart, bemängelt, daß in Fiskes Untersuchungen zu wenig in Rechnung gestellt werde, »dass das Populare – wie die Kultur selbst – keine an sich positive Kategorie ist, sondern jede politische Einschätzung immer die kontextspezifische hegemoniale Artikulation und also ›Färbung‹ des Popularen mit bestimmten Diskursen, seien diese emanzipatorisch, seien sie reaktiv oder rassistisch, berücksichtigen muss. Von dieser, wenn man so will, dunklen Seite der Gegen-Macht ist bei Fiske so gut wie nie die Rede.« 94
Darum bedürfe es heute einer erneuten Hinwendung zur Hegemonie. Eine damit zusammenhängende und berechtigte Kritik liegt in dem Vorwurf, es mangele sowohl an makropolitischen Untersuchungen und Analysen, die die mikropolitischen Praxen mit den makropolitischen hegemonialen Formationen in Beziehung setzen, als auch an einer differenzierteren Betrachtung hegemonialer Machtverhältnisse. So sei die Beschreibung des sozialen Feldes mit Hilfe der Dichotomie von »power-bloc« und »people« eine zu vereinfachende Reformulierung der Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe,95 weil sie die von diesen ausgemachte Vielzahl gesellschaftlicher Antagonismen im Sozialen auf einen Antagonismus zwischen Herrschenden und Beherrschten reduzieren. Damit widersprächen die Cultural Studies Laclau und Mouffe und gleichzeitig auch einem zentralen Element ihres eigenen Theoriedesigns. Zusammengefaßt ist das Proprium der Cultural Studies auf der wissenschaftlichen Ebene (im Vergleich etwa zu früheren und anderen gegenwärtigen kultursoziologischen Ansätzen) die innovative Verknüpfung poststrukturalistischer, pragmatistischer, materialistischer und praxistheoretischer Konzepte. Dabei entpuppen sich »Kultur«, »Kreativität«, »Macht« und »Identität« als die Schlüsselbegriffe der Cultural Studies.96 Statt, wie früher üblich, Kultur in erster Linie als integrierende Bedeutungsdimension aufzufassen, die den sozialen Kitt herstellt, wird bei den Cultural Studies dagegen die (unabschließbare) Konflikthaftigkeit des Sozialen und der kulturelle »Kampf um Bedeutungen« (Lawrence Grossberg) und Sinn hervorgehoben. Auch die Wissenschaft, die für gewöhnlich als ein wertfreier Raum gilt, wird dabei nicht ausgespart und – ähnlich wie bei Bourdieu – als ein kulturelles Kampffeld aufgefaßt.97 Ausgehend davon, ist auch der Kulturbegriff wesentlich ein politischer. John Fiske präzisiert: »Das Wort ›Kultur‹ hat im Begriff der ›Cultural Studies‹ weder eine ästhetische noch eine humanistische Ausrichtung, sondern vielmehr eine politische.«98 Die Cultural Studies weisen somit wesentliche Kriterien kritischer Kultur- und Gesellschaftstheorien auf, die darin liegen, ers93 | Vgl. Joas, Die Kreativität des Handelns, a.a.O. 94 | Marchart, Cultural Studies, a.a.O., S. 159. 95 | Vgl. Marchart, Cultural Studies, a.a.O., S. 158f. 96 | Vgl. Marchart, Cultural Studies, a.a.O., S. 33ff. 97 | Vgl. Kellner, Douglas, Medienkultur, Kritik und Demokratie. Der Douglas-Kellner-Reader, hg. von Douglas Kellner und Rainer Winter, Köln 2005. 98 | Fiske, Die Fabrikation des Populären, a.a.O., S. 17.
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tens die sich verändernden konkreten Formen von Herrschaft zu untersuchen und zweitens Konzepte und Begriffe kritisch zu dekonstruieren, die gesellschaftliche Herrschaft ausblenden, verschleiern oder verharmlosen.99 In diesem Sinne sind die Cultural Studies ein Beispiel dafür, wie Kultursoziologie bzw. Kulturanalyse insgesamt nicht bloß eine Subdisziplin unter vielen darstellt, sondern dazu in der Lage ist, eine wissenschaftlich fundierte, allgemeine, politische sowie kritische gesellschaftstheoretische Perspektive zu entwickeln. Es ist vielleicht diese Perspektive, die unter den gegenwärtigen anomischen gesellschaftlichen Bedingungen sozialer Fragmentierung, Exklusion, Prekarisierung und Desintegration zu dem großen Erfolg und der transdisziplinären Verbreitung der Cultural Studies beiträgt.100 Ein Ausdruck dieses Erfolgs ist auf dem wissenschaftlichen Feld die enorme Ausstrahlungskraft der Cultural Studies auf die Entwicklung neuer Kulturforschungen. So sind die meisten der in diesem Band versammelten und vorgestellten kulturanalytischen Konzeptionen zum Teil direkte Erben der Cultural Studies oder zumindest in wesentlichen Punkten von ihnen geprägt.
99 | Vgl. Moebius, Stephan/Schäfer, Gerhard, »Vorwort«, in: Dies., Soziologie als Gesellschaftskritik. Wider den Verlust einer aktuellen Tradition. Festschrift für Lothar Peter, Hamburg 2006, S. 8. 100 | Vgl. auch Winter, Rainer (Hg.), Die Zukunft der Cultural Studies. Theorie, Kultur und Gesellschaft im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2011.
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Media Studies Udo Göttlich
D AS UNEINHEITLICHE F ELD DER »M EDIA S TUDIES « Media Studies bzw. Media and Cultural Studies haben im letzten Jahrzehnt vor allem im anglo-amerikanischen Raum eine starke Resonanz erfahren. Die kulturverändernden Dimensionen der Medien und der Medienkommunikation bilden den Dreh- und Angelpunkt unterschiedlicher Ansätze, Konzepte und Bestrebungen, die sich jedoch wegen ihrer unterschiedlichen theoretischen Ausrichtungen kaum als eine einheitliche Disziplin oder Perspektive begreifen lassen. Vielmehr handelt es sich um eine vielstimmige Gemengelage, die sich vor allem in der mittlerweile unüberschaubaren Vielzahl an Readern spiegelt, die »Media Studies« in verschiedenen Varianten im Titel tragen und die bei näherer Betrachtung eine Ansammlung unterschiedlichster medien- und kulturwissenschaftlicher Texte klassischer Autoren von Adorno und Benjamin über McLuhan bis zu Baudrillard und Virilio vermischt mit vielfältigen jüngeren Stimmen von der Mediengeschichte bis zu sozial- und kulturtheoretischen Reflexionen in Form von Einzelaufsätzen aus der gesamten Breite des internationalen medien- und kulturwissenschaftlichen Feldes (mit unterschiedlichen Bezügen zu den Cultural Studies) vor den Lesern ausbreiten.1 Vielfach steht der Begriff »Media Studies« auch für Medienwissenschaft(en), wobei diese ebenfalls Konzepte, Modelle und Theorien in der gesamten hier angesprochenen Breite verfolgen und, je nach theoretischer Perspektive, auf unterschiedliche Weise miteinander verbinden oder in Beziehung setzen. Somit beschreibt der sich bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze als dominant herauskristallisierende kulturanalytische Bezugspunkt längst keine kulturtheoretische oder kulturwissenschaftliche Gemeinsamkeit der unter »Media Studies« zusammengefaßten anglo-amerikanischen medien- und kommunikationswissenschaftlichen Positionen und Perspektiven. Vielfach verbindet sich mit dem kulturanalytischen Bezugspunkt nur ein Bündel an gleichlautenden Fragen 1 | Vgl. u.a. Marris, Paul/Thornham, Sue, Media Studies: A Reader, Edinburgh: Edinburgh University Press 1996. O’Sullivan, Tim/Jewkes, Yvonne, The Media Studies Reader, London 1997. Mackay, Hugh/O’Sullivan, Tim (eds.), The Media Reader: Continuity and Transformation, London/Thousand Oaks/New Delhi 1999. Durham, Meenakshi Gigi/Kellner, Douglas M. (eds.), Media and Cultural Studies. Keyworks, Malden (MA)/Oxford 2001. Allen, Robert C./ Hill, Annette (eds.), The Television Studies Reader, London/New York 2004.
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zur Rolle und Stellung der Medien in der aktuellen Gegenwart, oder es werden berufsspezifische Fähigkeiten vermittelt, die, da sie in Medienberufen angewandt werden, als kulturelle Fertigkeiten gelten.2 Selbst bei den Positionen und Perspektiven, die zweifelsohne Berührungs- und Verbindungspunkte mit den Cultural Studies bzw. mit deren medienkulturanalytischen Perspektiven und Positionen aufweisen – was unter anderem in der Bezeichnung »Media and Cultural Studies« zum Ausdruck kommt –, bedeutet das nicht, daß Media Studies in den Cultural Studies aufgehen, noch daß die Cultural Studies zum alleinigen Ausgangspunkt von Media Studies zählen. Die aktuelle Wahrnehmung der Media Studies etwa in der deutschsprachigen Medienkulturforschung – aber nicht nur in ihr – geht z.T. über diese Unterschiedlichkeit hinweg, was sich in der Tendenz zeigt, die Medienanalyse der Cultural Studies (vorwiegend in der Tradition des Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham) als Gußform für Media Studies zu behandeln.3 Im anglo-amerikanischen Kontext stellt diese Tradition aber nur einen – wenn auch weiterhin dominanten – Strang neben anderen medienwissenschaftlichen Positionen dar. Vor diesem Hintergrund kann dieser Beitrag nur einen Überblick über einige (allgemeine) Grundfragen und Perspektiven jener breit aufgestellten »Medien(kultur)wissenschaften« geben, für die sich im internationalen Kontext der Klammerbegriff Media Studies herausgeschält hat. Zunächst werde ich auf zwei Vorläufer der sog. Media Studies eingehen, um im Anschluß eine Sondierung der kulturtheoretischen Besonderheit anhand dreier in den Cultural Studies geläufiger Positionen vorzunehmen. Diese exemplarische Darstellungsform wähle ich nicht zuletzt deshalb, da die Medienanalyse der Cultural Studies an anderen Stellen weitaus detaillierter dargestellt und behandelt wurde, als es in diesem Beitrag möglich ist, 4 der sich mit der Stellung »medienkulturwissenschaftlicher Konzepte« und Analysen im Kontext der Kulturwissenschaften und der Kultursoziologie befaßt. Nach einem Zwischenresümee werde ich abschließend einen Ausblick auf die aktuellen Herausforderungen der Medien(kultur)wissenschaft anhand der Arbeiten Roger Silverstones als einer zentralen Position werfen, die sich in den letzten Jahren für eine Neuausrichtung der Media Studies stark gemacht hat.
V ORL ÄUFER DER »M EDIA S TUDIES « Noch vor den Cultural Studies stellen zumindest im nord-amerikanischen Kontext für die Entwicklung der Media Studies – die sich damit als Produkt einer über sechzigjährigen Geschichte medien- und kommunikationswissenschaftlicher 2 | Es handelt sich um »[…] skills in writing, editing, analysis, research, design, publishing, video and audio editing/mixing, project management, people skills etc. – which are incredibly useful and incredibly transferrable«. (O.A., We study media, http://studymedia.wordpress.com/why-study-media). 3 | Vgl. dazu etwa Marchart, Oliver, Cultural Studies, Konstanz 2008, S. 131. Vgl. auch Hepp, Andreas, Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen/Wiesbaden 1999. 4 | Vgl. Winter, Rainer, Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht, Weilerswist 2001, sowie Hepp, Cultural Studies, a.a.O.
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U DO G ÖTTLICH
Theorieentwicklung verstehen lassen – vor allem die Arbeiten Marshall McLuhans5 einen wichtigen Ausgangspunkt dar, obwohl es sich um einen – nicht zuletzt wegen seiner Originalität – bis heute weiterhin eine Sonderstellung einnehmenden Zugang handelt, der wenig mit Media Studies mit der in diesem Sammelband verfolgten Behandlung von Ansätzen und Perspektiven zu tun hat, die im Umfeld des Cultural und Practice Turn bzw. des poststrukturalistischen Einflusses auf die Geistes-, Sozial- und Medien- sowie Kommunikationswissenschaften zu beobachten sind. Dennoch markieren die Arbeiten McLuhans einen wichtigen Grundstein der Media Studies, der auch unabhängig von der anglo-amerikanischen Tradition im internationalen Maßstab nachweisbar ist.6 McLuhan geht es in seiner Theorie um den Zusammenhang von kultureller und medientechnischer Entwicklung, die ihn zu einer grundlegenden Epocheneinteilung menschlicher Kulturentwicklung bringt (Oralität, Literalität, Gutenberg-Galaxis und elektronisches Zeitalter), die nicht von medientechnischen Innovationen für die Selbst- und Weltbildkonstitution zu trennen ist. Vielmehr betrachtet er die »Medien« bzw. die technischen Voraussetzungen z.B. der elektronischen Medien selbst als Extensionen menschlicher Sinne und Fertigkeiten. Die in dieser mittlerweile zum Slogan gewordenen Vorstellung von der Ausweitung des Menschen zum Ausdruck gebrachte Sicht auf die Medienevolution und zur kulturellen Rolle der Medien lautet, »daß die persönlichen und sozialen Auswirkungen jedes Mediums – das heißt jeder Ausweitung unserer eigenen Person – sich aus dem neuen Maßstab ergeben, der durch jede Ausweitung unserer eigenen Person oder durch jede neue Technik eingeführt wird.«7 McLuhans Vorstellungen zur Technik bauen dabei auf einem Determinismus auf, der sich trotz aller Kritik an den damit einhergehenden Verkürzungen offenbar als fruchtbar bei der Entwicklung von über McLuhan hinausgehenden medienwissenschaftlichen Theorien und Perspektiven erwiesen hat. Im Rahmen solcher Betrachtungen gilt McLuhan mit seinen Begriffen wie z.B. »global village« oder »heiße« und »kalte Medien« auch heute immer noch als Stichwortgeber für die Beschreibung von kulturellen Entwicklungen, auf die er bereits lange vor der Globalisierungsdebatte aufmerksam gemacht hat. Dadurch erweisen sich seine Denkfiguren bis heute immer auch als Anstoß für die Beschreibung und Analyse der Folgen neuer »medientechnischer Revolutionen« für Kultur und Gesellschaft, auch wenn diese nicht länger nur im Kontext der Medien- und Kommunikationswissenschaft erfolgen. Anders liegt der Fall bei James Carey, dessen Arbeiten bereits von ihrem sozial- und kulturwissenschaftlichen Selbstverständnis her deutlicher als diejenigen McLuhans sowohl in die US-amerikanische Kommunikations- und Publizistikwissenschaft als auch in kulturwissenschaftliche Strömungen bis zu den Cultural Studies einzuordnen sind, wobei sie im Unterschied zum Zeitpunkt ihrer Entstehung in der Medien- und Kommunikationswissenschaft keine Sonderstellung mehr einnehmen, was für die Überlegungen McLuhans durchaus immer noch zutrifft. Lan5 | McLuhan, Marshall, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden/Basel 1994. Ders., Die Gutenberg-Galaxies. Das Ende des Buchzeitalters, Bonn/Paris 1995. 6 | Vgl. etwa Krotz, Friedrich, »Marshall McLuhan Revisited. Der Theoretiker des Fernsehens und die Mediengesellschaft«, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, Jg. 49, 2001, H. 1, S. 62-81. 7 | McLuhan, Die magischen Kanäle, a.a.O., S. 21.
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ge bevor der »Interpretative« und »Cultural Turn« in den Geistes- und Sozialwissenschaften an Bedeutung gewann, hat Carey unter dem Einfluß des amerikanischen Pragmatismus damit begonnen, Ideen und Argumente für eine kulturalistische Wende in der Kommunikationswissenschaft und Publizistik stark zu machen. Dabei waren es insbesondere die Arbeiten von John Dewey, Clifford Geertz und Raymond Williams, die neben Ideen Harold Innis’, Thomas Kuhns aber auch Max Webers maßgeblich für die Grundlegung seines Ansatzes wurden.8 Sein Bestreben, gestützt auf diese Autoren eine »kulturwissenschaftliche« Sichtweise in die Kommunikationswissenschaft einzuführen, setzt sich dazu von dem in den 1970er und 1980er Jahren dominanten funktionalistischen Paradigma und der Analyse von Medienwirkungen nach dem (bis heute dominanten) »transmission model of communication« ab. Der schlichte Leitsatz »models of communication are, then, not merely representations of communication but representations for communication«9 weist dem Denken Careys die Richtung, das gezielt die Anwendungsweisen der Kommunikationsmodelle selber in den Blick nimmt, um diese kulturanalytisch zu erweitern bzw. zu überwinden. Während im Transfer-Modell das Medium als Instrument für die Übermittlung von Nachrichten und Wissen behandelt wird, führt die von Carey begründete rituelle Sichtweise (»ritual view«) zu der Einsicht, daß »[…] news is not information but drama«.10 Das heißt, daß die Medien Wirklichkeit nicht abbilden oder beschreiben, sondern mit ihren Darstellungsmitteln die Wirklichkeitsdarstellung sozusagen in die eigene Regie nehmen, indem sie Ereignisse z.B. nach typischen Mustern und Regeln aufarbeiten, oder mit spezifischen ritualisierten Darstellungsweisen dramatisieren, und in diesem Prozeß kulturelle Gemeinsamkeiten und Gemeinschaft sowie Identitäten stiften. Noch vor der amerikanischen Rezeption der Cultural Studies11 formuliert Carey mit dieser Sichtweise eine erste kulturanalytische Perspektivenöffnung durch ein anthropologisches, auf Handlungs- und Identitätsaspekte bezogenes Praxismodell von (Medien-)Kommunikation. Gerade damit aber fußten seine Bestrebungen auf – vor allem in der amerikanischen Medien- und Kommunikationswissenschaft jener Zeit – unüblichen Lösungen für sozial- und kulturwissenschaftliche Grundfragen in der Massenkommunikationsanalyse, mit denen er gegen deren eingespielte Gewißheiten argumentierte. Seine Schüler, darunter Lawrence Grossberg, führten Teile seiner Überlegungen im Schnittpunkt von amerikanischer Kommunikationswissenschaft und Cultural Studies in der Birminghamer Tradition mit einer eigenen Schwerpunktsetzung weiter.12
8 | Vgl. Göttlich, Udo, »James W. Carey«, in: Christina Holtz-Bacha/Arnulf Kutsch (Hg.), Schlüsselwerke für die Kommunikationswissenschaft, Wiesbaden 2002, S. 96-98. 9 | Carey, James W., Communication as Culture. Essays on Media and Society, Boston 1989, hier S. 32. 10 | Ebd. 11 | Von diesem Rezeptionsaspekt her betrachtet, läßt sich der Gedanke vertreten, daß das, was als Media Studies firmiert, erst durch den Einfluß der Cultural Studies begrifflich so aufgefaßt wurde. Und in der Tat gab es in den 1980er Jahren eine intensive Auseinandersetzung in der amerikanischen Kommunikationswissenschaft über eine kulturanalytische Wende. 12 | Grossberg, Lawrence/Wartella, Ellen/Whitney, D. Charles, MediaMaking: Mass Media in a Popular Culture, London/New York 1998.
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In der Ausdifferenzierung der Media Studies handelt es sich bei James Carey somit um eine weitere Perspektive, die zusammen mit anderen Positionen die Ausarbeitung der kulturanalytischen Medienwissenschaft mit angestoßen hat, die sich, wie betont, nicht auf einer einheitlichen Theorielinie bewegen. 13 Versucht man eine solche in dieser breiten Strömung zu identifizieren, so muß man sich dann doch jenen Positionen zuwenden, die eine größere Nähe zu den Cultural Studies aufweisen, bzw. die aus den British Cultural Studies mit hervorgingen, da sie in deren Forschungsprogramm mit angelegt waren. Wie einleitend betont, handelt es sich dabei aber immer nur um einen – wenn auch dominanten – Strang in den Media Studies, dessen Entwicklung nicht zwangsläufig mit der Rezeption und Weiterentwicklung poststrukturalistischer Konzepte parallel geht, was im übrigen auch für die Cultural Studies selber gilt. Deren kulturtheoretische Linie hat sich im letzten Jahrzehnt nicht nur erheblich ausdifferenziert, sondern sie ist im Horizont der Ausbildung immer neuer Studies zusehends auch methodisch sowie kulturtheoretisch heterogener geworden. Bleibt man hingegen beim CCCS (Centre for Contemporary Cultural Studies) als Bezugs- oder Ausgangspunkt, dann erweisen sich die am Kreislaufmodell kultureller (Re-)Produktion ausgerichteten Arbeiten und Positionen weiterhin als zentraler als die im Umfeld der anglo-amerikanischen Studies beobachtbaren poststrukturalistischen Theorien.
M EDIENANALYSE UND C ULTUR AL S TUDIES ALS M EDIA S TUDIES ? Wendet man sich für die Darstellung der Medienanalyse der Cultural Studies14 als erstes der Position John Fiskes zu, die heute sowohl den Cultural Studies als auch den Media Studies zugeschlagen werden kann, dann öffnet sich ein von McLuhan oder Carey grundsätzlich unterscheidbares Theorie- und Methodenuniversum, das zugleich das angesprochene Dilemma der Vielstimmigkeit der Media Studies bei aller kulturanalytischen Gemeinsamkeit nur umso deutlicher macht. Denn bereits begrifflich und methodisch stoßen wir bei Fiske auf einen grundsätzlich anderen Zugang zur Medienkultur bzw. zur Medien(kultur)analyse als in dem an den British Cultural Studies ausgerichteten Feld der Medienanalyse. John Fiske, der mit einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Fernsehen in seinen frühen Arbeiten der 1970er Jahre hervorgetreten ist, erweist sich mit seiner komplexen Theorie der Populärkultur als durchaus eigensinniger Cultural Studies-Vertreter, der gerade dadurch im weiten Feld der Media Studies als eigenständig verortet werden kann. Begründet wurde diese Perspektive, bevor überhaupt Fiskes Eintrag in diesen Kontext erwähnt werden kann, durch die frühen Arbeiten des CCCS, insbesondere jener Projekte, die in Folge von Halls maßgeblichem »Encoding/Decoding«-Konzept verfolgt wurden. 15 13 | Über Carey hinausgehend wurde diese Perspektive von der Medienanthropologie weiterentwickelt. Vgl. u.a. Rothenbuhler, Eric W./Coman, Mihai (eds.), Media Anthropology, London et al. 2005. 14 | Vgl. umfassend Hepp, Cultural Studies und Medienanalyse, a.a.O. 15 | Siehe Hall, Stuart, »Encoding/Decoding«, in: Ders./Dorothy Hobson/Andrew Lowe/ Paul Willis (Hg.), Culture, Media, Language, London 1980, S. 128-138; dt. als Ders., Ko-
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Die Zentralität von Halls Modell besteht im wesentlichen darin, daß es aus der Vermählung strukturalistischer und semiotischer Theoriebestandteile zu einer Kritik der traditionellen Massenkommunikationsmodelle vorgedrungen ist, mit der von Wirkungsfragen auf kulturelle Bedeutungs- und Repräsentationsfragen umgeschaltet wurde. Eine Fernsehsendung, aber auch jede andere populärkulturelle Angebotsform, konnte dadurch als Text in einen Diskursrahmen gestellt und beobachtet werden und damit das Verhältnis der Rezeption zum dominanten Code und seiner Repräsentation befragt werden. Für Hall legt in diesem Prozeß ein Text jedoch noch eine bestimmte hegemoniale Bedeutung nahe, die sich vor allem aus dem Produktionszusammenhang – als einer Seite des Kreislaufprozesses – mit seiner Zielstellung in der Massenkommunikation erklärt. Dennoch eröffnet sich nicht zuletzt durch den polysemen Charakter des Textes ein Interpretations- bzw. Aneignungsspielraum, der verschiedene »Distanzen« im Verhältnis zum dominanten Code auf der Rezipientenseite aufweist. Für die Auslotung dieses Spielraums verfolgten die frühen Arbeiten David Morleys – im Unterschied zu Fiske – eine empirisch nachvollziehbare Anwendung und Überprüfung der drei von Hall formulierten hypothetischen Lesartenmodelle (dominant-hegemonic, negotiated, oppositional)16. Verbindendes Element der genannten Positionen von Hall, Morley und Fiske in ihrer Formierungsphase ist unzweifelhaft die Frage des symbolischen und materiellen Kreislaufprozesses nicht nur der gesellschaftlichen Kommunikation sondern auch der kulturellen und gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse, etwa mit ihrem Niederschlag in der Populären Kultur. Während Morley dabei auf eine soziokulturelle Verortung von Rezeptions- bzw. Aneignungspositionen mit der Nutzung qualitativer ethnographischer Methoden abzielte, weitete Fiske bereits in dieser Zeit seine Perspektive fast ausschließlich auf die Entstehung und Bedeutung subversiver Lesarten aus. Dadurch ging er deutlich über die spezifischen kultur- und rezeptionstheoretischen Wurzeln hinaus, die der Klärung von Fragen der Publikumsaktivität dienten, wobei er zwar wie Morley noch an dem Problem der Polysemie ansetzte, dieses aber unmittelbar mit poststrukturalistischen Überlegungen zur Macht in der Populären Kultur verband. Der Unterschied zwischen Fiske und Morley besteht darin, daß letzterer stärker der Hallschen Überlegung verhaftet blieb, daß »polysemy must not, however, be confused with pluralism«.17 Konkret geht es auch ihm um den gesellschaftlichen bzw. kulturellen Kampf um Bedeutungen, deren Ort die Massenkommunikation bzw. Medien sind, für deren Analyse die Frage nach der Reproduktion der »structure of discourses in dominance«18 aber vorrangig bleibt. Im Unterschied zu dieser Hallschen Position lassen sich damit folgende Aspekte als kennzeichnend für die Fiskesche medien(kultur)wissenschaftliche Position
dieren/Dekodieren, in: Roger Bromley/Udo Göttlich/Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg 1999, S. 92-110. 16 | Ebd., S. 136ff., bzw. dt. S. 106ff. 17 | Hall, Stuart, »Encoding/decoding«, in: Ders. et al. (Hg.): Culture, Media, Language, a.a.O., hier S. 134; vgl. zu Fiske auch den Beitrag von Moebius in diesem Band. 18 | Ebd.
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herausstreichen.19 Fiskes Auffassung zur Publikumsaktivität, die die Vorstellung von »producerly texts« entwickelt, räumt mit der Vorstellung auf, daß die Produktionsseite die alle Deutung und Wahrnehmung determinierende Seite wäre, wodurch zugleich aber auch die wichtige Frage der »structure in dominance« und deren Reproduktionsform in den Hintergrund getreten ist. Für Fiske erweisen sich Texte der populären Kultur sowohl in der Rezeption als auch der Aneignung von Anfang an als durch Rezipienten produzierte Texte. Der polyseme Charakter bzw. die Polysemie unterstützt nicht nur diese Produzierbarkeit, sondern ermöglicht sie geradezu. Fiske betont in der Polysemiefrage im Unterschied zum »active audience approach« damit stärker einen Pluralismus, für dessen Ausprägung er zwar den sozialen Kontext bzw. den Rahmen sozialer Auseinandersetzungen, in den die Rezipienten bzw. das Publikum gestellt sind, als strukturierendes Moment von Textdeutungen betont. Da viele der genutzten Angebote aus dem unterhaltenden Angebotsspektrum der Medien und der populären Musik stammen, aus dem sich die Mediatisierung des Alltags in der Populären Kultur nährt, hält Fiske insbesondere das Vergnügen für die vorrangige Aneignungsform, das selbst wiederum für Fiske als eine mikropolitische Reaktionsform der »people« in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Macht (»power bloc«) steht und die strukturierende Position durch Pluralismus subversiv bricht. Die frühen Fernsehanalysen Fiskes, z.T. noch gemeinsam mit John Hartley verfaßt, 20 zielen bereits auf die Bestimmung jener Momente, in der die Populäre Kultur der Ermächtigung auf der Alltagsebene dient. Allerdings wird diese Perspektive erst in den beiden Publikationen »Understanding Popular Culture«21 sowie »Reading the Popular«22 umfassend ausgearbeitet und dargelegt. Der Schwerpunkt von Fiskes medien- und kommunikationswissenschaftlichen Arbeiten, deren Zentrum wie bei Carey nicht auf der Analyse der Medien als Informationskanälen fußt, liegt damit auf einer Auseinandersetzung mit der populären (Medien-)Kultur. Bei diesem Thema geht es ihm nicht mehr – wie noch in der Massenkulturkritik der soziologischen Klassiker – um die im funktionalistischen Sinne stabilisierenden Faktoren und Aspekte, sondern gerade um die Wandel und Veränderung antreibenden und bedingenden Kräfte, die er in der Fabrikation des Populären in alltäglichen Praktiken ausmacht. Das schlägt sich in der Analyse populärer Texte nieder, die er nicht hinsichtlich ihrer möglichst widerspruchslosen oder kohärenten Bedeutungsstruktur als dominante Strukturen, sondern mit Blick auf ihre Widersprüche, Brüche und Lücken analysiert. Dabei betreibt er eine Analyse, die auf das Zusammenspiel eines jeweiligen Gruppenzusammenhangs im Zusammenspiel mit Texten und spezifischen Zeitumständen fokussiert. Wie in dem Encoding/Decoding-Modell Stuart Halls, das in der Herausarbeitung der drei hypothetischen Lesarten populärer Texte bereits die soziale Zirkulation von Bedeutungen in den Mittelpunkt stellte, verfolgt auch Fiske, allerdings weniger in einer (post-)marxistischen, etwa an Gramsci orientierten Theoriebildung, sondern mit 19 | Vgl. hierzu insb. Mikos, Lothar, »Fernsehen. Populärkultur und aktive Konsumenten«, in: Ders./Rainer Winter (Hg.), Die Fabrikation des Populären. Der John Fiske-Reader, Bielefeld 2001, S. 361-371, hier S. 362. 20 | Fiske, John/Hartley, John, Reading Television, London 1978. 21 | Fiske, John, Understanding Popular Culture, Boston u.a. 1989. 22 | Fiske, John, Reading the Popular, Boston u.a. 1989
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einer poststrukturalistischen Ausrichtung, wie Bedeutungen – auch bezogen auf Klasse, Geschlecht oder Ethnie – zirkulieren. Im Unterschied zur Frage nach der Genese unterschiedlicher Lesarten und ihrer sozialen Verortung tritt für Fiske ein grundsätzlich subversives Moment populärer Praktiken in den Vordergrund. Das Hauptgewicht liegt auf der Frage, inwiefern populäre Texte den »Leser« ermächtigen, wozu Fiske durchaus provokant an das Zusammenspiel dominanter Figuren der Kulturindustrie wie etwa Madonnas und ihrer jugendlichen weiblichen Fans denkt, welche die Protagonisten der Kulturindustrie nicht nur gegen den Strich zu lesen vermögen, sondern sogar für sich und ihre Bedürfnisartikulation entdecken und nach Fiske gerade dadurch die Hegemonie der Kulturindustrie, die in der Position Madonnas im Produktionszusammenhang zum Ausdruck kommt, zu brechen vermögen. Mit dieser Perspektive hat Fiske in Kauf genommen, seine Perspektive einer Kulturindustriekritik in neue, z.T. nicht auflösbare Widersprüche zu treiben, was sowohl seine Kritiker als auch die Rezipienten seiner Schriften mitunter in vergleichbare argumentative Nöte gebracht hat.23 Gerade das aber scheint Fiske nicht als Widerspruch dagegen akzeptiert zu haben, der Kulturindustriekritik einen bis dahin ungesehenen, weil unbequemen Ausweg aus der eigenen Widersprüchlichkeit zu weisen, deren Klippen auch für Fiske nicht immer mühelos zu umschiffen waren. Ganz wesentlich ist dafür auch das utopische Moment einer »semiotic democracy«, auf das Fiske, ganz im Unterschied etwa zu Morley und Hall, in seinen Rezeptions- und Populärkulturanalysen ausgerichtet war. Während Fiske damit – ausgehend von den frühen Fernseh- und Rezeptionsanalysen – zu einer poststrukturalistisch genährten Analyse der Medien-Macht zwischen »people« und »power bloc« vorgestoßen ist, interessierte sich David Morley in Fortsetzung seiner ersten Arbeiten, in denen er der empirischen Anwendung des Encoding/Decoding-Modells folgte,24 vornehmlich für jene Aspekte und Faktoren, die kulturelle Identitäten in der Medienkultur mitbestimmen und ausmachen. Diese Fragen ergaben sich im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Domestizierung der Medien im Kontext von Untersuchungen zur Konstruktion häuslicher Welten durch den Einzug immer neuer technischer Kommunikationsmedien in den Alltag. Die Behandlung dieses Themas hat sich über unterschiedliche Phasen entwickelt, wobei der Ausgangspunkt in den frühen Rezeptionsstudien zu finden ist, die das Wohnzimmer als Hintergrund alltäglicher Bedeutungskonstruktionen im Umgang mit den Medien und den Medienbotschaften in den Mittelpunkt der Analyse gestellt haben.25 Ziel war es, die Aktivitäten des Medienpublikums »in the broader context of studies of consumption as a symbolic as well as a material process« einzuordnen.26
23 | Erinnert sei nur an die Kritik bei Jim McGuigan, Cultural Populism, London 1992. 24 | Brunsdon, Charlotte/Morley, David, Everyday Television: Nationwide, London 1978. Morley, David, Family Television. Culture, Power and Domestic Leisure, London 1986. 25 | Vgl. hierzu auch montage/av, Jg.6, H. 1, 1997 über Cultural Studies und David Morley. 26 | Morley, David, »Towards an ethnography of the television audience«, in: Ders., Television Audiences and Cultural Studies, London/New York 1992, S. 173-197, hier S. 173.
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Auch Morleys spätere, kulturwissenschaftlich weiter ausgreifenden Untersuchungen wie »Spaces of Identity«27 oder »Home Territories« 28 suchen zunächst den alltäglichen Erfahrungsrahmen auf, in dem die Medien bzw. die unterschiedlichen Formen der Massenkommunikation ihre »Wirkung« entfalten und vertiefen dann die materiellen sowie symbolischen Grundfragen im Stil einer Kulturanalyse des Medienalltags mit den Mitteln der ethnographischen Methode. Der Wirkungsbegriff darf in diesem Zusammenhang jedoch keineswegs wörtlich verstanden werden, da der Begriff in seiner traditionellen kommunikationswissenschaftlichen Verwendungsweise einen den Morleyschen Rezeptionsstudien widersprechenden Bedeutungsumfang beinhaltet. Morley interessiert sich vielmehr für die soziale und kulturelle Stellung der Medien- und Kommunikationstechniken bei der Konstruktion und Herstellung von sozialen und kulturellen Identitätsräumen im häuslichen, nationalen, internationalen und globalen Rahmen. Seine Studien befassen sich »with the complex and contradictory nature of contemporary cultural identities, and with the role of communication media in the reconfiguration of those identities«.29 Während er dieser Problemstellung zunächst ausgehend von seinem Rezeptionsansatz in dem gemeinsam mit Kevin Robins verfaßten Buch »Spaces of Identity« entlang der Veränderungen des Mediensystems und der Medientechnik seit den 1980er Jahren nachgeht und dabei bereits der Rolle globaler Medien und Medienindustrien für die Ausbildung kultureller Identitäten und den Veränderungen des (einst) nationalkulturell geprägten europäischen Kommunikationsraums nachgeht, verändert sich die Perspektive in dem Buch »Home Territories« erneut, indem der Fokus wieder stärker auf den Alltag gelegt wird. Nun sind es die durch individuelles Handeln in einer Medienkultur erwachsenden und erstehenden »Home Territories«, denen seine Aufmerksamkeit gilt. »I offer an approach to the analysis of micro structures of the home, the family and the domestic realm which I hope can be effectively integrated with contemporary macro debates about the nation, community and cultural identities.«30 Ein gewichtiger Teil dieses Buches ist der Bestimmung von »Heimat« und Zugehörigkeit in einem mediatisierten Alltag gewidmet und ruht dazu wieder auf seinen Arbeiten, die mit der Methode der »ethnographic audience studies« durchgeführt wurden.31 Das Spektrum der Themen erstreckt sich auf den Zusammenhang von Medien, Mobilität und Zugehörigkeit bzw. Identität, also der durch Medien in der Spätmoderne gestifteten Identitätskerne. Während es bei Fiske die Populärkultur und das Populäre sind, die die zentralen Bestimmungselemente der Medienkultur bilden, bleibt es bei Morley der Dreiklang von Medientechnik, Medienproduktion und Medienaneignung bzw. –rezeption, der seine Analyse der Medienkultur mit ihren spezifischen Ausprägungen durchzieht. Technik wird dabei weder in einem deterministischen noch in einem auf Fragen der Rationalisierung bezogen Sinn verstanden, sondern als kulturelle Form, die selbst wiederum kulturprägend ist, wobei man einschränkend sagen muß, daß mit Technik bei Morley durchweg elektronische Medien gemeint sind. 27 | Morley, David/Robins, Kevin, Spaces of Identity. Global Media, Electronic Landscapes and Cultural Boundaries, London/New York 1995. 28 | Morley, David, Home Territories. Media, Mobility and Identity, London/New York 2000. 29 | Morley/Robins, Spaces of Identity, a.a.O., S. 1. 30 | Morley, Home Territories, a.a.O., S. 4. 31 | Morley, »Towards an ethnography …«, a.a.O.
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Anhand der bislang behandelten Positionen läßt sich für die Entwicklung der Media Studies nachvollziehen, welche Problemstellung die Konzepte teilen und mit Blick auf welche Fragestellungen sie sich voneinander unterscheiden. Der Rückbezug auf die Birminghamer Tradition im Sinne einer Darstellung als eine für die Cultural Studies spezifische Medienanalyse vermag darüber hinaus die Ausdifferenzierung des frühen, maßgeblich von Stuart Hall formulierten kulturanalytischen Programms zu verdeutlichen, dem heute längst die in manchen Darstellungen immer noch unterstellte Einheitlichkeit fehlt.32 Wenn eine solche Einheit für die frühen Jahren ausgemacht werden kann, dann in dem Sinne, daß es sich mit Blick auf die Analyse der Massenkommunikation um begriffliche, theoretische und methodische Bausteine handelt, die bei Fragen zur sozio-kulturellen Kontextualisierung von Text- und Rezeptionsanalysen ansetzen, sich aber bei der Behandlung von macht- und hegemonietheoretischen Problemen voneinander zu unterscheiden beginnen. Die Bewegungsrichtung der Positionen ist dabei eindeutig. Sie führt ausgehend von der für Cultural Studies typisch gehaltenen Frage der Kontextualisierung der Medienrezeption zu einer Analyse medialer Alltagswelten und gabelt sich schließlich in zwei unterschiedliche Stränge: erstens in den an Machtfragen interessierten Strang der Medien- und Populärkulturanalyse und zweitens in den Strang einer »Mediatisierungsanalyse«. Für die Entwicklung der Media Studies im Rahmen der internationalen Medien- und Kommunikationswissenschaft zeichnen sich damit weitere Entwicklungsrichtungen ab, deren Ausdifferenzierung für die Entwicklung der Medienkulturanalyse von Bedeutung sein wird, ohne daß jetzt schon Näheres über den weiteren Einfluß der Cultural Studies auf die zukünftige Gestalt der Media Studies ausgesagt werden kann. Vor diesem Hintergrund stellt es auch keinen Bruch dar, wenn man von den zwei bislang behandelten Vertretern der Media Studies, die aus dem Kontext der British Cultural Studies hervorgegangen sind, auf einen weiteren Media and Cultural Studies-Vertreter eingeht, dessen Ansatz geradezu darin begründet liegt, die Herausforderung der Medienanalyse in deren multiperspektivischen Dimensionen gesehen und konsequent in den Mittelpunkt der Theoriereflexion gestellt zu haben. Dem Werk und den Arbeiten von Douglas Kellner muß damit ebenfalls eine genauso eigenständige Umgangsweise mit der Herausforderung einer kulturwissenschaftlichen Analyse der Medien zugeschrieben werden wie den zuvor behandelten Autoren.33 Gerade die machtbezogenen Probleme einer Medienkulturanalyse sind bei Kellner in ihrer ganzen Breite nachvollziehbar, die er im Unterschied zu Fiskes jedoch nicht nur multiperspektivisch, sondern seiner Perspektive nach auch multidisziplinär bzw. multikulturell zu bearbeiten und zu bewältigen sucht. Für Kellner ist es daher selbstverständlich, »Ideologiekritik und Genrekritik beispielsweise mit semiotischer Analyse zu verknüpfen«, da es ihm diese Verknüpfung erlaubt »zu untersuchen, wie die Genreformen der Medienkultur, oder ihre semiotischen
32 | Eine weitere zentrale, hier nicht behandelte Position ist die von Ien Ang. Vgl. u.a. Dies., Living Room Wars. Rethinking Media Audiences for a Postmodern World, London 1996. 33 | Vgl. u.a. Kellner, Douglas, Media Culture. Cultural Studies, identity and politics between the modern and the postmodern, London/New York 1995. Ders., Media Spectacle, London/New York 2003.
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Kodes, von Ideologie durchdrungen sind«.34 Eingekleidet ist dieses Konzept in eine ideologiekritische Perspektive, die aus der Überwindung von Verkürzungen der Kultur- und Massenkulturkritik der Kritischen Theorie hervorgeht und diese in das Gewand der Cultural Studies-Hegemonietheorie zur Analyse von Herrschaft einzukleiden versucht. Augenfällig wird dieser Verbindungspunkt insbesondere in Kellners Analyse von Medienspektakeln. Als Motiv seiner Analyse von Medienspektakeln geht er im Anschluß an Guy Debords Arbeit zur »Gesellschaft des Spektakels«35 davon aus, »dass mediale Spektakel jene Phänomene der Medienkultur sind, welche die heutigen Basiswerte der Gesellschaft verkörpern, die dazu dienen, Individuen in ihre Lebensweisen einzuführen und die gesellschaftliche Kontroversen, Streitigkeiten, aber auch deren Möglichkeiten der Konfliktlösung zu dramatisieren«.36 Seine Analyse solcher »Spektakel« überbietet sich jedoch mit ihrer redundanten Verwendungsweise des Spektakelbegriffs, indem er diesen unterschiedslos auf McDonald’s, den Super Bowl sowie auf Filme wie »Jurassic Park« bis hin zum Terrorismus von 9/11 anwendet, wodurch der Begriff am Ende kaum mehr Trennscharf sein kann, wenn dadurch einfach jede kulturelle Erscheinung und Entwicklung zum Anhängsel von Spektakeln erklärt wird.37 Das mag für den Autor im Rahmen seines Verfahrens der »diagnostischen Kritik« schlüssig sein, für die Grundlegung einer (medien-) kulturanalytischen Perspektive ergeben sich jedoch weitaus mehr Fragen als Antworten. Und aus Sicht der Cultural Studies klärt Kellner schon gar nicht auf empirischem Wege, wie sich die Rezeption solcher Spektakel auf Seiten des Publikums darstellt. An der in Kellners Werk beobachtbaren Nutzung der Perspektivenpluralität zeigt sich durchaus eine Typik der aktuellen Media Studies, die nicht länger nur für seinen Ansatz zutreffend ist. Die Theoriebildung erfolgt vor dem Hintergrund einer Interpretation und Aneignung unterschiedlicher Theoriebestände, von der aus das Objekt der Analyse und Forschung gebildet wird. Das Analyseobjekt erscheint somit immer schon selbst als multiperspektivisch (auf-)gebrochen. Es entsteht dadurch dann als eine aus unterschiedlichen Perspektiven und Blickwinkeln hervorgehende »Entität«, in der z.B. die »Produkte der Unterhaltung« nicht länger mehr nur als »ideologische Artefakte« gelten. Deren Rolle besteht also nicht mehr in der Unterstützung oder Ausbildung nur einer hegemonialen ideologischen Position.38 Mit Blick auf diese Annahme erklärt es sich, wenn es bei Kellner heißt: »Anstelle eines Instruments von Herrschaft sehe ich also Medienkultur als einen umkämpften Bereich an, der auf kultureller Ebene die grundlegenden Konflikte in 34 | Kellner, Douglas, »Für eine kritische, multikulturelle und multiperspektivische Dimension in den Cultural Studies«, in: Rainer Winter (Hg.), Medien, Kritik und Demokratie. Der Douglas Kellner Reader, Köln 2005, S. 12-58, hier S. 21. 35 | Debord, Guy, Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1978. 36 | Kellner, Douglas, »Der Triumph des Medienspektakels«, in: Winter, Medienkultur, Kritik und Demokratie, a.a.O., S. 187-231, hier S. 189. 37 | Ein Beispiel von vielen soll das verdeutlichen: »Das erschreckende Spektakel im September 2001 offenbarte, dass vertraute Elemente des Alltags, wie z.B. Flugzeuge oder Postsendungen, in Instrumente des spektakulären Terrors verwandelt werden können.« Ebd., S. 203. 38 | Vgl. Kellner, ebd., S. 13.
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der Gesellschaft reproduziert.«39 Während Kellner z.B. aus der Perspektive von »Geschlecht, Rasse und Klasse« 40 die ideologischen Dimensionen und Kämpfe betrachten will, verfolgen die weiterhin an dem Kreislaufmodell der Kultur (circuit of culture) in den Cultural Studies anschließenden Studien noch einen anderen Weg. Dieses Modell zielt auf die durch Medien und Kommunikation gestifteten Artikulationen von Kultur, das heißt es werden die Momente aufgesucht, in denen Zeichen, Texte, Symbole den kulturellen (Re-)Produktionskreislauf durchlaufen und sich an unterschiedlichen Stellen als dominante oder machtvolle Praktiken erweisen bzw. spezifische Identitäten durch symbolische Ordnungen stützen bzw. als kulturelle Repräsentationen erscheinen. Diese im Kontext der Open University entwickelte und verfolgte theoretische Position baut auf der Annahme auf, daß »[…] in order to gain a full understanding of any cultural text or artefact […] it is necessary to analyse the processes of representation, identity, production, consumption and regulation. A cultural artefact 41 […] has an impact upon the regulation of social life through the ways in which it is represented, the identities associated with it, and the articulation of its production and consumption.« 42
Im Unterschied zu dieser späteren Cultural Studies-Position birgt die Kellnersche Perspektive noch vor der Analyse das Problem von der Existenz »einer« Medienkultur auszugehen, auch wenn deren »Erscheinungen« bzw. »Realitäten« multiperspektivisch aufgebrochen sind, während die Cultural Studies mit der Analyse des Artikulationsprozesses beschreiben und erfassen wollen, where the people are. Die Kellnersche Multiperspektivität hat nicht nur Konsequenzen für die weitere Theoriebildung, sondern auch für die Beschreibung des Gegenstandsfeldes. So gesehen nehmen die Media Studies im Sinne von Medienwissenschaft durchaus Anleihen bei den unterschiedlichen Vertretern und Konzepten der Cultural Studies, ohne damit gleich auch immer Media and Cultural Studies in der Herleitung aus dem CCCS zu verfolgen. Vielmehr gibt es vielfältige Suchbewegungen, die kulturelle Rolle der Medien zu analysieren und zu thematisieren. Bei Roger Silverstone findet sich eine eigenständige Suchbewegung und Antwort auf die sowohl von Kellner als auch von Fiske berührten Probleme, die sich im Unterschied zu diesen beiden Autoren jedoch nicht vorrangig mit Machtfragen, sondern mit den Folgen und der Bedeutung der »Mediatisierung« (im Sinne von mediation) auseinandersetzt, und vor diesem Hintergrund die Machtfrage in einem politischen Sinne aufwirft. Mediatisierung stand in den Cultural Studies bislang nicht explizit mit im Blickpunkt von Analysen – auch wenn die Arbeiten Morleys diese Entwicklung bereits mit im Blick hatten, ohne den Begriff dazu schon zu nutzen –, da es vielfach um die Analyse des Zusammenhangs von populärer Kultur, Macht und Identität ging.
39 | Ebd., S. 26, kursiv i.O. 40 | Vgl. Kellner, »Für eine kritische, multikulturelle …«, a.a.O., ebd., S. 20. 41 | »Artefact« kann sowohl einen Text als auch ein technisches Medium meinen. 42 | Thompson, Kenneth, »Introduction« in: Ders. (Hg.), Media and Cultural Regulation, London u.a. 1997, S. 2, kursiv i.O.
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N EUE P ERSPEK TIVEN DER M EDIA S TUDIES : »I NTRODUCING F ISH TO WATER « 43 Roger Silverstone sieht die Aufgabe der Medienwissenschaft darin, aufzuzeigen, was es heißt, daß die Medien »Teil der ›allgemeinen Erfahrungsstruktur‹« sind. 44 »Das unmittelbar Erlebte und das in den Medien dargestellte sind gleichsam Kette und Schuß im Gewebe des Alltags.« 45 Die Perspektive zielt darauf ab, die Individuen, Subjekte oder Menschen im Sinne von »the people« mit ihrer mediatisierten (Um-)Welt vertraut zu machen. Und das schließt die Herausforderung ein, sie überhaupt erst auf die Wahrnehmung dieser Tatsache einzustimmen bzw. sie darauf vorzubereiten, mit welchen Mitteln das überhaupt gelingen kann. Dabei stellt sich jedesmal aber auch die Frage, was die Leute möglicherweise bereits davon wissen, daß sie in einer mediatisierten Welt leben. Mit dieser doppelten Herausforderung ist Silverstones Suche nach der »Anatomie der Massenmedien«, die eine neue Sicht auf die kulturellen Verhältnisse in der Medienkultur verfolgt, indem sie auch alte Metaphern hinter sich zu lassen versucht, nicht mehr allein mit der Darstellung des medialen Vermittlungsprozesses in der Konstruktion der Wirklichkeit zu leisten. Vor diesem Hintergrund reagiert Silverstone in Sorge um die Ausdifferenzierung der Media Studies mit einem Programm, das auf zentrale Fragestellungen und Probleme verweist, die in den meisten Spielarten von Media Studies wohl eher nur marginal verhandelt werden. Insbesondere die Grenzen der bisherigen Media Studies werden mit diesem Programm wieder deutlicher, und diese aufzuzeigen, daran ist Silverstone mit seiner Arbeit vorrangig auch gelegen. Die richtigen Fragen zu stellen heißt nämlich, sich nicht nur der komplexen Vermitteltheit von Kultur, Gesellschaft, Macht und Politik durch Medien bewußt zu werden. Es heißt auch, sich den bislang unbehandelten ethischen und moralischen Fragen zuzuwenden. Mit der (Wieder-)Vorlage gerade solcher Fragen sind wir nach Silverstone nicht nur an den Anfang der Entwicklung von Media Studies verwiesen und haben zu erwägen, warum solche Fragen von den Media Studies bislang vermieden wurden, sondern wir erhalten zugleich auch einen Maßstab, bzw. Silverstone möchte den Studierenden der Medienwissenschaft(en) einen solchen mit an die Hand geben, um die richtigen Fragen zu stellen. Zweifelsohne ist genau dies aber die schwierigste Position. Angesichts der Ausdifferenzierung der Media Studies ist die Entscheidung richtig oder falsch wohl kaum mehr von einer sich als autorisiert fühlenden wissenschaftlichen Position und Perspektive aus zu treffen. Die vorrangigen Probleme sieht Silverstone daher auch auf politischem Gebiet, und das schließt die Beantwortung der unangenehmen Frage ein, »wer oder was wir sind und wie das, was wir sind, die Entstehung und Entwicklung der Medien beeinflusst«. 46 Konkret geht es Silverstone um die Fundierung der Medienwissenschaft als ein politisches Projekt, ohne sich dabei auf medienfundamentalistische Haltun43 | Vgl. o.A., We study media, a.a.O. 44 | Silverstone, Roger, Anatomie der Massenmedien. Ein Manifest, Frankfurt a.M., 2007, S. 11. Zuerst als Ders., Why study the Media?, London u.a. 1999. 45 | Silverstone, Roger, Mediapolis. Die Moral der Massenmedien, Frankfurt a.M. 2008, S. 170. Zuerst als Ders., Media and Morality. On the rise of Mediapolis, Cambridge 2006. 46 | Ebd.
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gen zurückzuziehen. 47 Genauer gesagt besteht das Ziel in der Grundlegung einer neuen, durch wissenschaftliche Einsichten genährten Medienpolitik, die sich der komplexen Beziehungsstruktur von Medien und Kultur nicht nur in diskursiver sondern gerade auch in sozialtheoretischer Hinsicht annähert. Denn auch Politik ist, »ebenso wie die Erfahrung, ohne medialen Rahmen nicht mehr denkbar«. 48 Trotz der politischen Naivität, die Silverstone an dieser Stelle McLuhan mit seinem Schlagwort der Entstehung eines »global village« unterstellt, zeige sich bereits in seinen Arbeiten die für die Media Studies leitend werdende Denkfigur einer »durch die Medien hergestellten kulturellen Umwelt«. Diese »Medienumwelt ist für die Fragen nach den Bedingungen des Menschseins so zentral wie unsere natürlich Umwelt«. 49 Ob die poststrukturalistische Variante einer diskursiven Aufschlüsselung von Subversion dieser Frage entsprechen kann, darüber lohnt es sich zu Recht zu streiten. Die Analyse des Widerstands gegen hegemoniale Diskursformen umgeht nach Silverstone vielfach nicht nur die medientechnische, sondern gerade auch die medienökonomische Dimension der Medien, in deren Folge dann auch die im soziologischen Sinne relevanten Dimensionen der Organisation und der Institution aus der Medienwissenschaft bis hin zu den davon mitberührten medienpolitischen Fragen übersprungen wurden.50 Für Silverstone wird an dieser Stelle die Frage nach der »Fähigkeit von Medieninstitutionen« relevant, »öffentliche Debatten zu ermöglichen«,51 womit sich eine kommunikationstheoretisch fundierte (Re-)Orientierung an dem Öffentlichkeitskonzept in der Medien- und Kommunikationswissenschaft ergibt. Für die anglo-amerikanische Medienwissenschaft und Media Studies stellt das Öffentlichkeitsthema im Unterschied zur deutschsprachigen Medien- und Kommunikationswissenschaft jedoch keine Wiederentdeckung der Kritischen Theorie sondern eine Innovation dar – da die Habermassche Perspektive dort erst seit den 1990er Jahren verbreiteter diskutiert wird –, wobei Silverstone diese Debatte zugleich auch über die bei Habermas vorliegenden Beschränkungen, die er in der Geringschätzung des Populären sieht, hinausführen will.52 Grundsätzlich geht es für Silverstone in den Media Studies darum, einen »Weg zwischen der Scylla des Totalitären und der Charybdis des unbegrenzten Pluralismus zu finden«.53 Und das genau ist eine der Herausforderungen, vor die die Media Studies im internationalen Rahmen gestellt sind.
47 | Silverstone, Anatomie, a.a.O., S. 277. 48 | Silverstone, Anatomie, a.a.O., S. 275. 49 | Silverstone, Mediapolis, a.a.O., S. 254. 50 | An dieser Stelle stimme ich mit Marchart überein, der in seiner Darstellung der Media Studies gerade die Vernachlässigung der institutionellen Seite an Halls Codieren/Dekodieren-Modell kritisiert. Vgl. Marchart, Cultural Studies, a.a.O., S. 160. 51 | Silverstone, Anatomie, a.a.O., S. 283. 52 | Vgl. ebd. 53 | Ebd., S. 286.
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Gender Studies Paula-Irene Villa
Menschen sind entweder Männer oder Frauen. Von Natur aus, lebenslänglich, unveränderlich. Frauen und Männer unterscheiden sich körperlich insofern, als die Geschlechterdifferenz eine biologische Tatsache ist. Das weiß jede und jeder. Man kann vielleicht noch darüber streiten, was diese biologische Tatsache genau bedeutet – sind Männer aggressiver, Frauen mütterlich(er) usw.? Doch grundsätzlich gibt es einen zwar kleinen, aber umso wesentlicheren Unterschied zwischen Frauen und Männern. So ließe sich kurz und bündig die ›Ontologie der Geschlechterdifferenz‹ in der westeuropäischen Moderne formulieren, die alltagsweltlich maßgeblich ist.1 Und so wurde sie auch bis in die jüngste Geschichte hinein wissenschaftlich thematisiert, nämlich als Gegenstand der Natur- bzw. Lebenswissenschaften und Medizin oder allenfalls als statistische Variable in den Sozialwissenschaften. Für die kultur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen ist die Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen jenseits einer statistischen Kennziffer dennoch keine ganz neue2 – doch ist sie eine, die lange Zeit an den Rändern dieser akademischen Disziplinen stattfand und nur langsam, dabei auch je nach disziplinärem Zuschnitt unterschiedlich weit, in den ›mainstream‹ fand. Der Gegenstand ›Geschlecht‹ bzw. ›Gender‹ mußte (und muß vielfach noch) dabei als reflexions- und forschungswürdiges Thema mühsam durchgesetzt werden, zumindest jenseits eines biologisch1 | Gemeint ist der Begriff ›Ontologie‹ hier nicht in einem engen, systematischen Sinne – wie in der Philosophie –, sondern elastisch als Bezeichnung für die Annahme, ›etwas‹ oder ›Dinge‹ seien an-sich Seiend, als solche jenseits menschlicher (Wahrnehmungs-)Praxen und damit durch Praxis nicht veränderlich gegeben. Zur Auseinandersetzung mit der ›Ontologie‹ als Bezugspunkt von Geschlechterforschung vgl. Braidotti, Rosi, Nomadic Subjects. Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory, New York 1994, insbes. S. 173-190; Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, insbes. S. 49-66; Villa, Paula-Irene, »Rohstoffisierung. Zur De-Ontologisierung des Geschlechtskörpers«, in: John, René/Rückert-John, Jana/Esposito, Elena (Hg.), Ontologia. Ontologien der Moderne. Wiesbaden, 2011 (i.E.). 2 | So hat sich beispielweise Georg Simmel als erster Soziologe um die Jahrhundertwende breit und systematisch mit Geschlechterfragen aus kultursoziologischer Perspektive befaßt. Vgl. Simmel, Georg, Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1985.
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reduktionistischen Horizonts. Die Herausforderung der Wissenschaften durch die Gender Studies besteht darin, Geschlecht nicht als Apriori zu behandeln. Allzu kontraintuitiv ist die in den Gender Studies argumentierte Deplausibilisierung der Geschlechterdifferenz als (biologische) Ontologie zugunsten ihrer sozialen Konstruktion, historischen Variabilität sowie kultureller, rechtlicher und medialer Normativität. Hieraus erklärt sich auch die Bezeichnung ›Gender Studies‹, die mit dem deutschsprachigen Begriff ›Geschlechterforschung‹ nicht synonym ist. Das englischsprachige ›Gender‹ steht für ein Verständnis von Geschlechtlichkeit, das sich nicht auf ein – im naiven Sinne – natürliches ›So-Sein‹ reduziert (›sex‹), sondern soziale, kulturelle und andere Aspekte der Konstitution von Geschlecht einbezieht.3 Damit stehen die Gender Studies für (im breitesten Sinne) sozial- und kulturwissenschaftliche Herangehensweisen, die jedoch die Thematisierung von naturwissenschaftlichen Aspekten keineswegs ausschließen. Gerade die Verklammerung von ›Natur‹ und ›Kultur‹ ist nicht nur ein inhaltlicher roter Faden der Gender Studies seit ihrem Entstehen, sondern bildet gegenwärtig auch eine produktive Zusammenführung ansonsten getrennter Paradigma. Deutlich wird dies z.B. an den so genannten ›Technosciences‹ oder den STS (Science and Technology Studies), in denen genderwissenschaftliche Fragen wesentlich sind, 4 aber auch im andauernden Bemühen um die Analyse des »komplexen Wechselspiels« zwischen Naturwissenschaften und Geschlechterfragen.5 Daß die Gender Studies in dreifacher Hinsicht wenig ›diszipliniert‹ waren und dies auch weiterhin in offensiver Weise nicht sind, erschwert ihre akademische Anerkennung: Erstens sind die Gender Studies politischen Konstellationen wie feministischen Bewegungen oder (neuerdings) Gleichstellungspolicies, verbunden. Sie sind dies auf eine überaus vermittelte und komplexe Weise und in je nach Thema, Person und institutionellem Kontext nuancierten Unterschieden sowie mehr oder weniger freiwillig.6 Doch lassen sich die Gender Studies weder herauslösen aus den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Geschlechterfragen, noch läßt sich verstehen, worum es in den Gender Studies geht, wenn man die kritischen Impulse etwa feministischer Artikulationen ignoriert. Denn 3 | Vgl. für eine einführende Übersicht Degele, Nina, Gender/Queer Studies, München 2008, S. 66-69. 4 | Vgl. etwa Fox Keller, Evelyn/Longino, Helen E., Feminism & Science, Oxford, 1996; Klinge, Ineke/Wiesemann, Claudia (Hg.), Sex and Gender in Biomedicine. Theories, Methodologies, Results, Göttingen 2010. 5 | Ebeling, Smilla/Schmitz, Sigrid (Hg.), Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel, Wiesbaden 2006. 6 | In der Bundesrepublik läßt sich im Rahmen wissenschaftspolitischer Exzellenzinitiativen eine interessante Durchmischung von Frauen- und Gleichstellungsförderung mit Gender Studies als wissenschaftlichem Feld beobachten. Das ist nur logisch, wenn man etwa in Rechnung stellt, daß die DFG mit ihren offensiven und nachhaltigen Maßnahmen auch den Punkt »Gender-Aspekte in der Forschung« als Teil ihrer Kriterien für die Begutachtung von Anträgen definiert (vgl. »Instrumentenkasten zu den Forschungsorientierten Gleichstellungsstandards« unter www.instrumentenkasten.dfg.de/; letzter Aufruf 1.2.2011. Vgl. zum Thema allgemein und aus europäischer Perspektive Riegraf, Birgit/Aulenbacher, Brigitte/KirschAuwärter, Edit/Müller, Ursula (Hg.), Gender Change in Academia: Re-Mapping the Fields of Work, Knowledge, and Politics from a Gender Perspective, Wiesbaden 2010.
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entstanden sind die Gender Studies aus den Reflexivierungsimpulsen der Zweiten Frauenbewegung. Diese hat ja überhaupt ›Geschlecht‹ zu einem Politikum breitesten Ausmaßes gemacht.7 Zweitens, und daran anschließend, formulieren vielfache feministische Perspektiven grundsätzliche epistemologische und wissenschaftskritische Argumente, die die ›Normalwissenschaften‹ herausfordern: So z.B. die Unhaltbarkeit starker Objektivitätsansprüche, die ontologische, faktisch aber kontingente Grenzziehung zwischen Natur und Kultur, die Herrschaftsverstrickung von (akademischem) Wissen. 8 Denn erst feministische Analysen haben zunächst gezeigt, wie sehr die Wissenschaften Geschlechterstereotypen nicht nur übernehmen, sondern mit einer zusätzlichen Legitimation versehen perpetuieren. Wissenschaftskritik ist vor diesem Hintergrund eine wichtige Dimension der (feministischen) Gender Studies. Dies erschwert ihre akademische Normalisierung, insbesondere im deutschsprachigen Raum, macht sie aber zu einem hoch innovativen Forschungs- und Reflexionszusammenhang, der systematisch gesellschaftliche Fragen – wie etwa geschlechtliche Ungleichheiten – aufgreift, sich in entsprechende Debatten offensiv einbringt und dabei auch deutlich macht, inwiefern jede Wissenschaft eine normative, womöglich politische Dimension enthält.9 Vor diesem Hintergrund lassen sich die Gender Studies, insbesondere in ihren feministischen Strömungen, am besten als »dissidente Partizipation« 10 an der institutionalisierten Wissenschaft beschreiben. So sind geschlechterwissenschaftliche Fragestellungen inzwischen ein mehr oder weniger normalisierter Teil verschiedener Disziplinen, wobei es sich hier je nach Disziplin ausgesprochen unterschiedlich verhält. Drittens schließlich sind die Gender Studies eine inter-, trans- oder gar postdisziplinäre Konstellation.11 Sie sind im deutschsprachigen Raum keine institutio7 | Und selbstverständlich hat auch die Zweite Frauenbewegung dieses Thema nicht entdeckt, sondern auch die Erste Frauenbewegung um 1900 sowie einzelne Autoren/innen lange zuvor – Olympe de Gouges z.B. im Kontext der Französischen Revolution – haben die gesellschaftspolitische Thematisierung von Geschlecht(erfragen) angestoßen. Im Prinzip begleitet die Geschlechterfrage die europäische Moderne, weil sich Differenz- und Ungleichheitssemantiken in dieser notwendig und nachhaltig umgestellt haben. Allerdings hat erst die Zweite Frauenbewegung die Denaturalisierung von Geschlechterfragen erfolgreich artikuliert. 8 | Feministische Wissenschaftstheorie und -kritik ist ein weites und in sich heterogenes Feld. Für einen Überblick vgl. Singer, Mona, »Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie. Voraussetzungen, Positionen, Perspektiven«, in: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorien, Methoden, Empirie, Wiesbaden 2010, S. 292-301. 9 | Vgl. für eine entsprechende Auseinandersetzung mit der Soziologie überblicksartig Villa, Paula-Irene, »Feministische und Geschlechtertheorien«, in: Schroer, Markus/Kneer, Georg (Hg.), Soziologische Theorien. Ein Handbuch, Wiesbaden 2009, S. 201-217. 10 | Hark, Sabine, Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt a.M. 2005. 11 | Kahlert, Heike/Thiessen, Barbara/Weller, Ines (Hg.), Quer denken – Strukturen verändern, Wiesbaden 2005. Einen guten Überblick über die multidisziplinäre Breite der Gender Studies geben Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorien, Methoden, Empirie, Wiesbaden 2010; Kroll, Renate (Hg.), Gender Stu-
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nalisierte Disziplin, wenngleich sie womöglich auf dem Wege dorthin sind und es an einigen universitären Standorten entsprechende Abschlüsse und Titel gibt. 12 Seit vielen Jahren und zunehmend werden auch Zusatzzertifikate im Bereich der Gender Studies vergeben, die sich an der Vermittlung von ›Kompetenzen‹ im Dienste beruflicher Tätigkeiten orientieren – wobei es auch hier keine einheitliche Entwicklung im deutschsprachigen Raum gibt. Diese Entwicklungen werden im Feld der Gender Studies intensiv diskutiert und uneinheitlich bewertet. Denn das Arbeiten ›zwischen den disziplinären Stühlen‹ hat sich als produktives Potential der Gender Studies erwiesen – in inhaltlicher wie in forschungspolitischer Hinsicht. Und auch die allzu enge Kopplung von akademischer Forschung mit arbeitsmarktbezogenen Kompetenzen löst angesichts der darin eingelassenen Verklammerung von Forschung und Verwertung Kritik aus. In akademischer Hinsicht lösen die Gender Studies aktuelle bildungs- und forschungspolitische Forderungen nach interdisziplinären Innovationen ein, freilich ohne dies strategisch immer zu beabsichtigen: Insofern nämlich im Feld Konsens darüber herrscht, daß die »geschlechtliche Existenzweise«13 sich nicht auf eine Dimension reduzieren läßt, ist Multi- oder Transdisziplinarität geboten. Geschlechtlichkeit ist eine soziale Strukturkategorie, ist aber ebenso subjektiv, intim und identitätsstiftend; Geschlecht ist historisch kontingent und zugleich faktisch konkret; Geschlechteraspekte haben gleichermaßen etwas mit ›Natur‹ wie mit ›Sozialem‹ zu tun, Gender ist materiell-körperlich und zugleich kulturell-zeichenhaft, Geschlechterarrangements oder -identitäten wandeln sich beständig, Geschlechterverhältnisse sind zugleich ausgesprochen beharrlich, Geschlecht ist niemals die alleinige Zugehörigkeits- oder Strukturkategorie, sondern immer verwoben mit weiteren Kategorien usw. Obgleich niemand innerhalb der Gender Studies für sich in Anspruch nehmen kann, die gesamte Komplexität in einzelnen Studien oder Theoriekonzepten einzuholen, so gibt es doch eine starke Orientierung an multiperspektivischer Reflexivität. Dies betrifft zunehmend auch die theoretischen Konzepte, mit denen im Feld gearbeitet wird. Dabei geraten Kernkategorien des Feldes zunehmend in die kritische Analyse. Die sich daraus entwickelnde ›Dezentrierung‹ der Kategorie Geschlecht gehört zu den nachhaltigsten, womöglich paradoxesten Entwicklungen der Gender Studies.
dies. Geschlechterforschung. Metzler Lexikon, Stuttgart/Weimar 2002; Steffen, Therese/ Rosenthal, Caroline/Väth, Anke, Gender Studies: Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik, Würzburg 2004; von Braun, Christina/Stephan, Inge (Hg.), Gender Studies. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2000. 12 | Am stärksten institutionalisiert sind die Gender Studies an der Humboldt Universität Berlin; vgl. www.gender.hu-berlin.de/zentrum/geschichten; letzter Zugriff am 01.02.2011. 13 | Maihofer, Andrea, Geschlecht als Existenzweise, Sulzbach/Ts. 1995.
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1. D EPL AUSIBILISIERUNG UND D E ZENTRIERUNG : Z ENTR ALE THEORIEDEBAT TEN 14 Die Gender Studies bedienen sich einer Fülle an Theorien und Konzepten, die sie kritisch (weiter) entwickeln: So formuliert Hark 15 resümierend und mit der Zuspitzung auf feministische Theorien: »Das feministische Theorieprojekt entfaltete sich […] eher im kritischen Austausch mit anderen Theorien als im radikalen Neuentwurf gegen anderes Wissen.« Feministische Theorien sind Teil der Gender Studies, beide unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihres im weitesten Sinne politischen bzw. normativen Anliegens: Während für feministische Perspektiven »das wissenschaftlich-politische Interesse an der Verfaßtheit von Geschlechterverhältnissen und die Kritik an allen Formen von Macht und Herrschaft, die Frauen diskriminieren oder deklassieren« 16 zentral ist, nehmen viele im vielstimmigen Diskurs der Gender Studies keine explizite normative Haltung ein oder verwahren sich ausdrücklich dagegen. So bezeichnet Hirschauer17 die Geschlechterforschung als »Geschlechterdifferenzierungsforschung«, die sich auf das wissenschaftliche Beobachten sozialer und kultureller Differenzerzeugung konzentrieren solle. Einer solchen Theorie- und Analysewürdigkeit der Geschlechterdifferenz geht jedoch die Einsicht und deren Verwissenschaftlichung voraus, daß die Geschlechterdifferenz – der kleine Unterschied – inklusive ihrer sozialen, politischen, ökonomischen Konsequenzen – große Folgen – ein Politikum sei. Spätestens aus der zweiten Frauenbewegung heraus gerieten die vermeintlich natürliche Geschlechterdifferenz sowie, vor allem, ihre sozialen Folgen in den Blick. Es ging und geht noch, politisch wie theoretisch, um das soziale Gewordensein von Geschlecht (ganz im Sinne des leitmotivischen Mottos von de Beauvoir, »Man wird nicht als Frau geboren, man wird es«18) und um die sozial gewordenen Strukturen systematischer Positionierungen, Diskriminierungen und Exklusionen auf der Basis von Geschlecht. Es geht in den Gender Studies nunmehr und zunehmend hauptsächlich darum, wie die Geschlechterdifferenz selbst konstituiert und konstruiert wird.
Natur/Kultur – Deplausibilisierung einer Differenz Die alltagsweltlich unhinterfragte Unterscheidung zwischen Männern und Frauen als ontologisch gegeben und darin unveränderlich ›natürlich‹ ist seit Jahrzehnten ein Theoretikum geworden. Ob man deren Beobachtung einerseits und Bewertung andererseits vermeintlich sauber voneinander trennt oder als eine komplexe pluri14 | Die nachfolgende Darstellung basiert in Teilen auf Villa, »Feministische und Geschlechtertheorien«, a.a.O. 15 | Hark, Sabine, Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie. Lehrbuch zur Sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung, Bd. 3, Wiesbaden 2007, S. 10. 16 | Becker-Schmidt, Regina/Knapp, Gudrun-Axeli, Feministische Theorien, Hamburg 2000, S. 7. 17 | Hirschauer, Stefan, »Wozu ›Gender Studies‹? Geschlechtsdifferenzierungsforschung zwischen politischem Populismus und naturwissenschaftlicher Konkurrenz«, in: Soziale Welt 54/200, 2003, S. 461-482. 18 | de Beauvoir, Simone, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, München/Zürich 1961, S. 265.
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perspektivische Gemengelage wahrnimmt (und darin als vielen anderen wissenschaftlichen Feldern gleich): Die Deplausibilisierung des Common Sense ist einer der nachhaltigsten Effekte der Gender Studies und auch ihr enormes Irritationspotential. Die Konstruiertheit des Geschlechts, auch dessen Dekonstruktion bestimmt seit mindestens zwei Jahrzehnten das theoretische und empirische Arbeiten in den Gender Studies. Die entsprechenden Debatten erweisen sich, nach wie vor, als »höchst wirksame und weitläufige Theoriebaustelle«.19 Unter dem Oberbegriff der Konstruktion versammelt sich dabei eine Reihe verschiedener theoretischer Zugriffe auf die soziale Wirklichkeit des Geschlechts, die in wiederum unterschiedlicher Weise auf »Spielarten des Konstruktivismus«20 zurückgreifen. Alle Konstruktivismen im Feld der Gender Studies basieren auf der bereits von de Beauvoir formulierten Position, daß Frauen – und Männer – ›geworden‹ sind und bemühen sich darum, »den Sinn der Biologie als Schicksal, Biologie als Zwang zu überwinden«.21 Dies hat im feministischen Theoriekontext seine Wurzeln zum einen in der vor allem in historischen Studien gewonnenen Einsicht, daß soziale Exklusionen von Frauen spätestens seit der Entfaltung der bürgerlichen Moderne mitsamt ihrer Inthronisierung der (Natur-)Wissenschaften als dominante Deutungsinstanz auf der Grundlage naturalisierender Argumentationen erfolgt sind.22 Die ›Natur der Frau‹, ihre Biologie, war nicht nur die wichtigste Legitimation für Ausschlüsse und Abwertungen – etwa im 19. Jahrhundert in Bezug auf Bildung und Erwerbstätigkeit –, sie ist es alltagsweltlich nach wie vor. Zahlreichen Studien zu diesem Zusammenhang, etwa wissenschaftshistorischen, geht es dabei nicht um die Denunziation einzelner Wissenschaftler oder Institutionen, sondern um die Rekonstruktion und Analyse der Tatsache, daß Wissenschaft eine soziale Praxis ist, die nicht jenseits der gesellschaftlichen Normen ihres Umfeldes stattfindet. Es sind komplexe Wechselwirkungen zwischen Kultur, Gesellschaft, Politik und Wissenschaft, die scheinbar ›objektive‹ Aussagen oder Tatsachenbeschreibungen 19 | Pühl, Katharina/Paulitz, Tanja/Marx, Daniela/Helduser, Urte, »under construction? Konstruktivistische Perspektiven in feministischer Theorie und Forschungspraxis – zur Einführung«, in: Dies. (Hg.), under construction? Konstruktivistische Perspektiven in feministischer Theorie und Forschungspraxis, Frankfurt a.M./New York 2004, S. 12. 20 | Knorr-Cetina, Karin, »Spielarten des Konstruktivismus. Einige Notizen und Anmerkungen«, in: Soziale Welt, Heft 1/2, 1989, S. 86-96. 21 | Butler, Judith, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995, S. 10. 22 | Vgl. etwa die wegweisenden Texte aus der Geschichtswissenschaft Bock, Gisela/Duden, Barbara, »Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus«, in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hg.), Frauen und Wissenschaft, Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen 1976, Berlin 1977; Hausen, Karin, »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben«, in: Conze, Werner (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas: Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363-393; Scott, Joan W., »Gender: A Useful Category of Historical Analysis«, in: The American Historical Review, 91/5, 1986, S. 1053-1975. Für einen Überblick über philosophische Positionen der Moderne und ihre Auffassungen von Geschlecht vgl. Doyé, Sabine/Heinz, Marion/Kuster, Friederike (Hg.), Philosophische Geschlechtertheorien, Stuttgart 2002; Nye, Andrea, Feminism and Modern Philosophy. An Introduction, New York/London 2004.
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hervorbringen. Um dies auch methodologisch einzuholen, bedienen sich die Gender Studies vielfach der Arbeiten Michel Foucaults, der bekanntlich die Verschränkungen von Wissen(schaft), Macht und Normativität in den Mittelpunkt gerückt hat.23 Darüber hinaus gibt es eine, wie eingangs erwähnt, konstante Schnittmenge zwischen Gender Studies und Naturwissenschaften. In dieser werden alternative Vorstellungen von ›Natur‹ oder ›Biologie‹ entwickelt, die weniger naiv hinsichtlich ihrer Epistemologie und darin geschlechterkritisch sind. 24
Von der Konstruktion der Geschlechtskörper zur Performativität von Materialität Ausgehend davon, daß sich die Reflexion im Feld der Gender Studies gegen allzu naive ›Biologismen‹ (körperliche Differenz bedingt soziale Prozesse oder individuelle [Un]Fähigkeiten) entwickelt hat, und im Bewußtsein um die komplexe KoKonstitution von Natur und Kultur, rückte recht früh und systematisch die Produktion geschlechtlicher Körper in den Mittelpunkt theoretischer und empirischer Aufmerksamkeit. Zunächst zeigten bereits die frühen ethnomethodologischen Arbeiten von Garfinkel 25 und Kessler/McKenna26 sowie die ›dramaturgische‹ Perspektive von Goffman,27 wie wesentlich die kompetente Darstellung bzw. Inszenierung des Körpers im alltäglichen Handeln ist. Weitaus bedeutender als ein anatomisch, genetisch oder hormonell eindeutiger Frauen- oder Männerkörper ist demnach der sozialen Geschlechternormen entsprechende Einsatz des Körpers in der Praxis, um in der sozialen Praxis als richtiges Geschlecht zu gelten. Viele Studien, insbesondere im Bereich der Geschlechtersoziologie, befassen sich damit, wie genau der praxeologische Einsatz des Körpers in Interaktionen vollzogen wird.28 In diesem Horizont ist Geschlecht nicht mehr eine Eigenschaft von Personen, sondern eine interaktive und institutionell gerahmte Praxis – ein ›doing gender‹. Geschlechtlichkeit ist selber interaktiver Vollzug, d.h. eine »praxeologische« 23 | Vgl. beispielsweise Bublitz, Hannelore/Hanke, Christine/Seier, Andrea (Hg.), Der Gesellschaftskörper. Zur Neuordnung von Kultur und Geschlecht um 1900, Frankfurt a.M./New York 2000; Bührmann, Andrea/Schneider, Werner, Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008, S. 120-135; Diamond, I./Quinby, L., (Hg.), Feminism and Foucault: Reflections on Resistance, Boston 1988. 24 | Vgl. u.a. Blaffer Hrdy, Sarah, The Woman that Never Evolved, Cambridge 1981; Fausto Sterling, Anne, Sexing the body: gender politics and the construction of sexuality, New York 2000; Fox Keller, Evelyn, Reflections on Gender and Science, New Haven 1985; Haraway, Donna (Hg.), Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M./ New York 1995; Harding, Sandra/Uma Narayan (Hg.), Decentering the Center: Philosophy for a Multicultural, Postcolonial, and Feminist World, Bloomington 2000. 25 | Garfinkel, Harold, Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs 1967. 26 | Kessler, Suzanne/McKenna, Wendy, Gender: An Ethnomethodological Approach, New York 1978. 27 | Goffman, Erving, Interaktion und Geschlecht, Frankfurt a.M. 2001. 28 | Für die deutschsprachigen Gender Studies vgl. zu diesem Punkt Hirschauer, Stefan, »Die interaktive Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit«, in: Zeitschrift für Soziologie, 18, 1989, S. 100-118; sowie Lindemann, Gesa, Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl, Frankfurt a.M. 1993.
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Wirklichkeit, den Praxen demnach nicht vorgängig oder äußerlich. 29 Handlungstheoretische Zugänge betonen, daß die »Interaktion einen formenden Prozeß eigener Art darstellt, Zwänge impliziert, in die die Akteure involviert sind und denen sie nicht ausweichen können«.30 Der Körper ist dabei nicht etwa vorgängig gegeben und würde erst im Anschluß korrekt eingesetzt, sondern er ist ebenfalls Effekt von Praxis.31 Damit ist nun nicht gemeint, daß Menschen nach Belieben und rein situativ geschlechtliche Körper ›erschaffen‹, sondern daß in andauernden, institutionell gerahmten, biographisch prägenden Praxen Körper zu geschlechtlichen Körpern werden: Geschlecht wird habitualisiert und prägt eine auch – aber nicht nur – geschlechtlich markierte »Hexis«, die praxeologisch derart naturalisiert wird, daß sie wie eine Naturtatsache erscheint.32 Geschlechtertheoretische Konstruktivismen greifen auf epistemologische Positionen zurück und bringen diese in ein produktives und reflexives Verhältnis zu empirischer Forschung. In diesem Sinne sind sozialkonstruktivistische Positionen ein gutes Beispiel für »theoretische Empirie«.33 Hierbei werden mannigfaltige Werkzeuge aus verschiedenen Disziplinen eingesetzt: Diskursanalyse, qualitative Sozialforschung, Statistik, Medienrezeption, Bildanalyse, Cultural Studies, dekonstruktive Lektüren usw. Die leitende Frage ist dabei im allgemeinen, wie Menschen sich wechselseitig und in zeithistorisch je spezifischen Konstellationen zu Männern und Frauen machen und welche systematischen Folgen auf allen Ebenen dies hat – bzw. gewissermaßen anders herum: welche Ebenen an diesen Konstruktions- und Konstitutionsprozessen beteiligt sind. Die Gleichzeitigkeit von (inter-) subjektiver Konstruktion einerseits und verobjektivierten Ordnungen andererseits ist ein Kerngedanke geschlechtertheoretischer Konstruktivismen. Untereinander unterscheiden sich diese allerdings erheblich hinsichtlich der Modi und der sozialen Orte, durch die und in denen Geschlecht konstruiert wird. (Sozial-)Konstruktivistische Perspektiven wurden in der Zwischenzeit unter der Rezeption post-strukturalistischer und dekonstruktivistischer Argumente gewissermaßen radikalisiert, so daß inzwischen von einem ›Performative Turn‹ gesprochen werden kann.34 ›Performativität‹ impliziert eine radikal anti-ontologische Lesart von Geschlechtlichkeit, indem letztere als diskursiv, medial, sozial und kulturell hervorgebracht und als von Individuen andauernd zu verkörpernd verstanden wird. Geschlechtlichkeit ist demnach ein unaufhörlicher Prozeß der Ver29 | Hirschauer, Stefan, »Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2001/Sonderheft 41, S. 208-235. 30 | Gildemeister, Regine/Wetterer, Angelika (Hg.), Erosion oder Reproduktion geschlechtlicher Differenzierungen? Widersprüchliche Entwicklungen in professionalisierten Berufsfeldern und Organisationen, Münster 2007, S. 173. 31 | Vgl. für eine Übersicht Villa, Paula-Irene, Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper, Wiesbaden 2006. 32 | Bourdieu, Pierre, Die männliche Herrschaft, Frankfurt a.M. 2005. 33 | Kalthoff, Herbert/Hirschauer, Stefan/Lindemann, Gesa, Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a.M. 2008. 34 | Vgl. Krewani, Angela, »Gender Studies und der Performative Turn: Zur Konturierung einer Fragestellung«, in: Hülk, Walburga/Shuhen, Gregor/Schwan, Tanja (Hg.), Post-Gender. Choreographien/Schnitte, Bielefeld 2006, S. 9-14.
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geschlechtlichung, der weder Anfang noch Ende kennt und der das andauernd hervorzubringen versucht, was angeblich ontologisch oder von Natur aus gegeben ist.35 Diskursive Performativität, also die im Diskurs fußende Fähigkeit von Sprache, Dinge zu konstituieren, besteht nach Butler »aus einer Kette von Resignifizierungen […], deren Ursprung und Ende nicht feststehen und nicht feststellbar sind«.36 Wenn Menschen etwa ihr Tun, auch ihr körperliches, an Normen der Männlichkeit bzw. Weiblichkeit ausrichten, so gibt es kein ›Original‹ von Geschlechtlichkeit, das kopiert würde – es gibt vielmehr phantasmagorische Ideale ›richtiger‹ Geschlechtlichkeit, die aber im Sinne einer differánce (Derrida) beständig entgleiten müssen.37 Die zunächst durch lesbische und Women of Color angestoßene Infragestellung der Kategorie ›Frau(en)‹ als empirisch tragfähigen Begriff und als Leitkategorie des Politischen sowie der Wissenschaft bedeutet »[daß] sich die ›Geschlechtsidentität‹ nicht aus den politischen und kulturellen Vernetzungen herauslösen [lässt], in denen sie ständig hervorgebracht und aufrechterhalten wird«.38 Hierauf haben auch ›schwarze und postkoloniale Feministinnen‹ aufmerksam gemacht, die darauf insistierten, daß das vermeintlich universale Subjekt ›Frau‹ eben kein eindeutiges, stabiles Signifikat sei – und ebenso die Kategorien wie etwa ›Frau‹, ›Mann‹, ›Gender‹, ›Heterosexualität‹ »radikal instabil« seien.39 Dekonstruktive Lektüren thematisieren das ›Scheitern‹ einer abschließenden Definition oder Essenz eines Begriffs als ebenso produktiven wie repressiven Modus metaphysischer Denkweisen. Kurzum: Signifikate wie ›Frau‹ oder ›Mann‹ können nicht durch ein Zentrum, eine empirische oder ideelle Präsenz (etwas, das ›da ist‹) zusammengehalten werden. Eine performative und zugleich dekonstruktive Lesart von Geschlecht nimmt also an, daß es keine ontologische Qualität des Geschlechtlichen gibt, sondern nur beständige »Verfehlungen«. 40 Von diesen Überlegungen aus, sowie um die historisch unselige und empirisch überaus problematische A-priori-Unterscheidung zwischen Natur und Kultur zu vermeiden, den körperlichen und leiblichen Aspekten dennoch angemessen Rechnung zu tragen, hat sich der Begriff der Materialität als produktiv erwiesen: Auch geschlechtlich markierte Materialität ist Teil und Effekt der skizzierten andauernden (Re-)Signifizierungs- und Konstruktionsprozesse. Und auch in diesem Zusammenhang spielt die Auseinandersetzung mit den dabei involvierten Medien, Bildern, Semantiken und Zeichen eine prominente Rolle. Das Instrumentarium ist entsprechend breit gefächert.
35 | Vgl. Butler, »Das Unbehagen der Geschlechter«, a.a.O. sowie für eine Diskussion des Performanz-Begriffes aus verschiedenen, kulturwissenschaftlichen Perspektiven Wirth, Uwe (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002. 36 | Butler, Judith, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 27. 37 | Für eine Darstellung dekonstruktiver Lesarten von Geschlecht vgl. Elam, Diane, Feminism and Deconstruction, London/New York 1994; Villa, Paula-Irene, »Dekonstruktion«, in: Behnke, Joachim/Gschwend, Thomas/Schindler, Delia/Schnapp, Kai-Uwe (Hg.), Methoden der Politikwissenschaft, Baden-Baden 2006, S. 93-103; Wartenpfuhl, Birgit, Dekonstruktion von Geschlechterdifferenz. Transversale Differenzen, Opladen 2000. 38 | Butler, »Das Unbehagen der Geschlechter«, a.a.O., S. 18. 39 | Butler, »Das Unbehagen der Geschlechter«, a.a.O., S. 209. 40 | Butler, »Das Unbehagen der Geschlechter«, a.a.O., S. 181.
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2. M ACHT, H ERRSCHAF T, G ESELLSCHAF T Seit jeher spielen Analysen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen eine prominente Rolle in den Gender Studies, und auch dieser Aspekt wird in – theoretisch wie empirisch – vielfältiger Weise angegangen. Am prominentesten ist derzeit die Bezugnahme auf den Foucaultschen Machtbegriff, insbesondere seit der breiten Rezeption sowie kritischen Fortentwicklung post-strukturalistischer Argumente im Feld der Gender Studies. 41 Diese beinhalten wesentlich die Dezentrierung des modernen, bürgerlichen und d.h. vor allem autonomen, mit sich selbst identischen, seinen Konstitutionsbedingungen vorgängigen Subjekts zugunsten eines »postsouveränen« Subjekts.42 Diese neue Subjektfiguration sei, so Butler unter Bezugnahme auf vielfältige sprachtheoretische, psychoanalytische und philosophische Autoren/Autorinnen, wesentlich plausibler, insofern es von der Einsicht getragen ist, daß Subjekte Machteffekte sind und diskursiv hervorgebracht werden. 43 In diesem Zusammenhang spielen all diejenigen Titel bzw. Anreden, durch die wir gesellschaftlich anerkennungswürdig werden, eine zentrale Rolle. Und diese sind wiederum wesentlich geschlechtlich markiert oder gar ›das‹ Geschlecht selbst: Wird jemand als Mann, Lesbe, Professor, Ausländer, Frau, Mutter usw. adressiert – und Menschen werden quasi immer als ein ›So-Jemand‹ adressiert –, so erlangt diese/r Jemand in einer spezifischen Art und Weise soziale Sichtbarkeit. Diese Sichtbarkeit wird, z.B. unter der Chiffre ›Bilderpolitik‹, in den Gender Studies derzeit intensiv diskutiert; dabei spielen medien-, kunst- und kulturwissenschaftliche Perspektiven eine herausragende Rolle. 44 Historisch gewordene Geschlechterverhältnisse – gesellschaftliche Verhältnisse – sind konstitutiv für die vermeintlich natürliche Geschlechterdifferenz, sie strukturieren überhaupt das gesellschaftliche Leben sowie die individuelle Vergesellschaftung von Menschen als Männer und Frauen. 45 Daß ›Gesellschaft und Ge41 | Vgl. Engel, Antke, »Geschlecht und Sexualität. Jenseits von Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität«, in: Moebius, Stephan/Reckwitz, Andreas (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 330-346. 42 | Butler, »Haß spricht«, a.a.O., S. 29, S. 198. 43 | Vgl. Butler, Judith, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001. 44 | Vgl. u.a. Engel, Antke, Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus, Bielefeld 2009; Hentschel, Linda (Hg.), Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin 2008; Maier, Tanja, Gender und Fernsehen. Perspektiven einer kritischen Medienwissenschaft, Bielefeld 2007; McRobbie, Angela, Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes, Wiesbaden 2010; Schade, Sigrid/Wenk, Silke, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011. In diesem Kontext herrscht eine dezidierte Erweiterung der Gender Studies um queere Perspektiven vor. Die Schnittmengen zwischen Gender und Queer Studies sind seit Jahrzehnten groß, bisweilen werden sie auch quasi synonym benannt (vgl. Degele, »Gender/Queer Studies«, a.a.O.). Siehe hierzu Hieber in diesem Band. 45 | Zum Begriff des Geschlechterverhältnisses vgl. Becker-Schmidt, Regina/Knapp, Gudrun-Axeli (Hg.), Das Geschlechterverhältnis als Gegenstand der Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 1995.
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schichte‹ konstitutiv sind für Geschlecht, genauer für die Hervorbringung spezifischer Formen der Geschlechterdifferenz und der geschlechtlichen Existenzweise, auch im individuellen Sinne, muß systematisch berücksichtigen, daß beispielweise Interaktionen eben nicht im luftleeren Raum stattfinden. Neben der andauernden Auseinandersetzung um geschlechtliche Vergesellschaftungsprozesse 46 – die in den Gender Studies aus verschiedenen Gründen kaum mehr unter dem Label ›Sozialisation‹ diskutiert werden – befassen sich die Gender Studies auch mit gesellschaftstheoretischen Konstitutionsbedingungen. Zu diesem gesellschaftlichen Rahmen gibt es wiederum viele analytische und theoretische sowie empirische Werkzeuge. Soziologische Zugänge thematisieren besonders die komplexe Verschränkung und Ko-Konstitution von Geschlechter-, Klassen-, ethnisierter und weiterer auf Differenz basierender Strukturen als »Ungleichheitsverhältnissen«. 47 Aus den Kulturwissenschaften bzw. den Cultural Studies stammen viele Arbeiten, die sich mit der Semantik, Codierung und medialen Vermittlung von Geschlechtlichkeit in spezifischen raumzeitlichen Konstellationen auseinandersetzen. Und die Geschichtswissenschaft zeigt auf, wie wandelbar und wirkmächtig historisch spezifische Auffassungen von Geschlecht sind. 48 Weitere disziplinäre Beiträge zur Reflexion auf die Konstitutionsbedingungen von spezifischen Formen der Geschlechterdifferenz und ihren Effekten ließen sich anführen, etwa – und ganz wesentlich – die Anthropologie bzw. Ethnologie, 49 die Rechtswissenschaft,50 die Literatur- und Kunstwissenschaften und weitere. Daß all diese Perspektiven sich mit Männern und Frauen – sowie zwar noch marginal, aber zunehmend mit inter- und transgeschlechtlichen Personen bzw. Lebensweisen – auseinandersetzen, versteht sich inzwischen von selbst. Auch wenn sich zunächst Frauenforschung und feministische Perspektiven auf Frauen und Weiblichkeiten konzentrierten, so hat sich seit den 1980er Jahren die Einsicht durchgesetzt, daß Gender ein relationaler Begriff ist; und daß selbstverständlich auch Männer und Männlichkeiten ›Gender‹ sind: Männer sind »gemacht«51 und Männlichkeiten gibt es nur im Plural. Auch das Feld der Männlichkeitsforschung in den Gender Studies ist vielfältig, transdisziplinär und es erlebt derzeit – in nicht zufälliger Konvergenz mit gesellschaftlichen Entwicklungen wie der Erosion des (faktisch männlichen) Normalarbeitsmodells (Stichwort ›Prekarisierung‹) oder der Debatte um ›Jungs als Bildungsverlierer‹ – einen regelrechten ›Boom‹. 52 Die Be46 | Vgl. die Debatte um »Geschlecht und Sozialisation«, in: Erwägen, Wissen, Ethik, Heft 1/2000. 47 | Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli/Sauer, Birgit (Hg.), Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, Frankfurt a.M. 2007. 48 | Vgl. Opitz-Belakhal, Claudia, Geschlechtergeschichte, Frankfurt a.M. 2010. 49 | Lewin, Ellen (Hg.), Feminist Anthropology. A Reader, Malden, MA 2006. 50 | Baer, Susanne, »Entwicklung und Stand feministischer Rechtswissenschaft in Deutschland«, in: Rudolf, Beate (Hg.), Geschlecht im Recht. Eine fortbestehende Herausforderung (Querelles Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung Bd. 14), Göttingen 2009, S. 15-36. 51 | Connell, Robert W., Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden 2006. 52 | Vgl. Läubli, Martina/Sahli, Sabrina (Hg.), Männlichkeiten denken. Aktuelle Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Masculinity Studies, Bielefeld 2011; Martschukat, Jürgen/
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rücksichtigung der Dimension ›Sexualität‹ spielt in den Gender Studies seit jeher eine Rolle, wenn auch nicht durchgängig systematisch und hinreichend differenziert. Die Queer Studies, die sich herrschaftskritisch und anti-normalisierend mit Sexualität als normativer, politischer und subjektiver Dimension des Gesellschaftlichen auseinandersetzen,53 sind je nach Autor/in und Fragestellung ein Teil der Gender Studies – oder ihr gebanntes, damit aber konstitutives Außen. Hierüber herrscht im Feld der Gender Studies eine schwelende Kontroverse.
Intersektionale Subjektivierung: Deplausibilisierung von Gender Diese vielen Arbeiten haben nach und nach zu einer ›Krise der Kategorien‹ im Feld der Gender Studies geführt. Dies mündet in zwei derzeit besonders diskutierte DeOntologisierungen: Intersektionalität und Subjektivierung. Mit ›Intersektionalität‹ ist eine Perspektive gemeint, die danach fragt, wie verschiedene Differenz- und Strukturverhältnisse nicht nur neben- oder miteinander wirken, sondern wie sie sich wechselseitig verschränken und ko-konstituieren. Diese Frage und die sich anschließende theoretische wie empirische Auseinandersetzung hat ihren Anfang in den Arbeiten von Crenshaw in den USA,54 ist im europäischen Kontext bereits vielfach aufgegriffen sowie weiterentwickelt worden und hat erst seit wenigen Jahren den deutschsprachigen Raum erfaßt.55 Diese transnationale Rezeptionsgeschichte ist nicht zuletzt deshalb aufschlußreich, weil sie das gesellschaftspolitische Selbstverständnis der deutschsprachigen Gender Studies herausfordert. Trotz kontinuierlicher Artikulationen seitens von ›Migranten/Migrantinnen‹ und trotz nachdrücklicher Kritik an Rassismen innerhalb der Gender Studies, haben sich diese lange der Einsicht verschlossen, daß es vielfache – auch von ethnischer Konstruktion sowie von anderen Dimensionen wie Sexualität systematisch konstituierte – Geschlechtlichkeiten gibt. Intersektionale Perspektiven versuchen, die analytische und empirische Trennung unterschiedlicher Kategorien zu umgehen, um etwas tatsächlich Triviales forschungspragmatisch ernstzunehmen: Gender läßt sich auf keiner Ebene herauslösen aus anderen Kategorien, Zugehörigkeiten, Identitäten usw. Was zunächst evident anmutet, ist insbesondere auf der theoretischen Ebene überaus komplex. Wie nämlich können die Gender Studies zu ›Gender‹ arbeiten, wenn es dieses – als solches, gewissermaßen in Reinform – nicht gibt? Dies ist keineswegs eine ganze neue Frage, doch wird sie derzeit intensiv gestellt. Hierzu liegen verschiedene konzeptuelle Standpunkte vor. So for-
Stieglitz, Olaf, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt a.M. 2008; Meuser, Michael, Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, Wiesbaden 2010. 53 | Vgl. Hieber in diesem Band. 54 | Crenshaw, Kimberlé W., »Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and the Violence against Women of Colour«, in: Stanford Law Review, 6/1991, S. 1241-1299. 55 | Vgl. Davis, Kathy, »Intersectionality in Transatlantic Perspective«, in: Klinger, Cornelia/ Knapp, Gudrun-Axeli (Hg.), ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz, Münster 2008, S. 19-37; sowie Lutz, Helma/Herrera Vivar, Maria Teresa/Supik, Linda (Hg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts, Wiesbaden 2010.
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dert McCall,56 inter- und intrakategoriale Verwendungen von Intersektionalität zu unterscheiden. Auch ist keinesfalls ausgemacht, wie viele Kategorien, und damit welche überhaupt, relevant seien. Diese Fragen werden die Gender Studies nachhaltig beschäftigen. Und sie werfen auch die interessante Frage nach transnationalen Rezeptionen sowie entsprechender Reformulierungen wissenschaftlicher Kategorien auf. Poststrukturalistische feministische Positionen haben, wie bereits angedeutet, den Subjektbegriff reformuliert und ihn – so vor allem Butler – durch den prozessualen Begriff der Subjektivation57 ersetzt. Gegen die »verbreitete Annahme, dass das Subjekt vor dem Gesetz eine ontologische Integrität besitze«,58 setzt Butler die Kritik, daß diese Annahme letztlich eine »zeitgenössische Spur vom ›Naturzustand‹«59 sei, die darauf basiere, den außersozialen Körper als natürliche Basis des Geschlechts zu betrachten. Demgegenüber ist für den von Butler entwickelten Subjektivationsbegriff zentral, daß er deutlich zwischen konkreten Personen einerseits und spezifischen Subjekten andererseits unterscheidet. Ein Subjekt ist »nicht mit dem Individuum gleichzusetzen, sondern vielmehr als sprachliche Kategorie aufzufassen, als Platzhalter, als in Formierung begriffene Struktur«.60 Konkrete Personen »besetzen die Stelle des Subjekts […] und verständlich werden sie nur, soweit sie gleichsam zunächst in der Sprache eingeführt werden«.61 Wenn Subjektvorstellungen (der europäischen Moderne) das Subjekt als den Diskursen, Praxen und Normierungen vorgängiges autonomes, mit sich identisches, rationales Selbst begreifen, so werden sich Personen entlang dieser normativen Maßgaben ›subjektivieren‹. Die »sprachlichen Kategorien«, die uns gesellschaftlich anerkennbar machen – wie Frau, Schwuler, Wissenschaftlerin, Ausländer usw. –, sind als ontologische Identitäten verfaßt. Diese Vorstellung des Subjekts sei aber, so Butler, eine Schimäre und so seien entsprechende Praxen – etwa mimetische Vergesellschaftungspraxen – zum ›Scheitern‹ verurteilt. Subjektivierungspraxen beinhalten zudem eine herrschaftsförmige Dimension, insofern nur spezifische Subjektpositionen in bestimmten Konstellationen als anerkennungswürdig gelten. Es macht einen Unterschied ums Ganze, als ›wer‹ eine Person in eine soziale Konstellation eintritt – bzw. eintreten kann, darf, soll. Die »kleinen Kopftuchmädchen«, die Thilo Sarrazin in der Debatte um ›Integration‹ angesprochen – diskursiv evoziert – hat, lassen erahnen, wie brisant dieser Punkt ist.62 Und wie sehr auch hier multiperspektivische, transdisziplinäre Reflexion erforderlich ist.
56 | McCall, Leslie, »The Complexity of Intersectionality«, in: Signs, 30(3), 2005, S. 1771-1800. 57 | Butler, »Psyche der Macht«, a.a.O., S. 8. 58 | Butler, »Das Unbehagen der Geschlechter«, a.a.O., S. 18. 59 | Ebd. 60 | Butler, »Psyche der Macht«, a.a.O., S. 15. 61 | Ebd. 62 | Sarrazin im Interview: »Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten«, in: Lettre international, LI86, 2009.
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3. A LTE UND N EUE F R AUEN , VIELE THEMEN : A USBLICK Zum Schluß sollen nur stichwortartig diejenigen Felder erwähnt werden, die die Gender Studies, neben den genannten Themen, derzeit prägen und die auch zukünftig intensiv diskutiert werden: Im thematischen Feld der Biopolitik konvergieren zahlreiche Fragen und Traditionen der Gender Studies, die zudem von aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen befördert werden: Die Ausweitung vielfacher präventiver Maßnahmen sowie die damit einhergehenden ethischen Fragen sind – auch – geschlechtlich markiert. So beinhaltet die »Entgrenzung der Medizin«,63 die Phänomene wie Neuro-Enhancement, Doping, genetisches Testen und Screening, Anti-Ageing oder die Plausibilisierung der sogenannten Schönheitschirurgie umfaßt, immer auch einen, und zwar bevorzugten, Zugriff auf weibliche Körper. Die Gender Studies haben gerade erst begonnen, dies zu analysieren. In produktiver Weise irritierend ist dabei, wie die ehemals feministische Rhetorik der Selbstbestimmung sich einfügt in kommerzielle und eben biopolitische Formen post-disziplinärer Gouvernementalität.64 Die entsprechende Herausforderung der sogenannten Lebenswissenschaften durch kritische Geschlechterforschung – und vice versa – steht dabei am Anfang: »Am Ende des 20. Jahrhunderts sieht sich das Unbehagen der Geschlechter (ähnlich wie 100 Jahre zuvor) konfrontiert mit einer neuro(bio)logischen Grundsteinlegung.«65 Eine Schnittmenge mit Fragen der Biopolitik bildet die derzeit diskutierte Frage der ›Verletzbarkeit‹ oder ›Verwundbarkeit‹. Ausgehend von der Anerkennung des menschlichen Lebens als grundsätzlich verletzbar bzw. gefährdet,66 stellt sich aus geschlechterwissenschaftlicher Perspektive die Frage danach, wer von wem wie und in welchem Kontext verletzbar gemacht wird und wie dies geschlechtlich markiert ist. Die Gender Studies haben eine reiche Tradition in der Auseinandersetzung mit (sexualisierter und geschlechtlicher) Gewalt, die sich nun – nach den ›Performative‹ und ›Linguistic‹ Turns, aber auch nach den Erfahrungen mit terroristischer Gewalt und z.T. neuen Formen kriegerischer Auseinandersetzungen – anders orientiert. So untersuchen aktuelle Studien die geschlechtliche Dimension von Kriegsberichterstattung67 oder die Bildpolitik von Krieg, Folter und Gewalt 63 | Viehöver, Willy/Wehling, Peter (Hg.), Entgrenzung der Medizin. Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen?, Bielefeld 2011. 64 | Vgl. am Beispiel der Pränataldiagnostik Duden, Barbara/Samerski, Silja, »Das aufgeschwatzte Risiko – genetische Beratung als Sprach-Ritual«, in: Hauffe, Ulrike/Brähler, Elmar (Hg.), Moderne Schwangerschaften – zwischen Machbarkeitswahn und Auslese, in: Psychosozial, Heft 71, 1998, (www.pudel.uni-bremen.de/pdf/duden_samerski_das_aufge schwatzte.pdf; letzter Zugriff am 11.03.2011). Am Beispiel der ›Schönheitschirurgie‹ Villa, »Rohstoffisierung. Zur De-Ontologisierung des Geschlechtskörpers«, a.a.O. 65 | Angerer, Marie-Luise, »Einführende Überlegungen: Verschiebungen im Denken von Geschlecht, Sexualität und Subjekt«, in: dies./König, Christiane (Hg.), Gender goes Life. Die Lebenswissenschaften als Herausforderung für die Gender Studies, Bielefeld 2008, S. 7. 66 | Butler, Judith, Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt a.M. 2009, S. 11ff. 67 | Thiele, Martina/Thomas, Tanja/Virchow, Fabian (Hg.), Medien – Krieg – Geschlecht. Affirmationen und Irritationen sozialer Ordnung, Wiesbaden 2010.
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als Arena von Geschlechterinszenierungen. 68 Auch andere Phänomene wie die ›Veropferung‹ von Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung von Sexarbeit, 69 die Auseinandersetzung mit Genitalverstümmelungen an Frauen durch Frauen, die sexualisierte und sexistische Gewalt in Kommunikationen wie dem ›trolling‹ und viele mehr machen die intensive Auseinandersetzung mit dem Topos der Verletzbarkeit virulent. Daneben gibt es aus den Sozialwissenschaften wichtige Impulse in diesen Fragen für die Gender Studies – und vice versa –, nämlich in der Auseinandersetzung mit (neuen) Formen der Prekarisierung. Auch diese können und müssen wohl als Produktion von besonders verwundbaren Existenzweisen gelesen werden, die wiederum geschlechtlich markiert sind.70 Neben diesen und weiteren thematischen Fragen liegt die Zukunft der Gender Studies sicherlich und weiterhin in ihren großen Schnittmengen mit anderen Feldern. Neben der wechselseitigen Durchdringung von Gender und Queer Studies, Gender und Postcolonial Studies, Gender und Diaspora Studies usw. werden die Gender Studies auch weiterhin die ›Normalwissenschaften‹ immer wieder herausfordern, über sich nachzudenken und über die Relevanz von Geschlecht in einer außerordentlich komplexen Gegenwart. Eines aber werden die Gender Studies sicher nicht: ›den eigentlichen‹ Geschlechtsunterschied finden. Und so werden die Gender Studies auch in Zukunft das Alltagswissen herausfordern und damit schließlich zur weiteren Modernisierung moderner Gesellschaften beitragen.
68 | Hentschel, »Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror«, a.a.O. 69 | Andrijasevic, Rutvica, »Das zur Schau gestellte Elend. Gender, Migration und Repräsentation in Kampagnen gegen Menschenhandel«, in: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.), Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007, S. 121-140. 70 | Vgl. Manske, Alexandra/Pühl, Katharina (Hg.), Prekarisierung zwischen Anomalie und Normalisierung. Geschlechterwissenschaftliche Bestimmungen, Münster 2010.
Queer Studies Lutz Hieber
Der Begriff queer kommt aus dem Amerikanischen. Er wurde zunächst geprägt, um vom Wort homosexuell abzurücken1 . Denn das sex in der Bezeichnung homosexuell stellt einseitig das Sexuelle in den Vordergrund. Dagegen legen Schwule und Lesben die Betonung stärker in der Selbstbestimmung ihrer Identität auf ihre allgegenwärtige Unterdrückung und ihre selbstbestimmten Gemeinschaften und Kulturen. Sie bevorzugten zunächst die Bezeichnung ›Homophile‹, dann ›Schwule‹ (gay) und ›Lesben‹ (lesbian), bis sich schließlich heute das Wort queer durchgesetzt hat. Damit sollte die Reduktion auf das gesellschaftliche Homosexuellen-Stereotyp vermieden werden, die Stigmatisierung als lediglich sexuelle Wesen. Zugleich fand eine Erweiterung des Begriffs statt. Wesentliche Grundlagen der Queer Studies wurden in den USA entwickelt und nicht etwa in Deutschland. Daß dies so ist, hat Gründe, die zum Teil geschichtlich bedingt sind, zum Teil aber auch eng mit der politischen Kultur der US-amerikanischen Zentren zusammenhängen. Denn die Queer Theory entwickelte sich im Zusammenhang einer lebendigen sozialen Bewegung. Erste Ansätze einer queer movement bildeten sich bereits im Kontext der sexual revolution und der US-amerikanischen Counter Culture in den späten 1960er Jahren heraus. »Die Schwulen waren eher konservativ und hielten sehr an ihrer konventionellen Art fest«, erinnert sich der Manager der Gruppe eines Theatre of Sexual Role Confusion im Rückblick, und betont, daß »die Hippies« progressiver und insofern auch »bereit waren, Schwule zu akzeptieren, von wegen freier Liebe und ihrer ganzen Philosophie«.2 Mit der Stonewall-Rebellion im Sommer 1969 in Manhattan, die auf brutale Übergriffe der Polizei auf Gäste der Schwulenbar Stonewall in der Christopher Street antwortete, war das Selbstbewußtsein der Queer Culture erstarkt. Im Jahr darauf wurde in New York die erste Gay Pride Parade durchgeführt. In der Bundesrepublik wurden im Jahre 1979 die ersten Umzüge nach dem Vorbild der US-amerikanischen Parades, in Erinnerung an das nun als ›Christopher 1 | Vgl. Crimp, Douglas, Melancholia and Moralism, Cambridge (Mass.)/London (GB) 2002, S. 236. 2 | Kelley, Mike et al., »Geheimgeschichten – Interviews mit Mary Woronov, Sebastian, Pamela Des Barres, AA Bronson«, in: Texte zur Kunst, Heft 35, 1999, S. 89-129, hier S. 98.
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Street Day‹ (CSD) bezeichnete Ereignis, in einigen deutschen Großstädten abgehalten. Daß die New Yorker Erfolge auch andernorts gefeiert werden, ist begrüßenswert. Doch damit wurde eine Form übernommen, die jenseits des Atlantiks eine andere Bedeutung hat als bei uns. Denn ihre soziale Grundlage, die durch bürgerrechtliches Engagement errungenen Erfolge, wurden nicht in unsere mitteleuropäische Kultur mittransportiert. »Queer Theory entsteht zunächst in den USA ab Anfang der 1990er Jahre in kritischer Fortführung lesbischer, lesbisch-feministischer und schwuler Forschungen und Theoriebildungen sowie dort im Kontext einer sich angesichts der AidsEpidemie erneut radikalisierenden schwul-lesbischen Bewegung.«3 Politische Bewegung und Theoriebildung gingen Hand in Hand. Bereits seit den späten 1980er Jahren, als sich die Aids-Krise abzuzeichnen begann, traten damit die länderspezifischen Unterschiede zwischen den USA und der Bundesrepublik deutlich zutage. Dabei waren in der durch Erstarken konservativer Strömungen bestimmten Ära, die Ronald Reagan, Helmut Kohl und Margaret Thatcher an die Hebel der Macht brachten, die Weichen jenseits und diesseits des Atlantiks ganz ähnlich gestellt. Gleich zu Beginn der Aids-Krise fiel auf, daß besonders Schwule und die Benutzer intravenöser Drogen von der Krankheit betroffen waren. Deshalb griffen konservative Politiker, Journalisten und Kirchenfunktionäre sofort zu, um das HIVirus für eine Rückwärtsrolle in Sachen sexual revolution zu nutzen. Sie setzten wieder Ehe und Treue auf die Tagesordnung. Schutz vor Infektion sollte durch Bekämpfen von Promiskuität gewährleistet werden. Damit war die politische Attacke auf die in den 1960er Jahren erkämpften Freiräume eröffnet. In New York entstand als Antwort auf die Aids-Krise im Jahre 1986 eine durchsetzungsfähige Bewegung, die sich das Logo ACT UP (AIDS Coalition To Unleash Power) gab. Damit setzte eine breite queer movement ein. Etwas Vergleichbares gab es in Deutschland nicht. Zwar hatten sich nach dem New Yorker Vorbild auch kleinere Ableger von ACT UP gebildet, doch sie brachten es nicht zu nennenswerter politischer Wirksamkeit. In den USA entwickelten sich die Queer Studies auf der Grundlage der politischen Bewegung, sie sind daher an praktisch-politischen Problemstellungen orientiert. Insofern lebt diese Theoriebildung aus der pragmatischen Arbeit an emanzipatorischen Zielen. Dagegen bestehen Ansätze der Queer Studies im deutschen Sprachraum, weil sie keine Basis in der politischen Arena haben, lediglich als theoretischer Diskurs. Damit beide Typen des Diskurses nicht vermischt werden, möchte ich in einem ersten Schritt den politischen Aktivismus in den USA seit den späten 1980er Jahren skizzieren. In einem zweiten Schritt wird es dann um die Queer Studies gehen, die daraus wichtige Impulse erhielten. Daran anschließend wird drittens die historische Untersuchung Michel Foucaults, dem die Queer Studies viel verdanken, zum einen gewürdigt, zum anderen jedoch auch kritisch durchleuchtet. Des weiteren wird viertens die Kritik der traditionellen Linken an den Queer Studies angesprochen. Abschließend möchte ich auf die recht zögerliche Rezeption dieses wissenschaftlichen Feldes im deutschen Sprachraum zu sprechen kommen – und auf Ursachen für seine Vernachlässigung. 3 | Hark, Sabine, »Lesbenforschung und Queer Theorie – Theoretische Konzepte, Entwicklungen und Korrespondenzen«, in: Ruth Becker/Beate Kortendieck (Hg.), Handbuch Frauenund Geschlechterforschung, Wiesbaden 2008, S. 108-115, hier S. 110.
Q UEER S TUDIES
1. Q UEER P OLITICS Seit den Sixties tobt in den USA ein Kulturkampf an vielen Fronten. Sexualpolitisch hatte sich die Counter Culture als vielstimmiger Chor entfaltet. Die Leitmelodien wurden durch die Intention bestimmt, Fremdkontrolle abzubauen und individuelle Freiheiten zu stärken. Die sexuelle Revolution erweiterte nicht nur die Möglichkeiten des Umgangs mit dem eigenen Körper und des Kontakts mit dem anderen Geschlecht. Sie mündete auch in die gay liberation, in den Kampf von Schwulen und Lesben um die Sichtbarkeit ihrer Lebensstile, also gegen Diskriminierung in Beruf und Alltagswelt. Die Stonewall-Rebellion 1969 in Manhattan hatte ein deutliches Zeichen des Aufbruchs gesetzt. Wenige Jahre später gelang dem Feminismus ein Etappensieg, der eine Stärkung der Selbstbestimmungsrechte der Frau brachte. Ein bedeutender Schritt im Kampf für die Selbstbestimmung der Frauen (pro choice) war die Entscheidung des Supreme Court im Verfahren Roe vs. Wade im Januar 1973. Das Gericht legalisierte Abtreibung auf Verlangen innerhalb des ersten Schwangerschaftsdrittels, wobei ausdrücklich festgestellt wurde, daß der Fötus nicht wie geborenes Leben zu behandeln sei. Viele dieser Erfolge waren der konservativen Gegenseite freilich ein Dorn im Auge. Deshalb mobilisierten konservative Politiker und christliche Rechte in mehreren Stoßrichtungen zur Gegenwehr. Sie erhielten Unterstützung aus Journalisten- und Akademikerkreisen. Der wachsende Neokonservatismus formierte sich als »eine lose Koalition diverser Organisationen, die sich konservative Ziele vor allem im kulturellen und Moralbereich setzten«.4 Ab den späten 1970er Jahren setzte eine Serie von Massendemonstrationen gegen Abtreibungsrechte ein. Deren »druckvolle Mobilisierung stärkte« jedoch auch »ungewollt die Pro-Choice-Bewegung. Klinikblockaden der Abtreibungsgegner wurden nahezu regelmäßig mit Gegendemonstrationen und Schutzmaßnahmen für abtreibungswillige Frauen beantwortet«.5 In denselben Jahren stellte sich auch der gay liberation, die offensiv und mit einigem Erfolg die öffentliche Gleichstellung mit der heterosexuellen Mehrheit gefordert hatte, nun eine lautstarke Gegenbewegung in den Weg. Ihre Galionsfigur war die Sängerin Anita Bryant, eine »fanatische Schwulenhasserin«.6 Im Präsidentschaftswahlkampf 1980 hatte Ronald W. Reagan die Notwendigkeit höherer Militärausgaben, geringerer Steuerbelastung und der Hebung der Moral im Land betont. Nach gewonnener Wahl betrieb er eine immense Stärkung des militärischen Potentials gegenüber der – realen oder vermeintlichen – kommunistischen Bedrohung. Die Steuersenkungen führten vor allem zu Einschnitten in die Sozialprogramme. Unter anderem strich die Bundesregierung in Washington 1981 die finanziellen Hilfen, die bis dahin armen Frauen zur Durchführung einer Abtreibung gewährt wurden.7
4 | Sautter, Udo, Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Stuttgart 1986, S. 527. 5 | Rucht, Dieter, Modernisierung und neue soziale Bewegungen, Frankfurt a.M./New York 1994, S. 342. 6 | Wagner, Frank, »Worte werden Bilder«, im Katalog zur Ausstellung »Übers Sofa auf die Straße« der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin 1990, S. 46-51, hier S. 50. 7 | Rucht, Modernisierung und neue soziale Bewegungen, a.a.O., S. 343.
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Als Aids auftrat, eröffnete sich eine neue Front der Auseinandersetzung. Das Krankheitsbild wurde 1981 zum ersten Mal in den USA beschrieben. Zwei Jahre später konnte der für die Immunschwächekrankheit verantwortliche HI-Virus nachgewiesen werden. Risiken der HIV-Infektion bestehen bei Geschlechtsverkehr oder bei Übertragung durch Blut oder Blutprodukte. Unter den Sexualpraktiken ist ungeschützter rezeptiver Analverkehr, unabhängig vom Geschlecht, die wohl gefährlichste Form des Kontakts. Konservative Moralapostel schüren gerne Angst vor Sexualität, indem sie drohende Gefahren an die Wand malen, die mit Geschlechtsverkehr verbunden sein können. Zu diesem Zweck instrumentalisierten sie auch Aids. Für Verfechter puritanischer Wertorientierung gelten, weil ihre Grundhaltung durch Sexualfeindlichkeit geprägt ist, sexuell übertragene Leiden traditionell »als Bestrafung nicht eines Einzelnen, sondern einer ganzen Gruppe (›allgemeine Sittenlosigkeit‹)«.8 Da zunächst Schwule und Benutzer intravenöser Drogen in den Fokus geraten waren, galten sie als Risikogruppen. Dieses Denken führt jedoch zu Stigmatisierung. Tatsächlich ist es unangemessen, weil es von festgefügten Verhaltensmustern ausgeht. »Übertragungswege sollten nicht als ›homosexuell‹ oder ›intravenöser Drogengebrauch‹ klassifiziert werden, sondern als ›rezeptiver analer Verkehr ohne Kondom‹ oder als ›Benutzung einer infizierten intravenösen Nadel‹.«9 Eine Infektion mit dem HI-Virus hängt nicht von sexueller Orientierung oder sonstigen Eigenschaften einer Person ab, sondern vom Umgang mit Körperflüssigkeiten. Als Ronald Reagan schließlich seine erste öffentliche Ansprache zur Aids-Epidemie im Mai 1987 hielt, waren bereits über 20.000 US-Amerikaner an Aids gestorben und mehr als 36.000 als HIV-positiv diagnostiziert. 10 Eine medikamentöse Therapie war nicht in Sicht. Die Epidemie hatte indes, wegen der Untätigkeit der Regierung und des Mangels an medizinischer Versorgung und Therapie, längst die am schwersten betroffenen Gruppen alarmiert. Sie hatten sich allerdings mit einem Wandel auseinanderzusetzen, der sich während der vorangegangenen anderthalb Jahrzehnte, also seit der Stonewall-Rebellion, vollzogen hatte und sich nun als verhängnisvoll herausstellte. Schwulenemanzipation und lesbischer Feminismus hatten zwar zunächst für eine umfassende sexuelle Revolution gekämpft, doch sie waren immer mehr zu Bürgerrechtsbewegungen geworden, denen vor allem die Gleichstellung der marginalisierten Minderheiten am Herzen lag. Die emanzipatorischen Ziele der Counter Culture waren zugunsten eines ethnischen Modells homosexueller Identität aufgegeben worden. Ursprünglich hatte die emanzipatorische Politik darauf abgezielt, »den einzelnen von den Zwängen des sex/gender-Systems zu befreien, das sich gegenseitig ausschließende Rollen von homo/hetero und weiblich/männlich vorgab. Doch Mitte der 8 | Sontag, Susan, Aids und seine Metaphern, München/Wien 1989, S. 58. 9 | Leonard, Zoe, »›Aber im Augenblick, für mein jetziges Leben steht fest, dass Kunst alleine nicht genügt‹ – Ein Interview mit Zoe Leonard von Isabelle Graw«, in: Texte zur Kunst, Heft 4, 1991, S. 45-51, hier S. 48. 10 | Meyer, Richard, »This Is to Enrage You – Gran Fury and the Graphics of AIDS Activism«, in: Nina Felshin (Hg.), But Is it Art? The Spirit of Art as Activism, Seattle 1995, S. 51-83, hier S. 59.
Q UEER S TUDIES siebziger Jahre verlor dieses Befreiungsmodell sowohl für die Schwulen- als auch für die Lesbenbewegung an Bedeutung. Sie bevorzugten zunehmend ein ethnisches Modell, das die Community-Identität und den kulturellen Unterschied hervorhob.« 11
Die ursprünglich breit angelegte Bewegung entwickelte sich auf der einen Seite zu einer männerdominierten Schwulen-Kultur, die vorrangig den Aufbau einer Community anstrebten und auf bürgerrechtlicher Gleichstellung bestanden. Auf der anderen Seite bildete sich eine lesbisch-feministische Kultur heraus, welche die Einzigartigkeit weiblicher Werte betonte und den Auf bau einer Frauenkultur vorantrieb. Sexuell begründete Wanderungsbewegungen in großstädtische Bezirke, die durch eine Mentalität gruppenspezifischer Zusammengehörigkeit geprägt waren, nahmen »in den späten siebziger Jahren ein solches Ausmaß an, daß allmählich Wirkungen in der nordamerikanischen Kommunalpolitik erkennbar wurden. San Francisco ist das bekannteste und eindrucksvollste Beispiel dafür.«12 . Wenn etwa ein Schwuler aus dem ländlichen Colorado nach San Francisco übersiedelte, dann um üblicherweise dort in einer schwulen Nachbarschaft zu leben, in einem schwulen Betrieb zu arbeiten und um dort an einer umfassenden Kultur zu partizipieren, die selbstbewußte Identität, gruppenspezifische Solidarität, eine spezielle Literatur und Presse sowie einen erheblichen Grad an politischem Engagement einschloß. Durch solche Prozesse nahm die »Homosexualität viel von der institutionellen Struktur einer ethnischen Gruppe an«.13 Im Zeichen der Aids-Krise erwies sich jedoch das ethnische Modell als außerordentlich problematisch. Der Rückzug in separierte Kulturen sollte zwar ungestörte Entfaltung ermöglichen. Doch die Minderheiten, die sich in ihre Communities zurückgezogen hatten, waren für die gesellschaftliche Mehrheit nicht sichtbar. Und wer nicht zu sehen war, konnte leicht als verzichtbar gelten. Das HI-Virus hielt ungebremst seine Ernte. Aber die am schwersten Betroffenen gerieten in Aufruhr. Als Antwort auf die Ignoranz des herrschenden konservativen Blocks gegenüber der epidemischen Ausbreitung von Aids bildete sich – zunächst in New York – eine rasch wachsende politische Bewegung. Sie bezeichnete sich als ACT UP. Diese Bewegung warf, pragmatisch an den politischen Erfordernissen ausgerichtet, allen früheren Separatismus über Bord. Denn in der Aids-Krise gewann der Kampf um Sichtbarkeit von Schwulen und Lesben, der untrennbar mit dem Kampf um die Bewältigung der Aids-Krise verflochten war, einen zentralen Stellenwert. In diesem Sinne »ficht ACT UP auch eine Schlacht um Repräsentation«.14 In dieser Bewegung engagierten sich Frauen jedweder Orientierung Seite an Seite mit Männern jedweder Orientierung. Sie setzten sich gegen die konservativen Politiker und Kirchenfunktionäre zur Wehr, die Aids für ihre homophobe Propaganda nutzten, die Abtreibungsrechte verteufelten und überhaupt die Selbstbestimmungsrechte wieder zurückdrehen wollten. 11 | Jagose, Annamarie, Queer Theory, Berlin 2005, S. 79. 12 | Rubin, Gayle S., »Sex denken: Anmerkungen zu einer radikalen Theorie der sexuellen Politik«, in: Andreas Kraß (Hg.), Queer denken, Frankfurt a.M. 2003, S. 31-79, hier S. 51. 13 | Rubin, »Sex denken«, a.a.O., hier S. 50. 14 | Crimp, Melancholia and Moralism, a.a.O., S. 168 (übers. L.H.).
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Ein erstes Scharmützel im Kampf um Sichtbarkeit focht eine kleine Gruppe von sechs schwulen Männern im Herbst des Jahres 1986. Sie entwarfen das Plakat »Silence = Death« (»Schweigen = Tod«) und ließen es auf eigene Kosten drucken.15 Geklebt wurden 2.000 dieser Plakate auf Bretterzäune und Häuserwände in Lower Manhattan, auf denen sonst wild plakatierte Werbung für Musik- und andere Kultur-Aufführungen zu finden war. Üblicherweise lockte die Veranstaltungsreklame mit bunten, figurativen Bildern. Davon stach das Hochglanz-Plakat ab, dessen Design konstruktivistisch anmutete. Auf schwarzem Grund befand sich ein rätselhaftes pinkfarbenes Dreieck über der fett gedruckten Gleichsetzung Silence = Death. Das Dreieck in Pink war »eine ironische Aneignung des rosa Winkels, dem Nazizeichen für die Schwulen, die in den Todeslagern eingekerkert waren«;16 jedoch war auf dem Plakat die Spitze des Dreiecks, anders als beim rosa Winkel der Nazis, nach oben gekehrt. Im Zusammenhang mit der unverblümten Gleichsetzung von Schweigen und Tod wurde es zum Symbol von Empörung. Wer allerdings, neugierig geworden, näher herantrat, las im kleiner Gedruckten die Vorwürfe, die übersetzt lauten: »Warum schweigt Reagan zu Aids? Was geht tatsächlich im Center for Disease Control, der Federal Drug Administration und im Vatikan vor? Schwule und Lesben sind nicht entbehrlich … Benutze deine Macht … Wähle … Boykottiere … Verteidige dich … Wende Wut, Angst und Kummer in Aktivität.«17 Ein paar Monate später erfolgte die Gründung von ACT UP. Die US-amerikanischen sozialen Bewegungen, die Counter Cultures, sind es gewohnt, Ziele pragmatisch anzugehen. Weil damals wie heute alle wissen, daß politische Auseinandersetzungen in den Medien entschieden werden, zielten die Vorgehensweisen von ACT UP stets auf die Eroberung von Medienmacht. Und dafür muß Werbung eingesetzt werden. Zu diesem Zweck statteten die Mitglieder des Silence=Death Project eine Kundgebung im April 1987 mit ihren Plakaten aus. Sie waren nun auf eine Art leichte Schaumstoffpappe kaschiert, damit sie von den Demonstranten in die Kameras gehalten werden konnten. Die auf diese Weise handhabbar gemachten Plakate werden im Englischen als Placard bezeichnet. »Die Fernsehberichterstatter« kehrten nicht nur mit Bildern eines Protestes, sondern mit einer »Grafik von ACT UP in Aktion zurück, mit einer Grafik, die im Laufe der Zeit zunehmend mit ACT UP identifiziert werden sollte«.18 Das »Silence=Death«-Plakat wurde bald zur Ikone, zu einer Art Markenzeichen der Bewegung. Es fand auch bei späteren Demonstrationen Verwendung. Als es im Mai 1991 für eine Aktion nachgedruckt wurde, die in Albany, der Hauptstadt des Staates New York stattfand, hatte es bereits einen so hohen Bekanntheitsgrad, daß auf präzisierende Zeilen am unteren Rand verzichtet werden konnte. Dort ging es um die an das Department of Correctional Services gerichtete Forderung, Gefängnisinsassen mit Aids angemessen medizinisch zu versorgen. Der Pressefotograf Tom McGovern hielt einen Demonstranten mit seinem Placard fest (Abb. 1). Zwei Monate später legte ACT UP am New York State-Bürogebäude in New York City nach, 15 | Hieber, Lutz, »Politisierung der Kunst: Aids-Aktivismus in den USA«, in: Prokla, Heft 109, 27. Jg. 1997, S. 649-680, hier S. 657. 16 | Meyer, »This Is to Enrage You«, a.a.O., S. 60 (übers. L.H.). 17 | Center for Disease Control (CDC) ist die US-amerikanische Gesundheitsbehörde. FDA ist die Behörde, die für die Zulassung von Medikamenten zuständig ist. 18 | Crimp, Douglas/Rolston, Adam, AIDS Demo Graphics, Seattle 1990, S. 31 (übers. L.H.).
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um die Beendigung des Ausschlusses von HIV-positiven Personen aus dem Programm für Familienzusammenführung zu erreichen. Der Erfolg stellte sich innerhalb eines Monats ein.19 Politische Parteien und Wirtschaftsunternehmen können Annoncen schalten oder Plakatkampagnen durchführen. Spitzenfunktionäre, die an den Hebeln der politischen oder ökonomischen Macht sitzen, finden mühelos Zugang zu den Massenmedien. Kritische Gruppen scheinen dagegen im Nachteil zu sein. Das ist allerdings nur solange der Fall, wie sie die Funktionsweise der Medien nicht im Hinblick auf ihre Ziele analysieren. ACT UP hat jedoch genau das getan. Die Bewegung setzte an der Erkenntnis an, daß Massenmedien auf Bilder angewiesen sind, das Fernsehen ebenso wie die Printmedien. Sie gieren nach visuellen Reizen. Der ACT UP-AkAbbildung 1: Tom McGovern: Ein tivismus nutzte diese Sucht für seine Demonstrant in Albany, New York State Zwecke, indem er den Medien profesDepartment of Corrections. Februar 1991. sionell gestaltete Grafiken als Köder anbot. Nahm ein Bildjournalist einen solchen Reiz ins Visier, war die Grafik öffentlichkeitswirksam präsent. Parteien und Unternehmen beauftragen Werbeagenturen, um ihre Ziele zu erreichen. Da ACT UP nicht über entsprechende Mittel verfügte, bildeten sich Künstlerkollektive, um diese Aufgabe wahrzunehmen. Loring McAlpin, Mitglied des Künstlerkollektivs »Gran Fury«, faßte das Ziel von ACT UP in die Worte: »Wir versuchen ebenso hart um Aufmerksamkeit zu kämpfen, wie Coca-Cola um Aufmerksamkeit kämpft.«20 Die Künstlerinnen und Künstler waren dazu in der Lage, weil sich die US-amerikanische Kunstwelt bereits seit den 1930er Jahren die Lehren der historischen Avantgarde, das heißt des Bauhauses und des Dadaismus, angeeignet und die Trennung von ›hoher‹ Kunst und ›niederer‹ Kulturindustrie überwunden hatte.21 Die Placards von ACT UP sind jedoch nicht nur Köder für die Medien, sie erfüllen auch den Zweck, innerhalb einer Nachrichtensendung oder eines Presse-
19 | Anonym ACT UP: An ACT UP Chronology, New York o.J. [1994], S. 6. 20 | Jacobs, Karrie, »Night Discourse«, in: Karrie Jacobs/Steven Heller, Angry Graphics – Protest Posters of the Reagan/Bush Era, Salt Lake City 1992, S. 8-14, hier S. 12 (übers. L.H.). 21 | Hieber, Lutz/Villa, Paula-Irene, Images von Gewicht – Soziale Bewegungen, Queer Theory und Kunst in den USA, Bielefeld 2007, S. 17ff.
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berichts einen verbindlichen Interpretationsansatz anzubieten.22 Berichterstattung beruht auf einer Verbindung von Wort und Bild, das eine liefert den Kontext für das andere. Bilder können, wie allgemein bekannt ist, ihren Ausdruck durch einen mehr oder weniger sachkundigen Wortbeitrag gewinnen, ihre Aussage kann selbstverständlich aber auch durch einen Kommentator verfälscht werden. Deshalb sind die Placards von ACT UP, um der Gefahr einer journalistischen Mißdeutung entgegenzuwirken, allgemein so gestaltet, daß sowohl das Bild wie auch der Text in der Reproduktion des Fernsehschirms oder des Pressefotos lesbar blieben. Die sozialen Unterschiede, die in der Gesellschaft bestehen, bilden sich auch in politischen Bewegungen ab. Wenn jedoch an Protestaktionen alle Interessierten und nicht nur diejenigen teilnehmen sollen, die es sich leisten können, muß die Finanzierung sichergestellt werden. Demonstrationen fanden nicht nur in New York City statt, sondern auch am Sitz der Food and Drug Administration Headquarters in Rockville (Maryland) und am Sitz der National Institutes of Health Headquarters in Bethesda (Maryland), in Washington (D.C.), am Familiensommerwohnsitz von George H. Bush in Kennebunkport (Maine) und an anderen Orten. Es ging also um die Finanzierung der Fahrtkosten. Außerdem war Geld für den Druck der Plakate aufzubringen, Pressemappen mußten professionell hergestellt werden. Damit all das gewährleistet werden konnte, wurde eine Firma gegründet. Sie vertrieb die ACT UP-Produkte. Wie es auch in der Modebranche üblich ist, das Markenzeichen auf Kleidungsstücken zur Schau zu stellen, wurde auch das ACT UP-Logo auf T-Shirts gedruckt und auf Baseballkappen gestickt. Populäre Motive wurden auf Postkarten, Aufklebern, Buttons, Kaffeebechern und selbstverständlich auch auf T-Shirts reproduziert. Und Poster für den privaten Gebrauch wurden hergestellt.
Abbildung 2: Gang: AIDS Crisis 1991. Eines dieser Poster für den Verkauf entwarf das Künstlerkollektiv »Gang« im Frühjahr 1991, während des Ersten Golfkrieges. Es zeigt den damaligen Präsidenten George H. Bush vor Hintergrund in ›Marlboro‹-Rot (Abb. 2). Der aus der Vorschrift 22 | Hieber, Lutz, »Visueller Protest«, in: Eckhard Hammel (Hg.), Synthetische Welten, Essen 1996, S. 63-85, hier S. 70ff.
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für Zigaretten-Werbung übernommene Zusatz lautet übersetzt: »Warnung: Während Bush Milliarden ausgibt, um Cowboy zu spielen, haben 37 Millionen Amerikaner keine Gesundheitsversicherung. Alle acht Minuten stirbt ein Amerikaner an Aids.« Das kleinformatige Plakat von 34 x 52 cm eignete sich hervorragend als Wandschmuck. In der Ausgabe 1/1991 des ACT UP Reports wurde es für zwölf Dollar angeboten. Die Künstlerkollektive nutzten gerne die Codes der visuellen Verführung der Werbung, um Aufmerksamkeit zu fesseln und auf die Aids-Krise zu lenken.23 Ihre Mitglieder waren meist junge Leute. Durch ihr Studium waren sie vertraut mit Arbeiten von Hans Haacke, Barbara Kruger und Jenny Holzer, also jenen Künstlerinnen und Künstlern, die ihrerseits die Strategien des Postmodernismus vorangetrieben hatten. Die Jüngeren taten nun einen entscheidenden Schritt, sie führten die aktuelle »Diskussion um Appropriation, Originalität usw., die in der Kunstwelt der späten 70er und frühen 80er Jahre stattfand, in einen Gebrauchszusammenhang über«.24 Das emanzipatorische Spektrum der queer movement spiegelte sich in einer bunten Vielfalt an Aktivitäten. So gründete sich beispielsweise 1990 auf einem ACT UP-Treffen die Gruppierung Queer Nation, die wiederum Dyke Action Machine! (DAM) hervorbrachte, eine kleine Gruppe, die sich den Strategien der werbewirksamen Repräsentation von Lesben widmete. 25 Einzelne Personen engagierten sich oft in unterschiedlichen Gruppierungen. Exemplarisch möchte ich Joy Episalla und Zoe Leonard anführen. Joy Episalla arbeitete im ACT UP-Zusammenhang in der Affinitätsgruppe der »Marys«, für die Sichtbarkeit von Lesben engagierte sie sich im Künstlerkollektiv »fierce pussy«, und sie schuf parallel dazu selbstverständlich auch Werke für ihre Galerieausstellungen.26 Zoe Leonard, die sich zum ersten Mal 1992 an der Großausstellung documenta in Kassel beteiligte, war Mitglied der Künstlerkollektive »Gang« und »fierce pussy«, und sie war Mitautorin des Buches Women, AIDS, and Activism.27 Die Bewegung ACT UP und ihr Umfeld waren erfolgreich. Zum zehnten Jahrestag ihrer Gründung veröffentlichte POZ magazine eine rund hundert Punkte
23 | Vgl. Hieber, Lutz, »Appropriation und politischer Aktivismus in den USA«, in: Jörn Lamla/Sighard Neckel (Hg.), Politisierter Konsum – konsumierte Politik, Wiesbaden 2006, S. 207-232. 24 | Crimp, Douglas, »Kunst, die kämpft – Douglas Crimp im Interview mit Simon Watney«, in: Katalog zur Ausstellung »Gegendarstellung« des Hamburger Kunstvereins 15.05.21.06.1992, S. 32-35, hier S. 34. 25 | Vgl. Moyer, Carrie, »Street Appeal: Dyke Action Machine! und der Look der Gay Liberation in den neunziger Jahren«, in: Lutz Hieber/Stephan Moebius (Hg.), Avantgarden und Politik – Künstlerischer Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne, Bielefeld 2009, S. 203-214. 26 | Vgl. Episalla, Joy, »›Crossing Over‹ – ACT UP/fierce pussy, Kunst und politisches Engagement«, in: Lutz Hieber/Stephan Moebius (Hg.), Avantgarden und Politik – Künstlerischer Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne, Bielefeld 2009, S. 185-201. 27 | Leonard, Zoe, »Zoe Leonard im Gespräch mit Ana Blume«, in: Katalog zur Ausstellung »Zoe Leonard«, 23.07.-14.09.1997, Wien 1997.Vgl. The ACT UP/NY Women and AIDS Book Group, Women, AIDS, and Activism, Boston 1990.
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umfassende Auflistung der Erfolgsschritte.28 Zu den Errungenschaften zählen: Aids hat vor allem aufgrund forschungspolitischer Anstrengungen in den USA den Schrecken einer tödlich endenden Krankheit weitgehend verloren und erscheint heute – so kann man wohl sagen – nur noch wie eine chronische Krankheit. Außerdem schob, wie gesagt, die Bewegung die queer movement an. Und darüber hinaus wurde der Konservatismus am Zurückdrehen von Errungenschaften der sexuellen Revolution der 1960er Jahre gehindert.
2. Q UEER S TUDIES In den USA kommt der wesentliche Impuls der Queer Studies aus dem politischen Aktivismus. Früher hatten sich »die schwulen und die lesbischen Bewegungen veranlaßt gesehen, sich einerseits auf einen essentialistischen Separatismus zu verlegen und andererseits auf die liberaldemokratische Politik der Rechte von Minderheiten. Die Aids-Krise konfrontierte uns mit den Konsequenzen sowohl unseres Separatismus wie auch unseres Liberalismus. Und in dieser neuen politischen Situation wurde das Wort queer kultiviert, um neue politische Identitäten zu benennen.« 29 Der Begriff queer ist mit einer Befreiung aus den Klauen eines vereinfachenden Essentialismus und mit einer grundlegenden Neudefinition des Politischen beschäftigt. Vorbereitet wurde diese theoretische Umorientierung in den USA durch die sex wars, die ›Sex-Kriege‹. »Die feministischen ›Sex-Kriege‹ wurden zwischen zwei Lagern ausgefochten, die sich grob bestimmen lassen: den ›radikalen‹ Feministinnen, die die deutlich sichtbare sexuelle Repräsentation von Frauen auszurotten versuchten, und den ›pro-Sex‹ Feministinnen, die zwar nicht uneingeschränkt jede Art der Pornografie verherrlichen, aber explizites sexuelles Material vor staatlicher Zensur schützen wollten.«30 Die ›radikalen‹ Feministinnen brachten sexuelle Praktiken oder erotische Lüste mit sexuellen Identitäten in Verbindung. Ihr Denkmuster war essentialistisch, ging von Eigenschaften aus, die durch das Geschlecht von Personen gegeben sind. So wurde etwa eine Frau, die sadomasochistische Praktiken auslebte, als Feministin fragwürdig. Denn mit dem ›weiblichen Wesen‹ schien ein Habitus festgelegt, der dies ausschloß. Ebenso wurde über die feministisch ›richtige‹ Haltung in Themenbereichen wie Pornographie, Sexualerziehung oder sexuelle Penetration gestritten.31 Auf der Gegenseite standen die ›pro-Sex‹ Feministinnen. Sie erkannten, daß »die progressive politische Analyse der Sexualität unterentwickelt« ist und »vieles von dem, was aufgrund der feministischen Bewegung« beigesteuert wurde, »lediglich zu einer Mystifizierung beigetragen« hat.32 In diesem Sinne klärt 28 | Vgl. Loving, Jesse Heiwa, »All in Good Time – Ten Years of ACT UP Actions and Reactions«, in: POZ, March issue, 1997, S. 50f. 29 | Crimp, Melancholia and Moralism, a.a.O., S. 189 (übers. L.H.). 30 | Pendleton, Eva, »Domesticating Partnerships«, in: Dangerous Bedfellows (Ephen Glenn Colter/Wayne Hoffman/Eva Pendleton/Alison Redick/David Serlin) (Hg.), Policing Public Sex:, Boston 1996, S. 373-393, hier S. 373. 31 | Hieber/Villa, Images von Gewicht, a.a.O., S. 173. 32 | Rubin, »Sex denken«, a.a.O., hier S. 32.
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Pat Califia über die Unzulässigkeit auf, sadomasochistische und andere Praktiken unter Lesben als nicht-feministisch zu zensieren.33 Die Anthropologin Rubin behandelt – in ihrem Text aus dem Jahre 1984 – die Tatsache, daß medizinische, psychiatrische, psychologische, feministische, religiöse oder sozialistische Systeme sexueller Beurteilung die Grenzen zwischen den idealen und den verwerflichen Formen der Sexualität zu begründen versuchen. Sie zeigt, daß die fortlaufenden Auseinandersetzungen über sexuelle Verhaltensweisen viel mit den religiösen Konflikten früherer Jahrhunderte gemeinsam haben. »In die Gesetzgebung zur Sexualität ist die religiöse Auffassung eingegangen, daß ketzerischer Sex als besonders abscheuliche Sünde die schärfsten Strafen verdient.«34 Sexualität ist in Machtsysteme integriert, die manche Individuen und Aktivitäten ermutigen und belohnen, während sie andere durch psychohygienische Ideologien unterdrücken oder sogar strafrechtlich verfolgen. Daher ist ihre Schlußfolgerung, daß Sexualität als eine politische Kategorie aufzufassen ist. Während ein Großteil der feministischen Analyse der 1980er Jahre, auf die Rubins Argumente abzielen, Sexualität als Derivat von Geschlecht behandelt, plädiert sie dafür, eine eigenständige Theorie und Politik der Sexualität zu entwickeln. Sie plädiert dafür, »Geschlecht und Sexualität analytisch zu trennen«; insofern würdigt sie die Tatsache, »daß Lesben sich mit Schwulen, Sadomasochisten, Transvestiten und Prostituierten viele soziologische Merkmale teilen« und in durchaus vergleichbare soziale Diskriminierungszusammenhänge eingebunden sind.35 Insofern macht der Begriff queer »eine Gemeinschaft möglich, die alle nicht der Norm entsprechenden Sexualitäten umfaßt«, allerdings sind aufgrund seiner Unabgeschlossenheit keine Allianzen vorgegeben.36 Gleichwohl binden ihn die Umstände seines Entstehens an eine anti-homophobe Politik. Die wichtigsten theoretischen Impulse hat die Queer Theory aus dem Poststrukturalismus und auch aus dem Postmodernismus erhalten. Die gedanklichen Lockerungen aus den Jahren der sex wars hatten dafür eine tragfähige Grundlage geschaffen. Sexualität konnte nun als eine eigenständige Dimension sozialer und politischer Wirklichkeit gefaßt werden, als eine Dimension, die nicht ableitbar ist aus Analysen des Geschlechts, der Klassenlage, der ethnischen Zugehörigkeit oder anderen Kategorien. Sexualität als Dimension der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu begreifen, wurde zum konstitutiven Bestandteil queerer Theorie. Sie konnte ausgezeichnet an die herrschaftskritische Politisierung der Sexualität durch Foucault37 anschließen, die sexualpolitische Kategorien als Effekt von Macht und Herrschaft analysiert. Zugleich konnte sie an postmodernistische Praktiken des Dekonstruierens modernistischer Universalitätsbehauptungen anknüpfen, die nachwiesen, daß die vermeintlich universelle Gültigkeit von Aussagen einer Verleugnung von Gender und Sexualität geschuldet ist.38
33 | Vgl. Califia, Pat, Sapphisitrie – Das Buch der lesbischen Sexualität, Berlin 1981. 34 | Rubin, »Sex denken«, a.a.O., hier S. 38. 35 | Rubin, »Sex denken«, a.a.O., hier S. 75. 36 | Jagose, Queer Theory, a.a.O., S. 144. 37 | Vgl. Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen – Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983. 38 | Crimp, Melancholia and Moralism, a.a.O., S. 163.
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Queer Theory steht für eine kritische Analyse der Regulierung von Sexualität und insofern immer auch für Widerstand gegen die Regimes der Normalität. An den US-amerikanischen Universitäten, wo ›Lesbian and Gay Studies‹ eingerichtet wurden, machte sich ein Unbehagen über das Fach breit, das gleich allen anderen Fächern nach allgemeiner Anerkennung und Spezialisierung strebte. Deshalb etablierte sich eine Stoßrichtung, die sich anschickte, »die Theorie queer zu machen, um nicht nur zu einer Theorie für die Queers zu gelangen. Für Theoretiker wie für Aktivisten bekommt ›queer‹ eine kritische Stoßrichtung, weil es sich eher gegen das Normale als gegen das Heterosexuelle definiert, wobei das Normale den normalen akademischen Betrieb einschließt […] Außerdem besteht im Begriff ›queer‹ eine Möglichkeit, die vorgegebenen Gender-Trennungen zu überwinden.«39 Die Diktatur der heterosexuellen Norm ist in allen Institutionen, juristischen Regulierungen und kulturellen Traditionen gegenwärtig. Queeres Denken, das die vermeintliche ›Naturgegebenheit‹ der Heteronormativität40 entlarvt, zielt auf das Außerkraftsetzen dieser Allgegenwärtigkeit, auf das Überwinden der bestehenden hierarchischen Wertordnungen. Rubin skizziert wesentliche Stufen der Hierarchie, gemäß der sexuelle Akte in modernen westlichen Gesellschaften beurteilt werden: »Verheiratete Heterosexuelle, die sich fortpflanzen, stehen ganz allein an der Spitze der sexuellen Pyramide.« Dann folgt »einsamer Sex«, er »hängt zweideutig in der Luft. Das machtvolle Stigma, mit dem das 19. Jahrhundert die Selbstbefriedigung belegt hat, existiert in weniger einflußreicher, modifizierter Form fort; so etwa in der Vorstellung, daß Onanie einen minderwertigen Ersatz für Partnererfahrungen darstellt.« Darunter befindet sich das weite Feld des Queeren. »Während sich stabile Langzeitbeziehungen unter Lesben und Schwulen auf der Grenze des Akzeptablen befinden, halten sich Clublesben und promiskuitive Schwule nur so eben über den Gruppierungen am unteren Ende der Pyramide. Zu den am meisten verachteten sexuellen Kasten gehören unter anderem Transsexuelle, Transvestiten, Fetischisten, Sadomasochisten, Sexarbeiter wie Prostituierte und Pornodarsteller. Den niedrigsten Rang besetzen diejenigen, deren erotische Vorlieben Generationengrenzen überschreiten.«41 Diese Aufzählung ist allerdings nicht erschöpfend. Zusätzlich zu den erwähnten Gruppierungen der unteren Regionen ist beispielsweise auch der Exhibitionismus42 zu erwähnen. Paragraphen des Sexualstrafrechts bilden die materielle Basis für Repressionen gegenüber unterschiedlichen Ausprägungen des sexuellen Ketzertums.
39 | Warner, Michael, »Introduction«, in: Ders. (Hg.), Fear of a Queer Planet, Minneapolis (Minn.) 2004, S. vii-xxxi, hier S. xxvi (übers. L.H.). 40 | Unter »Heteronormativität« können »Institutionen, Strukturen des Verstehens und praktische Orientierungen« verstanden werden, »die Heterosexualität nicht nur als kohärent – d.h. eine Sexualität bildend –, sondern auch als privilegiert erscheinen lassen«. Barlant, Lauren/Warner, Michael, »Sex in der Öffentlichkeit«, in: Matthias Haase/Marc Siegel/ Michaela Wünsch (Hg.), Outside – Die Politik Queerer Räume, Berlin 2005, S. 77-103, hier S. 78. 41 | Rubin, »Sex denken«, a.a.O., hier S. 39. 42 | Vgl. Wohler, Ulrike, Weiblicher Exhibitionismus – Das postmoderne Frauenbild in Kunst und Alltagskultur, Bielefeld 2009, S. 67ff.
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Queer Studies sind politisch motiviert. Sie kämpfen gegen alle Formen der Diskriminierung und der Repression. Ihr emanzipatorischer Impetus strebt die Aufhebung aller Hierarchiebildungen in der bestehenden Wertordnung des Sexes an und damit die gesellschaftliche Anerkennung einer sexuellen Vielfalt. Diese Anerkennung soll neben lesbischer und schwuler Sexualität auch Bisexualität, Transsexualität, Sadomasochismus und weitere Formen des Sexuellen und der Lüste umfassen. In diesem Zusammenhang stehen selbstverständlich, um einige Aspekte zu nennen, auch »die Denaturalisierung normativer Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, die Entkoppelung der Kategorien des Geschlechts und der Sexualität, die Destabilisierung des Binarismus von Hetero- und Homosexualität« auf der Tagesordnung.43 Queer Theory durchleuchtet die vielfältigen Diskriminierungsweisen, die durch heteronormative Prinzipien der Sexualmoral fundiert sind. Zu den Untersuchungsfeldern zählt, daß und inwiefern den dominanten Gruppierungen Tugendhaftigkeit zugeschrieben wird, den Unterprivilegierten dagegen Lasterhaftigkeit; oder daß bestimmte Berufsgruppen wie Lehrer besonders genau in Bezug auf sexuelles Fehlverhalten beobachtet werden; oder daß ausländerrechtliche Regelungen im Falle der Familienzusammenführung ausschließlich auf heterosexuell organisierte Familien ausgerichtet sind. Allgemein steht die Tatsache, daß eheliche Heterosexualiät in allen Lebensbereichen kulturell, sozial und juristisch eindeutig privilegiert ist, auf dem Prüfstand. Darüber hinaus werden Kategorien der Identität, wie beispielsweise Heterosexualität bzw. Homosexualität, dekonstruiert. So weist Judith Butler darauf hin, daß jeder Versuch einer klaren Abgrenzung von Heterosexualität und Homosexualität zum Scheitern verurteilt ist. Denn »in heterosexuellen Beziehungen finden sich ebenso durchaus homosexuelle psychische Strukturen wie umgekehrt in schwulen und lesbischen Beziehungen psychische Strukturen der Heterosexualität«. 44 Außerdem merkt sie an, daß die Heterosexualität normative Positionen anbietet, »die man an sich unmöglich verkörpern kann. Und dieses beständige Verfehlen, sich ganz und ohne Inkohärenz mit diesen Positionen zu identifizieren, entlarvt die Heterosexualität selbst nicht nur als Zwangsgesetz, sondern auch als unvermeidliche Komödie.« 45 Jede sexualpolitische Kategorie und die darauf begründete Identität beruht, so zeigt sich, auf Nachahmung eines normativen Ideals. Da indes niemand eine Norm in Reinform verkörpern kann, ist Identität immer ein Konstrukt. In diesem Konstrukt sind Verfehlungen angelegt, da es sich um eine Imitation ohne Original handelt. »Die Tatsache, daß Heterosexualität immer dabei ist, sich selbst zu erklären, ist ein Indiz dafür, daß sie ständig gefährdet ist, das heißt, daß sie um die Möglichkeit des eigenen Kollapses ›weiß‹: daher ihr Wiederholungszwang, der zugleich ein Verwerfen dessen ist, was ihre Kohärenz bedroht. Daß sie dieses Risiko niemals beseitigen kann, bezeugt ihre tiefgreifende Abhängigkeit von der Homosexualität.«46 43 | Kraß, Andreas, »Queer Studies – eine Einführung«, in: Ders. (Hg.), Queer Denken – Queer Studies, Frankfurt a.M. 2003, S. 7-28, hier S. 18. 44 | Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, S. 180. 45 | Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, a.a.O., S. 181. 46 | Butler, Judith, »Imitation und die Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität«, in: Andreas Kraß (Hg.), Queer Denken – Queer Studies, Frankfurt a.M. 2003, S. 144-168, hier S. 158.
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Um sich der ›Norm‹ gemäß zu verhalten, ist ständiger Aufwand des Disziplinierens erforderlich: Ein Hetero-Mann beispielsweise bewegt sich beim Gehen gerade, er verdrängt auch in Krisensituationen eine aufsteigende Emotionalität etc. Für das poststrukturalistische Denken sind Herrschaft, Wissen und Disziplinierung ein innig verzahntes Geflecht. Normgerechtes Verhalten ist immer auch Effekt und Modus von Herrschaft. »Das Normale ist ein Produkt der Macht«, 47 und dagegen richtet sich die Dekonstruktion universell gültiger Ideale, wie sie vom Modernismus behauptet und verteidigt werden. Differenzen zu kultivieren, gegen Normalisierung zu arbeiten und zu denken, ist ein Kernelement des queeren politischen Aktivismus und queerer Theorie. Queer Studies sind eine noch recht junge Baustelle. Die praktisch-politischen Erfordernisse haben einen Ausbau der Fundamente durch Aufarbeiten eines weiten Spektrums von Kenntnissen und Erfahrungen veranlaßt. Aus diesem offenen Feld, das gemäß dem disziplinübergreifenden Ansatz nicht abgeschlossen bestimmbar ist, möchte ich nur zwei Beispiele ansprechen. David M. Halperin gelingt eine historische Kritik der Kategorie der Homosexualität, indem er ältere geschichtliche Kategorien männlicher sexueller und geschlechtlicher Devianz aufzeigt. Für den gegenwärtigen Begriff der Homosexualität weist er nach, daß er auf dem Verbinden mehrerer Konzepte beruht, nämlich auf der psychiatrischen Vorstellung einer pervertierten Orientierung, auf dem psychoanalytischen Konzept der gleichgeschlechtlichen Objektwahl und auf der soziologischen Vorstellung eines sexuell abweichenden Verhaltens. 48 Eine weitere fruchtbare Quelle für Queer Studies sind Einflüsse, die aus Szene-Erfahrungen resultieren. So existieren in der minoritären Lederlesbenszene vielschichtige Diskurse zu geschlechtlichen Lüsten, Praktiken, Begehren und Subjektivität. Sie kennen Verkörperungen von Gender, die sich einer einfachen Kategorisierung in weiblich/männlich widersetzen und entziehen; die Einordnungen homosexuell, bisexuell oder heterosexuell verlieren ihre Bedeutung. C. Jacob Hale schildert, wie es durch lederlesbische Sadomaso-Praktiken möglich wird, mit den dominanten kulturellen Bedeutungen der Genitalien zu brechen und diese zu rekonfigurieren. Die sexuellen Zonen des Körpers werden neu kartographiert. Diese Praktiken »entkoppeln genitale Sexualität und sexuelle Lust voneinander« und »bilden einen Rahmen, in dem eine solche Umdeutung möglich wird«. 49 Daseinsmöglichkeiten erschließen sich »zwischen, längs und neben den zwei (der drei oder vier …) konventionellen Genders«.50 Hale trägt dazu bei, jene Dimensionen des Gender-Raumes aufzuspannen, die über die zwei heteronormativ behaupteten und universell gesetzten hinausweisen. 47 | Fiske, John, »Körper des Wissens«, in: Rainer Winter/Lothar Mikos (Hg.), Die Fabrikation des Populären – Der John Fiske Reader, Bielefeld 2001, S. 213-245, hier S. 237. 48 | Vgl. Halperin, David M., »Ein Wegweiser zur Geschichtsschreibung der männlichen Homosexualität«, in: Andreas Kraß (Hg.), Queer Denken – Queer Studies, Frankfurt a.M. 2003, S. 171-220. 49 | Hale, C. Jacob, »Lederlesbenboys und ihre Daddies – Anleitung zum Sex ohne Frauen und Männer«, in: Matthias Haase/Marc Siegel/Michaela Wünsch (Hg.), Outside – Die Politik Queerer Räume, Berlin 2005, S. 127-145, hier S. 138. 50 | Lord, Catherine, »Unsolved Crimes – Sex, Gender and Dykes«, in: Katalog zur Ausstellung »Gender, fucked«, des Center on Contemporary Art, Seattle (WA) 28.06.-23.08.1996, S. 5 (übers. L.H.).
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3. Z UR K RITIK DER BÜRGERLICHEN I NSTITUTION DER E HE Die heteronormative Moral, der die Wertschätzung des verheirateten heterosexuellen Paares und das Verteufeln queerer erotischer Praktiken eigen sind, ruht auf einer Basis, deren Tragebalken in unterschiedlichen Zwecksetzungen verankert sind. Einen Teil dieses Gerüsts hat Michel Foucault untersucht. Queer Studies widmen sich der Weiterführung und der Vervollständigung seiner Kritik an diesen Moral- und Verhaltensprinzipien. Sexualität ist ein besonders dichter Durchgangspunkt für Machtbeziehungen. Die Bedeutung, die Sex in den politischen Auseinandersetzungen gewonnen hat, sieht Foucault darin, daß er »das Scharnier zwischen beiden Entwicklungsachsen der politischen Technologie des Lebens« bildet; »einerseits gehört er zu den Disziplinen des Körpers: Dressur, Intensivierung und Verteilung der Kräfte, Abstimmung und Ökonomie der Energien. Andererseits hängt er aufgrund seiner Globalwirkungen mit den Bevölkerungsregulierungen zusammen.«51 Die ›Bio-Politik‹, also die Gesamtheit der Regulierungserfordernisse, umfasst in seiner Sichtweise Arterhaltung, Nachkommenschaft und kollektive Gesundheit, sie zielt auf die Erhaltung, Ertüchtigung, Ermächtigung oder Nutzbarmachung der ganzen Art. Da allerdings in unseren westlichen Gesellschaften die Institution der bürgerlichen Ehe im Zentrum dieser Bio-Politik steht, geht es – was Foucault übersieht – immer auch um eine Kontrolle der Imagination im Hinblick auf das Maß an Affektdämpfung, welches das Eheleben fordert. Friedrich Schiller beschrieb im Jahre 1800 den affektiven Wandel, der durch eine Heirat bedingt ist, im Lied von der Glocke mit den Versen: »Die Leidenschaft flieht!/Die Liebe muß bleiben«. Zur Sicherung des bürgerlichen Typus der Ehe greifen Anordnungen der staatlichen Obrigkeit deshalb bereits im frühen 19. Jahrhundert rigoros in den häuslichen und familiären Bereich ein, vor allem »zum Zweck der Kontrolle der ›Sittlichkeit‹, sprich: der Sexualmoral«; denn »uneheliche Kinder und ledige Mütter, Liebesverbindungen statt solider Heiratsplanungen« gelten von nun an als »Schreckgespenster obrigkeitlichen Wohlfahrtsdenkens«.52 Die emotionale Temperiertheit der bürgerlichen Ehe ist durch eine Dämpfung geprägt, die beispielsweise dem höfischen Adel der vorbürgerlichen Epoche noch fremd war. Das höfische Leben war zwar durch Etikette und Zeremoniell bestimmt, aber »die Maskierung spontaner Impulse, die Panzerung elementarer Gefühlsregungen« ist »noch nicht dermaßen allumfassend und automatisch« wie in allen Schichten der späteren industriellen Gesellschaften, »deren Angehörige auf Arbeits- und Karrierezwänge abgestimmt sind«; die höfischen Formen führten zu Lebenspraktiken, »hinter denen eine Tür ins Schloß fällt und vor denen sich neue Türen öffneten. Der verstärkte Zwang zum Selbstzwang eröffnete ihnen neue Freuden und Genüsse, neue Bereicherungen und Verfeinerungen, kurzum neue Werte zugleich mit neuen Bedrängnissen.«53 Diese Adelskultur war mit einer ars 51 | Foucault, Der Wille zum Wissen, a.a.O., S. 140. 52 | Kaschuba, Wolfgang, »Aufbruch in die Moderne – Bruch der Tradition?«, in: Katalog zur Ausstellung »Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons«, 16.05.-15.08.1987, Band 2, Stuttgart 1987, S. 669-689, hier S. 681. 53 | Elias, Norbert, Die höfische Gesellschaft, Gesammelte Schriften Band 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 405f.
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erotica verbunden, mit Liebeskunst, die als Praktik begriffen und als Erfahrung gesammelt wird. Ihre Bilderwelten und ihre Literatur sind davon durchdrungen. Für Queer Studies ist dies vor allem von Bedeutung, weil schließlich die allgemeine Durchsetzung des bürgerlichen Ehe- und Familienideals der ars erotica den Garaus machte. Der bürgerlichen Welt gelten viele Dimensionen höfischer Lebensund Liebesformen als verwerflich. »Der Bürger« sieht »Gewalttat und Liebesleidenschaft im Film«, sein Leben ist durch das erreichte Niveau des gesellschaftlichen Zwangs zum Selbstzwang affekt- und lustloser geworden.54 Zwar konnte die ars erotica nicht vollkommen zum Verschwinden gebracht werden, aber sie wurde an den Rand verdrängt. »Unsere Gesellschaft hat sich, mit den Traditionen der ars erotica brechend, eine scientia sexualis gegeben.«55 Deren Instrumente beschreibt Foucault als die Hysterisierung des weiblichen Körpers, die Pädagogisierung des kindlichen Sexes, die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens sowie die Psychiatrisierung der perversen Lust.56 Die Dämpfung der Affekte ist nicht nur dem Fortgang des Zivilisationsprozesses, wie Elias ihn beschreibt, geschuldet, sie ist auch Vorbedingung der mit Treue verbundenen Auffassung des Ehelebens. Insofern ist diese Ausprägung des Affektgefüges mit der Durchsetzung des heute geläufigen Sexualitätsdispositivs als spezifischer Vorkehrung für die strategische Durchsetzung ›normaler‹ Sexualität verbunden. »Die Eltern, die Gatten,57 werden in der Familie die Hauptagenten des Sexualitätsdispositivs.«58 Eine ganze Bandbreite dessen, was diesem Dispositiv zum Opfer fällt, bildet das Spektrum des Queeren. Als exemplarischen Fall möchte ich die sadomasochistischen Lüste diskutieren (an deren Stelle könnten selbstverständlich schwules oder lesbisches Begehren oder Transvestismus oder irgendwelche anderen Ausprägungen queerer Lüste behandelt werden). Der Sammler und Historiker Eduard Fuchs beschreibt den Gebrauch der Rute in seiner Sittengeschichte des fürstlichen Absolutismus als eine jener erotischen Formen, die später als Perversion gebrandmarkt werden. Er schließt aus dem historischen Material: »Die Flagellation als wichtiger Bestandteil des allgemeinen Geschlechtslebens kann geradezu eine Errungenschaft des Absolutismus genannt werden.«59 Mit der Heraufkunft der scientia sexualis im frühen 19. Jahrhundert wurden diese, wie andere Formen der Erregung auch, pathologisiert und die Kommunikation darüber strenger Zensur unterworfen.60
54 | Elias, Norbert, Über den Prozess der Zivilisation Band 2, Gesammelte Schriften Band 3.2, Frankfurt a.M. 1997, S. 341. 55 | Foucault, Der Wille zum Wissen, a.a.O., S. 71. 56 | Foucault, Der Wille zum Wissen, a.a.O., S. 103f. 57 | Anders als Ulrich Raulff und Walter Seitter, die Foucalts Der Wille zum Wissen ins Deutsche übertrugen, übersetze ich die Formulierung »les conjoints« des französischen Originals mit »die Gatten«. Foucault, Michel, Histoire de la sexualité I – La volonté de savoir, Paris 1976, S. 145. 58 | Foucault, Der Wille zum Wissen, a.a.O., S. 109. 59 | Fuchs, Eduard, Illustrierte Sittengeschichte, zweiter Band – Die galante Zeit, Müchen 1910, S. 379. 60 | Dieser gewandelten Einschätzung unterwirft sich auch Fuchs, dessen Moralismus einem deutschen Jakobinertum entspringt, indem er sagt, daß der Absolutismus »den
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Michel Foucault hat die Herausbildung des Diskurses über Sex, der im Übergang zur Moderne einsetzt und sich im 19. Jahrhundert festigt, als Etablierung eines universalen Wissens beschrieben. Dieses Wissen hat die Funktion einer an der Ehe orientierten Bio-Politik der Bevölkerung, der Regulierungsmaßnahmen bezüglich Fortpflanzung, Geburten- und Sterblichkeitsrate, Gesundheitsniveau und Lebensdauer. »Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat.«61 Niklaus Largier, der – um beim Beispiel der Flagellation zu bleiben – die Geißelung im religiösen Kontext als Instrument der Askese und im erotischen Kontext als Instrument der Lust studiert hat, zeigt, daß die Aufklärungsliteratur und -philosophie die Erregung durch die Peitsche einer rigorosen Kontrolle unterwarf. So steht die Psychopathologie der Sexualität, die sich im 19. Jahrhundert etabliert, am Ende des »Prozesses, in dem die Imagination und die erotischen Praktiken einer von der Vernunft ratifizierten ›natürlichen Sexualität‹ untergeordnet wird, die ihre Funktion im heterosexuellen Vollzug des ›sexuellen Aktes‹ besitzt«.62 Das diskursive Wissen über Sexualität zielt insofern »einerseits auf eine Normierung und territoriale Eingrenzung der Libido im Blick auf bestimmte Praktiken, andererseits und vor allem auf eine Disziplinierung und eine radikale Eliminierung aller Ambiguität, das heißt der konspirativen Verbindung von Imagination, Affekt und Libido«.63 Entscheidend – und für Queer Studies von besonderer Bedeutung – ist also, daß der Diskurs über Sex nicht allein, wie Foucault vermutete, an der Bio-Politik der Bevölkerung ausgerichtet ist, sondern zugleich zum Aufrechterhalten jenes affektgedämpften Binnenklimas dient, das die bürgerliche Ehe verlangt. Dieses Ehe-Modell hat lange geschichtliche Wurzeln, die mit dem – bereits in den Jahrhunderten des Absolutismus64 entstandenen – Formen des bourgeoisen Habitus verbunden sind. Als ideologisch-normatives Konstrukt konnte es allgemeine Gültigkeit erlangen, weil sich die Ebene der Werte und Normen relativ abgehoben von der gesellschaftlichen Wirklichkeit entfalten kann. Insbesondere seit der Epoche der Aufklärung trat dann die bürgerliche Kultur mit dem Anspruch auf, für alle Menschen gleichermaßen zutreffende, universelle Werte zu formulieren. Demnach »repräsentiert« auch das bürgerliche Familienideal »seinen Anspruch nach Familienbeziehungen schlechthin. Deutlich wird dies daran, daß die ihm zugrundeliegenden materiellen
Krankheitsfall zum sozialen Laster erhoben« habe. Fuchs, Illustrierte Sittengeschichte, zweiter Band, a.a.O. 61 | Foucault, Der Wille zum Wissen, a.a.O., S. 135. 62 | Largier, Niklaus, Lob der Peitsche – Eine Kulturgeschichte der Erregung, München 2001, S. 377. 63 | Largier, Lob der Peitsche, a.a.O., S. 376. 64 | Die fortschreitende Monetarisierung und Kommerzialisierung seit der frühen Neuzeit stärkte die bürgerlichen Gruppen. In der absolutistischen Epoche ist ihre soziale Kraft bereits so bedeutend, daß sie ein gleichwertiges Gegengewicht zu den adeligen Gruppen bilden. Die Könige gewinnen »schließlich, zwischen Bürgertum und Adel balancierend, in Form des absoluten Königtums ihre optimale Stärke«. Elias, Norbert, Über den Prozess der Zivilisation Band 2, a.a.O., S. 251.
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und strukturellen Voraussetzungen nicht thematisiert werden.«65 In Normen des Zivil- und Strafrechts gegossen, wurden diese Ideen umfassend durchgesetzt. Seither darf die gesellschaftliche Kraft dieser Familienwerte, die allein einer Durchsetzung der affekt- und lustgebremsten Atmosphäre eines an wechselseitiger Treue orientierten Ehelebens geschuldet sind, nicht unterschätzt werden. Sie sind wesentlicher Bestandteil heteronormativer Strategien. Daher die Bündel der Maßnahmen, deren Zweck darin besteht, alle Praktiken zu unterdrücken, die eine Maßlosigkeit der Phantasie und eine Multiplikation der Erregung bewirken. In diesem Sinne richtet sich der Apparat der Disziplinierung nicht nur gegen das Ausleben sadomasochistischer Lüste, die ich exemplarisch behandelt habe, sondern gegen die ganze Bandbreite des ›ketzerischen Sex‹, also gegen das gesamte queere Spektrum. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die Schaffung der gesetzlichen Grundlagen für die ›Homo-Ehe‹, die eingetragene Lebenspartnerschaft von zwei Menschen gleichen biologischen Geschlechts, mit der herrschenden Privilegierung des bürgerlichen Ehe-Modells verbunden ist. Das Ausdehnen des Geltungsbereichs des Monogamen über das bisherige Terrain heterosexueller Beziehungen hinaus läßt sich wohl kaum mit Bio-Politik im Sinne Foucaults in Verbindung bringen. Vielmehr handelt es sich dabei um das Projekt, die Zähmung der Libido, die für heteronormativ bestimmte Lebenspraktiken konstitutiv ist, auf ein bislang unerschlossenes Feld auszuweiten. Das Künstlerinnen-Kollektiv Dyke Action Machine!66 hat dazu bereits in der Frühphase entsprechender politischer Bemühungen kritisch Stellung bezogen. Ihr Plakat zur »Gay Marriage« aus dem Jahre 199767 karikiert die Phantasie eines lesbischen Paares von reichen Hochzeitsgeschenken, »indem es eine Braut zeigte, die ihre unwillige Partnerin durch eine Landschaft von ehelicher ›Beute‹ schleift«.68 In der deutschen Version, die im Jahre 2000 für München produziert wurde (Abb. 3), sagt der Text »Lohnt es sich, für einen Mixer langweilig zu sein?/ Lesben-Heirat Schwulen-Heirat – da kann Abbildung 3: DAM: Lesben-Heirat man gleich hetero sein«. Schwulen-Heirat. 2000.
65 | Rosenbaum, Heidi, Formen der Familie, Frankfurt a.M. 1982, S. 483. 66 | Dyke ist ein Slang-Ausdruck für Lesbe. 67 | Hieber, Lutz, »Werkverzeichnisse der Künstlerkollektive Gran Fury, Fierce Pussy, DAM und ACT UP Outreach Committee«, in: Hieber/Villa, Images von Gewicht, a.a.O., S. 235ff., hier S. 245 [= DAM 16]. 68 | Moyer, Carrie, »Street Appeal: Dyke Action Machine! und der Look der Gay Liberation in den neunziger Jahren«, a.a.O., S. 208.
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4. Q UEER S TUDIES UND DIE L INKE Autoren, die sich linken Traditionen verpflichtet fühlen, kreiden der queer movement und der Queer Theory gerne an, daß sie die Frage der Sexualität ins Zentrum rücken und darüber die Probleme vor allem der Klassengesellschaft, aber auch von Rassismus, Gender und Alter vernachlässigen. Max H. Kirsch reagiert mit seinem Buch »Queer Theory and Social Change« darauf, indem er die poststrukturalistischen und die postmodernistischen Ansätze der Queer Theory dem Ätzbad scharfer Kapitalismuskritik unterwirft. Um eine Verbindung zwischen den – selbstverständlich auch für ihn als relevant erachteten – Fragen der Repression schwuler und lesbischer Lebensstile auf der einen und der Klassenfrage auf der anderen Seite herzustellen, bringt er beide Seiten in direkten Zusammenhang. »Queere Identitäten«, so der Kern seiner Analyse, »sind eng an die Entwicklung des Kapitalismus gekoppelt«. Denn für ihn ist die Tatsache, daß »Lohnarbeit als Bestandteil der Entwicklung des Konkurrenzkapitalismus während des 19. Jahrhunderts vorherrschend wurde«, dafür grundlegend, daß »eine Befreiung von der Last der Hausökonomie ermöglicht wurde, die Familien prinzipiell als Produktionseinheiten auffaßte«.69 Und damit soll Raum für queere Lebensformen eröffnet worden sein. Desgleichen sieht er die Turbulenzen der 1960er Jahre als Ausdruck des Wandels, der sowohl »die kapitalistischen Akkumulationsbedingungen rund um die Welt« wie auch »die Position des Individuums, die Familie und die Auffassungen über Personen und Institutionen in der Gesellschaft« betraf.70 Auf diese Weise leitet Kirsch die Dimensionen der Lebenspraxis aus der Logik der kapitalistischen Produktionsverhältnisse her. Damit kann seine Analyse jedoch, weil ökonomische ›Ursachen‹ mechanisch mit sozialen und psychologischen ›Wirkungen‹ in Verbindung gebracht werden, nur eine sehr begrenzte Geltung beanspruchen. Denn sie kann nicht erklären, warum beispielsweise im 19. Jahrhundert die Familienverhältnisse in der Bourgeoisie, in den lohnabhängigen Mittelschichten und auch im Adel auf ein und dasselbe Modell hinauslaufen. Genauso wenig leuchtet ein, den homoerotischen Dandy des späten 19. Jahrhunderts mit Lohnarbeit zusammenzubringen oder den schwulen Beatnik als Produkt des sozioökonomischen Wandels zu sehen. Und noch weniger kann Kirsch Hinweise darauf geben, warum besonders die intellektuellen Milieus in den kulturellen Zentren die tragenden Säulen der queeren Emanzipationsbewegungen der jüngeren Vergangenheit darstellen. Karl Marx, der an Hegel geschulte Dialektiker, hat stets derart mechanistisches Denken vermieden. Er wendet sich zwar – um ein Beispiel zu nennen – scharf gegen den Deutschen Idealismus, indem er feststellt: »Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.«71 Aber er hütet sich, die Bewußtseinsformen, also den sozialen, politischen und geistigen Überbau, aus der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, der Basis, mechanisch herzuleiten. Ein anderes Beispiel des Marx69 | Kirsch, Max H., Queer Theory and Social Change, London/New York 2000, S. 66 (übers. L.H.). 70 | Kirsch, Max H., Queer Theory and Social Change, a.a.O., S. 68 (übers. L.H.). 71 | Marx, Karl, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Marx Engels Werke Bd. 13, Berlin 1971, S 9.
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schen Denkens bietet das Kapitel über »Maschinerie und große Industrie« im ersten Band von Das Kapital. Auch hier folgt er, wenn er die Strukturen der Industrialisierung darlegt, jeweils der Eigenlogik der unterschiedlichen Dimensionen. So behandelt er zunächst die Entwicklungslinien der Technik in der industriellen Revolution. In weiteren Feldern seiner Forschungen befaßt er sich mit den Strukturen der Arbeitsteilung in der Fabrik, mit embryonalen Formen des Schulwesens, mit den Folgen der industriellen Produktion für die Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse etc. Aber stets bleibt er, in positiver wie in negativer Hinsicht, durchgehend bei der jeweils spezifischen Entwicklungslogik jeder einzelnen Dimension des industriellen Fortschritts: »Überall muß man unterscheiden zwischen der größren Produktivität, die der Entwicklung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, und der größren Produktivität, die seiner kapitalistischen Ausbeutung geschuldet ist.«72 Und schließlich legt er Wert auf die Dialektik, die in der technisch-industriellen Entwicklung angelegt ist, indem er auf das in ihr vorhandene emanzipatorische Potential verweist. Da »die Maschine nicht den Arbeiter von der Arbeit befreit, sondern seine Arbeit vom Inhalt«,73 verlieren die Arbeitskräfte im industriellen Produktionsprozeß viele der Qualifikationen, die früher die handwerklichen Produzenten in den entsprechenden Fertigungszweigen noch hatten. Aber darin sieht Marx auch eine Chance. »Ne sutor ultra crepidam! [Schuster bleib bei deinem Leisten!], dies nec plus ultra [dieser Gipfel] handwerksmäßiger Weisheit, wurde zur furchtbaren Narrheit von dem Moment, wo der Uhrmacher Watt die Dampfmaschine, der Barbier Arkwright den Kettenstuhl, der Juwelierarbeiter Fulton das Dampfschiff erfunden hatte.«74 Der technisch-industrielle Fortschritt erleichtert den Übergang von einem Tätigkeitsbereich in einen anderen, und damit eröffnet sich die Möglichkeit einer vielseitigen Entfaltung des Menschen. Der dialektisch denkende Theoretiker untersucht also nicht nur das gesellschaftlich Gewordene, sondern er erkennt, daß in der Herausbildung gesellschaftlicher Strukturen auch unterschiedliche Potentiale angelegt sein können – und diese auch für emanzipatorische Ziele nutzbar sind. Im Unterschied zu ›linken‹ Theoretikern, welche die Produktionsverhältnisse als zentral auffassen und deshalb alle Formen der Lebenswelten in der kapitalistischen Gesellschaft allein aus diesen herleiten wollen, müssen also – im Sinne der Marxschen Dialektik – stets die unterschiedlichen Dimensionen gesellschaftlicher Entwicklungen in ihren Eigenlogiken gefaßt werden. Und der gesamte gesellschaftliche Prozeß, in dem sie verflochten und verhäkelt auftreten, ist auf emanzipatorische Potentiale abzuklopfen. Jean-Paul Sartre, der als Marxist in Opposition zu jeder dogmatischen Partei stand, zeigt am exemplarischen Fall des Rassismus die Schritte in emanzipatorische Richtungen. Er entwirft in seinen Réflexions sur la Question Juive einen Weg zur Überwindung des Antisemitismus. Für ihn ist der »authentische Jude«, der »für sich die heute noch unmögliche Assimilation ablehnt«, der Träger »der radikalen Abschaffung des Antisemitismus«.75 Der authentische Jude fühlt sich als Jude, weil ihn der Antisemit in die Situation des Juden setzt. Deswegen widerstrebt 72 | Marx, Karl, Das Kapital, erster Band, Marx Engels Werke Bd. 23, Berlin 1962, S. 445. 73 | Marx, Das Kapital, a.a.O., S. 446. 74 | Marx, Das Kapital, a.a.O., S. 512f. 75 | Sartre, Jean-Paul, Réflexions sur la Question Juive, Paris 1946, S. 195 (übers. L.H.).
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es ihm, sich vorschnell anzupassen. Sartre untersucht den Rassismus in den ihm eigenen sozialen Dimensionen. Er erkennt zwar gewisse Parallelen zwischen dem Arbeiter, der ein Bewußtsein der Zugehörigkeit zu seiner Klasse entwickelt, und dem authentischen Juden, der sich selbst – weil durch die anderen in diese Situation gesetzt – als Juden sieht. Solche Parallelen gibt es, weil sie gewissermaßen Ausgangspunkte aller emanzipatorischen Prozesse sind. Denn ebensowenig, wie sich der klassenbewußte Arbeiter nicht der Abschaffung der Klassen widersetzen wird, lehnt der authentische Jude nicht grundsätzlich die Assimilation ab, die er selbst noch nicht erreichen kann. »In beiden Fällen ist es das Bewußtwerden, das die Beendigung des Klassenkampfes und des Rassenkampfes beschleunigen wird«.76 Und in beiden Fällen sind die emanzipatorischen Kämpfe auf dem jeweils spezifischen Terrain zu führen, um schließlich zu »einer Gesellschaft« zu gelangen, »deren Mitglieder alle solidarisch sind«.77 Festzuhalten ist, daß Sartre die Eigenlogiken von repressiven Dimensionen betont, der Klassenfrage ebenso wie der Rassenfrage. Sein Ansatz führt zu gänzlich anderen Schlußfolgerungen als der Kirschs. Für Kirsch ist »die Entwicklung der queer movements eng an die Geschichte der Industrieentwicklung angelehnt«.78 Er sieht also die Queer Theory gewissermaßen als Derivat der Produktionsverhältnisse und des Klassenantagonismus. Dagegen betont Sartre am Beispiel des Antisemitismus, daß auch in der bürgerlichen Gesellschaft unterschiedliche Repressionsstrukturen nebeneinander bestehen. Dabei ist ihm wichtig, daß sie – wegen der ihnen jeweils eigenen Repressionslogik – auf unterschiedliche Weise bekämpft werden müssen. Denn eine Beseitigung des Klassenantagonismus wird nicht automatisch eine Beseitigung des Rassismus nach sich ziehen. Und entsprechend ist ebensowenig zu erwarten, daß mit einer Überwindung des Klassenantagonismus zwangsläufig alle Homophobie verschwinden würde. Sexualität ist eine politische Dimension, mit der spezifische Formen der Repression verbunden sind. Dem Denken Marx’ und Sartres entsprechend, wären es heute die authentischen Queers, die wirkungsvoll an der Überwindung sowohl von Homophobie wie auch von Repression gegenüber der Bandbreite des sexuellen Ketzertums arbeiten. Dabei ist zu beachten, daß die Queers zwar keine homogene Gruppierung bilden, aber in ihrer Vielgestaltigkeit richtet sich die Opposition der authentischen Queers gegen die Norm, gegen den Machtapparat. Wo es Macht gibt, gibt es auch Widerstand. Der Widerstand kann zwar nicht – worauf Foucault hinweist – außerhalb der Macht liegen, weil Macht und Widerstand ein dialektisches Beziehungsgefüge bilden. Machtverhältnisse haben einen relationalen Charakter. Das Queere, als eine Vielfalt von Widerstandspunkten, fungiert in den Machtbeziehungen als ständige Infektionsgefahr der intendierten heteronormativen Ordnung. Das gesamte Feld von Macht und Widerstand befindet sich in ständiger Bewegung. »Wie das Netz der Machtbeziehungen ein dichtes Gewebe bildet, das die Apparate und Institutionen durchzieht, ohne an sie gebunden zu sein, so streut sich die Aussaat der Widerstandspunkte quer durch die gesellschaftlichen Schichtungen und die individuellen Einheiten. Und wie der Staat auf
76 | Sartre, Réflexions sur la Question Juive, a.a.O., S. 195 (übers. L.H.). 77 | Sartre, Réflexions sur la Question Juive, a.a.O., S. 194 (übers. L.H.). 78 | Kirsch, Queer Theory and Social Change, a.a.O., S. 108.
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der institutionellen Integration der Machtbeziehungen beruht, so kann die strategische Codierung der Widerstandspunkte zur Revolution führen.«79 Daher ist es »für Aufstände, die es ermöglichen, Sex sicher zu machen (sicher vor Krankheit und sozialer Repression), […] nicht erforderlich, jeden und jede für eine schwul/lesbische Identität zu gewinnen. Die Forderung nach einem engen und historisch konstruierten Identitätsverständnis verkennt […] die politische Bedeutung divergierender Sexualitäten«; das Ziel »heißt vielmehr, Heterosexualität zu verkomplizieren und zu verwirren und mehr statt weniger sexuelle Allianzen zu schaffen«.80
5. Q UEER S TUDIES DIESSEITS UND JENSEITS DES A TL ANTIKS In den USA zählen die Queer Studies zu den produktivsten Forschungszweigen. Daß sie dagegen im deutschsprachigen Raum nur recht zögerlich rezipiert und entwickelt werden, hat mehrere Ursachen. Die Bundesrepublik hat in den 1980er Jahren keine sex wars erlebt. Der dominierende Flügel des westdeutschen Feminismus trug die Fahne der PornographieGegnerschaft und kooperierte mit Institutionen der Zensur.81 Außerdem haben die mitteleuropäischen Länder den Aktivismus in Sachen Aids-Krise verschlafen. Es entstanden zwar zarte Pflänzchen des Protestes, aber daraus erwuchs keine durchsetzungsfähige Bewegung.82 Als ein Musterbeispiel kann die Rezeption von Women, AIDS & Activism 83 gelten, des Bandes der New Yorker ACT UP-Aktivistinnen. In der deutschen Bearbeitung von Andrea Hofmann, Petra Knust und Nicole D. Schmidt fiel bereits im Titel der Aktivismus weg und wurde zu Frauen und Aids;84 und während die Titel-Gestaltung des US-Originals das Foto einer Demonstration zeigte, zierte die deutschsprachige Ausgabe der Ausschnitt eines Frauengesichts. Zwar hatten die Außerparlamentarische Opposition der 1960er, der Feminismus und die Bewegung gegen die Atomenergie der 1970er Jahre eine gewisse Aufbruchstimmung gebracht. Doch das Protestpotential wurde bald durch die Partei der Grünen aufgesogen und in Rituale institutionalisierter Politik überführt. Entsprechende Tendenzen der Einbindung des Neuen in konventionelle Formen schlugen »sich zum einen in der Erstarrung und Institutionalisierung des CSD und zum anderen in der Professionalisierung der Schwulen- und Aids-Politik nie79 | Foucault, Der Wille zum Wissen, a.a.O., S. 97. 80 | Patton, Cindy, »Von der Sichtbarkeit zum Aufstand: ein Manifest«, in: Matthias Haase/ Marc Siegel/Michaela Wünsch (Hg.), Outside – Die Politik Queerer Räume, Berlin 2005, S. 53-75, hier S. 74. 81 | Vgl. Schwarzer, Alice (Hg.), PorNo, Emma Sonderband 5, Köln 1988. Siehe auch: Schmerl, Christiane, »Thema Frau: das Diskussionsniveau der deutschen Werber«, in: Dies. (Hg.), Frauenzoo der Werbung, München 1992, S. 190-244. 82 | Hieber/Villa, Images von Gewicht, a.a.O., S. 220f. 83 | Vgl. The ACT UP/NY Women and AIDS Book Group, Women, AIDS, and Activism, a.a.O. 84 | Vgl. The ACT UP – New York Women & AIDS Book Group, Frauen und Aids, übersetzt und bearbeitet von Andrea Hofmann, Petra Knust und Nicole D. Schmidt, Reinbek bei Hamburg 1994.
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der«.85 So wurde praxisorientierter politischer Widerspruch scheu vermieden, im gewohnten Gang der Dinge machte sich allenfalls ein oberflächliches Kräuseln ohne Tiefenwirkung bemerkbar. In dieser politischen Kultur können die Queer Studies leicht auf die Theorie beschränkt bleiben und die Queer Theory in einem selbstbeschränkten Sinne als eine »Denkrichtung« gefaßt werden, »die dem ethisch-politischen Projekt eines anerkennenden Umgangs mit Differenz und Alterität nahesteht« 86. Doch eine solche Sichtweise entkleidet diese Theorie ihres Kontextes, auf den sie sich bezieht. Denn Queer Theory ist mehr als eine ›Denkrichtung‹, und sie kann nicht nur ›ethisch‹ begründet werden. Denn sie zielt auf praktische Maßnahmen der gesellschaftlichen Veränderung. Queer Studies sind durch emanzipatorische Interessen motiviert. Wenn die Theorieproduktion nicht mit praktisch-politischer Aktivität Hand in Hand geht, verliert die Theorie ihren Kontext. Queer Theory entfaltet sich in der gesamten Bandbreite der queer movement. Weil die politische Bewegung unterschiedliche Politikfelder anspricht, sind alle gefordert, die von Maßnahmen der Normierung betroffen sind. So kann – und muß – die gesamte Bandbreite aller, die von heteronormativen Zwängen betroffen sind, Bündnispartnerschaften im Kampf um Emanzipation bilden. Dagegen wird »im bundesdeutschen Diskurs […] queer immer noch lediglich mit der Schwulen- und Lesben-Bewegung in Zusammenhang gebracht« 87 – diese Auffassung ist zu eng. Seit der Gründung von ACT UP bestimmen schwule und lesbische Themen die Queer Studies, doch ebenso umfassen Aktivismus und Theorie all jene, die an einer Weiterführung der sexual revolution arbeiten. So hatte sich das Künstlerkollektiv »Gang« nicht nur mit der Aids-Krise auseinandergesetzt, sondern auch mit der Verteidigung des Rechts auf Abtreibung (Abb. 4). Der Text ihres Plakats protestierte gegen den Versuch, Schwangerschaftsberatungsstellen eine »gag order«, einen Knebel, zu verpassen, der untersagte, das Wort ›Abtreibung‹ als medizinische Option zu benutzen. Das Bild, eine Vagina, war durch »read my lips – before they’re Abbildung 4: Gang: Read My Lips – sealed« gerahmt. Die Redewendung »read before they’re sealed. 1992. 85 | Genschel, Corinna/Lay, Caren/Wagenknecht, Nancy/Woltersdorff, Volker, »Anschlüsse« (zu der deutschen Ausgabe), in: Jagose, Queer Theory, a.a.O., S. 167-194, hier S. 189. 86 | Engel, Antke, »Geschlecht und Sexualität – Jenseits von Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität«, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 330-346, hier S. 338. 87 | Moebius, Stephan, Kultur, Bielefeld 2009, S. 171.
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my lips« wird sinngemäß übersetzt als »passe genau auf«, wörtlich genommen sagt sie »lies meine Lippen«. Das Sujet löste heiße Debatten aus. Denn es schockierte nicht nur bürgerlichen Anstand, sondern auch jenen feministischen Flügel, der Pornographie bekämpfte. Damit positionierte sich »Gang« auch als Bannerträger der ›pro-Sex‹-feministischen Front der sex wars. Revolutionen stellen grundlegende Umwälzungen der Verhältnisse dar. Solche Umwälzungen haben ihre eigene Zeitstruktur. Die industrielle Revolution in England dauerte rund ein halbes Jahrhundert. Die französische Revolution begann 1789; ihr Ziel, die feudale Gesellschaftsstruktur durch eine bürgerliche zu ersetzen, hatte sie erst ein Jahrhundert später, nämlich 1871, erreicht. Eine Revolution ist nicht vollbracht, sobald der Kopf des Königs rollt. Auch eine queere Revolution, die diese Bezeichnung verdient, geschieht nicht von heute auf morgen, sondern verwirklicht sich in längerfristigen Prozessen. In Deutschland kann bislang von einer queeren Bewegung, von einer Koalition derer, die in regenbogenartiger Vielfalt gegen die heteronormativen Gebote opponieren, kaum die Rede sein. Aber sie kann sich durchaus entwickeln. Allerdings müßte zunächst freie Kommunikation erstritten werden. Queer bedeutet eine Herausforderung für die heterosexuell und reproduktiv definierte Normalität des erotischen Lebens. »Differenz ist, in unserer Kultur, das Obszöne.«88 Die US-amerikanischen Queer-TheoretikerInnen Lauren Berlant und Michael Warner streben eine queere Gegenöffentlichkeit an, die unbegrenzt zugänglich ist. Sie sehen eine Verbindung zwischen der Art von Sex, der legitimiert ist, und dem Einschließen der Intimität in die Privatsphäre. Ansätze eines queeren Aktivismus, die in diesen Zusammenhang verwoben sind, illustrieren sie mit einer Anekdote: »An einem Nachmittag fahren wir bei einem heterosexuellen Paar in deren Kombi mit. Zaghaft, nach einigem Drumherumreden, bringen sie die Unterhaltung auf Vibratoren. Es handelt sich hier um Menschen, deren Reproduktivität ihr Leben, ihre Wünsche und ihre Beziehungen zu Kapital und Hab und Gut bestimmen, sowie ihr Verhältnis zu allem anderen vermittelt. Die Frau dieses Paares hatte kürzlich in einer Frauenzeitschrift einen Artikel über Sex-Toys und andere Formen nicht-reproduktiver Erotik gelesen. Sie und ihr Mann haben daraufhin per Versand einiges eingekauft und sich seither mit dem beschäftigt, was wohl in den Augen der meisten unter queere Sexpraktiken fällt. Ihre Körper sind durcheinander geraten und aufregend für sie geworden. Zu uns sagten sie: Ihr seid die Einzigen, mit denen wir darüber reden können. Bei allen unseren heterosexuellen Freunden würde uns das zu Perversen machen. Um sich nicht als Perverse zu fühlen, mußten sie also uns zu einer Art sexueller Öffentlichkeit machen.« 89 Zu den Existenzbedingungen einer queeren Bewegung und damit auch von Queer Theory, die kritisch gegen herrschende Normen antreten, gehört auch eine aktive Opposition gegen Zensur. Denn Zensur trachtet danach, jede Kommunikation über queere Themen zu unterbinden.90 So legt Judith Butler dar, daß Kam88 | Crimp, Melancholia and Moralism, a.a.O., S. 163 (übers. L.H.). 89 | Berlant/Warner, »Sex in der Öffentlichkeit«, a.a.O., hier S. 100f. (die erste Hervorhebung von mir, L.H., die zweite im Original). 90 | Vgl. Hieber, Lutz, »Neue soziale Bewegungen und Medienmacht«, in: Michael Jäckel/ Manfred Mai (Hg.), Medienmacht und Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York 2008, S. 99-122.
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pagnen gegen Pornographie schädlich sind – selbstverständlich auch, wenn sie von radikal-feministischer Seite geführt werden. Sie widerspricht dem Appell der Feministin Catharine MacKinnon an den Staat, pornographische Repräsentation als verletzendes Verhalten zu behandeln. Butler hält solchen Intentionen entgegen, eine derartige Ausdehnung der staatlichen Macht sei eine der größten Bedrohungen für das diskursive Vorgehen beispielsweise der lesbischen und schwulen Politik. »Denn für diese Politik sind eine Reihe von Sprechakten, die man als anstößiges und sogar als verletzendes Verhalten bewerten konnte und bewertet hat, von zentraler Bedeutung: die überdeutliche Selbstdarstellung (z.B. in der Photographie von Mapplethorpe); die offene Selbstdefinition (z.B. in der Praxis des Coming Out); und die ausdrückliche Sexualerziehung (z.B. in der Aids-Aufklärung).« 91 Auch in der Bundesrepublik gälte es, das Feld der Zensur zu beackern, um überhaupt Grundlagen für die Durchsetzung für queere Meinungs- und Informationsfreiheit zu schaffen. Denn Kommunikationsfreiheit ist notwendige Bedingung für jede queere Kultur und für Queer Theory. Eine aktive Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Zensurinstanzen könnte die Basis dafür schaffen, daß Queer Studies auch hierzulande zu einem produktiven Forschungszweig erblühen.
91 | Butler, Judith, Hass spricht – Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 38.
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1. THEORIEGESCHICHTE UND - KONZEP TIONEN DER P OSTCOLONIAL S TUDIES Nähert man sich dem Begriff des Postkolonialen, so mag sich spontan eine Frage aufdrängen, die auch Stuart Hall Mitte der 1990er Jahre umtrieb: »Wann war der Postkolonialismus?«1 Mag im Titel zunächst nur eine zeitliche Dimension anklingen, so impliziert diese Frage grundlegende Debatten innerhalb der Postcolonial Studies, etwa um deren theoretische Zugänge, Untersuchungsgegenstände und historische Ausrichtung, um die Terminologie und die politischen Implikationen. Es herrscht Einigkeit darüber, daß es sich bei den Postcolonial Studies weder um eine Schule noch um eine homogene theoretische Ausrichtung handelt.2 Unter dem Label Postcolonial Studies firmieren vielmehr so disparate Analyseobjekte, theoretische Ansätze, disziplinäre Zuordnungen, interdisziplinäre Anleihen, Inspirationen, Revisionen, Adaptationen und engagierte Implikationen, daß sich ein weites Spektrum an Theorie und Empirie ergibt. Eine erste Bestimmung der Postcolonial Studies über ihre Untersuchungsgegenstände führt bereits zu einem heterogenen Bild: Postkoloniale Studien beschäftigen sich mit so unterschiedlichen Medien wie literarischen Texten und künstlerischen Artefakten, historiographischen Quellen, Kartographien, politischen Reden, Missionarsberichten, philosophischen Traktaten etc. Gleichwohl gibt es einen gemeinsamen Fokus, in dem Kontaktphänomene und der Umgang mit dem kulturell differenten ›anderen‹ stehen. Zentrale Themen der postkolonialen Studien sind etwa Identität und Alterität, Sklaverei, Rassismus, Race-class-gender-Fragen, Diaspora, Hybridität und Multikulturalismus, Globalisierung bzw. Glokalisierung, Religion oder Umweltfragen
1 | Hall, Stuart: »Wann war ›der Postkolonialismus‹? Denken an der Grenze«, in: Elisabeth Bronfen/Benjamin Marius/Therese Steffen (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, S. 219-246. 2 | Vgl. dazu beispielsweise die Ausführungen in der informativen und differenziertesten Einführung in die postkolonialen Studien im deutschsprachigen Bereich von Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, bes. S. 8.
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etc.,3 die allesamt – so schlicht diese Bemerkung auch zunächst erscheinen mag – unmittelbar mit der Geschichte des europäischen und globalen Kolonialismus zusammenhängen. In dieser Definition liegt bereits der erste terminologische Stolperstein, denn schon der Begriff Kolonialismus ist keineswegs eindeutig, sondern durch wissenschaftliche, ideologische, kulturelle etc. Interessen geprägt. Trotz der terminologischen Ausdifferenzierung zwischen Imperialismus, Kolonialismus und Neokolonialismus (etwa nach Robert Young oder Ania Loomba 4) ist den unterschiedlichen Arbeiten der Postcolonial Studies eine Stoßrichtung gemein: Sie analysieren aus einer kritischen Distanz Phänomene der Kolonialgeschichte der großen europäischen Kolonialmächte, schließlich aber auch jegliche Kolonialbestrebungen weltweit – und zwar in diachroner und synchroner Perspektive. Die sich daran anschließende Frage nach der Historizität der Untersuchungsobjekte spiegelt sich in der sogenannten »Präfixdebatte« innerhalb der Postcolonial Studies wider, die alle wissenschaftlichen Arbeiten in diesem Bereich tangiert, wenn nicht gar prägt. Das Präfix »post« ruft zwei unterschiedliche Deutungshorizonte auf: erstens einen chronologischen und zweitens einen epistemologischen. In einer chronologischen Dimension kann der Postkolonialismus dabei als dem Kolonialismus nachgängig verstanden werden. Folglich stammen die Untersuchungsgegenstände aus der Zeit nach dem europäischen Kolonialismus, der zwischen den großen historischen Zäsuren von 1492, der »Entdeckung« Amerikas, und den 1960er Jahren, in denen eine Vielzahl der ehemaligen Kolonien ihre »Unabhängigkeit« erlangten, angesiedelt wird.5 Die Problematik dieses Ansatzes liegt auf der Hand: In diachroner Hinsicht besteht die Gefahr, Kolonialismus in einem 3 | Vgl. die aktualisierte Fassung der Schlüsselkonzepte der Postcolonial Studies von Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen, Post-Colonial Studies: The Key Concepts, Second Edition, New York 2007, bes. S. vii-ix sowie Thieme, John, Post-colonial Studies. The Essential Glossary, London 2003. 4 | Vgl. Young, Robert J.C, Postcolonialism. An Historical Introduction, Oxford 2001, bes. S. 15-69 und Loomba, Ania, Colonialism/Postcolonialism, London 1998, bes. S. 1-19. Kolonialismus und Imperialismus unterscheiden sich ihnen zufolge durch ihre kapitalistischen Intentionen. Während Young den Imperialismus als ein tendenziell ideologisch fundiertes, vom Zentrum ausgehendes und auf Staatspolitik basierendes Konzept definiert, versteht er unter Kolonialismus eine pragmatische Strategie, die sich in den Peripherien abspielt und in erster Linie eine ökonomische Praxis beschreibt; vgl. Young, Postcolonialism, a.a.O., S. 16ff. Diese an dieser Stelle simplifizierend-paraphrasierte Definition wird von Young durch Differenzierung der Begriffe in konzeptueller, historischer und lokaler Hinsicht spezifiziert (beispielsweise durch den Unterschied zwischen britischem, französischem und amerikanischem Imperialismus; vgl. ebd. S. 29-43) und dem Themenkomplex damit wesentlich gerechter. Unter Neokolonialismus versteht Young die fortwährende wirtschaftliche Asymmetrie zugunsten der ehemaligen Kolonisatoren; vgl. ebd., S. 45. 5 | Dietze betont unter Verweis auf Young die Zäsuren der Aufklärung mit der Verbreitung eines universalistischen und eurozentrischen Fortschrittsdenkens sowie der industriellen Revolution, die einen »technologischen Vorsprung« mit sich brachte; vgl. Dietze, Gaby, »Postcolonial Theory«, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln 2005, S. 304-324, hier S. 304; weiterhin Gandhi, Leela, Postcolonial Theory. A Critical Introduction, New York 1998, bes. S. 30ff.
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teleologisch gedachten Narrativ zu historisieren und damit als eine abgeschlossene, überwundene Periode der Geschichte zu deklarieren. In synchroner Hinsicht aber ist problematisch, daß, wie Fauser es formuliert, »die Zeitgeschichte ausschließlich als Verarbeitungsphase des nachwirkenden Kolonialismus erscheint«.6 Ziel der postkolonialen Studien ist folglich, gleichzeitig historische Spuren und gegenwärtige Phänomene im Blick zu behalten, mit Dietze also »koloniale und nach- und neokoloniale Verflechtungen von kolonisierenden Gesellschaften mit ökonomisch, kulturell und territorial ehemals kolonisierten Bevölkerungen«.7 In dieser Begriffsbestimmung wird die komplexe Verfaßtheit der Postcolonial Studies deutlich, die sich mit historisch disparaten wie geographisch weltumspannenden (und nicht mehr auf die Gebiete des europäischen Kolonialismus beschränkenden) Gegenständen und thematisch mit vielseitigen Dimensionen des Umgangs mit kolonialer, kultureller Differenz beschäftigen. Diese Ausweitung der Untersuchungsgegenstände postkolonialer Studien zeigt an, daß das Verständnis als ›nach-koloniale Studien‹ überwunden wurde und das Selbstverständnis der Postcolonial Studies an der Theoriebildung selbst ansetzt. Postkoloniale Studien gründen auf einem Verständnis von Postkolonialismus, der – analog zu den Präfixdebatten etwa des Poststrukturalismus oder der Postmoderne – als eine epistemologische Haltung zu verstehen ist. Folglich definieren sich die Postcolonial Studies weniger über ihre postkolonialen Gegenstände als über theoretische, postkoloniale Zugänge zu jedwedem Gegenstand – und damit nehmen sie auch die eigene Wissensproduktion kritisch unter die Lupe.8 Diese Hinwendung zum Postkolonialismus als erkenntnistheoretischem Konzept und die Kritik am eigenen wissenschaftlichen Tun lassen sich auch innerhalb der Theoriegeschichte ablesen und in einen weiteren, höchst brisanten Kontext einordnen: nämlich den Konflikt zwischen Wissenschaft/Theorie und Politik/ Praxis. »Postcolonialism«, so fassen Bart Moore-Gilbert et al. die verschiedenen Bedeutungen der Präfixdebatte zusammen, »designates at one and the same time a chronological moment, a political movement, and an intellectual activity, and it is the multiple status that makes exact definition difficult.«9 Jene Verquickung von zeitlicher Einordnung, politischer Bewegung und wissenschaftlicher Aktivität ist den postkolonialen Studien von Beginn an eingeschrieben, denn sie entspringen antikolonialer Kritik und traten in der politischen wie akademischen Öffentlichkeit auf den Plan. Die Geschichte der Postcolonial Studies kann als politisierte Wissenschaftsgeschichte verstanden werden, die der Konstruktion kultureller Differenz und dem Umgang mit kolonialen Machtverhältnissen auf den Grund geht. Die Differenzlogik des Kolonialismus bietet dabei die basale Angriffsfläche: Koloniale Hegemonie wurde nämlich um eine natürliche 6 | Fauser, Markus, Einführung in die Kulturwissenschaft, Darmstadt 2008, S. 36. 7 | Dietze, »Postcolonial Theory«, a.a.O., S. 304f. 8 | Vgl. dazu Hall, »Wann war ›der Postcolonialismus‹?«, a.a.O., bes. S. 220ff. und Dietze, »Postcolonial Theory«, a.a.O., bes. S. 304. Vgl. zur entsprechenden Differenzierung der Terminologie in postkolonial, post-kolonial oder neo-kolonial den Eintrag »post-colonialism/ postcolonialism«, in: Bill Ashcroft/Gareth Griffiths/Helen Tiffin, Key Concepts in Post-colonial Studies, London/New York 1998, S. 186-192. 9 | Moore-Gilbert, Bart J./Stanton, Gareth/Maley, Willy (Hg.), Postcolonial Criticism, London 1997, S. 1.
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kulturelle Differenz konstruiert, die meist biologistisch-rassistisch und religiös determiniert wurde und die die Etablierung von »west-/non-west«-Hierarchien zum Vorteil der westlichen Weißen und die gewaltsame Unterdrückung und Ausbeutung kolonisierter Völker legitimiert. 10 Seit dem frühen 19. Jahrhundert, in besonderem Maße aber seit den 1930er Jahren, formiert sich ein intellektueller und politisch-motivierter, dezidiert antikolonialer Widerstand gegen diese zugunsten der europäischen Kolonialmächte ausgelegten Mächtekonstellationen. Als Gegendiskurs werden Stimmen aus den Kolonien laut, die die koloniale kulturelle Differenz aufheben oder gar umkehren wollen und Emanzipation und Dekolonisierung einfordern. Diese Anfänge der postkolonialen Studien, welche »eher frankophone Ursprünge«11 aufweisen, entstammen etwa dem Kreis jener Autoren, die das 1932 in den französischen Kolonien Afrikas und der Karibik formulierte Konzept der »négritude« lancieren. Hier sind zentral die Autoren und Politiker Aimé Césaire (Martinique) und Léopold Sédar Senghor (Senegal) zu nennen, die Differenz als Abgrenzungsstrategie zum europäischen Kolonisator konzipieren und dazu aufrufen, sich einer positiv besetzten »négritude« bewußt zu werden, welche besonders Schwarze in Afrika und Frankreich einen sollte.12 Die Problematik der rassistischen Differenzbildung wird in den 1950er Jahren in den psychoanalytisch fundierten Arbeiten des Psychoanalytikers, Kulturtheoretikers und Politikers Frantz Fanon in den Blick genommen, der mit Peau noire, masques blancs sowie Les damnés de la terre 13 massiv die europäischen Rassismen gegen Schwarze anprangert und darlegt, daß jene zu einer rassistischen wie geschlechtlichen Selbstmarginalisierung und -herabsetzung führen. Weitere berühmte antikoloniale Schriften der 1950er Jahre sind Césaires Discours sur le colonialisme und die Essays Portrait du colonisé sowie Portrait du colonisateur des tunesischen Schriftstellers Albert Memmi.14 Nach der Dekolonisierung vieler afrikanischer Staaten tauchen in den 1960er Jahren umso dringlichere Fragen um die Absetzungsbewegungen vom (ehemaligen) Kolonisator, aber auch um die Langlebigkeit kolonialer Machtverhältnisse und wirtschaftlicher oder kultureller Abhängigkeiten auf. Die Arbeiten von Fanon beeinflussen etwa die in den 1960er Jahren aufkommende Black Power-Bewegung in den USA. Nach der Institutionalisierung von Black Studies-Programmen in den USA infolge der sozialen Bewegungen seit den 1960er Jahren erfährt die Theoriebildung in den 1990er Jahren durch Paul Gilroys Studie Black Atlantic 15 eine pro10 | Vgl. Young, Robert J.C, Postcolonialism. A very short introduction, Oxford 2007, S. 2f. sowie Ders., Postcolonialism, a.a.O., S. 5. 11 | Antor, Heinz, »Postkoloniale Studien. Entwicklungen, Positionen, Perspektiven«, in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft, 33, 2002, S. 115-130, hier S. 117. 12 | Die massive Kritik an dem Konzept der négritude gilt der Re-essentialisierung und Perpetuierung von westlichen Stereotypen, so daß dessen Bedeutung für die Emanzipationsbestrebungen der afrikanisch-französischen Kolonien in der postkolonialen Theorie mittlerweile historisch geworden ist. 13 | Fanon, Frantz, Peau noire, masques blancs, Paris 1975 [1952] und Ders., Les damnés de la terre, Paris 2004 [1961]. 14 | Césaire, Aimé, Discours sur le colonialisme, Paris 1970 [1950]; Memmi, Albert, Portrait du colonisé précédé de Portrait du colonisateur, Paris 1985 [1957]. 15 | Gilroy, Paul, The Black Atlantic. Modernity and double Consciousness, Cambridge 1993.
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minente Aktualisierung. Darin stellt er die Beziehungen zwischen Sklaverei und europäischer Moderne in den Mittelpunkt. 16 Ende der 1970er Jahre sorgt eines der mittlerweile berühmtesten Werke der postkolonialen Theorie für Aufsehen, Orientalism 17 des Literaturwissenschaftlers Edward W. Said. In dieser Studie, die als einer der Gründungstexte der (US-amerikanischen bzw. anglophonen) Postcolonial Studies gilt, geht es um ein Verständnis von kultureller Differenzproduktion in Form eines »Orientalismus als Diskurs«.18 Said analysiert in zahlreichen literarischen wie historiographischen Texten, daß die Beschreibungen des Fremden – und hier benutzt er die emblematische Figur des orientalischen ›anderen‹ seit dem späten 18. Jahrhundert – nicht auf natürlichen oder biologischen Begebenheiten fußen. Vielmehr erschaffen die Schilderungen der Reisenden, Literaten, Historiker und Anthropologen des 19. Jahrhunderts ein Bild, das sowohl als Hegemonie stützende und Machtasymmetrien einführende Konstruktion erkannt wird als auch als Spiegelbild für die Etablierung eines westlichen, europäischen Selbstbildes dient. Es geht »um die europäische Darstellung des Orients« 19 und damit sowohl um die Inhalte, das heißt die Figuren des paradigmatischen ›anderen‹, also des Orientalen, als auch um die Diskursformationen, das heißt die europäischen, narrativen Strategien einschließlich jener der academia. Mit Orientalismus bezeichnet Said »eine Umgangsweise mit dem Orient, die auf dessen besonderer Stellung in der europäisch-westlichen Erfahrung beruht. Der Orient grenzt nicht nur an Europa, er barg auch seine größten, reichsten und ältesten Kolonien, ist die Quelle seiner Zivilisationen und Sprachen, sein kulturelles Gegenüber und eines seiner ausgeprägtesten und meist variierten Bilder des ›anderen‹. Überdies hat der Orient dazu beigetragen, Europa (oder den Westen) als sein Gegenbild, seine Gegenidee, Gegenpersönlichkeit und Gegenerfahrung zu definieren.«20 Gleichwohl ist der Orient selbstredend keine reine Erfindung, »keine bloße Chimäre«21 oder als »bloß imaginär«22 in das Reich der Fiktion zu verbannen, sondern gerade in der Verquickung vermeintlich authentischer Reiseberichte und westlich-ideologisierter Wissenskonstruktion besonders effektiv. Orientalismus hat demnach seine Bedeutung und seine Auswirkungen in der wissenschaftlichen Betrachtung als »Denkweise« oder »imaginäre Bedeutung« und ist damit ein »westlicher Stil, den Orient zu beherrschen«.23 Saids Orientalism steht folglich für eine dezidiert diskursanalytische Ausrichtung der postkolonialen Studien, die ab den 1980er/1990er Jahren zunehmend durch den (französischen) Poststrukturalismus beeinflußt werden und nicht zu16 | Die kulturelle Differenz wird in diesem Sinne weiterhin genutzt um ein emanzipatorisches und kolonialkritisches Projekt zu formulieren; in der Anglistik etwa formiert sich in den 1970er Jahren der wissenschaftliche Zweig der »Commonwealth Studies«, die als Kritik am britisch-anglozentrischen Kanon Literaturen der Peripherie ins Zentrum ihrer Forschung stellen. Vgl. Antor, »Postkoloniale Studien«, a.a.O., S. 118. 17 | Said, Edward W., Orientalismus, Frankfurt a.M. 2010 [1978]. 18 | Said, Orientalismus, a.a.O., S. 11. 19 | Said, Orientalismus, a.a.O., S. 9. 20 | Said, Orientalismus, a.a.O., S. 9f. 21 | Said, Orientalismus, a.a.O., S. 20. 22 | Said, Orientalismus, a.a.O., S. 10. 23 | Said, Orientalismus, a.a.O., S. 11.
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letzt eine Reaktion auf die bisher stark materialistisch-marxistischen Arbeiten zum Kolonialismus darstellen. In diesen Arbeiten geht es um Potentiale des Widerstands, die auf einer diskursiven, semiotischen Ebene ausgelotet werden und deren Anliegen eine permanente Dekonstruktion kultureller Differenz ist. Die Postcolonial Studies situieren sich seit dieser Zeit in einem Spannungsfeld zwischen zwei zentralen theoretischen Achsen: einer politisch-motivierten, marxistisch-materialistischen und einer theoretisch-inspirierten, semiotisch-poststrukturalistischen. Die erste Achse stützt sich auf theoretische, methodische und ideologische/politisierte Traditionen aus den Cultural Studies24 und damit auf Annahmen aus der marxistisch-materialistischen Kultur- und Literaturkritik. Die zweite Achse entlehnt wissenschaftliche wie theoretische Prämissen aus der poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen (französischen) Kulturtheorie, Sprachphilosophie und Semiotik und legt – anders als der Marxismus – den Fokus auf die Wahrnehmungsmuster und Erfahrungsstrukturen der Subjekte.25 Die Beziehung dieser Achsen zueinander ist höchst ambivalent: Postkoloniale Studien finden zwar auf einer grundsätzlich kolonialkritischen Ebene statt, scheinen aber im Hinblick auf die politischen Implikationen und Zielsetzungen zum Teil unvereinbar zu sein. Der auf dieser zweiten Achse verortete Einfluß des französischen Poststrukturalismus auf die postkoloniale Theoriebildung ist an der Rezeption des DiskursKonzeptes, an den Prämissen der Dekonstruktion und den Mechanismen der Identifizierung zu messen. Mittels des an Foucault geschulten Diskursbegriffs greifen postkoloniale Studien – und besonders Edward Said – die Idee auf, daß Machtverhältnisse, Subjektpositionen, Hierarchien und kulturelle Differenz diskursiv konstruiert sind und ihnen daher bestimmte Einschluß- und Ausschlußmechanismen inhärent sind. Die französische Dekonstruktion nach Jacques Derrida hat postkoloniale Lektüren dazu inspiriert, einerseits auf der radikalen Textualität kultureller Differenz zu insistieren und andererseits nicht allein bei der Rekonstruktion struktureller Binaritäten stehen bleiben zu müssen. Diesen kann nun in einem permanenten Prozeß der Destruktion und Rekonstruktion von Bedeutungszuweisungen die vermeintlich natürliche und stabile Sinnhaftigkeit entzogen werden. Die identifikatorische Instabilität, die keine fixierte kulturelle Differenz mehr zwischen dem Eigenen und dem Fremden zuläßt, wird, ausgehend von Fanon, mittels der poststrukturalistischen Psychoanalyse weiterentwickelt. Geht man mit Jacques Lacan – vereinfacht gesagt – davon aus, daß Identitätsbildung nur durch die Integration des anderen in das Selbst stattfinden kann, so lassen sich alternative Identifizierungsprozesse zwischen Kolonisiertem und Kolonisator denken. 26 24 | Vgl. zu den Cultural Studies den Beitrag von Stephan Moebius in diesem Band. 25 | Vgl. Antor, »Postkoloniale Studien«, a.a.O., S. 116f. Vgl. zu den marxistischen, nationalliberationären, ökonomischen, kulturellen und migrations-theoretischen Achsen der postkolonialen Theorie Young, Postcolonialism, a.a.O., S. 60f. Pordzik macht als Grunddisziplinen der Postcolonial Studies »eine enge, die disziplinären Grenzen überschreitende Zusammenarbeit von Literatursemiotik, Kultursoziologie, Ethnologie und linguistischer Pragmatik« aus; Pordzik, Ralph, »Kulturwissenschaft und Postcolonial Studies«, in: Klaus Stierstorfer (Hg.), Kulturwissenschaft interdisziplinär, Tübingen 2005, S. 225-243, hier S. 227. 26 | Einige postkoloniale Denker wie etwa Bhabha oder Young gehen sogar davon aus, daß die Postmoderne und der Poststrukturalismus postkolonial fundiert sind. Dies begründen
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Durch den Poststrukturalismus wird weiterhin eine radikale Selbstkritik innerhalb der Postcolonial Studies initiiert, die die »Frage nach der Autorität eigener, akademischer Interpretationen der Kultur des ›Anderen‹« 27 betrifft. »The best of postcolonialism is autocritical«, schreibt demgemäß Gayatri Chakravorty Spivak;28 sie greift damit die wissenschaftliche Autorität über deren ›Untersuchungs-Subjekte‹ an und damit das Verfahren des »othering«,29 das heißt die Fremdkonstruktion des ›anderen‹ im Dienste der Selbstvergewisserung. Grundsätzlicher geht es hier aber um die Konsequenzen des Linguistic Turn und damit um einen radikal anderen Ausgangspunkt wissenschaftlicher Arbeit. Denn nach dem Linguistic Turn wird davon ausgegangen, daß ökonomische Machtverhältnisse und soziale wie materialistische Bedingungen textuell bzw. diskursiv verfaßt sind und damit nicht mehr als objektiv(istisch)e Gegebenheiten untersucht werden können.30 Ziel ist, so Pordzik, »das Bemühen um ein dekonstruktivistisch und semiotisch angereichertes Verstehen von Kultur«.31 Und an diesem Punkt liegt auch ein signifikantes Konfliktpotential der genannten Achsen, denn während die marxistisch-materialistische Perspektive die Lebens- und Repräsentationsbedingungen auf konkret sozialer Ebene ins Zentrum stellt, besteht die poststrukturalistisch-semiotische Perspektive auf dem Konstruktcharakter kolonialer Diskurse und wendet sich damit ausschließlich der sprachlichen Verfaßtheit kolonialer Verhältnisse (im Sinne des »Kultur als Text«Paradigmas32) zu. Hieran läßt sich auch die von Varela und Dhawan beschriebene »spannende Pendelbewegung«33 innerhalb der Postcolonial Studies zwischen einer
sie mit zwei verschiedenen Argumentationsfiguren, die auf einer wissenschafts-selbstkritischen Ebene und einer biographischen erfahrungsbasierten Ebene ansetzen. Während Bhabha »dem Poststrukturalismus absichtlich eine spezifisch postkoloniale Herkunft« zuschreibt (Bhabha, Homi K., Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000 [1994], S. 95) und an diesem aber die ästhetisierende Feier des Fragmentarischen kritisiert, weist Young darauf hin, daß es kein Zufall sein kann, daß die berühmten poststrukturalistischen Denker oftmals aus ehemaligen Kolonien stammen und daher spezifische postkoloniale Erfahrungen in ihre Theorien einbringen. Vgl. dazu Young, Postcolonialism, a.a.O., S. 67f. 27 | Pordzik, »Kulturwissenschaft und Postcolonial Studies«, a.a.O., S. 225. Die Problematik des Sprechens über den »anderen« liegt nach Pordzik dabei darin, diesen einerseits in seiner dialektischen Position zum machtvollen Kolonialherren zu idealisieren oder zu romantisieren und andererseits durch die diskursive Gestaltung des »anderen« – also das Sprechen über diesen – als ein textuelles Bild einzusperren und erstarren zu lassen, vgl. ebd., S. 226. 28 | Spivak, Gayatri Chakravorty: »Foreword. Upon reading the Companion to ›Postcolonial Studies‹«, in: Henry Schwarz/Sangeeta Ray (Hg.), A Companion to Postcolonial Studies, Malden, Massachusetts 2000, S. XV-XXII, hier S. XV. 29 | Vgl. zu dem auf Spivak zurückgehenden Begriff den Eintrag »othering«, in: Bill Ashcroft/ Gareth Griffiths/Helen Tiffin, Post-Colonial Studies, a.a.O., S. 156-158. 30 | Vgl. Pordzik, »Kulturwissenschaft und Postcolonial Studies«, a.a.O., S. 225. 31 | Ebd. 32 | Vgl. dazu den einführenden Artikel Bachmann-Medick, Doris, »Kulturanthropologie«, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaften, Stuttgart 2003, S. 86-107, bes. S. 90. 33 | Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, a.a.O., S. 8.
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theoriegeleiteten bzw. -inspirierten (Kultur- und Migrations-)Politik und einer politisierten Theoriebildung nachvollziehen. In diesem theoretisch-politischen Spannungsfeld engagierter Wissenschaft lassen sich die Arbeiten der sich in den 1980er Jahren formierenden Subaltern Studies Group einordnen, die feministisch-marxistische Forschung mit Aspekten postkolonialer Hegemonieansprüche und Unterdrückungen untersucht.34 Ihre Fragestellungen sind stark inspiriert durch die Studien der Literaturtheoretikerin Gayatri C. Spivak, die die Frage nach der spezifischen Situation weiblicher Subjekte in den Mittelpunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeiten stellt und die sowohl ihren Gegenstand als auch ihre eigene (westlich geprägte) Position einer scharfen postkolonialen Kritik unterzieht. In Anlehnung an das Konzept der Subalternität nach Antonio Gramsci entwickelte Spivak 1988 in ihrem berühmten Aufsatz Can the subaltern speak? das Modell der (post-)kolonialen Subalternen:35 Damit bezeichnet Spivak jene kolonisierten Subjekte, deren Stimmen als sozial und kulturell marginalisierte Gruppen kein Gehör finden und denen sowohl die eigene Deutungsmacht abgesprochen wird als sie auch aus der offiziellen Geschichtsschreibung herausfallen. Zentral ist dabei eine doppelte Marginalisierung, denn es geht um die Diskursohnmacht einerseits gegenüber den Kolonisatoren und andererseits gegenüber einer machtvollen Gruppe innerhalb der Kolonisierten.36 Als eindrückliches Beispiel wählt sie die Tradition der Witwenverbrennung in Indien, eine Tradition, bei der verwitwete Frauen ihrem Mann freiwillig in den Tod folgen. Anhand dieses Rituals zeigt Spivak, daß eine autochthone, weibliche Tradition doppelt marginalisiert wird. Versuchen die einen, also die englischen Kolonialherren, jene Frauen vor dieser als barbarisch apostrophierten Sitte zu retten, behaupten die anderen, die Angehörigen des indischen Patriarchats, daß der Freitod dem Willen der Witwen entspräche. Jenes »ideologische […] Schlachtfeld« 37 wird folglich durch den Diskurs über Frauen eröffnet und diese zum Spielball imperialer, patriarchaler und kulturrassistischer Interessen. Die Antwort von Spivak, »Die Subalterne kann
34 | Zur Geschichte der Subaltern Studies vgl. den Überblicksartikel von Dipesh Chakrabarty, »A Small History of Subaltern Studies«, in: Schwarz/Ray (Hg.), A Companion to Postcolonial Studies, a.a.O., S. 467-485. 35 | Vgl. Spivak, Gayatri C., »Can the subaltern speak?«, in: Bill Ashcroft/Gareth Griffiths/ Helen Tiffin (Hg.), The Post-colonial Studies Reader, London/New York 1995 [1988], S. 2428. Das Konzept der Subalterne spielt (wenn auch nicht explizit) auf die Ohnmacht der Selbstrepräsentation des Proletariats nach Marx an; vgl. dazu Moore-Gilbert, Bart J./Stanton, Gareth/Maley, Willy (Hg.), Postcolonial Criticism, London 1997, S. 3. 36 | An anderer Stelle betont Spivak, daß es ihr in diesem Essay in erster Linie um Handlungsmöglichkeiten (»agency«) geht und nicht um Postkolonialismus im allgemeinen, vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty, »Foreword. Upon reading the Companion to ›Postcolonial Studies‹«, in: Schwarz/Ray (Hg.), A companion to postcolonial studies, a.a.O., S. XV-XXII, hier S. XX. Auf diesen Aspekt zielen auch die Arbeiten des Anthropologen Arjun Appadurai zur modernekonstituierenden Funktion von globalen Medien als handlungsgenerierendes und als für das (diasporische) Subjekt sinnstiftendes Imaginarium; vgl. Appadurai, Arjun, Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1997, bes. S. 1-23. 37 | Spivak, Gayatri Chakravorty, Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008, S. 87.
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nicht sprechen«,38 ist im Sinne dieser doppelten Ausschließung aus dem Diskurs zu verstehen. Ebenfalls um Stimmen aus der Peripherie geht es Ende der 1980er Jahre in einem der Gründungstexte der postkolonialen Literaturtheorie: The Empire Writes Back39 von Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin. In diesem Sammelband geht es anhand vornehmlich anglophoner postkolonialer Literaturen aus den ehemaligen Kolonien um die Langlebigkeit und die diskursive Verfaßtheit kolonialer Machtbeziehungen. Die Untersuchungen verfolgen dabei ein doppeltes Ziel: Einerseits werden textimmanent die subversiven literarischen Strategien im Umgang mit kolonialen Machtansprüchen in den Blick genommen und die Texte in Form einer Kanonkritik damit als eigenständige Literaturen der postkolonialen Diaspora aufgewertet. Andererseits werden durch die postkoloniale Perspektive die wissenschaftlichen Ansätze westlicher Philosophie, Linguistik und Literaturtheorie in ihre epistemischen, eurozentristischen Schranken verwiesen und kritisch fortgeschrieben. 40 Eine besonders innovative und durchschlagende Fortschreibung theoretischer Prämissen, die zwar die Idee der diskursiven Konstruiertheit des anderen und die Verwobenheit von Fremd- und Selbstbild aufgreifen, aber noch einen Schritt weiter gehen, wird in den Studien des Literaturwissenschaftlers Homi K. Bhabha betrieben. Bhabha, der neben Said und Spivak der dritte der sogenannten »Holy Trinity of colonial-discourse analysis« 41 der Postcolonial Studies ist, fokussiert in seinem Hauptwerk The Location of Culture42 kulturelle »Misch-Phänomene«, die Langlebigkeit kolonialer Machtverhältnisse und die Möglichkeiten eines dekonstruktivistischen, widerständigen Denkens und Schreibens. Bhabhas Arbeiten sind theoretisch stark beeinflußt von den Cultural Studies, der Psychoanalyse und der französischen Dekonstruktion. Für Bhabha ist daher das dialektische Denken im Kolonialdiskurs gerade in Zeiten der globalen Migration nicht mehr adäquat. Statt der Umkehrung von Machtverhältnissen innerhalb kultureller Differenzen untersucht er die Überschreitungen von Grenzen und die Mischungen, die in historischen Quellen, literarischen Texten und sogar zeitgenössischen Kunstwerken zutage treten. Kulturelle Differenz stellt für Bhabha keine Trennlinie zwischen kolonialen Dichotomien dar, sondern sie befindet sich einerseits als inhärente Ambi38 | Spivak, Can the subaltern speak?, a.a.O., S. 106. 39 | Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen: The Empire Writes Back. Theory and Practice in Post-colonial Literatures, London 1989. Während noch in den Jahrzehnten zuvor wissenschaftliche Untersuchungen literarischer Texte aus den ehemaligen Kolonien in der Forschungslandschaft eine Marginalie, wenn nicht gar eine Modeerscheinung darstellten, wendet sich (auch durch Saids Arbeiten befördert) in den 1980er Jahren das Blatt; vgl. dazu die einleitenden Bemerkungen von Williams, Patrick/Chrisman, Laura (Hg.), Colonial Discourse and Post-colonial Theory. A Reader, New York 1993, S. ix. Vgl. weiterhin die exemplarischen, literaturtheoretischen und textanalytischen Studien von Pratt, Mary Louise, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London 1992 und Hulme, Peter, Colonial Encounters. Europe and the Native Caribbean, 1492-1797, London/New York 1986. 40 | Ashcroft et al., The Empire Writes Back, a.a.O., S. 155ff. 41 | Young, Robert J. C., Colonial desire. Hybridity in Theory, Culture and Race, London 1995, S. 163. 42 | Bhabha, Die Verortung der Kultur, a.a.O.
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valenz innerhalb der vermeintlich homogenen Kulturen und Subjekte selbst und ist andererseits als Zone zwischen ihnen ein weiter Raum von Identifikationen, Subjektpositionierungen und Sinnstiftungen. Hybridität oder Hybridisierung nennt er den Prozeß der kulturellen Differenzkonstruktion, der gerade im Bereich zwischen vermeintlich stabilen kulturellen Binaritäten entsteht, in einer permanenten Dekonstruktion von kolonialistischen Dichotomien besteht und sich durch eine Neukonstruktion (durchaus prekärer) kultureller, kollektiver wie subjektiver Identifizierungen auszeichnet. Kolonial-geprägte Konzeptionen wie Nation, Kultur, Identität, aber auch das wissenschaftliche Schreiben selbst werden aus dieser Warte einer hochkomplexen, fruchtbaren Analyse unterzogen und die Potentiale der Veränderung kolonialer Diskurse jenseits einer in der kolonialen Diskurslogik verharrenden (hegelianischen) Antithese ausgelotet. Die Ablehnung des dialektischen Denkens ist bei Bhabha einerseits Resultat seiner poststrukturalistischen Prägung, andererseits aber auch eine Abwehr kolonialer Denkstrukturen; mit Antor also eine »Ablehnung von binärem Denken als einer selbst dem kolonialen Diskurs verhafteten Form der Konzeptualisierung von Welt«. 43 Zur Beschreibung jener kulturellen Kontaktsituationen und Mischformen entwickelt Bhabha aus seinen Lektüren heraus schillernde Begriffsmetaphern, die für diese postkoloniale Dekonstruktion und die Identifizierung durch den anderen stehen: das »Da-Zwischen«, 44 der »Zwischenraum«, 45 der synonym zu Hybridität funktionierende »Dritte Raum« 46 sowie für die innerhalb jener Differenz-Zone ablaufenden Prozesse einer spezifischen »Übersetzung«, 47 »Verhandlung«48 und nicht zuletzt die scheinbare Angleichung und damit Autoritäten unterlaufende Strategie der »Mimikry«. 49 Jene Zwischenräume und Hybridisierungsphänomene hat auch eine berühmte Stimme aus der Welt der Frankophonie50 im Blick, die mit erheblicher Verspätung Eingang in die (angloamerikanischen) postkolonialen Diskurse findet. Es handelt sich dabei um den antillanischen Literatur- und Kulturtheoretiker und Literaten Edouard Glissant, dessen Interesse einem globalen Konzept von kulturellen Mischformen gilt, das er ausgehend von den spezifischen Kolonialerfahrungen der Antillen entwirft. Glissant bezeichnet kulturelle Hybridisierungen als »Kreolisierung«: ein unvorhersehbarer Prozeß in der Situation des Kulturkontakts, der mit unbekanntem Ausgang zu neuen, anderen Kulturformen und Subjektpositionen führt und gegen den Anfang der 1990er lancierten Begriff der »créolité« in Anschlag gebracht wird.51 Glissant hat dabei stets die karibische Kolonialgeschichte mit ihrer 43 | Antor, »Postkoloniale Studien«, a.a.O., S. 123. 44 | Bhabha, Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 185. 45 | Bhabha, Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 10. 46 | Bhabha, Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 57. 47 | Bhabha, Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 42. 48 | Bhabha, Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 38. 49 | Bhabha, Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 126. 50 | Zur Rezeption postkolonialer Theorie in der Frankophonie vgl. etwa Forsdick, Charles/ Murphy, David (Hg.), Francophone Postcolonial Studies, London 2003; zur postkolonialen Literaturtheorie Moura, Jean-Marc, Littératures francophones et théorie postcoloniale, Paris 2007. 51 | Vgl. Bernabé, Jean/Chamoiseau, Patrick/Confiant, Raphaël, Eloge de la créolité, Paris 1993. Vgl. weiterhin zu transkulturellen Konzepten in den 1980er und 1990er Jahren im
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gewaltsamen Geschichte von Sklaverei, Deportation sowie die Auslöschung der Autochthonen im Blick, wenn er zwei basale, dialektische Kulturmodelle entwirft. Während er die europäischen Kulturen als »cultures ataviques« beschreibt, die sich durch eindeutige, in einem Ursprung wurzelnde Geschichtsschreibung und -erzählung auszeichnen und daraus ihre stabile und die Kolonisierung legitimierende Haltung beziehen, stellen die kolonisierten Kulturen »cultures composites« dar, deren Ursprünge nicht als Genese sondern als »Digenese«, das heißt im Vielfachen und Fragmentarischen, erzählt werden.52 Demgemäß ist auch Glissants Identitätskonzept binär angelegt: Europäische Gesellschaften können eine »identité racine« ausbilden, deren Konzeption von Stabilität, Homogenität und – metaphorisch gesprochen – einer in die Tiefe wurzelnden Selbstkonstruktion geprägt ist. Die antillanischen Kolonisierten hingegen zeichnen sich durch eine »identité rhizome« aus, also durch ein (auf das von Deleuze und Guattari entwickelte Konzept zurückgehendes) identitäres Wurzelgeflecht, das durch eine oberflächliche, weitverzweigte Selbstkonstruktion mit vielen Berührungs- und Überschneidungspunkten gekennzeichnet ist.53 Metaphorisch an die geographische Beschaffenheit der Antillen angelehnt, propagiert er wiederum die archipelische Verfaßtheit der Welt insgesamt, die sich – ähnlich wie jene Inselgruppe – zwar aus einzelnen Bestandteilen formiert, aber immer die Beziehung und Relation zwischen den verschiedenen Kulturen und damit auch zum kulturell ›anderen‹ fokussiert. Aus dieser Idee des Relationalen resultieren nun zwei zentrale Konzepte auf zwei unterschiedlichen Ebenen: Zum einen skizziert Glissant eine »chaos-monde«, die sich durch unvorhersehbare, stets in Prozessen der Kreolisierung verhaftete Merkmale auszeichnet; zum anderen plädiert er für eine spezifische »Poetik der Relation«,54 die nicht nur poetisches und akademisches Schreiben vermischt, sondern auch der Literatur die Aufgabe überträgt, in ihrem fiktionalen Rahmen den Fokus auf kulturelle Relationen und die Formulierung möglicher rhizomatischer Welten zu legen.
2. M E THODOLOGIE DER P OSTCOLONIAL S TUDIES Postkoloniale Analysen sind zwar oftmals literaturwissenschaftlich und sprachphilosophisch geprägt – nicht zuletzt wegen der ›Heimatdisziplinen‹ ihrer großen Denker und Denkerinnen –, ihre Methodologie ist hingegen als sehr heterogen zu bezeichnen. Gleichwohl ist sie, ähnlich wie die Theoriebildung, von Politisierungen geprägt und daher, wie Young es formuliert, als »an interventionist methodology« zu bezeichnen.55 Als eine der zentralen Methoden hat sich in der anglophonen Theoriebildung zunächst der Ansatz der kolonialen Diskursanalyse etabliert. »Colonial discourse analysis«, so führt Antor aus, »untersucht die strukturellen Bezugsrahmen von liHinblick auf die postkoloniale Situation im Maghreb das Werk des Soziologen und Autors Abdélkébir Khatibi, etwa Ders., Maghreb pluriel, Paris 1983. 52 | Vgl. Glissant, Edouard: Traité du Tout-monde. Paris 1997, S. 35ff. 53 | Vgl. Glissant, Edouard, Poétique de la Relation, Paris 1990, bes. S. 23-34. 54 | Glissant, Poétique de la Relation, a.a.O., S. 23. 55 | Young, Postcolonialism, a.a.O., S. 58.
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terarischen und nichtliterarischen historischen Texten und die sozialen Formationen, die Konzepte des anderen hervorbringen. […] Hierbei ist der anti-essentialistisch konstruktivistische Ansatz stets von besonderer Bedeutung«.56 Sara Mills unterscheidet nun die klassische koloniale Diskurstheorie von ihrer postkolonialen Variante – paradigmatisch vertreten durch Bhabha und Spivak –, indem sie ihr eine stärker psychoanalytische Prägung zuschreibt und sie als eine Analyseform beschreibt, die sich darauf konzentriere, »die Wirkungen herauszuarbeiten, die kolonialistische Unternehmungen auf aktuelle soziale Strukturen und ihre diskursiven Formationen haben«.57 In den einzelnen Disziplinen wie in den Literaturwissenschaften, aber auch in der Geschichtswissenschaft, Religionswissenschaft, Ethnologie, Orientalistik, Soziologie, den Afrika- und Asienstudien, Sozialwissenschaften, Area Studies,58 Feminismus- und Gender Studies etc.59 hat die postkoloniale Perspektive zur kritischen Fortschreibung bestehender Methoden geführt. So gibt es etwa im Bereich der Geschichtswissenschaften eine postkoloniale Revision der Diskursanalyse und im besonderen der eurozentristischen, teleologischen Nationalgeschichtsschreibung zugunsten einer Perspektive auf »entangled histories« nach Randeria.60 Weiterhin hat die postkoloniale Theorie in den Sozialwissenschaften eine neuartige Lektüre sozialer Milieus und Bedingungsformen mit sich gebracht;61 in der Anthropologie 56 | Antor, »Postkoloniale Studien«, a.a.O., S. 119. 57 | Mills, Sara, Der Diskurs. Begriff, Theorie, Praxis, Tübingen [u.a.] 2007, S. 115. 58 | Vgl. dazu beispielsweise Appadurai, Modernity at large, Minneapolis 1997, bes. S. 16ff. sowie die Ausführungen im Beitrag von Markus Schroer in diesem Band. 59 | Vgl. Dietze, »Postcolonial theory«, a.a.O., 305f. Die epistemologische Veränderung sowohl der feministischen als auch der postkolonialen Studien durch die wechselseitige Fruchtbarmachung in einem »Postcolonial feminism« erläutern beispielsweise Sunder Rajan, Rajeswari/Park, You-me, »Postcolonial Feminism/Postcolonialism and Feminism«, in: Schwarz/Ray (Hg.), A Companion to Postcolonial Studies, a.a.O., S. 53-71 und für den frankophonen Kontext Lionnet, Françoise, Postcolonial Representations. Women, Literature, Identity, Ithaca/New York 1995. Grundlegend sind in diesem Bereich die Überlegungen von Anne MacClintock zur wechselseitigen Bedingung von Imperialismus und Geschlechterhierarchien; vgl. MacClintock, Anne, Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the colonial Contest, New York 1995. Vgl. weiterhin zu postkolonialen feministischen Studien (auch) im deutschsprachigen Raum den Überblick von Rodríguez, Encarnación Gutiérrez, »Postkolonialismus: Subjektivität, Rassismus und Geschlecht«, in: Ruth Becker/Barbara Budrich (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden 2010, S. 267-275. 60 | Vgl. dazu die grundlegenden Werke von Chakrabarty, Dipesh, Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M. 2010 und Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002; vgl. zum Konzept der »entangled histories« Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini, »Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt«, in: Dies. (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus, a.a.O., S. 9-49, hier S. 17. 61 | Vgl. etwa Gutiérrez Rodríguez, Encarnación/Boatc, Manuela/Costa, Sergio (Hg.): Decolonizing European sociology. Transdisciplinary approaches, Farnham, Surrey 2010 oder Reuter, Julia/Villa, Paula-Irene (Hg.), Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention, Bielefeld 2010.
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und Ethnologie werden im Anschluß an die Writing-Culture-Debatte und im Zuge der postkolonialen Kritik des wissenschaftlichen »othering« alternative Methoden der Feldforschung und Ethnographie entwickelt.62 Im Bereich der Literaturwissenschaft nimmt Literatur in den postkolonialen Studien – ganz im Sinne des (frühen) Foucaultschen Diskursbegriffs – keine gesonderte Stellung im Kolonialdiskurs ein, sondern wird im Zusammenhang mit historiographischen, soziologischen, wirtschaftlichen, politischen oder philosophischen Dokumenten gemeinsam analysiert63 und die Mechanismen der Wissenskonstruktionen und des Ausschlusses werden herausgearbeitet. Ashcroft et al. unterscheiden überdies in ihrer Untersuchung vier Varianten postkolonialer Literaturtheorie: nämlich erstens eine regional-nationale Variante, die die lokalen Partikularismen postkolonialer Literaturen herausarbeitet; zweitens eine »race-basierte« Variante, die literarische Repräsentationen von Erfahrungen rassistischer Praktiken über Nationalliteraturen hinweg in den Mittelpunkt stellt (hier wird beispielhaft das »Black Writing« der afrikanischen Diaspora analysiert); drittens eine (enge) komparatistische Variante, die spezifische historische, sprachliche oder kulturelle Dimensionen über zwei oder mehr postkoloniale Literaturen hinweg untersucht; und schließlich viertens eine umfassendere komparatistische Variante, in der nicht die Differenzen, sondern gerade die Vermischungsphänomene (Hybridität und Synkretismus) in den Blick genommen werden.64 Methodisch resultiert daraus eine (relativ unscharf beschriebene) postkoloniale »reading strategy«, die eine grundsätzliche Kanonkritik und eine subversive, postkoloniale Lektüre von kanonischen Texten, das Aufspüren von durch den Kolonialdiskurs verstummten Figuren, die kritische Revision der Produktionsbedingungen von Literatur sowie die postkoloniale Neubewertung textimmanenter Tropen, Metaphern oder narrativen Strategien wie Ironie umfaßt.65 In der Literatur- und Sprachwissenschaft haben Verbindungen wie postkoloniale Narratologie,66 postkoloniale Schreibweisen und Gattungstheorien,67 intertextuelle Formen wie das »Rewriting« oder »Writing back«,68 oder die von Bhabha 62 | Vgl. dazu exemplarisch Abu-Lughod, Lila, »Writing against culture«, in: Richard G. Fox (Hg.), Recapturing Anthropology. Working in the Present, Santa Fe 1991, S. 137-162. 63 | Vgl. Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, a.a.O., S. 24f. 64 | Vgl. Ashcroft et al., The Empire Writes Back, a.a.O., S. 15ff. 65 | Vgl. Ashcroft et al., The Empire Writes Back, a.a.O., bes. S. 186-192. 66 | Vgl. dazu beispielsweise Birk, Hanne/Neumann, Birgit, »Go-between: Postkoloniale Erzähltheorie«, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002, S. 115-152. 67 | Vgl. beispielsweise Galster, Christin, Hybrides Erzählen und hybride Identität im britischen Roman der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2002. Vgl. zur postkolonialen AutobiographieTheorie etwa Huddart, David Paul, Postcolonial Theory and Autobiography, London 2008 und Richter, Elke, Ich-Entwürfe im hybriden Raum. Das »Algerische Quartett« von Assia Djebar, Frankfurt a.M. 2008; zum Konzept einer transkulturellen, postkolonialen »écriture« vgl. Struve, Karen, Écriture transculturelle beur. Die Beur-Literatur als Laboratorium transkultureller Identitätsfiktionen, Tübingen 2009. 68 | Vgl. zum »writing back«, das schon bei Ashcroft et al. als ein »gegendiskursive[s] Schreiben« charakterisiert wird, Ashcroft et al., The Empire Writes Back, a.a.O., S. 71, und zum postkolonialen »rewriting« Gymnich, Marion, »›Writing back‹ als Paradigma der postkolo-
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vorgeführten »hybridisierenden Lektüren« 69 den Methodenpluralismus entscheidend erweitert. Auch wenn die Methoden nicht immer explizit als solche benannt werden und sich durch ihren dekonstruktivistischen Hintergrund gar jeglicher Reproduzierbarkeit oder Zielführung entziehen, so ist ihnen doch das Anliegen gemein, die Funktionsmechanismen kolonialer Machtverhältnisse in ihrer diskursiven Konstruiertheit offenzulegen und Widerstandspotentiale innerhalb kolonialistischer Diskurse zu erkennen. Diese Simultanität von Kolonialismus und den Widerstand gegen ihn nimmt Edward Said mit einer eigenen Methode ins Visier: der »kontrapunktischen Lektüre«.70
3. E IN B EISPIEL EINER P OSTCOLONIAL-S TUDIES -A NALYSE : E DWARD S AIDS »K ULTUR UND I MPERIALISMUS « Edward W. Said führt in Kultur und Imperialismus 71 anhand von Modellanalysen britischer und französischer kanonischer Romane des 19. und 20. Jahrhunderts vor, wie »alles, was in solchen Werken stumm, nur marginal präsent oder ideologisch verzerrt dargestellt wird«,72 in der Literatur als imperialistische Ausschließung sichtbar wird, wenn es aus einer postkolonialen Perspektive beleuchtet wird. Ausgangspunkt der von Said entwickelten »kontrapunktischen Lektüre« ist, daß der Roman als literarische Form der bürgerlichen Gesellschaft nicht unabhängig vom Imperialismus zu denken ist. Zentral ist dabei Saids diskursanalytisch fundierter Gedanke, daß die Einzelwerke weniger der kreativen Imaginationsfähigkeit des Autors und/oder Lesers entspringen, sondern daß diese als »ästhetische Imaginationen […] in der Geschichtserfahrung« wurzeln.73 Said geht zunächst einmal davon aus, daß es keine homogenen kulturellen Entitäten gibt, vielmehr sind alle Kulturen »zum Teil aufgrund ihres Herrschaftscharakters, ineinander verstrickt; nialen Literatur«, in: Dies./Birgit Neumann/Ansgar Nünning (Hg.), Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur, Trier 2006, S. 71-86. 69 | Hars, Endre: »Hybridität als Denk- und Auslegungsfigur. Homi K. Bhabhas theoretisches Engagement«, in: www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/EHars1.pdf, 2002, Stand: 23.05.2011. 70 | In der interkulturellen Germanistik sowie in der postkolonial orientierten Philosophie gibt es erste terminologische Arbeiten zur Erfassung der Methode sowie zu ihrer Operationalisierbarkeit; vgl. Dunker, Axel, Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, München 2008, Dubiel, Jochen, Dialektik der postkolonialen Hybridität. Die intrakulturelle Überwindung des kolonialen Blicks in der Literatur, Bielefeld 2007 und zu postkolonialen Poetiken vgl. Lubrich, Oliver, Das Schwinden der Differenz. Postkoloniale Poetiken: Alexander von Humboldt, Bram Stoker, Ernst Jünger, Jean Genet, Bielefeld 2009. 71 | Said, Edward W., Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt a.M. 1994 [1993]. 72 | Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 112. Zum mimetischen bzw. referentiellen Zusammenhang von Imperialismus und Roman vgl. das Kapitel »Erzählung und sozialer Raum« in: Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 107-129. 73 | Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 27.
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keine ist vereinzelt und rein, alle sind hybrid, heterogen, hochdifferenziert und nicht monolithisch«.74 Said will das europäische »kulturelle Archiv« in diesem Sinne gerade nicht »als univokes Phänomen […] lesen, sondern kontrapunktisch,« und hier expliziert er seinen methodischen Zugang: »mit dem Bewußtsein der Gleichzeitigkeit der metropolitanischen Geschichte, die erzählt wird, und jener anderen Geschichten, gegen die (und im Verein mit denen) der Herrschaftsdiskurs agiert«.75 Daher müssen auch jene Gleichzeitigkeit von Imperialismus und des Widerstands gegen ihn bzw. die gewaltsamen Ein- und Ausschlußverfahren stets in ihrer Wechselwirkung in den Blick genommen werden.76 Said zeigt in seinen Lektüren des Romans Mansfield Park (1814) von Jane Austen auf, wie die Figurenkonstellationen und die geographischen Raumkonstruktionen davon zeugen, daß der Reichtum der Familie unmittelbar mit der Sklavenarbeit auf den Zuckerplantagen in der Karibik zusammenhängt und damit der Kolonialismus legitimiert wird – so implizit dieser Zusammenhang auch zunächst daherkommen mag. »Meine These ist«, betont Said, »Austen gibt durch die merkwürdige Kombination von Beiläufigkeit und Hervorhebung zu erkennen, daß sie die Bedeutung eines Imperiums für die Situation zu Hause annimmt […]. Austen zufolge sollen wir zu dem Schluß kommen, daß, wie isoliert und abgelegen der englische Landstrich (nämlich Mansfield Park) auch sein mag, er gleichwohl Unterstützung aus Übersee braucht.«77 In Verdis in Ägypten spielender Oper Aida entdeckt Said die imperialistischen Motive und exotistischen und orientalistischen Topoi, wie sie sich auch in den Weltausstellungen der Zeit manifestieren.78 Auch hier liest Said kontrapunktisch diese kanonische Oper, indem er sie als ein »hybrides, radikal unreines Werk« versteht, »das gleichermaßen von der Kulturgeschichte und der historischen Erfahrung der Herrschaft in Übersee zehrt«.79 Said geht noch weiter, indem er anhand der Produktionsbedingungen (Aida war ein ägyptisches Auftragswerk) sowie der musikalischen Strukturen aufzeigt, daß Aida »nicht so sehr ein Werk über als vielmehr der imperialen Herrschaft ist«. 80 Er expliziert, wie hier europäisch-überlegene Versionen und Visionen eines anderen Ägyptens diskursiv untermauert werden. Durch die kontrapunktische Lektüre wird deutlich, daß weder Austens Roman ein von kolonialen Geschicken unabhängiger großer britischer Roman ist, noch Aida eine europäische Oper, die ›unschuldig‹ die Handlung ins antike Ägypten versetzt. Und auch die von Kipling in Indien angesiedelte Romanhandlung in Kim (1901) zeigt, auf welche Weise der Autor einerseits »ein im Kern unangefochtenes Imperium« 81 voraussetzt und orientalisierte Figuren des 74 | Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 30. 75 | Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 92. 76 | Vgl. Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 112. Saids Verständnis von Kultur beruht schon auf dieser Wechselwirkung: »Imperiale Belange als konstitutiv für die Kultur des modernen Westens aufzufassen meint, diese Kultur, wie ich vorgeschlagen habe, aus der Doppelperspektive des antiimperialistischen Widerstands und der proimperialistischen Apologie zu betrachten.« Ebd., S. 111. 77 | Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 140. 78 | Vgl. Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 165f. 79 | Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 169. 80 | Ebd. 81 | Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 193.
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Inders – die sich nicht zuletzt in einer orientalistischen Metaphorik und Rhetorik artikulieren – entwirft und andererseits, wie dieser Roman innerhalb des Dekolonisierungsdiskurses der Zeit zwischen der indischen Kolonie und dem britischen Kolonialherren funktioniert und hier das Thema des Widerstands gegen die Kolonialmacht hervorhebt. 82 Saids Relektüre des Camusschen Œuvre – so auch dessen berühmten Romans L’Étranger (1942) – zielt darauf, Camus weniger als existentialistischen oder antifaschistischen Autor zu lesen, sondern seine Werke »als Subskripte der Auseinandersetzung um Kultur und Imperialismus« 83 zu verstehen. Damit werden die moralischen Fragen, die Camus in seinen Texten aufwirft, nicht allgemein an menschlichen Unzulänglichkeiten oder Selbsterkenntnissen gemessen, sondern vor dem Hintergrund des französischen Kolonialismus in Algerien interpretiert. Sie sind folglich unmittelbar mit dem Imperialismus verbunden und keine universalistischen »Parabeln der condition humaine«.84 Said expliziert diese These zum ersten mit der Frage danach, warum die geographische Situierung der Handlung in Algerien in der Rezeption in einem Maße ignoriert worden ist, als die Verortung gar als Referenz für Frankreich unter der Besatzung durch die Nazis gedeutet worden ist. Diese Situierung geschieht weder zufällig noch unschuldig und fordert laut Said geradezu dazu heraus, Camus' Texte in einen Zusammenhang mit konkret imperialistischen Texten der französisch-algerischen Kolonialgeschichte zu stellen. Nur so kann ein anderes Verständnis der »Intensität« seines Werkes erreicht werden, »mit der sein Werk den französischen Eingriff dort spiegelt, bricht, konsolidiert und wiedergibt.« 85 Zum zweiten weist Said auf die Relevanz der Herkunft der Rezipienten hin und die damit zusammenhängenden Interessenslagen. Während Said zufolge ein europäischer Kritiker die Werke als symptomatisch für ein krisenhaftes französisches, europäisches Bewußtsein erachtet und damit die Referenz auf das zeitgenössische französisch-algerische Kolonialverhältnis ausblendet, weist ein algerischer Leser gerade auf die Verankerung in der langen Eroberungsund Besetzungsgeschichte des Landes hin und liest Camus auch im Zusammenhang mit Werken nach der Unabhängigkeit. 86 Die kontrapunktische Lektüre läßt demnach folgenden Schluß zu: »Und es wäre korrekt, Camus’ Werk als historisch sowohl mit dem französischen Kolonialabenteuer selbst (das er für unwandelbar hält), als auch mit totalem Widerstand gegen die algerische Unabhängigkeit zu sehen.« 87 Damit ist zum dritten die Situierung innerhalb Algeriens keineswegs zu vernachlässigen im Verhältnis zu den stilistischen, sprachlichen und damit literarästhetischen Bezügen zur französischen Literatur.88 Said zeigt damit auf, daß die Geschichte der französischen Kolonialherrschaft konstitutiv den Texten eingeschrieben ist und »Camus' Literatur als Element der französischen, methodisch konstruierten politischen Geographie Algeriens« 89 wirkt. Anhand der kolonialen 82 | Vgl. dazu etwa Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 112f. 83 | Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 240. 84 | Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 244. 85 | Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 243. 86 | Vgl. ebd. 87 | Ebd. 88 | Vgl. Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 243f. 89 | Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 244.
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Landvermessung bzw. spatialen wie personalen Konstruktionen im literarischen Text zeigt Said, wie Camus geradezu den französisch-imperialistischen Diskurs perpetuiert, der mit einer Anspruchshaltung gegenüber der Geographie Algeriens einhergeht90 – und damit keineswegs bar des imperialistischen, kolonialistischen Hintergrunds rezipiert werden kann.
4. W IRKUNGEN UND K RITIK Da die Postcolonial Studies ein kolonialkritisches Projekt darstellen, haben sie nicht nur wichtige Impulse für unterschiedliche geisteswissenschaftliche Disziplinen geliefert, sondern eine derart fruchtbare interdisziplinäre Anschlußfähigkeit an diese bewiesen und eine zwingende wissenschaftliche Selbstkritik herausgefordert, daß Doris Bachmann-Medick gar von einem Postcolonial Turn spricht.91 »Postkolonialismus boomt«, diagnostizieren Reuter und Villa im Hinblick auf die Karriere dieser Perspektive und weisen nicht zuletzt auch auf ihre hochschul- und forschungspolitische Verankerung in Deutschland hin.92 Auch die ›Heimatdisziplinen‹ der Postcolonial Studies, die Literaturwissenschaften, haben durch die postkoloniale Revision zentraler Kategorien wie Kanon, Gattung, Autorschaft und des Text- bzw. Literaturbegriffs wichtige Impulse erhalten. Die neueren Philologien führen engagierte Diskussionen über kulturwissenschaftliche Zugangsweisen zur Literatur(analyse), über Konzepte und Funktionszusammenhänge einer postkolonialen, transkulturell verfaßten Weltliteratur93 und »Literaturen ohne festen Wohnsitz«,94 die sowohl Phänomenen der globalen 90 | Vgl. Said, Kultur und Imperialismus, a.a.O., S. 248f. Said weist im folgenden in Anlehnung an eine Studie von Manuela Simedei auf ein ganzes »Verzeichnis der vielen Vorannahmen über französische Kolonien« hin; vgl. ebd., S. 249f. Der imperialistische Diskurs erschöpft sich nicht nur in der Referenz auf algerische Schauplätze, sondern ist auch innerhalb der französischen Literaturgeschichte (bes. des realistischen Romans) und der Geschichtsschreibung auszumachen; vgl. ebd., S. 252f. 91 | Bachmann-Medick, Doris, »Postcolonial turn«, in: Dies., Cultural turns. Reinbek/Hamburg 2006, S. 184-237. 92 | Reuter, Julia/Villa, Paula-Irene: »Vorwort«, in: Dies. (Hg.), Postkoloniale Soziologie. a.a.O., S. 7-8, hier S. 7. 93 | Vgl. dazu die 2007 lancierte Debatte um eine spezifische »littérature-monde en français«, Le Bris, Michel/Rouaud, Jean (Hg.), Pour une littérature-monde, Paris 2007 sowie Hargreaves, Alec G./Forsdick, Charles/Murphy, David (Hg.), Transnational French Studies. Postcolonialism and Litterature-monde, Liverpool 2011, hier besonders der komparatistische Artikel von Typhaine Leservot »From Weltliteratur to World Literature to LittératureMonde: The history of a Controversial Concept«, in: Hargreaves et al. (Hg.), Transnational French Studies, a.a.O., S. 36-48. Zur Diskussion für den anglophonen Raum vgl. etwa Schulze-Engler, Frank, »Theoretical Perspectives: From Postcolonialism to Transcultural World Literature«, in: Lars Eckstein (Hg.), English Literatures Across the Globe: A Companion, Paderborn 2007, S. 20-32. 94 | Vgl. Ette, Ottmar, ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin 2005.
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Migration der Postmoderne auf soziokultureller Ebene als auch einem kritischen Verständnis von Sprache Rechnung tragen. Gleichwohl ist immer wieder heftige Kritik an den Postcolonial Studies geübt worden, wie erwähnt auch und gerade als selbstreflexiver Auftrag der postkolonialen Studien selbst.95 Die Kritik bezieht sich dabei erstens auf das theoretische Engagement, zweitens auf die westliche Provenienz der theoretischen Implikationen und drittens auf den elitistischen Duktus. Ein erster zentraler Kritikpunkt an den Postcolonial Studies läßt sich aus dem doppelten Standbein in Politik und Theorie ableiten und gilt dem Balanceakt zwischen politisierter Theorie und theoretisierter Politik. Die Kritik gilt meist jenen Arbeiten, die einer Seite stärker zuneigen und damit die andere vernachlässigen. Während also die einen mit einigem Pathos ein universalistisch-humanistisches Konzept vertreten – »Postcolonialism claims the right of all people on this earth to the same material and cultural well-being«,96 so Young – und postkoloniale Studien allein als politisch-emanzipatorisches Projekt im Rahmen von wirtschaftlichen, neokolonialen (Ausbeutungs-)Verhältnissen interpretieren, kaprizieren sich die anderen, wie beispielsweise Bhabha, in ihren Analysen auf die Textualität des Postkolonialismus und verlieren dabei soziale bzw. materialistische Zwänge aus dem Blick. So scheinen diese Arbeiten in ihrem Ansatz und Duktus so komplex und nur noch auf die sprachlichen Repräsentationsmuster abzuheben, daß die »Frage nach der konkreten politischen Funktion postkolonialer Paradigmen und nach deren konkreter Umsetzbarkeit in politisches Handeln« wieder laut gestellt wird.97 Auf dieser Ebene ist exemplarisch auch die Kritik am Hybriditätsbegriff anzusiedeln, wie sie beispielsweise Kien Nghi Ha in der deutschsprachigen postkolonialen Soziologie98 formuliert. In seiner Anklage eines »Hype um Hybridität« verurteilt er die Analysen, die Hybridität als ein multikulturelles, friedliches Miteinander verklären, zu diskursiven Strategien verkürzen und damit entpolitisieren bzw. sogar neokoloniale Machtmechanismen verschleiern.99 Ein zweiter zentraler Kritikpunkt greift die academia selbst an und zwar einerseits im Bereich der wissenschaftlichen Traditionslinien und theoretischen Konzep95 | Vgl. zur Kritik an den postkolonialen Studien beispielsweise Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, a.a.O., S. 111-135 sowie Parry, Benita: »Directions and Dead Ends in Postcolonial Studies«, in: David T. Goldberg/Ato Quayson (Hg.), Relocating Postcolonialism, Oxford et al. 2002, S. 66-81. 96 | Young, Robert J.C, Postcolonialism. A Very Short Introduction, Oxford 2007, S. 2. 97 | Antor, »Postkoloniale Studien«, a.a.O., S. 126. 98 | Vgl. zur postkolonialen Soziologie einführend Reuter/Villa (Hg.), »Provincializing Soziologie. Postkoloniale Theorie als Herausforderung«, in: Dies. (Hg.), Postkoloniale Soziologie. a.a.O., S. 11-46 und bes. Boatc , Manuela/Costa, Sérgio, »Postkoloniale Soziologie: ein Programm«, in: Reuter/Villa (Hg.), Postkoloniale Soziologie, a.a.O., S. 69-90. 99 | Vgl. Ha, Kien Nghi, Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld 2005 sowie Ders., »Postkoloniale Politik als politisches Projekt«, in: Reuter/Villa (Hg.), Postkoloniale Soziologie, a.a.O., S. 259280; zur Kritik am Hybriditätsbegriff aus der Perspektive kritischer »Whiteness«-Forschung vgl. Broeck, Sabine, »White Fatigue, or, Supplement Notes on Hybridity«, in: Joel Kuortti,/ Jopi Nyman (Hg.), Reconstructing Hybridity. Post-Colonial Studies in Transition, Amsterdam 2007, S. 43-58.
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tionen und andererseits im Hinblick auf den Redestandpunkt der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen selbst. So führt die dominant US-amerikanische Verortung100 der Postcolonial Studies u.a. zu der brisanten Frage, ob sich westliche und damit auch kolonial-geprägte Konzepte dafür anbieten, jedwedes kulturelles Phänomen zu analysieren. Diese Kritik zielt auf die Frage, ob nicht grundsätzlich diese Form der wissenschaftlichen Arbeit weiterhin als kolonialer Eurozentrismus zu werten sei, da mit kolonialen Ideen und Kategorien operiert werde und man damit – und dies wäre wiederum eine Zuspitzung der Kritik – einem kolonialen Universalismus aufsäße, der jegliche kulturelle Differenz geradezu nivelliere. Hier regt sich nach Pordzik »Widerstand gegen die kritiklose Übernahme westlich geprägter Denk- und Begriffsmuster« und gegen die Tendenz, »Unterschiede zwischen den Kulturen einzuebnen«.101 Demzufolge wird auch die Ausweitung des Gegenstandsbereichs postkolonialer Analysen auf globale Dimensionen und damit höchst unterschiedliche, mit dem Label Kolonialismus nur schwer zusammenzuhaltende Situationen und Subjektpositionen kritisiert. Ferner spielt die Legitimität und die ›Authentizität‹ des wissenschaftlichen Redestandpunkts eine Rolle. Viele der bedeutenden postkolonialen Theoretiker und Theoretikerinnen warten mit einer multikulturellen Biographie auf (Bhabha und Spivak etwa entstammen indischen Familien; Said wächst in einer arabischen Familie in Jerusalem auf) und beziehen – teils selbst inszeniert, teils durch Fremdzuschreibungen – ihre Legitimität durch eine Art authentisches Sprechen. Gleichzeitig aber sind sie alle Teil einer westlichen Bildungselite, der wiederum erfahrungsbasierte Authentizität geradezu abgesprochen wird. Dieser Elitenstatus und die Orientierung am französischen Poststrukturalismus – und hier besonders an Derrida und Lacan – hat überdies eine scharf kritisierte hochkomplexe Schreibweise in den postkolonialen Analysen zur Folge.102 Die postkolonialen Studien werden immer wieder dafür kritisiert, einen hermetischen, überkomplexen, undurchsichtigen, ja, Machtverhältnisse verschleiernden Ton anzuschlagen. Der Vorwurf einer Gefahr der Selbststilisierung westlich-wissen100 | Vgl. Schwarz, Henry, »Mission Impossible: Introducing Postcolonial Studies in the US Academy«, in: Ders./Ray (Hg.), A companion to postcolonial studies, a.a.O., S. 1-20, zur Geschichte der Postcolonial Studies seine Ausführungen bes. S. 7-15. Vgl. zur Kritik an der westlichen universitären Verortung weiterhin Young, Postcolonialism, a.a.O., S. 65. Es sei an dieser Stelle nochmals betont, daß die postkoloniale Theoriebildung keine anglo-amerikanische Angelegenheit ist, sondern sich aus den verschiedensten, nicht nur frankophonen, Theorien speist und weltweit betrieben wird. Gleichwohl können hier nur die großen Linien nachvollzogen werden, die ohne Zweifel um weitere Studien nicht-westlicher Provenienz ergänzt werden müßten. Vgl. zu postkolonialen Studien im lateinamerikanischen bzw. südostasiatischen Kontext der Latin American Subaltern Studies Group und der South Asian Studies Group etwa Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, a.a.O., S. 26f. 101 | Pordzik, »Kulturwissenschaft und Postcolonial Studies«, a.a.O., S. 228. Hier schließen sich die Überlegungen des »dekolonialen Denkens« im Umkreis von Walter Mignolo an; vgl. exemplarisch Mignolo, Walter D., Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien 2011 [2009] (i.E.). 102 | Vgl. etwa Young 2007, 6f. sowie Loomba, die die Heterogenität postkolonialer Theorie, deren Interdisziplinarität und dem hermetischen »jargon« zuschreibt; Loomba, Colonialism/ Postcolonialism, a.a.O., S. xii.
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schaftlicher Überlegenheit geht dabei einher mit der Kritik an der hermetischen, ausschließenden Wirkungsweise jener Texte, die Kritikern unwissenschaftlich, elitistisch, eklektizistisch und idiosynkratisch anmutet. 103 Doch trotz – oder gerade wegen – der immanenten wie von außen herangetragenen Kritik an den Postcolonial Studies sind diese für die aktuellen geisteswissenschaftlichen Arbeiten ein wichtiger kritischer Prüfstein geworden. Sie haben dazu geführt, daß der Umgang mit dem ›anderen‹ in seiner historischen wie zeitgenössischen Situation zu reflektieren ist – und dies nicht nur auf einer abstrakten, wissenschaftlichen Ebene, sondern in seiner praktisch-konkreten Lebensrelevanz. Die Ausweitung der Gegenstandsbereiche, chronologisch gesehen von Kolonialisierungsphänomenen avant la lettre bis zur Gegenwart, topographisch gesehen auf die gesamte Welt, in ihrer diskursiv-medialen Ausgestaltung in Form von historiographischen Texten mit hohem Authentizitäts- und Referenzanspruch bis hin zu virtuellen Kunstwerken mit komplexen Fiktionalisierungs- und Transmedialisierungsverfahren, macht eine inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit unter selbstkritischen Vorzeichen unabdingbar. Grundsätzlich sind »erhöhte Interdisziplinarität, Überwindung noch vorhandener Binarismen, Überbrückung des nur vermeintlichen Konfliktes zwischen Universalismus und Partikularismus, Überwindung neuer postkolonialer Zentrismen wie beispielsweise einer allzu einseitigen Konzentration auf das Konzept des Kolonialismus, Ergänzung der Paradigmen von Inter- und Multikulturalität durch das der Transkulturalität, die Auseinandersetzung mit Globalisierung mit und Glokalisierung nur einige der wichtigsten Perspektiven für zukünftige Entwicklungen in den postkolonialen Studien«.104
Die Frage nach der Relevanz der Postcolonial Studies findet ihre Antwort demnach in ihrem theoretischen Engagement: kritische Fragen zu stellen, die das Verhältnis zwischen dem vermeintlich ›Eigenen‹ und dem Fremden und ›anderen‹ und die Deutungshoheit darüber immer wieder neu ausloten.
103 | Vgl. etwa zum wissenschaftlichen Stil von Bhabha die Kritik von Bart Moore-Gilbert, »Homi Bhabha: ›the Babelian Performance‹«, in: Ders., Postcolonial theory. Contexts, practices, politics, London 1997, S. 114-151. 104 | Antor, »Postkoloniale Studien«, a.a.O., S. 129.
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Governmentality Studies Die Regierung der Gesellschaft im Spannungsfeld von Ökonomie, Staat und Subjekt Lars Gertenbach
Dem Mensch der Moderne ist das Regiert-Werden und die statistische Durchdringung seiner Existenz zur Selbstverständlichkeit geworden. In keiner anderen Gesellschaft sind die Maschen der Macht so eng geknüpft, die Techniken der Einwirkung auf die Bevölkerung so zahlreich und diffizil. Zu keiner anderen Zeit waren derartig vielfältige Wissenschaften, Organisationen und Institutionen damit beschäftigt, individuelles Verhalten zu erfassen, zu steuern, zu normieren und zu archivieren. Die wesentlichen Strukturveränderungen zu Beginn der Moderne kulminieren in dieser Intensivierung der Machtbeziehungen, in der Recodierung der Art und Weise des Regierens von Menschen. So verändert sich – zeitgleich mit der Geburt des modernen Freiheitsverständnisses – die Art der Steuerung menschlichen Verhaltens. Diese Thesen umreißen einige Grundüberzeugungen der Arbeiten Michel Foucaults. Sie finden sich gebündelt vor allem in jenen Forschungen der 1970er Jahre, die den Nexus von Macht und Subjektivität zum Gegenstand haben. Nach den diskursanalytischen Schriften der 1960er Jahre wendet sich Foucault damit Themenbereichen zu, die gegenwärtig wohl zu den wirkungsreichsten in der Rezeption des Foucaultschen Denkens in den Kultur- und Sozialwissenschaften zählen. Insbesondere ein Begriff hat hierbei Prominenz erlangt und ist zur Grundlage einer eigenen Forschungsdisziplin geworden – der der Gouvernementalität. Durch die an Foucault anschließenden Governmentality Studies hat sich dieser Begriff neben der Diskursanalyse und (neuerdings) der Dispositivanalyse als höchst anschlußfähiges Konzept für die sozialwissenschaftliche Forschung erwiesen und zahlreiche empirische Studien angeleitet. Die Perspektive, die damit umschlossen ist, umspannt ein weites Spektrum – von Untersuchungen zum Staatsverständnis der Neuzeit bis zu sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Sozialtechnologien und von pädagogischer und unternehmerischer Ratgeberliteratur bis zum neoliberalen Selbstverantwortungsdiskurs der Gegenwart. Im Zentrum stehen im allgemeinen Fragen des Regierens in einer weiten Bedeutung des Begriffs. Durch die Nähe zu Foucault soll zunächst die Genese dieses Begriffs über dessen Vorlesungen zur »Geschichte der Gouvernementalität« skizziert werden (1.). Da das Konzept der Gouvernementalität bei Foucault eine Schlüsselstellung in-
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nerhalb der Analytik der Macht einerseits und der Beschäftigung mit Fragen der Subjektivität, der Selbstsorge und des Selbstverhältnisses einnimmt, wird diese Stellung rekonstruiert (2.), bevor der Fokus auf die konkreteren inhaltlichen und methodischen Grundannahmen gelenkt werden kann (3.). Werden hierbei schon einige zentrale Forschungsergebnisse angesprochen, so stehen daran anschließend typische Untersuchungsgegenstände der Governmentality Studies im Zentrum (4.). Abschließend wird es um eine kritische Würdigung gehen, die insbesondere gegenwärtige Problemlagen und Forschungsdesiderata in den Blick nimmt (5.). Gleichwohl sich der Begriff der Governmentality Studies für diese durchaus heterogene Gruppe von Forschungen weitgehend durchgesetzt hat, ist diese Bezeichnung innerhalb der Studien selbst durchaus umstritten. So hat vor allem Thomas Osborne unter Rückgriff auf die Prämissen der Foucaultschen Analytik der Macht vorgeschlagen, statt von Governmentality Studies vielmehr von Studies of Governmentality zu sprechen, um einer Soziologisierung und Ontologisierung der Forschungsperspektive vorzubeugen. 1 Unbestritten ist jedoch, daß sich die Forschungen, die sich auf das Konzept der Gouvernementalität stützen, als innovativer und heuristisch anschlußfähiger Ansatz zu durchaus vielfältigen Fragestellungen und Problemen gegenwärtiger Gesellschaften erwiesen haben. Der Begriff selbst ist dabei ohne Zweifel ein sperriges und mitunter »häßliches Wort«.2 Offenkundig ist er aber – dennoch oder gerade deshalb – schillernd und unbestimmt genug, um für weitere Überlegungen anschlußfähig zu sein. Die gegenwärtige Rezeption dieses Konzepts läßt vermuten, daß es nicht nur eine gewisse Innovationskraft besitzt, sondern auch eine Leerstelle bestehender Forschungskonzepte füllt, indem hiermit Phänomene in den Blick genommen werden können, die bisher entweder weitgehend unbeachtet waren oder mit fragwürdigen Konzepten bearbeitet wurden.
1. D AS P ROBLEM DER R EGIERUNG – Z UR G ENESE DES G OUVERNEMENTALITÄTS -K ONZEP TS BEI F OUCAULT Zurückführen läßt sich der Begriff der Gouvernementalität auf die Vorlesungen Foucaults am Collège de France aus den Jahren 1978/79. Zu dieser Zeit besitzt die Frage des Regierens für Foucault eine unmittelbare zeitgeschichtliche Brisanz. Angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen der 1970er und 1980er Jahre spricht er von einem epochalen Umbruch und einer »großen krisenhaften Neueinschätzung des Problems der Regierung«.3 Von dieser Krise betroffen sei die »Gesamtheit von Prozeduren, Techniken, Methoden, welche die Lenkung der Menschen
1 | Osborne, Thomas, »Techniken und Subjekte. Von den ›Governmentality Studies‹ zu den ›Studies of Governmentality‹«, in: Ramón Reichert, Governmentality Studies. Analysen liberal-demokratischer Gesellschaften im Anschluß an Michel Foucault, Münster 2004, S. 33-42. 2 | Foucault, Michel, Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979, Frankfurt a.M. 2004, S. 173. 3 | Foucault, Michel, »Gespräch mit Ducio Trombadori«, in: Ders.: Schriften in vier Bänden (Dits et Ecrits). Band IV. 1980-1988, Frankfurt a.M. 2005, S. 51-119, S. 117.
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untereinander gewährleisten«. 4 Vor diesem Hintergrund beginnt Foucault sich in seinen Vorlesungen des Jahres 1978 zunächst mit Fragen der Staatlichkeit und Techniken des Regierens zu beschäftigen. Die erste Nennung des Begriffs der Gouvernementalität findet sich in der Sitzung vom 1. Februar 1978 – in einer Vorlesung, in der er die Entwicklung des modernen Staatsverständnisses und die Genese der Politischen Ökonomie beschreibt.5 Im weiteren Verlauf der Vorlesungen verschiebt sich jedoch die Bedeutung des Begriffs, so daß Foucault in seinen Vorlesungen – und außerhalb dieser taucht der Begriff nur selten auf – begrifflich keineswegs kohärent ist.6 Bei genauerem Blick lassen sich dort drei begriffliche Verwendungsweisen rekonstruieren, die auf ihre Weise auch in den Arbeiten der Governmentality Studies wieder anzutreffen sind: Erstens bezeichnet Foucault mit Gouvernementalität eine bestimmte historische Konstellation zu Beginn der staatlichen Moderne. Hier verwendet er den Begriff in Kontrast zum Modell der Souveränität einerseits und zu dem der Disziplin andererseits – Konzepte, mit denen Foucault selbst vielfältig gearbeitet hat und die er zumindest im Fall der Disziplin als Beschreibungen der Moderne zuvor noch akzeptiert hatte. Zweitens koppelt Foucault den Begriff der Gouvernementalität mit dem liberalen – bzw. im zweiten Band der Vorlesungen neoliberalen – Staats- und Marktverständnis und dessen spezifischem Projekt einer Regierung der Gesellschaft. Im Anschluß hieran verwendet er drittens den Begriff – vor allem im zweiten Vorlesungszyklus – zur mikroanalytischen Beschreibung von Arten und Weisen des Regierens in einem umfassenderen und gerade nicht mit staatlichen Instanzen und Instrumentarien deckungsgleichen Sinn. Im erstgenannten Fall dient der Begriff Foucault dazu, das im 18. Jahrhundert auftauchende Machtsystem zu benennen, das »als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat«.7 Innerhalb des Spektrums der Machtdispositive Souveränität, Disziplin und Regierung bildet es zugleich die relative Dominanz des letzten ab, wobei es keineswegs für den Wegfall oder die Ersetzung der anderen beiden steht.8 Der Begriff profiliert sich hier zunächst in dieser historischen Abgrenzung und ist Ausdruck des Versuchs, einen Namen für diese neuartige Konstellation zu finden. Foucault verfolgt hier die Genese des modernen Staates, der sich darüber auszeichnet, daß er nicht mehr nur als territoriale Verwaltungs- und Herrschaftsinstanz auftritt, sondern zugleich über die Erfindung der Biopolitik das Leben der Individuen reguliert und seinen wesentlichen Einwirkungsbereich in der Kategorie der Bevölkerung findet. 9 Während Foucault
4 | Ebd., S. 116. 5 | Foucault, Michel, Geschichte der Gouvernementalität II, a.a.O., S. 162. 6 | Dennoch können die rückläufigen Nennungen des Begriffs nicht zwingend als Indikator für ein Verschwinden dieser Problematik gedeutet werden. In weiteren Texten der 1980er Jahre spricht Foucault zumeist vom Problem der »Regierung« und weniger von »Gouvernementalität«. 7 | Foucault, Michel, Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, Frankfurt a.M. 2004, S. 161. 8 | Ebd., S. 161f. 9 | Die Differenz zwischen diesen beiden Staatsmodellen bezieht Foucault auf den Unterschied Territorium/Bevölkerung. Die Bevölkerung wird »von diesem Moment an nicht vom
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hier noch vom »Zeitalter der Gouvernementalität« 10 spricht, sind die anderen beiden Verwendungsweisen demgegenüber weniger historisch-epochal ausgerichtet. Vermittelt über die Auseinandersetzung mit Liberalismus und Neoliberalismus dient der Begriff Foucault im Laufe der weiteren Vorlesungssitzungen immer mehr als allgemeines analytisches Schema. Als Bezeichnung der »Art und Weise, mit der man das Verhalten der Menschen steuert«, 11 entwickelt er sich zu einem Raster, mit dem unterschiedlichste Gegenstände erschlossen werden können. In diese Richtung weist bereits die Formulierung Foucaults, daß die »Verfahrensweisen der Gouvernementalität nicht per definitionem auf einen bestimmten Bereich beschränkt«12 sind. Die Verschiebung des Begriffs vollzieht sich bei Foucault parallel zur Auseinandersetzung mit liberalen Formen des Regierens, die eng mit der Herausbildung der Politischen Ökonomie als eigener Wissensform verknüpft sind. »Gouvernementalität« bezeichnet hier nun eine spezifische Form von Macht, die konstitutiv mit einem Moment von Freiheit – etwa des Marktes oder der Individuen – verbunden ist und gerade hierüber auf das Verhalten von Subjekten einwirkt. Diese Form der Macht funktioniert weder als unmittelbare Steuerung noch über Abrichtung und Normierung; sie ist nicht identisch mit dem von Foucault in Überwachen und Strafen beschriebenen Disziplinarmodell. Die Operationsweisen der Gouvernementalität sind vielmehr indirekt und mittelbar – es handelt sich um eine ökonomische Form der Macht.13 Sie wirkt auf den Handlungsbereich und die Umgebung der Individuen ein, um diese zu bestimmtem Verhalten anzuleiten und zu führen. Verweisen diese Bestimmungen auf ein Interesse an allgemeinen Fragestellungen des Regierens, so machen sie zugleich deutlich, daß Foucault sich nicht auf die übliche Begriffsverwendung bezieht. Regieren gilt hier nicht als Tätigkeit des politischen Systems, das heißt als institutionell verankerte und staatlich gebundene Ausübung von Herrschaftsmacht. Ebensowenig ist der Begriff auf bestimmte Akteure oder Trägerschaften von Amtsmacht im Sinne Max Webers bezogen. Unter Rückgriff auf die sehr weite Bedeutung, die der Begriff noch zu Beginn des modernen Regierungsdenkens im 17. Jahrhundert innehatte, werden hiermit von Foucault zunächst all jene Prozeduren und Techniken bezeichnet, welche steuernd auf das menschliche Verhalten einwirken. Regieren verweist so auf eine Ausübung von Macht, die weder mit unmittelbarer Herrschaft oder mit Befehlsgewalt gleichzusetzen ist noch einer disziplinären Normierung, also der Aus- und Abrichtung an einer vorgeschriebenen Norm, entspricht. Stattdessen zielt der Begriff allgemein auf jene »Institutionen und Praktiken, mittels deren man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung«. 14 Damit löst sich dieses Konzept von einer vorrangigen Lokalisierung in den Staatsapparaten und der Engführung auf die Ausübung der politischen Regierungsgewalt. Es integriert nicht nur zahlreiche zwischen-, sub- und transstaatliche Akteure, sondern verweist vor allem auf vielfäljuridisch-politischen Begriff des Untertanen aus wahrgenommen […], sondern als eine Art technisch-politisches Objekt einer Verwaltung oder einer Regierung«. Ebd., S. 108. 10 | Ebd., S. 164. 11 | Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II, a.a.O., S. 261. 12 | Ebd. 13 | Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I, a.a.O., S. 144. 14 | Foucault, »Gespräch mit Ducio Trombadori«, a.a.O., S. 116.
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tige Kreuzungspunkte von Machtverhältnissen, in denen überhaupt erst konkrete Handlungsweisen, bestimmte Dispositionen und Subjektivitäten erzeugt werden. So ist Regieren »nicht dasselbe wie ›herrschen‹, nicht dasselbe wie ›kommandieren‹ oder ›befehlen‹, […] nicht dasselbe […] wie Souverän sein, Lehnsherr sein, wie Landesherr sein, Richter sein, General sein, Eigentümer sein, Herr sein, Professor sein«.15 Es findet seinen spezifischen Ausdruck vielmehr im Einwirken auf den Handlungsbereich der Subjekte und in der Formung und Gestaltung bestimmter Formen von Subjektivität. In diesem mittelbaren und »weicheren« Sinn der Führung und Lenkung menschlichen Verhaltens spricht Foucault statt von Gouvernementalität später oft auch allgemein von einer »Kunst des Regierens«. 16 In dieser Konnotation wird auch deutlich, daß der Begriff nicht – wie in der anfänglichen Rezeption zumeist unterstellt – eine Kombination der Begriffe »gouverner« und »mentalité« ist. Eine solche Interpretation legt nahe, daß Foucault den Fokus seiner Überlegungen auf die praktische Umsetzung von Wissensregimen bzw. (regierungs-)technische Umsetzung einer bestimmten Denkweise legt. Da sich der Begriff vom französischen »gouvernemental« – die Regierung betreffend – herleitet, ist er eher als »Art und Weise des Regierens« zu übersetzen. 17 Darüber hinaus ermöglicht es die Substantivierung von »gouvernemental« zu »gouvernementalité«, den Begriff als Gegenkonzept zu »souveraineté« zu verwenden und als dritten Typus von Macht neben Souveränität und Disziplin zu stellen.
2. G OUVERNEMENTALITÄT ALS S CHARNIER Z WISCHEN M ACHT, W ISSEN UND S UBJEK TIVITÄT Nicht selten wird Foucault als Theoretiker der Disziplinargesellschaft rezipiert. Ihm selbst gebührt daran nicht wenig Anteil. Insbesondere in seinen Schriften aus der Mitte der 1970er Jahre scheint er eine solche Annahme zu bestätigen. Mit dem Konzept der Gouvernementalität wird eine solche Lesart jedoch fragwürdig.18 Foucault relativiert nun nicht nur das Modell der Disziplin, er reformuliert auch die vorher verwendete Konzeption der Macht. Zielte die Verwendung des Begriffs der Gouvernementalität bei Foucault zunächst darauf, sich noch einmal deutlich vom gängigen Verständnis von Macht zu distanzieren, so stellt er nun auch seine vorherigen Arbeiten in ein anderes Licht.19 Die zu allgemeine Redeweise von den 15 | Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I, a.a.O., S. 173f. 16 | Es gilt zu beachten, daß der Begriff der »Regierungskunst« von Foucault zunächst vornehmlich auf die theoretische Auseinandersetzung und Diskussion über das »richtige« Regieren zu Beginn der Moderne bezogen ist. Er subsumiert hierunter vor allem die Diskussionen seit Machiavelli über das ›richtige Regieren‹. Erst im Anschluß daran wird das Konzept von Foucault schließlich auch allgemein verwendet. 17 | Vgl. Sennelart, Michel, »Situierung der Vorlesungen«, in: Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I, a.a.O. 2004, S. 527-571, S. 564. 18 | Vgl. Lemke, Thomas, »Andere Affirmationen. Gesellschaftsanalyse und Kritik im Postfordismus«, in: Axel Honneth/Martin Saar, Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt a.M. 2003, S. 259-274. 19 | Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I, a.a.O., S. 78.
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Machttechniken hat ihn – so gibt er zu dieser Zeit selbst freimütig zu 20 – in eine theoretische Sackgasse geführt, in der einerseits das Subjekt auf eine Art passiven Durchgangspunkts von Machtverhältnissen reduziert wird und andererseits nur schwer zwischen verschiedenen Formen der Macht unterschieden werden kann. 21 Zwar darf diese Selbstkritik nicht als generelle Distanzierung von der Analytik der Macht verstanden werden; sie erzwingt jedoch deren Reformulierung. Entsprechend nimmt das Konzept der Gouvernementalität bei Foucault eine Vermittlungsposition ein. Zunächst fungiert es vor allem als Scharnier zwischen Macht und Subjektivität, da Techniken der Macht nun ausdrücklicher mit Praktiken und Technologien des Selbst verknüpft werden. Neben einer abschließenden Kritik juridischer oder normativer Machtkonzeptionen dient es so zugleich der Zurückweisung eines essentialistischen Subjektbegriffs. Der Begriff des Regierens wird so in die Analytik der Macht integriert und als eine bestimmte Art der Machtausübung präzisiert, die gerade nicht die Form einer herrschaftlichen Verfügung über andere annimmt. Diese Begriffsverwendung ermöglicht es Foucault nun auch, deutlicher zwischen Macht und Herrschaft zu unterscheiden. Macht gilt fortan eher als Bezeichnung für dynamische Kräfterelationen, während diejenigen Strukturen, die nicht über ein Mindestmaß an Freiheit und Beweglichkeit verfügen, von Foucault mit dem Begriff der Herrschaft versehen werden.22 Infolgedessen sind Macht und Freiheit hier nicht als Gegensätze konzipiert: Weder verweist das Vorhandensein von Macht auf Unfreiheit, noch kann Freiheit als Abwesenheit von Macht verstanden werden. Im Gegenteil findet man Macht nach Foucault nur dort, wo auch ein Maß an Freiheit existiert, sich dieser zu entziehen, entgegenzusetzen oder wiederum auf sie einzuwirken. Entsprechend findet dieses Machtkonzept seinen typischen Ausdruck gerade nicht darin, »den eigenen Willen auch gegen Widerstreben« durchsetzen zu können, wie es in der klassischen Machtdefinition bei Max Weber heißt.23 Innerhalb dieser nun reformulierten Konstellation nimmt das Konzept der Regierung eine Zwischenstellung ein, denn »zwischen den Spielen der Macht und den Zuständen der Herrschaft gibt es die Regierungstechnologien«.24 Macht und Freiheit sind jedoch auch hier ineinander verschränkt, da der typische Fall der Machtausübung in den Regierungstech20 | Foucault, Michel, »Das Spiel des Michel Foucault«, in: Ders.: Schriften in vier Bänden (Dits et Ecrits). Band III. 1976-1979, Frankfurt a.M. 2003, S. 391-429, S. 407. 21 | Vor allem in der deutschsprachigen Rezeption der Schriften Foucaults wurde dieses theoretische Problem darüber hinaus als ein normatives begriffen, da die Abkopplung des Machtbegriffs von dem der Legitimation es unmöglich mache, zwischen ›besseren‹ und ›schlechteren‹ bzw. ›gerechten‹ und ›ungerechfertigten‹ Machtverhältnissen zu unterscheiden. Auch wenn Foucault eine solche Lesart durch seine Konzeption des Machtbegriffs von Grund auf umgehen wollte, ist sie ein Dauerthema der Rezeption geblieben und wird bis heute vor allem von Vertretern der neueren Kritischen Theorie gegen Foucault eingewandt. 22 | Foucault, Michel, »Subjekt und Macht«, in: Ders.: Schriften in vier Bänden (Dits et Ecrits). Band IV. 1980-1988, Frankfurt a.M. 2005, S. 269-294. 23 | Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1980, S. 28. 24 | Foucault, Michel, »Freiheit und Selbstsorge. Gespräch mit Michel Foucault am 20. Januar 1984«, in: Michel Foucault/Helmut Becker, Freiheit und Selbstsorge, Frankfurt a.M. 1985, S. 26.
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nologien und -programmen, die Foucault untersucht, eine Machtausübung über und durch Freiheit ist. Es ist eine Form der Macht, die nicht direkt und befehlend wirkt, sondern indirekt und vermittelt, nicht über strikt festgesetzte Normen, sondern über Wahrscheinlichkeiten. Anstatt – wie die disziplinäre Macht – bestimmte Handlungen direkt und autoritär vorzuschreiben, werden bestimmte Verhaltensformen wahrscheinlicher, bestimmte Äußerungen opportuner gemacht, so daß den Subjekten durch Techniken der Verhaltensführung ein bestimmtes Handeln gewissermaßen ›nahegelegt‹ wird. Die allgemeine Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft untersteht bei Foucault auch dem Motiv, den Machtbegriff ein Stück weit von Fragen der Legitimität zu entkoppeln. Denn im Gegensatz zu Perspektiven, die – wie etwa die von Habermas – in den Begriff der Macht »von vornherein die Perspektive der Legitimation«25 integrieren, verknüpft Foucault im Anschluß an Nietzsche das Konzept der Macht vielmehr mit dem des Wissens – auch um die Untersuchung der Wirkungsweisen und Effekte von Machtverhältnissen nicht von Grund auf durch normative Vorüberlegungen analytisch einzuschränken. Im Zentrum der Untersuchungen steht somit weniger die Frage, ob bestimmte Machtverhältnisse gerechtfertigt oder andere besser sind – auch wenn das Moment der Kritik für Foucault eine bedeutende Rolle einnimmt –, sondern vielmehr wie Macht in der jeweiligen Situation und im jeweiligen Feld konkret funktioniert, welche Wirkungen sie hervorruft und wie Machttechniken im Zusammenspiel mit Wissensformen je konkrete und historisch unterschiedliche Formen der Subjektivität erzeugen bzw. begünstigen. Während Foucault in Überwachen und Strafen die Herausbildung des produktiven, gelehrigen und arbeitsamen Disziplinarsubjekts beschreibt, fragt er in den Vorlesungen zur »Geschichte der Gouvernementalität« nun etwa danach, wie über spezifische Regierungsweisen Subjekte zu unternehmerischem, ökonomischem und kreativem Handeln angeleitet werden.26 Mit der Reformulierung der Analytik der Macht durch das Konzept der Gouvernementalität richtet sich der Blick Foucaults also noch deutlicher auf das Zusammenspiel von Macht, Wissen und Subjektivität. Im Fokus stehen die Art der Einwirkung auf einen zu regierenden Gegenstand, die Konstituierung von Wissens- und Objektbereichen sowie die hierdurch bewirkte Fremd- und Selbstführung von Subjekten. Formen des Regierens werden dabei insbesondere auf zwei Aspekte hin befragt: auf Elemente des Wissens und die in den jeweiligen Machttechniken enthaltenen Rationalitäten. Denn um regieren, einwirken oder erziehen zu können, bedarf es mehr als nur eines vielfältigen Wissens über diesen Objektbereich, es bedarf auch einer bestimmten Rationalität des Eingriffs. Eine zentrale These Foucaults ist es aber, daß weder derartiges Wissen noch solche Rationalitäten unabhängig von Machtausübung und Herrschaftstechnologien sind. Vermeintlich neutrales und objektives Wissen beinhaltet nicht nur immer schon einen Eingriff in den Objektbereich, es konstituiert diesen als Gegenstand des Wissens mit. Derartige Objektbereiche besitzen keine natürliche Existenz, derzufolge sie bereits außerhalb bestimmter Macht- und Wissensverhältnisse als gegeben vorausgesetzt werden könnten. Sie werden vielmehr erst innerhalb dieser erzeugt und dort als regierbare und zu regierende Objekte konstituiert. 25 | Foucault, Michel, Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 32. 26 | Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II, a.a.O., S. 313.
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In diesem Sinne ist der von den Governmentality Studies vielfach verwendete Begriff der Rationalität weder auf ein handelndes Subjekt oder einen konkreten Akteur bezogen noch als spezifischer Typus von Vernunft zu verstehen. Er bezeichnet eher die inhärente Logik und innere Kohärenz einer bestimmten Machttechnologie. Foucault spricht daher von »Regimen der Rationalität«, die sich »in Praktiken oder Systeme von Praktiken niederschlagen«.27 Sie sorgen nicht nur für eine bestimmte innere Kohärenz der Praktiken, sondern auch dafür, die Realität dem Kalkül und der Bearbeitung in einer bestimmten Weise zugänglich zu machen. 28
3. I NHALTLICHE UND ME THODISCHE P R ÄMISSEN DER G OVERNMENTALIT Y S TUDIES Die ersten Studien, die sich dem von Foucault skizzierten Problem der Regierung widmen, entstammen seinem unmittelbaren Forschungsumfeld und werden von Teilnehmern seines Seminars am Collége de France umgesetzt. Während Foucault in seinen Vorlesungen von der Genese der modernen Staatlichkeit im 18. Jahrhundert direkt zur Geburt des neoliberalen Regierungsprojektes in der Mitte des 20. Jahrhunderts übergeht, konzentrieren sich die Studien seiner Schüler zunächst auf die von Foucault ausgesparte ›zwischenliberale‹ Phase des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Gegenstand ihrer Rekonstruktion ist die »Erfindung des Sozialen«, die sie unter anderem anhand der »sozialen Frage«, 29 der Geburt der Sozial- und Gesundheitspolitik,30 des Aufkommens der Versicherungstechnologie31 oder der Regierung und Kontrolle der Armut im 19. Jahrhundert untersuchen.32 Damit schließen sie eine zentrale Leerstelle innerhalb der Foucaultschen Genealogie des Regierens. Doch auch wenn ihr Blick auf zahlreiche und vielfältige Regierungstechnologien gerichtet ist, bildet die Staatlichkeit des Regierens noch den zentralen Fluchtpunkt dieser Untersuchungen. Mit der weiteren Rezeption des Konzepts in den 1990er Jahren, die zunächst vor allem im englischsprachigen Raum stattfindet und nun über den unmittelbaren Kreis der Schülerinnen und Schüler Foucaults hinausgeht, verschiebt sich dann ein Stück weit die Analyserichtung.33 Gegenüber der genealogisch-histori27 | Foucault, Michel, »Diskussion vom 20. Mai 1978«, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV, 1980-1988, Frankfurt a.M. 2005, S. 25-43, S. 33. 28 | Vgl. Miller, Peter/Rose, Nikolas, Governing the Present. Administering Economic, Social and Personal Life, 2008, S. 15f. 29 | Vgl. Donzelot, Jacques, L’invention du social. Essai sur le déclin des passions politiques, Paris 1984. 30 | Vgl. Defert, Daniel, »Popular Life and Insurance Technology«, in: Graham Burchell/Colin Gordon/Peter Miller (Hg.), The Foucault Effect. Studies in Governementality, Hemel Hempstead 1991, S. 211-233. 31 | Ewald, François, Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M. 1993. 32 | Procacci, Giovanna, Gouverner la misère. La question sociale en France 1789-1848, Paris 1993. 33 | Für einen Überblick über die Rezeptionsgeschichte im englisch- und französischsprachigen Bereich vgl. Donzelot, Jacques/Gordon, Colin, »Governing Liberal Societies. The Fou-
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schen Ausrichtung und der Konzentration auf epochale Umbrüche des Regierens der früheren Arbeiten richtet sich der Blick nunmehr auf zeitgenössische gesellschaftliche Veränderungen und damit auch immer deutlicher auf eine Auseinandersetzung mit neoliberalen Formen des Regierens. Zudem arbeiten diese Konzepte nun oftmals empirischer, feldspezifischer und vor allem mikroanalytischer. So geht es vielen neueren Studien weniger um den Ursprung oder die Grundstruktur des modernen Regierungsdenkens, sondern um die Beschreibung aktueller Machtverhältnisse, die als grundlegende Veränderung der Art und Weise des Regierens und Regierbarmachens von Menschen begriffen werden. Trotz gewisser Differenzen in den Untersuchungsobjekten bleibt die Anknüpfung an Foucault für diese Forschungsrichtung in methodischer und konzeptioneller Hinsicht aber charakteristisch. Im folgenden sollen daher einige methodische Punkte dargestellt werden, die als Grundentscheidungen darüber verstanden werden können, wie die zu untersuchenden Phänomene in den Blick genommen werden sollen. (1) Einen besonderen Stellenwert nehmen die Prämissen der foucaultschen Analytik der Macht ein. Die Governmentality Studies bauen auf einem Machtbegriff auf, der Macht von ihren Wirkungen und Kräften her beschreibt – Macht gilt als nicht als unterdrückende, sondern produktive Instanz der Gestaltung von Wirklichkeit, sie »produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale«. 34 Es wird analysiert, wie Macht-/Wissenskomplexe die Realität bearbeiten und als Realität überhaupt erzeugen. So verweist François Ewald in seiner Studie zur Kalkulation von Risiken und zur Logik des Versicherungskalküls etwa darauf, daß Risiken nicht als objektive, »reale« Größen behandelt werden können, sondern als Instanzen der Bearbeitung und Modellierung von Wirklichkeit begriffen werden müssen. Versicherungstechnologien bilden Risiken nicht einfach ab, vielmehr produzieren sie Risiken, um immer weitere gesellschaftliche Bereiche versicherbar oder regierbar zu machen. Wie alle Macht-/Wissensverhältnisse funktionieren sie als Weisen der Problematisierung: Sie konstruieren und bearbeiten je spezifische Probleme. Aus gouvernementalitätsanalytischer Perspektive werden derartige Probleme nicht einfach als real unterstellt – die Frage verlagert sich stattdessen darauf, wie etwas als Problem konstituiert wird. Die Befragung von Problemen erfolgt über die Auseinandersetzung mit den spezifischen Rationalitäten, die bestimmte Phänomene überhaupt erst als Probleme konstituieren und die gemäß ihrer Logik immer auch schon bestimmte Lösungen dieser Probleme oder Umgangsweisen mit diesen Problemen nahelegen.35 Die Kalkulation und Erzeugung von Risiken ist Teil von Regierungsweisen und dementsprechend selbst ein Mittel in der Erzeugung bestimmter Verhaltensdispositionen. Entsprechend gilt »Versicherung« als politische Technologie, deren Wirkmächtigkeit nicht nur in der sukzessiven Bearbeitung von Realität liegt, sondern auch darin, bestimmte Formen von Subjektivität nahezulegen und andere als illegitim oder unvernünftig erscheinen zu lassen. Versichecault Effect in the English-speaking World«, in: Foucault Studies 5/2008, S. 48-62 sowie Lemke, Thomas, Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden 2007. 34 | Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1977, S. 250. 35 | Zum Konzept der Problematisierung bei Foucault: Foucault, Michel »Polemik, Politik und Problematisierungen«, in: Ders., Schriften in vier Bänden (Dits et Ecrits), Band IV, a.a.O., S. 724-734.
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rungstechnologien zielen etwa auf bestimmte Praktiken der Selbstsorge hin, leiten Individuen zu selbstverantwortlichem und rationalem Verhalten an. Insbesondere in neoliberalen Regierungsprogrammen läßt sich beobachten, daß die Kalkulation von Risiken als Instrument zur Einwirkung auf individuelles Verhalten genutzt wird – indem beispielsweise allgemeine gesellschaftliche Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Armut als Folge individuellen (Fehl-)Verhaltens (um-)gedeutet und die Bearbeitung bzw. der Umgang mit diesen Risiken in ein Problem der Selbstführung transformiert werden.36 Eine zentrale Annahme der Governmentality Studies ist daher, daß Wissensformen gerade nicht die Wirklichkeit repräsentieren »so wie sie ist«, sondern performativ Realität erzeugen und bearbeiten. Durch diese Performativität von Wissen und Macht folgen die Governmentality Studies nicht einer realistischen, sondern einer nominalistischen Beschreibung von Regierungsweisen.37 (2) Der produktivistische Machtbegriff, die nominalistische Herangehensweise und die Einwände gegenüber einer strikten Trennung zwischen Gegenstand und Wissen lassen aber nicht nur das Konzept des neutralen Wissens fragwürdig werden, sie ziehen auch den Begriff der Wahrheit in Zweifel. Anstatt dem Spiel von wahr und falsch zu folgen, verlagert Foucault seinen Blick auf die Untersuchung der »Wahrheitspolitik« sowie der formalen Prinzipien und Regeln, die abstecken und regulieren, was in einem jeweiligen Diskurs oder einer jeweiligen Epoche als wahr gelten kann. Diese Perspektivenverschiebung auf die »Spiele der Wahrheit«38 bedeutet, daß sich der Blick nicht auf die unmittelbare Unterscheidung wahr/ falsch, sondern auf eine »Geschichte der Wahrheit« richtet. Es soll untersucht werden, wie Diskurse, Machtverhältnisse und Regierungstechniken ihre je eigenen Wahrheitsfelder schaffen und zugleich regulieren, was als wahr und falsch gelten kann. Die Rede von der Produktion von Wahrheit meint folglich nicht einfach »die Produktion wahrer Aussagen, sondern die Einrichtung von Bereichen, in denen die Praktik von wahr und falsch zugleich reguliert und gültig sein kann«.39 Eine derartige Analyse verhält sich selbst skeptisch zur Unterscheidung von wahr und falsch, sie fragt nicht, ob diese oder jene Aussage wahr ist, sondern wie Wahrheiten, Tatsachen und Fakten konstruiert und durch Diskurse und Praktiken zementiert werden. In dieser Skepsis gegenüber Wahrheitsfragen besteht eine Differenz zu ideologiekritischen Positionen, da Diskurse und Regierungsweisen nicht als ›eigentlich falsch‹ oder ideologisch verzerrt begriffen werden können. Stattdessen verlagert sich der Blick auf deren Wirkmächtigkeit bei der Gestaltung von Wirklichkeit. (3) Die Untersuchung von Wahrheitsproduktion und Regierungsweisen erfolgt weniger theoretisch, sondern vielmehr gegenstandsbezogen. Die Governmentality Studies folgen der Perspektive einer »Mikrophysik der Macht«, die die jeweiligen Praktiken nicht aus Makrokategorien wie »Staat« oder »Neoliberalismus« ableitet, 36 | Gertenbach, Lars, Die Kultivierung des Marktes. Foucault und die Gouvernementalität des Neoliberalismus, Berlin 2007, S. 142ff. 37 | Zum Konzept des Nominalismus bei Foucault vgl. Veyne, Paul, Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte, Frankfurt a.M. 1992. 38 | Ewald, François/Waldenfels, Bernhard, Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. 1991. 39 | Foucault, »Diskussion vom 20. Mai 1978«, a.a.O., S. 34.
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sondern je konkrete, historische Machtverhältnisse untersucht. Der Staat ist nicht als kohärente und dauerhaft stabile Entität zu begreifen, die als Nullpunkt der Analyse fungieren könnte, sondern selbst Resultante gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse: »Alles in allem ist der Staat vielleicht nur eine bunt zusammengewürfelte Wirklichkeit, eine mythifizierende Abstraktion, deren Bedeutung viel beschränkter ist, als man glaubt«, 40 er ist viel eher »die regulative Idee der gouvernementalen Vernunft«. 41 Die Gegenstandsbezogenheit zwingt den analytischen Blick aber nicht nur in eine Distanz zu jeglichen Makrokategorien, sondern auch gegenüber globalen Oppositionen wie Markt/Staat, Handlung/Struktur oder der Unterscheidung diskursiv/nicht-diskursiv. Anstatt etwa zu untersuchen, wie der Staat den Markt regiert (und damit beide bereits als Gegenspieler vorauszusetzen), wird die wechselseitige Konstitution beider Momente in ihrer historischen Veränderung beschrieben. 42 Konsequenzen hat dies – wie im nächsten Abschnitt dargestellt – vor allem für die Auseinandersetzung mit neoliberalen Regierungsprogrammen, die demzufolge als neuartige Recodierung des Verhältnisses von Staat und Markt begriffen werden. (4) Darüber hinaus ist die Untersuchungsebene der Machtanalytik nicht auf Sprache oder Diskurse begrenzt, sondern bezieht auch Materialitäten mit ein. 43 Hierzu gehören nicht nur Architekturen, Apparaturen und Dinge, sondern auch soziale Praktiken. Ein zentraler Untersuchungsgegenstand für die Frage nach den Techniken des Selbst sind Materialien und Praktiken wie Tagebücher, Evaluationen, Buchführung, Berichte oder auch betriebsinterne Kontrollverfahren wie Monitoring, Gruppenarbeit oder Arbeitshierarchien. Da unterstellt wird, daß das Zusammenspiel dieser Faktoren nicht nur die Art des Selbstverhältnisses anleitet, sondern überhaupt für die Konstituierung von Subjektivität verantwortlich ist, lassen sich hieraus Konsequenzen für das Subjektverständnis ableiten. Dementsprechend wird Subjektivität nicht als ahistorische Universalie unterstellt, sondern als je historisches Produkt von Machtverhältnissen und Regierungsweisen untersucht. Mit dem Fokus auf Formen der Subjektivierung richten sich die Fragen darauf, welche Formen von Subjektivität jeweils erzeugt werden, hegemonial sind und welche Subjektpositionen jeweils als akzeptabel, intelligibel und normal gelten. Die Ausprägungen »normaler Subjektivität« sind Produkt von sozialen Kämpfen, da das, was als Normalität gilt, abhängig von historischen Kräfteverhältnissen variiert. So steht dem arbeitsamen, gelehrigen und produktiven Subjekt der Diszipli-
40 | Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I, a.a.O., S. 163. 41 | Ebd., S. 415. 42 | Die Gegenstandsbezogenheit mündet aber nicht in einen blinden Positivismus, der sich damit begnügt, die Faktizität des Seienden zu registrieren. Die Forderung nach einer Nähe zum Gegenstand richtet sich gegen einen geschichts- und gegenstandsblinden Theoretizismus, beschrieben werden sollen stattdessen die Rationalitäten und Programme, die den sozialen Praktiken unterliegen. Damit unterscheidet sich eine solche Perspektive auch von der Konstruktion von Idealtypen im Sinne Max Webers. Vgl. Foucault, »Diskussion vom 20. Mai 1978«, a.a.O., S. 34ff. 43 | Zum ambivalenten Verhältnis Foucaults zum ›Linguistic Turn‹ vgl. Sarasin, Philipp, »War Michel Foucault ein Kulturwissenschaftler?«, in: Iris Därmann/Christoph Jamme (Hg.), Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Methoden, München 2007, S. 313-330.
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nartechnologien das kreative, eigenverantwortliche, risikobereite, innovative und unternehmerische Subjekt der neoliberalen Regierungspraktiken gegenüber. (5) Vor dem Hintergrund dieser zentralen Prämissen wurde viel diskutiert, inwieweit die Governmentality Studies als politische Analytik begriffen werden müssen. Da sie politische Praktiken und Technologien der Regierung von Menschen nicht aus einer vermeintlich neutralen Perspektive in den Blick nehmen, verstehen sie ihren Eingriff selbst oft auch als politische Intervention. Die Governmentality Studies sind weder an einem Ideal des Regierens interessiert, noch zielen sie auf Politikberatung oder Regierungsoptimierung. Stattdessen bemühen sie sich möglichst weitreichend um eine kritische Absetzung von faktischen Regierungspraktiken. Entsprechend der nicht akzeptierten Trennung zwischen Gegenstand und Wissen wurde gefordert, die eigenen Forschungen möglichst nicht so zu konzipieren, daß sie an der fortgesetzten Regierbarmachung der Gesellschaft mitwirken und zur Verfeinerung von Machtverhältnissen beitragen. Stattdessen sollte der Untersuchungsgegenstand selbst politisiert werden. Gerade damit setzen sie sich aber in eine deutliche Differenz zu Governance-Perspektiven der institutionalisierten Politikwissenschaft.
4. N EOLIBER ALISMUS UND S UBJEK TIVIERUNGEN – Z ENTR ALE G EGENSTANDSBEREICHE Wenn die These Foucaults stimmt, daß die Techniken des Regierens in der Moderne immer weniger auf den Staat und die Ausübung politischer Herrschaft begrenzt werden können, übersteigen sie auch die klassischen sozialwissenschaftlichen Konzepte des Regierens. Da die arrivierte Politikwissenschaft bis heute trotz dieser Vervielfältigung der Orte und Formen des Regierens weitgehend an ihrer staatszentrierten Perspektive festhält und ihr Selbstverständnis oftmals dem einer Optimierung der Regierungspraxis gleichkommt, öffnet sich für die Governmentality Studies hier ein vielfältiges neues Feld für Untersuchungen. Darüber hinaus scheint die forschungspraktische Attraktivität auch darin begründet zu sein, daß die arbeitsteilige Zersplitterung der Fächer einer Beschäftigung mit solchen Fragen lange Zeit im Weg stand. Da die Governmentality Studies, wie andere dem Poststrukturalismus nahe Forschungsperspektiven, die tradierten Fächergrenzen eher unterlaufen, nimmt es nicht wunder, daß sie in der Politikwissenschaft oder der Soziologie lange Zeit eher an den disziplinären Rändern angesiedelt waren. Bei einem Überblick über die gegenwärtige Forschungslandschaft der Governmentality Studies wird deutlich, daß der Gegenstandsbereich dieser Forschungen äußerst heterogen ist. Aufgrund des programmatisch begründeten Zugriffs und des ubiquitären Machtbegriffs läßt sich das Konzept der Gouvernementalität auf vielfältigste Gegenstände beziehen. Was negativ als konzeptionelle Unschärfe gelesen werden kann, scheint zugleich aber ein wesentlicher Grund für die Konjunktur dieses Forschungsfeldes zu sein. Ob Fragen der Armutspolitik, der Sozialfürsorge und Sozialstaatspolitik, der räumlichen Neu- und Umstrukturierung der Städteplanung, der Privatisierung des öffentlichen Raums oder des zunehmend kommerziell ausgerichteten Stadt- und Regionalmarketings, der neuen Arbeitsformen des Postfordismus und der boomenden creative industries: Von politischen und
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sozialen Institutionen über Fragen der Raumplanung, der Architektur, der Regierung, der Kriminalität, der Gesundheitspolitik, der Selbstfürsorge bis im allgemeinen zur schleichenden Ökonomisierung zahlreicher gesellschaftlicher Bereiche kann nahezu alles unter dem Aspekt der mittelbaren Regierung der Individuen, jeweiliger Bevölkerungsgruppen oder bestimmter Sozialmilieus betrachtet werden. Die Ausweitung dieses Forschungsblicks auf zahlreiche gesellschaftliche Bereiche obliegt aber keineswegs nur den inhärenten Prämissen dieses Konzeptes. Sie spiegelt ebenso gesellschaftliche Veränderungen und Umstrukturierungen des Sozialen wider. Wenn die Governmentality Studies ihre Perspektive auf immer mehr soziale Bereiche erweitern, folgen sie hegemonialen gesellschaftlichen Veränderungen und zeichnen die sukzessive Ausbreitung neuer Formen des Regierens nach. Ohne angesichts der Breite dieses Forschungsansatzes auf einzelne Detailstudien eingehen zu können, sollen im folgenden einige zentrale Themenbereiche der Governmentality Studies dargestellt werden, die sich durch die verschiedenen Untersuchungen hindurchziehen. Ausgehend von Beobachtungen zu aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen stehen derzeit vor allem neoliberale Programme des Regierens, wie sie spätestens seit den 1980er Jahren Konjunktur haben, im Fokus vieler Untersuchungen der Governmentality Studies. Die aktuellen sozialen Umbrüche als weitestgehend neoliberal zu begreifen, ist zwar kein Alleinstellungsmerkmal dieser Studien; die Art, wie neoliberale Strategien in den Blick genommen werden, unterscheidet diese Perspektive jedoch von anderen soziologischen Ansätzen. Neoliberalismus wird hier weder als falsches, unwissenschaftliches oder interessengeleitetes Wissen abqualifiziert, noch als bloße Strategie des Abbaus des Sozial- und Wohlfahrtsstaates begriffen. 44 Die Forderung, den Gegenstand nicht in realistischen, sondern nominalistischen Termini zu untersuchen, bedeutet zunächst, den Neoliberalismus als eigenständigen Typus des Regierens zu betrachten und auf seine spezifische gouvernementale Rationalität hin zu befragen. 45 Dies hat den Vorteil, den Begriff des Neoliberalismus weder als Sammelbecken aktueller gesellschaftlicher Veränderungen zu verwenden, noch bereits als Kern aktueller Politik zu unterstellen. Auch wenn es zweifellos nicht darum geht zu leugnen, daß die Durchsetzung einer neoliberalen Politik in Staaten, die sich zuvor durch starke Sozial- und Wohlfahrtsstaatspolitiken auszeichneten, durchaus einen Abbau bestimmter Formen von Staatlichkeit bedeutet, richtet es sich aber dagegen, diese Effekte bereits als eigentliches Programm der neoliberalen Regierungsrationalität zu unterstellen und so dessen spezifische Eigenständigkeit aus dem Blick zu verlieren. Hinzu kommt, daß einer derartigen Perspektive oftmals bereits eine strukturell konservative Wahrnehmung implementiert ist, in der sozialstaatliche Normierungen und
44 | Lemke, Thomas/Krasmann, Susanne/Bröckling, Ulrich, »Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologie.«, in: Dies., Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 7-40. 45 | Analog zur Foucaultschen Beschreibung des Panopticons in Überwachen und Strafen steht zunächst der programmatische Fluchtpunkt, sein »erträumtes Funktionieren« im Mittelpunkt. Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, a.a.O., S. 261ff. und Ewald, Der Vorsorgestaat, a.a.O., S. 61f.
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Disziplinierungen verklärt werden und die politische Reaktion auf eine zweifelhafte »Verteidigung des Staates« 46 reduziert wird. Regierungsprogramme auf deren inhärente epistemische Rationalität zu befragen erzwingt, begrifflich nicht bereits von festen Unterscheidungen auszugehen. Anstatt etwa eine klare Trennung von Markt und Staat vorauszusetzen, wird das neoliberale Regierungsprogramm daraufhin befragt, wie dieses Verhältnis konzipiert wird. So verfehlt eine Perspektive, die neoliberale Regierungsweisen als schlichte Ausweitung und Radikalisierung des Marktes begreift, einige entscheidende Spezifika dieses Programms. Vor allem gerät aus dem Blick, daß das Verhältnis von Markt und Staat im Neoliberalismus in einer doppelten Weise neu arrangiert wird: Einerseits werden die Indikatoren und Maßstäbe der Ökonomie gegenüber dem Staat als »Verifikationsinstrumente« des politischen Handelns eingesetzt. Das Feld der Ökonomie wird so zum Ort der Wahrheit der Politik, das heißt zum Maß, an dem sich jegliches Regierungshandeln auszurichten und zu rechtfertigen hat. Andererseits bedeutet dies gerade keine pauschale Zurückweisung von Befugnissen des Staates, sie werden stattdessen gemäß der Rationalität neoliberaler Gouvernementalität in folgenreicher Weise neu justiert. Dem Staat wird gewährt (und aufgebürdet), was der ordoliberale Alexander von Rüstow einen »liberalen Interventionismus« nennt: ein Eingreifen des Staates »nicht entgegen den Marktgesetzen, sondern in Richtung der Marktgesetze«. 47 Daß der Staat demgemäß permanent für die Bedingungen zu sorgen hat, damit Märkte richtig und optimal funktionieren können, läßt den Markt als »eine Art von ständigem ökonomischen Tribunal gegenüber der Regierung« 48 auftreten. Demzufolge übersieht eine Perspektive, die dem Neoliberalismus die Logik eines schlichten Abbaus ehemals staatlicher Befugnisse unterstellt, daß die Regierungstätigkeit nicht einfach begrenzt und abgebaut wird, sondern in eine strukturell andere Logik eingelassen ist. Der Staat bekommt die Aufgabe einer permanenten Umsorgung und »Kultivierung des Marktes« zugewiesen. 49 Im Gegensatz zur klassischen Dichotomie zwischen Markt und Staat, die ebenso im klassischen Liberalismus wie im Keynesianismus anzutreffen ist, gelten diese im Neoliberalismus nicht mehr als antagonistische Gegenspieler.50 Stattdessen muß »die Regierung […] die Marktwirtschaft von vorne bis hinten begleiten«51 und permanent für die Bedingungen sorgen, daß die Mechanismen des Marktes funktionieren können. Dadurch wird dem Markt jedoch ein Stück Eigenständigkeit abgesprochen: Das Funktionieren des Marktes ist für den Neoliberalismus keine einfache Naturgegebenheit mehr, sondern Effekt eines Kunstgriffs der Regierungspraxis, da erst die richtige gouvernementale »Umsorgung« des Marktes die ihm eigentümlichen Gesetzmäßigkeiten hervortre46 | Bourdieu, Pierre, Gegenfeuer, Konstanz 1998, S. 49. 47 | Rüstow, Alexander von, Rede und Antwort. 21 Reden und viele Diskussionsbeiträge aus den Jahren 1933 bis 1962 als Zeugnisse eines ungewöhnlichen Gelehrtenlebens und einer universellen Persönlichkeit, Ludwigsburg 1963, S. 252f. 48 | Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II, a.a.O., S. 342. 49 | Vgl., Gertenbach, Die Kultivierung des Marktes, a.a.O., S. 86ff. 50 | Zur ausführlichen Diskussion der Differenzen zwischen klassischem Liberalismus und Neoliberalismus sowie zwischen Varianten der Radikalisierung des klassischen Liberalismus im 20. Jahrhundert und neoliberalen Gegenentwürfen vgl. ebd. 51 | Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II, a.a.O., S. 174.
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ten läßt. Unter diesen Prämissen besteht das neoliberale Regierungsprogramm in einer Umkehr der Zweck-Mittel-Relation: Die Ökonomie ist nicht länger ein Instrument im Dienste der Gesellschaft, vielmehr soll die Gesellschaft den Imperativen der Ökonomie gehorchen.52 Auch ökonomisches Wachstum gilt nicht länger als Mittel im Sinne des spezifisch modernen Versprechens der Steigerung individueller und kollektiver Autonomie, sondern wird zum Zweck an sich, dem sich gesellschaftliche Institutionen und individuelle Aspirationen unterzuordnen haben.53 Gelten neoliberale Programme des Regierens als allgemeine Vorlage für eine Neustrukturierung der Logik des Regierens von Gesellschaften, so untersuchen viele Arbeiten der Governmentality Studies Formen der Subjektivierung, die eng mit diesen Veränderungen einhergehen. Zentrale Gegenstände der Analyse sind etwa subjektivierende Anrufungen nach Kreativität und Eigenverantwortung sowie Regierungstechnologien, die – etwa in Maßnahmen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik – einer Logik der Aktivierung folgen.54 Ähnliche Strukturmerkmale hatte bereits Foucault in seiner Auseinandersetzung mit neoliberalen Regierungsmodellen herausgestellt. Für ihn kreist die Logik des neoliberalen Regierens um die Ausweitung des Unternehmerischen. Wenn ein wesentliches Element neoliberalen Regierens darin besteht, daß immer mehr gesellschaftliche Bereiche auf ihre Marktkompatibilität hin geprüft werden, findet auch eine Ausweitung ökonomischer Strukturlogiken statt, insofern ökonomische Wettbewerbsmodelle auf immer weitere gesellschaftliche Bereiche übertragen werden. So besteht das regulative Prinzip der neoliberalen Gesellschaft in einer Verallgemeinerung der Unternehmenslogik.55 Der Neoliberalismus entwirft ein Bild der Gesellschaft, in der eben nicht nur die Unternehmen Unternehmen sind, sondern die unterschiedlichsten sozialen Gegebenheiten in ökonomischen Kategorien begriffen und als Unternehmen wahrgenommen werden – bis hin zu dem Phänomen, »daß der Arbeiter selbst sich als eine Art von Unternehmen erscheint«.56 Es liegt daher auf der Hand, daß die Sozialfigur des »unternehmerischen Selbst« und die Wissens-
52 | Bröckling, Ulrich, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007, S. 52. 53 | Auch wenn die Auseinandersetzung mit der neoliberalen Gouvernementalität den Regierungsbegriff vielerorts wieder deutlich auf staatliche Instrumentarien bezieht, bedeutet dies keineswegs eine Abkehr von den analytischen Grundprämissen. Der Staat wird dabei gerade nicht als eine über die Zeit hinweg gleichbleibende und substantiell zu bestimmende Größe verstanden. Stattdessen wird untersucht, wie die je spezifische Ausprägung von Staatlichkeit über gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und Rationalitäten des Regierens hergestellt wird. Im Gegensatz zu anderen sozialwissenschaftlichen Ansätzen verfolgt Foucault hiermit eine Perspektive, die den Staat nicht als dauerhaft stabiles und funktional bestimmbares institutionelles Ensemble, sondern als Verdichtung und Resultante gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Kräftelinien begreift. Lemke, »Andere Affirmationen. Gesellschaftsanalyse und Kritik im Postfordismus« a.a.O., S. 269. 54 | Lessenich, Stephan, »Mobilität und Kontrolle. Zur Dialektik der Aktivgesellschaft«, in: Klaus Dörre/Stephan Lessenich/Hartmut Rosa, Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte, Frankfurt a.M. 2007, S. 126-177. 55 | Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II, a.a.O., S. 210. 56 | Ebd., S. 313.
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form des »Humankapitals« zu zentralen Untersuchungsgegenständen der Governmentality Studies geworden sind.57 Im Gegensatz zu anderen soziologischen Ansätzen wird die Figur des unternehmerischen Selbst in den Governmentality Studies jedoch nicht als heuristischer Idealtypus verstanden – wie etwa der Typ des »Arbeitskraftunternehmers«.58 Sie gilt auch nicht als unmittelbare Aussage über die Realität, sondern wird als performative Sprechweise behandelt, die dasjenige mitproduziert, was sie ihrer Selbstbeschreibung nach erst zu repräsentieren beansprucht. In diesem Sinne betont Ulrich Bröckling, daß »das unternehmerische Selbst […] überhaupt keine empirisch beobachtbare Entität [bezeichnet], sondern die Weise, in der Individuen als Personen adressiert werden, und zugleich die Richtung, in der sie verändert werden und sich verändern sollen«.59 Das unternehmerische Selbst ist weniger ein Erkenntnismittel der Sozialwissenschaften, sondern ein Konzept, mit welchem das Unternehmerische als Norm für Subjektivierungen erzeugt wird. Die Anrufung, unternehmerisch zu sein, verbindet sich mit den Forderungen nach kreativer Selbstgestaltung und Selbstaktivierung und ist als kategorischer Imperativ neoliberaler Techniken des Selbst zu begreifen. Sie macht Kreativität, Flexibilität und Risikobereitschaft zu Anforderungen an die normale Existenzweise von Individuen – obschon diese zugleich in einer Art »Als-Ob-Anthropologie« performativ als anthropologische Grundannahmen von Mensch-Sein schlechthin unterstellt werden.60 Zahlreiche Untersuchungen der Governmentality Studies fragen im Anschluß an diese Überlegungen danach, mit welchen Mitteln und durch welche Instanzen diese Leitfigur entwickelt und in soziale Praktiken implementiert wird bzw. mit sozialen Praktiken einhergeht. Obwohl in der Regel unterstellt wird, daß dieses Modell Wirklichkeitsrelevanz hat und als Regierungsform in vielfachen Machtverhältnissen Niederschlag findet, geht es primär nicht um die Frage nach der tatsächlichen Reichweite dieser Forderung – oder danach, inwieweit individuelles Verhalten sich hiernach richtet –, sondern um die spezifische Rationalität und innere Logik dieser Figur. Zugleich läßt die Struktur der Forderung nach unternehmerischen Selbstverhältnissen erkennen, daß es sich hierbei um gesellschaftliche Steuerungsmodelle handelt, die weniger auf unmittelbare Disziplinierung ausgerichtet sind, sondern auf eine technisch angeleitete Verinnerlichung von äußeren Anforderungsstrukturen. Der Appell, kreativ und unternehmerisch zu sein, operiert nicht im Sinne direkter Anweisungen und Verbote, er funktioniert über indirekte Einwirkungen auf die zu regierenden Individuen.
57 | Bröckling, Das unternehmerische Selbst, a.a.O.; Gertenbach, Die Kultivierung des Marktes, a.a.O., S. 112ff. 58 | Pongratz, Hans J./Voß, Günter G., Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin 2003. 59 | Bröckling, Das unternehmerische Selbst, a.a.O., S. 46. 60 | Vgl. Bröckling ebd., S. 17; Lessenich, Stephan, »Soziale Subjektivität. Die neue Regierung der Gesellschaft«, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 12, S. 80-93, S. 90.
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5. F ORSCHUNGSDESIDER ATA UND G RENZEN DER G OVERNMENTALIT Y S TUDIES Die zahlreichen Arbeiten, die nicht nur an die Machtanalytik Foucaults, sondern vor allem an das Konzept der Gouvernementalität anschließen, sind in vielerlei Hinsicht ein deutlicher Indikator für die Attraktivität dieses Konzeptes, so daß es sich als fruchtbares Konzept zur Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Veränderungen hin zu einer neuen »Regierung des Sozialen« erwiesen hat. Gerade aufgrund der Heterogenität dieser Forschungen sollen abschließend einige Probleme dieser Perspektive benannt werden – Probleme, die oft auch innerhalb der Governmentality Studies bereits diskutiert werden. (a) Ein erster Punkt, der vor allem von der klassischen Sozialforschung gegen die Governmentality Studies in Anschlag gebracht wird, ist die Nivellierung der Unterscheidung von Diskurs und Realität. Die programmatisch begründete Zurückweisung der strikten Trennung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken verführt – zusammen mit der Performativitätsannahme, daß Diskurse nicht von der Wirklichkeit getrennt werden können, die sie miterzeugen und bearbeiten – dazu, die untersuchten Diskurse bereits als real und unmittelbar wirksam zu unterstellen. Dadurch bekommen die Beschreibungen der sozialen Veränderungen aber oftmals impressionistische Züge, welche die tatsächliche Heterogenität der sozialen Realität kaum adäquat widerspiegeln. So wird bemängelt, daß differenzierte Wirksamkeitsanalysen fehlen, die etwa beantworten können, wer erfolgreich aktiviert wird und wer nicht, wie weit die Leitlinien des Unternehmerischen individuelles Verhalten prägen oder wo die Programme auf fruchtbaren Boden treffen und wo sie scheitern. Den Governmentality Studies wird vorgeworfen, daß sie sozialstrukturelle Faktoren ignorieren oder ausblenden und damit klassenspezifische Unterschiede in den Anrufungsstrukturen ebenso wie in der Wirksamkeit der Technologien des Selbst nicht genügend berücksichtigen können. Im Extremfall reproduzieren sie damit den blinden Universalismus der Programme und Regierungstechnologien und distanzieren sich zu wenig von einer Logik, die losgelöst von bestehenden Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen immer wieder behauptet, jeder sei für die »Arbeit am Ich« gleichermaßen fähig, jede könne Unternehmerin ihrer Selbst sein und faktisches Scheitern sei einzig auf mangelnden Willen und fehlende Bereitschaft zur (Selbst-)Aktivierung zurückzuführen.61 So offenkundig dieses Defizit in einigen Fällen auch sein mag, es ist zugleich innerhalb der Debatten um die Governmentality Studies umstritten, inwiefern dies überhaupt ein legitimer Forschungsbereich sein kann. Argumentiert wird hier nicht gegen die Forderung einer analytischen Präzision der Aussagen, sondern gegen eine Wendung der Governmentality Studies (und Foucaults) als methodisch abgesichertes und neutrales Forschungsinstrument arrivierter Sozialwissenschaf-
61 | Van Dyk, Silke, »Grenzüberschreitung als Norm? Zur ›Vereinnahmung‹ von Gegenstrategien im Kapitalismus und den Konsequenzen für eine Soziologie des Widerständigen«, in: Karin Becker/Lars Gertenbach/Henning Laux/Tilman Reitz, Grenzverschiebungen des Kapitalismus. Umkämpfte Räume und Orte des Widerstands, Frankfurt a.M./New York 2010.
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ten, die sie damit gerade ihres kritischen Moments beraubt.62 Zwar mag dies fragwürdig erscheinen, aus den Grundannahmen der Foucaultschen Machtanalytik ist es aber wohlbegründet. Denn wenn davon ausgegangen wird, daß jede Analyse auch den Gegenstand bearbeitet, über den sie eine Aussage trifft, dann beinhaltet die sozialwissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit nicht nur einen Eingriff in den Objektbereich, sondern akkumuliert auch Wissen, das sich in politische Macht- und Herrschaftstechnologien einschreiben kann. So kann die Erkenntnis der Nicht-Wirksamkeit von politischen Technologien in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen oder bei bestimmten Akteursgruppen – wie etwa in Bezug auf die arbeitsmarktpolitische Aktivierung von sogenannten »Langzeitarbeitslosen« – selbst wieder in diese Strategien implementiert werden und ausgefeiltere Machtmechanismen anleiten. Demnach wäre kaum zu verhindern, daß die zunächst in kritischer Absicht konzipierte Machtanalyse selbst an der Verfeinerung dieser Technologien mitwirkt und zur intensivierten Regierbarmachung der Gesellschaft beiträgt. Hieraus ergibt sich die ambivalente Stellung der Governmentality Studies zu den übrigen Sozialwissenschaften, da diese bereits historisch mit jenen Prozeduren verbunden sind, die mit der Vermessung, Kontrolle und statischen Durchdringung der Bevölkerung beschäftigt sind – und damit genau jene Prozesse vollziehen, die mit den foucaultschen Konzepten des Regierens und der Biopolitik beschrieben werden sollen. Die innerhalb der Governmentality Studies hierüber geführte Debatte mündet derzeit in zwei voneinander relativ getrennte Diskussionslinien: Einerseits geht es um Fragen der Enthaltsamkeit gegenüber derartigen Aussagen und um das Problem, wie bzw. ob eine solche Vereinnahmung verhindert werden kann. Und andererseits verbinden sich derartige Fragen mit Debatten um die Begründung des gesellschaftskritischen Maßstabs der Governmentality Studies. Konkret diskutiert wird dies etwa daran, aus welchen Motiven und aus welchem Standpunkt heraus die Governmentality Studies ihre Kritik herleiten und etwa begründen, warum bestimmte Formen der Macht gegenüber anderen zurückgewiesen werden sollten. Diese Fragen nach der normativen Begründbarkeit des eigenen politischen Standpunktes verknüpft auch die forschungspraktischer ausgerichteten Governmentality Studies mit den Debatten, die seit den 1980er Jahren angesichts der Rezeption des Poststrukturalismus in Deutschland geführt werden.63 (b) Über diesen Punkt hinaus besteht ein zentrales Problem vieler Analysen der Governmentality Studies in der Monolithisierung der untersuchten Diskurse. Da zum Zweck der Analyse bestimmte Diskurssegmente herausgegriffen und der Blick auf je spezifische Programmrationalitäten gelegt wird, übertreibt die Darstellung oftmals deren innere Kohärenz. Zudem blendet sie häufig aus, daß ein Diskurs nicht im Singular auftritt und nie die gesamte soziale Wirklichkeit repräsentiert. Faktisch stehen sich nicht nur stets mehrere Diskurse mit sehr unter62 | Vgl. Osborne, »Techniken und Subjekte. Von den ›Gouvernementality Studies‹ zu den ›Studies of Gouvernementality‹«, a.a.O. Eine weitere Zurückweisung dieses Anspruchs findet sich auch in der Selbstbeschränkung, daß die Governmentality Studies weniger untersuchen, wie faktisch regiert wird, sondern vielmehr, wie spezifische Rationalitäten Modelle des Regierens entwerfen und damit bestimmen, wie regiert werden soll. 63 | Lemke, »Andere Affirmationen. Gesellschaftsanalyse und Kritik im Postfordismus«, a.a.O.
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schiedlichen Zielrichtungen und Rationalitäten gegenüber, sie durchkreuzen sich auch in vielfacher Weise. Entsprechend unterstellt die Analyse oftmals eine Einheitlichkeit, die sie in ihrer Darstellung kaum mehr einholen kann. Aus dem Blick geraten damit die Widersprüchlichkeit der sozialen Wirklichkeit sowie die politische Umkämpftheit des Sozialen. Eine differenziertere Analyse hätte demgegenüber das Zusammenspiel und die Agonalität verschiedener Diskurse stärker zu berücksichtigen. Unmittelbar hieran anschließend wird an einigen Arbeiten der Governmentality Studies kritisiert, daß damit eine fragwürdige Universalisierung von Macht betrieben werde. Eine im Anschluß an Foucault oftmals zu beobachtende, allzu undifferenzierte und überverallgemeinerte Redeweise von Machtverhältnissen führe dazu, daß der Blick auf konkrete Machtdifferenzen verstellt wird und es kaum mehr möglich ist, verschiedene Institutionalisierungsgrade von Herrschaft zu unterscheiden. Neben diesen konzeptionellen Problemen der bisherigen Untersuchungen bzw. der Forschungsperspektive insgesamt lassen sich aber auch einige inhaltliche Leerstellen der bestehenden Forschung ausmachen, von denen zwei hier benannt werden sollen. Erstens ist, obwohl sich zahlreiche Untersuchungen der Governmentality Studies mit Aspekten der Politischen Ökonomie und mit ökonomischen Praktiken beschäftigen, eine dezidierte Auseinandersetzung mit ökonomischen Fragen bislang kaum erfolgt. Überraschend ist dies nicht nur deshalb, weil Foucault in seinen Vorlesungen explizit diesen Plan verfolgt (auch wenn er ihn dann zurückstellt), sondern vor allem, weil die Governmentality Studies ihren zentralen Gegenstand ja häufig in der neoliberalen Ökonomisierung des Sozialen erblicken. Beteiligt an dieser Zurückweisung ökonomischer Fragestellungen ist ohne Zweifel die für die Kulturwissenschaften insgesamt vorherrschende schematische Gleichsetzung von Ökonomie und einem antikulturalistischen Denken in Gesetzmäßigkeiten. Das dadurch reproduzierte Zerrbild der Ökonomie kontinuiert und reproduziert sich so auch in den an Foucault anschließenden Governmentality Studies. Es zeigt sich etwa darin, daß die Governmentality Studies zu einer politischen Überformung der Ökonomie neigen, die das Ökonomische selbst eher unsichtbar werden läßt.64 Entsprechend wenig untersucht sind bislang ökonomische Praktiken im engeren Sinn, einzig Wissensformen und Theorien der Politischen Ökonomie sind zum Gegenstand einiger Untersuchungen geworden. Im Anschluß an aktuelle Diskussionen zum Verhältnis von Marx und Foucault ließen sich auch die Governmentality Studies nicht als Ersetzung, sondern als Ergänzung klassischer Ansätze der Ökonomiekritik und der Marxschen »Kritik der politischen Ökonomie« begreifen. In dem Sinne könnten die Governmentality Studies schließlich dazu beitragen, lange vernachlässigte Fragen und Probleme der Ökonomie wieder deutlicher in den Sozial- und Kulturwissenschaften zu verankern. Da sie hierbei auf Fragen der politischen Rationalität und der Steuerungs- und Regierungspraxis fokussieren, hätte dies den Vorteil, die Ökonomie gerade nicht ökonomistisch zu verengen.65 64 | Vgl. Tellmann, Ute, »Foucault and the Invisible Economy«, in: Foucault Studies 6, 2009, S. 5-24. 65 | Vgl. ausführlich: Gertenbach, Lars, »Ökonomie als blinder Fleck? Wirtschaftswissenschaften und Ökonomie im Denken Foucaults«, in: Lars Meyer/Hanno Pahl, Beiträge zur Gesellschaftstheorie des Geldes, Marburg 2010, S. 309-331.
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Zweitens läßt sich eine übertriebene Engführung der Governmentality Studies auf Foucault beobachten. Er gilt bis heute als der einzige nennenswerte Referenzautor dieser Forschungsrichtung, so daß – insbesondere im deutschen Sprachraum – die Durchsetzung der Governmentality Studies als Forschungsfeld lange Zeit mit der allgemeinen Etablierung Foucaults in den Sozialwissenschaften verknüpft war. Auch wenn diese Referenz an Foucault durchaus inhaltlich begründet sein mag, hat sie bei der Etablierung dieser Forschungsperspektive zu einer doppelten Selbstbeschränkung geführt, die sowohl Foucault gegenüber anderen Autoren glorifiziert wie auch das Konzept der Gouvernementalität von der Verbindung zu anderen Konzepten Foucaults abschneidet. Eine einseitig auf Foucault konzentrierte Forschung übersieht nicht nur, wie viel Foucault anderen Wissenschaftstraditionen entnimmt, sondern sakralisiert vor allem die Autorenschaft Foucaults in Bezug auf diese Forschungsrichtung. Erst in letzter Zeit kommt es vermehrt zu Diskussionen, die eine produktive Erweiterung dieses Konzeptes auf andere Autoren und Forschungstraditionen ermöglichen – von Marx über Weber bis hin zu Gramsci, Althusser oder auch der Akteur-Netzwerk-Theorie. Doch ungeachtet dieser Grenzen und Vorbehalte läßt sich kaum mehr bestreiten, daß die Governmentality Studies eine der derzeit produktivsten Forschungsrichtungen in den Sozial- und Kulturwissenschaften sind. Bereits im deutschsprachigen Raum lassen sich die Publikationen kaum mehr überschauen. Die langfristige Produktivität wird aber sicherlich auch davon abhängen, wie sich die Governmentality Studies zum Kanon der anerkannten und abgesicherten Forschungsmethoden verhalten und inwiefern sie ihre ambivalente Stellung als politische Analytik und ihr institutionelles Grenzgängertum beibehalten können. Denn letztlich gründet sich die Attraktivität dieser Forschungsperspektive ja nicht nur auf die theoretisch-konzeptionelle Erklärungskraft dieser Studien, sondern resultiert mindestens in gleichem Maße auch aus ihrer Nähe zu den dominanten politischen Fragen der Gegenwart.
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Disability Studies (Nicht-)Behinderung anders denken Werner Schneider/Anne Waldschmidt
V ORBEMERKUNG »My experience is that while most ›normals‹ think they understand the issue of disability, they in fact do not. When it comes to disability, ›normal‹ people are quite willing to volunteer solutions, present anecdotes, recall from a vast array of films instances they take for fact. No one would dare to make such a leap into Heideggerian philosophy for example or the art of the Renaissance. But disability seems so obvious – a missing limb, blindness, deafness. What could be simpler to understand?« 1
Diese Bemerkung des nordamerikanischen Literaturwissenschaftlers Lennard Davis läßt sich ohne weiteres auf den deutschen Diskurs übertragen. Ob blind, gehörlos oder bewegungseingeschränkt, verhaltensauffällig oder kognitiv beeinträchtigt: Wird das Phänomen Behinderung thematisiert, tauchen unweigerlich – faktisch oder im Geiste – seltsam geformte, sich auffällig bewegende und merkwürdig artikulierende Körper auf, in anderen Worten: Menschen, denen man ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der ›Behinderten‹ gleichsam auf den ersten Blick anzusehen meint. »Wir Normalen«,2 das heißt diejenigen, die sich auf der ›sicheren‹, gesunden und normalen Seite wähnen, glauben ziemlich genau zu wissen, worum es bei einer Behinderung geht. Die Menschen, die ›behindert‹ werden (im Sinn sozialer Benachteiligung), sind tatsächlich auch ›behindert‹ (im Sinn einer Abweichung von zumeist als selbstverständlich, weil als ›natürlich‹ betrachteten Körper- oder Gesundheitsnormen) – so jedenfalls lautet der bis heute vorherrschende und zumeist unhinterfragte Deutungszusammenhang. Offensichtlich scheint es dem Common Sense nichts auszumachen, Behinderung tautologisch zu verstehen: Behindert ist man, wenn und weil man behindert ist.3 Und selbst in wissenschaftlichen Diskur1 | Davis, Lennard J. (Hg.), The Disability Studies Reader, New York/London 2006, S. XVI. 2 | Vgl. Goffman, Erving, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a.M. 1996. 3 | Soziologisch betrachtet, finden sich solche Tautologien in der Regel dort, wo soziale Phänomene der Naturalisierung und Ontologisierung unterliegen und soziale Prozesse deren Konstruiertheit und damit Kontingenz verdecken (sollen). Tautologien lassen sich nicht nur
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sen werden häufig drei Ebenen vermengt, die analytisch besser zu trennen wären, um den dahinter stehenden Wechselwirkungen auf die Spur zu kommen: die in der körperlichen Erscheinung und Ausdrucksweise aufscheinenden gesundheitlichen Auffälligkeiten, die dazugehörenden Naturalisierungsdiskurse und die entsprechenden Marginalisierungsprozesse. Im folgenden wollen wir zeigen, daß man mit den Disability Studies Behinderung (präziser: das Differenzverhältnis von Behinderung/Nicht-Behinderung) auch ganz anders denken kann als mit den bislang vorherrschenden Disziplinen von (medizinisch-psychologisch orientierter) Rehabilitation und Heilpädagogik. Eine neue Sichtweise erscheint uns schon deshalb angezeigt, weil die etablierten Ansätze allzu sehr auf Problemlösung fixiert sind und die Komplexität von Behinderung in ihrem Verhältnis zu Nicht-Behinderung nicht hinreichend erfassen: Ausgeblendet wird zumeist, daß verkörperte Differenz eine weit verbreitete Lebenserfahrung darstellt. Im Grunde ist Behinderung nicht die Ausnahme, die es zu kurieren gilt, sondern die Regel, die in ihren vielfältigen Erscheinungsweisen zunächst einfach zu akzeptieren wäre. Es hat gesellschaftspolitische und kulturelle Gründe, daß ihr dennoch ein Ausnahmestatus zugeschrieben wird. Offensichtlich wird sie in der sich weiter ausdifferenzierenden Gegenwartsgesellschaft als ›gemeinsam geteilte‹, kollektiv wirksame Abgrenzungskategorie ›gebraucht‹, damit im Kontrast so etwas wie ›Normalität‹ entstehen kann. Ja, mehr noch: Vielleicht benötigen fortgeschritten moderne, durch Pluralität und Heterogenität gekennzeichnete Gesellschaften für ihre Herstellung und Sicherung von Normalität auch jeweils eigene Vorstellungen von ›A-Normalität‹, wie sie zum Beispiel an Behinderung festgemacht werden. 4 Für eine reflexiv moderne, das heißt die Grundlagen des eigenen modernen Denkens und der daran orientierten gesellschaftlichen Praxis ›aufklärende‹, in diesem Sinne kritische Perspektive auf Behinderung, ist folglich ein grundlagentheoretischer Blickwinkel auf das Phänomen der als Behinderung titulierten ANormalität notwendig. Genau um diesen geht es den Disability Studies. Die Ausgangsfrage lautet dabei nicht: Wie soll die Gesellschaft mit behinderten Menschen umgehen? Vielmehr gilt es, einen Schritt zurück zu treten und grundsätzlicher zu fragen: Wie, warum und wozu wird – historisch, sozial und kulturell – ›Andersheit‹ als Behinderung hergestellt, verobjektiviert und institutionalisiert?5 im Behinderungsdiskurs, sondern beispielsweise auch im Falle von Alter(n), Geschlecht, Sexualität und Ethnizität beobachten. 4 | Wagner, Peter, Soziologie der Moderne: Freiheit und Disziplin, Frankfurt a.M. 1995; Beck, Ulrich/Lau, Christoph (Hg.), Entgrenzung und Entscheidung: Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung?, Frankfurt a.M. 2004. 5 | Um von vornherein einem Mißverständnis zu begegnen: Sicherlich geht es diesen Studies nicht darum, existierende Unterstützungssysteme für behinderte Menschen wie etwa medizinische Therapie, pädagogische Förderung und sozialpolitische Sicherung in Frage zu stellen. Jedoch wollen sie darauf aufmerksam machen, daß diese Unterstützungssysteme nicht nur unerläßliche Hilfen für die Alltagsbewältigung bieten, sondern auch dem auf Integration beziehungsweise Inklusion gerichteten Selbstverständnis moderner Gesellschaften entsprechen sollten. Zudem begnügen sich die Disability Studies nicht mit der Praxisreflexion, sondern fragen grundsätzlicher danach, welchen historisch kontingenten, gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen die Integrations- beziehungsweise Inklusionsvorhaben und ihre jeweiligen Legitimationen entsprechen, welche Grenzen ihnen
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Im folgenden werden wir zunächst anhand einiger Beispiele verdeutlichen, welch innovative, überraschende Sichtweisen möglich sind, wenn beispielsweise (a-normale) Körper, Repräsentationen, Inszenierungen und Diskurse aus dem Blickwinkel der Disability Studies betrachtet werden. Im anschließenden Schritt skizzieren wir das Forschungsfeld, seine Entstehungssituation und sein internationales Profil, um danach – auf der Basis der kritischen Rezeption vorhandener Ansätze und Arbeiten, unter dem Stichwort »kulturelles Modell von Behinderung« 6 – eine theoretisch fundierte, kulturwissenschaftliche Forschungsprogrammatik der Disability Studies zu skizzieren. Unsere Schlußfolgerungen liefern eine kurze Einschätzung zu den Stärken und Schwächen dieser Studies.
P ERSPEK TIVENWECHSEL : ›B EHINDERUNG ‹ ANDERS DENKEN »She has no arms or hands, although the stump of her upper arm extents just to her breast. Her left foot has been severed, and her face is badly scarred, with her nose torn at the tip, and her lower lip gouged out. Fortunately, her facial mutilations have been treated and are barely visible, except for minor scarring visible only up close. The big toe of her right foot has been cut off, and her torso is covered with scars, including a particularly large one between her shoulder blades, one that covers her shoulder, and one covering the tip of her breast where her left nipple was torn out.«7
So beschreibt Lennard Davis eine Statue, bei der wir gelernt haben, sie als den Inbegriff weiblicher Schönheit zu betrachten. Die vielen tausend Museumsbesucher, die jeden Tag in den Pariser Louvre kommen, würden sicher nicht auf den Gedanken kommen, die berühmte Venus von Milo als verletzt, verstümmelt oder verkrüppelt, mit einem Wort, als ›körperbehindert‹ anzusehen; vielmehr würden sie ihre Anmut und Wohlgestalt hervorheben. Die gängige Beschreibung eines aus Stein modellierten, weiblichen Torsos lautet wohl eher so: »One might very well insist on the beauty of the breasts. […] They are small, distinct, and delicate to the highest degree; with an idea of softness. […] And yet, with all that softness, they have a firmness too. […] From her breasts, her shape begins to diminish gradually down to her waist; […] her legs are neat and slender; the small of them is finely rounded; and her feet are little, white, and pretty.« 8
unterliegen und mit welchen Folgen für den Einzelnen wie für das jeweilige Kollektiv sie einhergehen. 6 | Vgl. Waldschmidt, Anne, »Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung?«, in: Psychologie & Gesellschaftskritik, 1 (2005), S. 9-31. 7 | Davis, Lennard J., Enforcing Normalcy. Disability, Deafness and the Body, London, New York 1995, S. 126. 8 | Dieser Text stammt aus dem 18. Jahrhundert und beschreibt die Venus von Medici; vgl. Barrel, John, »The Dangerous Goddess: Masculinity, Prestige, and the Aesthetic in Early Eighteenth-Century Britain«, in: Cultural Critique, 12 (1989), S. 101-131, hier S. 127; zit. n. Davis, Lennard J., Enforcing Normalcy, a.a.O., S. 137.
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Dieser Text verstört uns nicht, schließlich kommt hier lediglich der idealisierende Blick eines Mannes zum Ausdruck, der wahrscheinlich auch dann Ganzheit imaginieren und formvollendete Beine und Füße sehen würde, wenn die beschriebene Statue keine mehr hätte und zertrümmert wäre.9 Eine Irritation tritt erst dann auf, wenn man sich vorstellt, daß es sich bei diesem Zitat auch um die enthusiastischen Formulierungen eines männlichen Bewunderers von Mary Duffy handeln könnte, einer Künstlerin, die ihren eigenen, armlosen Körper inszeniert, um auf die Konstruktion des behinderten Körpers aufmerksam zu machen.10 Die Performance, bei der sich die Künstlerin zunächst als Venus mit nacktem Oberkörper, die Hüften und Beine umhüllt von fließenden Stoff bahnen, präsentiert, um sich anschließend aus der Pose zu lösen und so die selbst hergestellte Ikonographie zu zerstören, 11 thematisiert den Widerspruch zwischen der Imagination eines zertrümmerten Torsos als idealem weiblichem Körper und der negativen Bewertung eines real vorhandenen Frauenkörpers als behindert, weil ihm die Arme fehlen. Wie sehr weiterhin Behinderung als Stigma gilt und folglich auch die Rezeption von Kunstwerken prägt, zeigt eine andere Beschreibung eines behinderten weiblichen Körpers. In »Die Zeit« konnte man über »Alison Lapper Pregnant«, eine Skulptur, die von 2005-2007 auf der vierten, leeren Säule des Trafalgar Square in London zu sehen war, folgendes lesen: »Anmutig sitzt sie da, das Gesicht zur Seite gewandt, die Spur eines Lächelns auf den schmalen, leicht gespitzten Lippen. Die Schultern schmal, der Busen straff, ein Marmortorso, der an die Venus von Milo erinnert. Und doch taugt diese Figur nicht zum Schönheitssymbol, ihre Füße sind verkrümmt, ihren schmalen Schultern fehlen die Arme. Es ist eine behinderte Frau, die der englische Bildhauer Marc Quinn da aus dem Stein geschlagen hat. Modell saß ihm die Künstlerin Alison Lapper, als sie im achten Monat schwanger war. Sie leidet unter einem selten[en] Chromosomendefekt.« 12
Der Subtext dieses Zitats läßt den Schock ahnen, der sich anscheinend einstellt, wenn man mit einer Plastik konfrontiert wird, die eine arm- und beinlose, nackte, schwangere Frau repräsentiert. Auch die Gegenreaktion entspricht dem üblichen Stereotyp: Mittels der Metapher des Leids und der medizinischen Kategorisierung wird die Irritation aus dem Weg geräumt, der Anblick quasi ›normalisiert‹. Dagegen will die bewußte Zurschaustellung körperlich differenter Weiblichkeit, wie sie von Mary Duffy und Marc Quinn inszeniert wird, den Blick zurückspiegeln, die Betrachter zwingen, die Selbstverständlichkeiten des eigenen Sehens in Frage zu stellen, und vermeintlich eindeutige Gleichsetzungen wie ›normal = schön‹ und 9 | Zu dem idealisierenden Akt des Sehens vgl. Davis, Lennard J., Enforcing Normalcy, a.a.O., S. 136f. 10 | Zu der Kunst von Mary Duffy vgl. auch Snyder, Sharon L./Mitchell, David T., »Reengaging the Body: Disability Studies and the Resistance to Embodiment«, in: Public Culture, 3 (2001), S. 367-389. 11 | Nicht ohne Grund heißt die Inszenierung »Cutting the Ties that Bind«. 12 | »Louise Brown: Konkurrenz für Lord Nelson. Eine neue Art von Heldendenkmal: London streitet um eine Skulptur auf dem Trafalgar Square«, in: Die Zeit vom 22.9.2005. Vgl. auch den Eintrag über Alison Lapper in Wikipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Alison_Lapper (13.07.2010).
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›behindert = häßlich‹ durcheinanderbringen, beunruhigen und irritieren. Genau um diesen Perspektivenwechsel, um die Inversion der vorherrschenden Sichtweise, indem diese gleichermaßen aufgedeckt wie in Frage gestellt wird, geht es den Disability Studies. Wie die Performance-Künstlerin und der Bildhauer, so verstehen auch sie sich als widerspenstiges Projekt, als eine Wissenschaft, die sich vorgenommen hat, hergebrachte Sichtweisen zu dekonstruieren und neue Blicke zu produzieren.
D ISABILIT Y S TUDIES : K ONTUREN EINES F ORSCHUNGSFELDES Der aktuelle Forschungsstand der sehr heterogenen, über die verschiedenen Wissenschaften verstreuten, international betriebenen Querschnittsdisziplin läßt sich kaum zusammenfassend darstellen.13 Beispielsweise trifft man auf geschichtswissenschaftliche Arbeiten zum Umgang mit behinderten Menschen in der Antike, im Mittelalter und während des nationalsozialistischen Regimes ebenso wie zur (De-)Institutionalisierung, Kriegsopferversorgung, Eugenik und Behindertenbewegung. Es finden sich Studien zur Repräsentation von Behinderung in Philosophie, Kunst, Literatur, Film und anderen Massenmedien; die Deaf Studies widmen sich der Gehörlosigkeit als einem Merkmal einer kulturellen Minderheit; wissenschaftstheoretische Arbeiten beschäftigen sich mit der Macht von Diagnosen und Normalitätsdiskursen. Auch lassen sich Studien über Identität und Subjektivität, Körper, Sexualität und Geschlecht, Migration, Intersektionalität und Diskriminierung entdecken. Andere Arbeiten wiederum untersuchen die Beziehungen zwischen Barrierefreiheit, Bürgerrechten, Behindertenpolitik und Wohlfahrtsstaatsregimen. Die Lebenssituationen von Menschen mit Lernschwierigkeiten und Psychiatrieerfahrungen, Kindern, Jugendlichen und alten Menschen mit Behinderung werden genauso thematisiert wie Debatten um Integration, Inklusion und Normalisierung in Schule, Arbeitsmarkt und Gesellschaft. Trotz dieser augenscheinlichen Vielfalt gibt es eine Reihe von Grundannahmen, welche dem internationalen Forschungsfeld seine Konturen verleihen und sich im wesentlichen zu zwei Punkten kondensieren lassen.14 Erstens erfolgt eine explizite Abgrenzung, ja Frontstellung gegenüber rehabilitationswissenschaftlichen sowie heil- und sonderpädagogischen Ansätzen. Die Disability Studies verstehen sich als kritischer Kontrapunkt zum Rehabilitationsparadigma, das ihnen als die Operationalisierung eines sogenannten individuellen – besser: individualistischen und 13 | Um den Beitrag nicht mit Literaturhinweisen zu befrachten, wird im folgenden auf Einzelnachweise verzichtet. 14 | Für eine Einführung in den Diskurs eignen sich Barnes, Colin/Mercer, Geof (Hg.), Exploring Disability. A Sociological Introduction, Cambridge/Malden 2010; Davis, Lennard J. (Hg.), The Disability Studies Reader, New York, London 2006; Swain, John/French, Sally/ Barnes, Colin/Thomas, Carol (Hg.), Disabling Barriers – Enabling Environments, London 2004; Lutz, Petra/Macho, Thomas/Staupe, Gisela/Zirden, Heike (Hg.), Der (im-)perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung, Köln, Weimar 2003; Albrecht, Gary L./Seelman, Katherine D./Bury, Michael (Hg.), Handbook of Disability Studies, Thousand Oaks 2001.
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damit reduktionistischen – Modells von Behinderung gilt. Dieses Modell setzt Behinderung mit der Schädigung oder funktionalen Beeinträchtigung des Einzelnen gleich und deutet sie als schicksalhaftes, persönliches Leid, das medizinisch-therapeutischer Behandlung oder sonderpädagogischer Förderung bedarf. Dabei haben schlußendlich die jeweiligen Professionellen qua Expertenstatus die Definitionsmacht inne und bestimmen die jeweiligen (Be-)Handlungsprogramme, denen die von Behinderung Betroffenen unterworfen werden. Letztere werden außerdem auf Sozialleistungen verwiesen, deren Gewährleistung zumeist an soziale Kontrolle und die Disziplinierung des als Gesundheitsbeeinträchtigung etikettierten Anders-Seins gekoppelt ist. Das individualistische Modell als Kontrastfolie benutzend, konzeptionalisieren zweitens die Disability Studies Behinderung als Konstruktion, wobei dieses allgemeine Analysekonzept durchaus unterschiedlich ausbuchstabiert wird und sowohl sozialkonstruktivistische, radikalkonstruktivistische und dekonstruktivistische Ansätze als auch den Neo-Marxismus, die Phänomenologie und den post-positivistischen Realismus umfaßt. Im konstruktivistischen Sinne verstehen die Disability Studies (verkörperte) Differenzen, die wahrnehmbar sind und (gemäß den herrschenden Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit) als gesundheitsrelevant gerahmt werden, nicht als (natur-)gegeben, im Sinn einer vermeintlich objektiv vorhandenen, medizinisch-biologisch definierbaren Schädigung oder Beeinträchtigung, sondern als gesellschaftliches Differenzierungsmerkmal. Ausgangspunkt ist die These, daß Behinderung im Gesellschaftssystem hergestellt wird – konstruiert und produziert in wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Diskursen sowie in politischen und bürokratischen Verfahren, habitualisiert als alltägliche Umgangsweisen mit Behinderung und ›verinnerlicht‹ als subjektive Sichtweisen und Identitäten. Somit gilt es, die verschiedenen Ebenen des Gesellschaftlichen in den Blick zu nehmen. Es genügt dabei eben nicht (wie beispielsweise in der deutschsprachigen »Soziologie der Behinderten«), 15 lediglich die sozialen Interaktionen (im Rehabilitationssystem, in der Öffentlichkeit etc.) als Handlungsebene und das Identitätsmanagement der Menschen, die als behindert gelten, zu fokussieren. Vielmehr sind ebenso die vielfältigen Inszenierungen von Normalität, die Machtmechanismen in und durch Organisationen, in denen ›A-Normalität‹ hergestellt und abgesichert wird, und die Wirklichkeit konstituierende Kraft von dahinterstehenden Wissensapparaten zu analysieren. Abgesehen von diesem Grundkonsens bestehen, was die verfolgten theoretischen und methodologischen Ansätze angeht, durchaus beträchtliche Differenzen, die sich seit der Etablierung zu Beginn der 1980er Jahre immer mehr herausgebildet haben. Im Laufe der Zeit sind die Disability Studies heterogener und ›bunter‹ geworden; daß mit diesem größeren Reichtum an Facetten auch Konflikte und Kontroversen verbunden sind, versteht sich von selbst. Im folgenden werden wir eine wichtige Differenzlinie in den Disability Studies – die Auseinandersetzung um das sogenannte soziale Modell von Behinderung – näher beleuchten, doch zuvor soll ein kurzer Überblick über das internationale Forschungsnetzwerk gegeben werden, bei dem wir uns an geographischen Räumen, institutionellen Zusammenhängen und Personen orientieren. 15 | Vgl. Cloerkes, Günther, Soziologie der Behinderten. Eine Einführung, 3., neu bearb. u. erw. Auflage, Heidelberg 2007.
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D ISABILIT Y S TUDIES – EINE INTERNATIONALE S CIENTIFIC C OMMUNIT Y Betrachtet man die Entstehungssituation der Disability Studies, muß der gesellschaftspolitische Hintergrund mit bedacht werden. Der sich in den 1960er und 1970er Jahren weltweit formierende Widerstand gegen überkommene Exklusionspraktiken und eine an Fürsorge und Caritas orientierte ›Behindertenhilfe‹ bewirkte nicht nur öffentlichen Protest und den Auf bau von Netzwerken und Praxisprojekten, sondern auch die Entwicklung einer neuen Scientific Community. Zumeist ergriffen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die Behinderung als eigene Lebenserfahrung kannten, die Initiative (so zum Beispiel Irving Kenneth Zola, 1935-1994; Paul K. Longmore, 1946-2010), indem sie sich in der US-amerikanischen Behindertenbewegung engagierten und gleichzeitig zu wissenschaftlichen Vordenkern des Feldes wurden. Von entscheidender Bedeutung für die Konturierung und Etablierung der Disability Studies war die Herausgabe des »Handbook of Disability Studies«16 und der fünfbändigen »Encyclopedia of Disability«17 durch Gary L. Albrecht – auch wenn viele der in diesen beiden Lehrbüchern versammelten Beiträge noch erkennbar dem medizinischen Blick auf Behinderung verhaftet sind. Die Themen- und Perspektivenvielfalt der Disability Studies in den USA zeigt sich exemplarisch im Blick auf Autoren wie Rosemarie Garland-Thomson, bekannt geworden mit Arbeiten zu den Freakshows18 sowie zur bildlichen Repräsentation behinderter Körper in der amerikanischen Kultur und der Interaktion des Anstarrens, 19 und Tobin Siebers, dessen »Disability Theory«20 kunst-, kultur- und körpertheoretische Beiträge umfaßt. Beide rechnen sich dem post-positivistischen Realismus und dem Netzwerk der »Future of Minority Studies« zu, während etwa Lennard J. Davis, der sich zudem auf Jacques Lacan beruft, und vor allem David T. Mitchell und Sharon L. Snyder, deren Literaturanalysen und Filmproduktionen einen prominenten Platz einnehmen, dem Poststrukturalismus zuzuordnen sind. Mit dem Begriff der »narrative prosthesis« versuchen Mitchell und Snyder auf ein Paradox aufmerksam zu machen: Die soziale Exklusion behinderter Menschen
16 | Albrecht, Gary L./Seelman, Katherine D./Bury, Michael (Hg.), Handbook of Disability Studies, a.a.O. 17 | Albrecht, Gary L. (Hg.), Encyclopedia of Disability, Thousand Oaks, London/New Dehli 2006. 18 | Wegweisende Studien zu den »Freakshows« haben außerdem der Kultursoziologe Robert Bogdan und der Literaturwissenschaftler Leslie Fiedler (1917-2003) vorgelegt; vgl. Bogdan, Robert, Freak Show. Presenting Human Oddities for Amusement and Profit, Chicago 1988; Fiedler, Leslie, Freaks. Myths and Images of the Secret Self, New York 1978. 19 | Garland-Thomson, Rosemarie, Extraordinary Bodies. Figuring Physical Disability in American Culture and Literature, New York 1997; Garland-Thomson, Rosemarie, Staring. How We Look, New York 2009. 20 | Siebers, Tobin, Disability Theory, Ann Arbor 2008; Siebers, Tobin, Zerbrochene Schönheit. Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung, Bielefeld 2009.
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vollzieht sich parallel zu einer vielfältigen Nutzung von Behinderung als Metapher und Erzählfigur in der literarischen und künstlerischen Produktion. 21 Zusätzlich zu der vielseitigen und gut etablierten Disability History,22 deren Wegbereiter Paul K. Longmore23 an der San Francisco State University in Kalifornien war, haben sich im Anschluß an Michel Foucault, Judith Butler, Jacques Derrida und Gilles Deleuze sowohl die Gender Studies24 als auch die Queer Studies25 in den Disability Studies ausdifferenziert. Vor allem der kanadischen Philosophin Shelley Tremain, die 2005 den ersten Sammelband zu Foucault in den Disability Studies herausgegeben hat,26 geht es um die Dekonstruktion dominierender Diskursmuster, mit denen vermeintlich natürliche, medizinisch kategorisierbare Differenzen außerhalb des Soziokulturellen gestellt werden. Auch in Großbritannien war die Entwicklung der Disability Studies eng mit Wissenschaftlern verbunden, die einen eigenen lebensweltlichen Bezug zu Behinderung und Benachteiligung aufwiesen – so etwa Michael Oliver, der 1983 erstmalig das bis heute diskutierte, sogenannte »social model of disability« in die Diskussion einbrachte (vgl. hierzu weiter unten).27 Bereits in den 1970er Jahren starteten die Disability Studies an der »Open University«, einer Fernuniversität, an der es möglich war, entsprechende Kursprogramme außerhalb des akademischen Mainstreams zu entwickeln.28 Mit der »Disability Research Unit« an der University of Leeds wurde 1990 ein erstes Forschungsinstitut gegründet, das 2000 zum interdisziplinären »Centre for Disability Studies« erweitert wurde und heute der »School of Sociology and Social Policy« angehört. Gründungsdirektor war Colin Barnes, ein Soziologe, den seine Sehbehinderung, seine Bildungserfahrungen in Sonderschulen und seine Herkunft aus der Working Class motivierten, zusammen mit
21 | Mitchell, David T./Snyder, Sharon L., Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse, Ann Arbor 2000; Snyder, Sharon L./Mitchell, David T. (Hg.), Cultural Locations of Disability, Chicago 2006. 22 | Vgl. Bösl, Elsbeth, »Was ist Disability History? Zur Geschichte und Historiografie von Behinderung«, in: Bösl, Elsbeth/Klein, Anne/Waldschmidt, Anne (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010, S. 29-43. 23 | Longmore, Paul K./Umansky, Lauri, The New Disability History: American Perspectives, New York/London 2001. 24 | Smith, Bonnie G., Hutchinson, Beth (Hg.), Gendering Disability, New Jersey 2004; Wendell, Susan, The Rejected Body: Feminist Philosophical Reflections on Disability, New York 1996. 25 | McRuer, Robert, Crip Theory: Cultural Signs of Queerness and Disability, New York 2006; McRuer, Robert/Wilkerson, Abby L. (Hg.), Desiring Disability. Queer Theory meets Disability Study, Durham 2003. 26 | Tremain, Shelley (Hg.), Foucault and the Government of Disability, Ann Arbor 2005. 27 | Oliver, Michael, The Politics of Disablement. A Sociological Approach, New York 1990; Oliver, Michael, Understanding Disability. From Theory to Practice, Basingstoke/London 1996. 28 | Vgl. für einen Überblick Priestley, Mark, »Worum geht es bei den Disability Studies? Eine britische Sichtweise«, in: Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies, hg. v. Anne Waldschmidt, Kassel 2003, S. 23-35.
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dem in Sheffield und London lehrenden Bildungssoziologen Len Barton29 sowie mit Geof Mercer und Vic Finkelstein, seinen beiden Kollegen in Leeds, das soziale Modell von Behinderung neomarxistisch zu konzeptionalisieren. Dabei spielten für Finkelstein, der als politischer Flüchtling aus Südafrika 1968 politisches Asyl im Vereinigten Königreich erhielt, Erfahrungen aus der Anti-Apartheid-Bewegung eine zentrale Rolle. Der Politikwissenschaftler Mark Priestley, der mittlerweile in Leeds die Leitung des Zentrums übernommen hat, fokussiert auf die international vergleichende »policy analysis« und verfolgt außerdem die Biographieforschung.30 Auch außerhalb von Leeds sind in den letzten Jahren an verschiedenen Universitäten weitere, vornehmlich soziologisch ausgerichtete Forschungseinrichtungen entstanden, mit denen sich der britische Diskurs wissenschaftstheoretisch und inhaltlich verbreitert hat. So bearbeitet das an der »Faculty of Arts and Social Sciences« der Lancaster University bestehende »Centre for Disability Research« bevorzugt medizin- und techniksoziologische Fragestellungen wie auch die Gender Studies.31 Auch »The Strathclyde Centre for Disability Research« an der Universität von Glasgow ist medizinsoziologisch orientiert, dort finden sich Arbeiten beispielsweise zu Identität und Körper, Kindheit, persönlicher Assistenz und zur Sozial- und Kulturgeschichte des Rollstuhls.32 Dabei wird teilweise am sozialen Behinderungsmodell differenzierte Kritik geübt, während andere, wie zum Beispiel der prominente Soziologe und Aktivist Tom Shakespeare, sich eher eklektisch auf poststrukturalistische Ansätze beziehend, eine dezidierte Gegenposition einnehmen.33 Pionierarbeiten für den britischen Diskurs differenztheoretischer Prägung hat Marian Scott-Hill (alias Corker)34 mit Diskursanalysen zu »d/Deafness« vorgelegt; an der Queen’s University in Belfast arbeitet Margrit Schildrick mit ebenfalls poststrukturalistischer Ausrichtung zu Körper, Sexualität, Bioethik und Behinderung.35 In den letzten Jahrzehnten haben sich die Disability Studies nicht nur im angelsächsischen Sprachraum, sondern in vielen anderen Ländern ausgebreitet (so zum 29 | Barton ist Herausgeber der englischsprachigen Fachzeitschrift »Disability & Society«, die bereits seit 1986 erscheint. 30 | Vgl. Priestley, Mark (Hg.), Disability and the Life Course. Global Perspectives, Cambridge 2001; Priestley, Mark (Hg.), Disability: A Life Course Approach, Oxford 2003. 31 | Carol Thomas ist die Direktorin des Zentrums in Lancaster; vgl. Thomas, Carol, Female Forms. Experiencing and understanding disability, Buckingham, Philadelphia 1999; Thomas, Carol, Sociologies of Disability and Illness. Contested Ideas in Disability Studies and Medical Sociology, Basingstoke 2007. 32 | Nick Watson leitet die schottische Einrichtung, vgl. Watson, Nick, Disability. Major Themes in Health and Social Welfare, London/New York 2008; Watson, Nick/Woods, Brian, »The Origins and Early Developments of Special/Adaptive Wheelchair Seating«, in: Social History of Medicine, 3 (2005), S. 459-474. 33 | Shakespeare, Tom, Disability Rights and Wrongs, London/New York 2006. 34 | Corker, Mairian, Deaf and Disabled, or Deafness Disabled, Buckingham, Philadelphia 1998; Corker, Mairian, Shakespeare, Tom (Hg.), Disability/Postmodernity: Embodying Disability Theory, London 2002. 35 | Shildrick, Margrit, Leaky Bodies and Boundaries, London/New York 1997; Shildrick, Margrit, Embodying the Monster: Encounters with the Vulnerable Self, London/New York 2002.
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Beispiel in Kanada, Frankreich u.a.), während in Deutschland noch erheblicher Nachholbedarf besteht. Zwar zeigt das nähere Hinsehen, daß auch im Umkreis der deutschen Behindertenbewegung bereits seit Beginn der 1980er Jahre Versuche von Wissenschaftskritik unternommen wurden. Gleichzeitig läßt sich eine Vielzahl von Veröffentlichungen36 – etwa zu individueller Selbstbestimmung und persönlicher Assistenz, zu Bioethik, Eugenik und nationalsozialistischer Rassenhygiene, zur Lebenssituation behinderter Frauen und zur rechtswissenschaftlichen Debatte um bürgerrechtliche Gleichstellung – ausmachen, die aufgrund der darin verfolgten Perspektive im Rückblick dem Forschungsfeld der Disability Studies zugerechnet werden können. Dennoch ist der eigentliche Startpunkt der deutschsprachigen Disability Studies erst auf den Beginn des neuen Jahrhunderts zu datieren. Die beiden Tagungen »Der (im-)perfekte Mensch« (2001) und »PhantomSchmerz« (2002), die vom Deutschen Hygiene-Museum, der Aktion Mensch und der Humboldt-Universität zu Berlin in Dresden und Berlin veranstaltet wurden, waren die entscheidenden Kick-off-Signale. Erstmalig für den deutschsprachigen Raum fand in diesem Rahmen eine Begegnung zwischen Sozialwissenschaften, Erziehungswissenschaften, Kulturwissenschaften und den internationalen, vornehmlich nordamerikanischen Disability Studies statt.37 Im Rahmen des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen 2003 konnte außerdem in Bremen eine Sommeruniversität ausgerichtet werden, bei der die britischen Disability Studies vorgestellt wurden.38 Nach dieser Gründungsphase hat sich die weitere Etablierung als mühevoll herausgestellt.39 Mit »Disability Studies« und einem sozialwissenschaftlichen Fokus ist in Deutschland bislang nur eine Universitätsprofessur explizit gekennzeichnet, an der Kölner Universität existiert zusätzlich eine internationale Forschungsstelle. An der Universität Hamburg besteht ein vornehmlich lehrorientiertes Zentrum, und an der Evangelischen Fachhochschule Bochum gibt es eine Professur für »Recht und Disability Studies«. Außerdem werden in Schwerpunktheften von Fachzeitschriften, mit Editionen und Monographien sowie der Buchreihe »Disability Studies: Körper – Macht – Differenz« im Bielefelder transcript Verlag mittlerweile durchaus vielfältige Forschungsleistungen sichtbar. Auch wenn eine ganze Reihe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedlichsten Disziplinen auf die Disability Studies als einen eigenen Lehr- und Forschungsschwerpunkt verweist, nimmt das Forschungsfeld in Deutschland wie auch in Österreich und der Schweiz im Vergleich zur internationalen Forschungslandschaft noch immer eine randständige Position ein. In allen drei Ländern wird der Diskurs
36 | Um den Aufsatz nicht mit Literaturhinweisen zu befrachten, wird im folgenden auf Einzelnachweise verzichet; vgl. für einen Überblick Waldschmidt, Anne, »Disability Studies«, in: Behinderung und Anerkennung, hg. v. Markus Dederich, Wolfgang Jantzen, Stuttgart 2009, S. 125-133. 37 | Vgl. Lutz, Petra/Macho, Thomas/Staupe, Gisela/Zirden, Heike (Hg.), Der (im-)perfekte Mensch, a.a.O. 38 | Vgl. Waldschmidt, Anne (Hg.), Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies, Kassel 2003. 39 | Auch bei der folgenden Skizze muß aus Platzgründen auf Einzelnachweise verzichtet werden.
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zu Behinderung weiter, sowohl fachlich als auch institutionell, von der Heil- und Sonderpädagogik und den Rehabilitationswissenschaften dominiert. Trotz einer nunmehr über dreißigjährigen Geschichte, der an vielen Orten erfolgreichen Institutionalisierung und eines beeindruckend vielseitigen Spektrums an Forschungsaktivitäten erscheinen – auch international gesehen – die Disability Studies immer noch als eine um Profilbildung und wissenschaftstheoretische Fundierung ringende, mit Max Weber als »jugendlich« 40 zu charakterisierende Forschungsperspektive. Mancher mag gar bezweifeln, daß es sich bereits um eine ausgereifte Disziplin handelt, und vorerst noch von einer Protowissenschaft 41 reden. Dagegen kann von einer Pseudowissenschaft 42 keinesfalls die Rede sein, sind doch neben der Verankerung in der akademischen Lehre Theorieentwicklung, Methodenreflexion und fundierte Empirie unverkennbar. Während in der sogenannten britischen Schule, die immer noch stark vom »Centre for Disability Studies« in Leeds geprägt ist, überwiegend die Bedeutung von Gesellschaftsstrukturen betont wird, kann man die Herangehensweise der nordamerikanischen Disability Studies als pluralistischer und weniger politisch beschreiben. Sie sind, obwohl ursprünglich auch innerhalb der Sozialwissenschaften entstanden, deutlicher an den Geistes- und Kulturwissenschaften orientiert. Die Trennlinie zwischen einer eher sozialwissenschaftlichen und einer mehr kulturwissenschaftlichen Akzentuierung ist nicht immer eindeutig und scharf, läßt sich jedoch in den meisten disability studies communities finden.
D AS SOZIALE B EHINDERUNGSMODELL – KRITISCH BE TR ACHTE T Blickt man auf die zentrale Kontroverse des Forschungsfeldes, so steht in deren Mittelpunkt kein Theoriestreit im engeren Sinne, sondern vielmehr eine Auseinandersetzung um die zu verfolgende Forschungsperspektive, den Blickwinkel auf Behinderung, der im Sinne der Disability Studies anzuwenden ist. Kerngedanke des im britischen Diskurs zuerst ausformulierten, bereits erwähnten sozialen Modells
40 | Vgl. Weber, Max, »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1982, S. 146-214. 41 | Kuhn, Thomas S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1988. 42 | Dieser Vorwurf macht sich an der Tatsache fest, daß auffällig viele selbst behinderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich in den Disability Studies verorten. Tatsächlich wird in dieser internationalen scientific community eigene Betroffenheit und somit Lebenserfahrung als biographisch wichtiger Aspekt anerkannt und manchmal auch bewußt inszeniert, jedoch wird dies keinesfalls als sine qua non der Diskurszugehörigkeit angesehen. Wer die Disability Studies darauf reduziert, »dass nun von Behinderung betroffene Menschen aktiv zu sie betreffenden Themen forschen« und sie »als akademisches Sprachrohr der politisch-emanzipatorischen Behindertenbewegung« (vgl. www.epb.uni-hamburg.de/ de/zedis, 04.01.2011) versteht oder kritisiert, offenbart ein naives oder uniformiertes Wissenschaftsverständnis, das jedenfalls dem state of the art des Forschungsfeldes nicht entspricht.
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von Behinderung 43 ist, daß die Ebene der Beeinträchtigung (engl.: impairment) im Sinn klinisch relevanter Auffälligkeit von derjenigen der Behinderung (engl.: disability) im Sinn sozialer Benachteiligung unterschieden werden muß. Dieser – für die wissenschaftliche Identität der Disability Studies zentralen – Heuristik zufolge entsteht Behinderung (engl.: disability) durch systematische Ausgrenzung und ist nicht einfach das Ergebnis medizinisch festgestellter Pathologie. Menschen werden nicht aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen behindert, sondern durch das soziale System, das ihnen eine marginalisierte Position zuweist und Barrieren gegen ihre Partizipation errichtet. Entsprechend wird Behinderung in den Kontext sozialer Unterdrückung und Diskriminierung gestellt und als soziales Problem thematisiert, das wohlfahrtsstaatlicher Unterstützung und gemeinschaftlicher (Selbsthilfe-)Aktion bedarf. Das soziale Behinderungsmodell hat sich nicht nur für die britischen Disability Studies als entscheidender Impuls erwiesen. Gleichermaßen anschlußfähig an wissenschaftliche Diskurse wie auch an politische Interessensvertretung und persönliche Lebenspraxis bietet es ein allgemeines Raster, das mit unterschiedlichen Theorieansätzen ebenso gefüllt werden kann wie mit politischer Programmatik und Identitätsstrategien. Ansätze, die mit dem sozialen Behinderungsmodell arbeiten, bedienen sich zumeist des Instrumentariums aus Soziologie, Politikwissenschaft und empirischer Sozialforschung. Sie zielen immer auf Gesellschaftskritik, sind teilweise neomarxistisch orientiert, benutzen vielfach Ansätze der Lebenslaufforschung oder arbeiten im Bereich von Wohlfahrtsstaatsanalyse, Menschenrechtsund Diskriminierungsforschung. Aus der hierzu vorhandenen, vielstimmigen und kontroversen Debatte, 44 die um die Problemorientierung und die Identitätspolitik ebenso wie um den methodologischen Status des Modells und seine empirische Validierung kreist, soll im Rahmen dieses Beitrags ein Aspekt etwas ausführlicher betrachtet werden: der Stellenwert des Körpers. Denn vor allem in körpertheoretischer Hinsicht verdient das soziale Modell insofern Kritik, als es offenbar auf einer kruden Dichotomie von ›Natur‹ und ›Kultur‹, von »impairment« und »disability« beruht. Entgegen der (das medizinische Denken dominierenden) Annahme eines kausalen Zusammenhangs 43 | Vgl. Barnes, Colin/Mercer, Geof (Hg.), Exploring Disability. A Sociological Introduction, Cambridge/Malden 2010; Barnes Colin/Mercer, Geof (Hg.), Disability Policy and Practice: Applying the Social Model, Leeds 2005; Swain, John/French, Sally/Barnes, Colin/Thomas, Carol (Hg.), Disabling Barriers – Enabling Environments, London 2004. Einführend und zusammenfassend ist das Kapitel »The Social Model: History, Critique and Response«, in: Oliver, Michael, Understanding Disability. From Theory to Practice, Basingstoke/London 2009, S. 41-57. 44 | Vgl. beispielsweise Dewsbury, Guy/Clarke, Karen/Randall, Dave/Rouncefield, Mark/ Sommerville, Ian, »The Anti-Social Model of Disability«, in: Disability & Society, 2 (2004), S. 145-158; Goodley, Dan, »Who is Disabled? Exploring the Scope of the Social Model of Disability«, in: Disabling Barriers – Enabling Environments, hg. v. John Swain, Sally French, Colin Barnes, Carol Thomas, London 2004, S. 118-124; Humphrey, Jill C., »Researching Disability Politics, Or Some Problems with the Social Model in Practice«, in: Disability & Society, 2 (2000), S. 63-86; Shakespeare, Tom/Watson, Nicholas, »The Social Model of Disability: An Outdated Ideology?« in Research in Social Science and Disability, hg. v. Barbara M. Altman, Sharon N. Barnartt, München 2002, S. 9-28.
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zwischen gesundheitlich relevanter Beeinträchtigung (impairment)45 und Behinderung (disability) rechnet das soziale Modell Behinderung konsequent der Ebene von Gesellschaft und damit die alltägliche Praxis von Behinderung der gesellschaftlichen Verantwortung zu. Die Beeinträchtigung als solche erscheint hingegen als biologisch-medizinisch begründete Tatsache, als bloßes Beschreibungsmerkmal des physischen Körpers oder von kognitiv-mentalen Zuständen, und gilt insofern als nicht weiter problematisierbar. Mehr noch: Ein wie auch immer postulierter Zusammenhang zwischen »impairment« und »disability« wird auch aus diskurstaktischen Überlegungen abgelehnt, könnte er doch – so die Befürchtung – die Politikfähigkeit der Behindertenbewegung schwächen: »Be rigorously careful to use the term ›impairment‹ for the physical experience and ›disability‹ for the social experience, or else we open the way for confusion and counter-attack.« 46 Für die deutschsprachige Debatte wäre es sicherlich ein Fortschritt, wenn auch hierzulande so systematisch, wie dies im Englischen möglich ist, begrifflich zwischen »impairment«/Beeinträchtigung und »disability«/Behinderung unterschieden werden würde. Schließlich läßt auch das deutsche Sprechen über Behinderung sowohl in alltagsweltlichen als auch in wissenschaftlichen Kontexten eine weitgehende Vermischung der unterschiedlichen Ebenen und die implizite Gleichsetzung der sozialen Benachteiligung mit der verkörperten Differenz erkennen. Würde man die Unterscheidung zwischen Beeinträchtigung und Behinderung übernehmen wollen, hätte man sich allerdings zugleich vor der körpertheoretisch naiven Annahme eines dualistischen Verhältnisses zwischen Körper und Gesellschaft zu hüten. So machen vor allem Bill Hughes und Kevin Paterson 47 in ihrem Plädoyer für eine »sociology of impairment« auf die Körpervergessenheit des sozialen Modells aufmerksam. Ihrer phänomenologisch inspirierten Argumentation zufolge führt der reduktionistische »impairment«-Begriff des sozialen Behinderungsmodells dazu, daß der Körper einem reaktionären, oppressiven Diskursfeld überantwortet und mit Störung und Dysfunktion gleichgesetzt wird. Während sich diese Trennung als nützlich für die Emanzipationsbewegung erwiesen habe, werde im Bereich der Identitätspolitik ein fragwürdiger cartesianischer Subjektbegriff (re-) produziert, der jedoch in der Lebenswelt keine Praxisrelevanz besitze, da sich behinderte Menschen durchaus, zum Beispiel in Autobiographien, mit dem Körper beschäftigten und dieser auch politisch, zum Beispiel im Kampf um Selbstbestimmung, eine Rolle spiele. Gerade deshalb dürfe der Körper nicht ohne weiteres der Medizin überlassen werden, sondern müsse theoretisch differenziert in ein entsprechend erweitertes Modell von Behinderung integriert werden: 45 | Die englische Vokabel »impairment« meint laut Oxford Dictionary »the state of physical or mental condition which means that part of your body or brain does not work correctly«, im Deutschen werden als analoge Begriffe Beeinträchtigung, Schädigung, Schaden, Defekt etc. benutzt. Davon zu unterscheiden sind »sickness« oder »disease«, im Deutschen: Krankheit. 46 | Shakespeare, Tom, A Response to Liz Crow, Coalition, September 1992, S. 40-42, zit. n. Siminski, Peter, »Patterns of Disability and Norms of Participation through the Life Course: Empirical Support for a Social Model of Disability«, in: Disability & Society, 6 (2003), S. 707-718, hier S. 709. 47 | Vgl. Hughes, Bill/Paterson, Kevin, »The Social Model of Disability and the Disappearing Body: Towards a Sociology of Impairment«, in: Disability & Society, 3 (1997), S. 325-340.
D ISABILIT Y S TUDIES »The social model – in spite of its critique of the medical model – actually concedes the body to medicine and understands impairment in terms of medical discourse. To recapture this lost corporeal space without returning to the reactionary view that physicality determines social status, the social model requires to mount a critique of its own dualistic heritage and establish, as an epistemological necessity, that the impaired body is part of the domain of history, culture and meaning, and not – as medicine would have it – an ahistorical, pre-social, purely natural object.« 48
Nicht nur Behinderung, sondern auch die körperliche Schädigungsebene als solche muß folglich als gesellschaftlich hergestellt begriffen werden. Die medizinischen Kategorien, die im Rahmen des individuellen wie auch des sozialen Modells für die »impairment« genannten körperlichen Merkmale benutzt werden, sind nicht ahistorische und gesellschaftsneutrale Gegebenheiten, naturwissenschaftliche oder gar ›natürliche‹ Tatsachen, sondern sie haben – wie die Kategorie Behinderung – ebenfalls ihre Geschichte, ihre kulturelle Bedeutung und ihre sozialen Konstruktionsmodi. Nicht nur für den normalen, sondern auch für den beeinträchtigten oder verletzten Körper gilt, daß er zwar als biophysische Größe angesehen werden kann. Gleichzeitig sind jedoch Geschichte, Biographie und Identität, Bedeutung und (körperlich-leibliche) Erfahrung, soziales Handeln und soziale Lage so unauflösbar in ihn eingewoben, daß sich eine binäre Trennung zwischen ›Körper‹ und ›Gesellschaft‹, zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ als kurzschlüssig erweist. Am konsequentesten hat Tremain, 49 die bereits erwähnte kanadische Philosophin – in poststrukturalistischer Perspektive unter Bezugnahme auf Michel Foucault, Judith Butler und der »sex/gender«-Debatte –, die postulierte Trennung zwischen »impairment« und »disability« kritisch hinterfragt. Für sie geht es darum, die Unterscheidung zwischen Behinderung und Beeinträchtigung selbst als historisch kontingent, als Machteffekt von spezifischen Diskursen zu Körper und Behinderung zu analysieren, die – indem sie »impairment« voraussetzen – diese überhaupt erst produzieren: »In short, impairment has been disability all along.« 50 Damit plädiert Tremain für eine Umkehrung des analytischen Blicks: Nicht Behinderung ist der gesellschaftliche Effekt, der sich an der körperlich ausgedrückten Beeinträchtigung festmacht, sondern die Konstruktion »disability« hat die Funktion, »impairment« als Interventionsebene herzustellen und sie gleichzeitig 48 | Ebd., S. 326. 49 | Vgl. Tremain, Shelley, »Foucault, Governmentality, and Critical Disability Theory. An Introduction«, in: Dies. (Hg.), Foucault and the Government of Disability. a.a.O., S. 1-26; Tremain, Shelley, »On the Government of Disability: Foucault, Power, and the Subject of Impairment«, in: The Disability Studies Reader, hg. v. Lennard J. Davis, New York 2006, S. 185-196; Tremain, Shelley, »On the Subject of Impairment«, in: Disability/Postmodernity. Embodying Disability Theory, hg. v. Mairian Corker, Tom Shakespeare, London 2002, S. 3242; Tremain, Shelley, »Queering Disabled Sexuality Studies«, in: Sexuality and Disability, 4 (2000), S. 291-299. 50 | Tremain, Shelley, »On the Government of Disability«, in: Social Theory and Practice, 4 (2001), S. 617-636, hier S. 623. Ähnlich wird mit der geläufigen sex/gender-Unterscheidung ›sex‹ als körperliche Grundlage von Geschlecht mittels diskursiver Praxis naturalisiert, um als nichthistorisches, biologisches Merkmal des menschlichen (weiblichen, männlichen) Körpers zu erscheinen.
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der Wahrnehmung als soziale Praxis zu entziehen, indem sie als vorgängig, als ›natürlich‹ gedacht wird. Damit wird der Körper beziehungsweise die verkörperte Differenz ontologisiert, essentialisiert, dem technischen Zugriff geöffnet und als soziales, kulturelles Phänomen verschleiert. Tatsächlich ist auch »impairment« – ebenso wie »disability« – ein Diskursprodukt, auch wenn sie üblicherweise nicht als soziokulturelle Kategorie wahrgenommen wird. Auch Tremains Argumentation leiten übrigens diskurstaktische Erwägungen: Die erfolgreich vollzogene, überaus wirkmächtige Naturalisierung von »impairment« habe die Neutralisierung und Entpolitisierung der verkörperten Abweichung »Behinderung« zur Folge. Der Machtkampf um das, was Behinderung in der modernen Gesellschaft bedeute, werde folglich nur noch auf der Ebene von »disability« geführt. Weil dieser Kampf jedoch auf Verkürzungen, Verschleierungen beruhe und die eigentlichen, das Problem konstituierenden Faktoren nicht berühre, könne sich an den realen Lebensbedingungen behinderter Menschen auch nichts ändern. Deshalb sei es Aufgabe der Disability Studies, auf die soziale Konstruiertheit gerade auch von »impairment« aufmerksam zu machen. Behindertsein (impairment) und Behindertwerden (disability) sind demzufolge eben keineswegs trennscharfe Kategorien (im Sinne von: hier das natürlich, körperlich Gegebene, dort die darauf bezogene gesellschaftliche Praxis), sondern verschiedene Dimensionen ein und desselben gesellschaftlichen, also sozial hergestellten Phänomens, die sich wechselseitig durchdringen und aufeinander verweisen. Parallel zum sozialen Behinderungsmodell und seiner kritischen Diskussion, teilweise auch unbeeinflußt davon, hat sich schließlich noch eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Analyse von Behinderung entwickelt. Frappierend ist aber, daß im Unterschied zum sozialen Behinderungsmodell, das eher mit zu starker Kohärenz und somit auch dem Vorwurf des Dogmatismus zu kämpfen hat, das Feld der Kulturforschung immer noch eher einem Flickenteppich gleicht und bisher nicht zu eindeutigen Konturen gefunden hat. Auch sind Bemühungen, so etwas wie ein kulturelles Behinderungsmodell oder ein entsprechendes Forschungsprogramm zu entwickeln, bis heute eher selten. Neben dem im belgischen Leuven lehrenden Kulturanthropologen Patrick J. Devlieger,51 der im Anschluß an Foucault, Derrida und Marx für ein dialektisches, Kommunikation und kulturelle Vielfalt fokussierendes Modell plädiert, heben auch Snyder und Mitchell auf ein »cultural model of disability« ab, definieren dieses aber ungenau als einen Ansatz, der primär mit den Disability Studies in den USA assoziiert werde.52 In inhaltlicher Hinsicht bleiben die Ausführungen eher verschwommen: »We believe the cultural model provides a fuller concept than the social model, in which ›disability‹ signifies only discriminatory encounters. The formulation of a cultural model allows us to theorize a political act of renaming that designates disability as a site of resistance and a source of cultural agency previously surpressed… .«53 51 | Devlieger, Patrick J., Generating a Cultural Model of Disability. Paper presented at the 19th Congress of the European Federation of Associations of Teachers of the Deaf (FEAPDA), October 14-16, 2005, http://feapda.org/Geneva%20Files/culturalmodelofdisability.pdf (02.06.2011). 52 | Vgl. Snyder/Mitchell (Hg.), Cultural Locations of Disability, a.a.O., S. 5f. 53 | Ebd., S. 10.
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Im Unterschied zu Snyder und Mitchell hat Waldschmidt54 das Label des kulturellen Modells nicht als Alternative, sondern ergänzend zum sozialen Behinderungsmodell vorgeschlagen. Im Unterschied zu Devlieger geht es ihr außerdem um eine schärfere Profilierung des kulturwissenschaftlichen Ansatzes. Die Modellierung dient ihr vor allem dazu, die bereits zahlreich vorhandenen Arbeiten in den Disability Studies, die (Nicht-)Behinderung mit Hilfe des kulturwissenschaftlichen Handwerkszeugs analysieren, auch konzeptionell zu markieren. Um das kulturelle Modell als sinnvolle und notwendige Forschungsperspektive zu konturieren, plädiert sie zudem dafür, beide Forschungsrichtungen weder als Konkurrenz zu denken noch sie voreilig zu fusionieren, sondern das Spannungsverhältnis der beiden Heuristiken auszuhalten, ja es vielmehr produktiv zu nutzen.55 Im folgenden Schritt sollen – ausgehend von der genannten Kritik an dem zu eng ansetzenden sozialen Modell und auf der Grundlage des von Waldschmidt vorgelegten Dimensionierungsvorschlags – die begrifflich-konzeptionellen Fundamente und Konturen eines in diesem Sinne als Ergänzung und Weiterung gedachten kulturellen Modells von Behinderung skizziert und erläutert werden.
D ISABILIT Y S TUDIES ALS K ULTURFORSCHUNG : P ROGR AMMATIK Die kulturwissenschaftliche Perspektive auf Behinderung, die von uns als eine für die Disability Studies unbedingt notwendige Heuristik angesehen wird, weil sich erst in und mit ihr das gesamte Innovationspotential der neuen Querschnittsdisziplin zeigt, soll in diesem letzten Abschnitt auf zwei Ebenen skizziert werden: zum einen programmatisch und zum anderen theoretisch-methodologisch. Was die Programmatik betrifft, richtet sie sich im Kern auf das Verhältnis von symbolischen56 (Wissens-)Ordnungen und alltagspraktischen Kategorisierungsprozessen sowie deren ›wirk-lichen‹, im Sinne von handlungswirksam werdenden, Folgen für die Lebensbedingungen der Beteiligten, das heißt der Menschen mit und ohne Behinderung, ihre sozialen Bezüge und Selbstverhältnisse. Damit unterscheidet sich der empirisch-analytische Blick des kulturellen Modells von anderen Herangehensweisen insofern, als hier Behinderung weder – wie im individualistisch-reduktionistischen Modell – als individuelles Schicksal noch – wie im sozialen Modell – als diskriminierte Randgruppenposition begriffen wird. Vielmehr rückt nun das Pendant von Behinderung, die gemeinhin nicht hinterfragte ›Normalität‹ in den Fokus. Aus dieser Schwerpunktverlagerung ergeben sich vier programmatische Forderungen.
54 | Waldschmidt, Anne, »Disability Studies«, a.a.O., S. 9-31. 55 | Waldschmidt, Anne, »Warum und wozu brauchen die Disability Studies die Disability History? Programmatische Überlegungen«, in: Bösl, Elsbeth/Klein, Anne/Waldschmidt, Anne (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010, S. 13-27. 56 | Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei erwähnt, daß »symbolisch« hier ›hard facts‹ meint, durchaus im Sinne Durkheims, also Sachverhalte, die für den einzelnen ›zwingend‹ sind.
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Behinderung wird – erstens – nicht als vermeintlich eindeutige Kategorie zur pathologischen Klassifizierung verwendet, da diese das Behindertsein als universales Phänomen ontologisiert, um daran anschließend in der Form einer kausalen Ableitung mehr oder weniger ausgeprägte gesellschaftliche Benachteiligungen festzumachen. Vielmehr fungiert im kulturellen Modell ›Behinderung‹ primär als ein erkenntnisleitendes Motiv, als ein ›leerer Signifikant‹ oder unscharfer Oberbegriff, der sich auf eine bunte Mischung von unterschiedlichen körperlichen, psychischen und kognitiven Merkmalen bezieht, die nichts anderes gemeinsam haben, als daß sie in der gesellschaftlichen Praxis mit negativen Zuschreibungen wie Einschränkung, Schwäche oder Unfähigkeit verknüpft werden.57 Kurz: Behinderung wird gerade nicht vorausgesetzt, sondern als Prozeß, Erfahrung, Situation oder Ereignis beschrieben. Aus dieser Prämisse ergibt sich zweitens, daß – der hier vorgestellten Perspektive folgend – (Nicht-)Behinderung keine Eigenschaft bezeichnet, sondern als (immer schon verkörperte) Differenzkategorie zu fassen ist. Diese existiert nur und soweit, als bestimmte Differenzsetzungen – und zwar vornehmlich solche, die sich innerhalb der kulturell-historisch jeweils gegebenen Wissensordnungen und ihrer Rahmungen von ›gesund/krank‹ als ›gesundheitsrelevant‹ deuten lassen – in Bezug auf die Klassifizierung(-sform) ›Behinderung‹ vorgenommen werden. Was als solche Klassifizierung in einer Kultur zu einem gegebenen Zeitpunkt, je nach historischer Situation vorherrscht, ist faktisch jedoch kontingent und wird von den jeweils vorherrschenden Diskursen bestimmt. Dem entsprechend ›für wahr genommene‹ (körperliche ebenso wie kognitive und psychische) Behinderung naturalisiert als Merkmal die biophysische Andersheit eines Individuums. Sie wird festgemacht an der Evidenz des Körperlichen beziehungsweise am verkörperten Ausdruck (auch im Falle von nicht direkt wahrnehmbaren Auffälligkeiten!)58 und gedeutet in einem dichotomischen Rahmen von gesund, vollständig, normal versus krank, defizitär, von der Norm abweichend. Und sie wird schließlich verbunden mit einem spezifischen Aufforderungscharakter an die Beteiligten: auf der einen Seite die Experten für Hilfe und möglichst normalisierende Zurichtung, auf der anderen Seite die ›betroffenen Laien‹ mit ihrem ›gesollten‹ Wunsch nach Anpassung und Folgebereitschaft gegenüber den Experten.
57 | Vgl. Mitchell, David T./Snyder, Sharon L., »Introduction: Disability Studies and the Double Bind of Representation«, in: Dies. (Hg.), The Body and Physical Difference. Discourses of Disability, Ann Arbor 1997, S. 1-34, hier S. 7. 58 | Mit dem Begriff ›verkörperte Differenz‹ (engl.: embodied difference) werden die vielfältigen Auffälligkeiten bezeichnet, die als ›Behinderung‹ figurieren: Alle werden mittels des Körpers ausgedrückt und können nur über diesen wahrgenommen werden, dies gilt auch für sogenannte geistige Behinderung, Gehörlosigkeit, Sprachbehinderung, Verhaltens›störung‹ etc. Bereits die HerausgeberInnen des Sammelbandes Der [im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung haben diesen Punkt hervorgehoben: »Man muss sich dabei klarmachen, daß Behinderung oder Imperfektion stets von einem Körper her gedacht wird, auch wenn von ›psychischer‹ oder ›geistiger‹ Behinderung die Rede ist. Einzig an körperlichen Äußerungen, Körperformen, Bewegungen oder Lauten wird sie identifiziert.« Vgl. Lutz, Petra/Macho, Thomas/Staupe, Gisela/Zirden, Heike (Hg.), Der [im-]perfekte Mensch, a.a.O., S. 14.
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Mit einem solchen differenztheoretischen59 Begriffsverständnis wird folglich – drittens – Behinderung relationiert, das heißt in Bezug gesetzt zu den jeweils vorherrschenden symbolischen Ordnungen und institutionellen Praktiken von Normalität und Abweichung, von Eigenem und Fremdem, von Vertrautheit und Andersheit. Mit der Relationierung kommen die historische Kontingenz und kulturelle Relativität von Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozessen ebenso zum Vorschein wie die jeweiligen, mit diesen Deutungen und Praktiken einhergehenden und wechselseitig aufeinander verweisenden, individuellen und kollektiven (Selbst-)Erfahrungsmuster und Identitätsstrategien von ›behinderten‹ wie ›nicht-behinderten‹ Menschen. Darüber hinaus wird in dieser Perspektive (Nicht-) Behinderung zu einem analytischen Konzept, welches nunmehr erlaubt, nicht lediglich behinderte Menschen als solche, sondern die Mehrheitsgesellschaft mit ihren Praktiken der sozialen Positionierung von Menschen und den darauf bezogenen kulturellen Legitimationen zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand zu machen. Erst wenn man diesen ›de-zentrierenden‹, gewissermaßen an den Rändern flottierenden und von dort ›nach Innen‹, auf die ›Mitte‹ der Gesellschaft gerichteten Perspektivenwechsel wagt, lassen sich – viertens – überraschende neue Einsichten über fortgeschrittene moderne Gesellschaften und ihre sozialen wie kulturellen Wandlungsprozesse gewinnen: zum Beispiel über die Art und Weise, wie Wissen über den Körper produziert, transformiert und vermittelt wird; welche Normalitäten und Abweichungen (zum Beispiel gesund versus krank) wie konstruiert werden; wie exkludierende und inkludierende Praktiken im Alltag von verschiedenen Institutionen gestaltet sind; wie Identitäten geformt und neue Subjektkonzepte geschaffen werden. Kurzum: Im kulturellen Modell erscheint Behinderung als ein kontingenter Typus von Abweichung, der – weil er in der Regel auf die »Normalfelder« 60 Gesundheit, Funktionsfähigkeit und Leistungsvermögen bezogen und immer ›verkörpert‹ ist – grundlegend Auskunft über Kontinuität und Wandel von Gesellschaft und Kultur, Praxis und Subjektivität geben kann. Dieser Programmatik des kulturwissenschaftlichen Blicks entsprechen – in Anlehnung an und Fortführung von Waldschmidts Dimensionierungsvorschlag61 – die folgenden acht theoretisch-methodologischen Postulate: 1. Behinderung ist keine biophysische Faktizität, sondern sozial konstruiert und kulturell formiert. Damit ist selbstverständlich nicht in Abrede gestellt, daß es sich bei Behinderung um einen ›hard fact‹ handeln würde; im Gegenteil, als Konstruktion ist sie sowohl ›wahr‹ als auch ›wirklich‹, sie ist verobjektiviertes Wissen und institutionalisierte Praxis, welche die lebensweltlichen Bezüge von Menschen bis hin zu ihrer leiblichen Erfahrung bestimmt. Allerdings ist die Annahme der Konstruiertheit insofern folgenreich, als diese es ermöglicht, mit Hilfe des sozial- und kulturwissenschaftlichen Instrumentariums das Phänomen empirisch zu rekons-
59 | Der Differenzbegriff wird hier im allgemeinen Sinne verwendet; Derridas Differenztheorie ist mit gedacht. 60 | Link, Jürgen, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 2006, S. 51. 61 | Waldschmidt, Anne, »Disability Studies«, a.a.O., S. 9-31.
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truieren und die damit verbundene Praxis analytisch zu dekonstruieren (Sozialkonstruktivismus, Dekonstruktivismus). 2. Mit der ›kulturellen Formierung‹ von Behinderung ist gemeint: Diskurse produzieren und prozessieren das als wahr (als gültig) gesetzte Wissen zu (Nicht-) Behinderung und damit immer auch das Wissen zu (verkörperter) A-Normalität. Mit den damit verbundenen Deutungen und normativen Handlungsvorgaben entstehen institutionelle Praktiken, die wiederum diskursiv ›erklärt‹, verstetigt und legitimiert werden. Über den historischen Zeitverlauf hinweg verdichten und ›verregelmäßigen‹ sich Wissensprozesse und Praktiken zu ›Behinderungsdispositiven‹, das heißt zu Arrangements von Objektivierungen (im Sinne von Vergegenständlichungen wie zum Beispiel technische Artefakte, Institutionen im Umgang mit Behinderung usw.), von spezifischen Praktiken, sozialen Bezügen und Selbstverhältnissen der Menschen, welche die ›machtvolle‹ Re-/Produktion des Phänomens gewährleisten (Diskurs, Wissen, Praxis, Dispositiv). 3. Die entsprechenden institutionellen Praktiken (zum Beispiel Verfahren der speziellen Förderung und Rehabilitation, Stigmatisierungen von als ›behindert‹ definierten Individuen usw.) adressieren als soziale Prozesse die lebensweltlichen Bezüge der Menschen bis hinein in die alltäglichen Handlungsmuster und Routinen in typischer, nämlich historisch und kulturell spezifischer Weise. Gleichzeitig bearbeiten sie damit das kollektive Handlungsproblem des (prinzipiell kontingenten) gesellschaftlichen Umgangs mit Andersartigkeit und Abweichung gemäß den jeweils gegebenen symbolischen und materiellen Rahmenbedingungen (Historizität, Kontingenz, Institutionalisierung). 4. Das in der symbolischen wie materiellen Kultur – das heißt in der Ordnung des Wissens wie in der Ordnung der Dinge62 – zum Ausdruck kommende und in den jeweiligen institutionellen Praktiken ›ver-wirk-lichte‹, handlungswirksame Selbstverständnis einer Gesellschaft im Umgang mit Andersartigkeit und Abweichung korrespondiert auf der Subjektebene mit spezifischen, immer auch verkörperten Subjektivitätsformen und individuellen wie kollektiven Identitätsmustern: das ›Behindert-Sein‹ beziehungsweise der/die Behinderte/n in Relation zum ›Nicht-Behindert-Sein‹, den sogenannten ›Normalen‹ (Kultur, Gesellschaft, Subjekt, Individuum).63 62 | Unter Kultur verstehen wir zum einen – mit William Goodenough – alles, was man wissen oder glauben muß, um so handeln zu können, daß es für die Mitglieder einer gegebenen Gesellschaft akzeptabel ist (vgl. Girtler, Roland, Kulturanthropologie, München 1979, S. 81ff.). Zum anderen objektiviert sich dieses Gewußte und Geglaubte sowohl in den Handlungen der jeweiligen Gesellschaftsmitglieder als auch in den Dingen/Artefakten, mit denen sie sich umgeben, die sie für ihre alltäglichen Verrichtungen verwenden usw.; ›Kultur‹ (in symbolischer wie materieller Hinsicht) bezeichnet somit die Voraussetzung wie den Effekt von dem, was Menschen für wahr nehmen, was sie denken, fühlen, tun. 63 | Nach Snyder und Mitchell ist der Behinderungsbegriff »largely, but not strictly synonymous with sites of cultural oppression«; die Definition von Behinderung müsse »incorporate both the outer and inner reaches of culture and experience as a combination of profoundly social and biological forces.« Vgl. Snyder, Sharon L./Mitchell, David T. (Hg.), a.a.O., S. 6. Hierbei geht es also sowohl um das Äußere wie das Innere des (verkörperten) Subjekts: um Körper-haben und Leib-sein im umfassenden Sinne von (leiblicher) Erfahrung, Selbstverhältnis, Verhältnis zu der sozialen Mitwelt und der materialen Umwelt.
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5. Sowohl die Durchsetzung des als wahr (als gültig) betrachteten Wissens zu Behinderung als auch die damit einhergehenden materialen Praktiken des Umgangs mit als behindert geltenden Menschen, wie etwa Prothetisierung, disability management, inklusive Erziehung, Werkstattbeschäftigung und anderen, sind Effekte von mehr oder weniger stabilen wie auch sich verändernden Machtrelationen und Herrschaftsstrukturen, die soziale Ungleichheiten und Statuspositionierungen zur Folge haben. Als ›legitimierte Devianz‹ dient Behinderung auch der sozialen Stratifikation und begründet so zugleich immer auch die Aufrechterhaltung von Ungleichheit in den unterschiedlichsten Bereichen von Gesellschaft (Macht, Herrschaft, Ungleichheit). 6. Insofern ist Behinderung kein ›Problem‹, sondern eine »Problematisierungsweise«:64 Mit ihr werden Andersartigkeit und Abweichung und deren Konsequenzen für das gesellschaftliche Sein der Menschen thematisiert, zum Problem gemacht und der sozialen Kontrolle unterworfen. Die Analytik von (Nicht-)Behinderung und ›A-Normalität‹ fokussiert somit auf den Zusammenhang von kulturellen Dynamiken beziehungsweise Dis-/Kontinuitäten und gesellschaftlicher Praxis mit Bezug auf Andersheit, Differenz, Fremdheit und Marginalität (Kontinuität und/oder Wandel von Normalität, Normativität und Normalisierung).65 7. Wenn (Nicht-)Behinderung eine Relation ist und in Beziehung gesetzt werden muß zu Praktiken von Normalität und Abweichung, von Eigenem und Anderem beziehungsweise Fremdem, so gilt dies auch in methodologischer und methodischer Hinsicht. Die radikale In-Frage-Stellung der Beziehung zwischen Forschungssubjekt und Forschungsgegenstand gehört zum Forschungsprozeß derjenigen, die Disability Studies betreiben. Statt (positivistisch fundierte) Objektivität und Kausalität anzustreben, gilt es – vorzugsweise mit dem Repertoire qualitativ-empirischer Sozialforschung – reflexiv-verstehend, historisch-rekonstruktiv und kulturell vergleichend, sensibel für soziale Ungleichheit und gesellschaftskritisch sowie dabei die Forschungssubjekte und ihre Erfahrungen respektierend vorzugehen. Damit verbunden ist die kritische Selbstreflexion der eigenen Biographie und Lebenssituation mit und ohne Behinderung, der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit, die immer auch ein ›Wahr-Setzen‹ impliziert, und der dazugehörigen (Wissens-)Macht über die Menschen, die als behindert gelten (Reflexivität und Kritik). 8. Schließlich ist gleichsam als ›Querschnittspostulat‹ bei allen bislang genannten Aspekten die besondere Bedeutung des Körpers zu beachten. Das kulturelle Modell von Behinderung verschiebt den Analysefokus eindeutig auf die Reund Dekonstruktion der am Körper ansetzenden diskursiven und institutionellen Praktiken und der dahinterstehenden Werte, Normen und Deutungen. Das Postulat der verkörperten Differenz gilt immer – zum Beispiel auch bei sogenannter ›geistiger‹ Behinderung, ›Lernbehinderung‹, ›emotional-sozialer Entwicklungsstö64 | Foucault, Michel, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a.M. 1989, S. 7ff. 65 | Mit Foucault geht es um die Frage: »Anhand welcher Wahrheitsspiele gibt sich der Mensch sein eigenes Sein zu denken, wenn er sich als Irren wahrnimmt, wenn er sich als Kranken betrachtet, wenn er sich als lebendes, sprechendes und arbeitendes Wesen reflektiert […]?« (Foucault, Michel, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a.M. 1989, S. 13 und S. 22ff.)
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rung‹ oder ›psychischer Behinderung‹. Gefragt wird nach dem Zusammenspiel zwischen den vorherrschenden Deutungen von körperlich ausgedrückter, nur als solche wahrnehmbarer und identifizierter ›A-Normalität‹ und den jeweiligen (zumeist: stigmatisierenden) Praktiken, den Prozessen der Ein- und Ausschließung der als behindert definierten Subjekte. Darüber hinaus ist damit die Frage nach der Bedeutung von Körperlichkeit im Sinne von gesellschaftlich-kulturell vermittelter Selbst-Erfahrung in den Vordergrund gerückt. Welche Fremd- und Selbstzuschreibungsprozesse von Behinderung gehen mit welchen verkörperten Identitätsmustern und leibbezogenen Subjektbildungsprozessen einher? Gemäß der Annahme eines wechselseitigen Durchdringungsverhältnisses von Körper und Gesellschaft, der zufolge der menschliche (der als behindert ebenso wie der als nicht-behindert wahrgenommene) Körper analytisch sowohl als Produkt als auch als Produzent von Gesellschaft zu fassen ist, gilt es, das jeweilige Zusammenspiel von Körperdiskursen, Körperpraxis und Körpererfahrung (als leibliche Erfahrung) in den Blick zu nehmen (Körper/Körperlichkeit, Leib). Mit diesen acht theoretisch-methodologischen, sicherlich an anderer Stelle noch weiter auszubuchstabierenden Postulaten könnten, kurz gesagt, die Disability Studies ein eigenständiges Profil als Cultural Disability Studies gewinnen, mehr noch: Sie könnten möglicherweise die Zielvorgabe von Snyder und Mitchell tatsächlich einlösen – »Our analyses […] seek […] rather to destabilize our dominant ways of knowing disability«66 – und sich damit vielleicht als ein ›subversives‹ Forschungsprogramm erweisen.
F A ZIT Wie die anderen Studies nehmen auch die Disability Studies für sich in Anspruch, neue Untersuchungsfelder oder -objekte ›entdeckt‹ zu haben, neue Analysekategorien und Erkenntnismittel zu entwickeln und gesamtgesellschaftliche Erklärungsund Analyseinstrumentarien zu bieten. Analog zu anderen Studies lassen sich für die Disability Studies folgende Kennzeichen festhalten: Erstens ist die mehr oder weniger explizite Anknüpfung an die poststrukturalistische Theorienlandschaft charakteristisch, die entlang von Begriffen wie Wissen, Diskurs, Praxis, Subjekt und Körper stattfindet. Zweitens geht diese Operationalisierung häufig mit einer innovativen Verknüpfung mit anderen theoretischen Konzeptionen aus dem gesellschafts- und kulturtheoretischen Feld einher, so daß poststrukturalistische, praxistheoretische, pragmatistische und gesellschaftskritische Perspektiven Hand in Hand gehen. Und drittens erweitern die Disability Studies – gleichsam als theoretisches Analyse- und empirisches Forschungspotential – die bislang in den Sozial- und Kulturwissenschaften vorherrschenden Ausrichtungen an symbolischen Ordnungen (Wissen, Deutungen) und den Beziehungen zwischen Menschen (Interaktionen) um die (hybriden) Beziehungswelten zwischen Menschen, zwischen Subjekten und den sie umgebenden Objekten beziehungsweise (im engeren Sinn) den dabei relevanten ›Dingen‹. Hierbei kommt für zukünftige Forschungen den Bildern, Medientechnologien und Körpern, den 66 | Snyder/Mitchell (Hg.), Cultural Locations of Disability, a.a.O., S. 4.
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technischen Objekten, materiellen Artefakten und Räumen eine zentrale Bedeutung zu. Im Anschluß an die Kulturwissenschaften, wie wir ihn hier grob konturiert haben, werden – streng genommen – aus den Disability Studies eigentlich Dis/ ability Studies. Die Einführung des Schrägstrichs signalisiert: Nunmehr geht es nicht allein um die Kategorie Behinderung als eine Form der sozialen Ausgrenzung, sondern um die Verschränkungen und Verknüpfungen, das Wechselspiel von ›normal‹ und ›behindert‹, kurz, um das Transversale und Intersektionale, das zum eigentlichen Forschungsgegenstand wird. Gleichzeitig haben auch die kulturwissenschaftlichen Disability Studies eine – keineswegs zu verschweigende – normative Seite im Sinne der Absicht, ein ›anderes Denken und Handeln‹ in Bezug auf (verkörperte) A-Normalität befördern zu wollen. Ebenso wie die auf dem sozialen Behinderungsmodell basierenden Arbeiten nicht nur auf Kritik, sondern auch auf Gesellschaftsveränderung aus sind, wollen die vom kulturellen Modell inspirierten Studien zur Kritik und zum Wandel der Kultur beitragen. Kritisiert wird eine gesellschaftliche Praxis, die damit beschäftigt ist, homogene Gruppen zu bilden und diese auf der Basis normativer Bewertungen zu hierarchisieren, anstatt die eigene Heterogenität anzuerkennen und wertzuschätzen.67 Die politische Zielsetzung besteht in der Anerkennung aller Menschen und der umfassenden Teilhabe »on an equal basis with others«. 68 Hierzu bedarf es nicht nur sozialpolitischer Unterstützungsleistungen, sondern auch der kulturellen Repräsentation von Behinderung, gerade auch durch Menschen mit Behinderung – also des gezielten Sichtbar- und des Sagbar-Machens und damit des Gesehen-Werdens, des Mitsprechen-Könnens, der selbstbestimmten Lebensgestaltung. Trotz einer Vielzahl von Arbeiten sind jedoch die Schwächen dieser Studies ebenfalls unübersehbar; immer noch können sie ihre ›Jugendlichkeit‹ kaum verbergen. Insbesondere fehlen weiter ausgearbeitete theoretische wie methodologische Ansätze; vor allem eine stärkere Verknüpfung zwischen den Disability Studies und ihren Bezugswissenschaften würde zur Fundierung beitragen. Sicherlich fruchtbar für die weitere Entwicklung wären stärkere Verbindungen zwischen Kultur- und Sozialforschung; kulturwissenschaftliche Analysen der Behindertenpolitik oder Untersuchungen von kulturellen Repräsentationen, auch mit Hilfe politischer Soziologie, versprechen spannende Erträge zu liefern. Allerdings müßten die Disability Studies, wollen sie ihren Status als developing country verlieren und sich gleichberechtigt neben die anderen Studies stellen, aus unserer Sicht mindestens drei Aspekte bedenken: Zum einen hätten sie die weiter vorherrschende »Repressionshypothese« 69 aufzugeben, der zufolge auch in kulturwissenschaftlich orientierten Arbeiten Behinderung primär als Merkmal, Ort oder Effekt von ›Unterdrückung‹ gedacht wird. Diese Umorientierung würde keineswegs bedeuten, die gerade auch für das kulturelle Behinderungsmodell zentrale Frage nach Macht, Herrschaft und Ungleichheit fortan zu ignorieren, eher im 67 | Vgl. Anne Waldschmidt: »Disability Studies«, a.a.O., S. 9-31. 68 | Vgl. United Nations General Assembly, Convention on the Rights of Persons with Disabilities, New York 2006, www.un.org/esa/socdev/enable/rights/convtexte.htm (02.01.2007). 69 | Vgl. Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983, S. 25ff.
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Gegenteil gälte es, diese Frage nicht vorab durch theoretische Setzung zu beantworten, sondern systematisch und umfassend durch empirische Analyse zu bearbeiten. Zum anderen müßten sich die Disability Studies von einem immer noch – zumindest impliziten – traditionellen Verständnis von »disability« lösen, das Behinderung erst dann wahrnimmt, wenn »impairment« sichtbar geworden ist. Trotz gegenteiligen Anspruchs gilt dies auch für die Cultural Disability Studies. Hierfür erscheint uns eine fundierte sozial- und kulturwissenschaftliche Theoretisierung des Körpers – und zwar in all seinen Facetten – unabdingbar. Mit dem distanzierten Blick auf Behinderung wäre, wie hier vorgeschlagen, schließlich der Weg frei, um die Analyse in Richtung auf »dis/ability« zu öffnen. In letzter Konsequenz würden aus den Disability Studies eigentlich eher »normality studies«, somit vielleicht sogar ein nochmals anderes, ein neues Forschungsprogramm, welches sich von der bislang vorherrschenden, auch für den wissenschaftlichen Blick charakteristischen ›Besonderung‹ des Phänomens Behinderung gänzlich verabschiedet, um das Augenmerk auf das für jede Kultur und Gesellschaft zentrale Phänomen der Besonderung zu richten.
Surveillance Studies Vom kybernetischen Diskurs zur Praxis Leon Hempel »Surveillance has spilled out of its old nation-state containers to become a feature of everyday life, at work, at home, at play, on the move. So far from the single allseeing eye of Big Brother, myriad agencies now trace and track mundane activities for a plethora of purposes. Abstract data, now including video, biometric, and genetic as well as computerized administrative files, are manipulated to produce profiles and risk categories in a liquid, networked system. The point is to plan, predict, and prevent by classifying and assessing those profiles and risks.« David Lyon1
Die Herausbildung der Surveillance Studies oder Überwachungsstudien in den letzten Jahren und Jahrzehnten folgt üblichen Pfaden sich etablierender wissenschaftlicher Forschungsfelder; strategische Interessen der tonangebenden Protagonisten spielen ebenso eine Rolle wie gesellschaftliche und politische Entwicklungen, Forschungsförderungen und Ereignisse wie der 11. September 2001, die die kritische akademische Auseinandersetzung mit aktuellen Formen der Überwachung fordern und rechtfertigen. Die theoretischen Anknüpfungspunkte von Max Weber über Michel Foucault bis zu Gilles Deleuze oder literarische Dystopien Franz Kafkas oder George Orwells werden über das System wissenschaftlicher Referenzierung einem stetig anwachsenden Textkorpus beigefügt. Der Apparat versammelt vielfältige disziplinäre Ansätze von der Soziologie, Kriminologie und Politikwissenschaft über die Rechts- und Medienwissenschaft bis zur Kultur- und Technikgeschichte. Es werden unterschiedlichste Textsorten vom Essay bis zur empirischen Pionierarbeit, vom Forschungsbericht bis zur Monographie integriert, unterschiedliche Diskurse wie zum Wandel von Staatlichkeit und Recht, zur Transformation urbaner Räume und sozialer Kontrolle, Debatten um Sicherheit, Risiko und Privatheit unter dem Leitbegriff Überwachung thematisiert und miteinander in Beziehung gesetzt.
1 | Lyon, David, »Surveillance as social sorting. Computer codes and mobile bodies«, in: Ders. (Hg.): Surveillance as social sorting: privacy, risk, and digital discrimination, London 2003, S. 13-30, hier: S. 13.
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Programmatisch widersetzen sich die Surveillance Studies disziplinären Grenzziehungen. Als gesellschaftliches Phänomen erweist sich der Begriff der Überwachung dabei von einer Evidenz, so daß auch ohne abschließende Definition etwaige konkurrierende Konzepte das Projekt einer Institutionalisierung nicht gefährden. Mit internationalen Konferenzen, einem eigenständigen, unter dem Titel Surveillance & Society firmierenden e-Journal, und gar einem Surveillance Studies Book Prize haben sich die Surveillance Studies im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends Aufmerksamkeit, Kritik wie Anerkennung verschafft. Mit Studiengängen in Großbritannien, Kanada und Australien, Studieneinführungen 2 sowie einem den beständig anschwellenden Textkorpus wieder kondensierenden Surveillance Studies Reader 3 hat sich das Feld etabliert. Eine zunehmend in den gesellschaftlichen Alltag sich ausdehnende wie zugleich gesellschaftlich akzeptierte technisierte Überwachung wird zum permanenten Anstoß der Surveillance Studies. Scheint das Schreckbild des Großen Bruders zwar heute weitgehend verblaßt und verzerrt, so sehr hat George Orwells 1984 jedoch das Bedrohungsszenario für den sich seit den 1960er Jahren formierenden Überwachungsdiskurs geliefert. Ein wachsender Wissens-, Steuerungs- und Kontrollbedarf staatlicher, aber auch nicht-staatlicher Organisationen, der einhergeht mit technologischen Entwicklungen im Bereich von Informations-, polizeilichen Kontroll- und Überwachungstechnologien, konfrontiert die Leser mit der Frage nach den totalitären Implikationen liberaler Gesellschaften. Führt der Roman die Mittel hierzu vor: Kameras, Monitore, Zensur, eine bürokratisch durchrationalisierte Gesellschaft, in der jede Subjektivität bereits Abweichung von der durch die Verfahren kontrollierten Norm bedeutet, so sind es die Mittel, die schockieren und provozieren, weil plötzlich eine Analogie zwischen den Techniken der totalitären Gesellschaft von 1984 zu demokratisch verfaßten Gesellschaften entdeckt wird. In einem im The Futurist erscheinenden Text von 1985 verwendet der amerikanische Soziologe und maßgebliche Vordenker der Surveillance Studies Gary T. Marx dann erstmalig den Begriff einer Surveillance Society, deren düstere Konnotation im Titel durch die Assoziation mit George Orwells Roman von 1949 mitgeliefert wird: the threat of 1984-techniques. 4 Hinterfragt wird in den ersten sich dem Thema explizit annehmenden Studien seit den 1970er Jahren, wie sich Überwachung als eine gesellschaftliche Praxis vor dem Hintergrund zunehmender Technisierung wandelt, eine zunehmend ent-personalisierte und ent-sozialisierte soziale Kontrolle die Herrschaftsverhältnisse und Machtbeziehungen zwischen Staat und Bürger wie zwischen nichtstaatlichen privaten Akteuren transformiert. Michel Foucaults 1975 erscheinende Studie Überwachen und Strafen und das darin am Modell des Panoptikons exemplifizierte Konzept einer Disziplinargesellschaft dient der theoretischen Reflexion zunächst als Anknüpfungspunkt. Die einseitige Aktualisierung der historischen Gefängnisarchitektur verdeutlicht jedoch zugleich die Unterschiede zu den neuen Überwachungsregimen. So sinnfällig und überzeugend das Modell im Rahmen des Disziplinierungskonzepts auch scheint, so sehr erweist es sich für ein Verste2 | Lyon, David, Surveillance studies: an overview, Cambridge, UK 2007. 3 | Hier, Sean P./Joshua M. Greenberg (Hg.), Surveillance Studies Reader, Oxford 2007. 4 | Marx, Gary T., »The Surveillance Society – the Threat of 1984-Style Techniques«, in: Futurist 19, 1985, Nr. 3, S. 21-26.
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hen extensivierter Überwachung des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts als begrenzt. Überwachung ziele nicht mehr auf die Konstituierung des modernen Subjekts, sondern vielmehr auf die flexible Anpassung und permanente Selbststeuerung fragmentierter Nutzer von heterogenen Räumen.5 Überwachung habe sich sukzessive entgrenzt, vom abgeschlossenen Milieu, der modernen Organisation, dem Gefängnis, der Schule, der Fabrik oder dem polizeilichen Umfeld befreit, um mit gängigen Handlungsmustern zu verschmelzen und den gesellschaftlichen Raum erneut sozial und politisch zu sortieren und aufzuteilen. 6 Entsprechend dokumentiert die Geschichte der Surveillance Studies auch die Geschichte einer sich mobilisierenden und vernetzenden Informationsgesellschaft, die sich mit steigender soziotechnischer Komplexität und den damit verbundenen (Sicherheits-)Risiken zugleich als Kontrollgesellschaft erweist.7 Gleichzeitig reichen die neuen Überwachungspraktiken weit in die Geschichte des 20. Jahrhunderts zurück. Vor diesem Hintergrund gilt es im folgenden die Formierung der Surveillance Studies in Auseinandersetzung mit einer sich seit den 1950er Jahre entwickelnden Technokultur zu lesen, in deren Kern Begriffe wie Information, Kommunikation, Kontrolle und Simulation stehen. Denn in diese versuchen die Surveillance Studies ihre sozialwissenschaftlichen Konzepte einzuschreiben und gegen die sich extensivierenden wie intensivierenden Überwachungspraktiken in liberalen Gesellschaften zu behaupten. Kritischen Geist reklamierend stehen die Surveillance Studies damit nicht zuletzt im Zeichen der Dialektik der Auf klärung. An der historischen Einbettung wird ihr gesellschaftspolitischer Antrieb sichtbar. Epochenschwellen wie das Ende des Kalten Krieges erweisen sich dabei von relativierender Bedeutung; ebenso wie Ereignisse wie der 11. September 2001, lassen sich Argumentationsstränge bis in die Nachkriegszeit zurückverfolgen. Trotz eines historischen Einschnitts wie 1989 erlaubt der – hier notwendig unvollständig bleibende – Blick auf die Formierung der Surveillance Studies ein konsequentes Bild der Fortschreibung und Vollendung des technologischen und ökonomischen Konsens, wie er sich während des Kalten Krieges in Ost und West herausbildet und festgeschrieben wird. Was die gedoppelte Welt des Kalten Krieges eint, ist die Fokussierung auf die wissenschaftlich-technologischen Praktiken, auf die kybernetischen Modelle und die Rechenmaschinen, mit deren Hilfe der Wettkampf um die absolute Hegemonie geführt wird. Indem sich die Blöcke auf den Diskurs einer »geschlossenen Welt« einlassen, reduziert sich der Kampf auf das Ziel militärtechnologischer Überlegenheit bis zur ökonomischen Erschöpfung einer der beiden Seiten. 8 So implodiert der 5 | Lianos, Michaelis, Social Control after Foucault 1, 2003, Nr. 3, S. 412-430. 6 | Graham, Stephen/David Wood, Digitizing Surveillance: Categorization, Space, Inequality 23, 2003, Nr. 2, S. 227-48. 7 | Beniger, James R., Control Revolution: Technological and economic origins of the information society, Harvard University Press 1989; Deleuze, Gilles/Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992; Garland, David, The culture of control. Crime and social order in contemporary society, Oxford 2001. 8 | In seinem Buch The Closed World. Computers and the Politics of Discourse in Cold War America von 1996 fixiert Paul N. Edwards die entscheidende diskursive Formation des Kalten Krieges in der Metapher der geschlossenen Welt. Diese bezeichne eine Weltsicht und umfasse eine Sprache, die sich mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Aufteilung
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Ostblock nicht allein wegen der ökonomischen Erschöpfung, sondern auch wegen der Alternativlosigkeit der Mittel, die Auseinandersetzung fortzuführen. Die Perspektivierung auf den technologischen Wettbewerb verstellt den ursprünglich utopischen Horizont zu einer realen Aussichtslosigkeit, die sich nach der Implosion der Sowjetunion als Alternativlosigkeit radikal fortschreibt. Das Ende des Kalten Krieges markiert nach der Logik der geschlossenen Welt den Beginn einer endgültigen Schließung unter Stichworten wie Globalisierung. Einstieg für die folgenden Überlegungen zur Formatierung der Surveillance Studies ist zunächst einmal die Beobachtung des französischen Autorenkollektivs Tiqqun, nach der die »kybernetische Hypothese« unter neoliberalen Vorzeichen in der umfassenden Steuerungs- und Kontrollideologie der Gegenwart überlebt habe.9 Voraussetzung wäre die restlose digitale Erfassung des Alltags, in dem Menschen und Dinge sich nicht nur untereinander umfassend vernetzen, sondern auch Information über sich, ihre Identität und ihren Standort ständig untereinander austauschen und kommunizieren, um durch Rückkopplung Handlungen auszuführen und Bewegungen zu kontrollieren. Die neue Überwachung, wie sie die Surveillance Studies zu denken versuchen, erwiese sich als Zeichen einer die Mikrostrukturen des Alltags vollständig konsumierenden Technik, einer polizeilichen Ordnung mithin, die einen verspäteten Siegeszug des kybernetischen Traums anzeigt, dessen ursprünglich utopisches Potential sich jedoch verbraucht, wenn nicht gar in sein Gegenteil verkehrt hat. Entsprechend gilt es, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Namen Kybernetik sich entwickelnde Technowissenschaft als den ursprünglichen epistemischen Ort gegenwärtiger Überwachung und Kontrolle zu bedenken.
1. D AS LOGISTISCHE D ISPOSITIV DER K YBERNE TIK Nicht nur während Kriegen, sondern gerade auch infolge von Kriegen werden technologischem Wissen bestimmte Aufgaben zugeschrieben. Das gesammelte militärische Know-how muß hierzu in die vermeintlich befriedete Welt übersetzt werden, in eine Sprache der Sicherheit und des Friedens, gilt es ›Katastrophen‹ künftig abzuwenden. In der Nachkriegszeit formuliert sich über die der »akademisch-militärischen Matrix der Kriegszeit« 10 entstammende Kybernetik das Versprechen auf eine Gesellschaft, in der menschliche Unzulänglichkeit durch Technik ausgeglichen und überwunden werden soll. Dabei handelt es sich aber nicht der Welt in zwei politische Hemisphären durch die Verfestigung der Bündnisse, durch Militärhilfe, Rüstungsexporte und Ausbildungskooperationen durchzusetzen beginnt. Jeder Block stellt für sich eine geschlossene Welt dar, beide werden aber, wie Edwards konstatiert, durch eine dritte geschlossene Welt überwölbt, die selbst erst durch die Systemkonfrontation hervorgebracht wird: »The Cold War struggle occurred at the margins of the two, and that struggle constituted the third closed world: the system formed from the always-interlocking traffic of their actions.« 9 | Tiqqun, Kybernetik und Revolte. Zürich/Berlin 2007. 10 | Kay, Lily, »Logische Neuronen und poetische Verkörperungen«, in: Cybernetics: the Macy-Conferences 1946-1953, hg. v. Claus Pias, 1. Aufl., Zürich u.a. 2004, S. 174.
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schlicht um eine Übernahme von technischen Artefakten als vielmehr um den Transfer von militärischen Prinzipien wie Früherkennung, Aufklärung, FreundFeind-Erklärung, die angesichts veränderter weltpolitischer Konstellationen auf die Gegenwart mit dem Anspruch angewandt werden, eine Wiederholung der Vergangenheit verhindern zu wollen. »Bevor die Kybernetik zur Kybernetik wurde, war sie eine Sache der Politik«, erinnert Joseph Vogl.11 Über die Zuschreibung vermeintlicher Neutralität erlangt die Technik ihr utopisches Potential. Technische Rationalität soll Subjektivität bekämpfen und ausschließen, zugleich verbirgt sie in ihrer Objektivierungstendenz den eigenen subjektiven Anteil und Anlaß. »Erst nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Automatisierung und dann die Automation der Kriegsmaschine ihre volle Wirkung entfalten können«, schreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari: »Der Krieg hört auf, eine Materialisierung der Kriegsmaschine zu sein, die Kriegsmaschine selber wird zum materialisierten Krieg.« 12 Während die Kybernetik in einer neuen, militärisch geprägten Epistemologie verankert ist, übernimmt sie in ihrem begrifflich etymologischen Kern eine Terminologie der Regierung und verspricht ein universales Kalkül der politischen Steuerung, Vorhersage und Kontrolle, das sich in der Technik objektiviert und aufhebt. Welcher prognostischen Methoden und simulierenden Verfahren sich auch bedient wird, es geht darum, die zukünftigen Gegenwarten in ihrer vollkommenen Ungewissheit durch die gegenwärtige Zukunft zu antizipieren, auszurichten und zu steuern.13 Abgeleitet vom griechischen kybernétes für »Steuermann« sowie 11 | »Auch wenn die Kybernetik erst durch die epistemologischen Voraussetzungen der Informationstheorie ermöglicht wurde, so reichen doch ihre diversen Segmente in Geschichten mit unterschiedlicher Dauer zurück. Dazu gehören Techniken und Medien der Datenverarbeitung, die sich seit dem Barock in einem Austausch von Regierungswissen und Verwaltungspraxis ausgebildet haben; dazu gehören die Regulationsideen der Aufklärung, die auf eine indirekte Steuerung komplexer Ereigniszusammenhänge ausgreifen; und dazu gehören vor allem die Konzeptionen zirkulärer Kausalprozesse, in denen sich spätestens um 1800 eine frühe Theoretisierung von Regelkreisen erkennen lässt. In diesen Formationen zeichnet sich der politische Charakter von Technologien – und umgekehrt – die technologische Seite des Regierungswissens ab, mithin unterschiedliche Schritte in der Modernisierung politischer Macht. Und dieser Zusammenhang verlangt schließlich eine Perspektive, in der eine Geschichte der politischen Kybernetik auf eine politische Geschichte der Kybernetik verweist«. Vogl, Joseph, »Regierung und Regelkreis«, in Cybernetics: the Macy-Conferences 1946-1953, hg. v. Claus Pias, 1. Aufl., Zürich u.a. 2004, S. 67-79, hier S. 67 und S. 79. 12 | Deleuze, Gilles/Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 646-647. 13 | Zeigt sich eine horizontale Ermächtigung über den Raum, deren perfekter Ausdruck heute Globalisierung ist, so geht mit der Kybernetik eine horizontale Ermächtigung über die Zeit durch Rechentechnologie einher. Exemplarisch steht hierfür das zwar gescheiterte aber nichtsdestotrotz bezeichnende Projekt Norbert Wieners, die Steuerung der Flugabwehr zu verbessern, der Anti-Aircraft Predictor. Wiener verbindet bekanntlich Mensch und Maschine, das physikalische Verhalten des Flugzeugs mit den Verhaltensmustern des Piloten, um eine neue Ontologie des Feindes zu kreieren, wie Peter Galison formuliert, und um aus der bisherigen Bewegung des Flugobjekts die künftige abzuleiten. Die Kybernetik kreiert also eine Ästhetik des Gegners, der als inhumanes Objekt wahrgenommen und zerstört werden kann, und eine kalkulierte Zukunftsschau. »Auf Flugzeuge zu schießen funktioniert wie das Entenschießen, man zielt nicht auf das Flugzeug selbst, sondern dorthin, wo das Flugzeug
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dem Lateinischen gubernare, entsubjektiviert und entpersonalisiert die Kybernetik den Steuerungs- und Regelungsvorgang durch autonome, sich selbst regulierende technische Systeme. Die Kybernetik erscheint als eine Technik des Regierens, wobei Regieren die über Rückkopplung gesteuerte Lenkung durch staatliche Behörden, Organisationen und private Unternehmen sowie auch die Selbststeuerung des einzelnen umfaßt. Abgelöst vom hohen Pathos der Diktaturen postuliert sie, eine universale Sprache des technischen Zeitalters zu sein »mit gleichzeitig exakten wie schillernden Begriffen wie Information, Kommunikation, Rückkopplung und Steuerung«. Zu ihrem Programm zählt, wie Michael Hagner darüber hinaus zusammenfaßt, »eine neue Ökonomie der Wissenschaften […] und vor allem eine geschichtsphilosophische Matrix, die das Schicksal des Menschen unwiderruflich an die Denkfähigkeit der Maschinen« knüpfe. 14 So beschwört in der Folge Norbert Wieners unter anderem Arnold Gehlen in Die Seele im technischen Zeitalter die »Isomorphie« zwischen biologischen Vorgängen und den von »modernen Technikern« entwickelten »Regelungsapparaturen«, in der sich die alten Dichotomien von Natur und Kultur aufheben würden.15 Für Max Bense überwindet die Kybernetik sogleich das alte Mißverhältnis von Natur und Geist. Die Voraussetzung für den von einer wachsenden Zahl von Protagonisten der Kybernetik perpetuierten Analogieschluß zwischen Mensch und Maschine bleibt eine universale Sprache, die immer schon orientiert – also Information – ist. Die »Cyborg-Dialektik«, nach der »neuronale Netze«, wie Lily Kay bemerkt, »das Modell für das elektronische Gedächtnis« und »der Computer im Gegenzug das Modell für Kognition« abgeben, 16 basiert auf der mathematischen Operation, Phänomene nach der zweiwertigen Logik der Boolschen Algebra in Information umzuwandeln und diese gleichsam ihrer Materialität und damit Gegenständlichkeit zu entkleiden. Wo Materialität nicht zählt, entstehen, wie Claus Pias hinzufügt: »Tableaus der Ähnlichkeit«, in welchen »Curricula und Spaghetti, Kochtöpfe und Rakete, Chemorezeptoren und Kreiselkompasse in der gleichen Objektklasse« erscheinen: »In der diagrammatischen Modellierung von Regelkreisen, die scheinbar unbegrenzt über Sachverhalte gelegt werden kann, zeichnet sich damit eine neue Ordnung der Dinge ab, die sein wird, wenn es mit dem Geschoss zusammentrifft. Man hat dabei keine Zeit für Papierarbeit oder den Gebrauch eines Zeichenbretts, und die gesamte mechanische Berechnung muß in das Feuerleitgerät des Geschützes eingebaut werden.« (Wiener, Norbert, »Zeit und Wissenschaft der Organisation«, in ders.: Futurum Exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie, hg. v. Bernhard J. Dotzler. Wien/New York 2002, S. 129.) Was der Artillerist vorher intuitiv vollzog, nämlich einen Zugriff auf die Zeit, wird nun einem maschinellen Rechenprozeß überantwortet, um Zukunft präventiv lesbar zu machen. Vgl.: Galison, Peter, »Die Ontologie des Feindes: Norbert Wiener und die Vision der Kybernetik«, in: Michael Hagner (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a.M. 2001, S. 433-488. 14 | Hagner, Michael, »Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft«, in: Die Transformation des Humanen: Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, hg. v. Michael Hagner und Erich Hörl, 1. Aufl., Frankfurt a.M. 2008, S. 38-71, hier S. 38. 15 | Gehlen, Arnold, Die Seele im technischen Zeitalter: Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Frankfurt a.M., 2007, S. 23. 16 | Kay, »Logische Neuronen und poetische Verkörperungen«, a.a.O., S. 180.
S URVEILL ANCE S TUDIES zugleich Erklärbarkeit postuliert und sogar auf eine wissenschaftliche Universalsprache ausblicken und (wieder einmal) hoffen lässt.«17
Während sich die Kybernetik im ersten Nachkriegsjahrzehnt ganz im Zeichen von Entlastung und Perfektionierung feiert, beginnt jedoch nur wenige Jahre später die Erwartung an das Projekt abzukühlen, zeigen sich die Grenzen der technischen Systeme hinsichtlich der Komplexität von Wirklichkeit. Stellen sich zwar Erfolge in einzelnen technikwissenschaftlichen Bereichen wie Regelungstechnik und Automation ein, kommt es sukzessive zu »Abnutzungserscheinungen des kybernetischen Universalismus«. 18 An die Stelle der Anfangseuphorie tritt eine skeptische Grundhaltung weniger gegen die Technik als solche als vielmehr gegen die Ideologie der Technik und ihre Heilsversprechen. Dabei sollte sich keiner von der Kybernetik zunächst stärker herausgefordert fühlen als Martin Heidegger. Mit dem Begriff der Information erhebe die Kybernetik Anspruch auf das menschliche Denken, das sie nicht nur technisch zu repräsentieren und künstlich zu reproduzieren trachtet, sondern in deren »Sache« Philosophien nach Heidegger zu sprechen sucht.19 Seine Kritik setzt an der den Gegenständen ihre Gegenständlichkeit entziehenden mathematischen Operationalisierung ein. Bereits 1956, also gleichzeitig mit dem Erscheinen von Gehlens Die Seele im technischen Zeitalter, formuliert er in einem Vortrag seinen Vorbehalt gegen das kybernetische Denken. Dieses verkürze die menschliche Sprache, in der sich das Denken vollziehe, auf Information: »Die Bestimmung der Sprache als Information verschafft allererst den zureichenden Grund für die Konstruktion der Denkmaschinen und für den Bau der Großrechenanlagen. Indem jedoch die Information in-formiert, d.h. benachrichtigt, formiert sie zugleich, d.h. sie richtet ein und aus. Die Information ist als Benachrichtigung auch schon die Einrichtung, die den Menschen, alle Gegenstände und Bestände in eine Form stellt, die zureicht, um die Herrschaft des Menschen über das Ganze der Erde und sogar das Außerhalb dieses Planeten sicherzustellen.«20
Kennt das kybernetische Denken keine Sprache diesseits von Information, so präsumiert es, daß die Welt vollständig angefüllt ist durch Information, also geformten wie abrufbaren und letztlich jederzeit und an jedem Ort verfüg- und bestellbaren Dingen. Es ist das Flugzeug auf der Rollbahn, an das Heidegger denkt, das nicht mehr Gegenstand sondern »Bestand« ist. Es ist bereitgestellt, »die Möglichkeit des Transports sicherzustellen«, wie es drei Jahre zuvor im Vortrag Die Frage nach der Technik heißt.21 In diesem Sinne ist auch das kybernetische Denken nach Heidegger ein Sicherheitsdenken, das Identität, Ort und Zeit von Dingen, Geräten 17 | Kay, »Logische Neuronen und poetische Verkörperungen«, a.a.O., S. 25. 18 | Hagner, Michael, »Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft«, in: Die Transformation des Humanen: Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, hg. v. Michael Hagner und Erich Hörl, 1. Aufl., Frankfurt a.M. 2008, S. 38-71, hier S. 68. 19 | Vgl. Hoerl, Erich, »Das kybernetische Bild des Denkens«, in: Die Transformationen des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Franfurt am Main 2008, S. 163-195. 20 | Heidegger, Martin, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957, S. 203. 21 | Heidegger, Martin, »Die Frage nach der Technik«, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1967, 13-44, hier S. 24.
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und Lebewesen für den Einsatz fixiert bereithält. Es verschleiert die eigene Voraussetzung von Information im Denken. Deshalb vollende sich im Denken der Information nach Heidegger das Denken selbst. Im Modus der Information komme das Denken zu einem gesicherten Ende und Abschluß, der die Möglichkeit des noch Ungedachten (und damit des Politischen als dem Feld des Dissenses) ausschließt. Denn dieser weist jedem Ding wie jedem Lebewesen seine eindeutige Identität und seinen sicheren Platz, letztlich seinen jederzeit eindeutig dechiffrierbaren genetischen Code zu.22 Damit beendet und verstellt auch nach Heidegger das kybernetische Denken die Möglichkeiten des Denkens, einschließlich der, das Denken selbst zu denken und von seinen Anfängen alternative Denkwege einzuschlagen. Im kybernetischen Denken erscheint menschliches Handeln selbst als Information, es wird zum abruf baren »Bestand« im logistischen Dispositiv, der Risikoanalysen füttert, wo immer dies als notwendig und lukrativ erscheint.23 Der Selbstverlust des Menschen sei dadurch charakterisiert, daß dieser sich nicht mehr als sprechendes und denkendes Wesen, sondern, wie es 1953 heißt, nur mehr als »Besteller des Bestandes« begegnet.24 Im Zentrum der kybernetischen Kontrollutopie steht die Simulation der Geschichte, um die ungewisse Zukunft beherrschbar zu machen. Während sich für Heidegger das logistische Dispositiv über den Umweg Amerikas verwirklicht und das philosophische Denken unausweichlich vollende, entfaltet sich, noch bevor die neue Computertechnologie die Alltagswelt zu durchdringen beginnt, im Wechselspiel von Technikbegeisterung und verebbenden Wohlstandswundern, auf brechenden sozialen Krisen und Hoffnung auf neue technische Innovationen ein Technikskeptizismus, in dessen Nimbus sich auch ein erster Überwachungsdiskurs abzeichnet. Bezeichnend ist zunächst, daß auf dem Höhepunkt des Wettrüstens kybernetische Steuerungs- und Kontrollphantasien mit der planetarischen Dimension verknüpft werden. Das gerade erst anbrechende Computerzeitalter scheint mit der Erwartung einer neuen Dimension technisierter Überwachung einherzugehen. Im Jahre 1968, ein Jahr bevor die US-Raumfähre Apollo auf dem Mond landen sollte, kommt Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey in die Kinos. Die Raumfähre Discovery wird von der künstlichen Intelligenz eines Computers kontrolliert, der hören, sehen und sprechen kann und damit den kybernetischen 22 | Die metaphorischen Übertragung der Information auf das Leben findet ihre radikale Konsequenz in der Vorstellung »vom genetischen Code als Informationssystem und Buch des Lebens«, mit dem Ziel seiner Entschlüsselung und damit Beherrschung, wie Lily Kay in ihrer wissenschaftshistorischen Studie untersucht hat. »Die Molekulargenetiker (und die Biochemiker in den späten fünfziger Jahren) griffen sich die Nukleinsäuren als einzigen Träger informationeller Eigenschaften heraus. Information – als Bedeutung und als Grundstoff – kennzeichnete schließlich den privilegierten Status der DNA als ›Chefmolekül‹. Ihres technischen Inhalts entleert, wurde Information wirklich zur Metapher einer Metapher, zu einer Bedeutung ohne Referent. Ihre wissenschaftliche und kulturelle Wirksamkeit [im Bereich der Forensik etwa] beeinträchtigte das jedoch keineswegs.« Lily E. Kay, Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code?, Frankfurt a.M. 2005, S. 177. 23 | Heidegger, Martin, »Zur Frage nach der Bestimmung der Sache des Denkens«, in: Martin Heidegger: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910-1976 (Martin Heidegger Gesamtausgabe, 16), Frankfurt a.M. 2000. 24 | Heidegger, »Die Frage nach der Technik«, a.a.O., S. 38.
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Traum künstlicher Intelligenz dramatisch in Szene setzt. »This unexcitable, laconic murmur produces a reassuring effect of quit competence«, bemerkt Paul N. Edwards in seiner großen Studie The Closed World hinsichtlich der sprachlichen Fähigkeit des omnipräsenten Zentralcomputers »until HAL begins killing the astronauts […]. The effect of HAL’s omnipresence changes at the same time from one of benign oversight to a Big Brotherly panopticism«.25 Kubrick präsentiert eine sich verselbständigende Technik in radikaler Konsequenz und führt damit das kybernetische Modell, nach der die Apparatur analog dem Organisationsprinzip des Gehirns funktioniere und umgekehrt, ad absurdum. Was sich an Subjektivität in der Technik verbirgt, wird in der Travestie Kubricks offenbar. Das Weltall ist schlechthin der Raum, der moderne Technik verlangt. In dieser unmenschlichen Sphäre muß sich Technik bewähren, erscheint sie hier wie nirgends sonst existentiell notwendig. Der symbolische Wettstreit der beiden Großmächte wird vermittelt über den technologischen Wettlauf, letztlich über den Kampf, welches politische System geeigneter ist, das Überleben in einem total lebensfeindlichen Raum zu sichern. Die Beherrschung des Weltraums macht die dafür notwendige Technik sichtbar, zeigt aber zugleich die ihr implizite Distanz gegenüber jeder menschlichen Erfahrungswirklichkeit.
2. P RIVATHEIT IM I NFORMATIONSZEITALTER Was im Weltall existentiell notwendig erscheint, zeigt sich in der Alltagswelt als Bedrohung der Freiheit durch zunehmende Computerisierung staatlicher Verwaltung, polizeilicher Organe und privater Unternehmen. Die Expansion in den Weltraum findet ihr Gegenstück in der Extension neuer Maßnahmen, um statistisch relevantes Wissen über Bevölkerungen, Mitarbeiter oder Konsumenten mithilfe von Informationstechnik zu erheben. Im Jahre 1967 erscheint Alan Westins legendäres Buch Privacy and Freedom, das gemeinhin als die einflußreichste Publikation im Hinblick auf die in den westlichen Gesellschaften seit den späten 1960er Jahren einsetzenden Debatte um Privatheit und Datenschutz gilt, in deren Rahmen die zunehmende Überwachung, wenn auch keineswegs ausschließlich, zunächst diskutiert wird. Westin begründet Privatheit als eine universale Kategorie gleichsam anthropologisch, um das von ihm skizzierte, durch neue Möglichkeiten technisierter Überwachung entstandene Ungleichgewicht insbesondere zwischen staatlichen, politischen und privaten Interessen auszubalancieren. Er versteht Privatheit als »an instrument for achieving individual goals of self-realization«, 26 als einen Wert und Naturrecht mithin. Entsprechend definiert Westin »information privacy« als einen Anspruch »of individuals, groups or institutions to determine for themselves when, how and to what extent information about them is communicated to others«,27 der durch den Einsatz neuer informationstechnischer Verfahren jedoch eingeschränkt zu werden drohe. 25 | Edwards, Paul, The closed world: computers and the politics of discourse in Cold War America, Cambridge, Mass. 1996. 26 | Westin, Alan, Privacy and freedom, 1. Aufl., New York 1967, S. 39. 27 | Westin, Privacy and freedom, a.a.O., S. 7.
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Werden die natürlichen Barrieren staatlicher Macht wie Raum und Zeit durch die neuen Technologien der Überwachung obsolet, so müssen die technisch aufgehobenen Grenzen in der liberalen Vorstellung durch rechtliche Regularien substituiert werden. Dies wird anhand eines im gleichen Jahr wie Westins Buch im US-amerikanischen Magazin The Atlantic unter dem Titel National Data Center and Personal Privacy erscheinenden Beitrag deutlich, in dem Arthur R. Miller ebenso vor den invasiven Potentialen aktuell geplanter staatlicher Datenbanken warnt. Wie Westin so sieht auch Miller die Privatheit der amerikanischen Bürger durch Mißbrauch insbesondere staatlicher Dossiers bedroht und fordert Schutzmaßnahmen gesetzlich zu verankern. Er antizipiert die Potentiale technologischer Konvergenz durch die kybernetische Revolution und verdeutlicht die entscheidende Grenzübertretung, die das Argument begründet, zugleich aber auch den prekären Status des Privaten in der liberalen Konzeption verdeutlicht. Miller entwirft eine auf Rechentechnik basierende Kommunikationsmaschine, die über die Übertragung, Speicherung und Verarbeitung von Daten künftig räumliche und zeitliche Grenzen überwindet: »The modern computer is more than a sophisticated indexing or adding machine, or a miniaturized library; it is the keystone for a new communications medium whose capacities and implications we are only beginning to realize. In the foreseeable future, computer systems will be tied together by television, satellites, and lasers, and we will move large quantities of information over vast distances in imperceptible units of time.« 28
Auf Grundlage eines tendenziell ubiquitären Aneignens und Anwendens von Wissen potenziert Technisierung staatliche Macht über die Hemmnisse traditioneller, personaler Überwachung hinaus. Miller wie Westin ziehen ihr Selbstverständnis aus der Kontrastierung von liberalen demokratischen Gesellschaften gegenüber totalitären Regimen. Staatliche Macht solle durch den Staat begrenzt werden. So zeichnen sich nach Westin demokratisch verfaßte Gesellschaften durch eine »balance« aus, »that ensures strong citadels of individual and group privacy and limits both disclosure and surveillance«. Der Bürger sei aufgefordert, das ihm als Person eignende Recht auf Privatheit zu verteidigen und damit die gesellschaftliche Balance wieder herzustellen, wobei sich die Frage aufdrängt, ob es jenseits des Begriffs des Eigentums so etwas wie eine Person überhaupt gibt. Die Balance benötigt zwei voneinander unabhängige Gewichte, wobei der staatlichen Macht sowohl die Öffentlichkeit, in der sich die privaten Interessen artikulieren, und auch die Festungen des Privaten entgegengesetzt sind. »The democratic society relies on publicity as a control over government, and on privacy as shield for group and individual life. […] Liberal democratic theory assumes a good life for the individual must have substantial areas of interest apart from political participation.« 29 Gilt es die Balance von Bürger und Staat zu re-installieren, so sollte dieser Ansatz nicht nur die anlaufenden Debatten um die Datenschutzgesetzgebung bestim28 | Miller, Arthur R. »National Data Center and Personal Privacy«, in: The Atlantic (November) 1967, S. 53-57, hier S. 53. 29 | Westin, Privacy and freedom, a.a.O., S. 24. Zum Balancing-Paradigma bei Miller vgl. Miller, Arthur R., The Assault on Privacy: Computers, Data Banks, and Dossiers, Ann Arbor 1971.
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men. Insbesondere im Rahmen einer politikwissenschaftlichen Privacy-Debatte sollte er auch zu einem der zentralen Kritikpunkte im Rahmen der Surveillance Studies werden, die das liberale Konzept von Privatheit einerseits als Widerstandsmöglichkeit befürworten, es andererseits aber als zureichendes Argument gegen Überwachung ebenso anzweifeln. So hat unter anderem Charles Raab das »balancing paradigma« von Westin und Miller als eine »inadequate normative conception« kritisiert. In Wirklichkeit trage die heute noch vielfach verwendete Formel weniger zur Stabilisierung bei. Sie berge vielmehr die Gefahr, über den stets erneut deliberativen Prozeß sukzessive individuelle Freiheitsrechte abzuschleifen.30 Die Vorstellung des Privaten als Verteidigungsanlage schwächt den positiven Wert und somit sein Gewicht ab; im Moment seiner Verteidigung ist das Private bereits aufgehoben. Hat die Klage um das Ende der Privatheit es mittlerweile zwar zu einer eigenständigen Literaturgattung gebracht, so zeigt sich, daß Privatheit als Gegenkonzept zur Überwachung fehlt, weil der Begriff sich als ein vorgestellter Schutzraum entzieht und nur durch diese konstituiert wird. Überwachung ändere hingegen soziale Beziehungen, argumentiert David Lyon, indem sie nach Kriterien des Verdächtigen, Erwünschten und Unerwünschten Handlungen im Vorfeld ihrer Ausübung bereits sortiert und hierdurch auch private Rückzugsräume ändert. »The risks […] go well beyond anything that quests for ›privacy‹ or ›data protection‹ can cope with on their own«.31
3. O RWELLS G ESPENST Für Westin stellt sich der wachsende staatliche Überwachungsanspruch als ein »accidental by-product of electronic data processing for social well-fare and public-service ends« dar. Jener verbinde sich mit »the conscious trademark of European authoritarian systems«.32 Der amerikanische Publizist Vance Packard nimmt zur gleichen Zeit dagegen eine andere Perspektive ein, indem er bestimmte reale Szenen wie etwa die Konsum- und die Arbeitswelt in der amerikanischen Gegenwart antrifft, wo es durch Manipulation und Kontrolle um die Einschränkung von Freiheit geht. Bereits in seinem 1957 veröffentlichten Buch The Hidden Persuader beschreibt er Verfahren der amerikanischen Werbeindustrie, das Bewußtsein von Konsumenten zu lenken, in The Naked Society von 1964 moderne Formen staatlicher und privater Überwachung, Verhalten zu steuern. »Heute wird in steigendem Maße erwartet«, heißt es in Die wehrlose Gesellschaft, »daß Vergangenheit und Gegenwart eines jeden von uns – eigentlich jedes Gebiet unseres Lebens – ein offe30 | Raab, Charles »Taking the measure of privacy: Can data protection be evaluated?«, in: International review of administrative sciences 62 (1996), Nr. 4, S. 535; Raab, Charles D., »From Balancing to Steering: New Directions for Data Protection«, in: Visions of privacy: policy choices for the digital age, hg. v. Rebecca A. Grant und Colin John Bennett, University of Toronto Press 1999, S. 68-93; Bennett, Colin John/Charles D. Raab, The governance of privacy: policy instruments in global perspective, Aldershot 2003. 31 | Lyon, David, Surveillance as Social Sorting: Privacy, Risk, and Digital Discrimination, London 2002, S. 2. 32 | Westin, Privacy and freedom, a.a.O., S. 362.
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nes Buch sein müßte; und daß alle Informationen über uns nicht nur aktenmäßig erfaßt, sondern im Handel frei erhältlich sein sollten«.33 Packard ist einer der ersten überhaupt, die Überwachung in den Kontext sozialen Wandels stellen. Wie Westin und Miller den Privatheits- und Datenschutzdiskurs, so stößt er im aufgeladenen Kontext der 1960er Jahre den Überwachungsdiskurs bei Berkeley-Absolventen wie Gary T. Marx an. Soziale Krisen und Bewegungen, die durch eine Politik im Zeichen von Law and Order beantwortet werden, bilden fortan den zeitgeschichtlichen Horizont, vor dem er sich in den westlichen Gesellschaften insgesamt zu formieren beginnt.34 Wenngleich die Konflikte in den Ländern höchst unterschiedlich ausgetragen werden, verbinden sich die politischen Antworten mit den gleichen technischen Lösungen. »Ihr seid nichts als ein nummeriertes Objekt im politischen Raum« formuliert der französische Soziologe und Neo-Marxist Henry Lefebvre Mitte der 1970er Jahre. Die Polizei sollte »zum Verwalter der im technischen Regelkreislauf sozialer Steuerungen und Eingriffe systemstabilisierenden Vernunft« werden, faßt Detlef Nogala Horst Herolds Programm einer Kybernetisierung der Polizei in Deutschland zusammen. »Die zunehmende Computerisierung der Verwaltung und der Ausbau von Überwachungsmethoden, verbunden mit einer zunehmenden Betonung der persönlichen Autonomie und Selbstverwirklichung«, hatten zu einer Situation geführt, wie Dominique Linhard feststellt, »in der es nicht mehr unwahrscheinlich erschien, dass sich die von George Orwell beschriebene Dystopie erfüllte«.35 Orwells Roman und das darin beschriebene Bild des allgegenwärtigen, sämtliche Handlungen und Gedanken überwachenden Großen Bruders bildet eine konstante, in der Regel rein metaphorisch verwendete Vorlage, vor der sich einerseits die Datenschutzdebatte, andererseits der Diskurs um die politische Tragweite und sozialen Implikationen von technisierter Überwachung abzeichnet. Der Roman ist mehr als nur ein Stück Literatur über ein reales totalitäres Regime. Vor dem Hintergrund unterschiedlich konkreter historischer Erfahrungen zum einen und der 33 | Packard, Vance, Die wehrlose Gesellschaft, vollständ. Taschenbuchausg. München u.a. 1966, S. 16. 34 | In der zweiten Auflage seines The end of liberalism pointiert Theodore Lowi seine These von der Krise und dem Umbau des liberalen Staates: »We had our crisis and did not survive it«, bescheinigt er im Vorwort seinem Land. Die Republikaner unter Richard Nixon hätten nur konsequent fortgesetzt, was in den 1960er Jahren unter den Demokraten Lyndon B. Johnson und John F. Kennedy nicht zuletzt als Modernisierung lokaler Polizeikräfte einmal begonnen wurde und im Watergate-Skandal einen vorläufigen Höhepunkt erreicht habe: »The Democrats are responsible for putting thousands of people under illegal surveillance. Democrats going back as far as Attorney General Robert Kennedy were responsible for drafting legislation that would legalize electronic surveillance under a variety of conditions. And in the 3½ years between August 1965 and December 31, 1968, there were 179 federal interventions using 184,133 federal troops, to combat racial disorders and civil rights demonstrations, menacing strikes, neighborhood riots, student marches, and the like.« Vgl. Lowi, Theodore, The end of liberalism: the second republic of the United States, 2. Aufl., New York 1979, S. 114. 35 | Linhardt, Dominique, »Die informationelle Frage. Element einer politischen Soziologie der Polizei- und Bevölkerungsregister in Deutschland und Frankreich (1970er und 1980er Jahre)«, in: Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte No. 3, 2007, S. 99-106, hier S. 99.
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Situation des Kalten Krieges zum anderen ist die Rezeption des Romans vom ambivalenten Bedürfnis politischer Selbstvergewisserung bestimmt. Gemeinhin wird das Bild des Großen Bruders mit einem personalisierten Diktator oder realen diktatorischen Regime identifiziert, das aus Sicht der liberalen Leserschaft des Westens entweder schon Geschichte ist oder aber sich im Ostblock und den stalinistischen Praktiken verorten läßt. Nicht nur gilt es, die totalitären Tendenzen im eigenen Lande zu überprüfen, sondern sich auch von diesen durch den Rekurs auf Orwell zu entlasten. Allein die Ambivalenz bleibt vor dem Hintergrund zunehmend technisierter Überwachung bestehen. »We did not fear that Orwell’s 1984 was just around the corner«, erinnert sich Sir Norman Lindop im Jahre 1978 hinsichtlich der Bemühungen der vergangenen Jahre um ein britisches Datenschutzgesetz, »but we did feel that some pretty frightening developments could come about quite quickly and without most people being aware of what was happening«.36 Abgrenzung bei gleichzeitiger Ahnung eines nicht mehr abwendbaren gesellschaftlichen Wandels, in dem den technischen Mitteln eine zentrale Rolle zukommt: Der Skandal von Orwells Roman besteht darin, daß er bestimmte Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft radikal zu Ende denkt und mit technisierter Überwachung verbindet. Bekanntlich entnimmt Orwell zahlreiche Elemente der britischen Kriegsgesellschaft und parodiert diese. Am Großen Bruder erregt sich die Angst, daß aus einem ideologischen Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, dem Egalitätsprinzip, eine totalitäre Gesellschaft hervorgehen kann. Der Große Bruder besetzt symbolisch den Ort der Macht als den Ort aller Gleichen und fordert die unbedingte Teilnahme aller an diesem Ort unter dem Gleichheitsprinzip. Alle Gleichen sind aufgefordert, Abweichungen vom normierten Verhalten festzustellen, Gleichheit zu überwachen und hierdurch die Einheit der Gleichen zu garantieren. Der einzelne ist Teil dieser Maschine, die Denken und Wissen formt und auf die eine Wahrheit fixiert, die im Roman das Wahrheitsministerium repräsentiert. Diese bedient sich der Sprechakte der Bedrohung, die Sinn und Einheit stiftend technisch permanent die Präsenz des äußeren Feindes und der möglichen Katastrophe evoziert. Doch zur Legitimation dieser vollkommenen Politisierung des Lebens bedarf es mehr noch des inneren Feindes, Winston Smith, und zwar als fortwährend notwendigen Anlasses, Gleichheit herzustellen und sämtliche »politisch maßgeblichen Unterschiede« auszulöschen. Es ist der Punkt, wo, wie Karl Löwith bemerkt hat, Massendemokratie in ihr Gegenteil umschlägt: »in eine totale Politisierung aller, auch der scheinbar neutralsten Lebensgebiete«.37
36 | Zit. nach Campbell, Duncan/Steve Connor, On the record: surveillance, computers, and privacy: the inside story, London 1986, S. 20. 37 | Giorgio Agamben hat dieser Beobachtung Löwiths gleichsam die Dialektik der Aufklärung nochmals abgerungen, wenn er bemerkt: »Es ist gleichsam, wie wenn von einem bestimmten Zeitpunkt an jedes politische Ereignis ein doppeltes Gesicht angenommen hätte: Die Räume, die Freiheiten, die Rechte, welche die Individuen in ihren Konflikten mit den zentralen Mächten erlangen, bahnen jedesmal zugleich eine stille, aber wachsende Einschreibung ihres Lebens in die staatliche Ordnung an und liefern so der souveränen Macht, von der sie sich eigentlich freizumachen gedachten, ein neues und noch furchterregenderes Fundament.« Agamben, Giorgio, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002, S. 129.
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»Why do we find the world of 1984 so harrowing?«, fragt James B. Rule in der ersten umfassende soziologische Studie zur Überwachung unter dem Titel Private Life and Public Surveillance von 1973, die innerhalb des Textkorpus einen die Surveillance Studies gewissermaßen präludierenden Klassiker darstellt. »Its influence on this study will be abundantly clear«, schreibt er.38 Rules Absicht ist es, die sich allenthalben aufdrängende Frage zu beantworten, ob sich aufgrund zunehmender Überwachung eine Gesellschaft abzeichne, in der sich die im Roman beschriebene totale Welt ankündigt. Überwachung entstamme dem Bereich sozialer Kontrolle, kennzeichne seit jeher eine vieldeutige Praxis sozialer menschlicher Beziehungen. Sei diese einerseits mit der Frage gesellschaftlicher Größenverhältnisse verknüpft, so andererseits mit technologischem Wandel verbunden. Umso ausgedehnter und komplexer gesellschaftliche Beziehungen werden, umso mehr steige der Bedarf für neue Überwachungspraktiken und -techniken, damit soziale Regeln und Normen durchgesetzt und Verstöße geahndet werden könnten. Für Rule sind neue Überwachungspraktiken Ausdruck und Notwendigkeiten im Zuge von Modernisierungsprozessen. Implizit folgt er Max Weber, wenn er bemerkt: »Faced with the problem of securing compliance from a mobile, anonymous public any regime must do its best to develop techniques to replicate the functions of gossip and face-to-face acquaintance in small-scale social settings.«39 Insofern umfaßt Überwachung aus der soziologischen Perspektive Rules immer auch einen integrativen Aspekt. Am Grad ihrer Formalisierung spiegle sich der Umgang mit gesellschaftlicher Komplexität wieder. Gerade die Auflösung traditioneller sozialer Beziehungen durch technisch mediatisierte soziale Kontrolle wird zu einem der zentralen analytischen Anknüpfungs- und auch Kritikpunkte der Surveillance Studies. 40 Für Rule jedoch sind diese Implikationen entweder noch nicht sichtbar oder bilden kein hinreichendes Argument im Rahmen seiner Auffassung von moderner Gesellschaft. Er entwirft ein an Nineteeneigthyfour orientiertes idealtypisches Modell einer »total surveillance society«, die er anhand empirischer Studien zur Überwachung durch Polizei und Versicherungen in Großbritannien sowie Konsumentenüberwachung durch Kreditkarten zu überprüfen hofft. Kommt er zu einem negativen Ergebnis, so ist bezeichnend, daß er als Gründe vor allem Grenzen der technischen Leistungsfähigkeit der Systeme präsentiert.
38 | Rule, James, Private lives and public surveillance, London 1973, S. 13ff. 39 | Ebd., S. 21. 40 | So weisen unter Bezugnahme auf Erving Goffman unter anderen Clive Norris und Mike McCahill aus kriminologischer Perspektive auf die sich verschiebenden Blickbeziehungen im öffentlichen Raum durch den Einsatz von Videoüberwachung hin und bedauern deren Verlust dieser personalen Bindungen. Durch die Technik entstehen Asymmetrien, die die Generierung von Verdacht und damit auch die Machtverhältnisse im Raum veränderten. McCahill, Michael, »Beyond Foucault. Towards a contemporary theory of surveillance«, in: Surveillance, Closed Circuit Television and social control, Aldershot 1999, S. 41-65; Norris, Clive/Gary Armstrong, The maximum surveillance society. The rise of CCTV, Oxford/New York 1999; Norris, Clive, »From personal to digital. CCTV, the panopticon, and the technological mediation of suspicion and social control«, in: Surveillance as social sorting. Privacy, risk and digital discrimination, London/New York 2003, S. 249-281.
S URVEILL ANCE S TUDIES »Total surveillance, under anything like the present state of technology and social organization, is impossible. One simply cannot envisage how it would be feasible for any regime literally to watch everyone all of the time, to digest the resulting information continually and fully, and to remain eternally ready to respond.« 41
Reichten die neuen Überwachungssysteme nicht hin, um von einer Verwirklichung eines Orwellschen Überwachungsstaats sprechen zu können, so leitet Rule aus dem gegenwärtigen Stand der Rechner- und Datenverarbeitungstechnologie vier limitierende Kriterien ab, mit denen er seine Feststellung begründet. Die Kapazitäten seien bislang durch die Größe der Dateien (size), den Grad der Zentralisierung im Sinne von Systemumfang (centralization), die Geschwindigkeit der Datenübertragung und die damit verbundene akzelerierte Entscheidungsfindung (speed of flow) und schließlich durch die Anzahl der vorhandenen Kontaktpunkte (points of contact) begrenzt, was die Überwachung der Subjekte einschränke. Gerade weil diese Faktoren aber bestehende Grenzen sichtbar machen, weisen sie ex negativo auf wesentliche Pfade der künftigen technologischen Entwicklung wie auch des Überwachungsdiskurses hin. Die Barrieren durch Zeit und Raum sind noch nicht gänzlich überwunden. Noch repräsentiert der Großrechner mit surrenden Magnetbändern das Bild vom Computerzeitalter. Gleichzeitig kündigt sich in den 1970er Jahren die mikroelektronische Revolution an: In der gleichen Ausgabe von The Atlantic, in der auch Arthur R. Millers erwähnter Beitrag erscheint, wirbt IBM mit einer an James Bond, der filmischen Repräsentationsfigur des Kalten Krieges im Westen, mahnenden Entschlossenheit, den Wettkampf um die Kostenreduktion der Datenverarbeitung zu gewinnen » – before some other company does«. 42 Im LIFE-Magazin wird 1970 der mannigfaltige Nutzen des Heimcomputers von der Haushaltsplanung über die Organisation abendlicher Menüs bis hin zur Erledigung der Schularbeiten propagiert. Die amerikanische Kleinfamilie erscheint als ein Verbund von »early adopters«. Der Computer soll Innovation in den privaten Konsumentensektor der Überflußgesellschaft bringen und damit den übersättigten Markt wieder antreiben: »While the market hardly rivals TV sets or refrigerators, the computer-as-homeappliance is now more than just a toy for the wealthy or a mysterious instrument for technical specialists.« 43 Ein Jahrzehnt später wird sich das Bild vollkommen gewandelt haben. Bei gleichzeitiger Miniaturisierung der Einzelkomponenten kann die Rechenleistung enorm gesteigert werden. Was Anfang der 1970er Jahre noch Platz im Ausmaß von Werkhallen beanspruchte, läßt sich Ende der 1980er Jahre verdreifacht im heimischen Desktop-Computer unterbringen. Eine technische Revolution ist im Gange, die traditionelle begriffliche Grenzziehungen aufweicht.
41 | Rule, Private lives and public surveillance, a.a.O., S. 319. 42 | IBM-Werbung in The Atlantic, Nov. 1967. Zu finden unter: http://blog.modernmechanix. com/2010/04/29/this-ibm-physicist-is-working-to-reduce-the-cost-of-data-processingeven-more-before-some-other-company-does/. 43 | Shamberg, Michael, »The Handy Uses of a Home Computer«, LIFE, Jan. 1970, S. 48-51, hier S. 49.
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4. D IE M A XIMUM S URVEILL ANCE S OCIE T Y Gary T. Marx’ Studie Undercover. Police Surveillance in America von 1988 markiert so etwas wie den Beginn der Surveillance Studies. Beruft sich Rule noch auf einen literarischen Text, um die Wirklichkeit zu erfassen, so schöpft Marx aus der konkreten Erfahrung als politisch aktiver Student in Berkeley während der 1960er Jahre. Illegitime polizeiliche Praktiken gegen politische Bewegungen bilden den Motivationshintergrund der Studie. 44 Sie bilden jedoch nicht den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung. Nicht verdeckte Ermittlungsmethoden gegen unliebsame soziale und politische Bewegungen oder exzeptionelle Ereignisse untersucht Marx, sondern vielmehr solche gegen alltägliche Formen der Kriminalität. Nach der Aufdeckung der politischen Skandale und der Verabschiedung neuer Gesetze in den 1970er Jahren haben sich die verdeckten Taktiken polizeilicher Überwachung gerade auf den alltäglichen Bereich verlagert. Der urbane Raum ist in den Blick der Überwachung geraten, der aus der durch Kriminalität bedrohten inneren Sicherheit seine Rechtfertigung zieht. Es bedarf eines neuerlichen Feindes, der vor der öffentlichen Meinung die Mittel der Überwachung legitimiert. Nicht nur die Anzahl habe zugenommen, sondern auch die Ziele und Mittel verdeckter Ermittlungen haben sich verändert. An die Stelle des opponierenden Studenten tritt der einzelne Kriminelle als durch die neuen Verfahren jetzt klar fixierbares Opfer, argumentiert Marx: »Traditionally, undercover operations were targeted against consensual crimes […] and they tended to focus on petty operators, street criminals, and other so-called lower-status persons. This has changed. Anticrime decoys, fencing stings (police posing as purchasers of stolen goods), and infiltration have brought the tactic to relatively unorganized street crime and burglary, thus including crimes, where there is a clearly identifiable victim. Undercover agents have adopted a new role – that of victim rather than co-conspirator. For example, a police officer may now pose as a derelict with an exposed wallet in order to foster a crime.« 45
Stuart Hall und Kollegen rekonstruieren in Policing the Crisis, wie in Großbritannien über das Zusammenspiel von Medien und neuen, aus den Vereinigten Staaten importierten Konstruktionen von Kriminalität, insbesondere des mugging (von jugendlichen Minderheiten begangener Straßenraub), eine »moral panic« erzeugt wird, die zur Legitimation von Law-and-Order-Strategien beiträgt, 46 die perpetuiert zu Beginn der 1990er Jahre nicht zuletzt maßgeblich zum Durchbruch von Video44 | Als politisch engagierter Student in Berkeley selbst mit verdeckter Polizeiermittlung konfrontiert, erkennt er in dieser persönlichen Erfahrung einen allgemeinen Trend, der sein Interesse an polizeilichen Strategien und deren vollkommener Unzulänglichkeit bei Rassenunruhen weckt. »Police accountability and the duality of social control received widespread public attention through revelations regarding the ›dirty tricks‹ campaigns directed at the civil rights, antiwar, and other movements, and through Watergate and its aftermaths«, schreibt er rückblickend: »These events made clear the dangers of a secret political police and the ease with which the state could engage in practices abhorrent to a free society«; vgl. Marx, Gary T., Undercover. Police surveillance in America, Berkeley 1988, S. xviii. 45 | Marx, Undercover Policing, a.a.O., S. 7. 46 | Hall, Stuart, Policing the crisis: mugging, the state, and law and order, London 1978.
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überwachung im Vereinigten Königreich beiträgt. 47 In Deutschland ist es der Moment, in dem im Zeichen des RAF-Terrorismus der Begriff der inneren Sicherheit formuliert wird und vermehrt avancierte Technologien in die polizeiliche Praxis eingeführt werden. 48 Marx konstatiert somit eine Wanderung der verdeckten, nicht zuletzt auch aus dem geheimdienstlichen Ermittlungsbereich stammenden Maßnahmen in andere Kontexte und begründet diese mit einer Neuausrichtung polizeilicher Tätigkeit vor dem Hintergrund rapide ansteigender Kriminalitätsraten bei der Straßenkriminalität sowie veränderten Kriminalitätsmustern, die das Feld der Wirtschaftskriminalität (white-collar crime) neu begründen. Wo der Einsatz von Kontroll- und Überwachungstechnik, wie in den USA der 1970er Jahre, durch handfeste politische Skandale delegitimiert erscheint, verlangt sie nach neuen Feldern. Das sich hier anzeigende Muster funktionaler Wanderung (function creep) sollte zum Kennzeichnen einer neuen Dimension von Überwachung werden. Aus bisherigen Anwendungen werden neue legitimierende Nutzungszusammenhänge abgeleitet, die bei der ursprünglichen Einführung weder vorgesehen noch intendiert waren. »Arguably, function creep is one of the most operational dynamics of contemporary surveillance«, konstatieren knapp zwei Jahrzehnte später Kevin Haggerty und Richard Ericson. 49 Marx untersucht unterschiedliche Verfahren technisierter Überwachung, die auch aus anderen Technologien als dem IT-Bereich stammen, wie Video- und Abhörtechniken, und folgt dabei den einzelnen Ausbreitungspfaden der Artefakte bis in die Alltagswirklichkeit hinein. Überwachung habe sich entgrenzt und überschreite dabei auch die Demarkationslinie der Kriminalität, indem sie den Bürger in die Überwachung als doppelte Kontrollinstanz einbindet. Die institutionellen Grenzen zwischen staatlicher Kontrollmacht und sozialer Kontrolle verwischen wie die Grenze zwischen Kriminellen und Nicht-Kriminellen: 47 | Norris/Armstrong, 1999 a.a.O.; McCahill, Michael/Clive Norris, Urbaneye Working Paper No. 3, 2002: CCTV in Britain. www.urbaneye.net/results/ue_wp3.pdf.; Zur Geschichte der Videoüberwachung vgl. insbesondere Moran, Jade, A brief chronology of photographic and video surveillance, in: Surveillance, Closed Circuit Television and social control, Aldershot 1999, S. 277-287 sowie Kammerer, Dietmar, Bilder der Überwachung, 1. Aufl., Frankfurt a.M. 2008, S. 35-72. 48 | Vgl. Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren des Bundes und der Länder (1972). Darin heißt es: »Das Anwachsen der Kriminalität hat mancherorts Zweifel an der Fähigkeit des demokratischen Staates entstehen lassen, mit den Gefahren fertig zu werden. Die Feststellung, daß die Befürchtungen – nüchtern betrachtet – vielfach übertrieben sind, ändert daran nichts. Der Bürger erwartet von den Verantwortlichen klare Aussagen, wie den Problemen begegnet werden soll. Er erwartet auch, daß die erforderlichen Maßnahmen durchgeführt werden.«; vgl. Nogala, Detlef, Polizei, avancierte Technik und soziale Kontrolle. Funktion und Ideologie technikbesetzter Kontrollstrategien im Prozeß der Rationalisierung von Herrschaft, Hamburger Studien zur Kriminologie, Pfaffenweiler 1989 sowie Heinrich, Stephan, »Technik und Systeme der Inneren Sicherheit«, in: Auf der Suche nach neuer Sicherheit. Fakten, Theorien und Folgen, hg. v. Hans-Jürgen Lange, H. Peter Ohly, und Jo Reichertz, 2. Aufl., Wiesbaden 2009, S. 203-220. 49 | Haggerty, Kevin D./Richard V. Ericson, The new politics of surveillance and visibility, Green College thematic lecture series, Toronto u.a. 2006, S. 19.
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L EON H EMPEL »The study of undercover police is ultimately about much more than cops and robbers: it is one strand of the new surveillance. Powerful new information-gathering technologies are extending ever deeper into the social fabric and to more features of the environment. […] People are in a sense turned inside out, and what was previously invisible or meaningless is made visible and meaningful. This may involve space–age detection devices that give meaning to physical emanations based on the analysis of heat, light, pressure, motion, odor, chemicals or physiological process, as well as the new meaning given to visible individual characteristics and behavior when they are judged relative to a predictive profile based on aggregate data.« 50
Beschreibt Rule Überwachung noch in Kategorien der Begrenzung, so Marx in Kategorien der Entgrenzung. In mehreren sich stetig erweiternden Anläufen bemüht er sich um eine Art phänomenologischer Durchdringung technisierter Überwachung, indem er der neuen Überwachung die traditionelle gegenüberstellt und beharrlich fragt, was das Neue an der neuen Überwachung sei.51 So überwinden die neuen technisierten Praktiken physikalische Barrieren, ermöglichen Überwachung aus prinzipiell endlos großer Distanz. Gleichzeitig resultiere aus der fortschreitenden Miniaturisierung die Invisibilisierung der technischen Artefakte. Das Technik repräsentierende Bild tritt in den Hintergrund und wird ersetzt durch die ästhetisch perfekte Oberfläche, hinter der die technischen Abläufe verschwinden. Nicht mehr die Großrechner, die sich einst sperrig und exzeptionell aus dem Alltag heraushoben, sondern die in die Unsichtbarkeit miniaturisierte Rechentechnik sollte in den nächsten zwei Jahrzehnten ubiquitär mit dem Leben und den Dingen vom Kühlschrank bis zum Personalausweis konvergieren. Ebenso überschreite die neue Überwachung die Bedeutung von Zeit. Die prinzipiell unendlichen Speichermöglichkeiten der Computertechnologie steigern das Gedächtnis der Organisationen. Zugleich machten sie Vergangenheit nicht nur vermeintlich sichtbar, sondern erheben auch den Anspruch, Zukunft zu visibilisieren. Der Zweck der neuen Überwachung bestehe in der Antizipation und Prävention von Verhalten. Auch erfolge die neue Überwachung unfreiwillig, ohne daß die betroffenen Individuen die Maßnahmen mehr ahnten. Gleichzeitig werden sie aber zu aktiven Partnern der Überwachung, indem sie in Alltagshandlungen in die technischen Prozesse eingebunden, aber im Rahmen von polizeilichen Responsibilisierungsstrategien zur Eigeninitiative aufgefordert sind. Steigert der permanente Einsatz die Effizienz, so zielt die neue Überwachung nicht mehr nur auf spezifisch Verdächtige, sondern vielmehr auf die kategoriale Verdächtigung jedes einzelnen: »The new forms of control are helping to create a society where everyone is guilty until proven innocent.«52 In den 1990er Jahren wird sie im öffentlich zugänglichen Raum sichtbar, allem voran in Großbritannien. So bezeichnet Stephen Graham Videoüberwachung bereits 1998 neben Gas, Wasser, Elektrizität und Kommunikation als eine »fifth 50 | Marx, Gary T., Undercover. Police surveillance in America, a.a.O., S. 206. 51 | Marx, Gary T., »I’ll Be Watching You – Reflections on the New Surveillance«, in: Dissent 32, 1985, no. 1, S. 26-34; »The Surveillance Society«, a.a.O.; Ders.: Undercover. Police surveillance in America, a.a.O.; Marx, Gary T., »What’s new about the ›new surveillance‹? Classifying for change and continuity«, in: Surveillance & Society 1, 2002, no. 1, S. 9-29. 52 | Marx, Gary T., Undercover. Police surveillance in America, a.a.O., S. 219.
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utility«, eine fünfte Säule städtischer Infrastruktur, dabei markiert diese Feststellung nicht nur eine neue Dimension der Ausbreitung, sondern zugleich einen neuen Grad erreichter Normalisierung und Gewöhnung.53 Überwachung tritt in den Hintergrund des Selbstverständlichen. Die Tendenz zur automatisierten digitalen Überwachung lässt Clive Norris und Gary Armstrong in ihrer 1999 publizierten Studie zum Aufstieg der Videoüberwachung gewissermaßen als Replik auf Rule nunmehr von einer Maximum Surveillance Society sprechen.54
5. Ü BERWACHUNG ALS S OZIALE S ORTIERUNG Marx’ Abgrenzung von traditionellen gegenüber neuen technisierten Formen der Überwachung eröffnet eine ganze Reihe von Fragestellungen, die das Thema sowohl in den polizeilichen Kontext zurückbinden als auch aus dem hoheitlichen Komplex herauslösen. Insbesondere die Vertreter der kritischen Kriminologie wie Hagerty und Ericson haben den Einsatz von Überwachung als Zeichen der Transformation von der Industrie- zur Risikogesellschaft gelesen und in diesem Rahmen Veränderungen polizeilicher Strategien hin zu proaktiven Praktiken beschrieben. Indem unter dem Risikoparadigma grundsätzlich jeder einzelne ohne Wissen hierüber zum Verdächtigen werden kann, erweisen sich die neuen Formen der Überwachung als riskante Technologien, die die ideologischen Postulate liberaler aufgeklärter Gesellschaften wie Freiheit, Gleichheit und Emanzipation radikal in Frage stellen, Politik gleichsam auf einen Rest der Bevölkerungsgestaltung im Sinne von Foucaults Konzept der Biomacht reduzieren. »Surveillance provides biopower, the power to make biographical profiles of human populations to determine what is probable and possible for them.«55 Der Beginn der Surveillance Studies ist von der Feststellung markiert, daß heterogene Elemente des Alltagslebens auf elektronischer Basis sich zu hybriden Profilen verbinden lassen, die gleichsam eine Grammatik des »futur antérieur« ermöglichen.56 Identitäten und Verhaltensweisen, die als solche noch nicht realisiert sind, erhalten durch die in den Kontrollapparaturen eingeschriebenen Algorithmen der vorweggenommenen Bedrohungserkennung einen Status zukünftiger Gegenwart. Die als computer oder data matching, dataveillance, profiling oder auch Personendifferenzierung bezeichnete Praxis erlaubt den Abgleich unendlicher maschinenlesbarer Information, um Verhaltensweisen statistisch zu generieren, um hieraus Vorhersagen abzuleiten. Roger Clarke definiert bereits 1987 Profiling als »multi-factor file analysis of all data held or able to be acquired, whether or not they appear to be exceptional, variously involving singular profiling of data held at a point in time, or aggregative profiling of transaction trails over time«. Dabei handle es sich in 53 | Graham, Stephen, »Towards the fifth utility? On the extension and normalisation of CCTV«, in: Surveillance, Closed Circuit Television and social control, Aldershot 1999, S. 89-112. 54 | Norris, Clive/Gary Armstrong, The Maximum Surveillance Society. The Rise of CCTV, Oxford, New York 1999. 55 | Ericson, Richard V./Kevin D. Haggerty, Policing the Risk Society, Oxford 1997, S. 450. 56 | Bigo, Didier, »Security, Exception, Ban and Surveillance«, in David Lyon, Theorizing Surveillance, the Panopticon and Beyond, 2006, S. 46-68, S. 56.
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Abgrenzung zu Formen der personal surveillance um eine routinisierte mass surveillance: »The organization therefore commences with a presumption of guilt on the part of at least some of the data subjects, although at the beginning of the exercise it is unknown which ones. The result is a prevailing climate of suspicion.«57 Profiling generiert also digitale Identitäten, die nicht nur der Abwehr, sondern der Vergegenwärtigung des Möglichen dienen, das personalisiert verhindert werden soll. Die präventive Wende polizeilicher Tätigkeit, die sich seit den 1970er Jahren vollzieht und bereits im kybernetischen Traum antizipiert ist, findet in den Techniken der Rasterfahndung und des Profiling ihre technische Entsprechung und überschreitet dabei die bislang fixierten kontextuellen Grenzen von Überwachung. Profiling steht damit in engem Zusammenhang mit technologischen Konzepten wie Ambient Intelligent und Ubiquitous Computing.58 »The society of strangers is now abstracted into machine systems within which no face-to-face human relations are possible. The data are collected, transmitted, sifted, sorted and shared promiscuously so that voluntary communication, and even consent, is seldom considered«, bemerkt David Lyon in The Electronic Eye: The Rise of Surveillance Society. Die alltägliche Nutzung des Computers als Kommunikationsmittel der Menschen sowie staatlicher wie nicht-staatlicher Organisationen verbindet dabei hoheitliche und private Interessen. Ebenso folgt eine wechselseitige Durchdringung ziviler und militärischer Anwendungszwecke. Der Entgrenzung von Überwachung nach innen entspricht immer auch eine fast unbemerkte nach außen auf Basis von Bedrohungsszenarien, die »ecological, public health, electronic, psychological, and economic threats« genauso einschließen wie »illegal immigrants carrying resistant strains of disease« oder »enemy soldiers, computer hackers« oder auch die »external manipulation of the American public psychology«, wie es in einer militärstrategischen Vision zur Durchsetzung der so genannten Revolution of Military Affairs aus dem Jahre 1994 heißt.59 Die Entgrenzung der Überwachung erweist sich als ein Verschwimmen traditionell am Begriff des Nationalstaats entwickelter Definitionen wie zwischen innerer und äußerer Sicherheit. »Le développement de la connaissance et des capacités d’anticipation est notre première ligne de défense«, heißt es im vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy beauftragten Weißbuch Défense et Sécurité nationale.60 57 | Clarke, Roger, Information Technology and Dataveillance 31, 1988, no. 5, S. 498-512, hier S. 512. 58 | Hildebrandt, Mireille, »Profiling and AmI«, in The Future of Identity in the Information Society. Challenges and Opportunities, hg. v. Kai Rannenberg, Denis Royer, Andre Deuker. Heidelberg 2009, S. 273-310. 59 | Es handelt sich hierbei um ein Szenario für das Jahr 2010, das Steven Metz und James Kievit vom Strategic Studies Institute am U.S. Army War College bereits 1994 mit dem Ziel entwerfen, die Revolution in Military Affairs auf conflicts short of war anzuwenden, also auf Konflikte jenseits des Krieges, die noch ein Jahrfünft zuvor als low-intensity wars einen integralen Bestandteil der bipolaren Systemauseinandersetzung darstellten und in den 1990er Jahren bereits als neue Kriege für die Legitimierung neuer Überwachungsmaßnahmen in urbanen Räumen sorgen. Vgl. insbesondere zum Aspekt der Militarisierung urbaner Räume Graham, Steve, Cities Under Siege. The New Military Urbanism, London 2010. 60 | Défense et Sécurité nationale: Le Livre Blanc, hg. von Jean-Claude Mallet, Paris 2008, S. 66.
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Die Kybernetik hat den Diskurs, nicht aber die Praxis verlassen. Sie durchdringt heute Normalität – im Gegensatz zu der Zeit als man noch von ihr sprach, ohne daß sie technisch realisiert war. Mit ihrer polizeilichen Anwendung versenkt sich der kybernetische Traum in die Praxis. Nur wenige Jahre nachdem Marx auf den klassifikatorischen Aspekt der neuen Überwachung aufmerksam gemacht hat, erweitert Oscar Gandy mit seinem Konzept des panoptic sort die Analyse neuer computerbasierter Überwachung auf die Welt des Konsums. Damit kommt eine neue Dimension der Überwachung in den Blick. Hatte Packard bereits 35 Jahre zuvor Verfahren der amerikanischen Werbeindustrie beschrieben, das Bewußtsein von Konsumenten zu lenken, so findet es in der »panoptischen Siebung« die Steuerung durch zielgruppenspezifische Sortierung von Angeboten, die aber nicht nur den Wünschen und Interessen, sondern auch dem sozialen Status der Kunden angepaßt werden, seine konsequente Fortsetzung. Kontrolle wird verbunden mit vermeintlich zusätzlichem Komfort. Denn tatsächlich werden, wie über die meisten kommerziellen Websites heute, Profile des Konsumenten, des »Bestellers des Bestandes« erstellt, um eine individualisierte effiziente Verteilung von Waren und Diensten zu ermöglichen. Es bezeichnet eine komplexe technologische Struktur, die sich davon nährt, Information von Individuen und Gruppen in ihren Rollen als Bürger, Mitarbeiter oder eben Konsumenten unmittelbar am täglichen Verhalten zu generieren, um hierdurch deren Zugang zu Waren und Dienstleistungen, sprich zu den Versprechungen des modernen Kapitalismus, zu konditionieren und die Warenströme zu koordinieren.61 »The panoptic sort is complex discriminatory technology. It is panoptic in that it considers all information about individual status and behavior to be potentially useful in the production of intelligence about a person’s economic value. It is discriminatory because it is used to sort people into categories based upon these estimates.« 62
Aus Sicht der Datensammler erscheint Profiling als Lösung, um auf lukrative Weise Herr über die Datenfluten zu werden. Gandys Konzept markiert die Ankunft im logistischen Dispositiv, das Heidegger antizipiert hatte. »Dabei geht es um Manipulation«, wie Laurence Lessig in seinem mittlerweile zum Kultbuch avancierten Klassiker Code und andere Gesetzmäßigkeiten des Cyberspace bemerkt, auf Grundlage sozialer und ökonomischer Differenzierung. Das Versprechen besserer Informierung des Kunden und differenzierter Wahlmöglichkeiten ist nur eine Seite der Medaille des Profiling. »Es gibt jedoch eine andere Möglichkeit«, wie er feststellt, »dass nämlich Profile eine zunehmende Normalisierung der Bevölkerung bewirken, aus der sie abgeleitet sind. Die Beobachtung beeinflusst die Beobachteten. Das System beobachtet was Sie tun, es presst Sie in ein Muster, das Muster fließt dann in Gestalt von Angeboten an Sie zurück, die Angebote verstärken das Muster, und der Kreislauf beginnt von vorn.«63
61 | Gandy, Oscar, The panoptic sort. Towards a political economy of information, Boulder 1993, S. 15. 62 | Gandy, The panoptic sort, a.a.O., S. 133f. 63 | Lessig, Lawrence, Code und andere Gesetze des Cyberspace, Berlin 2001, S. 272f.
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In dem Moment, in dem Überwachung die Grenzen der geschlossenen Milieus verläßt und Teil des Alltags wird, gerät sie als ein allgemeines soziales Phänomen in den Blick und erweist sich als eine Praxis »sozialer Sortierung«, die, in bewußter Erweiterung zum Privacy-Paradigma, David Lyon zum Leitparadigma der Surveillance Studies erklären sollte. »To consider surveillance as social sorting is to focus on the social and economic categories and the computer codes by which personal data is organized with a view to influencing and managing people and populations.«64 Im Zentrum technisierter Überwachung steht die Aufteilung nach Sichtbarkeiten. Dabei kann der Zweck dieser »Sichtbarkeitsregime« 65 sehr unterschiedlich sein, gilt es beispielsweise im Rahmen von Grenzregimen nicht zuletzt, unsichtbare Migranten technisch sichtbar zu machen, um ihnen die politische Sichtbarkeit wiederum zu entziehen und sie als illegal zu markieren. Die Folge der technisierten Sichtbarkeitsaufteilungen ist nicht zuletzt, daß rechtliche Normen wie Datenschutz- und Anti-Diskriminierungsgesetzgebungen an Durchsetzungskraft allenthalben notwendig einbüßen und sich auch das globale Normsystem verändert. So bedeutet schließlich die Transnationalisierung im Bereich Überwachung, realisiert beispielsweise durch auf Datenbanken realisierten Informationsaustausch, eine Harmonisierung, hinter der eine Deterritorialisierung des Rechts steht, die wiederum derogative Effekte zeitigen dürfte.
6. D IE S URVEILL ANT A SSEMBL AGE UND DAS V ERSCHWINDEN DER K ÖRPER Die Surveillance Studies untersuchen sozialen Wandel im Zeichen zunehmender Technisierung des Alltags: vom modernen zum post-modernen Subjekt, das sich in seinen Datenschatten verliert, von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft, von der traditionellen zur neuen Überwachung, vom Analogen zum Digitalen. Diese und ähnliche Formulierungen mehr zeugen von der Bemühung, die ubiquitäre Durchdringung und die sich verändernde Abhängigkeit von Technik und Gesellschaft zu verstehen, wobei Technik immer mehr traditionelle Verfahren der Kommunikation, sozialen Kontrolle und Normierung zu ersetzen scheint und hierdurch soziales Handeln verändert und bestimmt. Die Digitalisierung des Alltags re-strukturiere soziale Lebenswelten, sie erzeuge, wie Michaelis Lianos und Mary Douglas formulieren, »automated socio-technical environments«, in denen zahlreiche, wenn nicht gar sämtliche Handlungsentscheidungen durch zunehmend autonomer agierende Überwachungstechnologien vorherbestimmt seien und soziale Interaktionen und komplexe Aushandlungsprozesse auf eine binäre Logik reduziert werden.66 Nigel Thrift und Shaun French 64 | Lyon, David, Surveillance as social sorting: privacy, risk, and digital discrimination, London 2003a, S. 2. 65 | Hempel, Leon/Susanne Krasmann/Ulrich Bröckling, Sichtbarkeitsregime. Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert, Leviathan Sonderheft 25/2010, Wiesbaden 2011. 66 | Lianos, Michaelis/Mary Douglas, »Dangerization and the End of Deviance«, in: British Journal of Criminology 40, 2000, no. 2, S. 261.
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knüpfen hieran an. Sie sprechen aufgrund der pervasiven, ubiquitären Ausbreitung softwarebasierter Technologien von einer »automatic production of space«, die sich letztlich von sozialräumlichen Implikationen befreit habe, zugleich aber soziales Handeln in diesen Räumen maßgeblich präge. »Software challenges us to understand new forms of technological politics and new practices of political invention, legibility and intervention that we are only just beginning to comprehend as political at all«.67 Technisierte Überwachung verändert das Konzept der sozialen Kontrolle, indem sie ein »Regieren aus der Distanz« ermöglicht, was David Lyon wiederum von »disappearing bodies« sprechen läßt, in denen Menschen mit Hilfe elektronischer Medien agieren68 . Die soziale Kontrolle werde nicht mehr durch Präsenz als vielmehr durch eine institutionelle (mithin technologische) Normativität geprägt, wie Lianos ausführt, die die jeweils installierte Technik in den Räumen sichtbar repräsentiert. Die Technik agiert vollkommen unberührt von der Individualität der Subjekte. Im Rahmen ihrer eingeschriebenen Handlungsprogramme, bestimmte Regeln im Raum durchzusetzen, unterwandert sie die Möglichkeit der Kommunikation zwischen der durch die Technik repräsentierten und somit distanzierten Institution und dem Individuum vor Ort. Die Technisierung der Überwachung impliziert bei gleichzeitiger Steigerung ihrer Präsenz eine Invisibilisierung der kontrollierenden Instanz. »Institutional normativity leads to the destructuring of the social, to acute desocialisation«, schlußfolgert Lianos.69 Das soziotechnische Arrangement verändert das Konzept sozialer Kontrolle, in deren Fokus nicht mehr die Inklusion, sondern die Exklusion unerwünschten Verhaltens steht. Die institutionalisierte soziale Kontrolle besetzt damit den Ort des Politischen, indem sie die Möglichkeiten des Streits, des Dissens von vornherein ausschließt. Nach Kevin Haggerty und Richard Ericson formen die Kontroll- und Sicherheitstechnologien eine »surveillant assemblage«70, eine – im Anschluß an Gilles Deleuze und Félix Guattari formulierte – hybride verknüpfte, rhizomartige Struktur, die offenläßt, welche Sachverhalte und Techniken künftig in die Regime der Sichtbarkeit und Wissensproduktion einbezogen werden. Wesentlich aber bleibt, daß diese Technologien auf Techniken katastrophischer Imagination, der Bilderzeugung und -determination, selbst aufbauen und das Sprachrepertoire für politische Sprechakte der Sicherheit schaffen, die den Einsatz neuer Überwachung legitimieren. Technologien übersetzen katastrophisch Imagination in die Praxis
67 | Thrift, Nigel/Shaun French, The Automatic Production of Space 27, 2002, no. 3, S. 309335, hier S. 331. 68 | Lyon, David, The Surveillance Society. Monitoring everyday life, Philadelphia 2001, S. 15. 69 | Lianos, Social Control after Foucault, a.a.O., S. 412-430, hier S. 424. 70 | »This assemblage operates by abstracting human bodies from their territorial settings and separating them into a series of discrete flows. These flows are then reassembled into distinct ›data doubles‹ which can be scrutinized and targeted for intervention. In the process, we are witnessing a rhizomatic leveling of the hierarchy of surveillance, such that groups which were previously exempt from routine surveillance are now increasingly being monitored,« Haggerty, Kevin D./Richard V. Ericson, The Surveillant Assemblage, in British Journal of Sociology Vol. No. 51 Issue No. 4 2000, S. 605-622, hier S. 606.
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von »care and control« 71, die schließlich in den technischen Instrumenten und Apparaturen dann selbst wiederum einen imaginären Anteil finden. Prävention basiert auf Bildern negativer Ereignisse, die Zukunft als bloße Bedrohung und Katastrophe, die sie um der Bewahrung der Gegenwart willen auszulöschen sucht. Wird Zukunft imaginiert, so um sie durch Gegenwart zu okkupieren.72
7. D AS J ANUSGESICHT DER Ü BERWACHUNG Hat er sie einmal als ein konstitutives Element von Gesellschaft erkannt, bemüht sich insbesondere David Lyon um einen Begriff von Überwachung, der noch vor die Entwicklung der computerisierten Überwachungs- und Sicherheitstechnologie zurückgeht, um diese Entwicklung überhaupt begreif bar zu machen. Überwachung verlangt nach Technik. Dennoch sucht Lyon nach einem gewissermaßen noch unberührten Begriff der Überwachung, der nicht nur wissenschaftlich evident, sondern auch ethisch gerechtfertigt ist. Nach Lyon kennzeichnet Überwachung eine vieldeutige Praxis; vieldeutig, weil ganz unterschiedliche Handlungsweisen sich unter dem Begriff subsummieren lassen: Überwachen impliziert Beaufsichtigen wie auch Behüten, Observieren wie auch Umsorgen, Kontrollieren wie auch jemand nicht aus dem Auge verlieren usw. Gemessen an den prinzipiell unendlichen Beziehungen, die Überwachungspraktiken einschließen, bleibt sie als ein generelles Phänomen stets »zweischneidig«, wie Lyon immer wieder betont. Unmöglich lasse sich Überwachung auf eine alleinige »negative Konnotation« reduzieren. Der spezifische Doppelcharakter von »care and control«, von Kontrolle und Schutz, mache Definitionsbemühungen schwierig. Aus der Schutzfunktion, so ein möglicher Zusammenhang, gewinnt Kontrolle ihre Legitimation. Es bleibt unmöglich, Überwachung und Gesellschaft auf einen Punkt zu bringen, muß Lyon angesichts der Anschläge vom 11. September 2001 und der radikalen Folgen, der Entfesselung zahlreicher Überwachungspraktiken feststellen. Diese zeigen, daß das der Überwachung eigentümliche Verhältnis von Schutz und Kontrolle, in dem der Gedanke einer Balance erneut aufscheint, nicht nach festen Proportionen austariert werden kann. Jede Epoche ist von einem ihr zugehörigen Verhältnis bestimmt und verlangt daher jeweils immer wieder nach Kritik und Korrektur. »Since 9/11, however,
71 | Lyon, David, The Surveillance Society, S. 3. 72 | Insofern tritt neben das kybernetische Denken, das sich in aktuellen Formen technisierter Überwachung manifestiert, ein zweites, welches sich mit Imagination und Szenario verbindet, neben eine Figur wie die Norbert Wieners jene Herman Kahns, der Visionär des thermodynamischen Krieges. Während Wiener für ein universales technologisch-logistisches Wissenschaftsmodell steht, verbindet sich mit Kahn die Methodik, Undenkbares zu denken und hierdurch beherrsch- und kontrollierbar zu machen. Auch Kahn ging es um die Simulation und damit die Fixierung der Zukunft. Es gilt die atomare Katastrophe eines Dritten Weltkrieges überhaupt zu denken und durch eine angemessene Vorbereitung das Überleben der amerikanischen Gesellschaft zu sichern. Es dürfte von daher kein Zufall sein, daß die Erscheinung Herman Kahns seit dem amerikanischen war on terror eine Renaissance erlebt, die sich auch in akademischen Publikationen widerspiegelt.
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the pendulum has swung so wildly from ›care‹ to ›control‹ that I feel compelled to turn more robustly to critique.« 73 Das treibende Motiv der Surveillance Studies leitet sich somit stets erneut aus der Möglichkeit her, daß das imaginierte Schreckbild eines unkontrollierten Zusammenwirkens von Technik und Herrschaft innerhalb liberaler demokratischer Gesellschaften Realität werden könnte. Sie rührt aus dem spätestens durch Alexis de Tocqueville geäußerten Verdacht, daß Demokratie aufgrund ihrer stets prekären Struktur eine Tendenz zum Despotischen innewohnen könnte. Gerade dieser Verdacht wird mit dem Beginn des war on terror erneut aktualisiert. Vorausgesetzt, Demokratie zeichne sich durch offenen Konflikt, Kampf und Wettstreit aus, und vorausgesetzt, diese Konflikte, Kämpfe und Wettstreite erfordern nicht nur Rechte wie Rede- und Versammlungsfreiheit, sondern zugleich eine Bühne ihrer öffentlich sichtbaren und hörbaren Ausübung, so stellt sich erstens die Frage, ob dieser Ort des Austrags angesichts zunehmender Überwachung heute überhaupt noch erreichbar erscheint und falls ja, für wen. Identifikation und Lokalisierung sind Ziele der Überwachung auf Grundlage permanenter Informationssammlung und -verarbeitung; wo es um die Steuerung von Verhalten geht, zielt sie zudem auf Kontrolle und Durchsetzung präjudizierter Regeln und Normen. Ist das Verhältnis von Schutz und Kontrolle zu keiner Zeit fest bestimmbar, muß sich auch der Begriff der Überwachung einer gültigen Definition entziehen. In seiner Studieneinführung macht dies Lyon kenntlich, wenn er auf die rhetorische Frage »So what is surveillance?« antwortet: »For the sake of argument, we may start by saying that …«.74 Nach Lyon stellt sich für die Surveillance Studies vor allem die Aufgabe, das für Überwachung konstitutive Verhältnis für jede Zeit neu zu bestimmen. Perpetuiert sich der kybernitsche Traum in der Digitalisierung des Alltags, so wenden sich die Surveillance Studies gegen das allgemein gültige Modell einer Technokultur, indem sie es durch ihre Beschreibungen und Kritiken zu historisieren beanspruchen. Dies heißt, den Konflikt um die Proportionen von care and control immer wieder neu auszufechten und zu politisieren. In diesem Sinne sind die zahlreichen Surveillance-Studies-Protagonisten über den akademischen Rahmen hinaus aktiv und bemühen sich über die Gründung eines SurveillanceStudies-Network um öffentliche wie politische Aufmerksamkeit. Der bislang öffentlichkeitswirksamste Erfolg hierbei dürfte nicht zuletzt der 2006 vom britischen Datenschutzbeauftragen in Auftrag gegebene und bis in Politik und Forschungsprogramme wahrgenommene Report on the Surveillance Society sein. Darin heißt es eingangs: »We live in a surveillance society. It is pointless to talk about surveillance society in the future tense. In all the rich countries of the world everyday life is suffused with surveillance encounters, not merely from dawn to dusk but 24/7. Some encounters obtrude into the routine, like when we get a ticket for running a red light when no one was around but the camera. But the majority are now just part of the fabric of daily life. Unremarkable.«75 73 | Lyon, David, Surveillance after September 11th, Cambridge 2003b, S. 149. 74 | Lyon, Surveillance studies: an overview, a.a.O., S. 14. 75 | Surveillance Studies Network. A Report on the Surveillance Society. www.ico.gov.uk/ upload/documents/library/data_protection/practical_application/surveillance_society_ full_report_2006.pdf.
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Visual Studies Sophia Prinz/Andreas Reckwitz
1. B ILDER UND S EHEN : O KUL ARZENTRISMUS UND I KONOKL ASMUS Visus verweist auf das Gesehene und ist abgeleitet von videre, dem Sehen. Das Visuelle, der Gegenstand der Visual Studies, bezeichnet diesen Zusammenhang: Es umfaßt die Objekte des Sehens, die ›Bilder‹, ebenso wie die Praktiken des Sehens als Prozesse sinnlicher Wahrnehmung. Die Visual Studies als kulturwissenschaftliche Forschungsrichtung liefern Strategien zur Analyse dieser Praktiken des Sehens sowie der Strukturierung und Aneignung von Bildwelten in ihren sozial-kulturellen, historisch spezifischen Formen und Kontexten. Daß in der Postmoderne eine quantitative Explosion der Bilder – genauer: der künstlich produzierten und technisch reproduzierten Bilder – stattfindet, die eine aktive Visualisierung der Dinge betreiben, ist häufig festgestellt worden. Die postmoderne Kulturkritik hat diesen Relevanzgewinn der Visualität als rationalitätskritische Befreiung der Wahrnehmung gelobt oder als Bedeutungsverlust des Realen problematisiert – so Lyotard in seiner These von der Verschiebung vom ›discours‹ zur ›figure‹ und Baudrillard in seiner Kritik an den ›Simulakren‹. 1 Diese postmoderne Ubiquität des Bildlichen in den Massenmedien der Fotografie, des Fernsehens und des Films, in der digitalen Form des Internet und der Bildgestaltung am Computer, aber auch in den wissenschaftlichen, teilweise popularisierten Visualisierungen (zum Beispiel neurophysiologischen Bildgebungsverfahren), die weit über die abgezirkelte klassische Bildlichkeit der sogenannten Bildenden Kunst hinausreicht, liefert einen entscheidenden Anstoß für die Entstehung der Visual (Culture) Studies seit den 1980er Jahren, die vom englischsprachigen Raum ausgehen. 2
1 | Lyotard, Jean-Francois, Discours, figure, Paris 1971; Baudrillard, Jean, Symbolic Exchange and Death, London 1993. 2 | Der Begriff »Visual Culture« wurde zuerst von Michael Bandaxall lanciert und später von Svetlana Alpers aufgegriffen und ausgebaut. Vgl. Bandaxall, Michael, Painting and Experience in 15th century Italy, Oxford 1972; Alpers, Svetlana, The art of describing: Dutch art in the seventeenth century, Chicago 1983. Die wichtigsten programmatischen Texte der Visual Studies versammeln Morra und Smith: Morra, Joanna; Smith, Marquard (Hg.), Visual Culture. Critical Concepts in Media and Cultural Studies, Bd. 1: What is visual culture studies?, London (et al.) 2006. Siehe auch Dikovitskaya, Margaret, »The study of visual culture. A
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Die zeitgenössische Verbreitung der (künstlichen) Bilder und ihre Integration in die Alltagspraktiken hat jedoch eine deutlich darüber hinausgreifende Neukalibrierung der Perspektive auf das Kulturelle angestoßen, die sich auf Gegenwart und Vergangenheit gleichermaßen bezieht. Sie ist nicht nur auf die Bilder, sondern auf das Sehen gerichtet. Die Genealogie der Moderne wird als eine Genealogie von sinnlichen Wahrnehmungsweisen insgesamt rekonstruierbar, die medientechnisch wie institutionell und diskursiv ermöglicht worden sind. In diese Genealogie der Wahrnehmungsformen in ihrer Gesamtheit ist die visuelle Wahrnehmung mit ihren spezifischen komplexen Ensembles von Praktiken, Subjekten und Artefakten eingebettet. Die Visual Studies stehen damit einem lange gepflegten intellektuellen Ikonoklasmus, einer analytischen und normativen Abwertung der Bilder und des Sinnlichen zugunsten der Sprache und des Handelns, sowie einer entsprechenden Reduktion der Visualität auf einen Gegenstand der akademischen Kunstgeschichte entgegen. Sie profitieren dabei von der Verarbeitung eines breiten Spektrums kulturtheoretischer Strategien von der Semiotik bis zur Medientechniktheorie. Die Prägekraft und historisch-kulturelle Kontingenz der Bildlichkeit und des Sehens vom Beginn der Kulturentwicklung bis zur Postmoderne sind im Zuge des ›Visual Turn‹ zunehmend ins Bewußtsein gerückt. Der menschliche Sehsinn ist kein individueller Besitz oder eine einfache anthropologische Konstante, sondern seit den archaischen Kulturen im Ensemble mit (wie auch in Konkurrenz zu) den anderen Sinnen in spezifischen sozialen Praktiken modelliert worden, in Praktiken des Beobachtens, des Betrachtens, des panoramaartigen Schauens oder des voyeuristischen Blicks. Schon sehr früh sind dabei auch spezifische visuelle Objekte zum Einsatz gekommen. Die frühen Hochkulturen haben dem Gebrauch des Auges mit der Erfindung der Schrift dann eine neue Richtung gegeben: Die Schriftkultur fixiert den Sehsinn. Sie züchtet ihn einerseits auf Kosten der anderen Sinne heran (worauf McLuhan hingewiesen hat), andererseits lenkt sie ihn von den Bildern ab und auf die Unanschaulichkeit der zu dechiffrierenden Sprachsequenzen hin. Die Moderne hat seit der Frühen Neuzeit neue visuelle Konstellationen hervorgebracht.3 In der Rückschau hat man sie als eine okularzentrische Kultur charakterisiert, eine Diagnose, wie sie summarisch in Heideggers Konzept des ›Weltbilds‹ zum Ausdruck kommt, welches das moderne Weltverhältnis umschreiben soll: 4 Die Welt wird in der Moderne als Bild verstanden, das heißt sie erscheint – unmittelbar oder metaphorisch – als distanziertes Objekt der Betrachtung. Das cartesianische Subjekt-Objekt-Verhältnis ist das eines beobachtenden, abschätzenden Blicks. Dieser faktische Okularzentrismus weiter Teile der charakteristisch moderbibliographic essay«, in: Dies, Visual culture. The study of the visual after the cultural turn, Cambridge/Mass. (et al.) 2006, S. 6-46. 3 | Vgl. etwa Jenks, Chris, »The Centrality of the Eye in Western Culture«, in: Hamilton, Peter (Hg.), Visual research methods, London (et al.) 2006, S. 123-152; Levin, David M., Modernity and the hegemony of vision, Berkeley (et al.) 1993; Tyler, Stephen A., »The Vision Quest in the West, or What the Mind’s Eye Sees«, in: Journal of Anthropological Research Jg. 40 (1984), H.1, S. 23-40; Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters: Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden (et al.) 1996. 4 | Heidegger, Martin, »Die Zeit des Weltbildes«, in: Holzwege, Frankfurt a.M. 1950, S. 75- 95.
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nen sozialen Praktiken kontrastiert dabei eigentümlich mit den ikonoklastischen, die Bildhaftigkeit abwertenden Diskursen. Vor allem vier Visualitätskonstellationen sind seit der Frühen Neuzeit von besonderer Bedeutung: das Training in wissenschaftlicher Beobachtung vor allem in den Naturwissenschaften, das auch durch technische Geräte wie Teleskop oder Mikroskop angeleitet wird; die damit verwandte aktive szientistische Visualisierung der Welt durch Kartographien, aber auch anatomische und botanische Zeichnungen und andere graphische Verfahren; die Entwicklung einer Bildenden Kunst, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts im wesentlichen das Ziel der Wirklichkeitsannäherung in der figurativen Malerei verfolgt; schließlich die Institutionalisierung gesellschaftlicher Beobachtungsverhältnisse, wie sie in den räumlich abgezirkelten panoptischen Konstellationen der Fabrik, der Schule etc. betrieben wird und die mit der parallelen Verankerung von ›privaten‹ Räumen des Nichtbeobachtetwerdens kontrastiert. Medientechnisch haben die Erfindung der Fotografie mit Delaroches Daguerrotyp 1839, dann die Entwicklung des Films, erstmals mit den Brüdern Lumière 1895, schließlich die Entstehung einer digitalisierten Kultur mit dem ersten Computer mit graphischer Benutzeroberfläche, dem Apple Macintosh, 1982 den modernen Visualitätskonstellationen entscheidende, mehrdeutige Impulse gegeben, die sie am Ende in die Postmoderne überführt haben. Zum einen haben diese die Tendenzen zu ›realistischen‹ Visualisierungen erweitert und vervollkommnet: die scheinbar perfekte Abbildung in der Photographie, die Sichtbarmachung von menschlichen Bewegungen im Film sowie des ›unsichtbaren‹ Körpers in radiologischen und anderen Verfahren, schließlich die permanente visuelle Zugänglichkeit von Welt in digitalen Formaten wie Webcams oder GoogleEarth. Die technische Reproduzierbarkeit der Bilder in diesen Medien hat am Ende ihre massenhafte und ständige Verbreitung in postmoderne Alltagspraktiken ermöglicht. Diese historisch beispiellose Zirkulation von visuellen Objekten, die auf einen Realismuseffekt des Bildlichen abzielen und das im Bildlichen scheinbar verdoppelte visuell Wahrgenommene als das eigentlich Wirkliche suggerieren, sieht sich kombiniert und konterkariert durch andere Tendenzen: 1) Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts findet im Zuge der neuen Verkehrstechnologien, zunächst der Eisenbahn, dann des Automobils, schließlich in den Metropolen eine Beschleunigung der Objekte und Objekt-Reize sowie der Bewegungen der Subjekte statt, welche die sinnlich-visuelle Wahrnehmung vor neue Herausforderungen stellt. Diese Beschleunigung der Reize korrespondiert mit den bewegten Bildern der Kinematographie. 2) Neben die Objektifizierung der Dinge, in der sie primär zu Beobachtungsgegenständen werden, tritt eine systematische Förderung der Ausstellung der Dinge, der Bilder und auch der Subjekte, ihre Präsentation als genuine Gegenstände der nicht-instrumentellen Betrachtung, so daß diese zu ästhetischen Objekten avancieren. Dieser ›Ausstellungscharakter‹ (W. Benjamin) wird durch die Opulenz der Konsumobjekte und die Musealisierung ebenso gefördert wie durch die ästhetischen Qualitäten der visuellen Objekte von der Werbephotographie bis zum Spielfilm. Dieser Konstellation entsprechen visuelle Praktiken, in denen ausgestellte Subjekte zum affekt-libidinösen Gegenstand des ›Blicks‹ der Betrachtersubjekte werden. 3) Die visuelle Kultur der Moderne und erst recht der Postmoderne produziert dem Realismus-Effekt entgegengesetzt ›imaginäre‹ Welten. Dies gilt bereits für
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die nach-figurative Bildende Kunst seit dem Impressionismus, für den (analogen) Film, der mit Wahrnehmungsexperimenten und graphischen Animationen (Zeichentrick) arbeitet, schließlich in neuer Qualität für die digitale Kultur mit ihren digital produzierten Filmen, Computerspielen und flexiblen visuellen Konstruktionsleistungen jenseits jeder Abbildung. Visuelle Praktiken und visuelle Objekte ergeben in der Moderne und Postmoderne damit widersprüchliche Konstellationen, die Gegenstand der Visual Studies sind oder werden könnten. Dieser besondere Stellenwert des Visuellen für die Moderne, der teilweise mit einem Bedeutungsverlust der anderen Sinne verbunden ist, kontrastiert auf eigentümliche Weise mit einem intellektuellen Ikonoklasmus weiter Teile des westlichen Denkens, welcher bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, teilweise bis in die 1970er Jahre einen systematischen Blick auf Visualisierungen und Visualitäten eher behindert hat. Es ist häufig darauf hingewiesen worden, daß sich ikonoklastische Tendenzen schon in der griechischen Philosophie und christlichen Theologie finden – prominent in Platons Höhlengleichnis und dem religiösen Bilderverbot Gottes. Pauschal geurteilt, hat die westliche Philosophie, auf der dann auch Soziologie und Psychologie auf bauten, sowohl der Bildlichkeit als auch der sinnlichen Wahrnehmung durch eine doppelte diskursive Vorrichtung einen bestenfalls sekundären Stellenwert beigemessen: durch die Zentrierung auf das Handeln, das Bewußtsein und die (moralischen) Normen zuungunsten der sinnlichen Wahrnehmung sowie durch die Zentrierung auf die Sprache zuungunsten des Bildes. Diese analytische ist eng mit einer normativen Abwertung des Sinnlichen und des Bildlichen als Quelle irrationaler Riskanz verknüpft gewesen, die sich etwa auch in Marx’ Analyse des Warenfetischismus findet. Die akademische Kunstgeschichte konnte in diesem Rahmen ihre Legitimität allein als eine Disziplin hochkulturell zertifizierter Bilder bewahren. Natürlich hat es zum Ikonoklasmus und zur Sinnlichkeitsskepsis von Anfang an Gegenbewegungen gegeben: so den Diskurs der ästhetischen Theorie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit Baumgarten und Shaftesbury oder die Phänomenologie sinnlicher Wahrnehmungen um 1900 mit Husserl und Bergson. Die eigentliche konzeptuelle Umorientierung, die in die Visual Studies mündet, startet dann jedoch seit den 1920er und erneut seit den 1970er Jahren. Sie hat bisher vor allem an zwei Punkten angesetzt: Zum einen ging es um eine Theoretisierung und Ausweitung des ursprünglich kunsthistorischen und kunstwissenschaftlichen Bildbegriffs in Richtung einer generalisierten ›Bildwissenschaft‹ (Pictorial Turn, Iconic Turn). Zum anderen setzte man an den breiteren kulturellen – diskursiven, technischen, politischen etc. – Kontexten an, in denen die visuellen Objekte platziert sind und in deren Rahmen die sinnlichen Wahrnehmungen stattfinden. Dies gilt für die Semiotik ebenso wie für poststrukturalistische Diskursanalysen, die Cultural Studies oder die Medientechniktheorien. Die Visual Studies sind keine einheitliche Disziplin, die sich auf ein bestimmtes methodisches und theoretisches Instrumentarium, einen Forschungsgegenstand oder einen Kanon geeinigt hätte. Grundsätzlich läßt sich aber zwischen einem angloamerikanischen und einem deutschen Diskurs unterscheiden.5 Letzterer orien5 | Diese Parallelentwicklung läßt sich unter anderem daran ablesen, daß der amerikanische Literaturwissenschaftler W.J.T. Mitchell und der deutsche Philosoph Gottfried Boehm etwa zeitgleich den ›Pictorial Turn‹ (1992) und den ›Iconic Turn‹ (1994) ausgerufen haben.
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tiert sich vornehmlich an der philosophischen Ästhetik, der Kunstgeschichte und der Semiotik als Leitwissenschaften. So versucht etwa Klaus Sachs-Hombach in Rekurs auf semiotische Analysemodelle eine allgemeine Bildwissenschaft zu begründen, während Gottfried Boehm und Hans Belting betonen, daß sich ein Bild nicht als Zeichen erschöpfend beschreiben läßt, sondern ebenso die ›ikonische Differenz‹ (Boehm) oder die ›anthropologischen Aspekte‹ (Belting) in die Bildtheorie integriert werden müssen.6 Im Unterschied zur deutschsprachigen Bildwissenschaft sind die angloamerikanischen Visual Studies trotz ihrer Bezüge zur Kunstwissenschaft stärker von poststrukturalistischen Einflüssen und den Humanities, das heißt der visuellen Anthropologie, den Gender Studies und den Cultural Studies geprägt. Dementsprechend konzentrieren sich diese Ansätze nicht so sehr auf die philosophische Definition des Bildhaften, sondern darauf, in welche institutionellen und sozialen Kontexte die subjektiven Rezeptionsprozesse und visuellen Praktiken eingebettet sind. In diesem Zusammenhang lassen sich drei verschiedene theoretische Zugänge zur Frage der visuellen Bedeutungsproduktion unterscheiden: Erstens gibt es Ansätze, die von der Analyse von Bildern und Bildformationen und ihrer signifizierenden sowie kompositorischen Eigenschaften ausgehen und die von dort Rückschlüsse auf das rezipierende Subjekt ziehen. Zu diesen produktorientierten Analysemethoden gehören die meisten (post)strukturalistischen Ansätze wie zum Beispiel die Semiotik, die Psychoanalyse und die Diskurstheorie. Demgegenüber setzten zweitens die produktionsorientierten Theorien an den materiellen und technologischen Bedingungen der Bildproduktion und visuellen Wahrnehmungsweisen an. Dies gilt für die Medientechniktheorie und ansatzweise auch die Dispositivtheorie. Schließlich betonen drittens die rezeptionsorientierten Ansätze – wie zum Beispiel die Cultural Studies – die signifizierende Aktivität der rezipierenden Subjekte.
2. S EMIOTIK DER B ILDER In den Visual Studies ist die semiotische Bildtheorie wohl der am weitesten verbreitete Ansatz, um Phänomene der visuellen Kultur analytisch zu fassen. In dieser Perspektive geht es weniger um die Frage des spezifisch Bildhaften oder um die ästhetischen Qualitäten visueller Artefakte. Vielmehr werden Bilder und Objekte als visuelle Zeichen verstanden, die eine Bedeutung, das heißt einen Begriff, eine Vorstellung oder einen (narrativen) Inhalt in einem sichtbaren, materialisierten Medium vermitteln. Als Begründer der Semiotik können sowohl Charles Sanders Peirce als auch Ferdinand de Saussure gelten, von denen vor allem letzterer die Kulturwissenschaften und die Visual Studies entscheidend geprägt hat. So greifen die (post)strukturalistischen Kultursemiotiker, allen voran Claude Lévi-Strauss und später im besonderen Roland Barthes, auf de Saussures Zeichenmodell7 zurück, demzufolge das Wort auf einer arbiträren, aber konventionalisierten Verknüpfung 6 | Für einen Überblick siehe: Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, S. 335-344. 7 | Saussure, Ferdinand de, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin/New York 1967.
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eines Lautbilds (dem Signifikant) mit einer Vorstellung (dem Signifikat) beruht, um die signifizierende Dimension von kulturellen Praktiken, (Alltags-)Objekten und Bildern zu erfassen. Wie Roland Barthes hervorhebt, läßt sich allerdings der linguistische Zeichenbegriff nicht unmittelbar auf die visuellen Medien anwenden, da der bildhafte Signifikant und insbesondere die Fotografie nicht in einem arbiträren Verhältnis sondern vielmehr in einer Ähnlichkeitsbeziehung zu ihrem Signifikat, dem abgebildeten Objekt, stehen. 8 Zudem sind die einzelnen signifikanten Elemente des piktoralen Zeichensystems nicht ohne weiteres identifizierbar, so daß die visuelle Repräsentationsstruktur nicht als ein digitaler Code beschrieben werden kann. Wie Barthes beispielhaft anhand einer Panzani-Werbung, der Pressephotographie und dem Cover der Paris-Match9 vorführt, lassen sich im Bild vielmehr drei ineinander verschachtelte und nur analytisch trennbare Bedeutungsebenen unterscheiden: die sprachliche Ebene, die denotative Ebene und die konnotative Ebene. In der Photographie bezeichnet die Denotation die rein buchstäbliche oder deskriptive Ebene des Bildes: Sie beschreibt den Zusammenhang zwischen dem Objekt im Bild (der Signifikanten) zu dem (realen) Objekt, das von der Kamera aufgezeichnet wurde (dem Signifikat). Die konnotative Ebene ist die im engeren Sinne kulturell spezifische Ebene der Bedeutungsproduktion, die sich gewissermaßen »über« die denotative Bedeutung stülpt. Das denotative Bildzeichen wird hier zum Signifikanten einer metasprachlichen symbolischen Bedeutung, die je nach ideologischem Code der Gesellschaft, in dem das Bild rezipiert wird, variiert. So bildet die Panzini-Werbung nicht nur eine Konservendose und ein Einkaufsnetz mit Gemüse wertneutral ab, sondern konnotiert zudem Frische, häusliche Zubereitung aber auch »Italianität« aufgrund der Dominanz der italienischen Landesfarben. Da diese konnotative Ebene gegenüber der denotativen ungleich polysemischer ist, wird nach Barthes die »ideologisch gewollte« Lesart vor allem durch die sprachliche Bedeutungsebene sichergestellt, die bestimmte Bedeutungen »verankert« – auch wenn diese u.U. das Abgebildete lediglich aufzuzählen scheint. Ein Repräsentationscode läßt sich Barthes zufolge nur für die sprachliche Ebene und die konnotative Metasprache rekonstruieren, da sich die syntagmatische Gesamtheit der denotativen Bildebene nicht sinnvoll in einzelne Einheiten unterteilen läßt. Demgegenüber fungiert auf konnotativer Ebene nicht das gesamte Bild, sondern nur einzelne, benennbare Bildzeichen (die »Konnotatoren«) als ideologische Bedeutungsträger, deren Beziehung zum ideologischen Signifikat mit Hilfe der rhetorischen Tropen »Metonymie« und »Asyndeton« beschrieben werden kann. Neben Barthes’ einzelnen bild- und objektsemiotischen Analysen, die eher als Fallstudien denn als systematische Heuristiken gelten können, hat es immer wieder Versuche gegeben, die bildimmanenten Elemente und ihre Beziehung untereinander im Sinne einer allgemeinen visuellen Grammatik zu bestimmen. So haben etwa Umberto Eco und später vor allem Christian Metz versucht, die 8 | In diesem Sinne könnte die klassische strukturalistische Semiotik um Peirces Kategorien des Ikonischen, Symbolischen und Indexikalischen ergänzt werden (vgl. Chandle, Daniel, Semiotics. The Basics, Oxon/New York 2007. S. 36f.). 9 | Vgl. Barthes, Roland, »Die Fotografie als Botschaft«, in: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M. 1990, S. 11-27; Ders., Die Rhetorik des Bildes, a.a.O., S. 28-46, sowie Ders., Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1985, S. 95ff.
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kleinsten kinematographischen Einheiten sowie den Code und die Funktionsweise der Filmsprache zu rekonstruieren.10 In jüngerer Zeit haben Theo van Leeuwen und Gunther Kress eine umfassende Grammatik der visuellen Kultur ausgearbeitet und weisen dabei u.a. auf die konnotativen Effekte der kompositorischen Anordnung des visuellen Textes hin.11 In den Kulturwissenschaften wird die semiotische Heuristik vor allem für die Analyse populärkultureller, warenästhetischer und alltagsweltlicher Bildbedeutungen verwendet, aber auch in der Kunstwissenschaft hat man sich des bildsemiotischen Analyseinstrumentariums bedient, das hier teilweise mit der klassischen Methode der Ikonographie verschränkt wurde.12 An der klassischen strukturalistischen Semiotik wurde vor allem von Seiten der Cultural Studies kritisiert, daß sie sich erstens zu einseitig auf die synchronische Dimension der Codes konzentriert und dabei die historische Wandelbarkeit von Repräsentationssystemen aus dem Auge verliert und zweitens allein die textuelle Struktur analysiert, ohne die Praktiken der Rezeption zu berücksichtigen.
3. P SYCHOANALYSE DES B LICKS Im Gegensatz zur Semiotik, die von einer vollständigen Entzifferbarkeit der kulturell bedingten Bildbedeutung ausgeht und dabei die Subjektposition und psychische Dimension des konkreten Rezeptionsprozesses weitestgehend vernachlässigt, interessiert sich die psychoanalytische Bildtheorie in erster Linie dafür, wie die unbewußte libidinöse Disposition des Betrachters durch visuelle Affektionen strukturiert wird. Der Psychoanalyse geht es also weniger um eine immanente und intertextuelle Interpretation der Wissens- und Bedeutungseffekte des Bildtextes, sondern vor allem um die Frage, wie Bildwelten bestimmte kulturell dominante Begehrensstrukturen und Blickregime – wie zum Beispiel die heterosexuelle Liebe oder die patriarchale Fetischisierung der Frau – konstituieren und reproduzieren. Daß die psychoanalytische Bildtheorie heute einen derart zentralen Platz in den Visual Studies einnimmt, geht vor allem auf die Psychoanalyse-Rezeption der (feministischen) Filmtheorien zurück, die sich seit den 1970er Jahren zunehmend mit den ideologischen Effekten visuell-affektiver Identifikationsprozesse und kinematographischen Betrachterpositionen auseinandergesetzt haben. Für die verschiedenen filmtheoretischen Adaptionen der Psychoanalyse waren vor allem zwei theoretische Positionen zentral: einerseits die klassischen Konzepte des Traums, 10 | Siehe Metz, Christian, Semiologie des Films, München 1972 und Ders., Sprache und Film, Frankfurt a.M. 1973; für einen Überblick über die Filmsemiotik und die nachfolgende Debatte siehe Stam, Robert, New vocabularies in film semiotics, London/New York 1992. 11 | Van Leeuwen, Theo, Kress, Gunther, Reading Images. The Grammar of Visual Design, Oxon/New York 1996; siehe auch Sachs-Hombach, Klaus, Rehkämper, Klaus (Hg.), Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen, Magdeburg 1999. 12 | Vgl. Bal, Mieke, Bryson, Norman, »Semiotics and Art History«, in: The Art Bulletin 73.2 (1991), S. 174-208, sowie Marin, Louis, »Eléments pour une sémiologie picturale«, in: Ders: Etudes sémiologiques, Paris 1971, S. 17-43, und in Deutschland: Thürlemann, Felix, Vom Bild zum Raum. Beiträge zu einer semiotischen Kunstwissenschaft, Köln 1990.
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der Skopophilie und des Fetischs von Sigmund Freud und andererseits die Theorie des Spiegelstadiums und des Blickregimes (»le regard«) seines strukturalistischen Nachfolgers Jacques Lacan. Während die Vertreter der französischen Filmtheorie – allen voran Christian Metz und Jean-Louis Baudry13 – die psychoanalytischen Modelle mit der marxistischen Ideologiekritik verknüpfen und die Parallelen zwischen dem kinematographischen und dem psychischen Apparat diskutieren, konzentriert sich die angloamerikanische Filmtheorie auf eine feministische Lesart der Psychoanalyse, um die filmische Konstruktion und Repräsentation von Geschlechterdifferenz zu untersuchen.14 Nach Freud gehört die Skopophilie – die Schaulust – zu einem der angeborenen sexuellen Partialtriebe, die sich von einer anfänglichen prägenitalen Autoerotik hin zu einer aktiven, voyeuristischen Neigung gegenüber einem fremden Objekt entwickeln und schließlich aufgrund kultureller Verbote in einen passiven Trieb – den Exhibitionismus, das heißt den Wunsch, angeschaut zu werden – umgewandelt werden können. 15 In ihrem für die feministische Debatte grundlegenden Aufsatz »Visual pleasure and narrative cinema« (1975)16 stellt Laura Mulvey die These auf, daß die visuelle Anordnung des Kinos, dessen dunkler Raum, einen ungehemmten Blick auf die exponierten Leinwandkörper ermöglicht und so den skopischen Trieb verstärkt. Wie sie an Hitchcocks »Rear Window« und »Vertigo« beispielhaft vorführt, wird Mulvey zufolge im Hollywoodkino aber nur den Männern (im Kinopublikum und auf der Leinwand) eine visuelle und narrative Aktivität zugestanden, wohingegen die Frauen weniger als Handlungsträgerinnen denn als passive Objekte der männlichen Schaulust konstruiert würden. 17 In Rekurs auf die Freudsche Fetischtheorie18 interpretiert Mulvey ferner Hitchcocks fetischisierende Inszenierung weiblicher Schönheit als filmästhetische Strategie, die von den weiblichen Protagonistinnen ausgehende mythische (Kastrations-)Bedrohung außer Kraft zu setzen. Mit ihrer These, daß der Filmheld als ein der patriarchalen Ordnung entsprechendes Ich-Ideal fungiert, mit dem sich der männliche Zuschauer lustbringend identifizieren kann, bezieht sich Mulvey zudem auf Jacques Lacans Theorie des
13 | Metz, Christian, Le signifiant imaginaire. Psychanalyse et Cinéma, Paris 1977; Baudry, Jean-Louis, »Effets idéologiques produits par l’appareil de base«, in: Cinéthique, Nr. 7/8, 1970. 14 | Für einen kurzen Überblick: Chaudhuri, Shohini, Feminist Film Theories, London/New York 2006. 15 | Vgl. Freud, Sigmund, »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905), in: Gesammelte Werke, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1991, S. 27-145 und Freud, Sigmund, »Triebe und Triebschicksale« (1915), in: Studienausgabe, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1982, S. 81-102. 16 | Mulvey, Laura, »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Dies.: Visual and Other Pleasures, Basingstoke 1989. 17 | Hinsichtlich des hier noch ungelösten Problems der visuellen Lust der weiblichen Zuschauerin siehe auch: Doane, Mary Ann (1982), »Film and the Masquerade: Theorizing the Female Spectator«, in: Dies., Femmes Fatales: Feminism, Film Studies and Psychoanalysis, New York 1991. 18 | Freud, Sigmund, »Fetischismus« (1927), in; Ders., Das Ich und das Es, Frankfurt a.M. 1992, S. 327-334.
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Spiegelstadiums19 . Diese besagt in ihrer verallgemeinerten Form, daß die Selbstwahrnehmung des Subjekts als ein mit einem Bewußtsein und einer kohärenten Identität ausgestattetes Wesen auf einer imaginären Verkennung beruht, die seinen tatsächlichen (ontologischen) Mangel an unmittelbarer Präsenz und seine grundsätzliche Unfähigkeit, sich die Welt (symbolisch vermittelt) anzueignen, zu verdecken sucht. Ontogenetisch tritt diese grundlegende aber subjektkonstitutive Verkennung zum ersten Mal auf, wenn sich das Kleinkind trotz mangelnder körperlicher Koordinationsfähigkeit im Spiegel als eine motorische Einheit (v)erkennt und wiederholt sich zeitlebens in der wiederkehrenden Identifikation mit einer Reihe von Ich-Idealen. Dabei ist entscheidend, daß nach Lacan alle unbewußten Prozesse des Subjekts, das heißt die imaginären Ich-Ideale genauso wie die Objekte, auf die sich das (sexuelle) Begehren richtet, nicht auf individuellen Vorlieben beruhen, sondern als sozial-kulturell vorstrukturiert verstanden werden müssen. Sie sind Effekte einer übergeordneten symbolischen Ordnung – wie zum Beispiel der Sprache, der institutionellen Struktur oder auch der visuellen Repräsentationsformen –, die zwar einerseits die Interaktion und Kommunikation mit den anderen erst ermöglicht, aber gleichzeitig das Subjekt von der Welt entfremdet, welche ihm nun nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch vermittelt über ein notwendig kontingentes Zeichensystem zugänglich ist. Die Lücken in der Signifikantenkette, die Unmöglichkeit, das »Reale« in der symbolischen Ordnung vollständig abzubilden, wird von dem Subjekt als genuiner ontologischer Mangel erfahren. Die imaginäre Identifizierung mit einem vermeintlich omnipotenten Ich-Ideal, die imaginäre Fixierung von Bedeutungen und »Wahrheiten« sowie das (sexuelle) Begehren nach einem Liebesobjekt sind unbewußte Strategien des Subjekts, um diesen Mangel zu überwinden, der tatsächlich aber immer nur weiter aufgeschoben wird. Nach Lacan verschafft auch der Sehakt keinen unmittelbaren Zugang zur äußeren Welt, sondern ist ebenso durch eine notwendigerweise lückenhafte symbolische Matrix, das »le regard« (Blickregime), vorgezeichnet, die sich im kulturell geteilten Bildrepertoire (den Darstellungsweisen und Bildformen einer Kultur) manifestiert.20 Dabei bestimmt das kulturelle Blickregime nicht nur die Wahrnehmungsmuster und visuellen Affizierungen des Subjekts, sondern auch, wie es sich selbst als angesehenes Wesen im Feld des Sichtbaren zu positionieren hat, um sozial anerkannt zu werden. Auch das äußere Erscheinungsbild des Subjekts, seine visuelle Performanz, muß also den imaginären Ansprüchen der Gesellschaft genügen.21 Wie Kaja Silverman in Abgrenzung von Laura Mulvey in Male Subjectivity at the Margins22 herausstellt, ist das Blickregime in der patriarchalen Gesellschaft nicht allein auf Frauen als Objekte libidinöser Schaulust gerichtet, sondern auch die männliche Subjektivität ist auf soziale Sichtbarkeit und Intelligibilität im Sin-
19 | Lacan, Jacques, »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, in: Ders. Schriften I, Frankfurt a.M. 1975, S. 61-70. 20 | Vgl. Lacan, Jacques, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch. 11. Weinheim/Berlin 1987. 21 | Siehe dazu ausführlich Silverman, Kaja, The Threshold of the Visible World, London/ New York 1996. 22 | Silverman, Kaja, Male subjectivity at the margins, New York 1992.
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ne einer performativen Entsprechung von gesellschaftlichen Männlichkeitsidealen angewiesen und kann in ihrer (filmischen) Repräsentation mißlingen.
4. D ISKURS - UND D ISPOSITIVANALYSE DES V ISUELLEN Ebenso wie die semiotischen und die psychoanalytischen Bildtheorien gehört auch die Diskurs- bzw. Dispositivtheorie zu den produktorientierten Ansätzen, die sich vornehmlich auf die Analyse des visuellen Artefakts konzentrieren und weniger die konstitutive Funktion von sozialen Produktions- und Rezeptionsprozessen reflektieren. Im Gegensatz zu den psychoanalytischen und semiotischen Modellen fragen die strikt anti-hermeneutischen Diskurs- und Dispositivtheorien aber nicht nach den ideologischen oder imaginären Bedeutungen, die hinter den einzelnen bildlichen Darstellungen liegen, sondern analysieren, wie in intertextuell zusammenhängenden Bildformationen bzw. visuellen Raumarrangements – wie etwa der wissenschaftlichen Repräsentation, der filmischen Darstellung oder dem Museum – ein bestimmtes historisch und kulturell spezifisches Wissen begründet wird. Da die im Anschluß an Michel Foucaults Diskursbegriff entwickelte Diskursanalyse in den Sozial- und Kulturwissenschaften vornehmlich als eine textanalytische Methode Verwendung findet, erscheint eine Übertragung auf die Analyse visueller Kultur zunächst nicht unbedingt naheliegend. Tatsächlich hat Foucault selbst keine dem Diskurskonzept vergleichbare Heuristik ausgearbeitet, um kulturelle Sehmodalitäten und Repräsentationsweisen zu analysieren, aber in vielen seiner macht- und diskursanalytischen Diagnosen historischer Wissens- und Subjektivierungsformen lassen sich an zentraler Stelle exemplarische Bildanalysen und Architekturbeschreibungen finden, die Ansatzpunkte für eine allgemeine Theorie kultureller Sichtbarkeitsordnungen liefern. So hat vor allem Gilles Deleuze darauf hingewiesen, daß Foucault ein »großer Sehender« sei, dessen archäologische Methode nicht allein darauf ausgelegt sei, historische Schichten textuell-diskursiver Formationen freizulegen, sondern vielmehr Verknüpfungen von Formen des Sagens auf der einen und Weisen des Sehens auf der anderen Seite, die sich zu einem heterogenen »audiovisuellen« Archiv zusammensetzen.23 So haben sich in den letzten Jahren mindestens zwei heuristische Ansätze herauskristallisiert, die in Rekurs auf Foucaults diskurs- und machttheoretische Modelle verschiedene Dimensionen der visuellen Kultur analytisch greif bar machen: zum einen die sogenannte Bild-Diskurs-Analyse, 24 die sich vornehmlich an der diskursanalytischen Methode orientiert, und zum anderen die Dispositivanalyse,25 die, über die Frage der bildli-
23 | Deleuze, Gilles, Foucault, Frankfurt a.M. 1987, S. 72. 24 | Für eine instruktive Einführung vgl. Rose, Gilian, Visual methodologies. An introduction to the interpretation of visual materials, London 2001, S. 135-163, im deutschsprachigen Raum: Maasen, Sabine (et al.) (Hg.), Bilder als Diskurse – Bilddiskurse, Weilerswist 2006. 25 | Im Gegensatz dazu wird in der der soziologischen Adaption des Foucaultschen Dispositivbegriffs der Aspekt der Sichtbarkeit nur am Rande diskutiert. Vgl. Bührmann, Andrea/ Schneider, Werner, Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008.
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chen Darstellung hinausgehend, ganze visuelle Raumarrangements und die darin eingebetteten körperlichen Wahrnehmungspraktiken in den Blick nimmt. Die Bild-Diskurs-Analyse untersucht, wie ein bestimmtes visuelles Wissen oder eine Vorstellung von einem (wissenschaftlichen) Objekt, einer Subjektposition oder einem Sachverhalt durch die formale Strukturierung von Repräsentationen zuallererst produziert werden. In Anlehnung an Foucaults Archäologie des Wissens26 könnte man also davon sprechen, daß in der diskurstheoretischen Perspektive Bilder als Praktiken verstanden werden, die systematisch die Gegenstände bilden, die sie repräsentieren. In diesem Sinne untersucht die Bild-Diskurs-Analyse Strukturen und Muster in den bildlichen Formationen – also intertextuell verschränkte Bildreihen und Bildfelder – um zum Beispiel die soziokulturelle Bedingtheit von zumeist unhinterfragten, vermeintlich realitätsgetreuen Darstellungsweisen und visuellen Evidenzen aufzudecken. Dabei werden die bildlichen Repräsentationen aber nicht nur in ihrer formalen und inhaltlichen Positivität betrachtet, sondern auch untersucht, welche Inhalte, Materialien und Formen von dem kulturell Sichtbaren systematisch ausgeschlossen werden. Schließlich zeichnet sich die Bild-Diskurs-Analyse dadurch aus, daß sie zumeist neben einer bildimmanenten Formenanalyse auch den Text-Bild-Bezug, also die diskursive Umgebung der Repräsentationsformen, in ihrer Analyse berücksichtigt. Analog zu Foucaults Interesse für humanwissenschaftlich begründete Mechanismen des »Otherings« ist einer der inhaltlichen Schwerpunkte der diskurstheoretischen Bildanalysen die visuelle Konstruktion sozialer Differenz.27 Auch wenn der Übergang zwischen Bild-Diskurs-Analyse und Dispositivanalyse alles andere als trennscharf ist, kann hier der Systematisierung halber festgehalten werden, daß sich letztere neben der Frage der Repräsentation zudem auch für die materiell-architektonische Infrastruktur des Sehens, die körperlich verankerten Praktiken der Wahrnehmung, die institutionellen Verwendungszusammenhänge von Bildern und die Machteffekte intersubjektiver Blickverhältnisse interessiert. Dieser Ansatz, der die räumliche Anordnung sowie Macht- und Subjektivierungswirkung der Sichtbarkeitstopologien betont, leitet sich einerseits aus Foucaults Analyse des Benthamschen Panopticons aus Überwachen und Strafen ab, derzufolge der überwachende Blick auf die Inhaftierten quasi in die Materialität der Gefängnisarchitektur eingeschrieben ist. Andererseits liefern auch Foucaults Darstellung des empirischen Blicks des Arztes und der räumlichen Reorganisation des Spitals in Die Geburt der Klinik sowie sein späterer Dispositivbegriff, der gegenüber den früheren Studien stärker die Heterogenität sich überlagernder Diskurse, Praktiken und Sichtbarkeiten betont, wichtige Anregungen für die Analyse räumlich-visueller Settings.28 Mit der Betonung der materiell-räumlichen Bedingungen 26 | Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981, S. 74. 27 | Vgl. etwa Cartwright, Lisa, Screening the Body: Tracing Medicine’s Visual Culture, Minneapolis (et al.) 1995; Tagg, John, The burden of representation. Essays on photographies and histories, Basingstoke (et al.) 1988; Regener, Susanne, Fotografische Erfassung: Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999. 28 | Vgl. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen, Frankfurt a.M. 1976; Ders., Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a.M. 1988; Ders., »Das Spiel des Michel Foucault«, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 3: 1976-1979, Frankfurt a.M. 2003, S. 391-396. Vor allem die Museum Studies (vgl. etwa Hooper-Green-
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von Sichtbarkeitsordnungen geht die Dispositivanalyse über den Textualismus der klassischen (post)strukturalistischen Ansätze hinaus und öffnet sich in Richtung einer allgemeinen Medien- und Artefakttheorie.
6. M EDIENTECHNIK THEORIE Im Gegensatz zu der Semiotik, der Psychoanalyse und der Bild-Diskursanalyse interessiert sich die Medientechniktheorie29 weniger für die Bedeutungsdimension des fertigen Bildprodukts, sondern vielmehr dafür, wie historisch spezifische Bildarten, Betrachterpositionen oder Seheindrücke durch die verschiedenen technischen Hilfsmittel und optischen Geräte – das heißt Buchdruck, Photographie, Film und Computer – überhaupt erst ermöglicht werden. Die medientechniktheoretischen Ansätze gehen somit zumeist von einer Art historisch wandelbarem »medialem Apriori« aus, das die kulturellen Repräsentationsordnungen und die visuellen Wahrnehmungsschemata bedingt. So wird der historische Wandel von der klassisch-bürgerlichen zur modernen Bild- und Wahrnehmungsform häufig an der technischen Innovation der Photographie und des Kinos festgemacht, die von den bildproduzierenden und -rezipierenden Subjekten eine ganz neuartige Sehhaltung und ein verändertes Bildverständnis einfordern. Einer der ersten Vertreter einer solchen »materialistischen« Medientheorie war Walter Benjamin, der in seinem einflußreichen Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit30 (1936) herausarbeitet, wie die technische Entwicklung visueller Medien auf die Rezeptionsweisen der Betrachter und auf die gesellschaftliche Ordnung insgesamt einwirkt. So hielt er – im Gegensatz zu Horkhill, Eileen, Museums and the Shaping of Knowledge, London 1992; Bennett, Tony, The Birth of the Museum, History, Theory, Politics, London 1995) und die Surveillance Studies (vgl. Lyon, David, Surveillance Studies. An Overview, Cambridge [et al.] 2007) haben das machtanalytische Vokabular von Foucault aufgegriffen, um komplexe räumlich-visuelle Dispositive zu analysieren. Ebenso gehört Jonathan Crarys Analyse des Zusammenhangs zwischen dem Diskurs der Optik, der Erfindung optischer Geräte, und den »Techniken des Betrachters« im 19. Jh. zu den dispositivanalytischen Ansätzen (Crary, Jonathan, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden [et al.] 1996). 29 | Für einen Überblick siehe Hartmann, Frank, »Techniktheorien der Medien«, in: Weber, Stefan (Hg.), Theorien der Medien: Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus, Konstanz 2003, S. 49-79. Auch die jüngere Soziologie, allen voran die Wissenschaftssoziologie, die Techniksoziologie und die Actor-Network-Theory, interessiert sich zunehmend für die praxisund wissenskonstitutive Funktion von Medien, technischen Bildern und Artefakten. Allerdings gibt es bislang wenige Ansätze, die die Erkenntnisse der Science and Technology Studies (STS) mit den Fragen der Visual Culture Studies koppeln. Wichtige Ansätze liefern: Fyfe, Gordon, Law, John (Hg.), Picturing Power: Visual Depiction and Social Relations, London 1988; Lynch, Michael, Woolgar, Steve, Representation in scientific practice, Cambridge/ Mass. 1990; Burri, Regula V., Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder, Bielefeld 2008. 30 | Benjamin, Walter, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M. 1963, S. 7-44.
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heimer und Adorno – den Film für ein potentiell revolutionäres Medium, da das Kino im Gegensatz zur traditionellen, auratischen Kunst die bürgerliche Ideologie der individuellen Kontemplation und historischen Originalität untergrabe und statt dessen ein Betrachterkollektiv produziere, das durch den testierenden Blick der Kamera, die in der Zeitlupe und der Vergrößerung das »optisch Unbewusste« zutage fördere. Die geschoßartige »Chockwirkung« der Filmmontage entfalte eine kritische Haltung. Etwa zwanzig Jahre später wurden am Centre of Culture and Technology der Universität Toronto die Grundsteine für eine allgemeine Medientechniktheorie gelegt, die sich explizit als Gegenentwurf zur marxistischen Medienkritik verstand. Marshall McLuhan vertrat die These, daß es keine eigenständige Bedeutung jenseits der medialen Vermittlung gibt, sondern daß das Medium selbst bereits die Botschaft sei.31 In diesem Sinne wird die menschliche Wahrnehmung und Erfahrung und somit die gesamte Kultur einer Zeit von einer historisch fortschreitenden Medialität und Technizität geprägt, die die medialen Inhalte – wie zum Beispiel die philosophischen und wissenschaftlichen Theorien – entscheidend prägt. So richtet sich McLuhan zufolge die gesamte bürgerliche Kultur an der Logik der Alphabetisierung und des Buchdrucks aus,32 die jedoch im späten 19. Jahrhundert gegenüber den elektronischen Medien an Bedeutung verlor. Im Gegensatz zu der allgemein verbreiteten Diagnose, daß sich die Postmoderne durch ein Wuchern verschiedener Bildwelten auszeichnet, geht McLuhan aber davon aus, daß der Sehsinn einzig in einer skripturalen Kultur dominant ist, während das elektronische Zeitalter ebenso andere Sinneswahrnehmungen aktiviert. Ausgehend vom Foucaultschen Dispositivbegriff, hat sich in der vom Poststrukturalismus geprägten französischen Filmtheorie Ende der 1970er Jahre ebenfalls ein theoretischer Ansatz entwickelt, der sich gegen die Technikvergessenheit der semiotischen Tradition wendet. So stellte etwa Jean-Louis Baudry heraus, daß die ideologischen Effekte des Kinos nicht allein auf der Ebene der Zeichen und des Imaginären anzusiedeln seien, sondern bereits vom »kinematographischen Basisapparat«33 produziert werden. Nach Baudry funktioniert die technisch-dispositive Struktur des Kinoapparats ähnlich wie der psychische Apparat34 als eine vereinheitlichende Instanz, die der genuin fragmentierten Welt die Fiktion einer kohärenten, bedeutsamen Ganzheit überstülpt. Im Gegensatz zu Benjamin behauptet Baudry demnach, daß der Film der ideologischen Struktur der westlichen Zentralperspektive entspricht, da er durch Montage und Kameraführung die Bilder auf einen zentralen Blick hin organisiert, der von dem Zuschauersubjekt übernommen wird. 31 | McLuhan, Marshall, Understanding Media, Abingdon/New York 2001, S. 13. 32 | McLuhan, Marshall, The Gutenberg Galaxy, London 1962. 33 | Baudry, Jean-Louis, »Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus«, in: Rosen, Philip (Hg.), Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader, New York 1986, S. 286-299. 34 | Zur Parallelität von kinematographischem Apparat, Platons Höhle und Sigmund Freuds psychischem Apparat siehe auch Baudry, Jean-Louis, »Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks«, in: Reisinger, Robert F. (Hg.), Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte, Münster 2003, S. 41-62.
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Auch Friedrich Kittler orientiert sich am Poststrukturalismus und im besondern an Michel Foucaults Diskurskonzept, das er mit dem Medienmaterialismus der Kanadischen Schule und den Grundannahmen der Informationstheorie koppelt. Kittler stellt Foucaults Theorie des Diskurses gewissermaßen vom Kopf auf die Füße, wenn er den Begriff des »historischen Apriori«, demzufolge das Denk- und Sagbare einer Zeit von der Positivität der historisch spezifischen Diskursordnung bedingt wird, auf die materiell-technische Formation der Medien überträgt. Nach Kittler ist also nicht die textuelle Struktur eines Diskurses die Möglichkeitsbedingung von Wissensregimen, Subjektivierungsweisen und kulturellen Praktiken, sondern der materielle Zwang des »medialen Apriori«,35 das sich letztlich aus der digitalen Ordnung von Schaltungen zusammensetzt. Kulturgeschichte ist demnach nichts anderes als eine Mediengenealogie oder Hardwareanalyse, wie Kittler auch anhand der Entwicklung der optischen Medien vorführt. In Abgrenzung von McLuhans anthropozentrischem Medienbegriff versteht Kittler allerdings die technischen Geräte nicht als Prothesen oder Verlängerung der menschlichen Organe, sondern als eine eigenlogische Struktur, die selbst formend auf die Körper einwirkt.36
7. D IE C ULTUR AL S TUDIES UND DER R E ZIPIENT Weder die bildanalytischen Ansätze wie die Semiotik, die Psychoanalyse und die Diskursanalyse noch die Medientheorien, welche die technischen Voraussetzungen von Wahrnehmungsweisen betonen, räumen dem rezipierenden Subjekt eine aktive Rolle in der visuell vermittelten Bedeutungsproduktion ein. Während die (post)strukturalistischen Ansätze davon ausgehen, daß die (libidinöse) Betrachtersubjektivität von den Repräsentations- und Artefaktformationen allererst hervorgebracht wird, untersuchen die Techniktheorien der Medien in erster Linie die materielle Bedingtheit kultureller Sichtbarkeiten und Rezeptionspositionen. Entgegen diesen tendenziell textualistischen und materialistischen Ansätzen, die sich entweder auf das bildhafte Produkt oder die Produktionsbedingungen der visuellen Kultur konzentrieren, denen der Betrachter gewissermaßen nachgeordnet wird, gestehen die Cultural Studies dem sehenden und interpretierenden Subjekt eine aktivere Rolle zu.37 Die Medienanalysen der Cultural Studies38 greifen zwar u.a. die genannten (post)strukturalistischen Heuristiken auf, aber kombinieren diese mit einem sozialwissenschaftlichen oder anthropologischen Kulturverständnis, 35 | Kittler, Friedrich, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 167. 36 | Vgl. Kittler, Friedrich, Optische Medien, Berlin 2002, S. 23. 37 | Die Rede ist hier von der »ersten Welle« der Cultural Studies, die sich in marxistischer und semiotischer Tradition mit der Frage der klassenspezifischen Rezeption von Medien auseinandergesetzt haben. Die jüngeren Vertreter der Cultural Studies – wie etwa Scott Lash – orientieren sich demgegenüber zunehmend an Deleuze und Theorien digitaler Medien. 38 | Für einen einführenden Überblick siehe Hepp, Andreas, Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen/Wiesbaden 1999 und speziell im Kontext der Visual Studies Sturken, Marita, Cartwright, Lisa, Practices of looking. An introduction to visual culture, Oxford/New York 2001.
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das die Praktiken und die Handlungsfähigkeit der einzelnen Akteure gegenüber dem Bildtext stärker in den Vordergrund rückt.39 Diese grundlegende theoretische Doppelstruktur klingt auch in dem zentralen Begriff der »signifying practices«40 an, der einerseits die kulturelle Relevanz von Wissen und ideologischen Strukturen (Althusser) hervorhebt, aber andererseits betont, daß diese immer in konkrete soziale und institutionelle Kontexte eingebettet und von Handlungen getragen werden. Wie Stuart Hall bereits in dem für die Rezeptionsanalysen grundlegenden Text »Encoding/Decoding« 41 deutlich macht, sind aus Sicht der Cultural Studies aber nicht nur die Praktiken der Medienproduktion bedeutungsgenerierend. Auch das Lesen und Interpretieren von (visuellen) Zeichen sind als aktive signifizierende Tätigkeiten zu verstehen. Die Media Cultural Studies beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit Fragen der Identitätskonstruktion. So wird zum Beispiel untersucht, wie (marginalisierte) kulturelle Identitäten – wie etwa Jugendkulturen oder ethnische Minderheiten – einerseits in den Medien repräsentiert und somit fremdsignifiziert werden, aber sich gleichzeitig auch aktiv durch spezifische Aneignungspraktiken und mediale Resignifikationsprozesse selbst konstituieren. In Abgrenzung von der bis dahin dominanten behavioristischen Massenkommunikationsforschung42 entwirft Stuart Hall einen semiotisch informierten medientheoretischen Ansatz, demzufolge Bedeutung nicht nur durch die Kodierung von Medieninhalten generiert wird, sondern auch durch den nach sozialem und kulturellen Kontext variierenden Rezeptionsprozeß. Im Gegensatz zu Barthes, der sich allein auf die Analyse des Bildtextes konzentrierte, geht Hall also davon aus, daß die verschiedenen sozialen Dekodierungsbedingungen zu unterschiedlichen Interpretationen ein und desselben Medienbildes führen können. 43 Hall unterscheidet dabei zwischen drei idealtypischen Rezeptionspositionen, die er auf die jeweilige Klassen- oder Standeszugehörigkeit des Rezipierenden zurückführt: Die Elite und der Mittelstand nehmen entweder die dominant-hegemoniale Position, die zu einer favorisierten, das heißt dem Kodierungscode entsprechenden Lesart neigt, oder die ausgehandelte Position ein, die zwar in weiten Teilen die dominante Bedeutung bestätigt, aber en detail davon abweichen kann. Diesen beiden Rezeptionsweisen steht drittens die oppositionelle Position gegenüber, die nach Hall vor allem von Vertretern der Arbeiterklasse eingenommen wird, die zwar den dominanten Diskurs kennen, aber nichtsdestotrotz eine abweichende Lesart entwickeln.
39 | Vgl. Hall, Stuart, »Cultural Studies. Zwei Paradigmen«, in: Bromley, Roger (et al.) (Hg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg 1999, S. 113-138. 40 | Williams, Raymond, The Sociology of Culture, Chicago 1981, S. 13. 41 | Hall, Stuart, »Encoding/Decoding«, in: Bromley, Roger (et al.) (Hg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg 1999, S. 92-110. 42 | Hall, Stuart, »Introduction to Media Studies at the Centre«, in: Ders. (et al.) (Hg.), Culture, Media, Language. Working Papers in Cultural Studies 1972-1979, London 1980, S. 117-121. 43 | Hall, Stuart, »Encoding/Decoding«, in: Bromley, Roger (et al.) (Hg., Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg 1999, S. 92-110, S. 97.
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Halls Encoding/Decoding-Modell wurde in den medienanalytischen Arbeiten der Cultural Studies in zweifacher Weise weitergeführt:44 Während sich einige Analysen eher an dem semiotischen und diskursanalytischen Ansatz orientierten und eine textualistische Analysestrategie einschlugen, setzten viele Studien ethnographische Methoden ein, um die von Hall proklamierten divergierenden Rezeptionsmilieus empirisch zu erforschen.45 In der sogenannten »Revisionismus-Debatte« wurde jedoch vielfach kritisiert, daß die ethnographischen Rezeptionsstudien den Subjektivismus und Voluntarismus, der bereits in Halls Begriff der »oppositionellen Lesart« angelegt war, verstärkten und so den ursprünglichen ideologiekritischen Impetus der Cultural Studies aufs Spiel setzten. Vor allem John Fiske wurde vorgeworfen, die strukturierende Wirkung hegemonialer Diskurse zu banalisieren, da er in seinem Konzept des »active audience«46 dem Fernsehzuschauer und später – ausgehend von Michel de Certeaus Theorie der alltäglichen Aneignungspraktiken 47 – auch dem Konsumenten von Popkultur im allgemeinen eine »semiotische Macht« und damit eine grundsätzlich widerständige und aktive Haltung zusprach. 48
8. A UF DEM W EG ZU EINER P R A XEOLOGIE DES S EHENS UND DER V ISUALISIERUNGEN Die produkt-, die produktions- und die rezeptionsorientierten Ansätze der Visual Studies lenken die Analyse des Visuellen in unterschiedliche Richtungen und erweisen sich in mancher Hinsicht als komplementär. Von zukünftigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Visualitätsanalysen wird man erwarten können, daß sie die unterschiedlichen Schwerpunkte auf Produkten, Produktionskontexten und Rezipienten miteinander kombiniert. Darüber hinaus kann die Visualitätsanalyse jedoch nicht nur eine Erweiterung, sondern eine grundsätzliche Wende erfahren, indem sie als Ausgangspunkt nicht die Bilder und Bildwelten, sondern die Praktiken des Sehens als spezifische Wahrnehmungsweisen wählt und die Betrachtung wie Herstellung von Bildwelten als eine besondere Konstellation innerhalb dieser gesellschaftlich bedeutsamen Sehpraktiken insgesamt begreift. Entscheidend ist dabei, das Sehen als Wahrnehmungsweise nicht auf einen psychologisch, phänomenologisch oder neurophysiologisch rekonstruierbaren ›inneren‹ Prozeß zu reduzieren, sondern es als Bestandteil kulturell und historisch spezifischer Praktiken zu 44 | Hepp, Andreas, Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 118. 45 | Vergleiche zum Beispiel Morley, David, The Nationwide Audiences. Structure and Decoding, London 1980 und Morley, David, Family Television. Cultural Power and Domestic Leisure, London 1986. 46 | Vgl. Fiske, John, Television Culture, London, New York 2007. 47 | In Abgrenzung von Foucault stellt Michel de Certeau die These auf, daß das Subjekt nicht vollständig von den Diskursen und Machttechnologien determiniert wird, sondern in seinen alltäglichen, konsumtorischen Praktiken diese aneignen, umdeuten und verschieben kann, vgl. de Certeau, Michel, Kunst des Handelns, Berlin 1988. 48 | Vgl. Fiske, John, Understanding Popular Culture, Boston 1989.
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analysieren. 49 Diese Praktiken sind wiederum nicht isoliert zu betrachten, sondern eng mit entsprechenden Artefaktkonstellationen, Wissens- und Affektstrukturen sowie Subjektivierungsformen verbunden. Zugleich ist das Sehen als Bestandteil von Praktiken auf eine wiederum kulturell besondere Weise mit den anderen Formen der Wahrnehmung verknüpft oder von ihnen separiert. Man kann das Sehen letztlich nur künstlich getrennt von den anderen Weisen sinnlichen Wahrnehmens rekonstruieren, das heißt vom Hören, vom Riechen und Schmecken, vom Berühren, vom Leiblichen und vom Bewegungssinn. Die Analyse des Sehens ist in diesem Sinne als Bestandteil eines umfassenden Feldes der Sense Studies zu verstehen.50 Zentral für eine praxeologische Analytik des Sehens – und damit auch von Bildern und Sichtbarkeit – ist der Zusammenhang von fünf miteinander verknüpften, heuristisch unterscheidbaren Elementen in ihrer kulturellen und historischen Dynamik: erstens den Praktiken des Sehens, zweitens den Objekten und Artefakten, das heißt dem, was gesehen wird und das zugleich eine technische Trägerschaft dieses Gesehenen bildet, drittens dem sehenden (und gesehenen) Subjekt, viertens dem Wissen und den Affekten, welche diese Konstellation des Sehens strukturieren, fünftens den umfassenden konflikthaften makrosozialen Arrangements in ihrer Genealogie, in die diese Elemente eingebettet sind und die sie (re)produzieren. Sehen, die sinnliche Erfassung von Gegenständen und Zuständen mit Hilfe der visuellen Wahrnehmung, ist – je nach kulturell-historischem Kontext – einerseits in unterschiedlicher Gewichtung Bestandteil einer Vielzahl von sozial-kulturellen Praktiken, andererseits bildet es teilweise spezialisierte Praktiken, genuine Sehpraktiken aus, um bestimmte visuelle Eindrücke und Evidenzen herzustellen. Wenn sozial-kulturelle Praktiken als geübte und gekonnte Alltagstechniken zu verstehen sind, in denen der trainierte menschliche Körper zum Einsatz kommt, er in diesem Sinne sozial intelligibel handelt und dabei ein implizites Wissen verwendet wird – Praktiken des Arbeitens, des Kommunizierens, des Familienlebens, des Medienkonsums etc. –,51 dann kommen in ihnen allen in unterschiedlicher Gewichtung Formen der sinnlichen Wahrnehmung zum Einsatz. Praktiken ganz ohne Wahrnehmungsleistungen sind – abgesehen von Grenzfällen wie der mentalen Imagination oder Reflexion – kaum denkbar. Praktiken und umfassende Komplexe von Praktiken, die die Aktivitäten einer Institution, eines sozialen Feldes, einer Lebensform oder Klasse oder gar einer ganzen zeitlich-räumlichen ›Kultur‹ ausmachen, unterscheiden sich in dem Maße, in dem sie den Sehsinn voraussetzen und in der Art und Weise, in der das Sehen in sie integriert ist. Der Sehsinn kann hier stark sensibilisiert sein oder nur beiläufig eingesetzt werden, er kann sich primär auf Objekte, auf Subjekte oder auf ganze natürliche oder soziale Szenerien richten, er kann synästhetisch eng mit den anderen Sinnen verknüpft oder weitgehend 49 | So hat zum Beispiel Eva Schürmann für die Philosophie einen solchen Ansatz entworfen. Vgl. Schürmann, Eva, Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt a.M. 2008. 50 | Vgl. etwa Classen, Constance, Worlds of sense. Exploring the senses in history and across cultures, London 1993 und Howes, David, Empire of the Senses: The Sensual Culture Reader, Oxford 2005. 51 | Vgl. Reckwitz, Andreas, »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken«, in: Ders., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 97-130.
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isoliert, er kann in äußerstem Maße affektiv oder libidinös aufgeladen oder relativ entemotionalisiert sein. Über diese Integration des Sehens in diverse Praktiken hinaus können sich spezialisierte Sehpraktiken ausbilden, das heißt Praktiken, die in erster Linie Sehen sind, das in diesem Fall entsprechend besonders trainiert und einseitig gesteigert ist, zum Beispiel Praktiken wissenschaftlicher Beobachtung oder der Landschafts- und Kunstbetrachtung. Sehen ist dabei natürlich nicht vorkonstruktivistisch als ein Abbildungsprozeß zu verstehen, sondern als eine perzeptive Aktivität, die von spezifischen kulturellen, inkorporierten Wahrnehmungsschemata angeleitet wird. Neben diesen spezialisierten Sehpraktiken sind die Praktiken der Visualisierung von besonderer Relevanz. Hier handelt es sich um Aktivitäten, in denen Phänomene für Dritte in eine visuelle Darstellungsform gebracht werden, in der also Phänomene nicht nur vom Subjekt für sich selbst visuell betrachtet werden, sondern für den intersubjektiven Gebrauch eine visuelle Repräsentation auf einem entsprechenden materialen Träger hergestellt wird. Dies ist der Ort der Produktion von Bildwelten – sei es in der künstlerischen Malerei, der naturwissenschaftlichen Bildgebung am Computer, der botanischen Grafik oder der privaten Photographie – in ihrer Materialität, Semiotik und Affektivität. Als Ergebnis historisch-spezifischer Visualisierungspraktiken ergeben sich damit ganze Serien und Ordnungen visueller Repräsentationen, Ordnungen des visuell Dargestellten und Darstellbaren, die sich als historisch spezifische visuelle Diskurse begreifen lassen. An den Praktiken mit einem mehr oder weniger großen Sehanteil wie auch den spezialisierten Sehpraktiken und der Visualisierung partizipieren auch Artefakte, die gleichfalls von der Visualitätsanalyse zu untersuchen sind. Der Sehsinn richtet sich dabei typischerweise auf gesondert herausgehobene Objekte, die in eine bestimmte Praktik integriert sind (wie zum Beispiel Gegenstände naturwissenschaftlicher Klassifikation, andere Personen in der Face-to-face-Interaktion, bewegte Bilder im Kino etc.). Neben diesen Objekten des Sehens in einem einfachen Sinne sind zudem Sichtbarkeitsartefakte, Bildtechniken und räumliche Kontexte für die Visualitätsanalyse von besonderer Relevanz. So kommen in bestimmten historischen Kontexten Sichtbarkeitsartefakte bzw. mediale Techniken im weiteren Sinne zum Einsatz, die bestimmte Dingwelten erst sichtbar machen oder eine bereits vorhandene Sichtbarkeit steigern, diese fokussieren oder modifizieren – dies gilt für Ferngläser und Mikroskope ebenso wie für Aussichtstürme oder das Panopticon. Von den Sichtbarkeitsartefakten sind die Bildtechniken und Bildträger graduell zu unterscheiden, in deren Medium ›neue‹ Bilder kreiert werden, sei es mit Leinwand und Farbe, in fotomechanischen Verfahren oder digital. ›Bilder‹ mit materialen Trägern bilden also selbst Artefakte spezifischer Art. Schließlich finden Praktiken des Sehens immer in einem räumlichen Arrangement statt, in einem architektonischen und innenarchitektonischen Ensemble, das wiederum bestimmte Seh- und Sichtverhältnisse mit beeinflußt, wie zum Beispiel der klassische museale white cube oder das Display im Warenhaus, die räumliche Unterscheidung von backstage und frontstage oder die Aufteilung von Zimmern in einer privaten Wohnung. Wenn in den Praktiken des Sehens und der Visualisierung damit zwangsläufig spezifische Artefakte und Artefaktarrangements partizipieren, dann partizipieren zugleich an ihnen spezifische Subjektformen als Sehsubjekte. Das Subjekt taucht hier zweimal auf: als körperlich-psychischer, subjektivierter Träger der Seh- und Visualisierungspraktiken sowie als Objekt und Darstellungsgegenstand der visuel-
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len Diskurse. Als körperlich-psychischer Träger stellt sich die Frage, welche Eigenschaften ein kulturell kompetentes Subjekt ausbilden muß, um die jeweiligen Sehund Visualisierungspraktiken ausführen zu können. Neben anderen Dispositionen entwickeln sich kulturelle Subjektformen hinsichtlich ihrer Sensibilisierung der Sinneswahrnehmung, des impliziten Sehwissens und der Deutungsmuster, die der Decodierung visueller Sachverhalte zugrundeliegen, sowie bezüglich der Affektstrukturen, das heißt der libidinösen oder aggressiven Orientierung gegenüber solchen visuellen Gegenständen. Hier sind etwa auch klassen- oder regionalspezifische Differenzen möglich. Die ›Rezeptionshaltung‹ gegenüber einem visuellen Artefakt liefert dann ein – recht enges – Bündel von Interpretationsweisen im Rahmen dieser komplexen Struktur des Sehsubjekts. Subjektformen tauchen jedoch auch auf der Gegenstandseite auf: als Gegenstände des Sehens, etwa als kulturell spezifische, in visuellen Artefakten darstellbare Subjektpositionen (zum Beispiel die Frau des Hollywoodfilms, der Arbeiter in der ›realistischen‹ Photographie oder der »Anomale« in physiognomischen Zeichnungen). Subjektformen avancieren gewissermaßen zu Sehobjekten, das Subjekt ist in einem spezifischen kulturellen Ensemble auch ein entsprechend Sichtbares, dem Blick Ausgesetztes oder sich Aussetzendes und zugleich ein für diesen Blick auf bestimmte Weise kulturell Geformtes. Im sozialen Raum, der von Praktiken des Sehens und der Visualisierung, den Seh-Subjekten und den visualitätsrelevanten Artefakten aufgespannt wird, bilden sich damit spezifische Wissensordnungen und Affekte, die sich letztlich keinen der jeweiligen Instanzen zurechnen lassen, sondern sich erst in ihrem Zusammenspiel ergeben. Kulturelle Wissensordnungen bezüglich des Sehens und der Bilder, das heißt ein visuelles Wissen, bilden sich in Auseinandersetzung mit Artefakten, werden in Praktiken in die Tat umgesetzt, in Diskursen thematisiert und exemplifiziert und in den Subjekten interiorisiert. Diese Formen des Wissens betreffen Kriterien richtigen und erstrebenswerten Sehens, objektiver oder attraktiver Bilder, narrativ gelungener Bildfolgen ebenso wie Visualisierungsverbote oder -gebote. Zugleich ist der soziale Raum der Visualität jedoch nicht emotional neutral, sondern durch kulturell spezifische Formen des Affiziertwerdens, durch visuelle Affekte strukturiert. Die gesehenen – und zugleich anderweitig perzipierten – Dinge und Bilder können in den Subjekten positive oder negative Erregungen auslösen, Lust und Ekel, Überwältigtsein und Angst. Insbesondere vermag die sinnliche Wahrnehmung ganzer räumlicher Konstellationen das hervorzubringen, was Gernot Böhme als ›Atmosphären‹ umschreibt.52 Die Ensembles von Praktiken des Sehens und der Visualisierung, Artefakten, Subjektformen und Wissens- und Affektformen lassen sich in einer Visualitätsanalyse in ihrer Mikrologik analysieren. Zugleich jedoch bilden sie umfassende, makrosoziologische Visualitätsordnungen, die eng zusammenhängen mit anderen historisch spezifischen Wahrnehmungsformen, Wissensordnungen, Praktikkomplexen und Subjektivierungsweisen. In einem sozialen Komplex wie der postmodernen Stadt beispielsweise existieren spezifische Artefaktarrangements der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit (zum Beispiel Trennung öffentlicher und privater Räume, Aussichtspunkte und ›Sehenswürdigkeiten‹), Sehpraktiken (Stadtspaziergang, panoptische Überwachung etc.), technisch produzierte Bildwelten (Billboards, Public 52 | Vgl. Böhme, Gernot, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1995.
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Viewing etc.) eng verflochten mit anderen urbanen Praxiskomplexen – der Produktion, des Wohnens –, mit politischen Programmen und urbanen Selbstthematisierungsdiskursen und Selbsttechnologien urbaner Subjekte. Visualitätsordnungen erweisen sich dann nicht selten als Bestandteile umfassender gesellschaftlicher Dispositive. Diese sind nicht als stabil und homogen, sondern als konflikthaft zu verstehen, als Teil von Visualitätspolitiken, und sie entsprechen nicht unbedingt einem linearen Modernisierungsmodell – entlang etwa einer Logik der technologischen Entwicklung von Visualitätsmedien –, sondern einer unebenen Genealogie. Visualitätskonstellationen stellen sich damit nicht als Gegenstand einer nischenhaften Phänomenologie der Wahrnehmung und der Lebenswelten oder einer Semiotik der Bilder dar, sondern als Bestandteile einer Analyse der visualitätsbezogenen Elemente umfassender gesellschaftlicher Komplexe von Praktiken, welche die Grenzen spezialisierter sozialer Institutionen, Felder oder Milieus überschreiten können: der ökonomischen – produktiven und konsumtorischen – Praktiken, der Politik und des Rechts, der Erziehung, aber natürlich auch der Sexualität, des Umgangs mit der Natur, des sich Bewegens im öffentlichen Raum oder der Geschlechterbeziehungen und der Politik der Ethnizität, die alle ihre Visualitätspolitiken enthalten. Die Visualitätsanalyse erweist sich damit als integraler Bestandteil einer umfassenden historischen Soziologie des Ästhetischen, das heißt der Formen der sinnlichen Wahrnehmung, die sich wiederum in eine Archäologie und Genealogie der sozialen Praktiken der Moderne einfügt.53
53 | Vgl. Reckwitz, Andreas, »Elemente einer Soziologie des Ästhetischen«, in: Ders., Unscharfe Grenzen, a.a.O., S. 259-280.
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A BKEHR VON DER K EHRT WENDE : V OM S PATIAL TURN ZU DEN S PACE S TUDIES Obwohl der Spatial Turn in der jüngeren Vergangenheit der Kulturforschung eine überaus prominente Stellung einnimmt, 1 gibt es bis dato kein einheitliches Verständnis vom Anspruch und den zentralen Charakteristika dieses Turn.2 Der als Erfinder des Begriffs geltende amerikanische Humangeograph Edward Soja hält die damit bezeichnete Hinwendung zum Raum für »one of the most important philosophical and intellectual developments of the 20th century«.3 Die Wiederentdeckung des räumlichen Denkens, das man allzu lange von einer bevorzugten Behandlung der Zeitperspektive behindert sah, 4 treibt allerdings nicht nur die postmodern geprägte Humangeographie5 und Stadtplanung um, sondern wird auch von anderen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen gefordert. 6 Einige gesellschaftliche Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit begünstigen dieses neu erwachte Interesse am Raum: der Zusammenbruch der Sowjetunion und die deutsche Wiedervereinigung; die Erschließung neuer Kapitalmärkte rund um den gesamten Globus; die Verbreitung des Internets und damit einhergehende Aus-
1 | Bachmann-Medick, Doris, Cultural turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 284ff. 2 | Vgl. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan, »Einleitung. Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen«, in: Dies (Hg.), Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 7-45, hier S. 13ff. 3 | Soja, Edward W.: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places, Malden 2005, S. 169. 4 | Vgl. Soja, Edward W., Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London 1989, S. 12ff. 5 | Neben Edward Soja z.B. Derek Gregory, David Harvey und Doreen Massey. Vgl. Gregory, Derek, Ideology, Science and Human Geography, London 1978; Harvey, David, Social Justice and the City. Geographies of Justice and Social Transformation, Athens u.a. 2009; Massey, Doreen, Space, Place and Gender, Cambridge 1994. 6 | Vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns, a.a.O., S. 285.
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weitung der weltweiten Telekommunikation.7 All diese Phänomene legen eine Auseinandersetzung mit dem Raum nahe. Doch der Spatial Turn soll nach diesem Verständnis weitaus mehr sein als eine zeitdiagnostische Neubewertung geopolitischer räumlicher Verhältnisse: Der Anspruch zielt auf die Notwendigkeit raumbezogenen Denkens in den gesamten Sozial- und Kulturwissenschaften unter postmodernen Vorzeichen ab. 8 Mittlerweile wird jedoch von vielen Sozial- und Kulturwissenschaftlern bezweifelt, daß überhaupt von einer grundlegenden Kehre zum Raum gesprochen werden kann, die das Denken maßgeblich umgeprägt und neugestaltet hat.9 Die vorgebrachte Kritik gegen den Spatial Turn richtet sich sowohl gegen seinen Entstehungsmythos als auch seine angenommene einheitliche Rezeption und Verbreitung. Folgt man dieser Argumentation, handelt es sich um einen hausgemachten Turn, der nicht retrospektiv beobachtet und dessen Genese ausführlich hergeleitet wird, sondern durch die beständig wiederholte Behauptung seiner Existenz performativ hervorgebracht wird. Döring und Thielmann bezeichnen diesen Vorgang als »Verweiskette mit Selbstverstärkereffekt«.10 Auch könnte von einem Turn erwartet werden, daß eine gewisse Einheitlichkeit in Zielen und Reichweite festzustellen ist. Im Bezug auf den Spatial Turn unterscheiden sich diese aber sowohl zwischen den Fächern als auch intradisziplinär. Weigel verweist auf den für die Kultur- und Literaturwissenschaften ihrer Auffassung nach wichtigeren Begriff des Topographical Turn, dem sie mehr Erklärungskraft zuspricht, da in diesem die entscheidende Wortendung «-graphie« enthalten sei: »Der Raum ist hier nicht mehr Ursache oder Grund, von der oder dem die Ereignisse oder deren Erzählung ihren Ausgang nehmen, er wird vielmehr selbst als eine Art Text betrachtet, dessen Zeichen oder Spuren semiotisch, grammatologisch oder archäologisch zu entziffern sind.« 11 Inzwischen könne zwischen Spatial, Topographical und Topological Turn differenziert werden, so Günzel.12 Freilich stellt sich die Frage, ob der Begriff des Turns nicht an Schlagkraft verliert, wenn aus einer großen Denkwende eine Vielzahl kleinerer und unterschiedlicher Raumkehren wird.13 7 | Vgl. Maresch, Rudolf/Werber, Niels, »Permanenzen des Raums«, in: Dies. (Hg.), Raum, Wissen, Macht, Frankfurt a.M. 2002, S. 7-30, hier S. 9ff. 8 | Diese Argumentation ist auch der Annahme geschuldet, daß in der Postmoderne die soziale Wirklichkeit am besten in Kategorien des Raums beschrieben werden könne. Vgl. Foucault, Michel, »Das Auge der Macht«, in: Ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Bd. 3: 1976-1979, Frankfurt a.M. 2003, S. 250-271. 9 | Vgl. Günzel, Stephan, »Spatial Turn – Topographical Turn –Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen«, in: Döring/Thielmann, Spatial Turn, a.a.O, S. 219238. Siehe auch Lippuner, Roland/Lossau, Julia, »In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften«, in: Mein, Georg/Rieger-Ladich, Markus (Hg.), Soziale Räume und kulturelle Praktiken, Bielefeld 2004, S. 47-64; vgl. ferner Schroer, Markus, »spatial turn«, in: Günzel, Stephan, Philosophisches Raumlexikon, Darmstadt 2012 (i.E.). 10 | Vgl. Döring/Thielmann, »Einleitung«, a.a.O., S. 11. 11 | Weigel, Sigrid, »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik, Bd. 2.2, 2002, S. 151-165, hier S. 160. 12 | Vgl. Günzel, »Spatial Turn – Topographical Turn –Topological Turn«, a.a.O. (Herv. im Orig). 13 | Vgl. Schlögel, Karl, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003. Schlögel hebt hervor, daß sich eine Pluralisierung und Differenzie-
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Unberührt von der Skepsis gegenüber der Diagnose eines grundlegenden Spatial Turn bleibt die Einsicht in die räumliche Verfasstheit des Sozialen. In das theoretische und methodische Rüstzeug der Kulturforschung hat eine verräumlichende und verräumlichte Perspektive Einzug gehalten und zu intensiver Forschungsaktivität veranlaßt. Um der Begründungslast eines durchgesetzten Spatial Turn zu entgehen, erscheint es sinnvoll, nicht mehr länger von einer raumtheoretischen Wende der gesamten Sozial- und Kulturwissenschaften auszugehen, sondern mit dem Begriff der Space Studies zu arbeiten. Im Gegensatz zum Spatial Turn stellen die Space Studies stärker auf die wissenschaftliche Praxis der Kulturforschung ab. Mit diesem Begriff wird keine abstrakte Kehre mit paradigmatischem Charakter angenommen, deren Existenz genauso schwierig zu be- wie zu widerlegen ist, sondern die raumbezogene Forschung der sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen bezeichnet. Ferner trägt der Sammelbegriff ›Studies‹ einer zunehmenden Interdisziplinarität Rechnung. Innerhalb der und zwischen den verschiedenen Disziplinen finden sich zwar verschiedene Raumvorstellungen und Forschungsgegenstände, die mit Hilfe einer räumlichen Perspektive bearbeitet werden, jedoch gibt es auch gemeinsame Nenner. So weist Moebius im Hinblick auf die diversen, im vorliegenden Band versammelten Studies darauf hin, daß diese einen ähnlichen methodologischen Ausgangspunkt nehmen, der sich in einem gesteigerten Interesse für die Materie, den Körper und die Artefakte niederschlägt – Kategorien mithin, die in der strukturalistischen Frühphase postmodernen Denkens und im Zuge des Cultural Turn häufig zugunsten einer ausschließlichen Betrachtung symbolischer Ordnungen und Textlichkeit ins Hintertreffen gerieten. In der gegenwärtigen Forschungspraxis besteht kein zwingender Gegensatz mehr zwischen dem Symbolischen und dem Materiellen, es wird vielmehr ihre Verwobenheit in den Blick genommen: »Die Einbettung sozio-kultureller Praktiken, Subjektivierungsweisen und Wissensordnungen in materielle Artefaktarrangements wird in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskussion mit Bezug auf Räumlichkeit von den Space Studies hervorgehoben.«14 In Anlehnung an poststrukturalistische Erkenntnisse werden Kultur und Natur dabei jedoch nicht kausalistisch gedacht und so einem Erstarken des Naturalistischen und Deterministischen das Wort geredet, im Gegenteil wird der Raum als »Kultur und Natur vermischender Effekt sozialer und kultureller Praktiken«15 angenommen. Im folgenden sollen zunächst die Gemeinsamkeiten der Space Studies vorgestellt werden, die es überhaupt plausibel machen, einen solchen Sammelbegriff für ein intern hochkomplexes und differenziertes Feld von Kulturforschung bereitzustellen. Aus diesem Grund soll sich mit Blick auf den theoretischen Hintergrund zunächst dem Raumverständnis der Space Studies gewidmet werden. Ein zentrales Werk, das von Bachmann-Medick zu Recht als »Keimzelle«16 einer poststrukturalistisch orientierten Beschäftigung mit dem Raum in den verschiedenen Disziplirung in verschiedene Turns befruchtend auf die Wissenschaftslandschaft auswirken könne und außerdem die Ansprüche an solche Kehren damit auf ein realistisches Niveau gesenkt würden. Wenn aber von einer alles ergreifenden Kehre eigentlich nicht mehr gesprochen werden kann – wozu noch das Konzept des Turn beleihen? 14 | Moebius, Stephan, Kultur, Bielefeld 2009, S. 181 (Herv. im Orig.). 15 | Ebd. 16 | Bachmann-Medick, Cultural Turns, a.a.O., S. 291.
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nen angesehen wird, ist dabei das von Henri Lefebvre verfaßte »The Production of Space«17 von 1974. Daran anschließend wird auf die poststrukturalistische Fundierung der Space Studies Bezug genommen. Wie ändert eine solche Perspektive den Blick auf den Raum? Welche Erkenntnismittel ergeben sich aus der verräumlichten Sichtweise (1)? Sodann sind die methodologischen Grundannahmen der Space Studies zu erläutern (2), um daraufhin anhand von zwei Studien zu veranschaulichen, wie unterschiedlich die Forschungspraxis der raumorientierten Kulturforschung aussehen kann, obwohl sie auf ähnlichen theoretischen und methodischen Annahmen fußt (3). Mit einem Resümee und einem Ausblick auf methodische Erweiterungsmöglichkeiten sowie künftige Herausforderungen schließen die Ausführungen ab (4).
1. D AS THEORE TISCHE R AUMVERSTÄNDNIS DER S PACE S TUDIES Zwei Raumvorstellungen konkurrieren in der raumbezogenen Kulturforschung. Hinter der Container-Theorie steht die Auffassung, daß der Raum unabhängig von äußeren Dingen immer gleich, unbeweglich und damit unveränderlich bleibe. Er sei wie ein allumfassendes Gefäß, das mit Inhalt gefüllt werden könne.18 Die Vorstellung eines relationalen Raumes setzt diesem Modell entgegen, daß weder Zeit noch Raum dingliche Existenz besäßen, sondern sich der Raum über die Lage eines jeden Körpers zu einem anderen ergebe.19 Folgt man dem Containerdenken, so wird vernachlässigt, die Konstitutionsbedingungen der Räume zu thematisieren. Die sich im Behälterraum befindlichen Objekte werden somit zu bloß passiven Elementen, die nichts zu dessen Entstehung beitragen. In der Vorstellung des relativen Raumes hingegen wird der kreative Anteil des Menschen berücksichtigt, er bildet ein aktives Moment der Verräumlichung. Hier besteht jedoch die Gefahr, die Bedeutung des Handelnden und der Handlung im Sinne eines Voluntarismus zu überschätzen und die Macht räumlicher Arrangements auf das Handeln zu unterschätzen, die traditionell im Fokus sozialwissenschaftlicher Raumkonzepte stand.20 Um dieser Gefahr zu entgehen, gilt es an die grundlegende Einsicht von Michel Foucault in das Verhältnis von Handlungen und deren Folgen zu erinnern: »Die Leute wissen was sie tun; häufig wissen sie, warum sie das tun, was sie tun; was sie aber nicht wissen, ist, was ihr Tun tut.« 21 Übertragen auf die Betonung des Gemacht-Seins des Raums bedeutet dies, daß die Produzenten des Raums nicht gänzlich überblicken können, was aus dem von ihnen produzierten Raum wird, wie er interpretiert und genutzt werden wird. Die Beteiligung oder Nichtbeteiligung an der Herstellung einer räumlichen Figuration könnte dabei durchaus Ein17 | Lefebvre, Henri, The Production of Space, Oxford 2005. 18 | Vgl. Schroer, Markus, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a.M. 2006, S. 36f. 19 | Vgl. ebd., S. 39f. 20 | Vgl. ebd., S. 177. 21 | Eine persönliche Mitteilung Michel Foucaults, zitiert nach Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1987, S. 219.
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fluß darauf haben, ob diese zunächst hinsichtlich ihrer Möglichkeiten oder ihrer Beschränkungen wahrgenommen wird. Gegenwärtig erstarkt das relationale Raumkonzept in der Kulturforschung, wohingegen die Aussagekraft des Container-Modells in Frage gestellt wird. Doch sollte es den Space Studies nicht darum gehen, diese Auseinandersetzung endgültig zugunsten einer Raumvorstellung zu entscheiden, sondern vielmehr zur Kenntnis zu nehmen, daß beide Auffassungen in der sozialen Welt ihren Platz finden und handlungs- und strukturbildende Wirkungen entfalten.22 Wichtig für das theoretische Fundament der Space Studies ist die Einsicht einer sozialen Bedingtheit des Raumes. »Initialzündung« 23 für diese Annahme, die inzwischen einen Common Sense in der Kulturforschung darstellt, ist die Wiederentdeckung des Neomarxisten Henri Lefebvre und seines Hauptwerkes »La production de l’espace« durch die Humangeographie. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Herstellung des Raumes durch die Vorstellungen und Handlungen der Akteure.24 Er unterscheidet drei Formen der Räumlichkeit, 25 die eine Konzeption des Raumes als ›Verräumlichung‹ nahelegen: räumliche Praxis (pratique spatiale), Raumrepräsentationen (représentations de l’espace) und Repräsentationsräume (espaces de représentation). Bei ersteren geht es um die Verknüpfung des von den Akteuren wahrgenommenen Raumes (l’espace perçu) mit der Alltagspraxis und der räumlichen Infrastruktur. Die räumliche Praxis produziert und reproduziert Orte und (Gesamt-)Räume. Die Raumrepräsentationen ergeben sich durch den konzipierten Raum (l’espace conçu), den Raum des Wissens, der Zeichen und der Codes, also denjenigen Raum, der von Planern und Experten ersonnen wird. Schließlich werden die Repräsentationsräume mit dem ›gelebten‹ Raum (espace vécu), dem imaginierten Raum der Bilder und Symbole zum Ausdruck gebracht. Die Phantasie der Raumnutzer ist hierbei zentral. Durch die Imagination der Akteure können auch alternative Raummodelle entstehen, die das Potential haben, den konkreten Raum zu verändern. Mehrere Raumaspekte rücken mit Lefebvres Konzeption in den Vordergrund: die Abkehr von einer dualistischen Unterscheidung in physischen und sozialen Raum, die Betonung der Rolle des Körpers für die Konstitution von Räumen und schließlich die Kontingenz von Räumlichkeit, die eher als Verräumlichungsvorgang zu denken ist. 26 Dank Lefebvre kommt folglich die Prozeßhaftigkeit von Räumen in den Blick. So vermeiden die Space Studies einen naheliegenden Fehler: Die angenommenen Strukturen und Räume werden nicht als ahistorische Entitäten vorgestellt. Hierdurch wird auch die theoretische Nähe zum Poststrukturalismus offensichtlich, der in der Betonung des historisch-prozeßhaften Charakters und der ›Verzeitlichung‹ von Strukturen über den ahistorisch argumentierenden Strukturalismus
22 | Vgl. ebd., S. 179f. Diese Position, die stärker auf die Raumkonzepte der beteiligten Akteure abzielt, kann auch als wissenssoziologische Perspektive bezeichnet werden. 23 | Döring, »Spatial turn«, a.a.O., S. 91. 24 | Lefebvre, The Production of Space, a.a.O., S. 26f. 25 | Vgl. im folgenden ebd., S. 33ff. 26 | Vgl. Kajetzke, Laura/Schroer, Markus, »Verräumlichung«, in: Günzel, Stephan (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, S. 192-203, hier S. 195f.
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hinausgeht.27 Letzterer würde den Raum zu einem statischen und unbeweglichen Gebilde degradieren. Vergleicht man die Sichtweise des Strukturalismus mit einem Schachbrett und den darauf befindlichen Figuren,28 so wendet der Poststrukturalismus seinen Blick auf das Schachspiel. Der Poststrukturalismus erhebt den Raum zu einer Forschungsperspektive, die für die gesamte kultur- und sozialwissenschaftliche Praxis den Anspruch allgemeiner Theorie vertritt, d.h. gesamtgesellschaftlich anwendbar ist. Historisch-kulturelle Zusammenhänge werden also als verräumlicht und verräumlichend aufgefaßt. Übernommen wird das topologische Denken29 des Strukturalismus, ohne dabei jedoch die Zeitlichkeit und die Bedeutung der Praxis zu vernachlässigen.30 Weiterhin schärfen die poststrukturalistischen Theorien den Blick für Machtverhältnisse in und zwischen Räumen. Wie wird Raum affirmiert und damit reproduziert, wie wird Widerstand gegen Raumstrukturen ausgeübt, und wie verändern sich Räume durch diese Widerstandsbewegungen?31 So werden z.B. über die Architektur des Panopticons neue Formen der Macht möglich und sichtbar. Auf diese Weise entsteht ein Gefängnisdispositiv aus Handlungen, visuellen Zuständen, Architekturen und Körpern, im Hintergrund wirken wissenschaftliche wie juristische Institutionen – diese Verkettung ermöglicht neue Wissensbestän-
27 | Vgl. Moebius, Stephan, »Strukturalismus/Poststrukturalismus«, in: Kneer, Georg/ Schroer, Markus (Hg.), Handbuch Soziologische Theorien, Wiesbaden 2009, S. 419-444, hier S. 425. Auch gehen die Space Studies die strukturalistische Annahme eines »methodologischen Objektivismus, das heißt die Annahme, dass die Totalität der Strukturen wichtiger als die Individuen und deren Praktiken sind«, nicht mit; siehe ebd., S. 424. 28 | Vgl. Deleuze, Gilles, Woran erkennt man den Strukturalismus?, Berlin 1992, S. 19. Deleuze selbst steht allerdings – kontraintuitiv zum Titel – in diesem Text gerade für eine verbesserte, da historisierte Variante des Strukturalismus ein, die retrospektiv treffender mit dem Label ›Poststrukturalismus‹ beschrieben ist. Zur Sicht des Poststrukturalismus als durchgearbeiteter und radikalisierter Strukturalismus, für die Deleuze hier lediglich pars pro toto steht, vgl. Moebius, Stephan, Die soziale Konstituierung des Anderen. Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Lévinas und Derrida, Frankfurt a.M./New York 2003. 29 | Dazu exemplarisch Deleuze: »Es handelt sich nicht um einen Platz in einer realen Ausdehnung, noch um Orte in imaginären Bereichen, sondern um Plätze und Orte in einem eigentlich strukturellen, das heißt, topologischen Raum. Was struktural ist, ist der Raum, aber ein unausgedehnter, prä-extensiver Raum, reines spatium, das allmählich aus der Nachbarschaftsordnung herausgebildet wurde […].« Vgl. Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus?, a.a.O., S. 15 (Herv. im Orig.). Siehe auch Schroer, Markus, »Raum oder: Das Ordnen der Dinge«, in: Reckwitz, Andreas/Moebius, Stephan (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 141-157. 30 | Vgl. Kajetzke/Schroer, »Verräumlichung«, a.a.O., S. 196. 31 | Vgl. Foucault, Michel: »Von anderen Räumen«, a.a.O., S. 317-329. Siehe auch Kajetzke, Laura/Schroer, Markus, »Schulische Mobitektur: Bauen für die Bildung«, in: Böhme, Jeanette (Hg.), Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs. Territorialisierungskrise und Gestaltungsperspektiven des schulischen Bildungsraums, Wiesbaden 2009, S. 299-314, hier S. 310f.
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de, die wiederum Machtwirkungen zur Folge haben.32 Machtausübung kann dabei weder vollständig dem Raum z.B. in Form einer alles determinierenden Machtarchitektur zugeschlagen werden – was wäre das Panopticon ohne die Beteiligung der Überwachten an ihrer Überwachung, ohne sich selbst dressierende Körper? –, noch dienen die Räume als bloße Kulisse für die vorgenommenen Disziplinartechnologien. Die Verschränktheit von Räumen, Körpern und Praktiken ist komplizierter als es die einseitige Annahme eines Raumdeterminismus verstehbar machen könnte.33 Wo Macht ist, da muß auch Widerstand bzw. ein Andershandeln potentiell möglich sein. Der Begriff der »Heterotopie« ist als ein Versuch Foucaults zu sehen, diese Widerständigkeit nicht nur Akteuren zuzuschreiben, sondern auch als mögliche Raumqualität zu konzipieren: »Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, […] in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden.«34 Schwebte Foucault eine ganze Heterotopologie35 vor, welche sich den gesellschaftlich hervorgebrachten Gegenräumen widmen soll, um über diese Teilungspraktiken etwas über die gesamtgesellschaftliche Verfaßtheit zu erfahren,36 so erhofften sich Deleuze und Guattari eine Wissenschaft, der sie den Namen Nomadologie37 gegeben haben. Diese setzt auf zwei Ebenen an: Sowohl die klassifizierenden Begrifflichkeiten und Denkschemata in den Wissenschaften als auch die gesellschaftlichen Strukturen werden als wandelbar, »nomadisch« begriffen und im Sinne einer kritischen Theorie immer wieder hinterfragt und korrigiert. Wie Nomaden den Raum durchqueren, so soll auch das Denken rastlos bleiben und sich nicht niederlassen. Wissenschaftlich ist dies als eine Absage an eine vereinheitlichende Perspektive zu verstehen. Räumlich bedeutet dies einen beständigen Kampf zwischen zwei Raumzuständen, ein Werden, das zwischen »glatten« und »gekerbten« Räumen changiert. Der gekerbte Raum entsteht durch das Vermes32 | Vgl. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1977, S. 256ff. Zum Verhältnis von Wissen und Macht bei Foucault siehe auch Kajetzke, Laura, Wissen im Diskurs. Ein Theorienvergleich von Bourdieu und Foucault, Wiesbaden 2008, S. 33ff. 33 | Vgl. Schroer, Räume, Orte, Grenzen, a.a.O., S. 175ff. 34 | Foucault, »Von anderen Räumen«, a.a.O., S. 320. 35 | Vgl. Foucault, Michel, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a.M. 2005. 36 | »Ich möchte einen Weg in Richtung einer neuen Ökonomie der Machtverhältnisse vorschlagen, der empirischer und direkter auf unsere gegenwärtige Situation bezogen ist […]. Sein Ausgangspunkt sind die Formen des Widerstands gegenüber den verschiedenen Machttypen. […] Um zum Beispiel herauszufinden, was unsere Gesellschaft unter vernünftig versteht, sollten wir vielleicht analysieren, was im Feld der Unvernunft vor sich geht. Wir sollten untersuchen, was im Feld der Illegalität vor sich geht, um zu verstehen, was wir mit Legalität meinen, und um zu verstehen, worum es bei Machtverhältnissen geht, sollten wir vielleicht die Widerstandsformen und die Versuche zur Auflösung dieser Verhältnisse untersuchen.« Foucault, Michel, »Warum ich die Macht untersuche. Die Frage des Subjekts«, in: Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul, Michel Foucault, a.a.O., S. 241-250, hier S. 245. 37 | Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992, S. 39 und S. 481 ff.
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sen, Kartographieren, Eingrenzen, Territorialisieren, durch das Definieren eines Innen und eines Außen. Die Praktiken, mit denen der geglättete Raum erzeugt wird, wirken deterritorialisierend, sind nomadisch umherschweifend und lassen Raumstrukturen wieder »fließen«.38 Nicht nur Macht und Raum hängen unmittelbar miteinander zusammen: Wer von Macht spricht, kann vor allem vom Wissen nicht schweigen. Das komplexe Verhältnis von Macht, Wissen und Raum kann auf vielen Ebenen angesiedelt werden: Wissen über Räume (z.B. das Wissen über angemessenes Verhalten), Wissen, das in spezifischen Orten vermittelt wird (z.B. Schulen, Universitäten, Salons), Wissen, das durch Räume erzeugt wird (z.B. durch Beobachtung im Panopticon, experimentelle Arrangements in Laboratorien),39 aber auch Wissen als ein Denken in einer bestimmten Räumlichkeit können hierbei angesprochen werden. 40 Mit diesem letzten Aspekt ist eine weitere Leistung des Poststrukturalismus angesprochen, die darauf abzielt, wie das Denken selbst räumlich vorstellbar gemacht werden kann. Ein solch räumliches Wissensmodell stellt das »Rhizom« dar, das in Anschlag zu dem traditionellen Wissensmodell bzw. Wissenschaftsmodell des »Baumes« gebracht wird. Der Baum steht für das traditionelle Verständnis von Räumen und Wissensformen und für eine hierarchische Ordnung und Ausdifferenzierung nach binären Schemata, die Vielheit leitet sich von der Einheit des Baumstammes ab. Das Rhizom hingegen strebt als weitverzweigtes Wurzelgeflecht ohne erkennbaren Anfang/Ursprung in diverse Richtungen und verbindet sich in unvorhersehbarer Weise zu neuen Strukturen. 41 Aus den theoretischen Grundannahmen ergeben sich Konsequenzen für die Untersuchung von Räumen als Gegenstandsbereich sowie des Raums und damit verbundener Konzepte als Erkenntnismittel. Wie sieht eine Umsetzung in methodische Analyseinstrumente und konkrete Forschungsprojekte aus?
38 | Ein anschauliches Beispiel für solche glättenden Deterritorialisierungspraktiken innerhalb eines dominant gekerbten Raumes (Stadt, Schule) stellen Bewegungsleistungen jugendlicher Skater dar. Vgl. Böhme, Jeanette/Brick, David, »Urbane Kompetenz = Hyperaktivität? Nomadische Raumpraktiken und schulische Raumordnungen«, in: Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik, H. 4, 2010, S. 611-620. 39 | Vgl. Schroer, Markus, »Raum und Wissen«, in: Engelhardt, Anina/Kajetzke, Laura (Hg.), Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme, Bielefeld 2010, S. 281-291. 40 | Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg/Hagner, Michael/Wahrig-Schmidt, Bettina (Hg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997. Siehe auch Matthiesen, Ulf, »Wissensformen und Raumstrukturen«, in: Schützeichel, Rainer (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, S. 648-661. 41 | »[I]m Unterschied zu den Bäumen und ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen; jede seiner Linien […] bringt sehr verschiedene Zeichensysteme ins Spiel und sogar nicht-signifikante Zustände […]. Das Rhizom läßt sich weder auf das eine noch auf das Viele zurückführen. […] Eine Vielheit variiert ihre Dimensionen nicht, ohne sich selbst zu ändern und zu verwandeln.« Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, Rhizom, Berlin 1977, S. 34.
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2. M E THODOLOGIE Eine Vielzahl von Disziplinen versammelt sich unter dem Label der Kulturforschung. Aus den einzelnen Fächern kommen ganz unterschiedliche methodologische Annahmen und methodische Kompetenzen zusammen, welche die Space Studies als mitunter heterogene Forschungsrichtung auszeichnen. Im folgenden gilt es der Frage nachzugehen, was die Space Studies nun in methodologischer Sicht verbindet. Zunächst weisen die beteiligten Wissenschaften eine hohe hermeneutische Sensibilität auf. Sie reflektieren selbstreferentiell ihre eigenen raumtheoretischen Grundannahmen bereits im Vorfeld der empirischen Umsetzung. Hinzu kommt, daß auch die Raumannahmen der beforschten Akteure berücksichtigt werden: Wird »das Lokale« beispielsweise mit Konkretion und Unmittelbarkeit verbunden, »das Globale« hingegen mit Abstraktion und Vernetzung?42 Weckt »Mobilität« die Ideen von Freiheit, Flexibilität und Ungebundenheit, »Sesshaftigkeit« eher Eindrücke von Borniertheit, Kontinuität und Fixiertheit?43 Der Umstand, daß die Space Studies sich ausschließlich aus Wissenschaften zusammensetzen, die in Vorbereitung ihrer Forschung sowie in der Interpretation ihrer Ergebnisse auf reflektierte hermeneutische Kompetenzen zurückgreifen können, stellt ihre erste große methodologische Stärke dar. Sodann ist eine weitere methodologische Gemeinsamkeit der Space Studies in der Absage an die rein quantitative Forschung zu finden. Diese kann freilich ein nützliches Mittel zur Untersuchung der Raumproblematik darstellen, allerdings immer nur in Kombination mit qualitativer Forschung. Bei der Annäherung an den Gegenstand ›Raum‹ haben wir es mit einer komplexen Gemengelage von Materialitäten, Körpern, Akteuren, Handlungen und Symbolisierungen zu tun, die eine qualitative Einzelfallanalyse herausfordert. Ferner soll ein in der quantitativen Forschung verbreiteter »naiver Empirismus« 44 vermieden werden, da sonst dem Container-Verständnis von Raum durch die Hintertür wieder Einlaß gewährt wird. Im Hinblick auf die Befragung der raumkonstituierenden und -erleidenden Akteure eignen sich standardisierte Fragebögen nur bedingt und keineswegs als einziges Mittel, um den vielfältigen, differenten und diffusen Raumwahrnehmungen gerecht werden zu können. Ein weiteres methodisches Potential der Space Studies läßt sich am ehesten als Bereitschaft zu methodischen Grenzüberschreitungen beschreiben. Die Space Studies leben vom und gedeihen durch interdisziplinären Austausch. Der Imperativ, dem die Space Studies verpflichtet sind, lautet: »Use mixed methods!« Im folgenden werden die ausgewählten Studien exemplarisch für eine erfolgreiche theoretische und 42 | Vgl. Bauriedl, Sibylle, »Räume lesen lernen: Methoden zur Raumanalyse in der Diskursforschung« [86 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung, 8 (2), 2007. Art. 13, http:// nbn-resolving.de/um:nbn:de:0114-fqs0702139, Abschn. 27. 43 | Vgl. Kajetzke, Laura, »Machtbewegungen. Eine raumsoziologische Perspektive auf die Schule«, in: Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik, H. 4, 2010, S. 598-610. 44 | Bauriedl führt dazu genauer aus: »Besonders bei ausschließlich quantitativ ausgerichteten Forschungen werden i.d.R. Raumausschnitte bzw. Territorien betrachtet, die durch Punkte charakterisiert und durch diese mit Daten verbunden werden.« Bauriedl, »Räume lesen lernen«, a.a.O., Abschn. 12.
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empirische Umsetzung des Programms der Space Studies herangezogen. Sie stehen für eine interdisziplinär angelegte, Methoden kombinierende Vorgehensweise.
3. E MPIRISCHE U MSE T ZUNGEN : Z WEI W EGE DER VERR ÄUMLICHTEN K ULTURFORSCHUNG Wie verräumlichte Zusammenhänge in ihrer Komplexität mit einem Bündel qualitativer Methoden – von der teilnehmenden Beobachtung über Dokumentenanalyse bis hin zu Interviewführung – untersucht werden können, soll anhand zweier Beispiele aus der Praxis der raumorientierten Kulturforschung anschaulich gemacht werden. Die beiden Vorgehensweisen vermitteln einen Eindruck von dem Methodenmix, der von den Space Studies angestrebt wird. Diese ›Zugangsoptionen‹ stehen nicht nur für eine produktive Untersuchung von Räumen, sondern auch für eine Verräumlichung des kulturforschenden Denkens.
3.1 Das ethnomethodologische Verfahren Die Ethnomethodologie ist ein Forschungsprogramm, das mit Namen wie Harold Garfinkel und Aaron Cicourel verbunden wird. 45 Die Grundidee der Ethnomethodologie lautet kurz gefaßt, daß der bzw. die Forschende einen verfremdeten Blick auf die eigene Kultur wirft und damit versucht, die impliziten Regeln des Alltags aufzudecken: »Wie muß dieses Wissen, das Wissens eines jeden Mitgliedes einer jeden Gesellschaft, strukturiert sein, damit Handeln möglich ist?«46 Ethnomethodologie ist eine Forschungshaltung, die den einzelnen Akteur und seine Handlungen ernst nimmt, in der Methodik stark auf teilnehmende Beobachtung, Gespräche und Interviews sowie »dichte Beschreibungen« 47 im Sinne einer Ethnographie setzt und dabei das implizite Wissen und die unbewußten Strategien der Akteure besonders berücksichtigt. O’Toole und Were, die Autoren der hier exemplarisch behandelten Studie, 48 kritisieren an der gängigen ethnomethodologischen Forschung, daß Raumaspekte und materielle Kultur selten Eingang in die Untersuchungen gefunden haben, obwohl dadurch tiefere Einsichten in das soziale Leben und die dahinterliegenden Machtstrukturen gewonnen werden könnten. O’Toole führte eine ethnomethodologische Untersuchung in einer Technologiefirma in Adelaide durch, die einer größeren Organisation mit Dependancen in Australien, Irland und den Vereinig45 | Vgl. Cicourel, Aaron, Methode und Messung in der Soziologie, Frankfurt a.M. 1974; vgl. Garfinkel, Harold, Studies in Ethnomethodology, Cambridge 1984. 46 | Joas, Hans/Knöbl, Wolfgang, »Siebte Vorlesung. Interpretative Ansätze (2): Ethnomethodologie«, in: Dies., Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt a.M. 2004, S. 220. 47 | Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung, Frankfurt a.M. 1978. 48 | Vgl. O’Toole, Paddy/Were, Prisca, »Observing Places. Using Space and Material Culture in Qualitative Research«, in: Qualitative Research, 8 (5), 2008, S. 616-634, http://qrj. sagepub.com/content/8/5/616. Für die ausführliche Studie vgl. O’Toole, Paddy, Retaining Knowledge Through Organiziational Action, Adelaide 2004.
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ten Staaten von Amerika angehört, um Erkenntnisse über Wissensstrukturen in technisch innovativen Organisationen zu erlangen. Zehn Monate erforschte er die Belegschaft in den unterschiedlichen Abteilungen. Räume wurden dabei nicht lediglich als Kulisse für ablaufende Aktionen verstanden. Die Akteure, die sie umgebenden Objekte und Gebäude sowie die Wechselwirkungen zwischen all diesen Elementen stellten sein Untersuchungsobjekt dar. Als methodisches Hauptinstrument diente ihm die teilnehmende Beobachtung, weiterhin führte er Interviews mit den Angestellten durch, arbeitete mit Photographien räumlicher Arrangements sowie mit Grundrissen und Bauplänen. Ferner war von Interesse, in welcher Stadt, in welchem Vorort das Gebäude der Technologiefirma steht, welche benachbarten Gebäude und Anlagen es umgeben. Wie ist die Firma selbst aufgebaut, wie stehen die Abteilungen zueinander, wie sieht es innerhalb der Abteilungen aus, und wie stark sind welche Örtlichkeiten frequentiert? Seine erstellten Beobachtungen und Beschreibungen kodierte er anhand der Leitlinien der Grounded Theory. 49 Über einen Vergleich zweier Abteilungen können O’Toole und Were herausarbeiten, daß die räumlichen Objektarrangements »[…] the work habits and character of the occupational group represented«50 reflektieren. Die Buchhaltungsabteilung stellte sich für die Forschenden als ein »haven of neatness and order« 51 dar, in der jedes Objekt einen ihm zugewiesenen Platz hatte, wohingegen sich die Forschungs- und Entwicklungsabteilung, der Hort der ›kreativen Köpfe‹ des Unternehmens, als ein chaotischer Bereich mit verstreuten Werkzeugen und Bauteilen entpuppte. Beide Abteilungen werden als komplementäre Welten mit je eigenen Logiken beschrieben. Selbst Kleinigkeiten dienen den Forschern als Hinweise auf weitreichendere Veränderungen im Machtgefüge des Unternehmens. Eine blockierte Tür wird dabei genau examiniert: Versperrt durch Regale, verhindert sie den Zugang zu einem Reparaturraum für die Mitarbeiter aus der Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Wie sich herausstellt, ist die Blockade durchaus beabsichtigt, da sich sonst genau jene Mitarbeiter unter Mißachtung der üblichen Regeln ungefragt am Material bedienen würden. Aus dieser scheinbar unbedeutenden und für die Forscher zunächst kaum sichtbaren Veränderung des Raumgefüges kann so auf den schleichenden Machtverlust eben dieser Abteilung für Forschung und Entwicklung geschlossen werden.52 Welche Macht qua Visibilität auf einzelne Angestellte ausgeübt werden kann, wie diese sich aber dennoch als widerständige und findige Subjekte erweisen, die sich ihre noch so kleinen Freiräume zur Wahrung einer ihnen wertvollen Identität schaffen, ermittelt die Forschungsgruppe dieser Studie u.a. über das Verhältnis von Rezeptionistin und Rezeption im Eingangs- und Empfangsbereich der Technologiefirma. An diesem Vermittlungsglied zwischen Innen- und Außenwelt 49 | Vgl. Strauss, Anselm L./Corbin, Juliet, Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996. 50 | O’Toole/Were, »Observing Places«, a.a.O., S. 623 (Herv. im Orig.). 51 | Ebd. 52 | Die häufig unkonventionell agierende Abteilung für Forschung und Entwicklung zeichnet zwar verantwortlich für das immense Wachstum der Firma in den letzten drei Jahren, doch beförderte gerade dieser Erfolg das Erfordernis einer Effizienzsteigerung und eine zunehmende Disziplinierung der Mitarbeiter. Vgl. ebd., S. 625.
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der Firma befindet sich die dort tätige Angestellte am Punkt allerhöchster Sichtbarkeit, vergleichbar mit den von Foucault beschriebenen panoptischen Verhältnissen.53 Die Rezeptionistin kann von überall her gesehen werden, sieht selbst aber nicht, wer sie beobachtet. Widerständig ist ihr Handeln allerdings insofern, als sie sich ›eigenmächtig‹ einen kleinen persönlichen Raum, einen Bereich auf ihrem Schreibtisch schafft, der immerhin nicht von den Besuchern einsehbar ist. Der persönliche Charakter dieses Bereichs zeigt sich vor allem durch eine Fülle von Photographien und ›Nippes‹: »These objects were a strategy to help her cope with disadvantages of her role, and to maintain a preferred identity while having to cope with her workplace role and can be seen as an act of resistance to control mechanisms.«54 Raum, Machtwirkungen und Identitätsbildung werden hier in einen Zusammenhang gestellt. An einer Zeitarbeiterin, die für einige Wochen die Rezeptionistin vertritt, wird die Korrelation von sozialem Status und Möglichkeiten der Raumaneignung noch deutlicher: Der persönliche Bereich dieser nur kurzfristig im Betrieb tätigen Frau schrumpft zusammen auf eine Handtasche. In dieser befindet sich ein Umschlag mit Photos von ihr wichtigen Menschen. Diese fungieren, räumlich-metaphorisch gesprochen, als »window to a world peopled by friends and family« 55 . Die dargestellte ethnomethodologische Studie verfährt multitheoretisch und -methodisch. Der qualitative Methodenmix erzeugt ein detailreiches Wissen über die Wechselwirkungen zwischen Akteuren und Räumen, ohne dabei Aspekte wie Körperlichkeit oder Routine zu vernachlässigen – und damit das tacid knowledge der Akteure, die häufig ›praktisch‹ mehr wissen, als sie ›diskursiv‹ zu äußern in der Lage sind.56 Auch die mit Affekten und Ideen besetzten Objekte sowie deren geplante und ungeplante Anordnungen werden bei diesem Verfahren berücksichtigt. Theoretisch wie empirisch ließe sich ein solches Vorgehen in verschiedene Richtungen weiterspinnen, z.B. mit der Akteur-Netzwerk-Theorie, indem mit ihr beobachtete Wechselwirkungen zwischen Menschen, Dingen und Gebäuden präzisiert werden könnten.57 Mit dieser Sichtweise würde der Akteursstatus nicht nur menschlichen Wesen, sondern potentiell allen Vermittlern einer Handlung zukommen. Diese theoretisch vorgenommene Symmetrisierung kann dazu beitragen, der Vernachlässigung des Raums und der Artefakte entgegenzuwirken.58 53 | Vgl. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen, a.a.O., S. 251ff. 54 | O’Toole/Were, »Observing Places«, a.a.O., S. 628. 55 | Ebd., S. 630. 56 | Vgl. Giddens, Anthony, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt a.M./New York 1994, S. 91ff. 57 | Vgl. Latour, Bruno, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007. Siehe auch Ders., Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M. 2008. 58 | Latour betont einerseits das Verdienst der Ethnomethodologie, die Interaktion und die Akteure als eine der wenigen sozialwissenschaftlichen Theorien ernst zu nehmen. Andererseits verunglimpft er sie jedoch als »Paviansoziologie«, welche die gesellschaftsstabilisierende Funktion von Technik, Architektur, ja: der gesamten Objektwelt ignoriert, indem die Bedeutung des Menschen für gesellschaftliche Prozesse überbetont wird. Vgl. Latour, Bruno, »Eine Soziologie ohne Objekt? Anmerkungen zur Interobjektivität«, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 2, 2001, S. 237-252.
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3.2 Das diskursanalytische Verfahren Bei der Diskurstheorie und Diskursanalyse handelt es sich um ein vielgestaltiges Feld vorrangig qualitativer59 Forschung, die spätestens seit den 1990er Jahren eine zunehmende Verbreitung, Ausarbeitung und Systematisierung als theoretisch fundierte Forschungsperspektive erfährt.60 Die Diskursforschung zeichnet sich durch eine enge Verzahnung von Theorie und Methodik aus, ohne sich dabei auf eine konkrete Theorie festzulegen.61 Trotz dieser prinzipiellen Offenheit besteht der kleinste gemeinsame theoretische Nenner der Diskursanalyse im Rekurs auf die Diskurskonzeption Michel Foucaults, der unter Diskursen nicht nur sprachliche oder schriftliche Ausdrücke versteht, sondern diese als Praktiken konzipiert, »die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«,62 und damit die produktive Seite der Diskurse hervorhebt. In diesem Verständnis sind Diskurse als dynamische Wissen-Macht-Komplexe zu verstehen, innerhalb derer es Kämpfe um Deutungen gibt, die Strukturen ausbilden, die Regeln des Sag- und Denkbaren aufweisen und die subjektkonstituierende Wirkungen entfalten können.63 Diskurse weisen ferner eine materielle Seite auf, sind also weitaus mehr als nur symbolischer Überbau: Sie prägen Körper und Räume, und vice versa erzeugen Raum-Körper-Verhältnisse Macht und Wissen, womit Diskurse wiederum stabilisiert oder verändert werden können, wie Foucault unter anderem an der Genese des modernen Strafsystems (»Gefängnisdispositiv«) sowie der »Geburt der Klinik« und der damit verbundenen Sicht auf Leben, Krankheit und Tod verdeutlicht.64 Sowohl die Berücksichtigung dieser materiellen gesellschaftlichen Aspekte als auch das historisierende Vorgehen eignen die Diskursanalyse als Methode der Space Studies, nicht zuletzt auch deswegen, da es sich um eine interdisziplinär angelegte Forschungsperspektive handelt, die in den Einzelwissenschaften bereits Fuß gefaßt hat.65 Dennoch ist zu konstatieren, daß ›Raum‹ bislang noch keine allzu große Rolle in den empirischen Umsetzungen der Diskursanalyse gespielt hat bzw. eher
59 | Dies gilt vor allem für den deutschsprachigen Bereich, jedoch nicht zwingend für andere Länder; vgl. zu den nationalen Ausprägungen der Diskursanalyse Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy, »Zur Aktualität sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse. Eine Einführung«, in: Dies. (Hg.), Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden, Opladen 2001, S. 7-27, hier S. 10ff. 60 | Vgl. Bührmann, Andrea/Schneider, Werner, Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008, S. 9f. 61 | In der exemplarisch behandelten Studie ergänzt Bauriedl u.a. theoretische Annahmen Foucaults mit der Wissenssoziologie Bergers und Luckmanns sowie den Machtgeometrien Masseys. 62 | Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981, S. 74. 63 | Vgl. Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, München 2001. 64 | Vgl. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen, a.a.O., vgl. Ders., Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a.M. 1988. 65 | Vgl. Keller, Reiner/Schneider, Werner, »Projektbericht: Arbeitskreis ›Sozialwissenschaftliche Diskursforschung‹«, in: Forum Qualitative Sozialforschung, 8 (2), 2007, http:// nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0702P57 (Abruf 12/2010).
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der Niederschlag von Diskursen in speziellen Räumen untersucht wurde als die Wirkung von Räumen auf Diskurse.66 In der hier vorzustellenden exemplarischen Studie versucht die Autorin Bauriedl, diesen Mißstand zu beheben. Ihr Anliegen ist es, eine Differenzierung der Raumdimensionen für die Diskursforschung vorzunehmen und ein »empirisches Programm für eine raumsensible Diskursforschung«67 zur Verfügung zu stellen. ›Raum‹ kann Bauriedl zufolge auf vier verschiedenen Ebenen der Diskursanalyse zum Einsatz kommen: Als Sozialgefüge, d.h. als Anordnung von Subjektpositionen68 im sozialen Raum, als konkreter Ort, d.h. als soziale Konstruktion des physischen Raumes, als Diskurslandschaft, hierbei wird die räumliche Konzentration in den Blick genommen, d.h. die Nähe und Distanz von Wissen, Akteuren und Ressourcen, sowie als Maßstabsebene, d.h. als Bezugsgröße zwischen global und lokal produktiven Diskursen.69 Ihre Untersuchung zu verräumlichten Nachhaltigkeitsdiskursen70 kann als richtungsweisende Studie angesehen werden, die aus der diskursanalytischen Perspektive heraus qualitative und quantitative Methoden miteinander kombiniert und den Raum sowohl als Gegenstand, als bedingenden Kontext und als Analyseinstrument berücksichtigt. Bauriedl distanziert sich explizit von einer Container-Auffassung des Raumes und versteht Konzepte wie »Stadt« und »Region« sowie »global« und »lokal« als »raumzeitlich gebundene Konstrukte«,71 die sich aus historisch kontingenten materiellen Bedingungen und Deutungen ergeben. Ihr Untersuchungsfeld stellt dabei die Hamburger Stadtentwicklungspolitik dar. Innerhalb dieses Rahmens untersucht sie ausgewählte Quellen auf Metaphern und Deutungsmuster, die bei der Ausformulierung nachhaltiger Stadtentwicklung verwendet werden.72 Zunächst ermittelt Bauriedl verschiedene lokale Nachhaltigkeitsdiskurse über eine qualitative Analyse von Schlüsseldokumenten der Hamburger Stadtentwicklungspolitik im Zeitraum 1990-2004.73 Die Autorin weist dabei die Existenz pluraler Diskurse mit unterschiedlicher lokaler Verortung nach, die jeweils eigene Verständnisse vom Konzept ›Nachhaltigkeit‹ transportieren. Sie unterscheidet u.a. einen »Naturbewahrungsdiskurs«, der Nachhaltigkeit als »umweltgerechte Entwicklung« thematisiert, und einen »Win-Win-Diskurs«, der unter Nachhaltigkeit
66 | Vgl. Bauriedl, »Räume lesen lernen«, a.a.O., Abs. 2. 67 | Ebd., Abs. 7. 68 | Unter Subjektpositionen werden in der Diskursanalyse »[i]m Diskurs konstituierte Subjektvorstellungen und Identitätsschablonen für seine möglichen Adressaten (z.B. angeborene Kollektiv-Identität; Modelle des ›umweltbewussten Bürgers‹)« verstanden, aber auch »Positionierungsvorgaben für Akteure, auf die ein Diskurs Bezug nimmt bzw. über die er spricht (bspw. als ›Problemverursacher‹, ›Helden‹).« Siehe Keller, Reiner, Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2005, S. 230. 69 | Vgl. ebd., Abs. 5. 70 | Zur ausführlichen Studie vgl. Bauriedl, Sybille, Spielräume nachhaltiger Entwicklung. Die Macht stadtentwicklungspolitischer Diskurse, München 2007. 71 | Bauriedl: »Räume lesen lernen«, a.a.O., Abs. 22, vgl. ebd., Abs. 26. 72 | Vgl. ebd., Abs. 38. 73 | Ebd., Abs. 39ff.
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vorrangig »ökonomische Verträglichkeit« faßt.74 Von großer Relevanz für die Space Studies ist dabei die Erkenntnis, daß die vermittelten Bilder von Nachhaltigkeit immer in einem sehr konkreten Zusammenhang zu lokalen Projekten standen, gleichzeitig jedoch in diesem Fall wenig Bezug auf internationale Ereignisse genommen wurde. Als Konsequenz aus diesem empirischen Befund ist auf methodischer Ebene von einer Vielzahl zu ermittelnder lokaler Diskursordnungen auszugehen. Diese geben vor, was in einem bestimmten Zusammenhang sag- und denkbar ist und welche Deutungen dominieren. Um lokale Diskursordnungen analysieren zu können, führt Bauriedl das Konzept der local stories ein. Diese bezeichnen »raumspezifische Deutungszusammenhänge, die thematisch an konkrete Orte geknüpft sind. […] Local stories entsprechen […] nicht allein tradiertem lokalen Wissen, sondern passen die von ihnen transportierten Erzählungen in die lokale Diskursordnung ein.« 75 Eine solche local story rankt sich um das Städtebauprojekt »HafenCity«, welches die Autorin anhand von Planungs- und Werbedokumenten76 sowohl auf Textebene als auch auf Bildebene untersucht.77 Leitend ist dabei die Frage, wie der Standort HafenCity symbolisch und materiell im Hinblick auf die Stadtentwicklung Hamburgs und in Bezug auf das Thema ›Nachhaltigkeit‹ in Szene gesetzt wird. Dabei werden auch »supralokale ökonomische Prozesse« 78 berücksichtigt, die Deutungen und Handlungsstrategien maßgeblich verändert haben, z.B. das Platzen der Dotcom-Blase oder auch die weltweite Finanzkrise. Diese Entwicklungen führten zu neuen Strategien des Projektmarketings: Wurden vorher für den Bereich der HafenCity eher Firmen aus dem Bereich der Neuen Medien angeworben, wurde dieser Sektor nun häufiger als Wohnraum vermietet. Entsprechend änderten sich die hervorgehobenen Vorzüge des Standortes. Vor der Bankenkrise war eine abwechslungsreiche Bebauung dieses Bereiches eingeplant; jüngere Entwicklungen weisen aber eher auf eine »großflächige Bebauung« und eine kommerzialisierte Nutzung hin.79 Mit einer Bildanalyse kann die Autorin vor allem künftige Visionen der HafenCity in den Blick nehmen, da über Visualisierungen gerade die verschiedenen Bebauungsmöglichkeiten dieses Standorts imaginiert werden. Das zuvor ermittelte 74 | Weitere lokale Diskurse, die Bauriedl benennt, sind der »Integrationsdiskurs«, der Nachhaltigkeit vor allem als sozial gerechte Entwicklung versteht, der »Governance-Diskurs«, der Nachhaltigkeit unter dem Gesichtspunkt der Partizipation als Deutung in Anschlag bringt, der »Effizienzdiskurs«, der wie der »Naturbewahrungsdiskurs« ebenfalls Nachhaltigkeit als umweltgerechte Entwicklung faßt, dies aber mit anderen Kernaussagen wie z.B. einer gesteigerten Ressourcenproduktivität in Verbindung bringt, sowie einen »Standortdiskurs«, der Nachhaltigkeit mit einer regional ausgewogenen Entwicklung gleichsetzt. Vgl. ebd., Abs. 45 (Herv. im Orig.). 75 | Ebd., Abschn. 58. 76 | Hier verwendete »Diskursfragmente« sind sowohl auf textliche Medien bezogen, z.B. Masterplanentwurf, Landschaftspläne, Bebauungspläne und dazugehörige Publikationen, als auch auf bildliche Quellen wie naturalistische Zeichnungen, Videoanimationen, Photomontagen, Modellbauten und Computeranimationen. 77 | Vgl. ebd., Abschn. 60ff. 78 | Ebd., Abschn. 67. 79 | Vgl. ebd.
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lokale Narrativ des »Win-Win-Diskurses« beeinflußt die graphischen Entwürfe der zukünftigen HafenCity maßgeblich. Mit ›Nachhaltigkeit‹ wird hier vor allem ökonomisch argumentiert, die Förderung von Umweltprojekten als wirtschaftlich rentabel unterstrichen. Textargumentation und Bildmaterial stützen sich gegenseitig. Materielle Gegebenheiten dieses Gebietes werden neben ihren offensichtlich funktionalen Aspekten mit symbolischen Deutungen überzogen: »Einerseits dient sie [die Elbe, d.V.] als Verkehrsinfrastruktur […]. Andererseits dient sie als Träger symbolischer Aufladungen. Gerade die Schwankungen der Wasserstände werden zur besonderen Attraktion des Lebens in der HafenCity erklärt. Wind, Weite, Offenheit, Licht, Wellen und auch der Geruch der Elbe sollen einen maritimen Charakter hervorrufen, der noch bis in die 1980er Jahre die StadtbewohnerInnen davon abgehalten hatte, sich am Hafenrand niederzulassen […].«80 Vergangenes – die materielle Beschaffenheit des Standortes und dessen immer wieder textlich aufgearbeitete Geschichte –, gegenwärtige Ausgestaltungen und Zukünftiges – Leitbilder einer noch zu realisierenden HafenCity – werden diskursiv ineinander verschränkt. Anschlußfähig ist die dargestellte Studie nicht nur im Hinblick auf die local stories, die als ein Verräumlichung erfassendes Konzept Eingang in die Diskursanalyse finden, sondern auch wegen eines weiteren methodologischen Schachzugs: Die local stories werden geographisch rückgebunden. Anhand einer kartographischen Visualisierung verdeutlicht Bauriedl so die räumlichen Beziehungen verschiedener local stories zueinander:81 »Die kartographische Verortung vielfältiger Nachhaltigkeitsdiskurse zeigt die Beziehung zwischen Raumstruktur und Diskursstruktur und läßt damit die (Re-)Produktion von Machtbeziehungen in räumlichen und sozialen Fragmentierungen nachvollziehbar machen (power geometries).«82 Das Abtragen der ermittelten Diskurse auf einer Landkarte bezeichnet die Autorin als Diskurslandschaft. Bezogen auf das Hamburger Stadtforschungsprojekt kann sie mit Hilfe dieses Vorgehens zeigen, daß es eine Verbindung zwischen der Dichte von Großprojekten am Hafenrand und der Dichte dort zu verortender lokaler Diskurse gibt, die auf verschiedene Nachhaltigkeitsverständnisse rekurrieren. Die Studie liefert ein Indiz für die sukzessive Verbreitung des topologischen Denkens in der Diskursforschung. Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration des verräumlichten Denkens sind vorhanden: So bieten die theoretische Offenheit, die Raumaffinität des Foucaultschen Denkens,83 die interdisziplinäre Ausrichtung der Forschungsperspektive, eine qualitative Orientierung sowie die machtkritische Grundhaltung die Diskursanalyse für die Space Studies in besonderer Weise an. Ein nächster konsequenter Schritt ist möglicherweise in der Ausweitung der Dis80 | Ebd., Abschn. 69. 81 | Vgl. ebd., Abschn. 73ff. 82 | Ebd., Abschn. 74 (Herv. im Orig.). 83 | So äußert sich Foucault: »Man müßte eine ganze Geschichte der Räume schreiben – die zugleich eine Geschichte der Mächte wäre –, von den großen Strategien der Geopolitik bis zu den kleinen Taktiken des Wohnens, der institutionellen Architektur, dem Klassenzimmer oder der Krankenhausorganisation und dazwischen den ökonomisch-politischen Einpflanzungen. Es überrascht, wenn man sieht, welch lange Zeit das Problem der Räume gebraucht hat, um als historisch-politisches Problem aufzutauchen.« Siehe Foucault, Michel, »Das Auge der Macht«, a.a.O., S. 250-271, hier S. 253.
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kursanalyse zu einer Dispositivanalyse zu sehen, da es sich bei dem Dispositiv um den umfassenderen Begriff handelt, der gerade die Verkettung von »Diskurse[n], Institutionen, architekturale[n] Einrichtungen, reglementierende[n] Entscheidungen, Gesetze[n], administrative[n] Maßnahmen, wissenschaftliche[n] Aussagen, philosophische[n], moralische[n] oder philosophische[n] Lehrsätze[n]«84 in den Blick nimmt. Erste Anstrengungen in diese Richtung wurden sowohl methodologisch85 als auch empirisch unternommen, und es ist wahrscheinlich, daß sich die an theoretischer und methodischer Tiefe gewinnende Diskursforschung von ihrer bislang vorherrschenden ›Raumblindheit‹ vollends verabschiedet. 86
4. F A ZIT UND A USBLICK Der Streifzug durch die neue Forschungsperspektive der Space Studies sei kurz rekapituliert: Über eine Kritik an einem umfassenden Spatial Turn im Sinne eines Paradigmenwechsels sind wir zu den etwas bescheideneren, aber dennoch ambitionierten Space Studies gelangt, die sich zum einen mit Verräumlichung als sozialem Prozeß befassen, zum anderen aber auch in ihrer Theorie und Methodik bereits ein verräumlichtes Denken aufweisen. Das geteilte theoretische Grundverständnis umfaßt drei Elemente: ein Bewußtsein über koexistierende Raumkonzepte (»Container« vs. relationales Raumverständnis), ein Verständnis von einer sozialen Produktion des Raums, wie sie Lefebvre in die Raumkulturforschung gebracht hat, und schließlich eine poststrukturalistisch geprägte Theorieauffassung, die ein historisiertes topologisches Denken voraussetzt, die Praktiken der Akteure in den Blick nimmt sowie Wissen und Macht als konstitutive Elemente verräumlichter sozialer Strukturen ansieht. So unterschiedlich die disziplinären Ausgangspunkte zu den Themen der Space Studies auch sein mögen, so ließen sich doch einige gemeinsame methodologische Nenner herausarbeiten: Eine hohe hermeneutische Sensibilität, die sich aus dem Fächerkanon der Kulturforschung fast zwangsläufig ergibt, trifft sich dabei mit einem Bekenntnis zur qualitativen Forschung und der Bereitschaft zu methodischen Grenzüberschreitungen.
84 | Foucault, Michel, »Ein Spiel um die Psychoanalyse. Gespräch mit Angehörigen des Département de Psychanalyse der Universität Paris/Vincennes«, in: Ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 118-175, hier S. 119f. 85 | Vgl. Jäger, Siegfried, »Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse«, in: Keller/Hirseland/Schneider/Viehöver (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, a.a.O., S. 81-112; vgl. Bührmann, Andrea D./Schneider, Werner, »Mehr als nur diskursive Praxis? – Konzeptionelle Grundlagen und methodische Aspekte der Dispositivanalyse«, in: Forum Qualitative Sozialforschung, 8 (2), 2007, Art. 28, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0702281; vgl. Dies., Vom Diskurs zum Dispositiv, a.a.O. 86 | Hoffnungen weckt dabei z.B. der angekündigte Band von Hoffarth, Britta/Kumiega, Lukasz/Caborn Wengler, Joannah (Hg.), Raum – Bildung – Politik. Forschende Verortungen des Dispositiv-Begriffs, Wiesbaden 2012 (i.E.).
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Die vorgestellten Studien veranschaulichten, wie bislang ebenfalls häufig »raumblinde« Vorgehensweisen um den materiellen Aspekt der Räumlichkeit sowie der Wechselwirkung zwischen Ort und Akteur ergänzt werden können. Dies weitete den Blick für die die Menschen umgebenden und in Interaktionen eingebundene Objekte, die (Macht-)Architekturen sowie die Pläne und Modelle räumlicher Arrangements. Das ethnomethodologische Verfahren profitierte im konkreten Beispiel von der Raumperspektive, da so Machtkonstellationen offengelegt werden konnten, die eine Engführung auf soziale Interaktion oder die Kommunikation der Akteure untereinander nicht zum Vorschein gebracht hätten. Das diskursanalytische Verfahren konnte die enge Verbindung zwischen Diskursen und Räumen aufzeigen, die wechselseitig aufeinander einwirkten. ›Raum‹ wird sowohl als Gegenstand, als Analyseinstrument, aber auch als Maßstabsebene für die Diskursforschung relevant – und damit im Umkehrschluß auch die Methoden der Diskursforschung für die Space Studies. Die beiden Studien geben einen Vorgeschmack darauf, welche Formen der Forschung möglich sind, wenn die Grenzen verschiedener Wissenschaftstraditionen überschritten werden und eine gemeinsame Verständigungsebene jenseits disziplinärer Sprachspiele hergestellt wird. Ein weiteres Angebot zur Untersuchung räumlicher Arrangements findet sich in der neueren, konstruktivistischen Architektursoziologie. Methodisch steckt diese Forschungsperspektive noch in den Kinderschuhen,87 das Potential für die empirische Arbeit innerhalb der Space Studies ist aber bereits zu erkennen. Die Architektursoziologie versteht sich selbst nicht als weitere Bindestrichsoziologie, sondern hegt einen sehr viel allgemeineren Anspruch. Sie kritisiert die »antitechnischen und antiästhetischen Haltungen in der soziologischen Theorie«88 und fordert zu einer intensiveren und reflektierten Auseinandersetzung mit dem Materiellen auf. Ein weit gefaßter Begriff von Architektur liegt ihren theoretischen Annahmen und ihrem Gegenstandsbereich zugrunde: »[E]s geht nicht nur um Gebautes. Eine Architektursoziologie kann sich ebenso auch für das Gewebte, für das nicht in der Erde Verwurzelte, nicht Gemauerte und nicht Betonierte interessieren: für die Zelte, Hütten, Iglus und die in die Erde gegrabenen Häuser der nicht modernen und nicht urbanen Gesellschaften.«89 Architektursoziologie befaßt sich mit »Baukörpergrenzen«,90 mit der Schaffung eines Innen und Außen. Sie zielt damit auf für die Kulturforschung zentrale Konzepte wie »Raum«, »Körper«, »Soziales«, »Artefakte« und »Interaktion«. In diesem Verständnis hängt Architektur sowohl mit »dem Sozialen« als auch mit »dem Individuum« zusammen, ist der gesellschaftliche Kitt, der die Mitglieder sozialer Gruppen verbindet.91 Architek87 | Zu ersten Anstrengungen in diese Richtung vgl. Schubert, Herbert, »Empirische Architektursoziologie«, in: Die Alte Stadt, 32, 2005, S. 1-27. Siehe auch Delitz, Heike, »Materialität und Bildlichkeit in der Architektur. Tagungsbericht«, in: Soziologie, H. 3, 2008, S. 462-470. 88 | Vgl. Eßbach, Wolfgang, »Antitechnische und antiästhetische Haltungen in der soziologischen Theorie«, in: Lösch, Andreas/Schrage, Dominik/Spreen, Dierk/Stauff, Markus (Hg.), Technologien als Diskurse. Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern, Heidelberg 2001, S. 123-136. Vgl. auch Delitz, Heike, Architektursoziologie, Bielefeld 2009, S. 11ff. 89 | Delitz, Architektursoziologie, a.a.O., S. 19. 90 | Ebd., S. 54. 91 | Vgl. Schroer, Markus, »Materielle Formen des Sozialen. Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus der Sicht der sozialen Morphologie«, in: Fischer, Joachim/Delitz, Heike (Hg.), Die
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tur beeinflußt den Möglichkeitsspielraum von Handlungen und kann an der Ausbildung gesellschaftlicher Strukturen beteiligt sein. Den Gegenstand der Untersuchung stellen aber nicht nur das Gebaute, sondern auch die Entwürfe, ja: der gesamte Entstehungsprozeß dar, sogar das ›Ungebaute‹, das die Phase der Planung nie überschritten hat, kann für die Architektursoziologie von Interesse sein. Der Um- und Abbau von Gebautem gibt ebenso Aufschluß über die Gestalt der Gesellschaft. Zu erforschen ist das Netzwerk der Texte, Rituale bzw. Routinen, Bilder und der architektonischen Artefakte sowie der Körper. Die drängende Frage der Architektursoziologie ist auch die der Space Studies: Wie wird »die Identität des Sozialen erzeugt […], welche Kämpfe [werden] dabei ausgefochten«?92 Ähnlich wie die bereits vorgestellten Methoden ist das architektursoziologische Vorgehen gleichermaßen offen für verschiedene Theorieansätze. So kann mit dem Ansatz von Maurice Halbwachs eine »soziale Morphologie« der Fußballstadien93 erstellt, mit einer system- und formtheoretischen Analyse der Abriß des Palasts der Republik in Berlin94 beleuchtet oder nordamerikanische Vorstädte95 aus der Perspektive der Gender Studies als Geschlechterarchitektur historisiert werden. Zwar steht eine systematische Ausarbeitung methodischer Umsetzungen, die mit Hilfe der Architektursoziologie vollzogen werden können, noch aus, doch könnte die Architektursoziologie sich die in den Space Studies angelegte Interdisziplinarität in Zukunft noch weiter zunutze machen und von anderen Disziplinen lernen, z.B. der Archäologie und der Kunstgeschichte.96 Die Ausführungen in toto haben gezeigt, daß auch ohne einen angenommenen Spatial Turn das wissenschaftliche Handwerk der Space Studies für die gesamte Kulturforschung eine immense Bedeutung hat. Ohne den Raum, bzw. genauer: ohne die Verräumlichung, geht es nicht mehr, will man nicht hinter wichtige Erkenntnisse der Space Studies zurückfallen. Gerade die Beispiele aus der Forschungspraxis haben gezeigt, daß die Komplexität sozialer ZusammenhänArchitektur der Gesellschaft. Theorien der Architektursoziologie, Bielefeld 2009, S. 19-48, hier S. 27. 92 | Delitz, Architektursoziologie, a.a.O., S. 64. 93 | Vgl. Schroer, »Materielle Formen des Sozialen«, a.a.O. Zur Verwendung weiterer soziologischer Theorien auf die Thematik des Fußballstadions vgl. Ders., »Vom ›Bolzplatz‹ zum ›Fußballtempel‹. Was sagt die Architektur der neuen Fußballstadien über die Architektur der Gegenwart aus?«, in: Klein, Gabriele/Meuser, Michael (Hg.), Ernste Spiele. Zur politischen Soziologie des Fußballs, Bielefeld 2008, S. 155-173. 94 | Vgl. Baecker, Dirk, »Bauen, Ordnen, Abreißen im Formmodell des Sozialen. Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus system- und formtheoretischer Sicht«, in: Fischer/Delitz, Die Architektur der Gesellschaft, a.a.O., S. 195-222. 95 | Vgl. Frank, Susanne, »›The beautiful source of suburban womanhood!‹ Die ›Architektur der Gesellschaft‹ aus Sicht der Gender Studies«, in: Fischer/Delitz, Die Architektur der Gesellschaft, a.a.O., S. 253-287. 96 | Diese Austauschprozesse finden bereits statt, vgl. dazu Trebsche, Peter/Müller-Scheeßel, Nils/Reinhold, Sabine, Der gebaute Raum. Bausteine einer Architektursoziologie vormoderner Gesellschaften, Münster/New York/München/Berlin 2010. Ein anderes Beispiel für gelungene interdisziplinäre Kommunikation auf Grundlage eines den Disziplinen gemeinen »Raumproblems« aus dem Bereich der Bildungsforschung findet sich im Sammelband von Jeanette Böhme; vgl. Böhme, Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs, a.a.O.
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ge wesentlich präziser gefaßt und besser verstanden werden kann, wenn ›Raum‹ als Gegenstand und Analyseinstrument einbezogen wird. Die Verräumlichung des Denkens ist freilich häufig unbequem, fordert zu einer höheren theoretischen Reflexion der eigenen Grundannahmen auf. Ein Defizit ist allerdings noch mit den erst spärlich ausgearbeiteten Methoden der empirischen Raum-Kulturforschung zu beklagen, die bislang noch in einem Anfangsstadium begriffen sind. Hier liegt noch ein gutes Stück systematischer Arbeit vor den Space Studies. Die enge Verwobenheit der Space Studies u.a. mit den Visual Studies, den Postcolonial Studies, den Gender Studies, den Governmentality Studies und den Science Studies ist ein erstes Zeichen dafür, daß innerhalb der Kulturforschung ein reflektiertes Raumverständnis Fuß gefaßt hat. Doch die Space Studies öffnen nicht nur gastfreundlich die Grenzen innerhalb der Kulturforschung bzw. schwärmen dort in interdisziplinäre Forschungszusammenhänge aus, sondern sie sind auch grundsätzlich bereit für die Kommunikation mit anderen Wissenschaftskulturen, freilich ohne ihren eigenen identitären Kern preiszugeben. Der nächste naheliegende Schritt ist eine Hinwendung zu den Lebens-, Technik- und Naturwissenschaften, um sich beispielsweise den Körperräumen der Medizin, den kortikalen Karten der Neurowissenschaften oder den virtuellen Räumen der Informatik zu widmen und hier in einen echten Austausch auf Augenhöhe mit den beteiligten Disziplinen zu treten. Dabei sollte ein epistemologisches roll back vermieden werden: Ein unreflektiert- geopolitisches Raumverständnis ist von den Space Studies endgültig ad acta gelegt. Für selbstreferentiell-aufgeklärte Wissenschaften gleich welchen Erkenntnisinteresses ist die Hinwendung zum Raum eine Notwendigkeit und damit die Arbeit der Space Studies unverzichtbar.
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Performative/Performance Studies Erika Fischer-Lichte
Bis in die späten 1980er Jahre hinein herrschte in den Kulturwissenschaften ein Verständnis von Kultur vor, wie es in der Erklärungsmetapher »Kultur als Text« zum Ausdruck kommt. Einzelne kulturelle Phänomene ebenso wie ganze Kulturen wurden als ein strukturierter Zusammenhang von Zeichen gelesen, denen – durchaus unterschiedliche – Bedeutungen zuzuschreiben sind. Die verschiedenen Versuche zur Beschreibung, Analyse und Deutung kultureller Phänomene und Prozesse wurden entsprechend als »Lektüren« bezeichnet. Die Aufgabe der Kulturwissenschaften bestand nach diesem Verständnis von Kultur darin, Texte, die zum Teil in »fremden«, fast unverständlichen »Sprachen« verfaßt sind, zu entziffern und zu deuten, bekannte Texte auf mögliche Subtexte hin zu lesen und sie so im Lektüreprozeß zu dekonstruieren. In den 1990er Jahren bahnte sich ein Wechsel der Forschungsperspektiven an. Nun traten bisher weitgehend übersehene Züge von Kultur in den Blick, die eine eigenständige Weise der (praktischen) Bezugnahme auf bereits existierende oder für möglich gehaltene Wirklichkeiten begründen und den erzeugten Handlungen und Ereignissen einen spezifischen, vom traditionellen Text-Modell nicht erfaßten Wirklichkeitscharakter verleihen. Die Metapher von »Kultur als Performance« begann ihren Aufstieg. Damit wurde eine neue Perspektive auf kulturelle Phänomene und Prozesse eröffnet, die zur Begründung der Performative Studies bzw. der Performativitätsforschung führte. Zugleich erlaubte diese Metapher einen Anschluß an die Performance Studies, die sich bereits in den 1970er und 1980er Jahren in den USA als ein interdisziplinäres Forschungsfeld herausgebildet hatten, das der Untersuchung aller Arten von cultural performances, von kulturellen Aufführungen, gilt.
1. D ER B EGRIFF DES P ERFORMATIVEN 1.1 Bestimmung und Erläuterung des Begriffs Der Begriff des Performativen bezieht sich auf (1) das wirksame Ausführen von Sprechakten, (2) das materiale Verkörpern von Bedeutungen und (3) das inszenierende Aufführen von theatralen, rituellen, spielerischen, sportlichen u.a. Handlungen. Er bezeichnet die Eigenschaft kultureller Handlungen, selbstreferentiell und
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wirklichkeitskonstituierend zu sein. Diese Eigenschaft ist allerdings ambivalent. Einerseits verleiht das Performative dem Subjekt agency, ermächtigt es, andererseits setzt es seiner agency Grenzen. Wenn performative Prozesse etwas hervorbringen, dann immer in diesem doppelten Sinne: Es handelt sich sowohl um ein aktives Erzeugen als auch um ein Geschehen-Lassen. Immer taucht in ihm NichtGeplantes, Unvorhergesehenes auf, das sich der Kontrolle und Verfügungsgewalt einzelner Subjekte entzieht. Das Performative konstituiert Wirklichkeit nicht nur durch Akte des Erzeugens und Hervorbringens, sondern ebenso durch das plötzliche, nicht vorhergesehene, nicht plan- und voraussagbare Erscheinen von Phänomenen – durch Emergenz. Das Performative ist daher nicht ohne Emergenz zu denken. Ist ein performativer Prozeß in Gang gesetzt, sind sein Ablauf und Resultat den Intentionen, der Verfügungsgewalt und Kontrolle der einzelnen an ihm beteiligten Subjekte partiell entzogen. Darin liegt das Ereignishafte des Performativen. Einerseits werden performative Prozesse von den Subjekten bestimmt, die sie vollziehen, andererseits werden die sie vollziehenden Subjekte von ihnen bestimmt. In performativen Prozessen sind also die in sie involvierten Subjekte immer zugleich Bestimmer und Bestimmte. In und durch performative Prozesse wird Bestehendes transformiert oder Neues hervorgebracht – in ihnen und durch sie entsteht in diesem Sinne Zukünftiges. Nach Krämer1 lassen sich drei Auffassungen über das Performative unterscheiden: das schwache, das starke und das radikale Konzept. Das schwache Konzept beinhaltet ganz allgemein die Handlungs- und Gebrauchsfunktion von Sprache, Gesten etc. Indem jemand spricht, gestikuliert, sich im Raum bewegt, Objekte manipuliert, tut er etwas. »Performativ« bezeichnet hier den Aspekt des Handelns und Tuns. Das starke Konzept bezieht sich auf eine Äußerung, die das, was sie bezeichnet, zugleich auch vollzieht. Die geläufige Unterscheidung zwischen Wort und Sache wird hier außer Kraft gesetzt. Weltzustände werden von der Sprache nicht nur repräsentiert, sondern zuallererst konstituiert und verändert. Der Begriff des Performativen bezeichnet hier eine Konstitutionsleistung, die keineswegs nur für die Sprache gilt, sondern für jedes symbolische Handeln. Das radikale Konzept verweist auf die Fähigkeit des Performativen, eine operativ-strategische Funktion zu erfüllen, welche die Grenzen von dichotomischen Klassifikationen, Typologien und Theorien aufzeigt und unterläuft. Insofern in den Existenz- und Gelingensbedingungen solcher begrifflichen Systeme etwas angelegt ist, was mit dem System in Widerstreit liegt, ist es die Performativität, welche die Grenzen des Systems überschreitet und das System selbst damit auflöst.
1.2 Zur Geschichte der Theorien des Performativen Der Begriff »performativ« wurde von John L. Austin geprägt. Er führte ihn in den Vorlesungen, die er 1955 an der Harvard-Universität unter dem Titel »How To Do Things With Words« hielt, in die Sprachphilosophie ein. Während Austin in früheren Arbeiten versuchsweise den Terminus »performatorisch« (»performatory«) verwendet hatte, entschied er sich nun für den Ausdruck »performativ«, weil er 1 | Krämer, Sibylle, »Das ›Performative‹ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie«, in: Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Hg.), Theorien des Performativen, Berlin 2001, S. 35-64.
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»kürzer, nicht so häßlich, leichter zu handhaben und traditioneller gebildet ist«.2 In seinem ein Jahr später entstandenen Aufsatz »Performative Äußerungen« schreibt er über seine Neuschöpfung: »Es ist durchaus verzeihlich, nicht zu wissen, was das Wort performativ bedeutet. Es ist ein neues Wort und ein garstiges Wort, und vielleicht hat es auch keine sonderlich großartige Bedeutung. Eines spricht jedenfalls für dieses Wort, nämlich daß es nicht tief klingt.« Er leitete den Ausdruck vom Verb »to perform«, »vollziehen« ab: »man ›vollzieht‹ Handlungen«. 3 Austin bedurfte seines Neologismus, weil er eine für die Sprachphilosophie revolutionäre Entdeckung gemacht hatte – die Entdeckung, daß sprachliche Äußerungen nicht nur dem Zweck dienen, einen Sachverhalt zu beschreiben oder eine Tatsache zu behaupten, sondern daß mit ihnen auch Handlungen vollzogen werden, daß es also außer konstativen auch performative Äußerungen gibt. Die Eigenart dieser zweiten Art von Äußerungen erläutert er unter Bezug auf die sogenannten ursprünglichen Performativa. Wenn jemand beim Wurf der Flasche gegen einen Schiffsrumpf den Satz äußert: »Ich taufe dieses Schiff auf den Namen ›Queen Elizabeth‹« oder der Standesbeamte nach der Bekundung beider Partner, daß sie miteinander die Ehe eingehen wollen, den Satz spricht: »Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau«, so ist mit diesen Sätzen nicht ein bereits bestehender Sachverhalt beschrieben – weswegen sie auch nicht als »wahr/richtig« oder als »falsch« klassifiziert werden können. Vielmehr wird mit diesen Äußerungen ein neuer Sachverhalt geschaffen: Das Schiff trägt von nun an den Namen ›Queen Elizabeth‹, und Frau X und Herr Y sind von nun an ein Ehepaar. Das Aussprechen dieser Sätze hat die Welt verändert. Denn die Sätze sagen nicht nur etwas, sondern sie vollziehen genau die Handlung, von der sie sprechen. Das heißt, sie sind selbstreferentiell, insofern sie das bedeuten, was sie tun, und sie sind wirklichkeitskonstituierend, indem sie die soziale Wirklichkeit herstellen, von der sie sprechen. Es sind diese beiden Merkmale, die performative Äußerungen charakterisieren. Was Sprecher von Sprachen intuitiv immer schon gewußt und praktiziert haben, wurde hier von der Sprachphilosophie zum ersten Mal formuliert: daß Sprechen eine weltverändernde Kraft entbinden und Transformationen bewirken kann. Zwar handelt es sich in den zitierten Fällen um formelhaftes Sprechen. Aber allein die Anwendung der richtigen Formel garantiert noch nicht das Gelingen der Äußerung als einer performativen. Dazu müssen eine Reihe anderer, nicht sprachlicher Bedingungen erfüllt sein; andernfalls mißglückt sie: Sie bleibt leeres Gerede ohne die Kraft, verändernd auf die Welt einzuwirken. Wenn zum Beispiel der Satz »Ich erkläre Sie zu Mann und Frau« weder von einem Standesbeamten noch von einem Priester noch von einer anderen hierzu ausdrücklich autorisierten Person ausgesprochen oder in einer Gemeinschaft geäußert wird, die ein anderes Verfahren für die Eheschließung vorsieht, so ist er außerstande, eine Ehe zu stiften. Als performative Äußerung mißglückt er. Bei den Gelingensbedingungen, die erfüllt sein müssen, handelt es sich entsprechend nicht nur um sprachliche, sondern vor allem um institutionelle, um soziale Bedingungen. Die performative Äußerung richtet sich immer an eine Gemeinschaft, die durch die jeweils Anwesenden vertreten wird. Sie bedeutet in diesem Sinne die Aufführung eines sozialen Aktes: Mit 2 | Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1979, S. 29. 3 | Austin, John L., »Performative Äußerungen«, in: Ders., Gesammelte philosophische Aufsätze, Stuttgart 1986, S. 305.
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ihr wird die Eheschließung – oder auch die Taufe oder ein anderer sozialer Akt – nicht nur ausgeführt (vollzogen), sondern zugleich auch aufgeführt. Zwar begreift Austin den Vollzug performativer Äußerungen als eine soziale Aufführung. Äußerungen, die in einer Theateraufführung vollzogen werden, spricht er jedoch den Aufführungscharaker ab: »In einer ganz besonderen Weise sind performative Äußerungen unernst oder nichtig, wenn ein Schauspieler sie auf der Bühne tut oder wenn sie in einem Gedicht vorkommen oder wenn sie jemand zu sich selber sagt. Jede Äußerung kann diesen Szenenwechsel in gleicher Weise erleben. Unter solchen Umständen […] wird der gewöhnliche Gebrauch parasitär ausgenutzt. Das gehört zur Lehre der Auszehrung der Sprache.« 4
Austin faßt also den Szenenwechsel vom »ernsten« pragmatischen Kontext zum »unernsten« Inszenierungskontext als Übergang von gelingenden zu nichtigen Sprechakten auf. Gegen diese Auffassung hat sich massiv die dekonstruktivistische Kritik der Sprechakttheorie gewandt. In seinem Aufsatz »Signatur Ereignis Kontext« (1971) stellt Jacques Derrida mit den Kategorien des Gelingens und Scheiterns von Äußerungen zugleich auch den Begriff des parasitären Gebrauchs von Sprache in Frage. Dem Begriff des Parasitären setzt er den der Iteration als infiniter Rezitierbarkeit und indefiniter Rekontextualisierung entgegen. Wegen seiner Iterierbarkeit kann man »ein schriftliches Syntagma immer aus der Verkettung, in der es gefaßt oder gegeben ist, herausnehmen, ohne daß es dabei alle Möglichkeiten des Funktionierens und genaugenommen alle Möglichkeiten der ›Kommunikation‹ verliert. Man kann ihm eventuell andere zuerkennen, indem man es in andere Ketten einschreibt oder es ihnen aufpropft. Kein Kontext kann es abschließen. Noch irgendein Code.« 5
Jedes Zeichen kann »zitiert – in Anführungszeichen gesetzt – werden« und aufgrund seiner Zitierbarkeit »mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen«.6 Während Austin das Zitat aus seinen Untersuchungen ausschließen will, weil er ihm die für das Gelingen performativer Äußerungen notwendige illokutionäre Kraft abspricht, geht es Derrida darum zu zeigen, daß performative Äußerungen nur zu funktionieren vermögen, wenn eben die Möglichkeit des Zitats vorausgesetzt wird. Da aus seiner Sicht jede Verwendung von Zeichen durch eine allgemeine Zitathaftigkeit, also eine allgemeine Iterabilität bestimmt ist, ergibt es keinen Sinn, die Möglichkeiten des Zitierens und Inszenierens aus den Überlegungen zu performativen Äußerungen auszuschließen. Judith Butler führte in ihrem 1988 entstandenen Aufsatz »Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory« den Begriff des Performativen in die Kulturphilosophie ein. In dieser Arbeit soll der Nachweis geführt werden, daß Geschlechtsidentität (Gender) – wie Identität über4 | Austin 1979, S. 22. 5 | Derrida, Jacques, »Signatur, Ereignis, Kontext« (1971), in: Ders., Limited Inc., Wien 2011, S. 15-45, S 27f. 6 | Ebd., S. 32.
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haupt – nicht vorgängig, das heißt ontologisch oder biologisch gegeben ist, sondern das Ergebnis spezifischer kultureller Konstitutionsleistungen darstellt: »In this sense, gender is in no way a stable identity or locus of agency from which various acts proceed; rather, it is […] an identity instituted through a stylized repetition of acts.«7 Diese Akte nennt Butler »performativ«, »where ›performative‹ itself carries the double meaning of ›dramatic‹ and ›non-referential‹«. Auch wenn diese Definition des Begriffs auf den ersten Blick erheblich von derjenigen Austins abzuweichen scheint, minimieren sich die Differenzen bei genauerem Hinsehen sehr schnell. Sie sind vor allem dem Sachverhalt geschuldet, daß Butler den Begriff hier nicht auf Sprechakte, sondern insbesondere auf körperliche Handlungen anwendet. Die performativen Akte (als körperliche Handlungen) sind insofern als ›nonreferential‹ zu begreifen, als sie sich nicht auf etwas Vorgegebenes, Inneres, eine Substanz oder gar ein Wesen beziehen, das sie ausdrücken sollen: Jene feste, stabile Identität, die sie ausdrücken könnten, gibt es nicht. Expressivität stellt in diesem Sinne den diametralen Gegensatz zu Performativität dar. Die körperlichen Handlungen, die als performativ bezeichnet werden, bringen keine vorgängig gegebene Identität zum Ausdruck, sondern sie bringen Identität als ihre Bedeutung allererst hervor. Auch der Terminus ›dramatic‹ zielt auf diesen Prozeß der Erzeugung: »By dramatic I mean […] that the body is not merely matter but a continual and incessant materializing of possibilities. One is not simply a body, but, in some very key sense, one does one’s body […].«8 Das heißt, auch der Körper in seiner je besonderen Materialität ist das Ergebnis einer Wiederholung bestimmter Gesten und Bewegungen; es sind diese Handlungen, die den Körper als einen individuell, geschlechtlich, ethnisch, kulturell markierten überhaupt erst hervorbringen. Identität – als körperliche und soziale Wirklichkeit – wird also stets durch performative Akte konstituiert. ›Performativ‹ meint in diesem Sinne durchaus wie bei Austin ›wirklichkeitskonstituierend‹ und ›selbstreferentiell‹. Die Verlagerung des Fokus von Sprechakten auf körperliche Handlungen hat allerdings durchaus Konsequenzen, die einen wichtigen Unterschied zwischen den Theorien Austins und Butlers begründen. Während Austin das Kriterium »glücken/mißglücken« stark macht und entsprechend die funktionalen Gelingensbedingungen untersucht, fragt Butler nach den phänomenalen Verkörperungsbedingungen. Unter Berufung auf Merleau-Ponty, der den Körper nicht nur als eine historische Idee begreift, sondern auch als ein Repertoire von Möglichkeiten, die kontinuierlich zu verwirklichen sind, das heißt als »an active process of embodying certain cultural and historical possibilities«, erläutert Butler den Prozeß der performativen Erzeugung von Identität als einen Prozeß von Verkörperung (embodiment). Sie bestimmt ihn entsprechend als »a manner of doing, dramatizing and reproducing a historical situation«.9 Durch die stilisierte Wiederholung performativer Akte werden be-
7 | Butler, Judith, »Performative Acts and Gender Constitution« (1988), in: Sue Ellen Case (Hg.), Performing Feminism, Baltimore/London 1990, S. 270-282, S. 271. 8 | Ebd. 9 | Ebd.
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stimmte historisch-kulturelle Möglichkeiten verkörpert und auf diese Weise sowohl der Körper als ein historisch-kulturell markierter als auch Identität allererst erzeugt. Die Bedingungen, unter denen der Prozeß der Verkörperung jeweils vollzogen wird, sind nun weder ausschließlich in die Macht und Verfügungsgewalt des Individuums gestellt – es kann nicht völlig frei wählen, welche Möglichkeiten es verkörpern, welche Identität es annehmen will –, noch sind sie komplett von der Gesellschaft determiniert – die Gesellschaft kann zwar versuchen, die Verkörperung bestimmter Möglichkeiten durchzusetzen, indem sie Abweichungen mit Sanktionen bestraft, sie vermag sie jedoch nicht generell zu verhindern. Das heißt, auch in Butlers Konzept des Performativen ist offensichtlich die von Austin zur Erscheinung gebrachte Fähigkeit des Performativen virulent, Dichotomien zum Einsturz zu bringen. In/mit den performativen Akten, mit denen Gender – und generell Identität – konstituiert wird, übt einerseits die Gemeinschaft auf die/den einzelnen körperliche Gewalt aus. Zugleich aber eröffnen sie durchaus die Möglichkeit, daß sich in/mit ihnen die/der einzelne selbst hervorbringt – und zwar durchaus auch abweichend von den in der Gemeinschaft dominierenden Vorstellungen, wenn auch um den Preis gesellschaftlicher Sanktionen. Anders als Austin vergleicht Butler die Verkörperungsbedingungen mit denen einer Theateraufführung. Denn wie bei einer Theateraufführung stellen die Akte, mit denen Geschlechtszugehörigkeit hervorgebracht und aufgeführt wird, »clearly not one’s act alone« dar. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um »shared experience« und »collective action«; die Handlung nämlich, die man ausführt, ist eine Handlung, die in gewissem Sinne immer schon begonnen hat, bevor der individuelle Akteur auf dem Schauplatz erschienen ist. Entsprechend ist die Wiederholung der Handlung ein »reenactment« und ein »re-experiencing« eines Repertoires von Bedeutungen, die bereits gesellschaftlich eingeführt sind. Dabei werden weder einem passiven Körper kulturelle Kodes eingeschrieben, noch auch gehen die verkörperten Selbste den kulturellen Konventionen voraus, die dem Körper Bedeutung verleihen. Butler vergleicht die Konstitution von Identität durch Verkörperung mit der Inszenierung eines vorgegebenen Textes. So wie ein und derselbe Text auf verschiedene Weise inszeniert werden kann und die Schauspieler im Rahmen der textuellen Vorgaben frei sind, ihre Rolle jeweils neu und anders zu entwerfen und zu realisieren, agiert der geschlechtsspezifische Körper innerhalb eines körperlichen Raumes, der durch bestimmte Vorgaben eingeschränkt ist, und setzt Interpretationen innerhalb der Grenzen vorgegebener Regieanweisungen in Szene. Die Aufführung geschlechtlicher – oder anderer – Identität als Prozeß einer Verkörperung wird also analog einer theatralen Aufführung vollzogen. Die Verkörperungsbedingungen lassen sich in diesem Sinne als Aufführungsbedingungen genauer beschreiben und bestimmen. Indem Butler die Verkörperungsbedingungen als Aufführungsbedingungen erläutert, rückt sie eine weitere interessante Parallele zwischen ihrer und Austins Theorie in den Blick (ohne direkt auf Austin zu verweisen). Beide begreifen den Vollzug performativer Akte als ritualisierte öffentliche Aufführung. Für beide ist eine enge Beziehung zwischen Performativität und Aufführung (performance) offensichtlich und nicht weiter erklärungsbedürftig. Insofern die Wörter »performance« und »performativ« beide Ableitungen vom Verbum »to perform« darstellen, erscheint dies auch einleuchtend: Performativität führt zu Aufführungen bzw. manifestiert und realisiert sich im Aufführungscharakter performativer Handlun-
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gen – so wie die Performativierungsschübe in den Künsten seit den 1960er Jahren diese dahin tendieren lassen, sich in und als Aufführungen zu realisieren, bzw. in neuen Kunstformen resultieren wie der »Performance Art« und der »Aktionskunst«, deren Bezeichnungen bereits auf ihren Handlungs- und Aufführungscharakter unmißverständlich hinweisen. Insofern ist es durchaus folgerichtig, daß Aufführungen sowohl Austin als auch Butler geradezu als Inbegriff des Performativen erscheinen. Der Begriff des Performativen bezeichnet in diesem Sinne den Aufführungscharakter von Handlungen, die in Anwesenheit anderer, also öffentlich vollzogen werden.
2. D ER B EGRIFF DER A UFFÜHRUNG /P ERFORMANCE 2.1 Bestimmung und Erläuterung des Begriffs Mit dem Begriff der Aufführung bzw. Performance wird (1) ein Ereignis bezeichnet, das (2) aus der Konfrontation und Interaktion zweier Gruppen von Personen hervorgeht, die sich an einem Ort zur selben Zeit versammeln, um in leiblicher Ko-Präsenz gemeinsam eine Situation zu durchleben, wobei sie, zum Teil wechselweise, als Akteure und Zuschauer agieren. (3) Was sich in einer Aufführung zeigt, tritt immer hier und jetzt in Erscheinung und wird in besonderer Weise als gegenwärtig erfahren. (4) Eine Aufführung übermittelt nicht andernorts bereits gegebene Bedeutungen, sondern bringt die Bedeutungen, die sich in ihrem Verlauf von den einzelnen Teilnehmern konstituieren lassen, allererst hervor. Unter den Begriff fallen alle Aufführungen der Künste (Schauspiel-, Oper-, Tanzaufführungen, Aktions- und Performance-Kunst, Installationen, Konzerte, Dichterlesungen u.a.), Rituale, Spiele, Sportwettkämpfe, politische Versammlungen, Gerichtsverhandlungen, Vorträge, Sitzungen, Zusammenkünfte unterschiedlicher Art u.a. mehr. Hinsichtlich des semantischen Feldes, das von dem Begriff abgedeckt wird, gibt es erhebliche Unterschiede zwischen dem deutschen Begriff »Aufführung« und dem englischen »Performance«, die für die entsprechende Theoriebildung nicht unerheblich sind. Zwar gilt für beide die oben gegebene Definition. Im Deutschen bezieht sich der Begriff darüber hinaus auf das alltägliche Benehmen (»Wie führst du dich heute wieder auf!«), während er im Englischen den Aspekt der Leistung einschließt (»The student’s performance in the examination was excellent«). Außerdem wird der Begriff »Performance« im Deutschen auch zur Bezeichnung einer bestimmten, in den 1960er Jahren entstandenen Kunstform verwendet – der Performance-Kunst. Wie aus der einleitenden Definition des Begriffs hervorgeht, sind an der Aufführung vor allem vier Aspekte zu unterscheiden und zu erläutern: ihre Medialität (2), Materialität (3), Semiotizität bzw. Zeichenhaftigkeit (4) und ihre Ereignishaftigkeit (1).10
10 | Vgl. zum folgenden Fischer-Lichte, Erika, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, wo eine entsprechende Theorie der Aufführung entwickelt wird.
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Die medialen Bedingungen von Aufführungen sind mit der leiblichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern gegeben und durch sie bestimmt. In einer Aufführung gelten entsprechend ganz andere Bedingungen als bei der Produktion und Rezeption von Texten und Artefakten. Während die Akteure etwas tun, ausführen, handeln, nehmen die Zuschauer sie wahr und reagieren auf sie. Zwar mögen diese Reaktionen teilweise als rein »innere«, das heißt imaginative und kognitive Prozesse ablaufen. Überwiegend handelt es sich jedoch um Reaktionen, die von Akteuren und anderen Zuschauern wahrgenommen werden können. Auch diese Wahrnehmungen resultieren wiederum in wahrnehmbaren Reaktionen. Was immer die Akteure tun, hat Auswirkungen auf die Zuschauer, und was immer die Zuschauer tun, es hat Auswirkungen auf die Akteure und die anderen Zuschauer. In diesem Sinne entsteht die Aufführung immer erst in ihrem Verlauf. Sie erzeugt sich sozusagen selbst aus den Interaktionen zwischen Akteuren und Zuschauern. Daher ist ihr Ablauf auch nicht vollständig planbar und vorhersagbar. Dem autopoietischen Prozeß ihrer Entstehung eignet vielmehr ein hohes Maß an Kontingenz. Was in ihrem Verlauf in Erscheinung tritt, ist bei Beginn der Aufführung nicht vorauszusehen. Manches taucht im Laufe der Aufführung erst als Folge bestimmter Interaktionen auf. Zwar sind es die Akteure, welche ganz entscheidende Vorgaben für den Verlauf der Aufführung machen – gleichwohl sind sie nicht imstande, ihn zu kontrollieren. Letztlich wird die Aufführung von allen Beteiligten gemeinsam hervorgebracht, ohne daß ein einzelner oder eine Gruppe von Personen sie vollkommen durchzuplanen, zu steuern und zu kontrollieren vermöchte. Sie entzieht sich immer wieder der Verfügungsgewalt jedes einzelnen. Dabei hebt der Begriff der Unverfügbarkeit ausdrücklich auf die Involviertheit aller Beteiligten ab und zwar sowohl auf den mehr oder weniger starken Einfluß, den diese auf den Verlauf der Aufführung nehmen, als auch hinsichtlich des Einflusses, dem sie selbst darin ausgesetzt sind, da es sich ja gerade um Wechselwirkungen handelt. Was im Laufe einer Aufführung in Erscheinung tritt, ist häufig emergent. Bei allen Beteiligten handelt es sich nur um Mit-Erzeuger, die in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlicher Weise an der Gestaltung der Aufführung mitwirken, ohne sie allein bestimmen zu können. In diesem Prozeß, in dem sie mit der Wechselwirkung ihrer Handlungen und Verhaltensweisen die Aufführung hervorbringen, bringt umgekehrt die Aufführung sie allererst als Akteure und Zuschauer hervor, indem sie ihnen zustößt, ihnen widerfährt, sich ereignet. Es ist der so gefaßte Aufführungsbegriff, der den Begriff des Performativen im Hinblick auf das Phänomen der Emergenz und die auf es bezogenen Erfahrungen des Subjektes als sowohl mitbestimmend als auch bestimmt erweitert hat. Dies hat für die kulturwissenschaftlichen Forschungen, die im Felde sowohl der Performative Studies als auch der Performance Studies angesiedelt sind, weitreichende Konsequenzen. Aus der Erläuterung der medialen Bedingungen von Aufführungen wird deutlich, daß sich eine Aufführung – ganz gleich welchen Genres – immer als ein sozialer Prozeß abspielt. In ihr treffen unterschiedliche Gruppen aufeinander, die ihre Beziehungen zueinander auf unterschiedliche Weise aushandeln und regeln können. Ein solcher sozialer Prozeß wird zu einem politischen, wenn in der Aufführung ein Machtkampf zwischen Akteuren und Zuschauern oder auch zwischen verschiedenen Zuschauern entbrennt, die einer dem anderen bestimmte
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Beziehungsdefinitionen, Ansichten, Werte, Überzeugungen, Verhaltensweisen aufzuzwingen suchen. Da jeder einzelne – wenn auch in verschiedenem Ausmaß – sowohl den Verlauf der Aufführung mitbestimmt als auch sich von ihm bestimmen läßt, nimmt keiner ›passiv‹ an der Aufführung teil. Jeder ist insofern auch mitverantwortlich für das, was sich während der Aufführung ereignet. Wer dabei bleibt, erklärt damit sein grundsätzliches Einverständnis mit dem, was geschieht. Wer nicht einwilligt, kann versuchen, sich mit seiner Kritik und seinen Vorstellungen durchzusetzen oder auch den Raum verlassen. Wer teilnimmt, trägt prinzipiell Mit-Verantwortung. In einer Aufführung kann es außerdem zu Gruppenbildungen unter den Zuschauern kommen; auch vermag sich aufgrund der besonderen medialen Bedingungen für die Dauer der Aufführung oder auch nur für einzelne Momente in ihr eine Gemeinschaft zwischen Akteuren und Zuschauern herzustellen. Aufführungen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Materialität grundlegend von fixier- und tradierbaren Texten und Artefakten. Da sie sich zwischen Akteuren und Zuschauern ereignen, sind sie flüchtig und transitorisch. In diesem Sinne erschöpfen sie sich in ihrer Gegenwärtigkeit, das heißt ihrem zwischen Anfang und Ende andauernden Werden und Vergehen, in ihrer Autopoiesis. Nach ihrem Ende ist die Aufführung unwiederbringlich verloren. Ihre Materialität wird performativ hervorgebracht und tritt immer nur für eine begrenzte Zeitspanne in Erscheinung. Was sich im Verlauf einer Aufführung zeigt, geht zum einen auf die Intentionen, Vorstellungen und Planungen einzelner Subjekte zurück. Es ist der Inszenierung geschuldet, die festlegt, welche Elemente zu welchem Zeitpunkt und an welcher Stelle im Raum erscheinen, wie sie sich durch den Raum bewegen und wo und wann sie wieder aus ihm verschwinden sollen. Zum anderen entspringt das, was in Erscheinung tritt, den oben geschilderten Wechselwirkungen. Deswegen muß auch zwischen dem Inszenierungs- und dem Aufführungsbegriff klar unterschieden werden. Während ›Inszenierung‹ die intendierte und geplante performative Hervorbringung von Materialität meint, schließt ›Aufführung‹ jegliche in ihrem Verlauf performativ hervorgebrachte Materialität ein. Dies gilt für die Körperlichkeit der Aufführung ebenso wie für ihre Räumlichkeit und Lautlichkeit. Aufgrund der leiblichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern kommt der Körperlichkeit in der Aufführung eine besondere Bedeutung zu. In Aufführungen haben wir es immer zugleich mit dem phänomenalen Leib und mit dem semiotischen Körper zu tun. Die Akteure erscheinen stets in ihrem leiblichen In-derWelt-Sein, ganz gleich, ob es sich um Schauspieler, Politiker, Sportler, Schamanen, Priester, Sänger, Tänzer oder ganz ›normale‹ Interaktionspartner handelt. Von ihrem phänomenalen Leib geht eine je besondere Ausstrahlung aus, welche die anderen Teilnehmer/Zuschauer ihrerseits leiblich erspüren. Wenn von Präsenz des Akteurs die Rede ist, so ist u.a. gemeint, daß er den Raum besetzt und beherrscht, so daß er die Aufmerksamkeit der Zuchauer auf sich zieht. In Aufführungen wirkt also der phänomenale Leib der Beteiligten mit seinen je spezifischen, physiologischen, affektiven, energetischen und motorischen Zuständen unmittelbar auf den phänomenalen Leib anderer ein und vermag in diesen je besondere physiologische, affektive, energetische und motorische Zustände hervorzurufen.
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Mit den Prozessen der Verkörperung,11 mit denen der Akteur dabei seinen phänomenalen Leib in seiner Präsenz hervorbringt, wird häufig zugleich sein semiotischer Körper als ein Signifikant hervorgebracht, der auf unterschiedliche symbolische Ordnungen verweist. In diesen Prozessen sind phänomenaler Leib und semiotischer Körper unlösbar miteinander verknüpft, wobei freilich der phänomenale Leib durchaus ohne den semiotischen Körper gedacht werden kann, das Umgekehrte dagegen nicht möglich ist. Lange Zeit ging man von der Annahme aus, daß Aufführungen dazu dienen, bestimmte, anderorts fixierte Bedeutungen zu vermitteln. Es galt die Prämisse, daß die Aufführung eines dramatischen Textes die in diesem Text niedergelegten Bedeutungen bzw. eine spezifische Interpretation übermittelt; daß in einem höfischen Fest des 17. Jahrhunderts ein bestimmtes allegorisches Programm verwirklicht wird oder daß sich politische Feste und andere Massenveranstaltungen als Repräsentation der Macht, vor allem der Macht eines einzelnen wie Ludwigs XIV, Napoleons, Mussolinis, Stalins oder Hitlers begreifen lassen. Eine solche Auffassung ist nicht mehr haltbar, wenn man die besondere Medialität und Materialität einer Aufführung bedenkt. Denn zum einen werden die in der Interaktion zwischen Akteuren und Zuschauern im Verlauf der Aufführung emergierenden Erscheinungen das vorgegebene Programm stören; und zum anderen lenkt die Fokussierung und Wahrnehmung auf die besondere Gegenwart von phänomenalen Leibern und Atmosphären die Aufmerksamkeit von semiotischen Körpern, Räumen, Objekten u.a. ab, konterkariert also den Vorgang einer entsprechenden Interpretation. Es ist vielmehr die Aufführung, welche Bedeutungen allererst hervorbringt. Das hat weitreichende Konsequenzen für die Semiotizität von Aufführungen. Wenn man unter Bedeutung nicht nur ein Signifikat versteht, das bestimmten Signifikanten zugeordnet werden kann, sondern jede bewußte Wahrnehmung, hat das für die Semiotizität von Aufführungen weitreichende Folgen. Es heißt, daß diese sich als Wahrnehmung a) selbstbezüglicher Phänomene, b) von unterschiedlichen symbolischen Ordnungen und c) als Umspringen der Wahrnehmung zwischen a) und b) konstituiert. a) Den Leib und die Dinge in ihrer spezifischen Phänomenalität wahrzunehmen, heißt nicht, sie als bedeutungslos wahrzunehmen, sondern sie als etwas wahrzunehmen. Es handelt sich nicht um einen unspezifischen Reiz, ein bloßes Sinnes-Datum, sondern um die Wahrnehmung von etwas als etwas. Die in ihrer Phänomenalität wahrgenommenen Dinge bedeuten das, als was sie in Erscheinung treten. Die Wahrnehmung von etwas als etwas wird zugleich als Prozeß der Konstitution seiner Bedeutung als dieses besondere phänomenale Sein vollzogen. Häufig ist mit diesem Modus der Wahrnehmung noch ein ganz anderer verknüpft. Wenn sich die Aufmerksamkeit aus ihrer Fokussierung auf die Phänomenalität des Wahrgenommenen löst, kann dieses als ein Signifikant erscheinen, dem sich die unterschiedlichsten Bedeutungen beilegen lassen: Assoziationen jeglicher Art, also Vorstellungen, Erinnerungen, Gefühle, Gedanken etc. Dabei ist fraglich, ob derartige Assoziationen sich nach bestimmten Regeln ergeben, also vorhersagbar sind. Eher ist davon auszugehen, daß sie den betreffenden Zuschauer plötzlich 11 | Zum Begriff der Verkörperung vgl. Csórdas, Thomas J. (Hg.), Embodiment and Experience: The Existential Ground of Culture and Self, Cambridge 1994.
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überfallen, eher zufällig auftauchen, wenn auch häufig im nachhinein begründbar. Der Wahrnehmende vermag über sie jedenfalls nicht frei zu verfügen. Der Wahrnehmungsprozeß verläuft daher als ein eher ›chaotischer‹, in jedem Fall emergenter Prozeß. Die Semiotizität der Aufführung realisiert sich hier als ein Oszillieren der Wahrnehmung zwischen Konzentration auf das Phänomen in seiner Selbstbezüglichkeit und dem Auftauchen von Assoziationsketten. b) Andererseits vermag der Zuschauer die Körper der Akteure – und ihre Bewegungen im Raum – als Zeichen wahrzunehmen, als Zeichen für bestimmte symbolische Handlungen im Falle eines Rituals, als Ausdruck für die Freude über ein gelungenes Tor beim Sportler, als Zeichen für eine hinterhältige Verstellung einer dramatischen Figur u.a. mehr. Es wird also alles, was wahrgenommen wird, im Hinblick auf eine bestimmte symbolische Ordnung wahrgenommen. Die Bedeutungen, die so hervorgebracht werden, erzeugen in ihrer Gesamtheit eben diese symbolische Ordnung. Sie wirken so auf die Dynamik des Wahrnehmungsprozesses ein, daß vor allem solche Elemente Beachtung finden, die sich im Hinblick auf die betreffende symbolische Ordnung wahrnehmen lassen. Der Wahrnehmungsprozeß erfolgt in diesem Sinne zielgerichtet. c) In der Regel läuft der Wahrnehmungsprozeß in einer Aufführung weder ausschließlich nach dem ersten noch nach dem zweiten Modell ab, also weder völlig chaotisch noch gänzlich zielgerichtet. Vielmehr springt er immer wieder von der einen Ordnung zur anderen um. Im Augenblick des Umspringens erfolgt ein Bruch. Die Dynamik des Wahrnehmungsprozesses nimmt jedes Mal eine andere Wendung. Er verliert die Zufälligkeit und wird zielgerichtet bzw. büßt umgekehrt seine Zielgerichtetheit ein und fängt an auszuschweifen. Jede Wendung führt zur Wahrnehmung von etwas anderem – nämlich jeweils dessen, was zur Stabilisierung der neuen Ordnung beiträgt – und damit zur Erzeugung jeweils anderer Bedeutungen. Auch wenn der Zuschauer versucht, seine Wahrnehmung intentional neu einzustellen bzw. in der neuen Ordnung zu halten, wird ihm sehr bald bewußt werden, daß das Umspringen auch gegen seinen Willen erfolgt, daß es ihm zustößt. Er erfährt in diesem Moment seine eigene Wahrnehmung als emergent, als seinem Willen und seiner Kontrolle entzogen, zugleich aber als bewußt vollzogen. Das Umspringen lenkt so die Aufmerksamkeit des Wahrnehmenden zugleich auf den Wahrnehmungsprozeß selbst und seine besondere Dynamik. Der Wahrnehmende fängt an, sich selbst als Wahrnehmenden wahrzunehmen, was spezifische Bedeutungen hervorbringt, die nun ihrerseits weitere Bedeutungen erzeugen, die auf die Dynamik des Wahrnehmungsprozesses einwirken und so fort. Dem Wahrnehmenden wird zunehmend bewußt, daß ihm nicht Bedeutungen übermittelt werden, sondern daß er es ist, der sie hervorbringt und daß er auch ganz andere Bedeutungen hätte konstituieren können, wenn das Umspringen zu einem anderen Zeitpunkt oder weniger oft bzw. häufiger eingetreten wäre. Die Semiotizität von Aufführungen ist daher durch die Emergenz von Bedeutungen bestimmt. Während die »klassischen« Theorien des Performativen den Fokus auf die jeweils eine neue Wirklichkeit konstituierenden Sprechakte und körperlichen Handlungen legen und unterschiedliche Gelingensbedingungen formulieren, bleiben Wahrnehmungsakte und -prozesse weitgehend unbeachtet. Es ist auch in diesem Fall – wie mit Blick auf die Emergenz – der Neuformulierung des Aufführungsbegriffs geschuldet, daß die aisthetische Dimension als ein wesentliches Charak-
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teristikum des Performativen aufgedeckt und ausformuliert wurde. Denn es ist gerade die Wahrnehmung, die, zwischen Zeichenhaftigkeit und Phänomenalität, Konstitution von Bedeutung und somatischer Erfahrung oszillierend hin- und hergleitend, einen performativen Prozeß allererst als einen solchen erscheinen läßt bzw. zu einem solchen macht. Wie aus der Bestimmung von Medialität, Materialität und Semiotizität von Aufführungen hervorgeht, lassen sich diese angemessen nicht als Werke begreifen, sondern nur als Ereignisse. Insofern die Aufführung aus der Interaktion von Akteuren und Zuschauern hervorgeht, sich in einem autopoietischen Prozeß selbst erzeugt, erscheint der Werkbegriff inadäquat. Denn die Aufführung liegt nicht als Resultat dieses Prozesses vor, sondern wird in und mit ihm vollzogen. Es gibt sie nur als und im Prozeß der Aufführung; es gibt sie nur als Ereignis. Als Ereignis ist die Aufführung – im Unterschied zur Inszenierung – einmalig und unwiederholbar. Exakt dieselbe Konstellation zwischen Akteuren und Zuschauern wird sich nicht ein zweites Mal einstellen. Eine Aufführung ist auch in diesem Sinne als ein Ereignis zu begreifen: daß keiner der an ihr Beteiligten volle Verfügungsgewalt über sie besitzt, daß sie ihm – vor allem dem Zuschauer – zustößt. Als Ereignis geschieht in einer Aufführung auch das merkwürdige Zusammenfallen von Gegensätzen. In ihr erfahren sich die Beteiligten als Subjekte, die ihren Gang mitbestimmen und sich zugleich von ihm bestimmen lassen. Sie erfahren die Aufführung als einen ästhetischen und zugleich religiösen, sozialen, ja politischen Prozeß, in dem Beziehungen ausgehandelt, Gemeinschaften gebildet und wieder aufgelöst werden. Ihre Wahrnehmung vollzieht sich sowohl als ein »chaotischer« als auch als ein zielgerichteter Prozeß. Was in der westlichen Kultur traditionell als Gegensatz gedacht wird, der sich in dichotomischen Begriffspaaren fassen läßt – wie autonomes versus fremdbestimmtes Subjekt, Ästhetisches versus Soziales/Politisches, Präsenz versus Repräsentation –, wird in Aufführungen nicht im Modus des Entweder-Oder, sondern in dem des Sowohl-als-Auch erfahren. Da dichotomische Begriffspaare außer als Instrumente zur Beschreibung und Erkenntnis der Welt auch und vor allem als Regulative unseres Handelns und Verhaltens dienen, zieht ihre Destabilisierung nicht nur eine Destabilisierung der Welt-, Selbst- und Fremdwahrnehmung nach sich, sondern auch eine Erschütterung der Regeln und Normen, die unser Verhalten leiten. Die Beteiligten werden in eine Situation zwischen verschiedenen Regeln und Normen versetzt – in eine liminale Situation, wie der Ethnologe Victor Turner sie genannt hat.12 Es ist diese Erfahrung von Liminalität, die unter bestimmten Bedingungen im Subjekt eine transformierende Kraft zu entfalten vermag. Der Aufführungsbegriff, wie er hier konzeptualisiert ist, kann als ein kulturwissenschaftlicher Grundbegriff aufgefaßt werden. Er birgt ein erhebliches Innovationspotential für die Kulturwissenschaften. Dies gilt für die historisch-hermeneutischen Wissenschaften ebenso wie für die Sozialwissenschaften und die Kunstwissenschaften. Die historisch-hermeneutischen Wissenschaften können bei der Untersuchung von Aufführungen nicht von der Prämisse ausgehen, daß 12 | Vgl. Turner, Victor, The Ritual Process: Structure and Anti-Structure, London/New York 1969 sowie Ders., »Variations on a Theme of Liminality«, in: Sally Falk Moore/Barbara Myerhoff (Hg.), Secular Rites, Assen 1977, S. 36-57.
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in ihnen zum Beispiel ein bestimmtes allegorisches Programm verwirklicht wird oder daß sie sich als Repräsentation der Macht einzelner begreifen lassen oder daß die Aufführung eines Dramas als seine Interpretation aufzufassen sei. Vielmehr müssen historisch-hermeneutische Herangehensweisen berücksichtigen, daß Bedeutungen immer erst im Prozeß der Aufführung selbst entstehen, daß sie erst prozessual hervorgebracht werden und daher kaum mit den Bedeutungen identisch sein können, welche einzelne oder Gruppen von Personen durch die Aufführung zum Ausdruck bringen wollten. Dies gilt es sowohl bei der Analyse von Quellen und Dokumenten zu Aufführungen der Vergangenheit als auch bei Aufführungen, an denen der Forscher hier und heute teilnimmt, zu bedenken. Als ebenso folgenreich erweist sich der Aufführungsbegriff für die Sozialwissenschaften. Denn wenn bei Aufführungen davon auszugehen ist, daß alle Beteiligten insofern involviert sind, als sie die Aufführung mitbestimmen und sich zugleich von ihr bestimmen lassen, wird sich die weit verbreitete Manipulationsthese kaum aufrechterhalten lassen. In ihr wird davon ausgegangen, daß politische Feste und andere Massenveranstaltungen dazu geeignet sind, die an ihnen beteiligten Bevölkerungsgruppen im Sinne der Herrschenden zu manipulieren. Das hieße, daß die Veranstalter in der Lage wären, diejenigen Inszenierungsstrategien anzuwenden, die ein passives Publikum in der genau vorausberechneten Weise überwältigen und zum gewünschten Verhalten bewegen. Wenn man dagegen die Wechselwirkung zwischen Akteuren und Zuschauern bedenkt und damit die MitVerantwortung, die jeder, der in sie involviert ist, für sie übernimmt, kann von Manipulation nicht oder jedenfalls nur unter Vorbehalt die Rede sein. Der Aufführungsbegriff impliziert auch für die Kunstwissenschaften weitreichende Konsequenzen. Denn in ihrem Zentrum steht der Werkbegriff. Es gilt, das Werk in seinem Gemacht-Sein zu analysieren und zu verstehen. Wenn die Künste jedoch nicht mehr Werke, sondern Aufführungen und das heißt Ereignisse, hervorbringen, wie es nicht nur Theater, Musik, Performance-Kunst tun, sondern seit den 1960er Jahren zunehmend auch die anderen Künste, dann greifen weder eine Werkästhetik noch auf sie bezogene Produktions- und Rezeptionsästhetiken. Ins Zentrum der Kunstwissenschaften muß vielmehr der Ereignisbegriff treten. Es gilt daher, entsprechende neue Ästhetiken zu entwickeln, ebenso wie – neben der Werkanalyse – neue Methoden der Aufführungsanalyse als Ereignisanalyse.
2.2 Zur Geschichte der Aufführungs- und Performancetheorie Der Aufführungsbegriff wurde zuerst vom Berliner Germanisten Max Herrmann (1865-1942) im Rahmen seiner Bemühungen theoretisiert, Theaterwissenschaft als eine Universitätsdisziplin zu begründen. Während im ausgehenden 19. Jahrhundert Schauspieltheater als Gegenstand der entsprechenden Nationalphilologien galt und Oper und Ballett der Musikwissenschaft zugeordnet waren, plädierte Herrmann für die Einrichtung von Theaterwissenschaft mit dem Argument, daß es nicht die Literatur sei, welche Theater als eine Kunst konstituiere, sondern die Aufführung: »[…] die Aufführung ist das Wichtigste […].«13 Zum Ausgangs- und Angelpunkt seiner Überlegungen machte er das Verhältnis zwischen Darstellern 13 | Herrmann, Max, Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Berlin 1914, Teil II, S. 118.
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und Zuschauern: »[Der] Ursinn des Theaters […] besteht darin, daß das Theater ein soziales Spiel war, – ein Spiel Aller für Alle. Ein Spiel, in dem alle Teilnehmer sind, – Teilnehmer und Zuschauer. […] Das Publikum ist als mitspielender Faktor beteiligt. Das Publikum ist sozusagen Schöpfer der Theaterkunst. Es bleiben so viel Teilvertreter übrig, die das Theater-Fest bilden, so daß der soziale Grundcharakter nicht verloren geht. Es ist beim Theater immer eine soziale Gemeinde vorhanden.«14 Auf dieser Grundlage bemühte er sich in verschiedenen Schriften zwischen 1910 und 1930 um die Bestimmung des Aufführungsbegriffs als des Schlüsselbegriffs für die neue Disziplin. Über die fundamentale Bedeutung des Aufführungsbegriffs waren sich in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts alle einig, die sich für die Gründung der Theaterwissenschaft einsetzten. Keine Einigkeit bestand allerdings hinsichtlich der Arten von Aufführungen, die als ihr Gegenstand gelten sollten. Während Herrman Theater als eine spezifische Kunstform und Theaterwissenschaft als eine neue Kunstwissenschaft propagierte, richtete sich das Interesse des Münchner Germanisten Arthur Kutscher (1878-1960) insbesondere auf Aufführungen des Volkstheaters in Süddeutschland und anderen Regionen Europas, in denen die Tradition von religiösen Spielen und anderen Arten des Volkstheaters noch lebendig war. Noch weiter ging Carl Niessen (1890-1969), der die Kölner Theaterwissenschaft begründete. In seiner Schrift Aufgaben der Theaterwissenschaft (1927) legte er dar, daß die neue Disziplin sich statt auf die Literaturwissenschaft auf die Völkerkunde beziehen solle. Denn ihr Zentrum bildeten »die primitiven Äußerungen des mimischen Darstellungstriebs bei Kindern oder Völkern auf niederer Kulturstufe [sic!]« ebenso wie »die ›klassischen Dramen‹ der deutschen Nationalliteratur«.15 In seinem später (1948-1958) entstandenen Handbuch der Theater-Wissenschaft entwickelte er sein Konzept einer völkerkundlich ausgerichteten Theaterwissenschaft weiter und listete Feste, Prozessionen, Zeremonien, Spiele, Begräbnis- und andere Rituale der verschiedensten Kulturen und Zeiten als Gegenstände der Theaterwissenschaft auf. Niessen bezog also alle Arten von Aufführungen in sein Konzept der Theaterwissenschaft ein, die Milton Singer später unter dem Begriff »cultural performances«16 zusammenfassen würde. Die Ausweitung der Theaterwissenschaft zu Performance Studies, wie sie seit den 1970er Jahren von Richard Schechner propagiert und vorangetrieben wurde, war hier bereits als Programm formuliert. Im Unterschied zu Herrmann bildeten weder Niessen noch Kutscher jemals eine entsprechende Aufführungstheorie aus. Unter dem Titel »Performance Studies« entwickelte der Theaterwissenschaftler und Regisseur Richard Schechner ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das in Abgrenzung von und in Opposition zu den an US-amerikanischen Universitäten bestehenden »Theatre Studies« Theaterwissenschaftler mit Tanztheoretikern, Musikwissenschaftlern, Volkskundlern und Ethnologen vereinigen sollte. Als seine Gegenstände proklamierte er Aufführungen/Performances, wie sie vor allem von Performance-Künstlern und als Rituale in verschiedenen Kulturen hervorgebracht 14 | Herrmann, Max, »Bühne und Drama«, in: Vossische Zeitung, 30. Juli 1918. 15 | Niessen, Carl, »Aufgaben der Theaterwissenschaft«, in: Die Scene. Blätter für Bühnenkunst 17, 1927, S. 44-49. 16 | Singer, Milton (Hg.), Traditional India. Structure and Change, Philadelphia 1959, S. XIIf.
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werden. Die Gründe für diese Neuausrichtung lagen zum einen in dem teilweise bis heute in den angelsächsischen Ländern vorherrschenden engen Theaterbegriff, der lediglich das literarische Schauspieltheater bezeichnet und weder Musik- noch Tanztheater noch Formen von Volkstheater umfaßt, und zum andern in der Entwicklung neuer theatraler Formen seit den 1960er Jahren, die diesem engen Konzept von Theater ebenfalls nicht zu subsumieren waren. Diese Neuausrichtung wurde von einer Theoriebildung begleitet, die vor allem von der ethnologischen Ritualforschung und von der Theaterwissenschaft geleistet wurde. Victor Turner, mit dem Schechner später zusammenarbeitete, hatte bereits bei der Entwicklung seiner Ritualtheorie in The Ritual Process: Structure and Anti-Structure (1969) unter Rekurs auf Arnold van Genneps Les rites de passage (1909), die 1960 in einer englischen Übersetzung erschienen waren – und erst 1986 in einer deutschen Übersetzung vorlagen –, den Begriff des Liminalen bzw. der Liminalität eingeführt. Van Gennep hatte an einer Fülle ethnologischen Materials dargelegt, daß Rituale mit einer im höchsten Maße symbolisch aufgeladenen Grenz- und Übergangserfahrung verknüpft sind. Übergangsriten gliedern sich in drei Phasen: 1. die Trennungsphase, in der der/die zu Tranformierende(n) aus ihrem Alltagsleben herausgelöst und ihrem sozialen Milieu entfremdet werden; 2. die Schwellen- oder Umwandlungsphase; in ihr wird/werden der/die zu Transformierende(n) in einen Zustand »zwischen« alle möglichen Bereiche versetzt, die ihnen völlig neue, zum Teil verstörende Erfahrungen ermöglichen; 3. die Angliederungsphase, in der die nun Transformierten wieder in die Gesellschaft aufgenommen und in ihrem neuen Status, ihrer veränderten Identität akzeptiert werden. Diese Struktur läßt sich nach Van Gennep in den verschiedensten Kulturen beobachten. Sie wird erst in ihren Inhalten kulturspezifisch ausdifferenziert.17 In The Ritual Process hat Victor Turner den Zustand, der in der Schwellenphase hergestellt wird, als Zustand der Liminalität (von lat. limen – die Schwelle) bezeichnet und genauer als Zustand einer labilen Zwischenexistenz »betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention and ceremonial«18 bestimmt. Er führt aus, daß und wie die Schwellenphase kulturelle Spielräume für Experimente und Innovationen eröffnet, insofern »in liminality, new ways of acting, new combinations of symbols, are tried out, to be discarded or accepted«.19 Die Veränderungen, zu denen die Schwellenphase führt, betreffen nach Turner in der Regel den gesellschaftlichen Status derer, die sich dem Ritual unterziehen, sowie die gesamte Gesellschaft. Auf die Individuen bezogen bedeutet dies, daß zum Beispiel Knaben zu Kriegern werden, eine unverheiratete Frau und ein unverheirateter Mann zu einem Ehepaar oder ein Kranker zu einem Gesunden. Die gesamte Gesellschaft betreffend bestimmt Turner Rituale als Mittel zur Erneuerung und Etablierung von Gruppen als Gemeinschaften. Dabei sieht er vor allem zwei Mechanismen am Werk: erstens die in den Ritualen erzeugten Momente von communitas, die er als gesteigertes Gemeinschaftsgefühl beschreibt, das die Grenzen 17 | Vgl. van Gennep, Arnold, Les rites de passage, Paris 1909; dt.: Übergangsriten, Frankfurt a.M./New York 1986, S. 21-23. 18 | Turner 1969, S. 95. 19 | Turner, »Variations on a Theme of Liminality«, in: Sally F. Moore/Barbara Myerhoff (Hg.), Secular Rites, Assen 1977, S. 36-57, S. 40.
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aufhebt, welche die einzelnen Individuen voneinander trennen; und zweitens eine spezifische Verwendung von Symbolen, die sie als verdichtete und mehrdeutige Bedeutungsträger erscheinen läßt und es allen Beteiligten ermöglicht, verschiedene Interpretationsrahmen zu setzen. Auf dieses Wirkungspotential von Ritualen waren vor allem die ethnologischen/anthropologischen Performance-Theorien gerichtet. In seinem Aufsatz Eine performative Theorie des Rituals (1979)20 führt Stanley J. Tambiah den Begriff des Performativen in Anlehnung an Austin ein, um das Wirkungspotential von Ritualen erläutern zu können. Auf derartige durch das Ritual ausgelöste Transformationen zielt auch Bruce Kapferer in seinem Aufsatz Ritual Process and the Transformation of Context (1979), der im selben Jahr wie derjenige Tambiahs erschien. Seiner Auffassung nach liegt die verändernde Kraft von Ritualen nicht nur darin, daß sie, wie Durkheim behauptete, die öffentliche und damit distanzierte, also erträgliche Form der Darstellung von Emotionen ermöglichen. Vielmehr sei es das Ziel und Resultat einer rituellen Aufführung, eine Transformation zu bewirken, die zur Vermittlung zwischen dem konventionellen Ausdruck von Gefühlen und den tatsächlichen Gefühlen der Teilnehmer beitrage.21 In Kritik daran, daß Turner und Kapferer Rituale als Momente konzipieren, in denen gesellschaftliche Konflikte transzendiert und überwunden, zumindest jedoch kanalisiert werden und zugleich in Weiterführung dieses Ansatzes betonen Rao und Köpping in Die ›performative Wende‹ – Leben – Ritual – Theater (2002) die Möglichkeit, daß Rituale als konfliktbeladene soziale Interaktion erscheinen. Entsprechend fokussieren sie ihre Ereignishaftigkeit, die sie als »transformativ(e) Akt(e)« bestimmen, denen »die Macht zugeschrieben« wird, »jeden Kontext von Handlung und Bedeutung und auch jeden Rahmen und alle sie konstituierenden Elemente und Personen in jeder möglichen Hinsicht zu transformieren und dadurch Personen und Symbolen einen neuen Zustandsstatus aufzuprägen«. Entsprechend gehen sie davon aus, daß die liminale Phase nicht nur zu einer Veränderung des gesellschaftlichen Status der beteiligten Personen führen kann, sondern zu ihrer Transformation »in jeder möglichen Hinsicht«,22 die ihre Wirklichkeitswahrnehmung betrifft. Rituale werden entsprechend als transformative Performanzen bestimmt. Es ist, wie bereits Tambiah ausgeführt hatte, ihre spezifische Performativität, welche Transformationen ermöglicht, allerdings nicht im Sinne eines geschlossenen (wie bei Tambiah), sondern eines offenen Modells. Von theaterwissenschaftlicher Seite wurde die Theoriebildung zunächst von Richard Schechner vorangetrieben, dem – ebenso wie den anderen angelsächsischen Theoretikern – Max Herrmanns Ansätze zu einer Theorie der Aufführung unbekannt waren. Aus den verschiedenen Phasen und Reformulierungen von Schechners Performance-Theorie seien hier lediglich zwei Konzepte angeführt, die 20 | Tambiah, Stanley J., »Eine performative Theorie des Rituals« (1979), in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 210-242. 21 | Kapferer, Bruce »Ritual Process and the Transformation of Context«, in: Social Analysis 1979, 1, S. 3-19. 22 | Rao, Ursula/Köpping, Klaus Peter, »Die performative Wende – Leben – Ritual – Theater«, in: Klaus Peter Köpping/Ursula Rao (Hg.), Im Rausch des Rituals, Münster/Hamburg/London 2000, S. 1-31, S. 10.
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für die weitere Theoriebildung der Performance Studies besonders einflußreich waren – (1) sein Flußdiagramm der Beziehungen zwischen »social drama« und »aesthetic drama« und (2) sein Begriff des »restored behavior«. In der Zusammenarbeit mit Turner entwickelte Schechner ein besonderes Interesse für das von Turner eingeführte Modell eines »sozialen Dramas«, aus dem er in den 1970er Jahren eine Theorie und Poetik von Performance zu entwickeln suchte. Dabei ging es ihm vor allem um mögliche Beziehungen zwischen dem »sozialen Drama« und dem »ästhetischen Drama«. In seinem Essay Selective Inattention (1976) schlug er ein Diagramm dieser Beziehungen vor,23 das er selbst und auch Turner in späteren Schriften immer wieder verwendeten. Es bildet das soziale und das ästhetische Drama als die zwei Teile einer Acht ab, durch die soziale Energie hindurchfließt. Während die Theaterkünstler soziale und politische Handlungen als Material bei der Inszenierung eines ästhetischen Dramas, einer Theateraufführung verwenden, eignen soziale und politische Aktivisten sich theatrale Techniken an, um die Aktivitäten des sozialen Dramas zu unterstützen, die wiederum das Theater beeinflussen und so fort. Social drama Works „in the world“
Visible Hidden
Consequential Staging
Aesthetic drama Works „on consciousness“
Staging Consequential
Actual Virtual
Wie aus dieser Figur ersichtlich, wird keine grundsätzliche Trennung zwischen den beiden Phänomenen angenommen. Vielmehr wird postuliert, daß laufend ein Austausch zwischen ihnen stattfindet. Insofern ist bei der Untersuchung des einen »Dramas« immer auch das andere mit zu berücksichtigen. Im Zentrum von Schechners 1985 erschienenem Buch Between Theatre and Anthropology steht der Begriff des »restored behavior«, des »rekodierten« oder »rekonstruierten Verhaltens«. Mit ihm ist eine Aktivität gemeint, die sich bewußt von der Person trennen läßt, die sie ausführt, eine Art ›Erfahrungsstreifen‹ (strip), der wie ein Zitat angeführt wird und wie ein Material bearbeitet und verwendet werden kann: »Rekodiertes Verhalten wird in allen Arten von Aufführungen verwendet, im Schamanismus, Exorzimus und in der Trance, im rituellen und ästhetischen Theater, in Initiationsriten und auch im sozialen Drama, in der Psychoanalyse, im Psychodrama und in der Transaktionsanalyse. Tatsächlich ist rekodiertes Verhalten das Hauptmerkmal einer Aufführung.«24 23 | Schechner, Richard, »Selective Inattention« (1976), in: Ders., Performance Theory, revised and expanded edition, New York/London 1994, S. 187-206, S. 190. 24 | Schechner, Richard, »Rekonstruktion von Verhalten«, in: Ders., Theateranthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich, aus dem Amerikanischen von Susanne Winnacker, Reinbek 1990, S. 157-226, S. 159.
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In allen Fällen, die Schechner anführt, wird der Einsatz rekodierten Verhaltens für alle Teilnehmer, das heißt für Akteure ebenso wie für Zuschauer, durch Rahmungsstrategien markiert, die bei beiden ein Bewußtsein für die Rollenhaftigkeit von Verhalten in Aufführungen bewirken und aufrechterhalten: »Das eigene Selbst kann als ein anderes handeln, das soziale oder transindividuelle Selbst besteht aus einer oder mehreren Rollen.«25 Wie Derrida die zitathafte Verwendung von Sprache und Judith Butler die Wiederholung körperlicher Akte als Merkmal des Performativen hervorheben, betont Schechner die Verwendung rekodierten Verhaltens, die dieses zu transformieren vermag, als kennzeichnend für Aufführungen. Von Schechners Theorie, die sich ihrerseits aus einer Fülle von soziologischen, ethnologischen, sprachwissenschaftlichen u.a. Theorien speist, ohne diese jeweils zu benennen, gingen für die weitere Theoriebildung vielfältige Impulse aus, die zur Weiterentwicklung einzelner Ideen oder auch zur Formulierung von Gegenpositionen geführt haben.26 Während Schechner in seinen Schriften von der Auffassung ausgeht, daß zwischen Theateraufführungen und anderen Aufführungsgenres lediglich graduelle Unterschiede bestehen, postuliert Josette Féral geradezu einen Gegensatz zwischen Theatralität und Performance. Dem Theater schreibt sie Repräsentation, Narrativität, Schließung, die Konstruktion von Subjekten in physikalischen und psychologischen Räumen, die Sphäre kodifizierter Strukturen und Zeichenhaftigkeit zu. Ihnen stellt sie als Gegensatz die Performance gegenüber, welche die Kompetenzen, Kodes und Strukturen des Theatralen auflöse und dekonstruiere. In Performances gebe es »nothing to grasp, project, introject, except for flows, networks, and system. Everything appears and disappears like a galaxy of ›transitional objects‹ representing only the failures of representation«. Performance »attempts not to tell (like theatre), but rather to provoke synaesthetic relationships between subjects« 27. Wie aus dem hier entwickelten Aufführungsbegriff hervorgeht, halte ich eine solche dichotomische Gegenüberstellung nicht für fruchtbar. 28 Wie bereits einleitend festgestellt, beinhaltet das semantische Feld von »Performance« einen wichtigen Aspekt, der von »Aufführung« nicht abgedeckt wird – den der Leistung. Auf ihn bezieht sich Jon McKenzie in seinem Buch Perform or Else: From Discipline to Performance (2001). Er untersucht, wie der Performance-Begriff sich in modernen Organisationsstrukturen und -theorien sowie in Technologiediskurs und -praxis entwickelt hat. Sein Erscheinen und seine Verwendung in diesen Kontexten stellt McKenzies Meinung nach Performance »at the power matrix of the New World Order, an order in which disorder is put to work, where bodies perform both physically and digitally, where new and multiple agents are maintained by audiovisual archives and transformed by liminautic power circuits«.29
25 | Ebd., S. 160. 26 | Vgl. dazu die hervorragende Übersicht über Performance-Theorien von Carlson, Marvin, Performance – a critical introduction, London/New York 1996, 2. erweiterte Auflage 2004. 27 | Féral, Josette, »Performance and Theatricality: The Subject Demystified«, in: Modern Drama, Bd. 25, S. 170-181, S. 179. 28 | Zu der von mit entwickelten Aufführungstheorie vgl. 2.1 sowie Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.a.O. 29 | McKenzie, Jon, Perform, or Else: From Discipline to Performance, London 2001, S. 189.
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In der Einleitung zu seinem Buch unternimmt er den kühnen »speculative forecast«, daß »performance will be to the twentieth and twenty-first centuries what discipline was to the eighteenth and nineteenth centuries, that is, an onto-historical formation of power and knowledge«.30 Damit weitet er das bis dahin bereits äußerst umfangreiche interdisziplinäre Forschungsfeld der Performance Studies in ungeahntem Maße weiter aus.
3. G RUNDLEGENDE F R AGESTELLUNGEN Aus den oben skizzierten Begriffen des Performativen und der Aufführung/Performance ergibt sich eine Reihe grundlegender Fragestellungen, die erfolgversprechend nur interdisziplinär zu bearbeiten sind. Nachfolgend seien exemplarisch sechs solcher Fragestellungen aufgegriffen. (1) Die erste betrifft den Subjekt-Begriff. Performative Prozesse und insbesondere der Selbsterzeugungsprozeß von Aufführungen widersprechen zum einen der Vorstellung vom autonomen Subjekt, das kraft eigenen Willens souverän entscheidet, was es tun und was es lassen will, das sich unabhängig von anderen und von »externen« Handlungsanweisungen frei entwerfen kann als die-/derjenige, die/der es sein will. Zum anderen opponieren sie ebenso heftig gegen die Vorstellung vom total fremdbestimmten Subjekt, das als Einschreibefläche von Diskursen erscheint und ohne eigenen Willen Einflüssen fremder Mächte unterworfen ist und dabei keine Verantwortung für sein eigenes Handeln trägt. Damit stellt sich die Frage, wie der Subjektbegriff aus der Perspektive des Performativen weiterentwickelt und neu formuliert werden kann.31 (2) Wenn wie in einer Aufführung die wahrnehmbaren Aktivitäten jedes einzelnen, ganz gleich, ob er als »Akteur« oder als »Zuschauer« auftritt, Auswirkungen auf andere haben, läßt sich das Verhältnis von Individuum und Gruppe/ Gemeinschaft kaum mit den herkömmlichen Kategorien fassen. Da, wie bereits dargelegt, es aufgrund der letztlichen Unverfügbarkeit der Aufführung einzelnen Individuen/Spezialisten kaum gelingen kann, mit ihren ausgeklügelten und kalkuliert eingesetzten Inszenierungsstrategien die »unschuldigen« Teilnehmer an der betreffenden Veranstaltung in ihrem Sinn zu manipulieren, vielmehr jeder, der an ihr teilnimmt, durch seine bloße Teilnahme Verantwortung für ihren Verlauf übernimmt, stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher agency neu. Welche Modelle des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft
30 | Ebd., S. 18. 31 | Mit einzelnen der nachfolgend skizzierten Fragestellungen haben sich Arbeitsgruppen des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« an der Freien Universität Berlin, der von 1999-2010 von der DFG finanziert wurde, auseinandergesetzt. Die jeweils angegebene Literatur ist aus ihrer Arbeit hervorgegangen. Zum Aspekt des Subjektbegriffs vgl. Husler, Evamaria/Koch, Elke/Scheffer, Thomas (Hg.), Drohung und Verheißung. Mikroprozesse in Verhältnissen von Macht und Subjekt, Freiburg i.Br. 2007.
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lassen sich unter Berücksichtigung unterschiedlicher kultureller Kontexte im Lichte des Performativen entwickeln?32 (3) Wie sich gezeigt hat, eignet dem Performativen eine spezifische transformative Kraft, die es vor allem durch Situationen von Liminalität, durch Schwellenerfahrungen entfaltet. Diese Situation wird häufig als eine Krise erfahren. Die Transformationen, die in ihr durchlaufen werden, können als Strategien zur Bewältigung der Krise begriffen werden. Wie Turner gezeigt hat, gilt die Transformation sowohl den Individuen, die so einen Status- oder Identitätswandel erfahren, als auch der Gemeinschaft, die sie in ihrer neuen Identität akzeptiert. Die Krise kann unter bestimmten Bedingungen bewältigt werden, indem eine lang andauernde Transformation bewirkt wird. In anderen Genres von Aufführungen wie Festen, Spielen, Konzerten, Dichterlesungen, Schauspiel-, Oper- und Tanzaufführungen, Aufführungen der Aktions- und Performance-Kunst, Sportveranstaltungen u.a. werden zwar auch Transformationen bewirkt. Sie sind allerdings in der Regel von kurzer Dauer; häufig überstehen sie nicht einmal das Ende der Aufführung. Lassen auch diese Transformationen sich als Strategien der Krisenbewältigung begreifen oder bedarf es dazu lang andauernder Transformationen? Wenn letzteres der Fall ist, stellt sich die Frage, ob die wiederholte Teilnahme an derartigen Aufführungen – sozusagen durch Akkumulation von Schwellenerfahrungen – imstande ist, längerfristige Transformationen von Zuschauern zu bewirken und eventuell gar einen Beitrag zur Herausbildung eines neuen Habitus (im Sinne eines durch spezifische Verkörperungsprozesse erworbenen Zustandes, der durch andere Verkörperungsprozesse wieder verändert werden kann) zu leisten. Dies Problem stellt eine besondere Herausforderung für die Kulturwissenschaften dar.33 (4) Da performative Prozesse durch das Zusammenspiel von Intentionalität und Kontingenz, Planung und Emergenz charakterisiert sind, müssen ihre Struktur und Verlauf, insbesondere das Zusammenwirken der sie konstituierenden Elemente, genauer untersucht werden. Besonderes Interesse gilt dabei dem Augenblick, in dem nicht geplante Phänomene unvorhersehbar auftauchen. Ist dieser Augenblick als Leerstelle, als Hiatus, als liminale Phase, als Latenz, als Potentialität oder »Third Space« (Homi Bhabha) angemessen zu beschreiben und zu begreifen? In jedem Fall öffnen sich in ihm performative Prozesse für das Auftauchen emergenter Phänomene; damit wird zugleich die Möglichkeit geschaffen, daß sie eine andere Richtung nehmen – eine Richtung, die nicht voraussehbar, geschweige denn intendiert war, ja eventuell nicht einmal vorstellbar erschien. Dabei gilt es allerdings zu bedenken, daß performative Prozesse vor und nach diesem Moment keineswegs linear verlaufen. Vielmehr scheint es gerade ihre Eigenart zu sein, daß sie, unabhängig davon, welche Richtung sie nach einem solchen Moment aufgrund der in ihm aufgetretenen Emergenz nehmen, in ihrem weiteren Verlauf wiederum von einem derartigen Moment ›unterbrochen‹ werden können und sofort ad libitum. Was im nachhinein häufig als ein in sich schlüssiger kultureller Gesamtprozeß konstruiert und interpretiert wird, löst sich hier in eine Struktur von Kehrtwendungen und 32 | Vgl. Audehm, Kathrin/Velten, Hans Rudolph (Hg.), Transgression – Hybridisierung – Differenzierung. Zur Performativität von Grenzen in Sprache, Kultur und Gesellschaft, Freiburg i.Br. 2007. 33 | Vgl. dazu Fischer-Lichte, Erika, Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Fachs, Tübingen/Basel 2010 (UTB 3103), S. 222-231.
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Abzweigungen auf, die zum Teil auf Kehrtwendungen und Abzweigungen anderer Prozesse treffen, so daß sich ein kaum mehr überschaubares Netzwerk herausbildet. Die Untersuchung derartiger Prozesse verspricht Aufschluß über spezifische kulturelle Dynamiken, die bisher kaum erforscht sind.34 (5) Besondere Fragen und Probleme ergeben sich aus der Verbindung von Performativität und Emergenz für die Wahrnehmung. Taucht das Wahrgenommene im Prozeß der Wahrnehmung auf oder entsteht es erst durch den Vorgang der Wahrnehmung? Um diese Frage beantworten zu können, wird vor allem zu klären sein, wie die im Raum erscheinenden Phänomene die Aufmerksamkeit eines Subjektes erregen. Wie bringen sie die Anwesenden dazu, sie wahrzunehmen? Kann man so weit gehen anzunehmen, daß es auch die Objekte sein können, welche sich die Subjekte wählen, deren Aufmerksamkeit sie auf sich ziehen? Ein ganz wichtiges Problem stellt in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Aisthesis und ästhetischer Warhrnehmung dar. Ist es das wahrnehmende Subjekt, das seine Wahrnehmung willentlich »umstellt«, oder springt seine Wahrnehmung im Akt des Wahrnehmens um, ohne daß das Subjekt darauf kontrollierend Einfluß zu nehmen vermag?35 (6) Die fünf oben skizzierten Probleme haben auch tiefgreifende Konsequenzen für das wissenschaftliche Arbeiten. Insofern wir wissenschaftliche Prozesse als performative Prozesse begreifen, stellt sich auch hier die Frage, inwieweit diese Prozesse planbar sind, ob das Neue, das in ihnen/mit ihnen/durch sie in die Welt kommen soll, sich intentional erzeugen läßt oder ob es nicht eher darum gehen muß, Situationen zu schaffen, in denen das Ungeplante, Nicht-Voraussagbare plötzlich und unerwartet von selbst sich einstellen kann – das heißt, aus den performativen Prozessen, an welchen die betreffenden Wissenschaftler beteiligt sind, unwillkürlich emergieren. Damit ist zugleich die Frage nach einer neuen Epistemologie gestellt.36 Die hier aufgeworfenen Fragen gelten grundlegenden Problemen der Kulturwissenschaften. Die bisher entwickelten Theorien des Performativen und der Aufführung/Performance stellen ein tragfähiges Fundament für ihre Beantwortung bereit. In unterschiedlichen Fallstudien sind in den letzten Jahren bereits eine Reihe entsprechender Forschungen durchgeführt, die vor allem einzelne Genres von Aufführungen – wie Aufführungen der Künste, Rituale, Gottesdienste, Sportwettkämpfe, politische Veranstaltungen – betreffen, sich zum Teil jedoch ausdrücklich auch Texten und Bildern aus der Perspektive des Performativen widmen. Sie haben die Fruchtbarkeit eines performanztheoretischen Ansatzes in den Kulturwissenschaften eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
34 | Brandstetter, Gabriele/Brandl-Risi, Bettina/van Eikels, Kai (Hg.), SCHWARM (E)MOTION. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i.Br. 2007. 35 | Vgl. Lechtermann, Christina/Wagner, Kirsten/Wenzel, Horst (Hg.), Möglichkeitsräume. Zur Performativität sensorischer Wahrnehmung, Freiburg i.Br. 2007. 36 | Vgl. Hempfer, Klaus/Traninger, Anita (Hg.), Dynamiken des Wissens, Freiburg i.Br. 2007 sowie Traninger, Anita, »Emergence as a Model for the Study of Culture«, in: Ansgar Nünning/ Brigitte Neumann (Hg.), Travelling Concepts for the Study of Culture, Berlin/New York 2010.
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4. M E THODOLOGISCHE P ROBLEME – A NALYSEBEISPIEL Für die Analyse von Aufführungen und performativen Prozessen sind überlieferte methodische Ansätze zur Text- und Bildanalyse oder auch eine rein semiotisch vorgehende Inszenierungsanalyse ungeeignet. Wie vorgegangen werden könnte, soll nachfolgend kurz am Beispiel einer Theateraufführung gezeigt werden – der Aufführung von Frank Castorfs Inszenierung Trainspotting (Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz 1997). Es wird dazu eine in der Theaterwissenschaft entwickelte Methode der Aufführungsanalyse angewandt, die sowohl die szenischen Vorgänge als auch die Publikumsreaktionen berücksichtigt, sowohl nach Bedeutungen als auch nach Erfahrungen fragt. Die Inszenierung bezog sich auf Irvine Welshs gleichnamigen Erfolgsroman und seine Verfilmung durch Danny Boyle (1996). Beide waren vielen Zuschauern bekannt – wie aus Unterhaltungen einzelner Gruppen zu schließen war, in denen gerade die Kenntnis des Romans, vor allem aber des Films als Grund für den Besuch genannt wurden. Die nachfolgende Analyse fragt danach, wie die Aufführung mit ihren spezifischen medialen Bedingungen umging, die sie von Film oder Roman unterscheiden, und was daraus für die Aufführung selbst folgt.37 Die Zuschauer wurden im Foyer von einem Mitarbeiter des Hauses begrüßt und gebeten, vor einer bestimmten Tür zu warten. Allmählich fanden sich weitere Besucher ein, welche die bereits erwähnten Gespräche führten. Als eine Gruppe von ungefähr zehn Personen beisammen war, öffnete der Mitarbeiter die Tür und führte die Gruppe durch winkelige labyrinthische Gänge treppauf, treppab zum Aufführungsraum. Einzelne Besucher äußerten ihre Besorgnis, daß sie wohl kaum den Rückweg allein finden würden. Eine leichte Verunsicherung wurde spürbar, aber auch eine gewisse Spannung. Endlich langten wir vor einer schmalen Tür an, die der Mitarbeiter öffnete. Einzeln traten wir über die Schwelle – und fanden uns verwundert auf der Bühne des Hauses wieder. Sie war nur schwach beleuchtet, so daß es eine Weile dauerte, bis die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und ich auf der Hinterbühne ein Sitzgerüst erkannte, auf dem bereits einzelne Personen Platz genommen hatten. Auf der Bühne waren Baulampen montiert, von denen ein schwaches Licht ausging. Wir neu Angekommenen machten uns über die Bühne auf den Weg zum Sitzgerüst, wobei ein Mann die Baulampen aus ihrer Verankerung riß. Einer der auf der Tribüne Sitzenden machte ihn halb schimpfend, halb lachend darauf aufmerksam. Eine Weile, nachdem »unsere« Gruppe Platz genommen hatte, öffnete sich die Tür erneut und der erste der nächsten Gruppe trat ein. Während wir bei unserer Ankunft die Akteure gewesen waren, denen die bereits auf dem Gerüst Plazierten bei ihren mehr oder weniger geschickten Versuchen, auf einen Platz auf dem Gerüst zu gelangen, zugeschaut hatten, gehörten nun auch wir zur Gruppe der Zuschauenden. Mit einem hämischen Lachen, aus dem eine gewisse Genug37 | Die Fragestellung entstand während meines ersten Besuchs der Inszenierung. Ich habe sie daraufhin noch ein zweites Mal besucht. Die Analyse wurde auf der Basis meiner Erinnerungen und zweier Erinnerungsprotokolle, die jeweils nach der Aufführung angefertigt wurden, durchgeführt. Eine Videoaufzeichnung wurde nicht verwendet. Die Analyse setzt mit Anfang und Ende der Aufführung ein, die besonders irritierend und mit Blick auf die Fragestellung ergiebig schienen.
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tuung sprach, machte derjenige, der über die Baulampen gestolpert war, nun einen anderen, dem dasselbe Mißgeschick passierte, darauf aufmerksam. Der solcherart Zurechtgewiesene bückte sich, um unter den Blicken eines kritischen Publikums umgehend die Lampe wieder auf ihren Platz zu rücken. Ähnliche Vorgänge wiederholten sich beim Eintritt weiterer Gruppen, bis endlich das Gerüst gefüllt war. Diese Art des Einlasses war in vieler Hinsicht irritierend. Zum einen wurde den Zuschauern nicht nur der Zugang zu dem ihnen bekannten Auditorium verwehrt. Sie wurden über unbekannte Wege, die man sich so schnell nicht merken konnte, so daß ein Gefühl von Desorientierung aufkam, an einen scheinbar unbekannten Ort geführt, der sich dann – zur großen Überraschung – als die Bühne herausstellte – als der Ort also, der »eigentlich« für die Schauspieler reserviert ist und an dem Zuschauer nichts verloren haben. Zum anderen wurden die Zuschauer – spätestens nachdem der erste auf dem Gerüst Platz genommen hatte – gezwungen, die Rolle von Akteuren zu übernehmen, denen andere bei ihren Handlungen zuschauen, was zu ganz unterschiedlichen Reaktionen führte: auf seiten der Akteure zu Ungeschicklichkeiten und Peinlichkeiten oder auch zu selbstbewusster Inbesitznahme der Bühne, ja geradezu einem Genuß des öffentlichen Agierens und der Selbstdarstellung – also zu verschiedenen »Inszenierungen« der AkteursRolle; auf seiten der Zuschauer zu Häme und Schadenfreude, zum Teil auch zu gutmütigem Gelächter oder Versuchen, auf die ungewohnte Situation mit einem gewohnten Publikumsverhalten zu reagieren – wie mit Gesprächen, Essen und Trinken, gelangweiltem oder gespanntem Abwarten. Mit diesem Verfahren wurde sowohl der Beginn der Aufführung als auch die Rolle der Zuschauer in einer bestimmten Weise definiert: Die Aufführung fängt in dem Augenblick an, in dem der erste Zuschauer im Aufführungsraum eintrifft. Um ihn betreten zu können, muß er sich von seinem vertrauten Milieu lösen, muß neue, unbekannte Wege gehen, die ihn durchaus desorientieren sollen, und so mit einer spezifischen Disposition als aktiv Teilnehmender den Aufführungsraum betreten. Die Rolle des Zuschauers wird damit als die eines Akteurs, allerdings einer ganz besonderen Art, bestimmt. Damit der Zuschauer im weiteren Verlauf der Aufführung die neue Rolle nicht vergaß, wurde er immer wieder an sie erinnert – vor allem vom Schauspieler Hendrik Arnst (Frank), der eine ausgesprochen stattliche Physis besitzt. Völlig unerwartet stürmte er auf einen Zuschauer in der ersten Reihe zu, baute sich bedrohlich vor ihm auf und stampfte, Fäuste schwingend, auf den Boden, so daß der Zuschauer erschreckt zurückfuhr. Während in der ersten Aufführung, die ich besuchte, dies zu Gelächter im Publikum führte, machte sich in der zweiten Empörung breit. Wenig später ging Arnst gemessenen, aber bestimmten Schrittes auf das Gerüst zu und beschimpfte eine ältere Frau in einer der oberen Reihen brüllend als »blöde Fotze«, weil sie ihn angeblich so »dämlich anglotzte«, was in beiden Aufführungen zu Gelächter im Publikum führte. Als in der ersten Aufführung nach ungefähr zwei Dritteln der Aufführungszeit ein Paar aufstand und zur Tür ging, sprang der Schauspieler Matthias Matschke zur Tür und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor sie. Er fragte das Paar in besorgtem Ton, ob ihnen die Aufführung etwa nicht gefalle, und flehte sie an, doch auf ihre Plätze zurückzukehren. Als sie darauf bestanden, den Raum zu verlassen, schimpfte er – zum großen Jubel des Publikums – wüst hinter ihnen her.
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Die Zuschauer wurden auf diese Weise immer wieder daran erinnert, daß sie nicht stille, distanzierte Beobachter waren, sondern aktive Teilnehmer, die durch ihr Verhalten in den Verlauf der Aufführung eingreifen und ihn mitbestimmen. Das Ende der Aufführung gestaltete sich ähnlich verhandlungsbedürftig und verhandelbar im wahrsten Sinne des Wortes. Den Schauspielern schien jedes Mittel recht zu sein, um den Zuschauern so viel Applaus wie nur irgend möglich zu entlocken. Sie verbeugten sich nicht nur lächelnd, sondern vollführten – wie Matthias Matschke – große Sprünge mit ausgebreiteten Armen, liefen hinter den Zuschauern her, die den Raum verlassen wollten, und verwickelten sie in ein Gespräch über die Aufführung. Sie fragten sie, warum sie denn jetzt schon gehen wollten, ob ihnen die Aufführung keinen Spaß mache; oder sie beschimpften sie dafür, daß sie mit ihrem Applaus derartig geizten. Die Zuschauer ließen sich zum Teil ins Gespräch ziehen, zum Teil würgten sie es ab und verließen belustigt oder geniert den Raum. Die Schauspieler mischten sich immer wieder unter die Zuschauer, schüttelten oder – im Falle von Zuschauerinnen – küssten ihnen die Hand, um sich jeweils persönlich bei ihnen für ihre Teilnahme zu bedanken. Sie taten anscheinend alles, was in ihren Kräften stand, um die Zuschauer daran zu hindern, die Bühne zu verlassen und versuchten so, die Aufführung in die Länge zu ziehen. In beiden Fällen bin ich nicht bis zuletzt geblieben, gehe jedoch davon aus, daß die Schauspieler ihre Versuche fortgesetzt haben, bis der letzte gegangen war. Die Rückkehr ins Foyer gestaltete sich dann erstaunlich einfach – ganz offensichtlich war der Hinweg zugleich ein Umweg gewesen. Er hatte sozusagen die irritierende, desorientierende Schwelle dar- und herstellen sollen, den Übergang vom Alltag in die Aufführung. Die Aufführung wurde damit als ein Geschehen definiert und realisiert, an dem alle aktiv beteiligt sind und das daher durch die Handlungen und Verhaltensweisen aller Anwesenden geschaffen wird. Damit markierte die Aufführung Trainspotting zugleich den fundamentalen Unterschied zum Roman und zum Film. Sie reflektierte auf die ihr eigenen medialen Bedingungen, die sich grundsätzlich von denen eines Romans und eines Films unterscheiden. Indem die Aufführung mit bestimmten theatralen Konventionen und in diesem Sinne mit dem Theaterrahmen spielte, lenkte sie die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf ihre eigene Rolle in der Aufführung, auf den Anteil, den ihre beobachtbaren Reaktionen an ihrem Verlauf haben – auf ihre Mit-Verantwortung. Indem Trainspotting auf diese Weise auf die eigene Medialität reflektierte, wurde zugleich die Notwendigkeit offenbar, bei einer Aufführungsanalyse auch die beobachtbaren Reaktionen einzelner Zuschauer zu berücksichtigen und Bedeutungen nicht ohne Rekurs auf Erfahrungen zu konstituieren. Der Theaterbegriff, welcher von der Aufführung realisiert und propagiert wurde, fokussierte die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern sowie die Performativität des autopoietischen Prozesses, als der die Aufführung entsteht.38 Eine Aufführungsanalyse läßt sich nur anwenden, wenn der Analysierende selbst an der Aufführung teilgenommen hat. Bei der Analyse von Aufführungen der Vergangenheit – oder selbst nicht besuchten Aufführungen – ist ein historio38 | Vgl. zu Problemen der Aufführungsanalyse Fischer-Lichte 2010, insbesondere Kapitel 4 »Aufführungsanalyse«, S. 72-100, sowie Roselt, Jens, »Kreatives Zuschauen – Zur Phänomenologie von Erfahrungen im Theater«, in: Der Deutschunterricht, Jg. LV, H. 2/2004, S. 46-56.
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graphischer Ansatz zu befolgen, der nicht nur Quellen zu den Intentionen der Inszenierenden, sondern auch zu den Erfahrungen der Zuschauer berücksichtigt.39
5. R EICHWEITE UND G RENZEN Bei den Performance Studies handelt es sich – wie bei den meisten im vorliegenden Band berücksichtigten Studies – um ein spezifisches Forschungsfeld, das nur interdisziplinär bearbeitet werden kann. Ihren Gegenstand stellen jede Art von Aufführungen dar, ohne daß im voraus zwischen künstlerischen und nichtkünstlerischen Aufführungen unterschieden würde. Während traditionell Festforschung vor allem von der Ethnologie, Soziologie und Geschichtswissenschaft betrieben wird, Ritualforschung von Religionswissenschaft, Theologie, Altertumsforschung, Ethnologie, Soziologie, Spielforschung von Philosophie, Psychologie, Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, die Erforschung von Sportwettkämpfen von Sportwissenschaft und Soziologie, Gerichtsverhandlungen von der Rechtsund Geschichtswissenschaft, Theateraufführungen von der Theaterwissenschaft – um nur einige Beispiele zu nennen –, wird in den Performance Studies davon ausgegangen, daß idealerweise Vertreter unterschiedlicher Disziplinen auf der Grundlage eines spezifischen Aufführungsbegriffs zusammenarbeiten. Der jeweils zugrunde gelegte Aufführungsbegriff ist dabei entscheidend. Der einleitend entwickelte Aufführungsbegriff erweist sich insofern als besonders produktiv, als er von der Unterscheidung zwischen Aufführung und Inszenierung ausgeht und dabei die Interaktion zwischen allen Beteiligten sowie das Zusammenspiel von Erfahrung und Bedeutung fokussiert. Auch wenn viele kulturelle Prozesse unter diesen Aufführungsbegriff fallen, gilt er keineswegs für alle. Die Grenzen des Forschungsfeldes werden entsprechend vom Aufführungsbegriff markiert. Man muß sich daher darüber verständigen, ob man mit dem englischen Begriff auch das gesamte semantische Feld übernimmt und damit Performance Studies in der Weise ausweitet, wie es McKenzie vorgeschlagen hat, oder sich auf den Aufführungsaspekt beschränkt. Im Unterschied zu den Performance Studies handelt es sich bei den Performative Studies nicht um ein neues Forschungsfeld, das bestimmten, bisher ignorierten oder erst kürzlich entstandenen kulturellen Phänomenen und Prozessen gilt. Vielmehr geht es bei ihm um eine grundlegend andere Sichtweise auf Kultur. So wie Austin »entdeckte«, daß Sprache nicht nur der Beschreibung von Sachverhalten dient, sondern mit dem Sprechen zugleich eine Handlung vollzogen wird, die eine neue Wirklichkeit schafft, läßt sich von einer »Entdeckung« der Performativität von Kultur sprechen. Nicht nur Aufführungen, sondern auch Texte, Bilder, Artefakte lassen sich aus der Perspektive des Performativen wahrnehmen und untersuchen. Bei den Performative Studies bzw. der Performativitätsforschung handelt 39 | Vgl. hierzu Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft, a.a.O., Kapitel 5 »Theaterhistoriographie«, S. 101-134; Horn, Christian, Der aufgeführte Staat. Zur Theatralität höfischer Repräsentation unter Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen, Tübingen/Basel 2004; Warstat, Matthias, Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918-33, Tübingen/ Basel 2005.
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es sich daher nicht – wie bei den Performance Studies und vielen anderen Studies – um ein begrenztes interdisziplinäres Forschungsfeld, sondern um eine bestimmte Sichtweise auf Kultur. So wie sich alle kulturellen Phänomene und Prozesse als Zeichen auffassen und deuten lassen, sind sie auch als performativ wahrzunehmen und entsprechend im Hinblick auf ihre Wirkungen zu untersuchen. Daher gehe ich davon aus, daß die von der bisherigen Performativitätsforschung entwickelten theoretischen und methodischen Ansätze in der Zukunft in ähnlicher Weise in den Grundbestand kulturwissenschaftlicher Arbeitsweisen eingehen werden, wie es mit den von der allgemeinen Semiotik und den Einzelsemiotiken entwickelten Ansätzen inzwischen längst der Fall ist.
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Sound Studies Holger Schulze
Das Märchen von der Entstehung einer Wissenschaft ist oft erzählt worden. An dieser Stelle soll keine heroische Gründungslegende erzählt werden, keine allzu elegante Zwangsläufigkeit soll erfunden werden. Der Verfasser ist Protagonist dieses wissenschafts- und hochschulpolitischen Geschehens der vergangenen Dekade und möchte eher im Vorübergehen die Merkmale aufsammeln und vorstellen, die bis in die Gegenwart die Sound Studies prägen: Strömungen, die das Hören und die Klänge in einer Verflechtung von Wissenschaften mit Künsten erkunden; Fragestellungen, die den künstlerisch-wissenschaftlichen Umgang mit Klängen bedenken; Vorgehensweisen schließlich, die vor allem hörend und klingend neue Erfahrungen und neue Erkenntnisse suchen. Das Ende dieser Geschichte ist nicht erreicht; erste internationale Buchreihen und Zeitschriften mit Peer-Review werden begründet; größere Studien, Habilitationen und Promotionen, Master- und Bachelor-Arbeiten erschließen im besten Sinne mit autodidaktischem Feuer der Begeisterung dieses junge Feld. Die Geschichte der Sound Studies wird mit diesem Beitrag weitererzählt und weitergeschrieben werden.
1. N ICHT W ISSENSCHAF T Neue Kulturforschungen, die dieser Band versammelt, wollen keine Wissenschaften im bekannten Sinn mehr sein. Der Begriff der Wissenschaft, den diese Buchreihe in ihrem Titel trägt, verweist in der deutschen Forschungskultur auf die Aufrichtung von systematisch geordneten und in porphyrischen Bäumen sich gabelnden Begriffs-, Bestimmungs- und Regelwerken. Historisch ist dieses Ziel dem Werk- und Autoritätsideal eines nationalstaatlichen wie -wissenschaftlichen Territorialdenkens des 19. Jahrhunderts verpflichtet. Sound Studies sind nicht Klangwissenschaft. Alle Formanten solch heroisch-hagiographischer Erzählungen der Wissenschaft (Werk, Begriff, Bestimmung, Regel, Autor etc.) stellen die Studies der Gegenwart infrage: Die Suche nach der einen Wahrheit – fragwürdiger Götze der Wissenschaftsgeschichte – sieht sich verstrickt in relationalen und situativen Abhängigkeiten. Im Gegensatz zur verdinglichenden Schließungsobsession und Omnipotenzbehauptung einer scientia, angezeigt im Deutschen durch das Suffix -schaft, wird
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das prozessuale Bemühen, die Bedeutung der Akteurinnen und Akteure sowie der offene methodische und genuin transdisziplinäre Ansatz im Bemühen des studere angezeigt. Nie auszuschließen ist das Verfehlen und Scheitern der Forschungsbemühungen. Wissenschaft dagegen braucht fest bestehende Korpora, Methoden, abgesteckte Forschungsfelder und Systematiken, bevor sie ihre Arbeit der Wahrheitsschöpfung aufnimmt: Inc. – Studies jedoch versammeln einen je nach forschender Protagonistin unterschiedlichen Satz erkenntnisförderlicher und empiriegesättigter Heuristiken, mit denen die Unsicherheit des Feldes erkundet wird: um bislang weißen Flecken unbeforschter Welt wissenschaftliche Dignität zu verleihen. Neue Kulturforschungen in diesem Sinne betonen die ethnische, leibliche, soziale und psychische Heterogenität der Forschenden und der Erforschten als Heterogenerativität: Jede/r kommt woanders her (und dies auf je andere Art). Das gilt es zu erforschen. Nach dem Ende eines bürgerlich-heroischen Begriffes von Wissenschaft sowie umgekehrt einer wissenschaftskritischen Öffnung in Hinsicht auf kulturelle, soziale und performative (Selbst-)Erfindungen der Wissenschaften sind Studies die gesundgeschrumpften Forschungsfelder nach ihrer Krisis. Studies sind Nicht- und Anti-Wissenschaften – ähnlich wie moderne Künste oft Nicht- und Anti-Künste sind. Sie erweitern überkommene Kunst- und Wissenschaftsbegriffe und öffnen sich in Fragen der Vorgehensweise füreinander. Sie wandeln als Parasiten ihr Wirtssystem bis zur gesellschaftskritischen, hochpolitischen Zeitgenossenschaft, zum Handeln auf Höhe der Zeit und state of the art. Hybride Wissenschaftskünste sind seit dem frühen 20. Jahrhundert die wirksamsten, generativen Kräfte zur Fortentwicklung von Wissenschaft und von Kunst. Der grundsätzliche Bruch aller Studies mit Wissenschaftskulturen bis dato wird in ihrer deutschsprachigen Rezeption oft nivelliert zu scheinbarer Synonymie. Forschungsrichtungen, die deutschsprachig sich ›-wissenschaft‹ nennen, sind nicht nur dem Namen nach vollkommen verschieden von scheinbar ähnlichen Forschungen unter dem Epitheton der Studies. Ihre Erkenntniswege und Darstellungsweisen entspringen verschiedenen bis unvereinbaren Wissenschaftskulturen. Die neuen Sound Studies gingen von zwei Quellen aus: Einerseits entstanden in den dezidiert globalisierten, da angelsächsisch geprägten Studies im Gefolge der notorischen Cultural Studies des CCCS Birmingham (1964-2002) eine Vielfalt von Forschungsrichtungen – die der vorliegende Band versammelt –, die möglichst viele (Welt-, Sub-, Mikro-)Kulturen und deren spezifische, alltägliche Empirie ins wissenschaftliche Gespräch bringen wollten. Zum anderen wurden in den ähnlich globalisierten Avantgarden der Künste seit den 1960er Jahren vor allem durch John Cage und Künstler des Fluxus die Kunst- und Wahrnehmungsformen, Medien und Praktiken vieler Kulturen und Formen des Alltagslebens ebenso neu ins künstlerische Spiel vor allem des Hörens und Klingens gebracht: erfinderische Ethnographie in modus artis. Die Forschungen der Sound Studies verbinden im besten Falle die Anliegen der Cultural Studies mit denen des Fluxus. Sie wollen sich der überraschenden Wirklichkeit ihrer Wahrnehmung und Kultur nicht verschließen in gedanklichen white cubes oder cleanrooms der Bibliotheken, Studios und Labors. Häuser der Künste und der Wissenschaften, chipkarten- und drehkreuzgesichert, klimatisiert, werden verlassen, wacklig ist deren Fundament. Akteurinnen und Akteure gingen und gehen zurück in ihr eigenes Leben, vor die Tür, auf die Straße, in Situationen der Dokumentation, Intervention, der Happenings, Aktionen und Performances. Sie
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hören um sich, befragen sich und andere, die mit ihnen sind und in einer, vielleicht nebenan ganz fremden, Kultur leben. Sound Studies hinterfragen im Sinne künstlerischer Forschungen von John Cage die hörbare Gestalt dieser Welt, indem sie Bedingtheiten und Erkenntnismöglichkeiten auditiver Wissenschaften und Künste erkunden als eine Art Cultural Studies in flux – in methodischen Hybridisierungen zwischen Künsten und Wissenschaften, neuen Synthesen oder Syrrhesen1 . Wie ist ein Leben als Wissenschaftlerin und/oder Künstler noch möglich?2 Wir beginnen eine Reise zu Klanglebensformen und Hörkulturen. Absolute Stille gibt es hier nicht, sie wäre Symptom von fehlender Bewegungs- und Resonanzfähigkeit, sprich: abgetötetem Leben.
2. A RTISTIC R ESE ARCH Die Erkundung der Klänge als sounds3 (Geräusche, Lärm, Wohlklang), ihrer Entstehung, ihrer Auswirkungen und ihrer Verankerung in menschlichen Gesellschaften und individuellen Lebensweisen, sie wurde historisch zuerst von Wissenschaftlern begonnen, die zugleich Künstler waren. Die wechselseitige Durchdringung von wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung prägt die Sound Studies bis heute. 4 Wissenschaftsgeschichtlich läßt sich mit Michel Serres und Michel Foucault, aber auch mit Paul Valéry, Walter Benjamin und Ludwig Fleck die Entstehung 1 | Ein Begriff für hybride Methoden-Synthesen, den der Wissenschaftshistoriker und Mathematiker Michel Serres schon 1985 in seinem sinnesanthropologischen Hauptwerk Les Cinq Sens propagierte: »nous rêvons confusément à l’acclimatation par notre langue d’un mot pour dire cette confluence. Nous n’avons pas de coverseau ni de syrrhèse.« Serres, Michel, Les Cinq Sens – Philosophie des corps mêlés I. Essai, Paris 1985, S. 174. (»Dann kommt uns der konfuse Wunsch, unsere Sprache möchte doch ein Wort bereitstellen, das diese Konfluenz, dieses Zusammenfließen zum Ausdruck bringt. Aber wir kennen weder coverseau noch ›Syrrhese‹.« Serres, Michel, Die Fünf Sinne. Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt a.M. 1993, S. 216.) 2 | Vgl. hierzu die beeindruckende, wissenschafts-ethnographische Studie: Beaufaÿs, Sandra, Wie werden Wissenschaftler gemacht? Beobachtungen zur wechselseitigen Konstitution von Geschlecht und Wissenschaft, Bielefeld 2003. 3 | Vgl. hierzu auch: Binas-Preisendörfer, Susanne, »Rau, süßlich, transparent oder dumpf – Sound als eine ästhetische Kategorie populärer Musikformen. Annäherung an einen populären Begriff«, in: Peter Wicke (Hg.), Das Sonische – Sounds zwischen Akustik und Ästhetik. Popscriptum 16 (2008), H. 10, Berlin 2008 (online: http://www2.hu-berlin.de/fpm/ popscrip/themen/pst10/Binas.pdf) sowie Papenburg, Jens Gerrit/Schulze, Holger, »Fünf Begriffe des Klangs. Disziplinierungen und Verdichtungen der Sound Studies«, in: Positionen − Texte zur aktuellen Musik 24 (2011), H. 86: Sound Studies, S. 10-15. 4 | Vgl. u.a. die klangkünstlerischen und wissenschaftlichen Arbeiten von Florian Dombois, Jan-Peter Sonntag, Sam Auinger; vgl. die Publikationen der Buchreihe Sound Studies, die seit 2008 erscheint; sowie die internationalen künstlerisch-wissenschaftlichen Zeitschriften The Journal of Sonic Studies, Interferences und SoundEffects, die 2011 erstmals erscheinen.
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einer neuen diskursiven Formation in den Wissenschaften regelmäßig an den normativen Rändern der zeitgenössischen Epistemologie, der Sprachformeln und der institutionellen Legitimation beobachten. Im Falle der Sound Studies ist dies besonders auffällig, da sowohl die ersten ehemals prononcierten Arbeiten als auch die gegenwärtig avanciertesten Entwicklungen stets aus einer personellen, institutionellen und methodischen Verbindung von Kunst und Wissenschaft hervorgegangen sind. Wenn ich den Schnitt des Beginns dieser Disziplin mit den historischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts und den Studien von Walter Ruttmann, Pierre Schaeffer, mit John Cage und Alvin Lucier ansetze oder mit den Arbeiten von Raymond Murray Schafer oder Barry Truax: In all diesen Fällen verflocht sich künstlerisch-gestalterische Empirie mit wissenschaftlich-konzeptuellem Begriff der Klänge – selbst in der Forschung des Physiologen und Pianisten Hermann von Helmholtz im 19. Jahrhundert. Vor allem die Untersuchungen von Schafer und Truax haben bis heute ihren Wert in den Sound Studies erhalten; ihre Schriften werden weiterhin als Grundlagen- und Einführungswerke genutzt und ihre Studien werden unmittelbar weiterentwickelt, da sie den Stadtraum, die Landschaft auf eine andere und neue Weise durchhorchten: Sie betonten die Sinnesvielfalt und Körperempfindung, zeichneten sie auf und führten gestaltend die Hörlandschaft der Welt ihren Zeitgenossen und uns vor Ohren. Den künstlichen Schnitt des Anfangs möchte ich darum bei diesen Forschungen ansetzen. Künstlerische Forschung war an der Simon Fraser University in Vancouver, an der Truax und Schafer forschten und komponierten, in einem Überkreuz aus avancierter Neuer Musik, aus Elektroakustik mit physikalisch-akustischer und technisch-akustischer Forschung möglich. Ästhetische Fragestellungen und künstlerische Probleme wurden allerdings nicht nur hier zu Forschungsfragen und Entwicklungsaufgaben: In allen factories oder Großateliers (Warhol, Hirst, Eliasson), in internationalen Studios (Hadid, Koolhaas, Foster) und Künstlerkollektiven (ZERO, Neue Slowenische Kunst), in Institutionen, die Wissenschaft und Kunst ineinanderführten (Bauhaus, Russische Akademie der Künste und Wissenschaften, De Stijl) wird und wurde derart nicht-festgelegt zwischen Tätigkeitsbereichen, Forschungsgebieten und Genres gesprungen. Künstlerisches Arbeiten sucht sich seine Themen, Methoden und Gegenstände offen und interessegeleitet – nicht aufgrund einer (womöglich gar staatlich) legitimierten Qualifikation. Diese höchst generative Verflechtung von künstlerischen mit wissenschaftlichen Arbeitsweisen wird seit einigen Jahren unter dem Begriff der artistic research zusammengefaßt.5 Sound Studies unternehmen eine methodische Verflechtung 5 | Die kontroverse Diskussion darüber kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden; grob gesprochen reicht sie von prozeduralen Fragen zur Bewertungsgrundlage akademischer Abschlüsse, sie streift begrifflich-komparatistische Differenzierungen zwischen dem englischen research oder deutscher Forschung, der norwegischen forskning bis hin zu respektvollen Abgrenzungen in norwegischer kunstnerisk utviklingsarbeid oder schwedischer konstnärlig forskning och utveckling; die Diskussion reicht schließlich bis zur kulturanthropologischen Frage einer wechselseitigen Ersetzbarkeit oder doch nur modischen Attraktivität, dem projizierten Exotismus und nobilitierender Sicherung von funding oder Drittmitteln der Künste durch die Wissenschaften und umgekehrt. 2011 erscheint erstmals ein neues, beeindruckend breit international verankertes Journal for Artistic Research als ausschließliches und medial subtil gestaltetes Online-Magazin: http://www.jar-online.net/. Vgl. Shiner,
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von künstlerischen mit wissenschaftlichen Praktiken im Verhältnis der Ergänzung. Der Anspruch hörender, künstlerischer Empirie treibt die Sound Studies an: Ich, als hörende Kreatur, bewege mich in der Welt und nutze mein gestaltendes Hören, mein Hervorbringen von Klängen als auditiven Weg, Erkenntnisse zu gewinnen. Artistic research der Sound Studies umfaßt Anregung und Arbeiten beider Welten – auf jeweils höchstem Niveau. Die bedeutsamsten Forschungsrichtungen und künstlerischen Strömungen der letzten Jahrzehnte gingen, wie im folgenden zu sehen sein wird, genau daraus hervor.
3. A COUSTIC E COLOGY Die Umwelt ist eine Klangumwelt. Diesen Grundsatz haben die künstlerisch-wissenschaftlichen Erkundungen der Soundscapes seit den 1960er Jahre an der Simon Fraser University sich zum Ausgangspunkt für ihre Forschungen genommen. Der Begriff der Soundscape sowie eine ganze Reihe von Hörweisen und weiteren Begriffen zur Bewertung und Beschreibung auditiver Ereignisse des täglichen Lebens außerhalb der Künste wurde in dieser Strömung geprägt. 6 Wissenschaftsgeschichtlich ist es das unzweifelhafte Verdienst dieser Klangökologie nach Schafer und Truax, einen internationalen Fachdiskurs über Wirkung und Gestaltbarkeit von Klängen im öffentlichen Raum zuerst begonnen und zugleich einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben. Die Fundierung künstlerischer Arbeiten auf wissenschaftlichen Fragestellungen, Studien und Erkenntnissen einerseits sowie die Beförderung neuer wissenschaftlicher Arbeiten aufgrund eines künstlerischen Gespürs für die Dringlichkeit neuer Fragestellungen machen acoustic ecology als ganze zu einem Schulbeispiel für artistic research. Methodisch bewegten die ersten Soundscape Studies sich aus den Aufnahmestudios und Archiven heraus in das offene Feld des Stadtraums, der Landschaft, der Architektur und der täglichen Arbeits- und Wohnräume. Schalläußerungen wurden durch Soundscape-Forscher aufgenommen, hörend erschlossen, teils in soundwalks anderen Hörenden erfahrbar gemacht (Hildegard Westerkamp). Naiver Dokumentarismus findet sich in dieser Empirie nur selten, da künstlerische Gestaltung durch Bewegung, Auswahl und Verdichtung grundlegend ist. Ein MikroLarry, The Invention of Art – A Cultural History, Chicago 2001; Borgdorff, Henk, »The Mode of Knowledge Production in Artistic Research«, in: Sabine Gehm/Pirkko Husemann/Katharina von Wilcke (Hg.), Knowledge in motion: perspectives of artistic and scientific research in dance, Bielefeld 2007; Schulze, Holger, »Was sind Sound Studies? Vorstellung einer neuen und zugleich alten Disziplin«, in: Ute Vorkoeper (Hg.), Hybride Dialoge. Rückschau auf die Modellversuche zur künstlerischen Ausbildung an Hochschulen im BLK-Programm »Kulturelle Bildung im Medienzeitalter«, Bonn 2005, S. 79-83. 6 | Schafer, Raymond Murray, The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Rochester NY 1977; Truax, Barry, Acoustic Communication (Series Communication and information science, Melvin J. Voigt, Hg.), Norwood, New Jersey 1984; Truax, Barry/ Westerkamp, Hildegard, »Documentary: The Changing Soundscape. A comparison of the 1973 and 1996 soundscapes of Vancouver«, in: Barry Truax/Hildegard Westerkamp, CD II: Soundscape Vancouver 1996, Vancouver 1996.
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fon kann als technische Apparatur nicht hören; es zeichnet indolent nach physikalischen Maßgaben auf – was menschliches Hören höchst selektiv, gestalterisch ordnend und deutend wahrnimmt. Hören ist eine Gestaltungspraxis, eine Kulturtechnik, audile technique, wie später noch zu sehen sein wird. Die Sound Studies haben darum kein schrift- und konzertgeprägtes Verständnis der Klänge. Klang ist nicht Schrift und eminente Performance, sondern Hörerfahrung und nonchalante Praxis.7 Bis heute diskutiert darum die Musikwissenschaft, ob solche Bemühungen überhaupt als würdiger Teil einer Partiturwissenschaft anzusehen wären – was sie selbstverständlich nicht sind. Die Traditionen, Erkenntnisse und Praktiken der Kompositionstheorie als einer genuin europäisch geprägten Form der Verschriftlichung spezifischer Künste und Wissenschaften des Hörens und des Musizierens, all dies geht zwar in Forschungen der Sound Studies mit ein; es steht jedoch als kulturrelative Schriftform hinter einer hörenden und klanglich gestaltenden, künstlerisch-wissenschaftlichen Erkundung gegenwärtiger und kulturhistorischer Erforschung früherer Hör- und Klangräume zurück, an vielen Orten der Welt, zu vielen Zeiten der Geschichte. Der messianische Ton8 jener Anfangstage der Klangökologie im Ankämpfen gegen damals zeitgenössische Widerstände und Ignoranz hat sich seither verflüchtigt. Die Klangumwelt wird nunmehr, bald ein halbes Jahrhundert später, nicht mehr nur von Künsten und Wissenschaften als eine Gestaltungsaufgabe wahrgenommen.
4. K L ANGKUNST In der Nachkriegszeit, Mitte des 20. Jahrhunderts, verdichteten sich die spätavantgardistischen Erkundungen der Sinnes- und Medienwirkungen. Was die klassischen Avantgarden unter dem Schock des Ersten Weltkrieges als Zerspielen und Zerstören überkommener Konsistenzen und Kohärenzen erprobten, erlangte im Fluxus nach einem Halbjahrhundert den Status eines Genres, das spielerisch genutzt und anverwandelt wurde. International zunächst unter Begriffen wie »Performance Art«, »Happening« oder »Intermedia« gefasst, entstand im deutschen Sprachraum in Galerien, Aktionsräumen und Theatern der Begriff der Klangkunst. Vergleichsweise schnell wurde er international angenommen als Bezeichnung neuer Arbeiten, die Kunst mit verschiedenen Medien unter Maßgabe des Auditiven zusammenführten. 7 | Corbin, Alain, Les cloches de la terre: paysage sonore et culture sensible dans les campagnes au XIXe siècle, Paris 1994 (engl.: Village Bells: Sound and Meaning in the NineteenthCentry French Countryside, New York 1998); Erlmann, Veit (Hg.), Hearing Cultures. Essays on Sound, Listening and Modernity, Oxford 2004; Feld, Steven, Sound and Sentiment: Birds, Weeping, Poetics, and Song in Kaluli expression, Philadelphia 1982; Johnson, James H., Listening in Paris. A Cultural History, Berkeley 1995; Szendy, Peter, Listen: A History of our Ears, New York 2008. 8 | Ein später Ausläufer dieses überkommen-messianischen Tones der Zivilisationsbeglükkung durch besseres Hören und Klanggestaltung war 2009 im Akustischen Manifest des Projektes Hörstadt der Kulturhauptstadt Linz zu lesen: www.hoerstadt.at.
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Die Musikwissenschaftlerin Helga de la Motte-Haber erkannte das Gewicht, das dieser neuen Kunst mit Klängen zukam. Sie beförderte die Erforschung dieser Künste, die ganz andere Betrachtungs- und Hörweisen erforderten, als Kunst- oder Musikgeschichte sie kannten. Ausstellungen wie Ganz Ohr als Begleitung zur documenta X in Kassel 1997 oder Sonambiente in Berlin 1996 versammelten herausragende Arbeiten der Klangkunst, die wissenschaftliche Forschung anregten: von der Empirie des Hörens aus anders über Raum, Bewegung, Körper und Zeit, Technik sowie Kultur zu denken.9 Die erste Generation klassischer Klangkünstlerinnen und -künstler wandelte durch ihre Arbeiten vor allem Raum, Bewegung und Materialität: der Architekt Bernhard Leitner, die Musikerin und Komponistin Christina Kubisch oder der Tonmeister Hans-Peter Kuhn, der bildende Künstler Rolf Julius oder die Bildhauer Ulrich Eller und Andreas Oldörp. Sie zeigten, wie Klänge unsere Gegenwart durchdringen und welche Gegenwart der vermeintlich flüchtige Klang besitzt. Neue Genres der Auseinandersetzung mit Klang bildeten sich hernach, die die skulpturale und bildkünstlerische Qualität der ersten Generation zunehmend ablegten. Nachfolgende Generationen wendeten sich stärker nicht-objekthaften, nicht-werkhaften auditiven Artefakten zu, an der Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft: bis hin zum Übergang in konzeptuelle (Florian Dombois), raum-musikalische (Peter Kiefer, Robin Minard, Georg Klein) oder architektonisch-urbanistische Arbeiten (z.B. Sam Auinger, Anders Bosshard). Kulturwissenschaft und Anthropologie ließen sich hierdurch anregen.
5. H ISTORISCHE A NTHROPOLOGIE Gehör und Klang sind kulturell geprägt. Dieser grundlegend kulturgeschichtlichen Erkenntnis nähert die Musikwissenschaft durch interdisziplinäre Studien sich zunehmend an. Neben französischer Mentalitätsgeschichte waren es die englischen Cultural Studies, die das tägliche Leben und den nicht nur künstlerischen Umgang mit Wahrnehmungen, Handlungen, dem Sinnlichen und Gewöhnlichen untersuchten.10 Ihre Studien historischer Quellen sowie ihr Zugang zu Jugendund Arbeiterkulturen, Kulturen der Migranten, Unterprivilegierten, aber auch der Subkulturen oder substreams11 (Weinzierl) haben auf unentdeckte Flecken in unserer unmittelbaren Lebenswelt hingewiesen. Ausgehend von lange übersehenen Arbeiter- und Alltagskulturen, entstand ein Bewußtsein der Möglichkeiten in Bildung und sozialem Aufstieg: Klassengegensätze schienen (zunächst in der 9 | De la Motte-Haber, Helga (Hg.), Klangkunst. Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Bd.12, Laaber 1999; Akademie der Künste, Berlin (Hg.), Klangkunst. München/New York 1996; Metzger, Christoph (Hg.), Sonoric Atmospheres. Ostseebiennale der Klangkunst, Saarbrücken, 2004; Schulze, Holger (Hg.), Sound Studies: Traditionen − Methoden − Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008 (Sound Studies Serie Volume 1). 10 | Bis heute wirkt als anregender Großessay hierzu: de Certeau, Michel, L’Invention du Quotidien, Vol. 1: Arts de Faire, Paris 1980 (dt.: Kunst des Handelns, Berlin 1988). 11 | Weinzierl, Rupert, Fight the Power! Eine Geheimgeschichte der Popkultur & die Formierung neuer Substreams, Wien 2000.
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britischen Kultur) durch Popkultur überwindbar. Das Wissen der Arbeiter und Angestellten, der Scheiternden und Gescheiterten, der Tragischen, Kranken, Kaputten und Armen, dieses Wissen und die Kultur, die sie lebten, sollten erweitert, repräsentiert und als genuine Kultur- und Wissensformen darstellbar werden. Gesellschafts- und Kulturkritik setzte hier neu an. Historische Anthropologie Berliner Prägung setzte diese Erkundung des Nahen als Fremden fort: Das Schwinden der Sinne12 versammelte 1984 wagemutige Schlüsseltexte – stilistisch oft am Rande gängiger Wissenschaftsprosa –, die das Unbehagen an kulturellen, gesellschaftlichen, technologischen und medialen Entwicklungen artikulierten. Diese Forschungen betonen – wie der Name schon sagt – die doppelte geschichtliche und kulturelle Gewordenheit:13 Nicht allein Gegenstände oder Phänomene, die wir untersuchen, sondern zugleich wir Forschenden selbst, unsere Methoden, Vorurteile und begriffliche Kategorien unterliegen kulturbedingter Geschichtlichkeit – unsere Sinnesregime und Körperverständnisse, Selbstverständnisse und -befragungen. Autoren wie Dietmar Kamper, Hans-Dieter Bahr, Gert Mattenklott, Gunter Gebauer und Christoph Wulf prägten diesen Ansatz, etwa in Zeitschriften wie den Paragrana14 . Im Jahr 1992 erschien dort ein erster, vorausweisender Band, der das Hören epistemisch erforschte: Das Ohr als Erkenntnisorgan. Es entstand eine hörende Kulturgeschichte der Klänge als Medien- und Sinnesanthropologie. Klanganthropologie in dieser Tradition verbindet Fragen der (Selbst-) Wahrnehmung als Körper mit historisierten Theorien der Sinne und des Denkens. Ihren Schwerpunkt verlagerte sie darum vom Senden und seinen Kulturtechniken auf das Empfangen von Klängen und seine Selbsttechniken.15 Hörende Menschen sind nicht Forschungsgegenstände, sondern auch Akteure der Untersuchung, worauf Magdalena Ulrich hinweist: »Eine Historische Anthropologie des Klangs ist keine Klangforschung mit anthropologischen Mitteln, sondern eine Anthropologie mit klanglichen Mitteln.«16 Wissenschaftliche Erkenntnis wandelt sich, denn 12 | Wulf, Christoph/Kamper, Dietmar (Hg.), Das Schwinden der Sinne. Frankfurt a.M. 1984. 13 | Vgl. hierzu auch Wulf, Christoph, Anthropologie. Geschichte – Kultur – Philosophie, Reinbek 2004 (Aktualisierte Neuausgabe: Köln 2009); Wulf, Christoph (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel 1997; Wulf, Christoph/Wünsche, Konrad, Historische Anthropologie. Zum Problem der Humanwissenschaften heute oder Versuche einer Neubegründung, Reinbek 1989. 14 | Darin auch die erste Publikation zur historischen Anthropologie der Klänge: Wulf, Christoph/Schulze, Holger (Hg.), Klanganthropologie: Performativität – Imagination – Narration. Paragrana 16 (2007), H. 2, Berlin 2007. 15 | Eine Forderung, die Michel Serres – auch als Autor der historischen Anthropologie – ebenfalls 1985 erhob: »L’emission l’emporte sur l’écoute, nous savons comment lancer un son et comment il se propage, nous pouvons le relayer, nous savons mal recevoir.« Serres, Michel, Les Cinq Sens – Philosophie des corps mêlés I. Essai, Paris 1985, S. 147 (»Das Senden siegt über das Hören; wir wissen, wie wir einen Ton aussenden können und wie er sich ausbreitet und wie wir ihn übertragen, aber vom Empfangen verstehen wir kaum etwas.« Serres, Michel, Die Fünf Sinne. Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt a.M. 1993, S. 184). 16 | Ulrich, Magdalena, Berührung zweiten Grades. Kritische Reflexion der Historischen Anthropologie des Klangs, Erlangen/Nürnberg 2009, S. 56; Schulze, Holger, »Bewegung
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artistic research in diesem Sinne verlangt nach literarischem Schreiben als künstlerischer Empirie. Die individuelle Empfindsamkeit der Forschenden wird zur Methode, der hörende Körper zum phänomenologischen Meßinstrument17. »Die Historische Anthropologie des Klangs zielt demnach auf einen neuen Erkenntniszugang ab, indem sie die Wirkungen auditiver Phänomene auf Individuen und das Empfangen von Klängen untersucht. Diese erkenntnistheoretische Position wird systematisch begründet, so dass Empfindungen theoriefähig werden.«18
6. S ONIC FICTIONS »But the main point is that I’m trying to bring out what I call the sonic fiction of records, which is the entire kind of series of things which swing into action as soon as you have music with no words. As soon as you have music with no words, then everything else becomes more crucial: the label, the sleeve, the picture on the cover, the picture on the back, the titles. All these become the jump-off points for your route through the music, or for the way the music captures you and abducts you into its world.« 19
Sonic Fiction als Begriff prägte Kodwo Eshun im Untertitel seines Opus magnum More brilliant than the sun. Aphoristischer Fund, terminologischer Spielversuch – am Anfang wurde er von Forschenden in Kunst und Wissenschaft genutzt, um ein suggestiv imaginierendes Körperhören zu benennen. Eshun spricht über Klang: »The African drumchoir complexifies the beat into distributed Polyrhythmachines, webbed networks of poly*counter*contra*cross*staggered rhythms that function like the dispersed architecture of artificial life by generating emergent consciousness.«20 Erzählungen wie diese erfinden mögliche Theorien des Klangs in epistemisch wirksamem Sinne: ouvroir de théorie potentielle. Klangwahrnehmung und -reflexion wird nicht auf naiv gedachte Narrative kausaler Sinneswirkungen oder kunst-/ kulturhistorische Referenzbeziehungen reduziert. Eshun entfaltet in actu, wie Klangartefakte progressives Schreiben und Denken in Literatur und Philosophie beerben. Sein Theorieroman erzählt Klänge in ihrer Materialität: »Each Drexicya EP – from 92’s Deep Sea Dweller, through Bubble Metropolis, Molecular Enhancement, Aquatic Invasion, The Unknown Aquazone, The Journey Home and Return of Drexciya to 97’s Uncharted – militarizes Parliament’s 70s and Hendrix’s 60s Atlantean aquatopias. Their underwater paradise is hydroterritorialized into a geopolitical subconti– Berührung – Übertragung. Einführung in eine historische Anthropologie des Klangs«, in: Ders. (Hg.), Sound Studies: Traditionen − Methoden − Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008, S. 137-159 (Sound Studies Serie Volume 1). 17 | Klangphänomenologisch hierfür grundlegend: Ihde, Don, Listening and Voice. Phenomenologies of Sound, New York 1976. 18 | Ulrich, Berührung zweiten Grades, a.a.O., S. 83. 19 | Eshun, Kodwo, »Motion Capture«, in: Ders., More Brilliant Than The Sun. Adventures in Sonic Fiction, London 1998, S. 178. 20 | Ebd., S. 5.
S OUND S TUDIES nent mapped through cartographic track titles: Positron Island, Danger Bay, The Red Hills of Lardossa, The Basalt Zone 4.977Z, The Invisible City, Dead Man’s Reef, Vampire Island, Neon Falls, Bubble Metropolis.« 21
Methode und Genre der Sonic Fiction oder der Klang Erzählung22 vermitteln wirksam individuelles Klangerleben und auditive wie sonische Praktiken. Wissenschaftliches Sprechen wird geöffnet und erweitert um künstlerische Schreibweisen: artistic research in Form des Essays. In Beiträgen der Cultural Studies oder Writing Cultures wurde die empirische Bedeutung narrativer und poetischer Darstellungsweisen früh erkannt23 – in den 1990er Jahren auch im deutschen Sprachraum genutzt.24 Literarisches und fiktionales Schreiben sind Erkenntnispraktiken, die in Narrationsforschung 25 und Wissenschaftskritik 26 längst propagiert werden. Genuine, empirical artist research der Kulturwissenschaften 27: neue Syrrhesen. 21 | Ebd., S. 83. 22 | Schulze, Holger, »Klang Erzählungen. Zur Klanganthropologie als einer neuen, empfindungsbezogenen Disziplin«, in: Oliver Grau/Andreas Keil (Hg.), Mediale Emotionen. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound, Frankfurt a.M. 2005, S. 215-223; Ulrich, Berührung zweiten Grades a.a.O. 23 | Z.B. Thornton, Sarah, Club Cultures. Music, Media and Subcultural Capital, Cambridge 1995; Vogt, Sabine, Clubräume – Freiräume: musikalische Lebensentwürfe in den Jugendkulturen Berlins, Kassel 2005. 24 | Höchst verdienstvoll vermittelten die zunächst journalistischen Arbeiten von Diedrich Diederichsen (seit den 1980er Jahren für die Musikzeitschrift Spex und seit den 1990er Jahren seine Essaybände) die popmusiktheoretischen Ansätze der Cultural Studies an eine breitere Fachöffentlichkeit. Weitergeführt wurden diese Theorie-Entwicklungen in: Poschardt, Ulf, Dj Culture, Frankfurt a.M. 1995; Bonz, Jochen (Hg.), Sound Signatures. Pop-Splitter, Frankfurt a.M. 2001; Wicke, Peter, Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Frankfurt a.M. 2001; Kleiner, Marcus S./Szepanski, Achim (Hg.), Soundcultures. Über elektronische und digitale Musik, Frankfurt a.M. 2003. Gilt doch, daß »ein guter Teil der großen Gefühle, gebunden an Namen, Gestalten und Sounds, Rhythmen und Melodien, gespeichert und global repräsentiert« wird. (Bonz, Jochen, »Vorwort«, in: Ders. (Hg.), Sound Signatures. Pop-Splitter, Frankfurt a.M. 2001, S. 11). 25 | Vgl. die Arbeiten von: Bal, Mieke, Narratology: Introduction to the Theory of Narrative, Toronto 1985; Dies., The Practice of Cultural Analysis: Exposing Interdisciplinary Interpretation, Palo Alto/California 1999 (dt.: Kulturanalyse, Frankfurt a.M. 2000). 26 | Vgl. hierzu Knorr-Cetina, Karin D., Die Fabrikation von Erkenntnis: zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1984; Dies., »Zur Produktion und Reproduktion von Wissen: Ein deskriptiver oder ein konstruktiver Vorgang? Überlegungen zu einem Modell wissenschaftlicher Ergebniserzeugung«, in: Wolfgang Bonß/Heinz Hartmann (Hg.), Entzauberte Wissenschaft. Zur Relativität und Geltung soziologischer Forschung, Göttingen 1985, S. 151-177; Dies., »Spielarten des Konstruktivismus. Einige Notizen und Anmerkungen«, in: Soziale Welt 40 (1989), S. 86-96. 27 | Schulze, Holger, »Sprechen über Klang. Vorüberlegungen zu einer künftigen Klanganthropologie«, in: Christa Brüstle/Matthias Rebstock/Georg Klein (Hg.), Reflexzonen/Migration. Musik im Dialog VI − Jahrbuch der berliner gesellschaft für neue musik 2003/2004, Saarbrücken 2006, S. 70-76; Ders., »Vom Wissenschaftlichen Sprechen. Für eine Heuristik der Theorie Erzählungen«, in: hyper[realitäten]büro/Holger Schulze (Hg.), Theorie Erzählun-
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7. A UDITORY D ISPL AY Klänge wurden funktional genutzt lange bevor Künste oder Wissenschaften dies taten. Die Gestaltung solch täglicher, nicht-konzertanter Klänge wird seit Jahren vor allem von den Technikwissenschaften vorangetrieben; Kommunikations- und Kulturwissenschaften wenden sich seit kurzem dieser Fragestellung zu.28 Als Auditory Display wird die gesamte Breite technischer und gestalterischer Möglichkeiten hörbarer Darstellung untersucht; zu einem großen Teil betrifft dieses Forschungsfeld Fragen der Sonifikation,29 der Hörbarmachung von Daten zu wissenschaftlichen oder alltäglichen Zwecken. Zwischen 2007 und 2011 erkundete das internationale und interdiziplinäre Forschernetzwerk Sonic Interaction Design30 zwischen den Technik-, den Kulturwissenschaften und Klangkünsten, wie Interaktion mit Menschen und Maschinen durch auditive Gestaltung sich ereignet oder gar befördert wird: in Gebrauchsgegenständen, neuen Interfaces, mit Spielgeräten, Gadgets, in Computersoftware. Wie Dinge klingen, beschäftigt neben dem Produktdesign seit auch etwa einem Jahrzehnt die Markenkommunikation im neuen Zweig des Sound oder Audio Branding.31 Funktionsklänge werden hierbei als Teil öffentlich-medialer Darstellung der Marke (eines Unternehmens, einer Institution, einer Person oder einer Konzeption) entworfen: Wie klingt Ihre Marke? Empirische Methode ist auch hier das Hören auf und Sprechen über Klänge. Merkantile Instrumentalisierung erzwingt aber die Sonic Fiction stringenter und nicht-relationaler Klangbedeutung: Die Semiotik der Klänge32 als dynamische und kulturell-gesellschaftliche, historisierte Konvention tritt hier hinter die Konzeptionsrhetorik scheinbar alternativloser Fügungen zurück. Forschungen zu Auditory Display machen individuelles Hören zum Gradmesser empirischer Evidenz, die üblicherweise nur Visualisierungen und logischen gen™. Persönliches Sprechen vom eigenen Denken − sinn-haft 9 (2005), H. 18, Wien 2005, S. 11-18. 28 | Spehr, Georg (Hg.), Funktionale Klänge. Hörbare Daten, klingende Geräte und gestaltete Hörerfahrungen, Bielefeld 2009 (Sound Studies Serie Volume 2). 29 | Vgl. Stephen Barrass, Auditory Information Design. PhD Thesis, The Australian National University 1998 (online: http://thesis.anu.edu.au/public/adt-ANU20010702.150218/index.html); Karin Bijsterveld, Mechanical Sound. Technology, Culture and public problems of Noise in the Twentieth Century, Cambridge, Mass./London, England: The MIT Press 2008; vgl. die Forschungsarbeiten von Thomas Hermann (http://sonification.de) und Gerhard Eckel (http://sonenvir.at); Langenmaier, Amica-Verena (Hg.), Der Klang der Dinge, München 1993. 30 | http://www.cost-sid.org. 31 | Bronner, Kai/Hirt, Rainer (Hg.), Audio-Branding. Entwicklung, Anwendung, Wirkung akustischer Identitäten in Werbung, Medien und Gesellschaft, München 2007; Bronner, Kai/ Hirt, Rainer (Hg.), Audio Branding. Brands, Sound and Communication, Baden-Baden 2009; Jackson, Daniel, Sonic Branding. An Essential Guide to the Art and Science of Sonic Branding, Basingstoke 2003. 32 | Vgl. die Ansätze von: Schaeffer, Pierre, A la recherche d’une Musique Concrète, Paris 1952; Ders., Traité des objets musicaux, Essais interdisciplines, Paris 1966; Thies, Wolfgang, Grundlagen einer Typologie der Klänge, Hamburg 1982; Flückiger, Barbara, Sound Design. Die Virtuelle Klangwelt des Films (Zürcher Filmstudien Band 6), Marburg 2002.
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Schlüssen zugestanden wird. Die genuine Empirie auditiver Studien wirkt damit auch von den Technikwissenschaften und der Markenkommunikation her dem kulturspezifisch eingewachsenen Primat des Visuellen entgegen. Artistic research als empirische Erkenntniskritik.
8. A UDILE TECHNIQUES Eine Kulturwissenschaft des Klanges entsteht seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Ihre wissenschaftstheoretisch bedeutsame Anknüpfung an die Cultural Studies und deren Erkundung des Sinneserlebens in alltäglichen und nicht-markierten Situationen wurde schon betont. Höchst einflußreich war der Auditory Culture Reader,33 in dem Michael Bull und Les Back 2003 eminente Forschungsarbeiten veröffentlichten und den Christoph Cox und Daniel Warner wenig später ergänzten durch eine Anthologie kanonischer Texte aus der Prähistorie der Sound Studies in Audio Culture.34 Eine kultur- und technikgeschichtliche Strömung gesellt sich diesen grundlegenden Forschungen zum täglichen Klangerleben an die Seite. Jonathan Sterne konzentriert sich in seiner Studie The Audible Past ganz auf das Ohr als ein modellhaftes (nicht das einzige!) Hörorgan – in Anschluß an von Helmholtz’ nicht unproblematische Modellierung des Hörens als auralen Signalfluß.35 Anhand einer Reihe von Hörgeräten36 (Papenburg) wie dem Stethoskop, Graphophon, Aufnahmestudio, den Kopfhörern, headsets bis zu Hörprothesen erkundet er die Medienarchäologie des Hörens und seiner technischen Apparaturen. Objekthistorie verfolgt genuin anthropologische Erkenntnisinteressen: »This book turns away from attempts to recover and describe people’s interior experience of listening – an auditory past – toward the social and cultural grounds of sonic experience. The ›exteriority‹ of sound is this book’s primary object of study«,37 Hörweisen werden als audile techniques, Hörkulturtechniken oder auditive Dispositive38 erfahrbar gemacht. 2002 verfolgte
33 | Bull, Michael/Back, Les (Hg.), The Auditory Culture Reader, New York 2003. 34 | Cox, Christoph/Warner, Daniel (Hg.), Audio Culture, New York 2004. 35 | Schulze, Holger, »Hypercorporealismus. Eine Wissenschaftsgeschichte des körperlichen Schalls«, in: Peter Wicke (Hg.), Das Sonische – Sounds zwischen Akustik und Ästhetik. Popscriptum 16 (2008), H. 10, Forschungszentrum Populäre Musik Humboldt-Universität zu Berlin 2008, http://www2.hu-berlin.de/fpm/popscrip/themen/pst10/Schulze.htm. 36 | Papenburg, Jens, »Hörgeräte. Zur Psychomathematik des akroamatischen Leibniz«, in: Axel Volmar (Hg.), Zeitkritische Medienprozesse, Berlin 2009, S. 367-381. 37 | Sterne, Jonathan, The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham/ London 2003, S. 13; vgl. auch seine ultimative Deutung des mp3-Kompressionsformats: Ders., »The mp3 as cultural artifact«, in: New Media and Society 8 (5), London/New Delhi 2006, S. 825-842. 38 | Großmann, Rolf, »Verschlafener Medienwandel. Das Dispositiv als musikwissenschaftIiches Theoriemodell«, in: Positionen – Beiträge zur Neuen Musik, H. 74 – Dispositiv(e), Februar 2008, S. 6-9.
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Emily Thompson in The Soundscape of Modernity 39 eine ähnlich gelagerte kulturhistorische Rekonstruktion objektivierter Hörweisen der frühen Moderne. Die Archäologie vergangener Hörkulturen und ihrer Medien könnte als Rückschritt hinter wissenschaftskritische und methodische Errungenschaften der Cultural Studies erscheinen. Doch zeigen Jacques Attali 40 und Jean-Luc Nancy41 , wie auf kulturhistorischer Grundlage körperliche Einlagerung und Ankerung von Hörerfahrungen, sonisches embodiment42 zu beschreiben wäre. Sie erzählen kulturellgesellschaftliche Hörweisen medienarchäologisch fundiert, die als Sonic Fictions anthropologisch wirksam werden: »To sound is to vibrate in itself or by itself: it is not only, for the sonorous body, to emit a sound, but it is also to stretch out, to carry itself and be resolved into vibrations that both return it to itself and place it outside itself.« 43 Mit Sonic Warfare veröffentlichte zuletzt Steve Goodman eine Untersuchung, die an seinen Kollegen Eshun anschließt und vergangene, aktuelle und künftige Hörwaffen in Sonic Fictions kultur- und gesellschaftskritisch imaginiert. 44 Auditiver Wissenschaft ist das Hören nicht allein philologischer oder experimenteller Gegenstand, sondern bevorzugte empirische Methode.45
9. A UR AL A RCHITECTURE Architektur und Klang bilden eine weitere interdisziplinäre Paarung, die die Sound Studies prägt: sei’s in umwelt- und stadtraumbezogenen Soundscape Studies der Acoustic Ecology oder klangkünstlerischen Erkundungen von orts- und gebäude39 | Thompson, Emily, The Soundscape of Modernity. Architectural Acoustics and the Culture of Listening in America 1900-1933, Cambridge, Mass./London 2002. 40 | Attali, Jacques, Bruits: essai sur l’économie politique de la musique, Paris 1977 (engl.: Noise. The political Economy of Music. Translated by Brian Massumi. Forword by Fredric Jameson. Afterword by Susan McClary, Minneapolis/London 1985). 41 | Nancy, Jean-Luc, À l’écoute, Paris 2002 (engl.: Listening. Translated by Charlotte Mandell, New York 2007). 42 | Varela, Francisco Javier/ Thompson, Evan /Rosch, Eleanor (Hg.), The Embodied Mind. Cognitive Science and Human Experience, Cambridge, Mass./London 1991; Gallagher, Shaun, How the Body Shapes the Mind, Oxford 2003; Noë, Alva, Action in Perception (representation and Mind), Cambridge, Mass./London 2005; Johnson, Mark, The Meaning of the Body. Aesthetics of Human Understanding, Chicago 2008; Krois, John Michael/Rosengren, Mats/Steidele, Angela/Westerkamp, Dirk (Hg.), Embodiment in Cognition and Culture, Amsterdam 2007. 43 | Nancy, Jean-Luc, Listening. Translated by Charlotte Mandell, New York 2007, S. 8. 44 | Goodman, Steve, Sonic Warfare. Sound, affect & the ecology of fear, Cambridge, Mass./London 2010. 45 | Dies belegt eindrucksvoll das 2011 erschienene, umfassende Oxford Handbook of Sound Studies, das den bislang vollständigsten Überblick zu kulturhistorischen und sozialwissenschaftlichen Forschungen der Sound Studies bietet: Die besten Studien dieses Bandes verbinden historisch-philologische Archivarbeit mit intensiver und persönlich durchgeführter Feldforschung: Bjisterveld, Karin/Pinch, Trever (Hg.), Oxford Handbook of Sound Studies, New York 2011.
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spezifischen Resonanzverhältnissen. 46 Aural Architecture geht aber einen Schritt weiter: Während Soundscapes und Klanginstallationen den gebauten Raum künstlerisch erkunden, ist auditive Architektur eine funktionale Ergänzung der Architekturgestaltung. Über herkömmliche Bau- und Raumakustik reicht sie hinaus, da ihr Anliegen nicht Lärm- und Vibrationsvermeidung ist – sondern Klangraumgestaltung. Eine angemessene Gestaltung der täglich erfahrbaren Klangumwelt ist auch hier das Ziel. Auditiv gestaltete Architektur beschränkt sich nicht auf Konzert- oder Kinosäle, die in vielen Fällen (horribile dictu nicht in allen!) detailgenau ausgemessen und entsprechend gestaltet werden. Sie wendet sich funktionalen Gebrauchsräumen täglichen Lebens zu: den Wohn- und Büro-, Konferenz- und Warteräumen, öffentlichen Vorplätzen oder Kreuzungen. Diese Orte werden nicht graphisch oder skulptural untersucht, sondern hinsichtlich ihrer sonischen Resonanzverhältnisse, wenn Menschen sie beleben und bewohnen. Nicht Bauzeichnung oder Modellskulptur ist ihr Arbeitsinstrument, sondern der Höreindruck des Raumkörperklangs, 47 den Menschen in ihrem täglichen Handeln vor Ort gewinnen – und der dokumentarisch durch eine technische Aufzeichnung ergänzt werden kann. Die empirische Untersuchung sensorischer Eindrücke ermöglicht also vor allem die Methode einer teilnehmenden Wahrnehmung vor Ort: ein Eintauchen in die Hörsituation, wie sie die Ethnographie in den Methodenfächer der Kultur- und Sozialwissenschaften eingebracht hat.48 Das historische Wissen auditiver Architektur ist anhand zahlloser eminenter Beispiele der Architekturgeschichte belegbar. Seine implizite, nie schriftlich niedergelegte Wissensform des Klanges49 verschwand allerdings mit ihren Handwerkskünsten. Sound Studies bemühen sich, dieses tacit knowledge früherer Epochen in ihren überlieferten auditiven Praktiken, ihren sonic practices zu erkunden und zu explizieren auf Grundlage aktueller Wissenschaften und Studien. 2006 konnten darum Barry Blesser und Linda-Ruth Salter das erste Standardwerk audi-
46 | Vgl. die umfangreichen Studien von Brigitte Schulte-Fortkamp: Schulte-Fortkamp, Brigitte, Geräusche beurteilen im Labor. Entwicklung interdisziplinärer Forschungsmethoden und ihre forschungssoziologische Analyse. Düsseldorf 1994; Dies., »How to define synergetic effects of combined sources?«, in: Journal of the Acoustic Society of America, Vol. 108, No. 5, Pt 2, December 2000, S. 2523; Dies., »Soundscapes in the sense of reaction to sound and vibration«, in: Journal of the Acoustic Society of America, Vol. 109, No. 5, Pt 2, May 2001, S. 2345. 47 | Vgl. Schulze, Holger, »Der Raumkörperklang. Eine Anthropologie des Mit«, in: Ders. (Hg.), Gespür. Empfindung. Kleine Wahrnehmungen. Klanganthropologische Studien, Bielefeld 2012 (Sound Studies Serie Volume 3; im Erscheinen). 48 | Vgl. hierzu auch die Forschungen in Grenoble seit 1997 durch das Centre de recherche sur l’espace sonore et l’environnement urbain (Cresson), angeführt durch Pascal Amphoux. Hellström, Björn, Noise Design. Architectural Modelling and the Aesthetics of Urban Acoustic Space, Göteborg 2003; Augoyard, Jean-François/Torgue, Henry (Hg.), Sonic Experience. A Guide to Everyday Sound, Montreal 2005. 49 | Schulze, Holger, »Wissensformen des Klangs. Zum Erfahrungswissen in einer historischen Anthropologie des Klangs«, in: Musiktheorie – Zeitschrift für Musikwissenschaft, 22 (2007), H. 4, Laaber 2007, S. 347-355.
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tiver Architektur veröffentlichen: Spaces Speak, Are You Listening?50 Zur Gestaltung von aural arenas fügen sie transdisziplinär künstlerisches, wissenschaftliches und gestalterisches Wissen der Klangumwelt zusammen in einer historisch fundierten und begrifflich beeindruckenden Sonic Fiction: Wie erleben Sie und ich den Ort, an dem ich oder Sie gerade jetzt sitzen, stehen, liegen? Wie klingt dieser Ort?
10. N E W M ATERIALISM Eine neue Forschungsrichtung bemißt sich zum einen nach dem Korpus an Methoden, Sichtweisen und neu erzeugten Gegenständen, den Entitäten ihres Diskurses; andererseits bemißt sie sich auch nach ihren Übergängen und Anschlüssen an übergreifende Strömungen: Was übersteigt ihre Grenzen und verlangt anschließende Forschungen? Sound Studies wurden im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts an Hochschulen weltweit etabliert (u.a. als Sound Cultures oder Auditory Studies) – nicht zuletzt als Teil der übergreifenden Strömung der Sensory Studies.51 Ganz aus der situativen und kulturell geprägten Materialität und Physis der Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen heraus wird Wahrnehmung als körperhaft untersucht. Zugunsten genuin kreatürlicher und supramodaler Wahrnehmung werden Hierarchien der Sinne als kulturell kontingent aufgegeben. Forschungsarbeit an sensorischer Empirie der Substanzen täglichen Lebens versammelte sich neu unter dem Feldzeichen New Materialisms. Als explizite Materialismen schließen sie an kritische Theorie, aber auch Dekonstruktion der letzten Jahrzehnte an; deren Gespür für übereilte Theoriekonzepte verbinden sie nun aber mit Analysen der subtilen Immanenz individuellen Erlebens in einer bestimmten Situation und singulären Person: hier und jetzt. Phänomenologie und Dekonstruktion − üblicherweise der Kumpanei unverdächtig − finden zueinander im geteilten Anliegen, das Spezifische und Individuelle, Idiosynkratische in Denken und Erleben, im Durchdringen von Sensualität und Intellektualität zu entfalten und nachzuzeichnen. Sensory Studies (und ähnlich die Sound Studies) wollen sich nicht auf etablierte Modelle und Beschreibungsweisen stützen, die sensorisches Empfindungsleben vorschnell quantifikatorisch konsumierbar zu machen versuchen. Die Einlagerung unserer Sinnesempfindung im Körper und unseren Handlungen, das embodiment, ist die zentrale Denkfigur, um eine reduktionistische Leib-Seele-Dichotomie zu entdenken. Methodisch orientie50 | Blesser, Barry/Salter, Linda-Ruth, Spaces Speak, Are You Listening? Experiencing Aural Architecture, Cambridge, Mass./London 2006. 51 | Camporesi, Piero, Le officine dei sensi. Il corpo, il cibo, i vegetali. La cosmografia interiore dell’uomo, Torino 1991 (engl.: The anatomy of the senses. Natural symbols in medieval and early modern Italy – English translation by Allan Cameron, Cambridge 1995); Corbin, Alain, Le miasme et la jonquille. L’odorat Et L’imaginaire Social Xviiie-Xixe Siècles, Paris 1986; Diaconu, Madalina, Tasten, Riechen, Schmecken – Eine Ästhetik der anästhesierten Sinne, Würzburg 2005; Howes, David (Hg.), Empire of the Senses. The Sensual Culture Reader, London 2005; Jones, Caroline A. (Hg.), Sensorium Embodied Experience, Technology, and Contemporary Art, Cambridge, Mass./London 2006.
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ren sich New Materialisms darum vor allem an phänomenologischer Darstellung der individuellen Empfindungsdrift immanenter Momentwahrnehmung. Sie entwickeln eine empiriegesättigte, sinnesbezogene Genauigkeit der Empfindung, in der Nachfolge etwa von Maurice Merleau-Ponty: Sensory fictions, Sinneserzählungen bilden die Grundlage dieser Forschung.52 Der Körper des Forschers ist das erste Meßinstrument; er führt in seiner je individuellen Idiosynkrasie, Geschichtlichkeit und Kulturalität über vereinfachende Kommunikation, eine halbtote Metapher, vorgefertigte Gefühls-Ready-Mades, Ready-Felts hinaus.53 Gesellschaftsveränderung durch Veränderung des Denkens, Forschens und Sprechens, des Wahrnehmens und schließlich eines forschenden und künstlerischen Lebens, dieses fundamentale Anliegen der Cultural Studies wie auch der Avantgarden des 20. Jahrhunderts kehrt in den Sensory Studies wieder – mit größter Wucht und interdisziplinär gestützt. Oder wie David Howes schreibt: »Sensory channels may not be modeled after linguistic forms of communication − a perfume is not the same as a sentence − but they are still heavy with social significance. […] From the empire of signs we enter the empire of the senses − and there are as much such empires as there are cultures.«54 Auf dieser Reise in eine Fülle sensorischmaterieller Kulturen befinden sich die Sound Studies: Sie treten künstlerisch und wissenschaftlich in Berührung mit Klängen in unseren Körpern.
52 | Eine Renaissance der Schriften Michel Serres’ kündigt sich darum an, durch einige, über 20 Jahre verspätete Rezensionen, Analysen und Abschlußarbeiten; insbesondere sein sinnesanthropologisches Hauptwerk Les Cinq Sens, das 1985 erschien, 1993 auf Deutsch, wird – so ist zu hoffen – eine folgenreiche Relektüre erleben, da die Übersetzung ins Englische Ende 2009 erschienen ist. Die Aneignung seiner narrativ-sensorischen Forschungsund Darstellungsweisen sowie seines wissenschafts- und gesellschaftskritischen Ansatzes in einem internationalen, angloamerikanisch geprägten Diskurs der Wissenschaften steht noch bevor. Es wäre zu hoffen, daß auch andere der neuen Kulturforschungen sich hierdurch anregen, ein Arbeiten beyond text zu erproben und zu etablieren. 53 | Eine profunde Kritik an massenmedial-demagogischer Kommunikations- und Gefühlspolitik gewann die italienische Erfahrung des Berlusconismo: Perniola, Mario, Contro la communicazione, Turin 2004 (dt.: Wider die Kommunikation. Aus dem Italienischen von Sabine Schneider, Berlin 2005); Ders., Del sentire (dt.: Über das Fühlen. Aus dem Italienischen von Sabine Schneider, Berlin 2009). 54 | Howes, David, »Introduction: Empires of the Senses«, in: Ders. (Hg.), Empire of the Senses. The Sensual Culture Reader, London 2005, S. 3f.
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Cultural Memory Studies/ Kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung Astrid Erll 1
Bei der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung – in der anglophonen Welt haben sich die Bezeichnungen Cultural Memory Studies bzw. kurz Memory Studies durchgesetzt 2 – handelt es sich um ein internationales und multidisziplinäres Forschungsfeld. Es entstand in den 1980er Jahren, im Kontext der allgemeineren anthropologischen ›Wende‹ in den Kulturwissenschaften und unter Rückgriff auf die bahnbrechenden Studien, die der französische Soziologe Maurice Halbwachs in den 1920er Jahren zur mémoire collective vorgelegt hatte. Geschichte, Soziologie, Politologie, Philosophie, Sozialpsychologie, die Neurowissenschaften sowie Kunst-, Literatur- und Medienwissenschaften beteiligen sich heute gleichermaßen an der Gedächtnisforschung. Aus der Perspektive der Cultural Memory Studies konstituiert sich ›Gedächtnis‹ als ein transdisziplinärer Forschungsgegenstand, der den interdisziplinären Dialog erfordert und ermöglicht. Umgekehrt bedeutet dies auch, daß kein Fach Anspruch auf alleinige Gültigkeit seiner Erkenntnisse erheben kann. Und tatsächlich zeichnet sich die Gedächtnisformung durch ihre nahezu einzigartige Verbindung von Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften aus. 3
1 | Ich danke dem »Netherlands Institute for Advanced Study« (NIAS), das mir im Rahmen eines Fellowship im akademischen Jahr 2009/10 ermöglicht hat, diesen Beitrag fertigzustellen. Mein besonderer Dank geht an die »Memory Group«, v.a. an Anna-Maria Brandstetter, Julia Noordegraaf, Pamela Pattynama und Ann Rigney. 2 | Vgl. die Zeitschrift Memory Studies (Hoskins, Andrew [Hg.], SAGE) und die gleichnamige, bei Palgrave erscheinende Buchserie; sowie Erll, Astrid/Nünning, Ansgar, in Zusammenarbeit mit Sara B. Young (Hg.), Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook, Berlin/New York 2008. 3 | Vgl. Eichenberg, Ariane/Gudehus, Christian /Welzer, Harald (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung: Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010.
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1. G EDÄCHTNISFORSCHUNG UND E RINNERUNGSPR A XIS Cultural Memory Studies interessieren sich für das Verhältnis von ›Gedächtnis‹ und ›Kultur‹4 – vom Einfluß soziokultureller Schemata auf die individuelle Erinnerung über die Dynamik der gemeinsamen Vergangenheitsbildung im familiären Alltagsgespräch bis hin zur gesellschaftlichen Produktion von ›Gedächtnis‹ (durch Geschichtspolitik, Historiographie, Literatur, Museen und Festtage) und schließlich zu transnationalen und globalen Erinnerungsorten wie ›Holocaust‹ und ›9/11‹. Angesichts dieses außerordentlich breiten Spektrums möglicher Untersuchungsgegenstände muß der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung zunächst eine möglichst weite Definition ihres Feldes zugrunde gelegt werden: Die memory studies widmen sich all jenen Vorgängen organischer, medialer und sozialer Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenem und Gegenwärtigem in kulturellen Kontexten zukommt. Der Begriff des Gedächtnisses hat recht unterschiedliche Verwendungen erfahren und immer wieder Kritik provoziert.5 Die Arbeit an den Begriffen gehört – im interdisziplinären wie im internationalen Dialog – immer noch zu den zentralen Herausforderungen der Gedächtnisforschung. Weitgehend Einigkeit scheint darüber zu herrschen, daß ›Gedächtnis‹ als eine Fähigkeit oder eine veränderliche Struktur, ›Erinnern‹ als ein Vorgang und ›Erinnerung‹ als dessen Ergebnis zu konzipieren ist. Erinnern und Vergessen sind die beiden Grundprozesse des Gedächtnisses: Vergessen ist Voraussetzung für Erinnerung; denn total recall, die lückenlose Erinnerung an jedes einzelne Ereignis der Vergangenheit, käme für das Individuum (ebenso wie für die Gruppe oder die Gesellschaft) dem totalen Vergessen gleich. Für die Ökonomie des Gedächtnisses, seine Fähigkeit zur Abstraktion und Schemabildung, ist Vergessen unabdingbar.6 Zwei Merkmale scheinen für alle Formen des (bewußten) Erinnerns zu gelten: Gegenwartsbezug und Konstruktivität. Erinnerungen sind niemals originalgetreue und objektive Abbilder vergangener Wahrnehmungen und Ereignisse. Es sind hochgradig selektive, subjektive und von der Abrufsituation abhängige Rekonstruktionen. Erinnern ist eine sich in der Gegenwart vollziehende Operation des Zusammenstellens (re-member) verfügbarer Daten. Vergangenheitsversionen ändern sich mit jedem Abruf. Erinnerung ist daher zwar nie ein ›Spiegel‹ der Vergangenheit, wohl aber ein aussagekräftiges Indiz für die Bedürfnisse und Belange der Erinnernden in der Gegenwart. Von grundlegender Bedeutung für die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung, die nicht selten mit metaphorisierten Begriffen operiert (das ›Gedächtnis‹ der Nation; das ›Gedächtnis‹ der Literatur), ist die klare analytische Trennung zweier Ebenen der Halbwachsschen mémoire collective, die der amerikanische So4 | ›Kultur‹ verstanden im weiten anthropologisch-semiotischen Sinne. 5 | Vgl. z.B. Gedi, Noa/Elam, Yigal, »Collective Memory – What Is It?«, in: History & Memory: Studies in Representation of the Past 8.1, 1996, S. 30-50. 6 | Für eine Kulturgeschichte des Vergessens vgl. Weinrich, Harald, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997; Schlüsseltexte der Gedächtnisphilosophie finden sich in Harth, Dietrich (Hg.), Die Erfindung des Gedächtnisses. Frankfurt a.M. 1991; eine Geschichte der Gedächtnismetaphorik bietet Douwe Draaisma, Die Metaphernmaschine. Eine Geschichte des Gedächtnisses, Darmstadt 1999.
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ziologe Jeffrey Olick als collected memory und collective memory bezeichnet.7 Bei collected memory (individuelle Ebene) handelt es sich um einen metonymisch verknappten Ausdruck für das sozial und kulturell geprägte organische Gedächtnis. Der Mensch erinnert mit Hilfe kulturspezifischer Schemata, stiftet Sinn gemäß kollektiven Wertsystemen und assimiliert Erfahrungen aus zweiter Hand in den eigenen Erfahrungsschatz. Olick benutzt die Metapher des Sammelns (»to collect«), um zu unterstreichen, daß sich das individuelle Gedächtnis Elemente des soziokulturellen Umfeldes aneignet, ohne die es nicht zu funktionieren in der Lage wäre. Zum wissenschaftlichen Gegenstand wird collected memory in der Sozialpsychologie, der Oral History und den Neurowissenschaften. Der Begriff collective memory (kollektive Ebene) hingegen bezeichnet die Symbole, Medien, Praktiken und Institutionen des überindividuellen, in Gruppen und Gesellschaften erfolgenden Bezugs auf Vergangenheit, wie sie im Rahmen der Geschichts-, Politik-, Literaturund Medienwissenschaften untersucht werden. ›Gedächtnis‹ wird hier zur Metapher, denn »äußere Relikte und Ordnungen haben kein Gedächtnis und sind kein Gedächtnis«.8 Beide Ebenen des Gedächtnisses – individuelle und kollektive bzw. organische und soziale/mediale – sind also zunächst analytisch zu trennen. Wirksamkeit entfalten sie jedoch erst in ihrem Zusammenspiel: Medien und soziokulturelle Kontexte prägen das organische Gedächtnis; und umgekehrt müssen kollektiv konstruierte Wissensbestände und Vergangenheitsversionen stets aufs neue durch Individuen aktualisiert werden. Mémoire collective ist also ein Sammelbegriff für die biologische, soziale und mediale Produktion von und Geprägtheit durch Vergangenheit. Es ist, wie Olick betont, vor allem ein sensitizing concept,9 ein für (oft überraschende) Zusammenhänge sensibilisierendes und damit Forschung aktivierendes Konzept. Nicht nur auf akademischem Gebiet, sondern in der gesamtgesellschaftlichen Praxis ist seit den 1980er Jahren ein »memory boom« 10 zu verzeichnen – und zwar weltweit. Die Gründe für diesen Boom sind zahlreich: Die Erinnerung an den Holocaust befand sich, vier Jahrzehnte nach dem Ereignis, im Stadium einer fundamentalen Transformation, denn mit dem Dahinscheiden der Erlebnisgeneration bricht auch die mündliche Überlieferung von Geschichte ab, und künftige Generationen sind allein auf Medien des Gedächtnisses (Bücher, Fotos, Filme) angewiesen. Aleida und Jan Assmann haben diese Phase als Übergang vom ›kommunika-
7 | »Two radically different concepts of culture are involved here, one that sees culture as a subjective category of meanings contained in people’s minds versus one that sees culture as patterns of publicly available symbols objectified in society.« Olick, Jeffrey K., »Collective Memory. The Two Cultures«, in: Sociological Theory 17.3, 1999, S. 333-348, hier S. 336. 8 | Schönpflug, Wolfgang, »Grammatik des Erinnerns«, in: Erwägen, Wissen, Ethik (EWE) 13, 2002, S. 222-225, hier S. 224. 9 | Vgl. Olick, »Collective Memory«, a.a.O. 10 | Huyssen, Andreas, Twilight Memories: Marking Time in a Culture of Amnesia, New York 1995. Ob kulturelle Erinnerung in heutigen Gesellschaften tatsächlich präsenter ist als in anderen historischen Epochen, erscheint fraglich. Auch bei der mittelalterlichen ›memoria‹ handelte es sich, wie Oexle betont, um ein »totales Phänomen«. Vgl. Oexle, Otto Gerhard (Hg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995.
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tiven‹ zum ›kulturellen Gedächtnis‹ bezeichnet.11 Zu den weiteren Gründen für die globale Aktualität des Phänomens ›Erinnerung‹ in den vergangenen Jahrzehnten zählen Dekolonialisierung, Migration und Multikulturalismus; die europäische Einigung; das Ende des Kalten Krieges und das Hervortreten neuer Nationalstaaten in Osteuropa und Asien; der Übergang von autoritären Regimen zu Demokratien (ob in Spanien, Argentinien oder Südafrika); Kriege und Terror des 20. und 21. Jahrhunderts. Ganz gleich, um welche Gruppen und Erinnerungen es sich handelt: Die grundlegende Aktivität der Erinnerungskultur scheint darin zu bestehen, daß im Zuge von Kommemoration Erzählungen über die Vergangenheit konstruiert, Ereignisse sinnhaft im Lauf der Geschichte verortet sowie Wertsysteme und kollektive Identitäten gestiftet und gefestigt werden. Diese Produktion kultureller Erinnerung verläuft prozeßhaft und performativ, und sie ist meist umkämpft. Sie kann scheitern, und sie erscheint (hierin liegt wahrscheinlich das eigentlich Neue des aktuellen memory boom) zunehmend selbstreflexiv. Die schwierige Aufgabe der ›Erinnerungsarbeit‹ in vielen Teilen der Welt und die damit verknüpfte Allgegenwart des Gedächtnis-Diskurses haben auch zu einer außergewöhnlichen gesellschaftlichen Präsenz und Relevanz akademischer Forschung geführt. Allerdings muß klar unterschieden werden zwischen einem Boom auf der Ebene kultureller Erinnerungspraxis (nicht selten sind damit veritable ›Erinnerungskriege‹ verknüpft, in denen dem Gedächtnis marginalisierter Gruppen Gehör verschafft werden soll, Opfer Anerkennung einfordern oder um Curricula für den Geschichtsunterricht gestritten wird) und einem Boom der Gedächtnisforschung. Auch wenn nicht zu leugnen ist, daß die Memory Studies einen Teil ihrer Popularität aus dem aktuellen gesellschaftlichen memory boom beziehen, sich in ihm positionieren müssen und ihn im Idealfall kritisch begleiten, zeichnet sich die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung doch durch ihre sehr viel weiterreichende, anthropologische Grundfragestellung nach dem Umgang des Menschen mit Zeiterfahrung aus. Daher sind die Memory Studies dezidiert auch historisch ausgerichtet (und erforschen Erinnerungskulturen von der Antike bis zur Gegenwart); und sie sind nicht gleichzusetzen mit Holocaust Studies, Trauma Studies oder der Erforschung nationalen Gedenkens, welche Teilbereiche des Feldes darstellen. Will man die Geschichte der Cultural Memory Studies rekonstruieren, so lassen sich drei Phasen unterscheiden: Die erste Phase bildet die Gedächtnisforschung der 1920er und 1930er Jahre, in denen der Zusammenhang von Gedächtnis und Kultur von Wissenschaftlern verschiedenster Disziplinen diskutiert wurde und Maurice Halbwachs sein einflußreiches Konzept der mémoire collective entwickelte. Die zweite Phase setzte etwa Mitte der 1980er Jahre ein: Pierre Nora veröffentlichte seine Bestandsaufnahme der ›Erinnerungsorte Frankreichs‹ (Lieux de mémoire, 1984-1992) und traf damit international auf eine enorme Resonanz; in Deutschland entwickelten Aleida und Jan Assmann etwa gleichzeitig die Theorie des ›kulturellen Gedächtnisses‹. Es sind vor allem diese beiden Ansätze, die zum Motor einer intensiven, mehr als zwei Jahrzehnte anhaltenden interdisziplinären Forschungsaktivität wurden, deren Hauptfokus auf der ›Nation‹ als Erinnerungsgemeinschaft ruhte. Möglicherweise stehen wir gerade am Beginn einer dritten Phase, in der die Gedächtnisforschung sich stark internationalisiert und mit ihrem 11 | Vgl. Assmann, Aleida/Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999.
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grundlegend veränderten Blick auf ›globale‹ und ›mediatisierte‹ Erinnerung einige überkommene Paradigmen des Feldes zur Disposition stellt.
2. M ÉMOIRE COLLECTIVE – M AURICE H ALBWACHS Der französische Soziologe Halbwachs (1877-1945), Schüler Henri Bergsons und Emile Durkheims, gilt heute als Ahnherr der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Als er am Beginn des 20. Jahrhunderts sein Konzept der mémoire collective entwickelte, kursierten verschiedene Theorien zur sozialen und kulturellen Dimension der Erinnerung. 12 Halbwachs’ Ansatz zeichnet sich vor allem durch die Explizität und Radikalität aus, mit der er Gedächtnis als kollektives Phänomen beschrieb, sowie durch den Reichtum seiner Fallstudien. In der heterogenen Landschaft der heutigen Memory Studies besteht ›Halbwachs‹ als einziger, über Disziplinen und Nationen hinweg gültiger Referenzpunkt. Halbwachs entwickelte seine Gedächtnistheorie in drei Schriften.13 1925 veröffentlichte er Les cadres sociaux de la mémoire, worin er versuchte, die soziale Bedingtheit der Erinnerung nachzuweisen. Damit richtete er sich gegen Gedächtnistheorien seiner Zeitgenossen Bergson und Freud, die Erinnerung als einen rein individuellen Vorgang verstanden. Halbwachs' These lautete, daß jede noch so persönliche Erinnerung eine mémoire collective, ein kollektives Phänomen sei.14 Über fünfzehn Jahre arbeitete er an seiner zweiten Schrift zum Thema, La mémoire collective, die allerdings erst 1950 unvollständig und postum erscheinen sollte – Halbwachs wurde von den Nazis in Buchenwald ermordet. Zuvor veröffentlichte er ein drittes Buch, das an einem Fallbeispiel die Formen und Funktionsweisen des kollektiven Gedächtnisses aufzeigt, La Topographie légendaire (1941).
12 | Das Spektrum der am Beginn des 20. Jahrhunderts zirkulierenden Ansätze reicht von der Psychoanalyse Sigmund Freuds und Henri Bergsons Zeitphilosophie über das kunsthistorische Konzept eines ›sozialen Gedächtnisses‹, wie es Aby Warburg in seinem Mnemosyne-Atlas entwarf, bis hin zu Arnold Zweigs Überlegungen zu ›Gruppenleidenschaften‹, Siegfried Kracauers Gedanken über Photographie und Gedächtnis, Walter Benjamins Geschichtsphilosophie, Wilhelm Pinders und Karl Mannheims Abhandlungen über den Begriff der ›Generation‹ und schließlich zu Frederic Bartletts psychologischen Experimenten zu kulturspezifischen Schemata. Vgl. Olick, Jeffrey K./Vinitzky-Seroussi, Vered/Levy, Daniel (Hg.), The Collective Memory Reader, Oxford 2010. 13 | Halbwachs, Maurice, Les cadres sociaux de la mémoire, 1925. Gérard Namer (Hg.), Paris 1994; Halbwachs, Maurice, La topographie légendaire des Évangiles en Terre Sainte: étude de mémoire collective, Paris 1941; Halbwachs, Maurice, La mémoire collective, 1950. Gérard Namer (Hg.), Paris 1997. 14 | Halbwachs erntete heftigen Widerspruch, nicht zuletzt von seinen Kollegen an der Universität Straßburg, Charles Blondel und Marc Bloch. Bloch warf Halbwachs, wie der Durkheim-Schule generell, eine unzulässige Kollektivierung individualpsychologischer Phänomene vor – ein Vorwurf der sich durch die Geschichte der Memory Studies und ihrer Kritiker ziehen sollte. Vgl. Bloch, Marc, »Mémoire collective, tradition et coutume«, Revue de Synthèse Historique 40, 1925, S. 73-83.
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Halbwachs hat verschiedene Schlüsselkonzepte und Grundgedanken der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung entwickelt, die noch heute kontrovers diskutiert werden und im folgenden daher kurz rekapituliert seien: (1) Soziale Rahmen des Erinnerns: Die soziale Bedingtheit des individuellen Gedächtnisses erläutert Halbwachs mit dem Konzept der cadres sociaux. Im wörtlichen Sinne stehen ›soziale Rahmen‹ für die uns umgebenden Menschen, in deren Kreise wir Erfahrungen machen und die uns bei dem Abruf von Erinnerung behilflich sein können. Im metaphorischen Sinne erweist sich das individuelle Gedächtnis als ›sozial gerahmt‹: Erfahrung und Erinnerung werden geleitet durch Wissensbestände und Schemata, die wir in soziokulturellen Kontexten erwerben. Diese Überlegungen werden heute vor allem in der Sozialpsychologie und Schematheorie weitergeführt. (2) Individuelles und kollektives Gedächtnis: Das sozial gerahmte Gedächtnis des Einzelnen unterscheidet Halbwachs von dem Gruppengedächtnis, das er jedoch nicht als eine vom Individuum losgelöste, überindividuelle Instanz begreift. Vielmehr stehen beide Ebenen in einer Beziehung wechselseitiger Abhängigkeit, so daß »das Individuum sich erinnert, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht und offenbart in den individuellen Gedächtnissen«. 15 Erst über individuelle Erinnerungsakte wird das kollektive Gedächtnis beobachtbar, denn »jedes individuelle Gedächtnis ist ein ›Ausblickspunkt‹ auf das kollektive Gedächtnis«. 16 Dieser Ausblickspunkt ist als Standort zu verstehen, den Menschen aufgrund ihrer Sozialisation und kulturellen Prägungen einnehmen. Jeder Mensch gehört mehreren sozialen Gruppen an: der Familie, der Religionsgemeinschaft, der Belegschaft am Arbeitsplatz usw. Er verfügt daher über einen Vorrat unterschiedlicher, gruppenspezifischer Erfahrungen und Denksysteme. Nicht die Erinnerung selbst also, sondern die Kombination der Gruppenzugehörigkeiten und daraus resultierender Erinnerungsformen und -inhalte sind demnach das wirklich Individuelle, das die Gedächtnisse einzelner Menschen voneinander unterscheidet. In Halbwachs’ Schriften verschwimmt die Unterscheidung zwischen der individuellen und der sozialen Ebene der Erinnerung immer wieder. Die heutige Gedächtnisforschung plädiert für eine analytische Trennung zwischen collective und collected memory (J. Olick), um davon ausgehend das komplexe Zusammenspiel von organischen, sozialen und medialen Phänomenen bei der Erzeugung von Erinnerung zu untersuchen. (3) Gruppengedächtnisse: Halbwachs unterscheidet verschiedene Ausprägungen des kollektiven Gedächtnisses und führt im zweiten Teil von Les cadres sociaux einige soziologische Fallbeispiele an – Familie, Religionsgemeinschaft, soziale Klassen. Das Familiengedächtnis ist ein typisches intergenerationelles Gedächtnis. Seine Träger sind all jene Familienmitglieder, die den Erfahrungshorizont des Familienlebens teilen. Ein derartiges kollektives Gedächtnis konstituiert sich durch soziale Interaktion und durch Kommunikation, das wiederholte gemeinsame Vergegenwärtigen der Vergangenheit. Durch mündliche Erzählungen, bei Familienfesten etwa, haben auch diejenigen am Gedächtnis teil, die das Erinnerte nicht selbst miterlebt haben. Auf diese Weise findet ein Austausch »lebendiger Erinne15 | Halbwachs, Maurice, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985, S. 23. 16 | Halbwachs, Maurice, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1991, S. 31.
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rung« zwischen Zeitzeugen und Nachkommen statt. Das kollektive Generationengedächtnis reicht daher so weit, wie sich die ältesten Mitglieder der sozialen Gruppe zurückerinnern können. Heute widmet sich insbesondere die Oral History der Erforschung solcher Gruppen-, Generationen- und Familiengedächtnisse. (4) Traditionsbildung: Die Begrenzung seiner Untersuchungen auf Generationengedächtnisse, deren Medium die alltägliche Kommunikation ist und deren Inhalte sich aus dem individuell-autobiographischen Gedächtnis von Gruppenmitgliedern speisen, durchbricht Halbwachs in Les cadres sociaux schon in den Kapiteln zum Adel und zu religiösen Gruppengedächtnissen und erst recht in seiner späteren Studie zur christlichen Gedächtnis-Topographie Palästinas. In La topographie légendaire wendet er seine Aufmerksamkeit stärker geformten kollektiven Gedächtnissen zu, deren Erinnerung über Tausende von Jahren hinwegreicht und die daher der Gegenstände und Gedächtnisorte zur Rahmenbildung bedürfen. Materiale Phänomene (Architektur, Pilgerwege, Gräber etc.) treten in den Vordergrund der Betrachtung. An dieser Stelle überschreitet Halbwachs den Untersuchungsbereich der kollektiv geprägten Erinnerung an gelebte Geschichte und tritt ein in den Bereich des kollektiv konstruierten Wissens über eine ferne Vergangenheit und Überlieferung durch Traditionsbildung. Diese Form des Erinnerns wird heute von Aleida und Jan Assmann als ›kulturelles Gedächtnis‹ bezeichnet. (5) Konstruktivität der Erinnerung: Halbwachs betont, daß sich das Gedächtnis an den Bedürfnissen und Belangen der Gruppe in der Gegenwart orientiert und daher stark selektiv und rekonstruktiv verfährt. Dabei sind Verzerrungen und Umgewichtungen bis hin zur Fiktion möglich. Ein Abbild der Vergangenheit liefert das Gedächtnis daher nicht; im Gegenteil ist die Erinnerung »in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen vorbereitet.«17 Konstruktivität und Gegenwartsorientierung der Erinnerung gehören heute zu den Grundannahmen der Memory Studies. (6) Geschichte vs. Gedächtnis: Halbwachs' Gegenüberstellung von »gelebter« und »geschriebener Geschichte« ist sein populärstes und zugleich sein problematischstes Erbe. Für Halbwachs schließen beide Formen des Vergangenheitsbezugs einander aus. Er betont, »daß die Geschichte im allgemeinen an dem Punkt beginnt, an dem die Tradition aufhört – in einem Augenblick, an dem das soziale Gedächtnis erlischt und sich zersetzt«.18 Geschichte und Gedächtnis sind unvereinbar: Geschichte ist für Halbwachs universal, sie zeichnet sich durch die unparteiische Gleichordnung aller vergangenen Ereignisse aus. Im Zentrum ihres Interesses stehen Gegensätze und Brüche. Das kollektive Gedächtnis hingegen ist partikular. Seine Träger sind zeitlich und räumlich begrenzte Gruppen, deren Erinnerung stark wertend und hierarchisierend ist. Eine zentrale Funktion des Vergangenheitsbezugs im Rahmen kollektiver Gedächtnisse ist Identitätsbildung. Erinnert wird, was dem Selbstbild und den Interessen der Gruppe entspricht. Hervorgehoben werden dabei vor allem Ähnlichkeiten und Kontinuitäten, die demonstrieren, daß die Gruppe dieselbe geblieben ist. Die Teilhabe am kollektiven Gedächtnis zeigt an, daß der Erinnernde zur Gruppe gehört. Während der von Halbwachs betonte Zusammenhang von Gedächtnis, sozialer Formation und kollektiver Identität viel17 | Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, a.a.O., S. 55. 18 | Ebd. S. 66.
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fach produktiv weitererforscht wurde,19 hat sich die Opposition ›Geschichte versus Gedächtnis‹ in den memory studies eher als hinderlich denn als förderlich erwiesen. Die Gedächtnistheorien der 1920er Jahre spielten nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch eine marginale Rolle. Erst in den 1980er Jahren besann man sich erneut auf die Schriften von Halbwachs, Warburg, Benjamin und anderen. Sie wurden zum Ausgangspunkt einer interdisziplinären Gedächtnisforschung, die vor allem Fragen nach dem Zusammenhang von gesellschaftlichem Vergangenheitsbezug, Erinnerungspolitik, Wertesystemen und kollektiver Identität nachging. Die einflußreichen Ansätze von Pierre Nora und Aleida und Jan Assmann seien im folgenden exemplarisch für die Forschung jener ›zweiten Phase‹ dargestellt.
3. L IEUX DE MÉMOIRE – P IERRE N OR A Bei Les lieux de mémoire (dt. ›Die Orte der Erinnerung/des Gedächtnisses‹) handelt es sich um eine siebenbändige, ab Mitte der 1980er Jahre erschienene Kulturgeschichte des französischen Gedächtnisses.20 Herausgeber ist Pierre Nora (*1931), Historiker der sogenannten dritten Generation der Annales-Schule und Vertreter der nouvelle histoire. Mit Les lieux de mémoire hat Nora die neuere Erinnerungshistorie begründet. In drei Hauptteilen (La République, La Nation und Les France) mit über 130 Essays beleuchten AutorInnen unterschiedlicher Disziplinen Aspekte des französischen Gedächtnisses – von ›Paris‹ über ›Voltaire‹ bis hin zum ›Café‹. Das Projekt übte starken Einfluß auf die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung aus. Wie kein anderes Werk prägte es die internationale Diskussion über Formen kultureller Erinnerung und nationalen Gedenkens. In seinem programmatischen Aufsatz »Entre mémoire et histoire«, der dem ersten Band von Les Lieux de mémoire vorangestellt ist, behauptet Nora: »Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt.«21 An die Stelle des Gedächtnisses seien ›Erinnerungsorte‹ getreten. Erinnerungsorte sind in der Tradition der antiken Mnemotechnik als loci (Örter) im weitesten Sinne zu verstehen, die die Erinnerungsbilder (imagines) der französischen Nation aufrufen. Sie können geographische Orte, Gebäude, Denkmäler und Kunstwerke ebenso umfassen wie historische Persönlichkeiten, Gedenktage, philosophische Texte, Redeweisen oder symbolische Handlungen. So zählen Versailles und der Eiffelturm zu den französischen Erinnerungsorten, aber auch Jeanne D’Arc, die französische Flagge, der 14. Juli, die Marseillaise und Prousts Romane. Kritiker haben angesichts dieser Heterogenität die Frage gestellt, was eigentlich alles zum Erinnerungsort werden kann. Die Antwort lautet vermutlich: Sämtliche kulturelle Phänomene, die von 19 | Vgl. z.B. Assmann, Aleida/Friese, Heidrun (Hg.), Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität, Frankfurt a.M. 1998; Giesen, Bernhard, Kollektive Identität, Frankfurt a.M. 1999; Ben-Amos, Dan/Weissberg, Liliane (Hg.), Cultural Memory and the Construction of Identity, Detroit 1999. Kritisch hingegen Niethammer, Lutz, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000. 20 | Nora, Pierre (Hg.), 1984-1992, Les lieux de mémoire I. La République, Paris 1984; Les lieux de mémoire II. La Nation, Paris 1986; Les lieux de mémoire III. Les France, Paris 1992. 21 | Nora, Pierre, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1998, S. 11ff.
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einer Gesellschaft in Zusammenhang mit nationaler Vergangenheit und Identität gebracht werden. Allerdings vermögen solche Erinnerungsorte kein einheitliches Gedächtnis zu stiften. Ganz im Gegenteil erklärt Nora: »Es gibt lieux de mémoire, weil es keine milieux de mémoire mehr gibt.«22 Der Weg der Gedächtnisgeschichte – von milieux zu lieux – vollzieht sich Nora zufolge in drei Stufen. Die erste Stufe imaginiert Nora romantisierend als ›unberührtes‹ Gedächtnis vormoderner Gesellschaften. Bei der zweiten Stufe handelt es sich um das nationale Gedächtnis der Dritten Republik, in der die Geschichte Frankreichs als verbindlicher und identitätsstiftender Mythos durch Formen des institutionalisierten Gedenkens (Schule, Staatsfeiern) tradiert wurde. Die dritte und vorerst letzte Stufe ist die von »Demokratisierung und Vermassung« und dem »Ende der Gedächtnisgesellschaften« geprägte Gegenwart. Paradoxerweise ist dies zugleich das »Zeitalter des Gedenkens«, eine »Zeit, die geradezu obsessiv Erinnerung betreibt«.23 Erinnerungsorte fungieren dabei als eine Art künstlicher Platzhalter für das nicht mehr vorhandene, ›natürliche‹ Gedächtnis. In ihrer Pluralität und Fragmentiertheit ergibt sie kein verbindliches Gesamtbild der Vergangenheit; sie lassen sich nicht zu einer kohärenten Erzählung zusammenfügen. Problematisch an Noras Ansatz ist nicht nur seine zivilisationskritisch-naive Version einer Verfallsgeschichte des kollektiven Gedächtnisses, sondern auch die (von Halbwachs übernommene) strikte Trennung von Geschichte und Gedächtnis, durch die die memorialen Funktionen der Geschichtswissenschaft ausgeblendet werden. Überdies ist Nora für sein Konstrukt einer nation-mémoire kritisiert worden, einer französischen Nationalerinnerung, die sowohl la France d’outre-mer – die ehemaligen Kolonien – als auch die Erinnerungen von Migranten ignoriert. 24 Noras Perspektive beschränkt sich auf das ›Hexagon‹, das er als Territorium einer in sich homogenen französischen Kultur begreift. So kommen jedoch weder transnationale Formen des Erinnerns noch die Bedeutung kulturellen Austauschs für die Entstehung von lieux de mémoire in den Blick. Trotz vielfältiger Kritik hat sich Noras Projekt als interdisziplinär außerordentlich anschlußfähig erwiesen und international zahlreiche Nachahmer gefunden. Neben einer steigenden Zahl von Bänden zu nationalen Erinnerungsorten (u.a. Deutschlands, Italiens, Luxemburgs, Belgiens und der Niederlande 25) kom22 | Ebd.; vgl. auch Carrier, Peter, »Pierre Noras Les lieux de mémoire als Diagnose und Symptom des zeitgenössischen Erinnerungskultes«, in: Echterhoff, Gerald/Saar, Martin (Hg.), Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, Konstanz 2002, S. 141-162. 23 | Nora, Pierre, »Das Zeitalter des Gedenkens«, Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S. 543-575, hier 543. 24 | Tai, Hue Tam Ho, »Remembered Realms. Pierre Nora and French National Memory«, in: American Historical Review 106.3, 2001, S. 906-922; Judt, Tony, »A la Recherche du Temps Perdu. Review of Pierre Nora, The Realms of Memory: The Construction of the French Past«, in: New York Review of Books 3, 1998, S. 51-58. 25 | François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bände, München 2001; Isnenghi, Mario (Hg.), I luoghi della memoria, 3 Bände, Rom 1987-97; Kmec, Sonja/ Margue, Michael/Majerus, Benoît/Péporté, Pit (Hg.), Lieux de mémoire au Luxembourg: usages du passé et construction nationale = Erinnerungsorte in Luxembourg: Umgang mit der Vergangenheit und Konstruktion der Nation, Luxembourg 2008; Tollebeek, Jo/Buelens,
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men auch zunehmend lieux de mémoire jenseits des Nationalen in den Blick, z.B. europäische, diasporische und (post-)koloniale Erinnerungsorte.26 Problematisch bleibt jedoch, daß Erinnerungsorte durch die gleichnamigen, oft recht populären Publikationen nicht in erster Linie kritisch-distanziert beobachtet, sondern aktiv konstruiert werden. In solchen Fällen erscheinen sie eher als Instrument der Intervention in erinnerungskulturelle Prozesse denn als Methode der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Noras lieux de mémoire sind damit mehr als Quelle interdisziplinärer und -nationaler Inspiration zu begreifen denn als kohärentes wissenschaftliches Konzept. ›Erinnerungsorte‹ haben Konjunktur auf dem Gebiet der Kulturgeschichtsschreibung; für die kulturwissenschaftliche Theoriebildung hingegen hat Noras Projekt einige falsche Fährten gelegt und sollte daher kritisch hinterfragt werden.
4. D AS › KULTURELLE G EDÄCHTNIS ‹ – A LEIDA UND J AN A SSMANN Die Theorie des ›kulturellen Gedächtnisses‹ wurde von Aleida und Jan Assmann seit den späten 1980er Jahren, im Kontext des interdisziplinären Arbeitskreises »Archäologie der literarischen Kommunikation« und in einer Reihe einschlägiger Publikationen, entwickelt.27 Der in vielen Zügen den Erkenntnissen von Halbwachs verpflichtete Theorieentwurf basiert auf der grundlegenden Einsicht, daß zwischen einem kollektiven Gedächtnis, das auf Alltagskommunikation basiert, und einem kollektiven Gedächtnis, das sich auf symbolträchtige kulturelle Objektivationen stützt, ein qualitativer Unterschied besteht. Daher differenzieren Aleida und Jan Assmann zwischen zwei ›Gedächtnis-Rahmen‹, dem ›kommunikativen Gedächtnis‹ einerseits und dem ›kulturellen Gedächtnis‹ andererseits.
Geert et al. (Hg.), België, een parcours van herinnering, Amsterdam 2008; Wesseling, Henk (gen. Hg.), Plaatsen van Herinnering, 4 Bände, Blockmans, Wim/Pleij, Herman/Prak, Maarten/Mathijsen, Marita/Bank, Jan/van den Doel, Wim(Hg.), Amsterdam 2005-2006. 26 | Buchinger, Kirstin/Gantet, Claire/Vogel, Jakob (Hg.), Europäische Erinnerungsräume. Zirkulationen zwischen Frankreich, Deutschland und Europa, Frankfurt 2009; Henningsen, Bernd, Transnationale Erinnerungsorte: nord- und südeuropäische Perspektiven, Berlin 2009; Frey, Indra Sengupta (Hg.), Memory, History, and Colonialism: Engaging with Pierre Nora in Colonial and Postcolonial Contexts, Bulletin of the German Historical Institute London, London 2009; Hebel, Udo J. (Hg.), Transnational American Memories, Berlin 2009. 27 | Die Assmannsche Gedächtnisforschung zeichnet sich durch eine außerordentliche Produktivität und die stetige Weiterentwicklung ihrer Konzepte aus. Stellvertretend für vielfältige Beiträge zu den Bereichen Literatur, Kunst, Religion, Geschichte, Bildung, Trauma, Holocaust und dem Generationengedächtnis seien hier genannt: Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Assmann, Jan, Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000; Assmann, Aleida, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006.
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Inhalte, Formen, Medien, Zeitstruktur und Träger dieser beiden GedächtnisRahmen unterscheiden sich grundlegend voneinander.28 Das kommunikative Gedächtnis entsteht durch Alltagsinteraktion, hat die Geschichtserfahrungen der Zeitgenossen zum Inhalt und bezieht sich daher immer nur auf einen begrenzten, ›mitwandernden‹ Zeithorizont von ca. 80 bis 100 Jahren. Die Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses sind veränderlich und erfahren keine feste Bedeutungszuschreibung. Jeder gilt hier als gleich kompetent, die gemeinsame Vergangenheit zu erinnern und zu deuten. Erinnerung im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses hingegen ist an feste Objektivationen gebunden, hochgradig gestiftet und zeremonialisiert, und sie wird v.a. in der kulturellen Zeitdimension des Festes vergegenwärtigt. Das kulturelle Gedächtnis transportiert einen festen Bestand an Inhalten und Bedeutungen, zu deren Kontinuierung und Interpretation Spezialisten ausgebildet werden (z.B. Priester, Schamanen oder Archivare). Sein Fokus ist gerichtet auf mythische, als die Gemeinschaft fundierend interpretierte Ereignisse einer fernen Vergangenheit (wie etwa der Auszug aus Ägypten oder der Kampf um Troja). Zwischen der im Rahmen des kommunikativen und der im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses erinnerten Zeit klafft also eine Lücke, mit den Worten des Ethnologen Jan Vansinas: ein mitwanderndes floating gap. Jan Assmann hat den Begriff des kulturellen Gedächtnisses wie folgt definiert: »Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.« 29
Das kulturelle Gedächtnis zeichnet sich durch ein Bündel von Merkmalen aus:30 Identitätskonkretheit bedeutet, daß soziale Gruppen ein kulturelles Gedächtnis konstituieren, aus dem sie ihre Identität ableiten. Mit Rekonstruktivität wird der Einsicht in die Gegenwartsbezogenheit jeglicher Erinnerung Rechnung getragen: Das kulturelle Gedächtnis ist ein retrospektives Konstrukt. Geformtheit bedeutet, daß das kulturelle Gedächtnis auf die Kontinuierung von Sinn anhand fester Ausdrucksformen und -medien angewiesen ist. Organisiertheit bezeichnet seine Institutionalisierung und die Spezialisierung seiner Trägerschaft. Aus der Verbindlichkeit des kulturellen Gedächtnisses ergibt sich für die Gruppe eine »klare Wertperspektive und ein Relevanzgefälle«. Das Merkmal der Reflexivität verweist schließlich auf die Tatsache, daß das kulturelle Gedächtnis die Lebenswelt der Gruppe, ihr Selbstbild und nicht zuletzt sich selbst reflektiert. In Das kulturelle Gedächtnis (1992) untersucht Jan Assmann die Verbindung von Erinnerung, kollektiver Identitätsbildung und politischer Legitimation. Dabei geht es auch um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen oralen und skripturalen Kulturen: »Gesellschaften imaginieren Selbstbilder und kontinuieren über die Generationenfolge hinweg eine Identität, indem sie eine Kultur der Er28 | Für das folgende J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O., S. 56. 29 | Assmann, Jan, »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Assmann, Jan/Hölscher, Tonio (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988, S. 9-19, hier S. 15. 30 | Für das folgende vgl. ebd., S. 13-15.
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innerung ausbilden; und sie tun das […] auf ganz verschiedene Weise«.31 Anhand der Beispiele Ägyptens, Israels, der Hethiter und Griechenlands veranschaulicht Assmann diese Unterschiede in der »konnektiven Struktur« von Gesellschaften, jener Struktur also, die deren Mitglieder sowohl in der Sozialdimension als auch in der Zeitdimension verbindet.32 Bei der Herstellung kultureller Kohärenz können Mündlichkeit und Schriftlichkeit grundsätzlich die gleiche Funktion erfüllen, sind also funktionsäquivalent. Allerdings wirkt sich die Einführung der Schrift auf die Form des kulturellen Gedächtnisses aus. Assmann unterscheidet zwischen der rituellen Kohärenz oraler Kulturen und der textuellen Kohärenz skripturaler Kulturen. Orale Kulturen sind auf die genaue Wiederholung ihrer Mythen, auf Repetition angewiesen, denn das kulturelle Gedächtnis wird in den organischen Gedächtnissen der Sänger oder Schamanen bewahrt, und jede Variation könnte den Überlieferungszusammenhang gefährden. Textuelle Kohärenz beruht hingegen auf der Auslagerung kulturellen Sinns in das Medium der Schrift. Im Rahmen einer »zerdehnten Situation« (Konrad Ehlich) wird eine spätere Wiederaufnahme der Mitteilung gewährleistet. So entsteht die Möglichkeit, mehr zu überliefern, als das Gedächtnis des Einzelnen zu behalten vermag. Allerdings bedürfen die verbindlichen, normativen und formativen »Texte« des kulturellen Gedächtnisses in jeder Gegenwart aufs neue der Aneignung. Ihr Sinn muß ausgelegt, interpretiert werden. Textuelle Kohärenz geht mit den Verfahren des Kommentars, der Imitation oder der Kritik einher. Als mögliche gedächtnispolitische Strategien nennt Jan Assmann die ›heiße‹ und die ›kalte‹ Option: Gesellschaften können Erinnerung zum Motor ihrer Entwicklung machen. Dann handelt es sich um heiße Kulturen, wie im Falle des alten Israels. Sie können den geschichtlichen Wandel durch Erinnerung an das ewig Gleiche jedoch auch ›einfrieren‹. Beispiele für derartig kalte Kulturen sind das alte Ägypten oder das mittelalterliche Judentum. Das Gedächtnis heißer Kulturen beruht auf ›Mythen‹ im Sinne von Geschichte(n) über eine gemeinsame Vergangenheit, die Orientierung in der Gegenwart und Hoffnung für die Zukunft bieten. Diese Mythen können sowohl eine fundierende als auch eine kontrapräsentische Motorik entfalten: Fundierend und bestehende Systeme legitimierend wirkt der Mythos dort, wo er von der Gesellschaft als Ausdruck einer gemeinsamen Geschichte, aus der sich die gegenwärtigen Verhältnisse ableiten, wahrgenommen wird. Eine kontrapräsentische und potentiell delegitimierende Bedeutung nimmt er an, wenn durch ihn den Defizienzerfahrungen der Gegenwart eine Erinnerung an die vergangene, bessere Zeit gegenübergestellt wird. Aleida Assmann führt in ihrer 1999 erschienenen Monographie Erinnerungsräume die grundlegende Unterscheidung zwischen Gedächtnis als ars und vis ein.33 Die Vorstellung von Gedächtnis als ars, als Kunst oder Technik, geht auf das topologisch geprägte Modell der antiken Mnemotechnik zurück. Gedächtnis als ars erscheint als ein Wissensspeicher, in den Informationen eingelagert und in der gleichen Form wieder abgerufen werden können. Mit der Vorstellung von Gedächtnis als vis, einer anthropologischen ›Kraft‹, wird hingegen die Dimension 31 | J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O., S. 18. 32 | Vgl. ebd., S. 16. 33 | Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999.
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der Zeit und ihre transformierende Wirkung auf die Gedächtnisinhalte akzentuiert. Damit rücken Prozeßhaftigkeit und Rekonstruktivität der Erinnerung ins Zentrum des Interesses. Gedächtnis als vis impliziert immer auch Vergessen. Denn aus der Fülle des zu Erinnernden können nur einige wenige, der gegenwärtigen Situation entsprechende Elemente ausgewählt werden. Aleida Assmann macht diese beiden Vorstellungstraditionen zur Grundlage einer Kulturtypologie: Um 1800 – mit dem Prestigeverfall der antiken Mnemotechnik, der Philosophie Lockes, der Entstehung des bürgerlichen Subjekts und schließlich der »romantischen Konzeption von Identität-durch-Erinnerung« – verortet sie die Ablösung der bis dahin dominanten Konzeption von Gedächtnis als ars durch ein Verständnis von Gedächtnis als vis.34 Um Prozesse der Aktivierung und des Vergessens von Inhalten des kulturellen Gedächtnisses beschreibbar zu machen, trifft Aleida Assmann eine weitere Unterscheidung: die zwischen Funktions- und Speichergedächtnis. Funktionsgedächtnis nennt Assmann das »bewohnte Gedächtnis«. Es besteht aus »bedeutungsgeladenen Elementen«, die zu einer kohärenten Geschichte konfiguriert werden können und sich durch »Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung« auszeichnen. Das Speichergedächtnis hingegen ist das »unbewohnte Gedächtnis«, eine »amorphe Masse« ungebundener, »bedeutungsneutraler Elemente«, die keinen »vitalen Bezug« zur Gegenwart aufweisen.35 »Auf kollektiver Ebene enthält das Speichergedächtnis das unbrauchbar, obsolet und fremd Gewordene, das neutrale, identitäts-abstrakte Sachwissen, aber auch das Repertoire verpaßter Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter Chancen. Beim Funktionsgedächtnis dagegen handelt es sich um ein angeeignetes Gedächtnis, das aus einem Prozeß der Auswahl, der Verknüpfung, der Sinnkonstitution […] hervorgeht. Die strukturlosen, unzusammenhängenden Elemente treten ins Funktionsgedächtnis als komponiert, konstruiert, verbunden ein. Aus diesem konstruktiven Akt geht Sinn hervor, eine Qualität, die dem Speichergedächtnis grundsätzlich abgeht.« 36
Die Beziehung zwischen diesen beiden Modi der Erinnerung ist eine perspektivische: Das Funktionsgedächtnis ist als Vordergrund zu denken, der sich vor dem Hintergrund des Speichergedächtnisses abhebt. Zwar erfüllt das Funktionsgedächtnis so zentrale Aufgaben wie Identitätskonstruktion oder die Legitimierung einer bestehenden Gesellschaftsform. Das Speichergedächtnis ist deshalb aber nicht weniger wichtig. Es dient als »Reservoir zukünftiger Funktionsgedächtnisse«, als »Ressource der Erneuerung kulturellen Wissens« und damit als »Bedingung der Möglichkeit kulturellen Wandels«.37 Alle Elemente des Speichergedächtnisses können, wenn sie für die Gesellschaft eine zusätzliche Sinndimension erhalten, in das Funktionsgedächtnis übergehen. Entscheidend sind daher nicht nur Inhalte der beiden Gedächtnisebenen, sondern auch der Grad der Durchlässigkeit zwischen ihnen, der die Möglichkeit von Veränderung und Erneuerung bestimmt.
34 | Ebd., S. 89-113. 35 | Ebd., S. 134f. 36 | Ebd., S. 137. 37 | Ebd., S. 140.
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5. M EMORY S TUDIES TODAY – EINE LÜCKENHAF TE L ANDK ARTE Die Gedächtnisforschung ist heute sowohl international als auch in den beteiligten Disziplinen so außerordentlich weit verzweigt und ihre Untersuchungsgegenstände, Grundannahmen und Methoden erscheinen derart verschieden, daß eine Kartierung des Feldes kaum mehr möglich erscheint.38 Die folgende, eklektische Bestandsaufnahme kann daher allenfalls schlaglichtartig aufzeigen, welche Tendenzen und Unterschiede in den Memory Studies gegenwärtig erkennbar sind. Sie ist eine lückenhafte Landkarte für ein unübersichtliches Terrain. Für die Geschichtswissenschaft – insbesondere, aber nicht ausschließlich die Neuere und Neueste Geschichte – bleiben Pierre Noras ›Erinnerungsorte‹ ein zentrales, wenngleich kritisch weiterzuentwickelndes Konzept. 39 Darüber hinaus finden sich in den historischen Subdisziplinen weitere, spezifische Methoden der Gedächtnisforschung: Die Oral History nutzt das autobiographische Gedächtnis von Zeitzeugen als Quelle;40 die Geschichtsdidaktik hat komplexe Konzepte von »historischem Bewußtsein« entwickelt;41 die Zeitgeschichte untersucht das Verhältnis des Zeithistorikers zu Vergangenheit, 42 die deutsche Vergangenheitspolitik 43 oder das »Generationengedächtnis«;44 die mediävistische Memoria-Forschung widmet sich Formen des Totengedenkens;45 die jüdische Kulturgeschichte hat das jüdische Gedächtnis zum Gegenstand der Forschung gemacht.46 Zu bestimmten geschichtlichen Ereignissen und Epochen (Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Holocaust, Stalinismus, DDR) ist eine nicht mehr zu überblickende Flut mnemohistorischer
38 | Vgl. Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2. Aufl., Stuttgart 2011 [2005]. 39 | Thießen, Malte, »Von der ›Heimstätte‹ zum Denkmal. Bunker als städtische Erinnerungsorte – das Beispiel Hamburgs«, in: Inge Marszolek/Marc Buggeln (Hg.), Bunker. Kriegsort, Zuflucht, Erinnerungsraum, Frankfurt a.M. 2008, S. 45-60; Sabrow, Martin. Erinnerungsorte der DDR, München 2009. 40 | Niethammer, Lutz (Hg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der ›Oral History‹, Frankfurt a.M. 1985 [1980]; Lehmann, Albrecht/Hengartner, Thomas/ Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.). Leben –Erzählen: Beiträge zur Erzähl- und Biographieforschung: Festschrift für Albrecht Lehmann. Lebensformen, Bd. 17, Berlin 2005. 41 | Straub, Jürgen (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt a.M. 1998; Rüsen, Jörn/Straub, Jürgen (Hg.), Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein, Frankfurt a.M. 1998. 42 | Berg, Nicolas, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker: Erforschung und Erinnerung, Göttingen, 2003. 43 | Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik: die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München, 1996. 44 | Reulecke, Jürgen, Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003. 45 | Schmid, Karl/Wollasch, Joachim (Hg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, München 1984; Oexle, Memoria als Kultur, a.a.O. 46 | Yerushalmi, Yosef Hayim, Zachor. Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1988 (orig.: Zakhor. Jewish Memory and Jewish History, Seattle 1982).
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Studien erschienen. Immer häufiger verortet sich die historische Forschung kritisch-selbstreflexiv im Bereich der Memory Studies. 47 In den Sozialwissenschaften und der politischen Philosophie gehören die Frage, wie Gesellschaften erinnern 48, Erinnerungspolitik 49, die »Ethik der Erinnerung«50, die Arbeit von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, transitional justice und die vergleichende Genozidforschung zu den Kernbereichen der Memory Studies.51 Dabei wird auch das Bedeutungsspektrum des Begriffs ›Vergessen‹ ausgeleuchtet – als »Verzeihen«, »Vergeben«, »Bedauern«, »Entschuldigung« und »Wiedergutmachung«.52 In der kunst- und literaturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung kam dem Modell der ars memoriae (loci et imagines)53 sowie Prozessen der Intertextualität und Intermedialität54 traditionell große Bedeutung zu. In neueren Studien geht es zunehmend auch um Formen der literarischen Inszenierung von Erinnerung, vornehmlich (und dies nicht nur in der deutschen Forschung) mit Blick auf Holocaust
47 | Grundlegend ist Burke, Peter, »History as Social Memory«, in: Thomas Butler (Hg.), Memory. History, Culture and the Mind, New York 1989, S. 97-113; vgl. auch Wischermann, Clemens (Hg.), Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1996; Sandl, Marcus, »Historizität der Erinnerung/Reflexivität des Historischen. Die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung«, in: Oesterle, Günter (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Grundzüge einer kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen 2005, S. 89-119. 48 | Connerton, Paul, How Societies Remember, Cambrigde 1989; Fentress, James/Wickham, Chris, Social Memory, Oxford 1992. 49 | Reichel, Peter, Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, Frankfurt a.M. 1999; Leggewie, Claus/Meyer, Erik. Ein Ort, an den man gerne geht: das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989, München 2005. 50 | Baumann, Zygmund, Modernity and the Holcaust, Ithaca, NY 1989; Margalit, Avishai, Ethik der Erinnerung. Frankfurt a.M. 2002 (orig.: The Ethics of Memory. Cambridge, MA/ London). 51 | Kritz, Neil J. (Hg.), Transitional Justice: How Emerging Democracies Reckon with Former Regimes. 3 vols. Washington, DC 1995; Moses, A. Dirk (Hg.), Empire, Colony, Genocide: Conquest, Occupation, and Subaltern Resistance in World History, New York 2008. 52 | Ricœur, Paul, La mémoire, l’histoire, l’oubli, Paris 2000; Diner, Dan/Wunberg, Gotthart (Hg.), Restitution and Memory: Material Restoration in Europe, New York 2007; Olick, Jeffrey K., The Politics of Regret: On Collective Memory and Historical Responsibility, London 2007. 53 | Yates, Frances, Gedächtnis und Erinnern: Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Berlin 2001 (orig.: The Art of Memory, London 1966); Berns, Jörg Jochen/Neuber, Wolfgang (Hg.), Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 14001750, Tübingen 1993. 54 | Lachmann, Renate, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a.M. 1990; Haverkamp, Anselm/Lachmann, Renate (Hg.), Memoria: Vergessen und Erinnern, München 1993 (= Poetik und Hermeneutik 15).
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und Zweiten Weltkrieg,55 sowie um die Performanz von Kunstwerken als Medien des Gedächtnisses in soziokulturellen Kontexten.56 Die Psychologie hebt seit den Studien Frederic C. Bartletts die Bedeutung soziokulturell erworbener kognitiver Schemata für das Erinnern hervor.57 Seit den 1980er Jahren haben Ansätze zur Ökologie, Kommunikativität und Narrativität der Erinnerung an Gewicht gewonnen.58 Die Neurowissenschaften heben die ›Plastizität des Gehirns‹ hervor, und gerade das autobiographische Gedächtnis erweist sich in seiner Entwicklung als stark durch soziokulturelle Kontexte geformt.59 In dieser Einsicht liegt der Schlüssel zur Zusammenarbeit von Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften im Rahmen der Cultural Memory Studies.60 Bei der Entwicklung interdisziplinärer und integrativer Konzepte der Gedächtnisforschung kommt im deutschsprachigen Raum vor allem Harald Welzer und seiner Forschungsgruppe zentrale Bedeutung zu. Welzers Konzept des ›kommunikativen Gedächtnisses‹ ermöglicht den Brückenschlag zwischen Sozialpsychologie und Neurowissenschaften;61 interviewbasierte Studien zur intergenerationellen Holocausterinnerung zeigen, wie Familiengedächtnisse und Mediennutzung individuelle Erinnerung prägen;62 und mit vergleichenden Studien zur europäischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg erweist sich Welzers Arbeitsgruppe schließlich als Wegbereiter für aktuellste Entwicklungen des Feldes in Richtung Global Memory Studies (s.u.).63 Nicht nur in disziplinärer, sondern auch in internationaler Hinsicht konstituieren sich die Memory Studies als ein äußerst disparates Forschungsfeld. Weil 55 | Ibsch, Elrud, Die Schoah erzählt. Zeugnis und Experiment in der Literatur, Tübingen 2004; Horstkotte, Silke, Nachbilder: Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur, Köln 2009; Herrmann, Meike, Vergangenwart: Erzählen vom Nationalsozialismus in der deutschen Literatur seit den neunziger Jahren, Würzburg 2010. 56 | Erll, Astrid/Rigney, Ann (Hg.), Mediation, Remediation, and the Dynamics of Cultural Memory, Berlin/New York 2009. Einen Überblick über die literaturwissenschaftliche Gedächtnisforschung bietet Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft, Berlin 2005. 57 | Bartlett, Frederic C., Remembering. A Study in Experimental and Social Psychology, Cambridge 1932. 58 | Neisser, Ulric/Winograd, E., Remembering Reconsidered. Ecological and Traditional Approaches to the Study of Memory, Cambridge 1989; Brockmeier, Jens/Carbaugh, Donal (Hg.), Narrative and Identity. Studies in Autobiography, Self and Culture, Amsterdam/Philadelphia 2001; Echterhoff, Gerald/Straub, Jürgen, »Narrative Psychologie. Facetten eines Forschungsprogramms«, in: Handlung, Kultur, Interpretation, Teil 1, 12,2, 2003, S. 317-342; Teil 2, 13,1, 2004, S. 151-186. 59 | Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald, Das autobiographische Gedächtnis: Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung, Stuttgart 2005. 60 | Boyer, Pascal/Wertsch, James V., Memory in Mind and Culture, New York 2009. 61 | Welzer, Harald, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002. 62 | Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline, »Opa war kein Nazi.« Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M. 2002. 63 | Welzer, Harald (Hg.), Der Krieg der Erinnerung: Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, Frankfurt a.M. 2007.
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Sprachbarrieren und nationale akademische Traditionen den Austausch von Gedächtniskonzepten erschweren, ist eine oft verblüffend gleichzeitige, aber meist unverbundene Forschungsaktivität zu beobachten – und die Tendenz, in verschiedenen Wissenschaftsgemeinschaften ›das Rad‹ immer wieder ›neu zu erfinden‹. In der französischen Gedächtnisforschung nehmen Noras lieux de mémoire eine zentrale Stellung ein.64 Noras problematische Gegenüberstellung von ›Geschichte versus Gedächtnis‹ bestimmt auch die erhitzten öffentlichen Diskussionen, die darüber geführt werden, wer die Vergangenheit wie, für wen und auf welche Weise repräsentieren darf oder soll. Die französische Situation, in der die wissenschaftliche Erforschung und die konkrete Praxis kultureller Erinnerung untrennbar miteinander verknüpft scheinen, ist gekennzeichnet durch veritable guerres de mémoires65 – und der Begriff der ›Erinnerungskriege‹ ist so sehr zum leitenden kognitiven Konzept des Nachdenkens über Gedächtnis geworden, daß er auch den französischen Blick auf die weltweite Gedenkpraxis prägt.66 In der anglo-amerikanischen Gedächtnisforschung ist das Gewicht psychoanalytischer Denkfiguren deutlich spürbar. In den USA münden die Memory Studies in die Holocaust Studies und Trauma Studies. Ihr theoretisches Fundament liegt in der poststrukturalistischen Kritik der Repräsentation.67 Zu den zentralen Referenztexten gehören die Studien Sigmund Freuds, Walter Benjamins und Jacques Derridas. (Tatsächlich sind Halbwachs’ Schriften bis heute nur teilweise ins Englische übersetzt.) In Großbritannien begegnet man hingegen einer wieder anderen Situation: Hier haben sich die Memory Studies aus den Cultural Studies entwickelt (wie sie am Birmingham Center for Cultural Studies betrieben wurden; Raphael Samuel ist die Gründungsfigur68). Die britische Gedächtnisforschung fußt auf einem radikalen Marxismus und zeichnet sich durch ihr deutliches Interesse an Ideologie aus. Ihre Methodik besteht in einer politisch gewendeten Psychoanalyse.69 Die britische Erinnerungsforschung ist zudem (ähnlich wie die italienische und mehr noch als die deutsche) eng mit der Oral History verknüpft.70 In Deutschland schließlich spielten verschiedene Faktoren bei der Entstehung der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung eine Rolle: Die Spezifik der deutschen Erinnerungskultur – mit dem Holocaust als Gegenstand ›negativer Er64 | Ein weiterer einflußreicher Ansatz der französischen Gedächtnisforschung findet sich in Roussos psychoanalytisch inspirierten Studien zum ›Vichy-Syndrom‹ Vgl. Rousso, Henry, Le Syndrome De Vichy: De 1944 À Nos Jours, Paris 1990. 65 | Blanchard, Pascal/Veyrat-Masson, Isabelle (Hg.), Les guerres de mémoires: La France et son histoire, Paris 2008. 66 | Blanchard, Pascal/Ferro, Marc/Veyrat-Masson, Isabelle (Hg.), Les Guerres de mémoires dans le monde Hermès 52, Paris 2008. 67 | Friedländer, Saul (Hg.), Probing the Limits of Representation: Nazism and the »Final Solution«, Cambridge, MA 1992; Hartman, Geoffrey H., Holocaust Remembrance: The Shapes of Memory, Oxford, UK 1994. 68 | Samuel, Raphael, Theatres of Memory, London 1994. 69 | Radstone, Susannah (Hg.), Memory and Methodology, Oxford/New York 2000; Radstone, Susannah/Hodgkin, Katharine (Hg.), Memory Cultures: Memory, Subjectivity, and Recognition. New Brunswick, NJ 2006 [2003]. 70 | Vgl. die britische Zeitschrift History Workshop; Passerini, Luisa/Leydesdorff, Selma (Hg.), Memory and Totalitarianism, New Brunswick, NJ 2005 [1996].
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innerung‹ und deutscher ›Erinnerungsarbeit‹ sowie den mnemohistorisch einschneidenden Ereignissen der 1980er Jahre, wie ›Bitburg‹, Historikerstreit und ›Wende‹ – ist Grund für die außerordentliche Präsenz des ›Gedächtnis‹-Themas im gesellschaftlichen und akademischen Diskurs. Zugleich zeichnen sich die Memory Studies in Deutschland (wie sie v.a. durch Aleida und Jan Assmann vertreten werden) durch ihr Interesse an allgemeineren anthropologischen, historischen und medientheoretischen Fragestellungen aus. Wir haben es also mit dem scheinbaren Paradox zu tun, daß die deutsche Gedächtnisforschung (wie vielleicht keine andere) auf das Gedenken an den Holocaust bezogen ist und sich zugleich (ebenfalls wie keine andere) weit über diesen Bereich hinaus aufgefächert hat.71
6. Q UO VADIS , M EMORY S TUDIES ? M EDIALITÄT UND TR ANSKULTUR ALITÄT DER E RINNERUNG Die Cultural Memory Studies richten ihre Aufmerksamkeit heute verstärkt von Produkten zu Prozessen, vom Speicher zur Performanz, von Statik zu Dynamik der Erinnerung.72 Am deutlichsten wird diese ›Dynamisierung des Gedächtnisses‹ in Forschungen zur Medialität der Erinnerung – insbesondere dort, wo es um Massenmedien und ›neue Medien‹ geht – sowie in Versuchen, Erinnerung in ihrer unablässigen Bewegung über kulturelle Grenzen hinweg als transkulturelles oder globales Phänomen zu begreifen. Beide Bereiche – (New) Media Memory Studies und Global Memory Studies – bergen das Potential in sich, das Feld und seine Grundlagen auf so fundamentale Weise zu hinterfragen und neu auszurichten, daß die Annahme berechtigt scheint, mit ihnen kündige sich eine ›dritte Phase‹ der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung an. Die Erforschung ›transkultureller Erinnerung‹73 bedeutet eine nicht unerhebliche Herausforderung, denn seit Halbwachs’ Studien zu den ›sozialen Rahmen‹ des Erinnerns sind die Memory Studies auf relativ klar abgrenzbare soziokulturelle Formationen fokussiert: Familien, soziale Klassen, Religionsgemeinschaften und Nationen. Die Gedächtnisforschung geht damit letztlich von dem Denkmodell der ›Container-Kultur‹ aus: ›Erinnerungskultur‹ wird als eine relativ homogene, von anderen Erinnerungskulturen abgrenzbare Entität konzipiert. Eine solche Heuristik ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen, denn ›Erinnerungskultur‹ er71 | Als nahezu globales Phänomen werden Memory Studies in zahlreichen weiteren Ländern betrieben. Beispiele für italienische, australische, südafrikanische und skandinavische Forschung bieten Agazzi, Elena/Fortunati, Vita (Hg.), Memoria e saperi: percorsi transdisciplinari. Universale Meltemi, 32. Roma 2007; Healy, Chris, Forgetting Aborigines, Sydney 2008; Nuttall, Sarah/Coetzee, Carli (Hg.), Negotiating the Past: The Making of Memory in South Africa, Cape Town 1998; Eriksen, Anne/Sigurðsson, Jón Viðar (Hg.), Negotiating Pasts in the Nordic Countries: Interdisciplinary Studies in History and Memory, Sweden 2010. 72 | Vgl. Rigney, Ann, »Plenitude, Scarcity and the Circulation of Cultural Memory«, in: Journal of European Studies 35.1, 2005, S. 11-28. 73 | Vgl. Crownshaw, Rick (Hg.), Transcultural Memory. Sonderheft Parallax 17.4 (2011). Als verwandte Begriffe sind gegenwärtig ›transnationale‹, ›globale‹, ›kosmopolitische‹ und ›multidirektionale Erinnerung‹ in Gebrauch.
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scheint nicht selten als eine wichtige Akteurskategorie: Gruppen und Gesellschaften begreifen und beschreiben sich selbst als Erinnerungsgemeinschaften. Auch institutionell erweist sich gerade die nationale Ebene als entscheidender Rahmen der Erinnerungspraxis, denn hier werden Denkmäler in Auftrag gegeben, Versöhnungskommissionen eingesetzt, Entscheidungen über Restitution gefällt und Schulcurricula entworfen. Dennoch drohen durch eine solche Modellbildung – durch die ›Container-Erinnerungskultur‹ als einzige und alternativlose analytische Kategorie der Memory Studies – die konkreten mnemonischen Prozesse aus dem Blick zu geraten, die sich zwischen und jenseits solcher Einheiten entfalten.74 Denn nicht nur in unserer Zeit der Globalisierung, sondern auch bei genauerer Betrachtung historischer Konstellationen zeigt sich der Prozeß der Erinnerung als unablässige Bewegung von Inhalten, Formen und Medien über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg. Überkommene Vorstellungen von der ›sozialen Rahmung‹ des Gedächtnisses, der ›Erinnerungskultur‹ oder gar des ›nationalen Gedächtnisses‹ wären daher durch eine Perspektive zu ergänzen, welche Erinnerung in ihrer transkulturellen Dynamik erkennt und Phänomene in den Blick nimmt, die sich jenseits solcher klar eingehegten Formationen entfalten. Dazu gehören beispielsweise die von Aby Warburg beobachteten ›Wanderungen‹ von Symbolen durch Zeit und Raum; das Zusammenspiel von globaler Zirkulation und lokalisierender Aneignung bestimmter Erinnerungsgegenstände (wie ›Holocaust‹ und ›9/11‹), Erinnerungstechnologien (wie YouTube) und Erinnerungsformen (wie das ›Erlebnis‹-Museum); die Bedeutung von transnationalen Gedächtnisgemeinschaften, von der weltweiten umma bis zu Musik- oder Fußballfans; geteilte Erinnerungen, etwa europäische,75 diasporische und (post-)koloniale;76 sowie subkulturelle und popkulturelle Erinnerungen.77 Die erste einschlägige Studie, die eine solche, Nationen und Kulturen dezidiert transzendierende Perspektive auf Erinnerung entwirft, haben Daniel Levy und Natan Sznaider mit Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust (2001) vorgelegt.78 Tatsächlich handelt es sich bei dem Holocaust um das Paradigma eines transnationalen Erinnerungsorts: Als historisches Ereignis zog er Mitglieder zahlreicher Gruppen und Nationen in Mitleidenschaft; heute ist er als Bezugspunkt weltweiter Erinnerungspraxis fest etabliert. Levy und Sznaider zeichnen am Beispiel der Erinnerung an den Holocaust die Entwicklung eines ent-territorialisierten, trans74 | Für die Diskussion der ethnologischen Konzepte actor’s category und observer’s category danke ich Anna-Maria Brandstetter. 75 | Assmann, Aleida, »Europe: A Community of Memory?« Twentieth Annual Lecture of the GHI. GHI Bulletin 40, 2007, S. 11-25; Passerini, Luisa, Love and the Idea of Europe, New York 2009. 76 | Lutz, Helma und Kathrin Gawarecki, Kolonialismus und Erinnerungskultur: die Kolonialvergangenheit im kollektiven Gedächtnis der deutschen und niederländischen Einwanderungsgesellschaft, Niederlande-Studien, Bd. 40, Münster 2005. 77 | Jacke, Christoph/Zierold, Martin (Hg.), Populäre Kultur und soziales Gedächtnis: Theoretische und exemplarische Überlegungen zur dauervergeßlichen Erinnerungsmaschine Pop, SPIEL 24.2, Frankfurt a.M. 2008. 78 | Levy, Daniel/Sznaider, Natan, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt a.M. 2001.
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nationalen und »sich globalisierenden« Gedächtnisses nach.79 Das kosmopolitische Moment besteht darin, daß der Holocaust zu einem »negativ legitimierenden Gründungsmoment globaler Gerechtigkeit« wurde.80 Das weltweite Gedenken der Holocaust-Opfer führte zur nationenübergreifenden Legitimation und Etablierung bestimmter normativer Regeln, allen voran die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Demokratie, Toleranz, Humanität sowie die Ächtung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden heute in erinnerndem Rückgriff auf den Holocaust diskutiert. In ihrem Kampf um Anerkennung präsentieren Opfergruppen ihre Erfahrung daher häufig in Analogie zum Holocaust und ziehen Parallelen zwischen den jeweiligen Tätern und den Nazis. Dabei gilt: »›Recht‹ hat, wer sich als ›unschuldiges Opfer‹ darstellen kann.« 81 Im Rahmen solcher Analogiebildungen wurden Begriffe wie »Kosovoaust«, »African Holocausts« und »Roter Holocaust« geprägt. 82 Diese Beispiele zeigen auch, wie eng globale und lokale Erinnerungspraxis zusammenwirken, denn es ist die durch transnationale Repräsentation erfolgende »Universalisierung des Bösen, welche die metaphorische Kraft des Holocaust antreibt und eine lokale Vereinnahmung im Falle von Menschenrechtsverbrechen ermöglicht«. 83 In dieser doppelten Dynamik von Globalisierung und Re-Lokalisierung der Erinnerung ist der Holocaust zu einem »universalen ›Container‹ für Erinnerungen an unterschiedliche Opfer geworden«.84 Levy und Sznaider geben allerdings zu bedenken: »Der Preis, der dafür gezahlt wird, ist die Entkontextualisierung der Geschichte.«85 Ein Erinnerungsgegenstand wird aus seinem ursprünglichen Zusammenhang gelöst und als verfügbarer ›Container‹ – bzw. als Schema, Formel oder narrative Abbreviatur – genutzt, um neue und andere Erfahrungen zu deuten. Dies kann auf sehr produktive und legitime Weise geschehen. So bezeichnet Andreas Huyssen die Rolle des Holocaust als »floating signifier« für die Arbeit von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in Südafrika oder die australische Erinnerung an die ›gestohlene Generation‹ (zur europäisierenden ›Umerziehung‹ verschleppte Ureinwohner) als »motor energizing the discourses of memory elsewhere«. 86 Die Slots eines globalen Erinnerungs-Schemas – ›Täter‹ und ›Opfer‹ im Falle der Holocaust-Erinnerung – können jedoch auch auf pervertierte Weise ausgefüllt werden, etwa wenn sich Tätergruppen als Opfer inszenieren. ›Transkulturalität der Erinnerung‹ bezeichnet ein Erkenntnisinteresse, eine Forschungsperspektive, die bestimmte Phänomene in den Blick rückt und be-
79 | Ebd., S. 9f. 80 | Ebd., S. 12. 81 | Ebd., S. 228. 82 | Ebd., S. 237. 83 | Ebd., S. 13. 84 | Ebd., S. 229. 85 | Ebd., S. 11. 86 | Huyssen, Andreas, Present Pasts: Urban Palimpsests and the Politics of Memory, Stanford, CA 2003, S. 99. Vgl. auch Michael Rothbergs Konzept des multidirectional memory, das diesen Gedanken weiterführt und zeigt, wie sich Holocaust- und Dekolonialisierungsdiskurse nach dem Zweiten Weltkrieg gegenseitig befruchteten. (Rothberg, Michael, Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford, CA 2009.)
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schreibbar macht.87 Das gleiche gilt für ›Medialität der Erinnerung‹. Dabei handelt es sich um ein ungleich weiter ausdifferenziertes Forschungsfeld, das etwa seit der Jahrtausendwende stark an Bedeutung gewonnen hat. Der Fokus des Interesses richtet sich dabei zunehmend auf die sogenannten ›neuen Medien‹ sowie auf Massenmedien und populäre Medien der kulturellen Erinnerung, wie Fernsehen, Kino, Photographie und Literatur. Digitale Technologien – vom Computer über die digitale Photographie bis zum Internet und dessen Plattformen und Netzwerke wie YouTube und Facebook – sind in ihrer Bedeutung für die Herausbildung von individuellem und kollektivem Gedächtnis heute kaum zu überschätzen. Halbwachs’ cadres sociaux konstituieren sich in dieser Hinsicht als cadres médiaux. Was Anna Reading als »globital memory« 88 – globalisierte und digitalisierte Erinnerung – bezeichnet, stellt traditionelle Vorstellungen von der Gruppen- und Ortsbezogenheit der Erinnerung ebenso grundsätzlich in Frage wie Modelle, die die organische, soziale und mediale Ebene des Gedächtnisses strikt voneinander trennen.89 Die »neuen Ökologien des Erinnerns«90 erfordern es auch, überkommene Konzepte vom ›Archiv‹ als Apparat der Macht und Exklusion (Foucault, Derrida) zu überdenken. Digitale Archive erscheinen in höherem Maße kollaborativ, partizipativ und inklusiv. Selektionsprozesse und soziale Hierarchien finden sich auch hier, aber sie funktionieren auf andere, oft unerwartete Weise und müssen daher neu theoretisiert werden. 91 Studien zu populären Medien und Massenmedien heben zunehmend deren erfahrungshaftige Dimension und erinnerungsbildende Funktion hervor. Ein Beispiel dafür ist Alison Landsbergs einflußreiches Konzept des »prosthetic memo-
87 | Etwa in dem Sinne, in dem ›Konstruktivität der Erinnerung‹ oder ›umkämpfte Erinnerungen‹ fruchtbare Forschungsperspektiven der memory studies waren. 88 | Reading, Anna, »The Globytal: Towards an Understanding of Globalised Memories in the Digital Age«, in: Maj, Anna/Riha, Daniel (Hg.), Digital Memories. Exploring Critical Issues, Oxford 2009, S. 31-40. (eBook) 89 | Vgl. dazu José van Dijcks Konzept des mediated memory, das die Ko-Konstruktion bzw. die gegenseitige Formung von Medien und individueller Erinnerung (am Beispiel von digitaler Photographie) betont. (Dijck, José van, Mediated Memories in the Digital Age. Cultural Memory in the Present, Stanford, CA 2007.) 90 | Andrew Hoskins, »Digital Network Memory«, in: Erll/Rigney, Mediation, Remediation, a.a.O., S. 91-106. 91 | Ernst, Wolfgang, Das Gesetz des Gedächtnisses: Medien und Archive am Ende (des 20. Jahrhunderts), Berlin 2007; Meyer, Erik (Hg.), Erinnerungskultur 2.0: Kommemorative Kommunikation in Digitalen Medien, Frankfurt a.M. 2009; Garde-Hansen, Joanne/Hoskins, Andrew/Reading, Anna (Hg.), Save As – Digital Memories, Basingstoke 2009. Ob die Menschheit mit Digitalisierung und Globalisierung tatsächlich in die Phase eines qualitativ anderen »new memory« (Hoskins, »Digital Network Memory«, S. 92) eingetreten ist, bleibe dahingestellt. Die historisch orientierte Gedächtnisforschung hat gezeigt, daß fundamentale erinnerungskulturelle Umbrüche meist auf das Erscheinen neuer Medien und deren soziale Institutionalisierung zurückzuführen sind; solche fundamentalen Transformationen sind aber keineswegs auf das digitale Zeitalter beschränkt, sondern finden sich beispielsweise bereits im Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit. Vgl. etwa Esposito, Elena, Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2002.
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ry«.92 Landsberg argumentiert, daß Darstellungen des Holocaust und der Sklaverei in Kino, Literatur und Museum es Rezipienten ermöglichen, die Erinnerungen anderer wie eine ›Prothese‹ anzunehmen. Zum einen wird auf diese Weise die körperliche, erfahrungshaftige, sinnliche und affektive Dimension der Erinnerung betont; zum anderen verweist die Metapher des Prothetischen auf die Austauschbarkeit von kommodifizierten Gegenständen des Gedächtnisses im Zeitalter der Massenmedien. In Landsbergs These, »prosthetic memory« produziere »empathy and social responsibility as well as political alliances that transcend race, class, and gender«93 zeigt sich das utopische Moment ihres Ansatzes. Ein solches normatives Konzept kann jedoch kaum als Basis zur analytischen Beschreibung von globalisierter Medien-Erinnerung dienen. Visuelle Medien wurden in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung lange zugunsten der Erforschung der ›Narrativität der Erinnerung‹ vernachlässigt. Dabei gehören gerade Bilder zu den machtvollsten Formgebern und Auslösern der Erinnerung. Photographie als Medium des Gedächtnisses wurde von Jens Ruchatz als »Externalisierung und Spur« theoretisiert: als aktive Konstruktion eines Bildes von der Vergangenheit einerseits und als indexikalisches Zeichen, als ›Spur‹ oder ›Dokument‹ einer vergangenen Wirklichkeit andererseits.94 Marianne Hirsch hat die transgenerationelle Dimension der Photographie als Gedächtnismedium untersucht und den Begriff postmemory eingeführt, um begrifflich zu fassen, wie Erfahrungen von Eltern und Großeltern an folgende Generationen weitergegeben werden.95 Die ›Posterinnerung‹ der Enkelgeneration ist ein Amalgam aus Familienfotos und den Erzählungen, die sich um sie ranken. Hier zeigt sich, daß auch nicht-narrative Medien und Artefakte erst über Erzählungen sinnvoll gedeutet und angeeignet und damit zu Medien der Erinnerung gemacht werden. Auch Film kann in zweifacher Hinsicht als ein gedächtnisrelevantes Medium betrachtet werden: erstens als (fiktionale) Repräsentation der Vergangenheit, z.B. im Historienfilm, Kriegsfilm, Kostümfilm; zweitens als archivalische Quelle, als dokumentarisches Material. Die Kombination beider Kategorien findet sich im Dokumentarfilm; und ein zunehmendes Verschwimmen der Grenzen zwischen ihnen in neuen Formaten, wie der ›Dokufiktion‹, in der historisches Filmmaterial, Zeitzeugeninterviews und fiktionale re-enactments historischer Ereignisse ineinander übergehen.96 Im Bereich des Spielfilms sind ›erinnerungsreflexive‹ Filme (wie Memento, 2000), die Gedächtnis problematisieren und Akte individuellen und kollektiven Erinnerns inszenieren (und damit beobachtbar machen), zu unterschei92 | Landsberg, Alison, Prosthetic Memory: The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture, New York 2004. 93 | Ebd., S. 21. 94 | Ruchatz, Jens, »Fotografische Gedächtnisse. Ein Panorama medienwissenschaftlicher Fragestellungen«, in: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin/New York 2004, S. 83-105. 95 | Hirsch, Marianne, Family Frames: Photography, Narrative, and Postmemory, Cambridge, MA 1997. 96 | Sturken, Marita, Tangled Memories: The Vietnam War, the AIDS Epidemic, and the Politics of Remembering, Berkeley 1997; Drews, Albert (Hg.), Zeitgeschichte als TV-Event. Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm, Loccumer Protokoll 31/07, Rehburg-Loccum 2007.
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den von ›erinnerungsproduktiven‹ Filmen (wie Schindler’s List, 1993), die Bilder der Vergangenheit zirkulieren und dabei oft auf machtvolle Weise Geschichtsbewußtsein prägen. Gerade TV-Ereignisse, die ein Millionenpublikum gleichzeitig erreichen, können sich als Meilensteine und Wendepunkte in der Entwicklung gesellschaftlicher – und globaler – Erinnerung erweisen. Eindrückliches Beispiel ist die TV-Serie Holocaust (1978), mit der eine neue Phase der Erinnerung an die Shoah begann.97 Insgesamt wird immer deutlicher, daß kulturelle Erinnerung in komplexen sozialen und plurimedialen Netzwerken (oder ›Konstellationen‹98), durch die Zirkulation von vielfältig aufeinander verweisenden Repräsentation und deren Performanz durch soziale Akteure, stets aufs neue erzeugt wird. Die diachrone Dimension solcher Konstellationen kann mit den Begriffen ›Prämediation‹ und ›Remediation‹ beschrieben werden.99 Das Konzept der Prämediation verweist auf die mediale Vor-Formung von Ereignisse und Erfahrungen, deren Wahrnehmung, Deutung und Erinnerung. So war die Erfahrung des ›Elften September‹ in der westlichen Welt sicherlich durch Hollywood-Science-Fiction und Endzeitfilme wie Independence Day (1996) prämediatisiert; und George W. Bush nutzte die prämediatisierende Kraft der christlichen Tradition, als er zwischen guten und bösen Staaten, Licht und Finsternis unterschied und zu einem Kreuzzug gegen die ›Achse des Bösen‹ aufrief. 100 Remediation verweist in umgekehrter Blickrichtung auf den unentwegten Prozeß der medialen Transkription von Erinnerung. Weil Inhalte des kollektiven Gedächtnisses transmediale Gegenstände sind, können sie sich in unterschiedlichen Medien materialisieren. Gerade zentrale Erinnerungsorte zeichnen sich dadurch aus, daß sie über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg immer wieder remediatisiert wurden – von der mündlichen Erzählung zum handgeschriebenen Manuskript, vom gedruckten Buch zum Kupferstich, vom Dokumentarfilm zur Internet-Site. Prämediation ermöglicht kulturelles Erinnern; Remediation erhält kulturelle Erinnerung am Leben.101 Beide Prozesse beschreiben zudem jene ›Wanderbewegungen‹, über die sich transkulturelle Erinnerung konstituiert. Am vorläufigen Ende einer langen, mit Marc Blochs Reaktion auf Halbwachs’ Schriften einsetzenden Reihe der Kritik an den Memory Studies steht ein kenntnisreicher Überblicksartikel des Historikers Gavriel D. Rosenfeld, der resümiert, daß die Gedächtnisforschung – nach einer zwei Jahrzehnte währenden, intensiven ›Erinnerungsarbeit‹, d.h. ihrer Beschäftigung mit unzähligen Fällen historischen Unrechts – heute einen gewissen Sättigungsgrad erreicht habe. Gerade angesichts von Weltwirtschaftskrise, globaler Erwärmung und islamistischem Terror gelte: »In such a world, the study of memory, seen as so urgently necessary in the compar97 | Shandler, Jeffrey, While America Watches: Televising the Holocaust, New York 1999; Kansteiner, Wulf, In Pursuit of German Memory: History, Television, and Politics After Auschwitz, Athens 2006. 98 | Astrid, Erll/Wodianka, Stephanie (Hg.), Film und kulturelle Erinnerung: Plurimediale Konstellationen, Berlin/New York 2008. 99 | Erll, Astrid, Prämediation – Remediation. Repräsentationen des indischen Aufstands in imperialen und post-kolonialen Medienkulturen (von 1857 bis zur Gegenwart), Trier 2007. 100 | Vgl. auch Grusin, Richard A., Premediation: Affect and Mediality After 9/11, Basingstoke 2010. 101 | Vgl. Erll/Rigney, Mediation, Remediation, a.a.O.
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atively relaxed 1990s, may increasingly appear to be a luxury that a new era of crisis can ill afford.«102 Das Gegenteil ist richtig: In unserer heutigen Welt, in einem Zeitalter der Krisen, können wir es uns nicht leisten, nicht herauszufinden, wie ›Gedächtnis‹ im weitesten Sinne – kulturspezifische Denkschemata, sozial konstruierte Vergangenheitsnarrative, Mediationen und Remediationen machtvoller Mythen – die ›harten‹ wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Fakten der Gegenwart beeinflußt; wie es Verständnis, Einschätzungen und Handlungen ermöglicht, präformiert oder beschränkt. Aus einer solchen Perspektive erscheint die Arbeit der Memory Studies gegenwärtig relevanter denn je. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß die Gedächtnisforschung sich nicht ausschließlich als ›Erinnerungsarbeit‹ begreift. Als ein interdisziplinärer Forschungskontext, der sich die Dynamik des Verhältnisses von Vergangenheit und Gegenwart zum Gegenstand macht und den Wechselbeziehungen von sozialen, medialen und biologischen Phänomenen widmet, können die Memory Studies kraftvoll und innovativ in ihre ›dritte Phase‹ eintreten – und sich dabei auch verstärkt mit anderen ›Kulturforschungen‹ vernetzen, wie etwa den Gender Studies, Space Studies oder Postcolonial Studies.
102 | Rosenfeld Gavriel D. »A Looming Crash or a Soft Landing? Forecasting the Future of the Memory ›Industry‹«, in: Journal of Modern History 81.1 (2009), S. 122-158, hier S. 147.
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Mit Science Studies ist ein heterogenes, seit einigen Jahren stark expandierendes Forschungsfeld gemeint, das sich mit den historischen, materiellen und kulturellen Voraussetzungen, den epistemologischen Grundlagen, der organisationellen Infrastruktur und den sozialen Folgewirkungen der Wissenschaften beschäftigt. 1 Diese Formulierung erhebt keinen Anspruch auf eine systematische Begriffsbestimmung, sondern soll lediglich einer ersten Orientierung dienen. Eine eindeutige Definition wird dadurch erschwert, daß Wissenschaftsforschung in zahllose Kontexte mit wechselnden Konturen und unscharfen, sich ständig verschiebenden Grenzen diffundiert, die sich kaum mehr in einen einheitlichen Zusammenhang integrieren lassen. Über die genauere Ausrichtung der Science Studies besteht daher auch keine Einigkeit, sondern diese ist selbst Gegenstand intensiver Diskussionen. In einer ersten Annäherung lassen sich immerhin zwei Begriffsverwendungen unterscheiden: Eine erste (weite) Fassung versteht unter Science Studies sämtliche Beiträge zur Erkundung der Wissenschaften; hiernach sind etwa die am logischen Positivismus orientierten Arbeiten des sogenannten Wiener Kreises zum epistemologischen Status von Theorien und Protokollsätzen ebenso Bestandteil von Wissenschaftsforschung wie feministische Studien einer Sandra Harding oder einer Evelyn Fox Keller zum internen Zusammenhang von wissenschaftlichen Objektivitätsidealen und männlichen Machbarkeitsvorstellungen.2 Eine zweite, deutlich engere (und häufiger verwendete) Fassung, an der sich auch die nachfolgenden Ausführungen orientieren, begreift Wissenschaftsfor1 | Vielfach findet bei der Darstellung der Wissenschaftsforschung zugleich die Technikforschung Berücksichtigung; entsprechend ist von den Science and Technology Studies die Rede. Diese Erweiterung wird häufig (um nicht zu sagen: konventionell) damit begründet, daß aus der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse technische Apparaturen resultieren, somit Technik nichts anderes als angewandte Wissenschaft meint. Daneben findet sich auch die neuere Auffassung, daß sich unter gegenwärtigen Bedingungen Wissenschaften und Technik immer schwerer voneinander trennen lassen, nicht zuletzt weil – Stichwort: technoscience – die Konstruktion, Herstellung, Überprüfung und Verfestigung wissenschaftlicher Tatsachen zunehmend in großtechnischen Anlagen erfolgt. 2 | An einem solch breiten Begriffsverständnis orientiert sich etwa David J. Hess (Science Studies. An Advanced Introduction, New York/London 1997) in seiner vorwiegend disziplinorientierten Darstellung der Wissenschaftsforschung.
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schung dagegen als eine recht junge diskursive Bewegung bzw. Initiative, die auf eine Neuorientierung bei der Analyse der Wissenschaften und hier insbesondere der wissenschaftlichen Praxis abzielt.3 In dieser Sicht meint der Begriff Science Studies, der in Konkurrenz zu älteren Firmenbezeichnungen wie allgemeine Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsphilosophie, Wissenschaftsgeschichte oder Wissenschaftssoziologie tritt, mehr als eine bloße terminologische Neuschöpfung. Vielmehr steht er für eine deutliche Perspektivenverschiebung, an die zugleich eine Ausweitung des Forschungsinteresses, also die Hinwendung zu neuen Fragen, Problembezügen und Themenbereichen geknüpft ist. Allerdings fällt es nicht leicht, die so weit getroffene Aussage genauer auszubuchstabieren; letztlich entzieht sich der Terminus der Wissenschaftsforschung, gerade auch in der engeren Begriffsfassung, den üblichen Kategorisierungen: Am ehesten entsprechen die Science Studies noch dem Bild einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin, die über spezifische Einrichtungen, Organisationsstrukturen, Zeitschriften, Handbücher, Publikationsreihen verfügt, Konferenzen, Symposien, Kongresse veranstaltet und der mittlerweile an einigen Hochschulen der Status einer Fakultät bzw. eines Studiengangs zugesprochen wird. Dieser Auffassung widerspricht jedoch die Beobachtung, daß ein Großteil der Beiträge zur Neueren Wissenschaftsforschung im Kontext längst etablierter Fachgebiete wie etwa der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Philosophie und der Kulturanthropologie angesiedelt sind bzw. eine fachspezifische Ausrichtung auf die genannten Disziplinen aufweisen. Ebensowenig führt die Auffassung weiter, die Science Studies als ein Forschungsfeld mit einem mehr oder weniger klar abgegrenzten Gegenstandsbereich (hier also: das Feld der Wissenschaften) zu bezeichnen. Dagegen spricht nicht nur, daß innerhalb der Neueren Wissenschaftsforschung kein Konsens bezüglich der Definition dieses Gegenstandsbereichs besteht, sondern vor allem der Umstand, daß neben den Science Studies sich eine Reihe weiterer Fachrichtungen und Positionen mit der Analyse der Wissenschaften beschäftigen, also auf dem gleichen Forschungsfeld arbeiten. 4 Vor allem wäre es jedoch falsch, die Neuere Wissenschaftsforschung als einen homogenen Forschungsansatz oder einheitliches Forschungsprogramm darzustellen. Vielmehr lassen sich innerhalb der Science Studies eine Vielzahl von divergierenden Schulen, Theorieversionen und Auffassungsweisen ausmachen.5 3 | Um die hier verwendete enge Begriffsfassung kenntlich zu machen, spreche ich im weiteren von der Neueren Wissenschaftsforschung. 4 | Auch eine trennscharfe Abgrenzung der Science studies zu den anderen in diesem Band angeführten Projekten der gegenwärtigen Kulturforschungen dürfte sich kaum bewerkstelligen lassen. Dies deshalb nicht, weil die verschiedenen kulturtheoretischen Strömungen auf vielfache Weise ineinandergreifen. So spricht man etwa von Cultural Studies, Gender Studies oder Postcolonial Studies im Bereich der Neueren Wissenschaftsforschung. Vgl. Rouse, Joseph, »What are Cultural Studies of Science«, in: Ders., Engaging Science. How to understand Its Practices Philosophically, Ithaca/London 1996, S. 237-259; Weyer, Mary/ Cookmeyer, Donno/Barbercheck, Mary (Hg.), Women, Science and Technology. A Reader in Feminist Science Studies, London 2001; Verran, Helen, »A Postcolonial Moment in Science Studies«, in: Social Studies of Science 32, 2002, S. 729-762. 5 | Einen Eindruck von der Vielfalt der Theorierichtungen und Positionen innerhalb der Neueren Wissenschaftsforschung kann man sich bei der Durchsicht der vorliegenden Text-
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Angesichts des Fehlens einer klaren Begriffsalternative wird hier mit dem Terminus der Neueren Wissenschaftsforschung eine disziplinübergreifende, nach außen nur unscharf abgegrenzte Theorienbewegung bezeichnet, die sich einem (weit verstandenen) kulturanalytischen Interesse verdankt. Das lose geflochtene Band, das die ansonsten konkurrierenden, häufig zerstrittenen Ansätze und Positionen der Science Studies zusammenhält, bildet nämlich die Annahme, daß es sich bei den Wissenschaften um ein zeitlich und räumlich situiertes, soziokulturelles Geschehen handelt. Insofern gelten die Wissenschaften nicht länger als ein monolithischer Block mit stabilen kognitiven Strukturen, sondern als historisch variable Praktiken, die fortlaufend Veränderungen unterliegen. Diese Ausgangsposition hat unmittelbar methodologische Konsequenzen. Aus Sicht der Science Studies lassen sich die Wissenschaften mit den gleichen (oder zumindest vergleichbaren) Instrumentarien und empirischen Methoden analysieren, die auch bei der Untersuchung anderer Kulturgebilde oder Wissensformen wie Politik, Kunst und Religion zum Einsatz kommen. Einer Begrenzung des breiten Spektrums sozialund kulturwissenschaftlicher Analyseverfahren wird eine Absage erteilt. Damit läßt sich auch die bereits angesprochene Absetzbewegung verständlich machen, mit der die Neuere Wissenschaftsforschung auf Distanz gegenüber konkurrierenden Positionen geht. Diesen werfen die Science Studies eine Reihe von methodischen und (damit zusammenhängend) inhaltlichen Engführungen bei der Untersuchung der Wissenschaften vor. Auf Ablehnung stößt zunächst das Unterfangen der klassischen Wissenschaftsphilosophie, lediglich die abstrakte Logik der Forschung bei gleichzeitiger Ausblendung der konkreten Forschungspraxis zu analysieren.6 Zugleich damit wird die von der konventionellen Wissenschaftssammlungen und Handbücher verschaffen. Vgl. etwa Biagioli, Maria (Hg.), The Science Studies Reader, New York/London 1999; Jasanoff, Sheila et al. (Hg.), Handbook of Science and Technology Studies, Thousand Oaks et al. 1994; Hackett, Edward J. et al. (Hg.), The Handbook of Science and Technology Studies. 3rd Edition, Cambridge/London 2008. 6 | Mit der Hinwendung zur konkreten Forschungspraxis, die die Science Studies vornehmen, dienen dann auch epistemologische Begriffe wie Rationalität, Wahrheit oder Objektivität nicht länger als einzige bzw. ausschließliche Bezugspunkte für eine Analyse der Wissenschaften. Das besagt allerdings nicht, wie zahlreiche Kritiker der Neueren Wissenschaftsforschung – Stichwort: science wars – vermuten, daß die Science Studies die Möglichkeit und Geltung wissenschaftlichen Wissens prinzipiell in Abrede stellen. Weder begreift die Neuere Wissenschaftsforschung wissenschaftliche Theorien, Methoden und Praktiken als irrationale Phänomene, noch wendet sie sich grundsätzlich gegen Verfahren der empirischen Hypothesenprüfung (letzteres behauptet John H. Zammito in seiner ansonsten äußerst informativen Studie über postpositivistische Einflüsse in den Science Studies; vgl. Zammito, John H., A nice derangement of epistemes: Post-positivism in the study of science from Quine to Latour, Chicago/London 2004). Kritisiert wird vielmehr das von der älteren Philosophy of Science verfolgte Projekt einer epistemologischen Legitimierung der Wissenschaft. Nach Ansicht der Science Studies gelangt die konventionelle Wissenschaftstheorie auf diese Weise nur zu einer äußerst begrenzten Darstellung, die von den historischen und sozialen Kontingenzen der Wissenschaftspraxis vollständig absieht. Ziel der Neueren Wissenschaftsforschung ist daher eine deskriptive Analyse der vielfältigen Facetten wissenschaftlicher Forschung – und nicht, die normativen Vorgaben der traditionellen Wissenschaftsphilosophie lediglich mit einem umgekehrten Vorzeichen zu versehen. Hieraus resul-
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theorie formulierte Auffassung einer strikten Trennung zwischen der Genesis und Geltung wissenschaftlichen Wissens zurückgewiesen. An die traditionelle Wissenschaftshistorie richtet sich der Vorwurf einer ›whiggischen‹ Interpretation, deren vorrangiges Interesse den großen Heroen, Theorien, Entdeckungen gilt und die sich bei der Rekonstruktion und Bewertung der Wissenschaftsgeschichte ausschließlich an heute geltenden Maßstäben orientiert, also die zeitbedingten Ideenbzw. Problemhintergründe ausklammert. Aufgekündigt wird schließlich auch die Annahme der älteren Wissenschaftssoziologie, der zufolge allein die institutionellen Strukturen der Wissenschaft, nicht jedoch die Inhalte wissenschaftlichen Wissens einer sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Analyse zugänglich sind. Aus Sicht der Science Studies erweist sich die Unterscheidung zwischen ›internen‹ kognitiven Faktoren (Ideen, Begriffen, Theorien, Methoden etc.) und ›externen‹ sozialstrukturellen Faktoren (kulturellen Normen, Organisationsformen, Anreizund Belohnungssysteme etc.) insgesamt als fragwürdig. An deren Stelle tritt die These einer Situiertheit wissenschaftlicher Praktiken. Diese besagt, daß ein angemessener Zugang zu den Wissenschaften zugleich eine Berücksichtigung der vielfältigen Kontexte erfordert, in die diese eingelassen sind. Insofern steht die kulturtheoretische Wende, die die Neuere Wissenschaftsforschung vollzieht, zugleich für eine deutliche Ausweitung des Analyseinteresses. Die Science Studies richten ihren Blick auf zahllose Aspekte der Wissenschaften, angefangen bei den Wissensformen, Praktiken und institutionellen Strukturen, über die materiellen Bedingungen, den rechtlichen Rahmen, die politischen bzw. wirtschaftlichen Voraussetzungen bis hin zu den sozialen und ökologischen Folgewirkungen der Wissenschaftspraxis. Die Anfänge der Science Studies reichen bis in die 1960er Jahre zurück.7 Maßgeblicher Einfluß auf die Ausbildung der Neueren Wissenschaftsforschung kommt dabei einer Reihe von Autoren zu, die das Bild der Wissenschaften, wie es zuvor der logische Positivismus und kritische Rationalismus gezeichnet hatten, nachhaltig demontieren. Zu nennen ist u.a. Willard Van Orman Quine, der mit seiner Auffassung der Unterdeterminiertheit wissenschaftlicher Theorien (wonach Theorien durch Beobachtungsdaten nicht eindeutig bestimmt sind, so daß gleich mehrere, auch miteinander unvereinbare Theorien mit denselben tieren (mit Blick auf die klassischen Fragen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie) zwei Konsequenzen: Zum einen verlieren die epistemologischen Grundbegriffe, wie angedeutet, ihren Stellenwert als bevorzugte Orientierungspunkte, sie werden ersetzt oder ergänzt durch sozial- bzw. kulturwissenschaftliche Begriffe, die neue und abweichende Fragestellungen, Vorgehensweisen, Perspektiven eröffnen. Zum anderen werden die genannten Kategorien wie Rationalität, Wahrheit und Objektivität, soweit sie überhaupt noch Verwendung finden, durchgehend naturalisiert (gemeint ist: ohne Rekurs auf eine höherstufige, transzendentale Logik entfaltet) und historisiert. 7 | Zum Teil lassen sich die Anfänge der Neueren Wissenschaftsforschung noch weiter zurückverfolgen. Als einen frühen (zunächst jedoch weitgehend unbeachteten) Beitrag zu den Science Studies lassen sich die bereits in den 1930er Jahren publizierten Überlegungen von Ludwig Fleck zum Zusammenhang von kognitiven Wissensformen und sozialen Forschungsgemeinschaften bezeichnen; vgl. Fleck, Ludwig, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a.M. 1980.
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empirischen Daten im Einklang stehen können) und seiner Holismusthese (wonach sich einzelne Sätze nicht isoliert, sondern nur im Gesamtzusammenhang empirisch überprüfen lassen) deutliche Einsprüche gegen den orthodoxen Konsensus der älteren Wissenschaftsphilosophie formuliert.8 Vielleicht noch gewichtiger dürfte die Bedeutung von Thomas Kuhn einzuschätzen sein, der in seiner Schrift »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« die Annahme eines kumulativen Zuwachses wissenschaftlichen Wissens in Frage stellt.9 Anhand zahlreicher wissenschaftshistorischer Beispiele entfaltet Kuhn die These einer Theoriebeladenheit der Beobachtung (wonach es keine voraussetzungsfreien Beobachtungen gibt, sondern diese paradigmenabhängig sind, also stets im Kontext von theoretischen, sozialen und kulturellen Vorannahmen und mit Hilfe von Meßmethoden und Instrumenten erfolgen), die für die weitere Diskussion richtungsweisend wird. Zahlreiche Impulse für eine Neuausrichtung der Wissenschaftstheorie finden sich ferner in den Arbeiten von Wissenschaftshistorikern und -philosophen wie Paul Feyerabend, Norwood R. Hanson und Stephen Toulmin. 10 Eine vergleichbare Stoßrichtung weisen schließlich auch Beiträge und Analysen auf, die im Umfeld des französischen Poststrukturalismus entstehen; namentlich gilt es Michel Foucault hervorzuheben, der eine einflußreiche Kritik an den Prämissen klassischer Ideen- und Wissenschaftsgeschichte formuliert. 11 Bei der Durchsicht dieser Auflistung gilt es allerdings zu beachten, daß die genannten Autoren den Begriff der science studies selbst noch gar nicht verwenden (und zum Teil, wie etwa Quine und Kuhn, in ihren späteren Arbeiten Vorbehalte gegen einzelne, aus ihrer Sicht überzogene Auffassungen dieser Theorienbewegung formulieren). Am sinnvollsten dürfte es daher sein, sie als Vorläufer oder Wegbereiter 8 | Quine beruft sich bei der Ausarbeitung seines epistemischen Holismus auf vergleichbare Überlegungen des französischen Wissenschaftstheoretikers Pierre Duhem. Die (gegen den ›isolationistischen Falsifikationismus‹ von Karl Raimund Popper gerichtete) Auffassung, daß Gegenstand empirischer Überprüfung stets theoretische Systeme als Ganzes sind, wird deshalb häufig auch kurz als Duhem-Quine-These bezeichnet. Vgl. Quine, Willard Van Orman, Von einem logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophische Essays, Frankfurt a.M. Berlin/Wien 1979; Duhem, Pierre, Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, Hamburg 1978. 9 | Insbesondere Kuhns Auffassung, daß Wissen ein genuin kollektives Produkt ist, somit soziale Faktoren (Sozialisationsprozesse, Autoritätsbeziehungen, Organisationsstrukturen) in die Inhalte wissenschaftlichen Wissens hineinwirken, bildet einen zentralen Ausgangspunkt der nachfolgenden Wissenschaftsstudien; vgl. Kuhn, Thomas, Die Struktur wissenschaftlicher Revolution, Frankfurt a.M. 1973. 10 | Vgl. etwa Feyerabend, Paul, Wider den Methodenzwang, Frankfurt a.M. 1975; Hanson, Norwood R., Patterns of Discovery: An inquiry into the conceptual foundations of science, Cambridge 1959; Toulmin, Stephen, Voraussicht und Verstehen. Ein Versuch über die Ziele der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1968. 11 | Die Science Studies greifen eine ganze Reihe der Thesen und methodischen Instrumente von Foucault auf, etwa seine Annahme eines internen Zusammenhangs von Wissen und Macht, sein diskurstheoretisches Verfahren einer Tiefenanalyse der historischen Bedingungen für die Herausbildung und Transformation von Wissensordnungen oder sein Konzept einer Materialität wissenschaftlicher Praktiken; vgl. u.a. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1978.
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der Neueren Wissenschaftsforschung zu bezeichnen, die mit ihrer Abkehr von den Denkannahmen des logischen Empirismus neue Perspektiven für eine Analyse der Wissenschaften eröffnet und so gewissermaßen den Boden für die nachfolgenden Entwicklungen vorbereitet haben. Als eigenständige, auch aus externer Perspektive wahrgenommene Theorienbewegung profilieren sich die science studies Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre. Eine Vorreiterrolle spielt hierbei der von den britischen Sozialwissenschaftlern David Bloor und Barry Barnes formulierte Ansatz einer Soziologie des wissenschaftlichen Wissens.12 Im Zentrum dieser Perspektive steht das Bemühen, die epistemischen Grundlagen und kognitiven Inhalte der Wissenschaften mit soziologischen Mitteln zu analysieren. Das Soziale gilt in dieser Sicht nicht länger nur als ein Störfaktor, sondern als konstitutive Bedingung der wissenschaftlichen Praxis. Behauptet wird, daß jedes Wissen sozial geprägt ist und daß sich diese soziale Bedingtheit bis in die Wissensinhalte gerade auch der ›harten‹ Naturwissenschaft und der Mathematik empirisch nachweisen läßt. Bloor spricht bei der konzeptionellen Ausgestaltung des Ansatzes deshalb auch von einem »Strong Programme in the Sociology of Knowledge« in Abgrenzung zu einer (als »weak programme« oder als »distortion paradigm« bezeichneten) Auffassung, die darauf besteht, daß sich ausschließlich wissenschaftliche Irrtümer im Rekurs auf soziale Ursachen erklären lassen. Erkenntnisleitend für das ›Strong Programme‹ sind die vier folgenden Grundsätze: (1) Die Soziologie wissenschaftlichen Wissens zielt darauf ab, die Inhalte wissenschaftlichen Wissens kausal zu erklären, also die sozialen Bedingungsfaktoren der Wissensbestände zu ermitteln; (2) der Ansatz verhält sich neutral gegenüber den im Untersuchungsfeld vorgebrachten Wahrheits-, Rationalitäts- und Erfolgsannahmen; (3) die Theorie argumentiert symmetrisch, erklärt somit (behauptete) Wahrheiten und Unwahrheiten mit den gleichen Ursachetypen; (4) die konzeptionelle Version verfährt selbstreflexiv, behauptet demgemäß, daß der Erklärungsansatz des ›Strong Programme‹ auf sich selbst anwendbar ist. Das von Bloor und Barnes formulierte Programm einer Soziologie wissenschaftlichen Wissens hat zahlreiche Nachfolgearbeiten und empirische Studien, insbesondere eine Reihe wissenschaftshistorischer Beiträge, initiiert, 13 daneben aber auch heftige Debatten ausgelöst. 14 Zugleich kann gesagt werden, daß das 12 | Vgl. etwa Bloor, David, Knowledge and Social Imagery, London et al. 1976; Barnes, Barry, Scientific Knowledge and Sociological Theory, London 1974. 13 | Weil die Begründer (und auch ein Großteil der späteren Verfechter) des ›Strong Programme‹ an der Universität in Edinburgh tätig waren bzw. sind, wird dieser Ansatz häufig auch als Edinburgh School bezeichnet. Zu den renommierten wissenschaftshistorischen Beiträgen dieser Schule zählen u.a. Shapin, Steven, A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago 1994; Ders., The Scientific Revolution, Chicago 1996; Ders./Schaffer, Simon, Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton 1985. 14 | Eine weitreichende Kritik am ›Strong Programme‹ formuliert Larry Laudan, der sich insbesondere gegen die relativistischen Grundannahmen von Bloor und Barnes wendet; vgl. Laudan, Larry, »The Pseudo-Science of Science«, in: James Robert Brown (Hg.), Scientific Rationality: The Sociological Turn, Dordrecht 1984, S. 41-73. Doch nicht nur Wissenschaftsphilosophen wie Laudan, sondern auch Verfechter konkurrierender Ansätze der Neueren Wissenschaftsforschung haben wiederholt Vorbehalte am ›Strong Programme‹ vorgebracht;
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›Strong Programme‹ den eigentlichen Auftakt für die Ausbildung (und dann auch interne Differenzierung) der Science Studies bildet.15 Jedenfalls entstehen in der Folgezeit, zum Teil in kritischer Auseinandersetzung mit dieser Konzeption, zum Teil aber auch weitgehend unabhängig davon, eine Vielzahl weiterer Schulen und Auffassungsweisen der Neueren Wissenschaftsforschung: angefangen beim Ansatz des Laborkonstruktivismus über diskursanalytische Positionen, feministische Standpunkttheorien und ethnomethodologische Konzeptionen bis hin zur AkteurNetzwerk-Theorie.16 Heutzutage präsentieren sich die Science Studies als eine breit gefächerte, äußerst vitale Theorienströmung, die über eine beachtliche Palette an begrifflichen, konzeptionellen und methodischen Werkzeugen zur Analyse der Wissenschaften verfügt. Versuche einer Systematisierung der verschiedenen Ansätze, Forschungsfelder und Analyseinstrumente sehen sich daher mit dem Problem konfrontiert, hierbei auf eine komplexe Diskurskonstellation zu treffen, die fortlaufenden Wandlungen und Verschiebungen unterliegt.17 Aus diesem Grunde wird im weiteren auch kein Überblick über die Neuere Wissenschaftsforschung angestrebt. Vielmehr ist beabsichtigt, mit Blick auf ausgewählte Themenbereiche verschiedene, für relevant erachtete Theoriepositionen und methodische Vorgehensweisen vorzustellen. kritisiert wird insbesondere, daß die von der Edinburgh School formulierte These einer sozialen Konstruktion wissenschaftlichen Wissens die Bedeutung materialer Faktoren ausblendet. Bloor selbst hatte allerdings schon in seiner programmatischen Frühschrift diesem Idealismusvorbehalt mit dem Hinweis zu begegnen versucht, daß neben sozialen Faktoren eine Vielzahl weiterer Ursachen am Zustandekommen wissenschaftlichen Wissens mitwirken; vgl. Bloor, Knowledge and Social Imagery, a.a.O., S. 7. 15 | Zur Ausbildung und historischen Entwicklung der Neueren Wissenschaftsforschung existiert eine Vielzahl einführender Darstellungen; vgl. etwa Felt, Ulrike/Nowotny, Helga/ Taschwer, Klaus, Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, Frankfurt a.M./New York 1995; Sismondo, Sergio, An Introduction to Science and Technology Studies, Malden/Oxford/Carlton 2004; David, Matthew, Science in Society, Basingstoke 2005; Bammé, Arno, Science and Technology Studies. Ein Überblick, Marburg 2009. 16 | Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 17 | Ähnlichen Schwierigkeiten sehen sich diachronische Darstellungen gegenüber, die verschiedene, durch deutliche Brüche und Verschiebungen voneinander abgegrenzte Phasen der Neueren Wissenschaftsforschung zu unterscheiden versuchen. Der vielfach aufgegriffene Vorschlag von Andrew Pickering (»From Science as Knowledge to Science as Practice«, in: Ders. (Hg.), Science as Practice and Culture, Chicago/London 1992, S. 1-26), daß in den science studies Wissenschaft zunächst als Wissen, später dann als Praxis konzeptualisiert wird, bekommt es mit dem Problem der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu tun – schließlich fungiert der Praxisbegriff bereits in den frühen Schriften der Edinburgh School als Grundbegriff, und in späteren Beiträgen zur Neueren Wissenschaftsforschung wird der Wissensbegriff keineswegs vollständig aufgekündigt. Hinweise auf die Übergeneralisierung derartiger ›Epocheneinteilungen‹ finden sich bei Harry M. Collins und Robert Evans, die (ausgehend von einer weiten Fassung des Begriffs der Wissenschaftsforschung) für eine dritte Welle der science studies plädieren, bei der eine normative Theorie der wissenschaftlichen Expertise an die Stelle der frühen positivistischen Ansätze und nachfolgenden konstruktivistischen Positionen tritt. Vgl. Collins, Harry M./Evans, Robert, »The Third Wave of Science Studies«, in: Social Studies of Science 32, 2002, S. 235-296.
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1. Ö FFNUNG UND S CHLIESSUNG WISSENSCHAF TLICHER K ONTROVERSEN Anknüpfend an Quines These der empirischen Unterdeterminiertheit theoretischen Wissens betont die Neuere Wissenschaftsforschung die prinzipielle Offenheit des Forschungsprozesses. Wissenschaftliches Wissen ist kontingentes Wissen, dessen Wahrheit nicht ein für allemal feststeht, also weder durch die Dinge ›dort draußen‹ noch durch eine wie immer gewonnene empirische Evidenz verbindlich verbürgt ist. Gleichwohl gilt ein großer Teil der wissenschaftlichen Erkenntnis als ein konsolidiertes, gültiges Wissen. Damit stellt sich die Frage, wie Offenheit und Unsicherheit in (unterstellte) Gewißheit transformiert wird. Eine Antwort hierzu erhofft sich eine Forschergruppe um Harry M. Collins insbesondere von der Analyse wissenschaftlicher Kontroversen, also einer Untersuchung innerwissenschaftlicher Debatten, in deren Verlauf Deutungen vorgebracht, bestritten, verteidigt und (gegebenenfalls) stabilisiert werden.18 Das dabei entwickelte Modell zur Analyse der Öffnung und Schließung wissenschaftlicher Kontroversen gliedert sich in drei sukzessiv aneinander anschließende Untersuchungsschritte. 19 In einem ersten Schritt wird die Deutungsoffenheit empirischer Daten und experimenteller Befunde herausgearbeitet. Forschungsergebnisse können in vielfältiger Weise gedeutet und ausgelegt werden. Collins spricht kurz von einer interpretativen Flexibilität empirischer Resultate. Einen Grund hierfür stellt der sogenannte experimentelle Zirkel dar: Wissenschaftliche Theorien berufen sich auf experimentelle Ergebnisse, die jedoch umgekehrt von theoretischen Interpretationen abhängig sind. Am Beispiel einer Kontroverse über Experimente zur Entdeckung von Gravitationswellen erläutert Collins die Interpretationsoffenheit apparativ erfaßter Meßdaten. Um den Nachweis zu führen, daß die gewonnenen Daten die Existenz von Gravitationswellen zweifelsfrei belegen, gilt es zunächst sicherzustellen, daß die Meßapparatur zuverlässig funktioniert. Die Frage nach der Zuverlässigkeit des Meßdetektors schließt die Frage ein, ob die Apparatur die ›richtigen‹ Daten erfaßt. 18 | Aufgrund der von Collins und Kollegen ausgeübten Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität in Bath wird der von ihnen formulierte Ansatz häufig auch als Bath School tituliert. Collins selbst bezeichnet seine Konzeption, weil hier keine epistemologische Stellungnahme bezüglich des Realismus/Antirealismus wissenschaftlicher Aussagen vorgenommen wird, auch als empirisches Programm des Relativismus (kurz: EPOR). In ihren Selbstdarstellungen präsentiert sich die Bath School zumeist als Gegenprogramm zur Edinburgh School; mit Blick sowohl auf die praktizierten Forschungsmethoden als auch die dabei erarbeiteten Theoriekonzepte fallen jedoch eher die weitreichenden Parallelen ins Auge. Jedenfalls reicht der häufig herangezogene Hinweis auf das Interessensmodell nicht aus, eine trennscharfe Differenzierung zwischen den beiden Positionen vorzunehmen: Weder orientiert sich die Edinburgh School ausschließlich am Modell externer sozialer Interessen (dieses wird in späteren Arbeiten vielmehr ergänzt bzw. ersetzt durch das Konzept des Bedeutungs-Finitismus, wonach wissenschaftliche Begriffe und Klassifikationen auf sozialen Konventionen basieren), noch kommt die Bath School gänzlich ohne Hinweis auf involvierte Interessen aus. 19 | Vgl. insbesondere Collins, Harry M., »An Empirical Relativist Programme in the Sociology of Scientific Knowledge«, in: Karin Knorr-Cetina/Michael Mulkay (Hg.), Science Observed. Perspectives in the Social Study of Science, London 1983, S. 85-113; Ders., Changing Order. Replication and Induction of Scientific Practice, London 1985.
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Was ein ›richtiges‹ Resultat ist, ist jedoch davon abhängig, ob es tatsächlich Gravitationswellen gibt – doch um genau diese Frage drehte sich ja die Kontroverse. Kurz: Die Durchführung (und Replikation) eines Experiments gibt allein keinen Aufschluß darüber, welche Beobachtungsresultate als relevante Daten und welche als Meßfehler zu interpretieren sind.20 Wenngleich empirische Daten auf vielfältige Weise deutbar sind, ein Ausweg aus dem experimentellen Zirkel allein mit logischen und rationalen Mitteln nicht zu bewerkstelligen ist, produziert die Wissenschaft dennoch verbindliche Forschungsergebnisse, gelingt ihr also die Fabrikation wissenschaftlicher Erkenntnisse, an deren Gültigkeit kaum jemand zweifelt. Nach Auskunft von Collins sind es vor allem Aushandlungsstrategien, also soziale Ursachen, die den experimentellen Zirkel durchbrechen und eine konsensuelle Einigung der Kontrahenten erwirken. »Some ›non-scientific‹ tactics must be employed because the resources of experiment alone are insufficient.«21 In einem zweiten Schritt wird deshalb analysiert, wie und mit welchen sozialen Mechanismen die interpretative Flexibilität eingegrenzt wird, somit wissenschaftliche Schließungs- und Entscheidungsprozesse zustande kommen. Als mögliche Ursachefaktoren werden etwa rhetorische Darstellungstechniken, die Reputation der beteiligten Experimentatoren bzw. Wissenschaftler sowie das Prestige der involvierten Institutionen, ferner strategische Interventionen und Koalitionsbildungen genannt, wobei Wert auf die Feststellung gelegt wird, daß die Mechanismen von Einzelfall zu Einzelfall erheblich variieren können, somit erst die Detailanalyse einer Kontroverse genauere Aussagen ermöglicht. Einzelne Verallgemeinerungen sind damit nicht ausgeschlossen. Hierfür steht etwa Collins’ Konzept des ›Core-Sets‹, das besagt, daß innerwissenschaftliche Kontroversen von einer relativ kleinen Zahl der tatsächlich an der Debatte beteiligten Wissenschaftler entschieden wird. In einem abschließenden dritten Schritt wird den Verbindungen zwischen innerwissenschaftlichen Debatten und wissenschaftsexternen Kontexten nachgegangen. Insbesondere interessiert sich Collins für die ökonomischen und politischen Strukturen, die mit Vorgängen der Schließung wissenschaftlicher Kontroversen gekoppelt sind. Entscheidend für den Ausgang wissenschaftsinterner Debatten ist demzufolge auch, welche außerwissenschaftlichen Ressourcen die in der Kontro20 | Collins’ Ausführungen zum experimentellen Zirkel sind nicht unwidersprochen geblieben; Allan Franklin verweist bei seiner Reanalyse der Experimente über Gravitationswellen auf eine Vielzahl von Kriterien (Koinzidenztests, Kalibrierung der Detektoren durch bekannte elektrostatische Pulse etc.), die es seines Erachtens ermöglichen, den Zirkel mit epistemisch stichhaltigen Argumenten zu durchbrechen; vgl. Franklin, Allan, »How to avoid the experimenters’ regress«, in: Studies in the History and Philosophy of Science 25, 1994, S. 463-491. 21 | Collins, Harry M., Changing Order, a.a.O., S. 143. Wichtig sind die beim Begriff der ›nicht-wissenschaftlichen‹ Taktiken verwendeten Anführungszeichen. Collins geht es nicht darum, die zuvor dekonstruierte Unterscheidung zwischen internen rationalen Gründen und externen sozialen Ursachen wiederzubeleben, sondern das tradierte Bild zu verabschieden, demzufolge sozialen Aushandlungsstrategien kein Platz in den Wissenschaften zukommt. »Scientists do not act dishonourably when they engage in the debates typical of core sets ( ). There is no realm of ideal scientific behaviour. Such a realm – the canonical model of science – exists only in our imaginations.« (Ebd.)
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verse involvierten Forscher mobilisieren können, inwieweit es ihnen etwa gelingt, soziale Netzwerke mit industriellen und politischen Akteuren zur Stützung ihrer Position einzurichten. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Ansatz von Collins darauf abzielt, die sozialen Mechanismen zu identifizieren, die Forscher erfolgreich einsetzen, um sowohl die wissenschaftliche als auch nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit von der Richtigkeit ihrer jeweiligen Interpretationen zu überzeugen.
2. E XPERIMENTE Die Auffassung, daß die modernen (Natur-)Wissenschaften ihren Erfolg dem systematischen Einsatz experimenteller Methoden verdanken, kann geradezu als ein Allgemeinplatz der Wissenschaftstheorie bezeichnet werden. Aus Sicht der Science Studies zeigte die klassische Wissenschaftsphilosophie dennoch nur ein geringes Interesse an einer detaillierten Untersuchung der experimentellen Praxis. Demzufolge fokussierte sich diese weitgehend auf eine Analyse wissenschaftlicher Ideen, Paradigmen und Theorien; Experimente galten ihr dagegen als nachgeordnete, theoretisch eingebettete Verfahren, die lediglich der Überprüfung vorab angefertigter Hypothesen dienten.22 Ausgehend von dieser Kritik am Primat der Theorie ist es das erklärte Ziel einer Vielzahl von Arbeiten der Neueren Wissenschaftsforschung, eine grundsätzliche Neuerkundung (und Neubewertung) der experimentellen Praxis und der dabei verwendeten Laborapparaturen, Meßgeräte und Aufzeichnungs- bzw. Visualisierungsinstrumente vorzunehmen. Maßgeblichen Einfluß auf diese vor allem seit den 1980er Jahren zu beobachtende Umorientierung kommt Ian Hackings Buch »Representing und Intervening« zu, in dem sich dieser für eine verstärkte Hinwendung zu Praktiken des aktiven Eingreifens (gegenüber Verfahren des passiven Darstellens) bei der Untersuchung der Wissenschaften ausspricht.23 Kennzeichnend für den von Hackings Studie ausge22 | Für diese Auffassung steht etwa Karl Popper: »Der Experimentator wird durch den Theoretiker vor ganz bestimmte Fragen gestellt und sucht durch seine Experimente für diese Fragen und nur für sie eine Entscheidung zu erzwingen; alle anderen Fragen bemüht er sich dabei auszuschalten.« (Popper, Karl, Logik der Forschung. Zehnte, verbesserte und vermehrte Auflage, Tübingen 1994, S. 72.) Nach Ansicht vieler Protagonisten des Neuen Experimentalismus ist diese theorienzentrierte Perspektive nicht nur für die klassische Wissenschaftsphilosophie typisch, sondern findet sich etwa auch bei Kuhn oder in den sozialkonstruktivistischen Studien der (frühen) Edinburgh School und der Bath School. 23 | Vgl. die deutsche Übersetzung Hacking, Ian, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart 1996. Allerdings wäre es falsch, Hackings Plädoyer für eine angemessene Würdigung der Bedeutung und Dynamik der experimentellen Praxis als absolute Novität anzusehen; vergleichbare Argumente, die sich gegen eine Degradierung von Experimenten zu reinen Testverfahren wenden, waren schon lange zuvor – u.a. von Fleck oder von Vertretern des amerikanischen Pragmatismus – vorgebracht worden. Für John Dewey etwa dienen Experimente primär der Herstellung neuer Erfahrungsgegenstände und nicht der Bestätigung oder Widerlegung zuvor formulierter Theorieannahmen; vgl. Dewey, John, Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln, Frankfurt a.M. 2001, S. 190f.
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henden ›Neuen Experimentalismus‹ ist die Betonung einer weitgehenden Autonomie experimenteller Verfahren.24 Demzufolge unterliegen diese keinem Diktat theoretischer Aussagensysteme, folgen keiner eindimensionalen Ordnung, sondern führen gewissermaßen ein Eigenleben. Die experimentelle Praxis stellt ein offenes, exploratives Geschehen mit vielfältigen Funktionsaufgaben dar, die neben der Überprüfung wissenschaftlicher Theorien etwa auch die Standardisierung technischer Meßinstrumente, die Generierung neuer Forschungsfragen, die Ausbildung bzw. Erkundung unvorhergesehener Interpretationsmöglichkeiten und die Konstruktion bzw. technische Erzeugung ganzer Phänomenbereiche mitumfaßt. An die Stelle des älteren Standardmodells, das von einem (hierarchisch konzipierten) Theorie-Experiment-Dualismus ausging, tritt der Hinweis auf die mannigfaltigen Beziehungen bzw. Verflechtungen von theoretischen und experimentellen Ordnungen; Kuhns Auffassung einer Theoriebeladenheit der Beobachtung wird, wenn nicht aufgekündigt, so doch zumindest ergänzt um die These einer Praxisbeladenheit der Theorie. Zugleich dokumentieren die zumeist in Form von Fallstudien angelegten Arbeiten des ›Neuen Experimentalismus‹ ein Interesse an der wissenschaftlichen Alltagskultur, bei dem gleichermaßen die Mikrostruktur wie die vielfältigen Kontexte des experimentellen Handelns in den Blick rücken; das Augenmerk richtet sich dabei u.a. auf die materiale Infrastruktur experimenteller Anordnungen, auf die praktischen Fertigkeiten und impliziten Wissensbestände der am Experiment beteiligten Wissenschaftler, Techniker und Instrumentenbauer, auf die habituellen Gewohnheiten und Routinen der Labortätigkeit oder auf die wirtschaftlichen bzw. politisch-administrativen Randbedingungen, die die Auswahl und den Einsatz konkreter Materialien, Apparaturen und Untersuchungsverfahren beeinflussen. Ein vielbeachtetes Modell zur Beschreibung der (relativen) Autonomie von Experimenten hat der englische Wissenschaftshistoriker Peter L. Galison vorgelegt. Den Ausgangspunkt seines Vorschlags bildet die Unterscheidung zwischen verschiedenen sozialen Gruppen (wie etwa der der Theoretiker, der Experimentatoren und der Techniker), die gleichsam eigenständige Subkulturen der Wissenschaftspraxis bilden. Wenngleich die einzelnen Gruppen deutliche Unterschiede aufweisen, etwa über divergierende Wahrnehmungsmuster und Erwartungen verfügen, abweichende Routinen ausbilden und sich mit disparaten Aufgaben konfrontiert sehen, so sind damit wechselseitige Beziehungen und Einflüsse nicht ausgeschlossen. Galison spricht von der Einrichtung von Handelszonen (»trading zones«), in denen die Subkulturen mit Hilfe von drastisch vereinfachten Kontaktsprachen (»pidgins«) einen kommunikativen Austausch betreiben. Dieses Modell einer kontextuellen Abhängigkeit der verschiedenen Subkulturen weist eine sichtlich gegen die Annahmen von Kuhn gerichtete Stoßrichtung auf: Im Gegensatz zu Kuhns Konzept des Paradigmenwechsels wird kein Gleichklang bei der Änderung theoretischer, experimenteller und technischer Vorannahmen und Praktiken behauptet; vielmehr erweist sich das Modell variabel genug, um auch häufig zu beobachtende Vorgänge zu erfassen, bei denen etwa das experimentelle (und/oder 24 | Einen informativen Überblick über Ausgangspunkte, Problemperspektiven und Ansätze des »Neuen Experimentalismus« bietet Hentschel, Klaus, »Historiographische Anmerkungen zum Verhältnis von Experiment, Instrumentation und Theorie«, in: Christoph Meinel (Hg.), Instrument – Experiment. Historische Studien, Berlin/Diepholz 2000, S. 13-51.
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auch: das technische) Regime trotz Theorienwandels aufrechterhalten bleibt oder deutlich voneinander abweichende Experimentalstrategien sich der gleichen Instrumente (bzw. Theorien) bedienen. Und anders als Kuhn behauptet Galison keine Inkommensurabilität der verschiedenen Theorieperspektiven und Wissenschaftssprachen; in seiner Sicht lassen es die eingerichteten Handelszonen nicht zu, daß sich unvergleichbare, vollständig isolierte (und intern weitgehend homogenisierte) Paradigmen herausbilden. »Contextualism works against framework relativism.«25 Die Offenheit und Eigendynamik experimenteller Anordnungen betont auch Hans-Jörg Rheinberger, der in einer Fallstudie über die von Paul Zamecnik geleiteten Untersuchungen am Collis P. Huntington Memorial Hospital in Boston zur Proteinsynthese der Frage nachgeht, wie in der Laborpraxis etwas Neues entsteht.26 Ausgehend von der Beobachtung, daß Experimente nicht isoliert, sondern im Verbund stattfinden (weil Einzelexperimente sich als wenig aussagekräftig erweisen), entwickelt Rheinberger den Begriff des Experimentalsystems, mit dem er intern verflochtene Versuchsarrangements als kleinste vollständige Arbeitseinheiten der Forschung bezeichnet. Derartige Experimentalsysteme, die sich als Konglomerate u.a. von Untersuchungssubstanzen, vagen Ideen und Ausgangsvermutungen, Meß- und Aufzeichnungsapparaturen, praktischen Fertigkeiten der Forscher und Routinen der Laborpraxis beschreiben lassen, geben im Falle ihres Gelingens Antworten auf Fragestellungen, an die zu Beginn der experimentellen Erkundung noch niemand gedacht hat; sie entfalten einen Repräsentationsraum, in dem unerwartete Ereignisse auftauchen, Differenzen zum Vorschein kommen können, die sich gegebenenfalls als Hinweise auf neue epistemische Dinge stabilisieren lassen (die Untersuchungen Zamecniks und seiner Mitarbeiter führten zur ›Entdeckung‹ des Moleküls der Transfer-RNA, brachten also eine molekulargenetische Einheit hervor, nach der im Kontext der Krebsforschung und der Biochemie anfänglich gar nicht gesucht worden war). Rheinberger legt Wert auf die Feststellung, daß diese epistemischen Dinge, also Objekte, in denen sich Begriffe verkörpern, weder unmittelbar aus vorab angefertigten Theorien (oder gar den sozialen Interessen der Wissenschaftler) resultieren noch schlicht mit den (immer schon vorhandenen, anfänglich jedoch verborgenen) Dingen ›dort draußen‹ zusammenfallen. Als tatsächlich neue Entitäten handelt es sich bei epistemischen Dingen um materielle Effekte des Experimentalsystems, die aus einem fortlaufenden Prozeß des operationalen Umdefinierens hervorgehen. Zur genaueren Beschreibung dieses Geschehens bedient sich Rheinberger des erweiterten Schriftbegriffs von Jacques Derrida. Demzufolge ist die Produktion epistemischer Dinge gleichzusetzen mit der iterativen Hervorbringung materiell-semiotischer Spuren, also einem Vorgang, in dem ständig Repräsentationen erzeugt, transformiert, verknüpft und überlagert werden. Die einzelnen Eintragungen erhalten ihre Bedeutung nicht von der bezeichneten Sache, sondern von ihren Beziehungen zu anderen Zeichen. Spuren lassen sich allein im Lichte weiterer Spuren deuten; die Experimentatoren bekommen nicht das Repräsentierte als solches zu fassen, sondern eben nur (materiell-semiotische) Repräsentationen, die das repräsentierte Objekt vertreten, verkörpern, realisieren: 25 | Galison, Peter L., »Context and Constraints«, in: Jed Z. Buchwald (Hg.), Scientific Practice. Theories and Stories of Doing Physics, Chicago/London 1995, S. 13-41, hier S. 40. 26 | Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001.
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»Mit der Produktion epistemischer Dinge sind wir in eine potentiell endlose Folge von Darstellungen verwickelt, in welcher der Platz des Referenten immer wieder von einer weiteren Darstellung besetzt wird.«27 Die wissenschaftliche Tätigkeit stellt sich damit als eine Praxis des Spurensuchens und Spurenlesens dar, die nach vorne offen ist, also keine endgültige Fixierung von Bedeutung zuläßt.
3. E PISTEMISCHE K ULTUREN Eine Analyse der Wissenschaften, die sich für die konkrete Forschungspraxis interessiert, bekommt es nach Auskunft der Neueren Wissenschaftsforschung mit einer heterogenen Vielfalt von epistemischen Zielen, Ausrichtungen, Strategien und Standards zu tun. Damit wenden sich die Science Studies gegen die Auffassung, daß die Wissenschaften ein homogenes Unternehmen mit einem festen Wesenskern – etwa: einheitliche Methodik, verbindliche Prinzipien, invariable Grundsätze – darstellen. An die Stelle der Prämisse einer Einheit der Wissenschaft (Singular), für die sich etwa Protagonisten des logischen Positivismus und des kritischen Rationalismus ausgesprochen hatten, rückt das Schlagwort einer ›Fragmentierung bzw. Diversifikation der Wissenschaften‹28 . Wissenschaftliche Praktiken weisen demzufolge eine erhebliche Variabilität auf; so existieren u.a. beträchtliche Unterschiede hinsichtlich der jeweiligen Gegenstandsfelder, Realitätsannahmen, kognitiven Erkenntnisstile, methodischen Vorgehensweisen, Organisationsformen, materialen Arbeitsgegenstände, technologischen Apparaturen und Objektbeziehungen. Derartige Differenzen lassen sich nicht nur zwischen den einzelnen Disziplinen oder gar Disziplingruppen wie den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften ausmachen, sondern sie finden sich auch innerhalb ein und derselben Disziplin. In einer Vielzahl von Beiträgen wird der Begriff der Kultur – u.a. ist von epistemischen Kulturen, Wissenskulturen oder auch Wissenschaftskulturen die Rede – herangezogen, um die Vielfalt und Divergenz von Forschungs- und Erkenntnispraktiken nachzuzeichnen. So spricht man etwa von Kulturen des Messens, von Kulturen des Experiments oder von Strategien bzw. kulturellen Stilen der Sichtbarmachung.29 Von Karin Knorr Cetina stammt die bislang umfangreichste Studie
27 | Rheinberger, Hans-Jörg, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, a.a.O, S. 112. 28 | Galison, Peter L./Stump, David J. (Hg.), The Disunity of Science: Boundaries, Contexts, and Power, Stanford 1996. 29 | Häufig dient der Begriff der Kultur auch dazu, die Einflüsse nationaler bzw. regionaler Kontexte auf die Wissenschaftspraxis zu beschreiben. Collins behauptet etwa einen Unterschied zwischen der US-amerikanischen und der italienischen Kultur bei der Erforschung von Gravitationswellen; vgl. Collins, Harry M., »The Meaning of Data: Open and Closed Evidential Cultures in the Search for Gravitational Waves«, in: American Journal of Sociology 104, 1998, S. 293-338; Sharon Traweek berichtet von kulturellen Unterschieden zwischen amerikanischen und japanischen Forschungen zur Hochenergiephysik; vgl. Traweek, Sharon, Beamtimes and Lifetimes. The World of High Energy Physics, Cambridge 1988.
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über die kulturelle Heterogenität naturwissenschaftlicher Wissensformen.30 Dabei vergleicht sie die Hochenergiephysik mit der Molekularbiologie. Aus ihrer Sicht sind die beiden Forschungsfelder durch deutlich unterschiedliche Wissensmaschinerien gekennzeichnet, verfügen also über abweichende kulturelle Erzeugungsregime zur Produktion von Wahrheitseffekten. Die Unterschiede beginnen bereits bei der Größenordnung: Im Gegensatz zur experimentellen Hochenergiephysik, die von globalen Kollaborationen getragen wird (bis zu 2000 Physiker aus bis zu 200 Instituten arbeiten hier zusammen), findet die Forschung der Molekularbiologie in kleinräumigen Laborkontexten statt. Hinzu kommen Differenzen bezüglich der Erkenntnisziele und -strategien: Der Hochenergiephysik geht es darum, die Grundbausteine des Universums zu bestimmen; hierbei kultiviert sie eine selbstreferentielle Epistemik des negativen Wissens, d.h. produziert ein Wissen von den Grenzen des Wissens. Demgegenüber zielt die Molekularbiologie auf die Erforschung genetischer Funktionen und Mechanismen; dabei orientiert sie sich an einem fremdreferentiellen Modus, der eine fortlaufende Interaktion mit natürlichen Objekten verlangt. Angelehnt an die genannten Unterschiede sind eine Reihe weiterer Differenzen: »Die eine Wissenschaft (Hochenergiephysik) transzendiert gängige soziokulturelle Zeit- und Größenskalen mit ihren langjährigen Großexperimenten, die andere (die Molekularbiologie) erhält sie aufrecht und nutzt sie dabei aus. Die eine Wissenschaft setzt auf Zeichenverarbeitung und bedient sich semiotisch-rekonstruktiver Verfahren, die andere betont sensorische Erfahrung und setzt Wissenschaftler damit der Objektebene analog. Die eine Wissenschaft (die Hochenergiephysik) wird durch einen relativen Verlust des Empirischen charakterisiert; die andere handelt praktisch immer im empirischen Raum; die eine transformiert Maschinen in physiologische Lebewesen, die andere verwandelt Lebewesen in Maschinen.«31 In bestimmter Hinsicht lassen sich auch die von Michael Gibbons und Kollegen vorgetragenen Überlegungen zum Wandel der epistemischen Strukturen wissenschaftlichen Forschungshandelns dem hier gewählten Themenkomplex zuordnen.32 Die Autoren behaupten einen grundlegenden, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sich vollziehenden kulturellen Umbruch in der Produktion wissenschaftlichen Wissens, bei dem die traditionelle Form der akademischen Wissenschaft (Modus 1) durch eine partizipatorische Forschungspraxis (Modus 2) ergänzt bzw. (in stärkerer Lesart) ersetzt wird. Für den älteren Modus ist u.a. kennzeichnend, daß hier die Wissensproduktion auf die Suche nach Naturgesetzen gerichtet ist, von universitären Institutionen getragen wird, eine nach Disziplinen gegliederte Organisationsform aufweist und die Kontrolle bzw. Evaluation der Forschung vor allem durch Peer-Review-Verfahren erfolgt. Wissenserzeugung im Modus 2 ist dagegen an der Erkundung und Produktion kontextbezogenen Wissens orientiert und findet in breiter ausgerichteten Anwendungszusammenhängen statt;33 charak30 | Vgl. Knorr Cetina, Karin, Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt a.M. 2002. 31 | Knorr Cetina, Karin, Wissenskulturen, a.a.O., S. 14f. 32 | Vgl. Gibbons, Michael et al., The new production of knowledge. The dynamics of science and research in contemporary societes, London 1994. 33 | Mit der Orientierung an konkreten Anwendungskontexten ist keineswegs gemeint, daß die Grundlagenforschung durch angewandte Forschung ersetzt wird; behauptet wird viel-
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teristisch für diesen Modus der Erkenntnisgewinnung sind ferner eine transdisziplinäre Ausrichtung und der Einbau neuer Formen der Qualitätskontrolle (etwa die Einbindung von Evaluatoren aus dem Anwendungskontext). Gegen die von Gibbons u.a. formulierte Auffassung sind zum Teil massive Vorbehalte formuliert worden. Kritisiert wird vor allem, daß die These einer neuen Form der Wissensproduktion bei der Darstellung der einzelnen Fabrikationsmodi von fragwürdigen Identitätsannahmen ausgeht, die weder der Vielfalt epistemischer Kulturen noch ihrer wechselseitigen Durchdringung und Überlagerung gerecht werden. »Es ist […] schwer vorstellbar, wie fundamentale epistemologische Veränderungen näher zu bestimmen wären, wo sich kaum einheitliche Kriterien der Epistemologie der Wissenschaft feststellen lassen. Je nachdem, welche Wissenschaften man im Auge hat, wird man unterschiedliche Theorien, Methoden, Modelle und Prozeduren als ›typisch‹ für sie veranschlagen müssen.«34 Doch auch mit Blick auf Knorr Cetinas Ausführungen stellt sich die Frage, ob ihre trennscharfe Unterscheidung von Hochenergiephysik und Molekularbiologie nicht der Vorstellung von epistemischen Kulturen als undurchlässigen, geschlossenen Monaden erliegt. Sie selbst ist dem Vorwurf mit dem Argument entgegengetreten, daß ihre komparative Untersuchung nicht auf eine Wesensbestimmung, sondern eine Relationsanalyse abzielt.35 Bei anderen Autoren, die sich ebenfalls des Begriffs der Wissenskultur bedienen, finden sich zum Teil noch weiter gehende Hinweise auf die Durchlässigkeit, Veränderbarkeit und damit zeitliche Begrenztheit epistemischer Kulturen.36
4. D IE M ATERIALITÄT DER W ISSENSCHAF TEN ›Science in the making‹ stellt nach Auskunft der Neueren Wissenschaftsforschung eine situierte kulturelle Praxis dar, die den fortlaufenden Gebrauch von technischen Artefakten und Apparaturen, überhaupt den Umgang mit dinglichen mehr, daß nicht nur letztere, sondern auch erstere auf die Produktion kontextuellen Wissens abzielt. »Selbst die reinste Grundlagenforschung findet in Anwendungskontexten statt, und Anwendung ist zum allgegenwärtigen gesellschaftlichen Imperativ der Forschung geworden.« (Nowotny, Helga, Es ist so. Es könnte auch anders sein. Über das veränderte Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1999, S. 50). 34 | Weingart, Peter, Die Stunde der Wahrheit. Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001, S. 343. Darüber hinaus wird kritisch vorgebracht, daß einerseits auch die ältere Wissenschaft disziplinübergreifende Forschungszusammenhänge gekannt hat, andererseits von einem nachhaltigen Bedeutungsverlust disziplinärer Forschung im Wissenschaftssystem der Gegenwart nicht die Rede sein kann. Zur Debatte über die These eines folgenreichen Wandels der Wissensproduktion vgl. Bender, Gerd (Hg.), Neue Formen der Wissenserzeugung, Frankfurt a.M./ New York 2001. 35 | Knorr Cetina, Karin, Wissenskulturen, a.a.O., S. 15. 36 | Hagner, Michael, »Ansichten der Wissenschaftsgeschichte«, in: Ders. (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a.M. 2001, S. 7-39; Rouse, Joseph, »What are Cultural Studies of Science«, a.a.O.
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Gegenständen und Objekten mitumfaßt, also in vielfältige materiale Kontexte eingelagert bzw. mit diesen verwoben ist. Ausgehend von der These einer Materialität wissenschaftlicher Praktiken nimmt in den Arbeiten der Science Studies, wie die vorstehenden Ausführungen bereits mehrfach angedeutet haben, die Untersuchung der dinglichen Infrastruktur der Wissenschaften einen breiten Raum ein; von Interesse sind dabei die im Forschungsprozeß experimentell erkundeten Untersuchungssubstanzen und Analyseobjekte ebenso wie die dabei verwendeten Aufbewahrungsutensilien, Laborgeräte, Meßvorrichtungen, Aufzeichnungs- bzw. Registrierungsinstrumente und Visualisierungsmedien.37 Für die (Neu-)Erkundung der materiellen Welt der Wissenschaften steht insbesondere der Name des französischen Soziologen und Philosophen Bruno Latour. Zwar stellt die von ihm (gemeinsam mit Michel Callon und John Law) formulierte Akteur-Netzwerk-Theorie38 nicht den einzigen Ansatz dar, der darauf abzielt, die Bedeutung gegenständlicher Objekte und technischer Apparaturen für die wissenschaftliche Praxis herauszuarbeiten; jedoch handelt es sich bei Latours Projekt einer Rehabilitation der Dinge und Artefakte, das auf deutliche Distanz zu gängigen Sozialtheorien (und konkurrierenden Positionen innerhalb des breiten Feldes der Science Studies) geht, um den in konzeptueller und begrifflicher Hinsicht weitestreichenden Vorschlag, dem die Debatte über die materielle Infrastruktur der Wissenschaften zahlreiche Impulse verdankt. Den programmatischen Ausgangspunkt der Akteur-Netzwerk-Theorie bildet die Kritik sozialkonstruktivistischer Ansätze der Neueren Wissenschaftsforschung (gemeint sind insbesondere das ›Strong Programme‹ von Bloor sowie das ›empirische Programm des Relativismus‹ von Collins). Der Hauptvorwurf lautet, daß der Sozialkonstruktivismus naturwissenschaftliches Wissen ausschließlich im Rekurs auf soziale Ursachefaktoren, also »die harten Fakten der Naturwissenschaft durch die weichen Fakten der Sozialwissenschaft«39 erklärt und damit den Eigenanteil der Dinge und Gegenstände bei der Konstruktion (natur-) wissenschaftlicher Tatsachen unterschlägt. Grundanliegen von Latour ist es daher, den materiellen Dingen ihre (verlorene) Eigenständigkeit zurückzugeben, das heißt, ihre Widerständigkeit oder besser: Handlungsfähigkeit anzuerkennen. Um dieses Ziel zu erreichen, formuliert die Akteur-Netzwerk-Theorie drei heuristische Grundsätze, die allesamt auf eine Radikalisierung und damit zugleich Überwin37 | Zum Einsatz von Instrumenten, Meßgeräten und materiellen Apparaturen in der wissenschaftlichen Praxis existiert eine umfangreiche Literatur; vgl. etwa Turner, Gerard L. E., Nineteenth-Century Scientific Instruments, Berkeley 1983 sowie Meinel, Christoph (Hg.), Instrument – Experiment. Historische Studien, Berlin/Diepholz 2000; speziell zur Verwendung von Visualisierungstechniken vgl. Heintz, Bettina/Huber, Jörg (Hg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Wien/New York 2001. 38 | Einen guten Überblick über Ausgangsannahmen und Grundaussagen der Akteur-Netzwerk-Theorie bietet die von Andréa Belliger und David J. Krieger herausgegebene und mit einem einführenden Überblicksartikel versehene Sammlung ausgewählter Texte (u.a. von Latour, Callon und Law), vgl. Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006. 39 | Latour, Bruno, »Das Versprechen des Konstruktivismus«, in: Jörg Huber (Hg.), Person/ Schauplatz. Interventionen 12, Wien/New York 2003, S. 183-209, hier S. 187.
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dung der Prämissen des Sozialkonstruktivismus abzielen. Bei der Analyse wissenschaftlichen Wissens wird, erstens, eine unparteiische Position eingenommen, die sich nicht nur in Hinsicht auf die behaupteten Wahrheits- und Rationalitätsansprüche, sondern auch bezüglich der Frage, welche Akteure bzw. Entitäten wie beteiligt sind, neutral verhält (Grundsatz der erweiterten Unparteilichkeit); zugleich wird, zweitens, eine einheitliche Beschreibungs- und Erklärungssprache verwendet, die natürliche, technische und soziale Einheiten durchgängig mit der gleichen Begrifflichkeit erfaßt (Grundsatz der generalisierten Symmetrie); dies erfordert drittens, daß die Annahme einer klar definierten Grenze zwischen Gesellschaft und Natur aufgekündigt wird (Grundsatz der freien Assoziation). Die genannten Grundsätze erfordern eine Umrüstung des theoretischen Begriffsrepertoires. Die Akteur-Netzwerk-Theorie bedient sich eines neuen, auf den ersten Blick ungewöhnlichen Beschreibungsvokabulars: Eine Vielzahl von Begriffen wird modifiziert, reinterpretiert und umdefiniert, also abweichend vom gängigen Sprachgebrauch verwendet oder durch terminologische Neuschöpfungen ersetzt. Beispielhaft hierfür steht die Neufassung bzw. Ausweitung der Akteurskategorie. Latour verwendet einen generalisierten Akteursbegriff, der eine Engführung auf menschliche Personen vermeidet. Jede wirkmächtige Einheit wird als Akteur begriffen, also Wissenschaftler und Labormitarbeiter aus Fleisch und Blut ebenso wie Mikroben, Moleküle, Meßinstrumente und Aufzeichnungsapparaturen. Der Gebrauch einer symmetrischen Begriffssprache meint aus Sicht der Akteur-Netzwerk-Theorie nicht, daß allen Entitäten ein gleichartiges oder homogenes Handlungspotential zugewiesen wird. Auch geht es nicht darum, unbelebten Gegenständen oder Pflanzen und Tieren den Status eines intentional handelnden Subjekts zuzuschreiben oder umgekehrt menschliche Personen als passive Dinge zu behandeln. Vielmehr wird der generalisierte Akteursbegriff als vollständige Alternative zur dichotomischen Redeweise von Subjekten und Objekten eingeführt. Die Begriffsrevision basiert auf der Annahme, daß Handeln einen dislokalen, nichttransparenten Vorgang darstellt, an dem eine Vielzahl von Entitäten beteiligt ist. Abgelehnt wird damit die Sichtweise, daß die Einheit der Handlung durch den subjektiven Sinn eines menschlichen Subjekts konstituiert, also Handeln von einer mit Bewußtsein und Willen ausgestatteten Person vollständig kontrolliert wird. Menschliche Personen sind in dieser Perspektive nicht die alleinigen Urheber von Handlungen. Und dingliche Gegenstände bilden nicht nur den passiven Hintergrund für menschliches Handeln, sondern sie greifen auf vielfältige Weise in Handlungsabläufe ein. Kurz: Handeln ist nach Auskunft von Latour das Resultat einer Pluralität von Kräften und vollzieht sich mittels unterschiedlicher Modi. Ausgehend von der Ausweitung des Akteursbegriffs wird auch die Konstruktionsmetapher neu definiert. Damit ist angedeutet, daß in der Akteur-NetzwerkTheorie, die ja auf Distanz zu den Prämissen des Sozialkonstruktivismus geht, der Konstruktionsbegriff nicht gänzlich verabschiedet, sondern maßgeblich reformuliert wird. Ausdrücklich wendet sich Latour gegen einen einfachen Abbildrealismus und spricht davon, daß wissenschaftliche Tatsachen nicht schlicht aufgefunden, sondern fabriziert, produziert, hergestellt werden – »les faits sont faits«. 40 Mit dem Begriff der Konstruktion wissenschaftlicher Tatsachen ist allerdings nicht länger allein die interpretative Tätigkeit der (Natur-)Wissenschaftler gemeint. Jegliche 40 | Latour, Bruno, »Das Versprechen des Konstruktivismus«, a.a.O., S. 195.
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Sonderrolle des Sozialen im Vorgang der Wirklichkeitskonstruktion wird bestritten. Vielmehr bezeichnet der Begriff der Konstruktion den Vorgang des Netzwerkbildens, an dem natürliche, artifizielle und menschliche Entitäten gleichermaßen beteiligt sind. Insofern gibt es kein Subjekt, keinen omnipotenten Schöpfer der Konstruktion. Vielmehr sieht sich jeder Beteiligte eines Netzwerks an eine Reihe weiterer Akteure verwiesen, die er nicht vollständig kontrollieren kann, sondern denen er umgekehrt seine Handlungsfähigkeit verdankt, mit denen er also seine Handlungsmacht teilt. Realität wird konstruiert, aber sie läßt sich von einem Einzelnen nicht beliebig formen und gestalten. Gelungene Realitätskonstruktionen sind danach das Resultat eines assoziativen (interobjektiven) Abstimmungs- und Übersetzungsprozesses, bei dem menschliche und nicht-menschliche Akteure ihre Handlungsmöglichkeiten übertragen, verschieben, modifizieren und aushandeln (und hierdurch neue bzw. veränderte Identitäten und Existenzformen annehmen). Derartige Realitätskonstruktionen lassen sich stabilisieren und verfestigen, insofern es gelingt, weitere Entitäten in das Netzwerk einzubinden. Aus der Sicht der Akteur-Netzwerk-Theorie bezeichnet das Begriffspaar Realität/Konstruktion somit keinen Gegensatz, sondern ein Steigerungsverhältnis – »je konstruierter, desto realer«. 41 Demzufolge sind wissenschaftliche Tatsachen autonom und real, nicht obwohl sie, sondern weil sie konstruiert worden sind; und sie gewinnen an Unabhängigkeit und Beständigkeit, um so mehr es gelingt, weitere Verbündete zu ihrer Stabilisierung hinzuzuziehen. 42 Latour illustriert seinen Theorievorschlag mit Hilfe einer Fallstudie zu Louis Pasteur. 43 Dabei geht er der Frage nach, wie es Pasteur gelang, ein Mittel zur Bekämpfung des Milzbrands zu entwickeln und einzuführen. Aus der Sicht von Latour hat Pasteur den Anthrax-Erreger nicht schlicht ›dort draußen‹ aufgefunden, aber auch nicht willkürlich fingiert. Vielmehr verdankt sich Pasteurs Erfolg dem Knüpfen eines Netzwerkes zwischen Mikroben, Bauern, Laborinstrumenten, Mitarbeitern, Hygieneexperten, geimpften Tieren, Verwaltungsbeamten etc. Zur Hervorbringung und Stabilisierung dieses Netzwerkes war eine Vielzahl von Übersetzungsvorgängen erforderlich: Unter anderem galt es, das lokale Erfahrungswissen der Bauern in theoretische Modellannahmen zu transformieren, die Anthrax-Krankheit in einem Pariser Labor zu reproduzieren und die Zustände in den Schafställen möglichst weitgehend den hygienischen Laborbedingungen anzupassen. Übersetzungen stellen mehrstufige Prozesse dar, in deren Verlauf die Handlungsprogramme der Akteure verschoben, angepaßt, transformiert (mitunter gänzlich getilgt) werden, die Beteiligten also neue Identitäten, Eigenschaften und Kompetenzen zugewiesen bekommen. Auch die Mitwirkenden an Pasteurs Entdeckung/Konstruktion des Milzbranderregers erhielten, so Latour, im Fortgang der erfolgreichen Netzwerkbildung eine veränderte Gestalt: Unscheinbare Mikroben 41 | Latour, Bruno, »Das Versprechen des Konstruktivismus«, a.a.O., S. 193. 42 | Zur kritischen Auseinandersetzung mit Latours Zurückweisung des Sozialkonstruktivismus bzw. seiner Umrüstung des Konstruktionsbegriffs vgl. Kneer, Georg, Jenseits von Realismus und Antirealismus. Eine Verteidigung des Sozialkonstruktivismus gegenüber seinen postkonstruktivistischen Kritikern, in: Zeitschrift für Soziologie 38, 2009, S. 5-25. 43 | Latour, Bruno, The Pasteurization of France, Cambridge 1988; Ders., »Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die Welt aus den Angeln heben«, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), ANThology, a.a.O., S. 103-134.
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mutierten zu gefährlichen Krankheitserregern, triviale Glasgefäße eroberten den Platz von unverzichtbaren Laborinstrumenten und aus Pasteur selbst wurde eines der größten Wissenschaftsgenies.
5. I NNEN UND A USSEN DER W ISSENSCHAF TEN Ein geradezu klassisches Arbeitsfeld der Wissenschaftssoziologie bildet die Untersuchung der Austauschbeziehungen, die das Wissenschaftssystem mit seiner sozialen Umwelt unterhält. Von Interesse sind dabei die Auswirkungen der fortlaufenden Produktion neuen Wissens auf die Entwicklung der Gesellschaft ebenso wie die Einflüsse u.a. von Wirtschaft, Politik und Medien auf wissenschaftsinterne Prozesse. Mehr oder weniger unbefragt wird dabei die (bereits von der älteren philosophy and history of sciences formulierte) Auffassung einer klaren Trennung zwischen Innen und Außen der Wissenschaften unterstellt. Mit der radikalen Kontextualisierung der Wissenschaften, die die Science Studies betreiben, wird genau diese Annahme in Zweifel gezogen. Besser gesagt ließe sich davon sprechen, daß die Frage, ob sich die Wissenschaft mehr oder weniger trennscharf von anderen gesellschaftlichen Bereichen unterscheidet, zum Gegenstand intensiver Debatten wird (wobei allerdings keine der beteiligten Seiten Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Praktiken bestreitet). Zum Abschluß sollen einige hierzu vorgetragene Auffassungen und Grundpositionen kurz vorgestellt werden. Eine Fortführung der These mehr oder weniger deutlich sichtbarer Außengrenzen der Wissenschaften findet sich in den Schriften von Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu, die diese Annahme allerdings mit neuen konzeptuellen Mitteln zu begründen unternehmen. 44 Luhmann begreift die Wissenschaft als ein autopoietisch operierendes Subsystem der modernen Gesellschaft.45 Der Begriff der Autopoiesis besagt, daß die Wissenschaft ihre Elemente, aus denen sie besteht, in einem rekursiven Verweisungszusammenhang herstellt, also wissenschaftliches Wissen entlang selbst erarbeiteter Vorgaben produziert – und somit nur ein solches Wissen akzeptiert, das sie selbst fabriziert, überprüft, getestet hat. Als unverwechselbare Bezugspunkte wissenschaftlicher Kommunikation, mit deren Hilfe das System eine operative Schließung erlangt und sich so von anderen gesellschaftlichen Teilsystemen abgrenzt, dienen einerseits eine spezifische Funktionsorientierung (Herstellung und Prüfung neuen Wissens), andererseits eine systemeigene binäre Codierung (wahr/unwahr). Aus der Sicht von Bourdieu stellt sich die Wissenschaft als ein ausdifferenziertes soziales Feld dar, bildet also einen selbständigen Ordnungsraum, der über eigengesetzliche Strukturausprägungen verfügt. 46 Ihre Ausdifferenzierung verdankt die Wissenschaft der Ausbildung und 44 | Dabei ist strittig, ob die Beiträge von Luhmann und Bourdieu überhaupt dem Theorienfeld der Science Studies zugerechnet werden können; dies nicht zuletzt deshalb, weil beide Denker die im Text erläuterte These einer Ausdifferenzierung der Wissenschaft stark machen. 45 | Vgl. Luhmann, Niklas, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990. 46 | Vgl. Bourdieu, Pierre, Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz 1998.
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Institutionalisierung einer Vielzahl von spezifischen Einrichtungen, wie etwa wissenschaftseigenen Regeln, Kapitalsorten und Habitusformen. Dabei gilt, daß in der Wissenschaft, wie in anderen sozialen Feldern auch, ein ständiger Konkurrenzkampf um die Bewahrung bzw. Veränderung von Kräfteverhältnissen ausgetragen wird; hierzu zählen auch fortlaufende Definitionskämpfe um die Grenzen des Feldes, in denen die Akteure etwa über Fragen der Beteiligung und der legitimen Teilnahme streiten. Eine deutliche Frontstellung gegenüber der zuvor genannten Auffassung nimmt Latour ein. Die Auffassung einer klaren Trennung zwischen Wissenschaft auf der einen Seite und Politik, Wirtschaft, Recht, Kunst etc. auf der anderen Seite – und zugleich damit: die Annahme einer Dichotomie von Kultur und Natur – gilt ihm als modernes Vorurteil, als ein folgenreicher Trugschluß, dem er entgegentreten möchte. Hierzu verweist er auf die vielfältigen Verknüpfungen zwischen Laboratorium und ›Gesellschaft‹, die seines Erachtens die Redeweise von einem Innen und Außen der Wissenschaft ab absurdum führen. »Es gibt kein ›Außerhalb‹ der Wissenschaft, aber es gibt lange, schmale Netzwerke, welche die Zirkulation von wissenschaftlichen Fakten ermöglichen.«47 Aus Sicht der Akteur-NetzwerkTheorie stellt sich die Wissenschaft als ein hybrides Unternehmen dar, das auf unentwirrbare Weise mit politischen und wirtschaftlichen (sowie vielen weiteren) Praktiken bzw. Entitäten verwoben ist. Um Latours Rekonstruktion der Forschungstätigkeiten Pasteurs erneut aufzugreifen: Pasteurs wissenschaftlicher Erfolg verdankt sich einer Reihe von Übersetzungsprozessen (Transformation der Krankheit in eine Petrischale, Organisation eines Feldversuchs auf den Bauernhöfen, Gewinnung von Geldgebern, administrative Durchsetzung neuer Hygienevorschriften etc.), mit denen es gelingt, weitere Verbündete in ein komplexes Netzwerk einzubeziehen; insofern ist der Vorgang der Etablierung und Verfestigung wissenschaftlicher Tatsachen intern mit politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen Praktiken verknüpft, ohne daß sich die einzelnen Aktivitäten fein säuberlich getrennten Logiken oder Wertsphären zuordnen ließen. Anders als Latour, der eine prinzipielle Ununterscheidbarkeit von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft behauptet, begreifen Gibbons und Kollegen die Auflösung einer trennscharfen Demarkationslinie zwischen Wissenschaft und Gesellschaft als markantes Kennzeichen unserer Gegenwartsordnung. Dabei verknüpfen sie die These einer Transformation der Wissensproduktion mit der Diagnose des Aufkommens einer Wissensgesellschaft.48 Der Einbau neuer Formen der Wissenserzeugung, bei denen verstärkt wirtschaftliche und politische Vorgaben Berücksichtigung finden, wissenschaftliches Wissen also zunehmend sozial ›robust‹ ausgestaltet wird, hat eine Vergesellschaftung der Wissenschaft zur Folge; umgekehrt führt die Ausbreitung wissenschaftlicher Expertise in die unterschiedlichsten Handlungsbereiche zu einer Verwissenschaftlichung der Gesellschaft. Aus den beiden gegenläufigen Dynamiken resultiert jedoch die gleiche Folgewirkung: das
47 | Latour, Bruno, »Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die Welt aus den Angeln heben«, a.a.O., S. 131. 48 | Vgl. Nowotny, Helga/Scott, Peter/Gibbons, Michael, Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit, Weilerswist 2004.
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Brüchigwerden bzw. die Auflösung einer klaren Innen/Außen-Unterscheidung der Wissenschaft. Gegen die These einer prinzipiellen bzw. gegenwärtigen Entgrenzung wissenschaftlicher Praktiken ist vorgebracht worden, daß die Wissenschaft auch heutzutage noch als bevorzugte Instanz gilt, wenn es darum geht, strittige Wissensbehauptungen bzw. Wahrheitsansprüche zu prüfen. 49 Doch was kann die Redeweise von der Wissenschaft meinen? Immerhin dürfte sich sagen lassen, daß es (auch weiterhin) eine Vielzahl von Bemühungen und Aktivitäten gibt, die darauf abzielen, eine Innen/Außen-Unterscheidung der Wissenschaft zu errichten, aufrechtzuerhalten, umzugestalten bzw. zu stabilisieren (ohne damit zu behaupten, daß hier mit einer einheitlichen Stimme gesprochen würde). Um zugleich mit und gegen Latour zu argumentieren: Eine Perspektive, die sich allein für Vorgänge des Verbindens und Vernetzens interessiert, blendet – allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz – die entgegenwirkenden Praktiken und Prozeduren des Trennens schlichtweg aus, also die fortlaufende Arbeit, die investiert wird, um Grenzen zwischen der Wissenschaft und ihrer sozialen Umwelt einzuziehen. Zahlreiche Hinweise auf diese Tätigkeit der Konstruktion und Befestigung von Grenzen finden sich bei Thomas F. Gieryn;50 in seiner Sicht bedient sich die Forschungspraxis einer Vielfalt von Kartographisierungstechniken, mit deren Hilfe wissenschaftliche Prozeduren und Wissensbestände identifiziert und von nicht-wissenschaftlichen Vorgehensweisen abgegrenzt werden. Idealtypisch unterscheidet er vier Strategieformen. Monopolisierung: Gemeint sind taktische Manöver, die ausgewählte Verfahren und Wissensansprüche (in Abgrenzung zu anderen) besonders legitimieren, indem allein diesen das Etikett der Wissenschaftlichkeit zugewiesen wird. Expansion: Hierzu zählen Strategien, die auf eine Ausweitung wissenschaftlicher Autoritätsansprüche abzielen, etwa indem ein alltagsweltliches Laienwissen abgewertet wird. Vertreibung: Dazu gehören Techniken, mit denen konkurrierende Praktiken aus dem Innenraum der Wissenschaften herausgedrängt werden; als Beispiele lassen sich etwa die Debatten über sogenannte Para- oder Pseudowissenschaften anführen. Protektion: Hierunter fallen Praktiken, die gegen externe Steuerungseingriffe vorgehen, somit die Autonomie der Wissenschaften besonders hervorheben (und zugleich damit eine Innen/Außen-Unterscheidung einrichten, verschieben, befestigen). Vieles weist daraufhin, daß die Frage einer (möglichen) Abgrenzung der Wissenschaft – ebenso wie die anderen, zuvor genannten Themenfelder – die Science Studies auch weiterhin beschäftigen wird. Überhaupt dürfte sich mit Blick auf die Breite und den erreichten Institutionalisierungsgrad sagen lassen, daß diese Theorienströmung über ein erhebliches Anregungspotential verfügt, um auch in absehbarer Zukunft das Feld der Wissenschaftsanalyse mit originellen Begriffsvorschlägen, Theoriedebatten und Befunden zu bereichern. Über diese generelle Auskunft hinaus dürfte es freilich schwerfallen, Angaben zu den Aussichten und weiteren Perspektiven der Neuen Wissenschaftsforschung zu formulieren. Zu wünschen wäre, daß sich die Science Studies zukünftig verstärkt bislang vernach49 | Vgl. Weingart, Peter, Die Stunde der Wahrheit, a.a.O., S. 353. 50 | Gieryn, Thomas F., Cultural Boundaries of Science. Credibility of the Line, Chicago 1999; Ders., »Boundaries of Science«, in: Sheila Jasanoff et al. (Hg.), Handbook of Science and Technology Studies, a.a.O., S. 393-443.
S CIENCE S TUDIES
lässigten (oder gar unbearbeiteten) Forschungsfragen zuwenden: »Bis heute gibt es […] keine fundierte Studie, die die ›Geburt‹ des physikalischen, chemischen oder biologischen Labors in einer ähnlich umfassenden und praxisbezogenen Weise darstellen würde, wie dies Foucault mit Blick auf die Klinik getan hat.«51 Ebenso hätte auch die Frage nach dem Verhältnis von disziplinärer und interdisziplinärer Wissenschaft weitere Aufmerksamkeit verdient. Ein wichtiges Arbeitsfeld dürfte in Zukunft jedoch vor allem die Untersuchung der Forschungspraxis in den Geistes-, Human- und Sozialwissenschaften sein – schließlich könnte gegen eine Wissenschaftsforschung, die mit dem Begriff ›science‹ vorrangig oder gar ausschließlich die Naturwissenschaften bezeichnet, ein Einwand erhoben werden, den sie selbst gegen konkurrierende Positionen vorgebracht hat: daß der verwendete Wissenschaftsbegriff allzu restriktiv angesetzt ist.
51 | Schmidgen, Henning, »Wissenschaft. Das Labor als Archiv und Maschine«, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 450-466, hier S. 465.
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Autorinnen und Autoren
Astrid Erll, geb. 1972, ist Universitätsprofessorin für Anglophone Literaturen und Kulturen an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Forschungsschwerpunkte: Gedächtnisforschung, Transkulturalität, Medienkulturwissenschaft, Narratologie. Publikationen u.a.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen (2. Aufl.), Stuttgart 2011; A Companion to Cultural Memory Studies (mit A. Nünning), Berlin/New York 2010. Erika Fischer-Lichte, geb. 1943, ist Universitätsprofessorin für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Direktorin des Internationalen Forschungskollegs »Verflechtungen von Theaterkulturen«. Sie war Präsidentin der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (1995-1996), Präsidentin der International Federation of Theatre Research (1995-1999), Mitglied des Senats und Hauptausschusses der DFG (1993-1998) sowie des Wissenschaftsrats (1999-2005). Sie ist Mitglied der Academia Europea, der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Als Gastprofessorin lehrte sie in den USA, Russland, Japan, China, Indien, Norwegen, Schweden, Portugal, Spanien, Brasilien und auf Kuba. Ihre Arbeitsgebiete umfassen Ästhetik und Theorie des Theaters, die Europäische Theatergeschichte und interkulturelles Theater. Publikationen (kleine Auswahl): Semiotik des Theaters, Tübingen 1983, 5. Aufl. 2006; Kurze Geschichte des Dramas, Stuttgart 1990, 3. Aufl. 2007; Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Stuttgart 1993, 3. Aufl. 2008; The Show and the Gaze of Theatre, Iowa UP 1997; Das eigene und das fremde Theater, Tübingen 1999; Ästhetische Erfahrung, Tübingen 2008; Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2009, 6. Aufl. 2011; Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Form of Political Theatre, London 2005; Theaterwissenschaft. Eine Einführung in ihre Grundlagen, Stuttgart 2010. Lars Gertenbach, Dr., geb. 1979, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für allgemeine und theoretische Soziologie an der Universität Jena. Forschungsschwerpunkt: Soziologische Theorie, Kultursoziologie, Akteur-Netzwerk-Theorie, Poststrukturalismus, Kritische Theorie. Publikationen (Auswahl): Die Kultivierung des Marktes. Foucault und die Gouvernementalität des Neoliberalismus, 3. Aufl., Berlin 2009; »Ein ›Denken des Außen‹. Michel Foucault und die Soziologie der Exklusion«, in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie, Bd. 14 (2008), Heft 2, S. 308-328; Theorien der Gemeinschaft zur Einführung (zus. mit H. Laux, H. Rosa, D.
A UTORINNEN UND A UTOREN
Strecker), Hamburg 2010; »Geschichte, Zeit und sozialer Wandel. Konturen eines poststrukturalistischen Geschichtsdenkens«, in: S. Moebius/A. Reckwitz (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 208-225. Udo Göttlich, Dr. phil., geb. 1961, Professor für Allgemeine Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Zeppelin Universität. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Medien-, Kommunikations- und Kultursoziologie, Cultural Studies Approach; Buchveröffentlichungen u.a.: Die Kreativität des Handelns in der Medienaneignung, Konstanz 2006; Improvisation, Spontaneität, Kreativität. Herausforderung für die Soziologie (hg. zus. m. R. Kurt), Wiesbaden 2012. Leon Hempel, Dr., ist als Wissenschaftlicher Koordinator für Sicherheits- und Innovationsforschung Mitglied der Geschäftsstelle des ZTG. Darüber hinaus ist er stellvertretender Sprecher des Teilclusters »Sicherheit in der Stadt« der TU Berlin sowie Leiter der sozialwissenschaftlichen Forschung an der gemeinsamen »Helmholtz-Research School on Security Technologies« von DLR (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt) und TU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Europäische Sicherheitsarchitektur im internationalen Vergleich: Politik, Wirtschaft, Forschung und Entwicklung, Konstruktive Technikfolgenabschätzung im Bereich Sicherheitstechnologien, Realisierungsmöglichkeiten datenschutzfördernder Technologien, Repräsentation und Explikation von Sicherheitsbildern. Aktuelle Publikationen: »How can privacy accountability become part of business process?« (mit C. Ilten/D. Guagnin), in: Privacy Laws and Business International, no. 112 (September 2011), S. 28-30; »Der Fahrgast als Sicherheitsakteur. Maßnahmenbewertungen aus Fahrgastsicht« (mit J. Meier/C. Steltner/D. Vedder), in: Forum Kriminalprävention, 2011, S. 7-12; »Sichtbarkeitsregime, Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert«, Leviathan Sonderhefte 25/2010 (mit S. Krassmann/U. Bröckling). Lutz Hieber, Prof. Dr., lehrt am Institut für Soziologie der Leibniz-Universität Hannover und ist als Kurator für Ausstellungen tätig. Forschungsschwerpunkte: Kultursoziologie, Mediensoziologie, Politische Soziologie, Queer Studies. Jüngere Publikationen: Ästhetisierung des Sozialen – Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien (hg. zus. m. S. Moebius), Bielefeld 2011; Avantgarden und Politik – Künstlerischer Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne (hg. zus. m. S. Moebius), Bielefeld 2009; KörperFormen – Mode Macht Erotik (zus. m. Andreas Urban), Schriften des Historischen Museums Hannover, Bd. 32, 2008; Images von Gewicht – Soziale Bewegungen, Queer Theory und Kunst in den USA (zus. m. P.-I. Villa), Bielefeld 2007. Laura Kajetzke, geb. 1979, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Allgemeine Soziologie der Philipps-Universität Marburg. Sie hat 2006 für Ihre Diplomarbeit den Preis für eine herausragende Abschlussarbeit der Deutschen Gesellschaft für Soziologie erhalten. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Wissenssoziologie, Kultursoziologie, Raumsoziologie, Diskursforschung. Publikationen (Auswahl): »Der Spießer«, in: S. Moebius/M. Schroer (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin 2010; Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme, Bielefeld 2010 (hg. m. A. Engelhardt); Wissen im Diskurs. Ein Theorienvergleich von Bourdieu und Foucault, Wiesbaden 2008.
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Georg Kneer, geb. 1960, ist Professor für wissenschaftliche Grundlagen an der Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Wissenschaftsforschung, Gesellschaftstheorie. Neuere Publikationen (Auswahl): Handbuch Soziologische Theorien (hg. m. M. Schroer), Wiesbaden 2009; Verstehen und Erklären. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven (hg. m. R. Greshoff und W. L. Schneider), München 2008; Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen (hg. m. M. Schroer und E. Schüttpelz), Frankfurt a.M. 2008. Stephan Moebius, geb. 1973, ist Universitätsprofessor für Soziologische Theorie und Ideengeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz. Er ist Sprecher der Sektion Kultursoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und Sprecher der Sektion Soziologische Theorie der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie. Forschungsschwerpunkte: Soziologiegeschichte, Kultursoziologie, Soziologische Theorie, Religionssoziologie. Publikationen (Auswahl): Symbolische Gewalt, Schwerpunktheft der Österreichischen Zeitschrift für Soziologie ÖZS (hg. m. A. Wetterer) 2011; Kultur. Theorien der Gegenwart (2. Aufl., hg. m. D. Quadflieg), Wiesbaden 2011; Kultur, Bielefeld 2010 (2. Aufl.). Sophia Prinz, geb. 1979, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Forschungsschwerpunkte: Theorien visueller Kultur, poststrukturalistische Soziologie, Praxistheorien. Publikationen (Auswahl): Das Design der Gesellschaft (hg. m. S. Moebius), Bielefeld 2011; Pierre Bourdieu und die Kulturwissenschaften (hg. m. D. Šuber und H. Schäfer), Konstanz 2011. Andreas Reckwitz, geb. 1970 ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Gesellschaftstheorie, Zeitgenössische und Historische Kultursoziologie. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Erfindung der Kreativität, Berlin 2012; Unscharfe Grenzen, Bielefeld 2008; Subjekt, Bielefeld 2008; Das hybride Subjekt, Weilerswist 2006; Die Transformation der Kulturtheorien, Weilerswist 2000. Werner Schneider, geb. 1960, ist Universitätsprofessor für Soziologie an der Universität Augsburg mit den Schwerpunkten: Familiensoziologie, Soziologie der Lebensphasen und privaten Lebensformen, Wissenssoziologie, Kultursoziologie, Medizin-/Gesundheitssoziologie (insbes. Medizintechnik, Körper, Behinderung sowie Sterben, Tod), Diskurs-/Dispositivforschung und qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung. Er ist u.a. Mitglied der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) (1999-2004 im Vorstand). Publikationen (Auswahl): Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008 (zus. m. A. D. Bührmann); Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007 (hg. m. A. Waldschmidt). Markus Schroer, geb. 1964, ist Universitätsprofessor für Allgemeine Soziologie an der Philipps-Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Geschichte der Soziologie, Kultursoziologie, Raum- und Körpersoziologie, Vi-
A UTORINNEN UND A UTOREN
suelle Soziologie, Soziologie der Aufmerkamkeit, Soziologie der Artefakte. Publikationen (Auswahl): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart (hg. m. S. Moebius), Berlin 2010; Handbuch Soziologische Theorien (hg. m. G. Kneer), Wiesbaden 2009; Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen (hg. m. G. Kneer und E. Schüttpelz), Frankfurt a.M. 2008; Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a.M. 2006. Holger Schulze, geb. 1970, ist Gastprofessor für Sound Studies an der HumboldtUniversität zu Berlin, wo er das DFG-geförderte Sound Studies Lab leitet. Als Privatdozent für Historische Anthropologie des Klangs an der Universität der Künste Berlin leitet er das internationale Forschungsnetzwerk der DFG Sound in Media Culture: Aspects of a Cultural History of Sound. Er leitet außerdem die Gruppe internationaler Forscher im Rahmen des Nordic Research Network for Sound Studies. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte und -theorie des Klangs, Theorie der Werkgenese, Artistic Research/Design Research, Theorie & Anwendung der Mediologie. Publikationen (Auswahl): Gespür. Empfindung. Kleine Wahrnehmungen. Klanganthropologische Studien, Bielefeld 2012; Sound Studies. Eine Einführung, Bielefeld 2010 (2. Aufl.); Klanganthropologie. Performativität – Imagination – Narration (hg. m. C. Wulf), Berlin 2007; Heuristik. Theorie der intentionalen Werkgenese, Bielefeld 2005. Karen Struve, Dr., Postdoktorandin in der Romanistik der Universität Bremen. Studium der Romanistik und Kulturwissenschaften an der Universität Bremen. Dissertation zur transkulturellen écriture beur, ausgezeichnet mit dem Prix Germaine de Staël 2008. Forschungsschwerpunkte: Poststrukturalistische und postkoloniale Literatur- und Kulturtheorien, frankophone Gegenwartsliteraturen (20.-21. Jh.), französische Literaturen des 18.-19. Jahrhunderts, Raum-, Geschichts- und Identitätskonstruktionen in der Literatur. Publikationen (Auswahl): Balzacs »Sarrasine« und die Literaturtheorie. Zwölf Modellanalysen, Stuttgart 2011 (hg. m. E. Richter und N. Ueckmann); »Ecritures transculturelles«. Kulturelle Differenz und Geschlechterdifferenz im französischsprachigen Gegenwartsroman (hg. m. G. Febel und N. Ueckmann), Tübingen 2007; »Stadt-Wissen: Überlegungen zu Stadtkonstruktionen in der Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers (1750-1772)«, in: G. Febel/K. Struve (Hg.): Dossier: Stadtkonstruktionen in der französischen Literatur vom Mittelalter bis zur Romantik. In: lendemains, Nr. 142/143, 2011, S. 136-148; »La poét(h)ique transculturelle dans la littérature beur«. In: A. De Toro/K. Zekri/R. Bensmaïa/H. Gafaïti (Hg.): Repenser le Maghreb et l’Europe. Hybridations – Métissages – Diasporisations. Paris 2010, S. 151-164; »Homi K. Bhabha – Auf der Innenseite kultureller Differenz: ›in the middle of differences‹«. In: S. Moebius/D. Quadflieg (Hg.): Kultur.Theorien der Gegenwart. Wiesbaden 2006, S. 140-153 (zus. m. J. Bonz). Habilitationsprojekt zum Verhältnis von Alteritätskonstruktionen und Wissensordnungen in der Encyclopédie. Paula-Irene Villa, geb. 1968, ist Lehrstuhlinhaberin für Soziologie/Gender Studies an der LMU München. Sie ist zudem Gründungsmitglied und im Vorstand der wissenschaftlichen Fachgesellschaft GeschlechterStudien. Sie lehrt und forscht zu den Themen Gender Studies, Soziologische Theorien, Körper- und Kultursoziologie, Biopolitik. Infos unter www.gender.soziologie.uni-muenchen.de. Publika-
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tionen (Auswahl): Schön normal. Manipulationen des Körpers als Technologien des Selbst (Hg), Bielefeld 2008; Judith Butler. Zur Einführung (2. Aufl.), Frankfurt a.M. 2011; »Embodiment is always more: intersectionality, subjection and the Body«, in: H. Lutz et al. (Hg.): Framing Intersectionality. London et al. 2011, S. 171-186; Postkoloniale Soziologie (hg. zus. m. J. Reuter), Bielefeld 2009. Anne Waldschmidt, geb. 1958, ist Universitätsprofessorin für Soziologie und Politik der Rehabilitation, Disability Studies an der Universität zu Köln mit den Schwerpunkten: Wissenssoziologie, Körpersoziologie, Politische Soziologie, Bioethik/Biopolitik, Normalität und Abweichung, Behindertenpolitik und Interessenvertretung im internationalen Vergleich, qualitative Sozialforschung. Sie ist u.a. Mitglied der Sektionen Wissenssoziologie, Medizin- und Gesundheitssoziologie, Soziologie des Körpers und des Sports sowie Soziale Probleme/Soziale Kontrolle (im Vorstand) der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Publikationen (Auswahl): Selbstbestimmung als Konstruktion. Alltagstheorien behinderter Frauen und Männer, Wiesbaden 2012 (2., korr. Aufl.); Disability History: Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung (hg. mit E. Bösl und A. Klein), Bielefeld 2010; Das Wissen der Leute. Bioethik, Alltag und Macht im Internet (zus. m. A. Klein und M. Tamayo Korte), Wiesbaden 2009; Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld (hg. m. W. Schneider), Bielefeld 2007.
Edition Kulturwissenschaft Christoph Bieber, Benjamin Drechsel, Anne-Katrin Lang (Hg.) Kultur im Konflikt Claus Leggewie revisited 2010, 466 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1450-3
Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen November 2012, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Erika Fischer-Lichte Performativität Eine Einführung September 2012, 240 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1178-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Das Prinzip »Osten« Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums 2010, 180 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1564-7
Bernd Hüppauf Vom Frosch Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie 2011, 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1642-2
Claus Leggewie, Darius Zifonun, Anne-Katrin Lang, Marcel Siepmann, Johanna Hoppen (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften Oktober 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8
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Edition Kulturwissenschaft Barbara Birkhan Foucaults ethnologischer Blick Kulturwissenschaft als Kritik der Moderne Januar 2012, 446 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1955-3
Stephan Conermann (Hg.) Was ist Kulturwissenschaft? Zehn Antworten aus den »Kleinen Fächern« Januar 2012, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1863-1
Uta Fenske, Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.) Die Krise als Erzählung Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne Dezember 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1835-8
Barbara Gronau (Hg.) Szenarien der Energie Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen Oktober 2012, ca. 270 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1689-7
Klaus W. Hempfer, Jörg Volbers (Hg.) Theorien des Performativen Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme 2011, 164 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1691-0
Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser (Hg.) Das Mögliche regieren Gouvernementalität in der Literaturund Kulturanalyse
Thomas Kirchhoff, Vera Vicenzotti, Annette Voigt (Hg.) Sehnsucht nach Natur Über den Drang nach draußen in der heutigen Freizeitkultur Mai 2012, 288 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1866-2
Alexander Kratochvil, Renata Makarska, Katharina Schwitin, Annette Werberger (Hg.) Kulturgrenzen in postimperialen Räumen Bosnien und Westukraine als transkulturelle Regionen November 2012, 350 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1777-1
Eva Kreissl (Hg.) Kulturtechnik Aberglaube Zwischen Aufklärung und Spiritualität. Strategien zur Rationalisierung des Zufalls Dezember 2012, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2110-5
Gerald Lamprecht, Ursula Mindler, Heidrun Zettelbauer (Hg.) Zonen der Begrenzung Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne März 2012, 302 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2044-3
Regine Strätling (Hg.) Spielformen des Selbst Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis Juli 2012, 310 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1416-9
2011, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1474-9
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